2 Weißschäumendes Wasser, schwarzes Geäst

Das Rot schwamm in einem Meer von Weiß. Die farbigen Tinten rannen ineinander, mischten sich, lösten sich, verschmolzen erneut. Der Horizont tanzte. Schleier lagen davor. Nichts war da als dieses Rot und dieses Weiß.

Eric starrte vor sich hin. In seiner Magengrube saß ein dumpfer Druck. Seine Augen schmerzten. Er wurde sich bewußt, daß er vor sich hinstarrte, spürte, daß ihm übel war. Er senkte die Lider über die trockene Netzhaut und drückte mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel. Er öffnete die Augen wieder...

Noch immer schwamm das Rot im Weiß. Noch immer wogten die Farben. Doch die Schleier verschwanden, verflogen, verloren sich. Die Trennungslinie schwankte noch, aber die fahrige Bewegung fing sich in einem beruhigenden, stetigen Wellenschlag. Sie pulsierte im Rhythmus von Erics Herz. Und jetzt klaffte der ganze Horizont wie ein Schnitt.

Eric stand auf Metall. Vor ihm wölbte sich das Metall zu einer Balustrade auf. Jenseits der Balustrade breitete sich eine teigig weiße Flüssigkeit, über die von Zeit zu Zeit träge, auffällig langsame Wellen krochen. In Ungewisser Ferne, zwischen Himmel und Horizont, streckte sich ein schwarzer Strich nach links und rechts.

»Die Korallenbank«, ertönte eine Stimme neben ihm. »Sie wird ständig größer.«

Eric schüttelte etwas von sich ab. Er war sicher, daß er nicht geschlafen hatte, und doch suchte er die Erklärung für das Gegenwärtige jenseits jener Schwelle, hinter der die Gedanken in Träume zerfließen. Er forschte in den Winkeln seines Denkens, wie man im Dunkeln nach der Klinke tastet: Er durchstöberte alle Fächer seines Gehirns wie der Blinde den leeren Raum nach einem Schlüssel.

Taumelig trat er an die Brüstung. Der stumpfe mehlige Glanz hob sich ihm entgegen und fiel zurück, hob sich und fiel in gnadenlosem, maschinenhaftem Gleichmaß. Das graue Rechteck, das seine Augenwinkel gerade noch erfaßten, wurde größer, wurde kleiner.

»Ich habe Angst!« sagte die Stimme.

Das Boot. Ja, es war das Boot. Er hatte den Schlüssel gefunden. Da war das Boot. Dort lag die Korallenbank.

»Fahr allein, wenn du drauf bestehst! Ich bleib’ hier.«

Stück für Stück baute er sein Wachsein auf. Er stand auf der Plattform der Station. Oben drehten sich die Peilantennen und Parabolspiegel. Wie Gespinst hingen die Drähte an den Masten.

»Um keinen Preis steig’ ich ins Boot, verstehst du?«

Seitlich ragte die Rakete aus der milchigen Emulsion heraus, reglos, unbeweglich, gefesselt vom Magnetfeld der Turmschiene. Neben ihm, auf seinen zusammenklappbaren Spinnenbeinen, stand der Kugelkörper Euklids, dessen vorgewölbtes Facettenauge ausdruckslos nach allen Seiten zugleich blickte.

»So sprich doch, du Narr! So sag doch endlich was!«

Der ihn an der Schulter rüttelte, war Sid Rosselino. Er selbst war Eric Frost. Er befand sich auf dem vierten Planeten der Sonne Heyse II in der nahen Löwengruppe, irgendwo in der Leere des Raumes. Und irgendwo in der Leere war die Sonne, war die Erde. Die letzten Schleier zerrissen. Er stand gebückt, als laste ein Gewicht auf ihm, doch jetzt richtete er sich auf. Er hatte eine Aufgabe.

»Nur ruhig, Kleiner«, sagte er.

Er blickte in das braune Gesicht mit den lebhaften schwarzen Augen, aus denen der Schrecken schrie. Der Körper des Kameraden steckte in einem grauen Kombinationsanzug, der Reißverschluß war auf der Brust geöffnet, und die behaarten Hände Sids zerrten daran, als sei ihm das Kleidungsstück zu eng geworden. Eric wußte wieder, was er zu tun hatte. Nur im tiefsten Hintergrund seines Schädels blieb ein Schimmer von etwas Unverständlichem zurück, die Ahnung von etwas Absurdem, mit den Tatsachen völlig Unvereinbarem.

»Beruhige dich, Sid«, mahnte er.

Seine Augen hingen wieder am schwarzen Strich in der Ferne. Ihm war, als sei dieser in der kurzen Zeit, seit er ihn zuletzt angeblickt hatte, vordergründiger und gewichtiger geworden – ein eindringlich wachsender schwarzer Balken am Rande der Unendlichkeit.

»Bleib hier, es ist sowieso besser, einer von uns bleibt hier. Ich nehme Euklid mit.«

Sid hörte auf, an dem Reißverschluß zu zerren. Seine Hand hing wie erstarrt hinab. Der Roboter rührte sich nicht. Der schleppende Wellenschlag ließ gurgelnde und schmatzende Geräusche erschallen, unten, wo der Turm in die Flüssigkeit eintauchte, und es hörte sich an, als sei die warme, stickige Luft von unbestimmtem Raunen erfüllt, aus dem sich das häßliche Gegurgel immer wieder wie ein unzugehöriges Nebenprodukt ausschied. Es hörte sich an, als sei etwas Lebendiges in dieser fast wesenhaft dicken Luft, in der Milch der Emulsion und in den rätselhaften unsichtbaren Abgründen darunter, als wüchse etwas aus den Dingen heraus, etwas, das heftig arbeitete, sich reckte und streckte und dabei ächzend und stöhnend atmete. Manchmal kratzte und scharrte es, und dann lief ein leises Vibrieren durch den Wachtturm.

Sids Starre war einer überreizten Geschäftigkeit gewichen.

»Sei vorsichtig! Hörst du! Verlaß auf keinen Fall das Boot. Und nimm den Blaster mit!« Er lief in die Kammer und brachte die Waffe heraus.

»Und richte dich nach den Vorschriften! Du weißt, daß es gefährlich ist.«

Eric lächelte über seinen plötzlichen Eifer.

»Euklid, was weißt du Neues über die Korallenbank?«

Der Roboter bewegte sich noch immer nicht, doch seine leere Mikrofonstimme erscholl unverzüglich. »Die Entfernung des nächsten Punktes beträgt sieben Komma drei eins sechs plus minus null Komma null null fünf Kilometer; die Höhe über dem Flüssigkeitsniveau beträgt durchschnittlich zwölf Komma drei plus minus null Komma drei Meter; die mittlere Abweichung am uns zugewandten Rand beträgt eins Komma sieben Meter; das Spektrum des reflektierten Lichtes zeige ich am Bildschirm.«

Ein viereckiger Ausschnitt auf seinem in Ringe unterteilten Kugelkörper glomm auf, darauf leuchtete die unregelmäßig gewellte Schlangenlinie des Intensitäts-Frequenz-Diagramms.

»Was für Anhaltspunkte für die Zusammensetzung?«

»Einundsechzig Komma vier plus minus...«

Eric blickte nach der Armbanduhr.

»Nur die wahrscheinlichsten Werte bitte!«

Die Mikrofonstimme stockte und begann neu. Sie klang eine kleine Nuance anders als zuvor, und auch die Sekunde zwischen dem unterbrochenen alten und dem neu begonnenen Antwortsatz war durch den ausgelösten Einschaltvorgang elektronisch bedingt, doch Eric konnte sich nicht dagegen wehren, in der Pause, die den Sprechvorgang durch einen Willkürakt abriß, ein feines Zeichen der Mißbilligung zu sehen.

»Einundsechzig Komma vier Silizium, siebzehn Komma null Schwefel, drei Komma null Wasserstoff, zwei Komma acht Kohlenstoff, null Komma acht Mangan, null –«

»Wie ist diese Masse aufgebaut?«

Es kam Eric wie ein Unrecht vor, den Redefluß zu unterbrechen, und dennoch empfand er eine seltsame zerstörerische Freude dabei.

»Der Hauptbestandteil der Substanz besitzt ein doppeltes, flächenzentriertes, kubisches Ionengitter. Das zweite ist gegen das erste –«

»Die Makrostruktur bitte.«

Wieder das kurze Stocken.

»Die Substanz ist vielfach verzweigt, von unregelmäßiger Raumerfüllung, die Oberfläche ohne Spitzen oder Kanten.«

»Ist es ein lebendiger Organismus?«

Eric bekam keine Antwort.

»Ist es ein kohlenstoff- oder siliziumorganisches Gebilde im Sinn bekannter Lebensstrukturen?«

»Nein.«

»Befinden sich andersartige Dinge in der schwarzen Masse?«

»Das Innere ist mir nicht zugänglich; an der Oberfläche bemerkte ich nichts Andersartiges.«

»Na, dann komm, du sturer Bock!« Eric klatschte dem Metallkörper auf seinen glänzend glatten Kugelleib. »Wir wollen einmal nachsehen, was sich dort drüben tut.«

Er erhielt keine Antwort und wandte sich an Sid.

»Wenn ich in zwei Stunden nicht zurück bin, versuchst du, Verbindung zur Zentrale herzustellen.«

Sid wurde wieder nervös. »Verflucht, das darfst du mir nicht antun, Eric. Verflucht, wie komme ich dann von hier fort?«

»Denen kommt es nicht darauf an, noch eine Expedition zu schicken.«

Zwei Menschen und ein Roboter. Sie waren der dritte Trupp, der diesen plötzlich rührig gewordenen Planeten untersuchen sollte. Keiner vor ihm war zurückgekehrt.

»Verstehst du nicht – ich habe Angst!« rief Sid, als Eric die Stufen hinunterstieg. »Ich gebe es ja zu, ich habe Angst.«

»Sei ruhig, Kleiner!« sagte Eric.

Er zog das Boot heran und stieg ein. Der Roboter folgte ihm mit insektenhafter Gelenkigkeit. Der Motor summte auf. Die Flüssigkeit schäumte wie geschlagenes Eiweiß. Sie zogen eine Wolkenspur von Flocken hinter sich her, hauchdünne Hohlkugeln wie von einem Seifenblasenspiel, Tausende von weißtrüben Kaninchenaugen mit roten Pupillen, die sinnlos über die sanft wallende Oberfläche hetzten. Dieses trübe Gestöber legte sich wie ein Vorhang vor Sid, der die Hände an die Brüstung klammerte und ihnen mit weit geöffneten Augen nachsah.

Das Weiß umspülte sie und schien sie in sich hineinzusaugen, das Rot schwelte darüber; sein glühendes Zentrum war nach rechts gewandert. Das Weiß rührte von Myriaden mikroskopisch kleiner Gallertkügelchen her, die im Wasser trieben. Das Rot war der Glanz der Sonne Heyse II, der von jenseits des Horizonts herübersickerte. Es wanderte waagrecht weiter, weil sich die automatische Wachtstation am Nordpol des Planeten befand. Es war Winter, wenn man unter diesen kaum wechselnden, eintönigen Klimabedingungen von Jahreszeiten sprechen wollte.

»Welche Temperatur?« fragte Eric und unterbrach den anlaufenden Schaltvorgang noch im selben Moment. »Ach, laß es, es ist gleichgültig.«

Er spürte die laue, seltsam trockene Luft im Fahrtwind über seine Schläfen streichen. Er brauchte Euklid nicht. Er fuhr zu jenem Gebilde, dessen Emportauchen aus der endlosen Flüssigkeitswüste die automatische Station vor einem halben Jahr gemeldet hatte. Er befand sich auf jenem Planeten, der schon zwei Erkundungstrupps gefressen hatte. Ihn leitete ein Befehl. Der Traum hatte sich in ein unauffindbares Versteck in seinem Kopf zurückgezogen.

Die schwarze Wand schien aus dem Meer emporzutauchen. Der gleichförmige Block löste sich in dunkle Äste und noch dunklere Hohlräume auf. Die Äste besaßen Dicken zwischen der eines kräftigen Unterarms und der eines mächtigen Urwaldstammes. Sie wanden sich, winkelten ab, spalteten sich und vereinigten sich wieder. Sie liefen in stumpfen Enden aus, die allein oder auch Gabeln bildend nebeneinander standen.

Oft umschlangen sich die Zweige, spiralten, wendelten umeinander, andere Stellen blieben leer, übermannshohe Öffnungen gähnten gleich Portalen zu den Heiligtümern unheimlicher Kulte.

Der Seegang war schwach. Der Roboter hatte sich wieder gerührt. Eric fuhr einige Minuten lang die Wand entlang, dann schaltete er den Motor aus und ließ das Boot sich verlangsamend vorwärtstreiben. Er stieg auf den Bug, stemmte sich an die Bootswand und beugte sich vor, um den Stoß aufzufangen. Mit gespannter Aufmerksamkeit musterte er das Gebilde, das sie wegen seines Äußeren Korallenbank getauft hatten. Er wußte, daß er sich auf Euklid verlassen konnte, und dennoch vermochte er ein beklemmendes Herzklopfen nicht zu unterdrücken.

Vor ihm tanzten Schaumpolster. Hoch hinauf, teilweise überhängend türmte sich die Wand. Dort, wo sie aus dem Wasser herausragte, war der Ursprung ganzer Berge von Blasen. Eric sah die Äste auf sich zukommen, er bemerkte, wie die Flüssigkeit weich und schmiegsam und glatt emporschnellte und die Stämme, Äste und Zweige in sich einschloß, wie es sich fast widerwillig zurückzog, sich dabei in zahllose Rinnsale auflöste, die sichtlich einschrumpften und verschwanden. Eric griff nach einem dicken Ast und scheute gleichzeitig vor der Berührung zurück. Er stemmte sich dagegen, ließ sich vom Roboter das Aluminiumseil reichen und knüpfte das Ende unterhalb einer Gabel fest. Die Masse fühlte sich feucht, weich und überraschend warm an.

Eric griff nach dem Blaster. Seine sichere Härte und Kühle beruhigten ihn. Er lauschte, richtete sich auf, schwang sich hinüber, der Roboter folgte ihm unbeirrt. Einen Moment lang beneidete ihn Eric ob seiner Empfindungslosigkeit.

Wieder lauschte Eric, obwohl er wußte, daß die Gehörorgane Euklids viel schärfer waren als die seinen. Das Klatschen der Wellen an den Stämmen und Zweigen kam durch das Echo vervielfältigt und verwischt zu ihm.

»Bemerkst du etwas Gefährliches?« fragte er.

Er bekam keine Antwort.

Vorsichtig kletterte er in eine Öffnung hinein. Es war dämmrig, aber nicht finster. Er brauchte seine Taschenlampe nicht, und der Roboter brauchte sie natürlich erst recht nicht.

Das Innere des Gebildes erinnerte an eine Baumkrone – nur mit dem einen Unterschied, daß sich dort Zweige nicht zu Ringen schließen. Eric benötigte alle vier Gliedmaßen zur Fortbewegung, und auch der Roboter benutzte seine drei Arme und drei Beine. Es gab viele Möglichkeiten zum Weiterkommen, Löcher im Zweiggewirr, die horizontal, aber auch nach oben und unten weiterführten. Eric schlug eine Richtung ein, die geradewegs ins Innere wies.

Noch immer ekelte er sich vor der Berührung mit den schwarzen, lauwarmen Ästen. Auch dort, wo die Spritzer und Schaumflocken des Meeres nicht hingriffen, war es naß; an abwärts gekrümmten Bögen hingen weiße, klebrige Tropfen, die an seinen Händen über seine Haut in die Ärmel rannen, die sich erst am Stoff seiner Kleidung festsetzten und allmählich ins Innere sickerten. Die Oberfläche war glitschig, oft glitt sein Schuh ab, oder die Zange seiner Finger sackte an den Griffen durch.

Plötzlich wand es sich schlangenhaft vor ihm empor, langsam wie das Fließen zähen Öls, gabelte sich, wuchs zu einem stumpfen Dreizack weiter, versperrte den Gang, in den sich Eric eben gewandt hatte, wie eine Halt gebietende verkrüppelte Hand.

Eric blieb stehen, beobachtend, lauernd, sprungbereit, inmitten der kreuz und quer laufenden dunklen Luftwurzeln, inmitten des Riffs aus verkrümmten Siliziummassen, inmitten der Bank selbständig gewordener Materie. War sie selbständig geworden? Waren es die Moleküle der im Wasser aufgeschlämmten Siliziumgallerte, die sich zu eigenartigen Kristallbäumen polymerisierten? Oder verbarg sich hinter den aufsteigenden Massen eine Intelligenz, ein Wille, eine Macht?

Eric entdeckte, wie das Riff wuchs. Da und dort, dann und wann, ohne erkennbare Ordnung und Gesetze schrieben schwarze Arme ihre krummen Figuren in die Luft, langsam, mit fast schwerfälliger Zielbewußtheit, ohne vorzufühlen und zu tasten, wie nach den Regeln einer irrsinnigen Liniengeometrie. Wenn es eine Regel gab, dann war es die, daß die frischen Triebe stets in die Hohlräume hineinwuchsen. Wenn es eine Regel gab, war es keine irdische. Eric setzte sich wieder in Bewegung.

»Wenn uns dieser Weg zurück abgesperrt wird, kehren wir an die Oberfläche zurück«, sagte er mehr zu sich selbst als zu seinem schweigenden Begleiter. Der Roboter zeigte keine Reaktion.

... kehren wir an die Oberfläche zurück, dachte Eric. Kehren wir zurück? Wer wußte, ob sie zurückkehren würden. Daß dieses Gebilde nicht unbedenklich war, zeigten die verschollenen Vorgängertrupps. Brachte es selbst Gefahr, war es eine Falle, ein Todeslabyrinth, oder war es bloß das Anzeichen, die Folge, die Nebenerscheinung?

Eric schlitterte über die glitschigen, weichhäutigen, trauerdunklen Äste. Er stellte sich selbst vor, bei seinem Vordringen in den überdimensionierten Wurzelstock, begleitet von seinem unmenschlich gefühllosen Begleiter, verfolgt von den nicht ganz selbstlosen Wünschen und Ängsten seines Kameraden. Er stellte sich den leeren Weltraum vor, darin das Stäubchen der Sonne Heyse II, das Nichts des Planeten Nummer vier: ein vom Makel einer schwarzen Wucherung behaftetes Nichts, und darin sich selbst und seine Aufgabe und seine Ohnmacht. Und wieder weigerte sich etwas in ihm, das Phantastische für Wirklichkeit zu nehmen. Doch er sah und hörte, roch und schmeckte, fühlte und dachte – und das ist wirklich, was man sieht und hört, riecht und schmeckt, fühlt und empfindet.

Zehn Minuten lang, zwanzig Minuten lang... nach rechts – und nach links und geradeaus... hinauf, hinunter, horizontal... Eric wußte längst nicht mehr, ob er schon weit in die geheimnisvoll bewegte Rankenlandschaft hineingeraten war oder ob er im Kreis ging und vielleicht denselben Punkt zum x-ten Male berührte. Sein Pfad ähnelte einer ins Räumliche fortgeführten vielgliedrigen Leiter, deren Sprossen durcheinandergeraten waren. Wenn er auf seinem Weg höher kam, hinauf bis an die Oberfläche, dann ragten, so weit sein Auge reichte, die stumpfen Enden der Siliziumkorallen empor, gleich dem Wipfelfeld eines riesigen Waldes, aber eines Waldes, in dem es kein Spiel der Blätter gab, kein Summen von Bienen, kein Flattern von Schmetterlingen, keinen Wind und kein Wiegen der Äste. Dann tauchte er wieder hinunter in das Dickicht der schwarzen Arme, denn der Befehl lautete, nach dem Ursprung der Koralle zu suchen, die Koralle, die alle näher am Äquator gelegenen Wachttürme einfach emporgehoben und umgestürzt hatte und die nun nach der letzten Bastion am Pol griff...

Er und der Roboter reagierten gleichzeitig.

»Wärmepulsationen«, sagte Euklid.

Eric sagte nichts. Er zog den Blaster.

Sie waren auf eine Lichtung gekommen, eine Stelle, an der die Korallenstämme zwar nicht verschwanden, aber schütter standen. Sie waren nur wenig verzweigt, erst weiter oben breiteten sie wieder Äste und Zweige aus und bildeten ein lockeres Dach. Entfernt erinnerte die Szenerie an eine Tropfsteinhöhle mit Boden- und Deckenzapfen, getragen von einzelnen durchgehenden Säulen. Auch hier war die Bedeckung nicht dicht genug, um alles Licht aufzuhalten – es herrschte eine gleichmäßige, glanz- und schattenarme Dämmerung.

Mitten im Gewirr von aufragenden Siliziumstrünken, am Boden des Raumes sozusagen, saß mit untergeschlagenen Beinen ein Kind. Ein Menschenkind, ein Junge, drei oder vier Jahre alt, mit rundem Gesicht, großen dunkelblauen Augen, Stupsnäschen, geschürzten Schmollippen. Es spielte mit etwas, das sie nicht erkennen konnten.

Eric ließ den Blaster mit einem pfeifenden Atemzug sinken. Das Kind richtete sich auf und sah ihnen erstaunt entgegen.

Eric hatte vielleicht keine Sekunde übrig, um sich zu entscheiden, und er war sich darüber nicht im Zweifel. Für ihn war ein Kind das, was es für alle Menschen ist, etwas Hilfloses, Rührendes, Schutzbedürftiges. Etwas Ungefährliches. Doch gerade das machte ihn stutzig. Die blauen Augen, das Stupsnäschen, die vollen roten Lippen. Das ist nicht nur ein Kindergesicht. Das ist ein Bild, das wir stets mit uns herumtragen. Das ist die Puppe, das Äffchen, der Teddybär.

Und dann bestanden da auch noch Vorschriften.

Eric hob den Blaster und schoß.

Rot und dann weiß glühten die Astenden auf, eine Staubwolke wirbelte verrückt im Kreis, und darin verschwand das Bild des Knaben, zuletzt die weit offenen dunklen Augen.

»Wo stellst du Lebewesen fest?« fragte Eric.

»Entfernung sechzig Meter; Höhe null über dem Flüssigkeitsspiegel; ich zeige die Richtung.« Einer seiner Arme hob und streckte sich. Er wies in die Längsrichtung des vor ihnen liegenden Hohlraumes.

»Führe mich zurück, aber so, daß wir diesen Wesen nicht näher kommen! Melde laufend alle Ausstrahlungen, die von ihnen herrühren!«

Der Roboter setzte sich in Bewegung. Er hielt genau das Tempo ein, dem Eric folgen konnte. Dabei sprach er.

»Pulsation zwischen sechzig Komma drei und zweiundsechzig Komma sieben; Emissionszentrum in dreiundsechzig Meter Entfernung, Höhe gleichbleibend, Richtung gleichbleibend; ein zweites Zentrum angepeilt; Pulsation zwischen sechzig Komma zwei und zweiundsechzig Komma sieben; Entfernung siebenundsechzig Komma eins; Höhe null über dem Flüssigkeitsspiegel.«

Während er sich mit zwei Armen und drei Beinen weiterarbeitete, zeigte sein dritter Arm unverwandt in eine feste Richtung.

»Erstes Zentrum; Pulsationsschwankung gleichbleibend; Entfernung einundsechzig Meter; Höhe gleichbleibend; Richtung verändert; ich zeige die Richtung.« Sein Arm schwenkte um einen geringfügigen Winkel.

»Zweites Zentrum; Empfang zeitweise unterbrochen; Pulsationsschwankung...«

Eric hörte nur noch auf Entfernungen. Er hielt sich vor allzugroßer Eile zurück, um sich nicht vorzeitig auszupumpen, und versuchte, die abgezirkelten kraftsparenden Bewegungen seines Begleiters nachzuahmen.

Jetzt hätte er einen Energieroboter bei sich haben müssen und nicht einen harmlosen Informationsrobby wie Euklid. Er hätte ein Sperrfeld aufbauen müssen, einen Ionisationsgürtel legen oder eine Strahlenbarriere aufrechterhalten. Energie hilft auch gegen Intelligenz.

»– Höhe gleichbleibend, Richtung gleichbleibend; zweites Zentrum; Pulsation zwischen neunundfünfzig Komma acht und dreiundsechzig Komma null; Entfernung neunundvierzig Meter; Höhe...«

Eric stieg über eine Welle von Verdichtungen des schwarzen Geflechts, er achtete genau auf jeden Tritt und jeden Griff und folgte Euklid in eine sacht abwärts geneigte gangartige Passage. Ein Arm richtete sich vor ihm auf, er zwängte sich seitlich durch... sah sich um... Hatte sich das Wachstum nicht intensiviert? Warf ihm eine unbekannte Macht Hindernisse in den Weg? Wieder ein frischer Sproß vor ihm, aalglatt in seinem geschmeidigen Emporranken... Eric stieß mit dem Fuß danach, er umfaßte den Trieb mit beiden Händen, als wollte er eine Kehle würgen, doch eine übermächtige Kraft öffnete spielend seine verschränkten Finger und schob sie wie Stroh zur Seite.

»Sie versperren uns den Weg!« rief Eric. »Wir sollten an die Oberfläche...«

Der Roboter schwieg einen Moment. Dann antwortete er: »Uns stehen noch mehrere Wege offen; oben kommen wir zu langsam vorwärts.«

Gleich zwei Triebe stachen von der Seite hervor.

»Hinauf, sage ich. Hinauf an die Oberfläche! Sofort!«

Die segmentierte Kugel mit ihrem elektronischen Gehirn, ihrem Adernetz aus Draht, ihrer Haut aus Metall, ihren Stahlgliedern und ihren Facettenaugen kroch unbeirrt weiter zwischen den Stämmen hindurch, von Ast zu Ast, von Gabel zu Gabel, und sie benutzte dabei keinen Engpaß, der für Eric nicht gangbar gewesen wäre. An diese Sicherheit hielt sich Eric, er nahm sich zusammen, und er schämte sich nun, obwohl niemand seine Schwäche beobachtet hatte, vor dem er sich hätte zu schämen brauchen.

»Erstes Zentrum, Pulsation zwischen sechzig Komma null und zweiundsechzig Komma neun; Entfernung zweiundfünfzig Meter; Höhe gleichbleibend...«

Bis jetzt hatte ihn nichts angegriffen, und es war auch fraglich, ob das schnellere Wachsen des Korallenstockes etwas mit ihm zu tun hatte, wenn es nicht überhaupt Einbildung war. Trotzdem besaß Eric soviel Selbstkritik, um zu wissen, daß er sich nicht nur deshalb zurückzog, weil es die Vorschriften verlangten, sondern vor allem, weil ihn etwas anderes drängte. Nicht nur die Furcht vor unbekannten Intelligenzen, sondern auch die Furcht vor dem, was er tun mußte, wenn er sich gefangen sah. Kein Mensch darf einer fremden Macht in die Hände fallen!

»Wer hätte das gedacht?« fragte er hinter dem Roboter her, obwohl er sicher war, daß dieser sein Reden gar nicht beachten würde. »Wer hat wissen können, daß hier intelligente Wesen im Spiel sind?« Er redete weiter zu sich selbst, zu Euklid, oder vielleicht dachte er es auch nur. »Unsere Vorgänger sind nicht ohne Grund verschwunden. Wie kann man Dreiergruppen gegen eine intelligente Macht einsetzen! Hier hilft keine radioaktive Beregnung und kein Vergiften des Wassers. Was sollen wir gegen eine fremde Macht...«

Vor ihm kroch der Roboter und redete mit ihm zugleich. Die Anstrengung machte sich bemerkbar, Eric keuchte, und die von außen eingesickerte klebrige Feuchte mischte sich mit seinem Schweiß.

»... Entfernung zweiundzwanzig Meter...«

Er fing nur diesen Fetzen aus den Meldungen des Roboters auf, aber es traf ihn wie ein Peitschenschlag. Jetzt erst begann die Gefahr.

»... ein drittes Zentrum angepeilt...«

»... Pulsation zwischen fünfundvierzig Komma fünf und sechzig Komma drei...«

Der richtungsweisende Arm schwenkte fast um hundertsechzig Grad.

Jetzt erst begann die Gefahr, und Eric beobachtete mit Überraschung, daß er ruhiger wurde. Aufmerksam lauschte er Euklid; er überzeugte sich, daß der Roboter richtig, wie immer, handelte. Niemals zögerte er, niemals kehrte er um, und wenn er einmal – scheinbar in die falsche Richtung – auf die Verfolger zuging, dann war zu erwarten, daß sich die Strecke gleich wieder drehte, und diese Erwartung trog nie. Der Roboter hatte andere Mittel zur Orientierung als die optischen; das elektromagnetische Spektrum von der Wärme bis zum Bereich der Röntgenstrahlung stand ihm als Orientierungsbehelf zur Verfügung.

»... Entfernung achtzehn Meter...«

»... Entfernung zwölf Meter...«

Unversehens schlug Euklid ein rascheres Tempo an. Eric hielt gerade noch Schritt. Es war ihm nicht mehr möglich, jeden Tritt, dem er sich anvertrauen wollte, vorher genau zu fixieren, oft genug rutschte er aus, schlug seine Knie und Schienbeine blutig, raffte sich zusammen, schwang sich über Bodenspalten, hüpfte, fiel, sprang...

Der Roboter zeigte keine Spur von Ermüdung. Seine Spinnenbeine stelzten mit uhrzeigerhafter Regelmäßigkeit, seine dahergeleierten Informationen kamen ununterbrochen und ungerührt. In ihnen schwang keine Furcht und keine Hoffnung, keine Sorge und kein Mitgefühl; man baut Automaten weder Furcht noch Hoffnung, weder Sorge noch Mitgefühl ein. Eric eilte schwankend hinter ihm her. Eine ohnmächtige Wut schüttelte ihn. Er atmete zischend, und zwischen den hastigen Atemzügen spie er seine Wut aus, die er auf den Roboter übertrug.

»Du Miststück«, rief er. »Du Biest, du Kanaille, verstehst du denn nicht, sie sind hinter uns her! Die zerlegen dich in ein paar Drähte und Schrauben, verstehst du nicht, du Idiot? Dann bist du hin, genauso hin wie ich. Fürchte dich, du Biest, werd müde, fall hin, blute... Du Biest...«

Plötzlich blieb der Roboter stehen, Eric stieß an ihn an, packte ihn, schüttelte ihn. »Was ist los, bist du vielleicht beleidigt?«

Euklid gab seine Meßergebnisse durch. Seine Mikrofonstimme drang wie ein Fremdkörper in Erics Ohr, das vom Rauschen des Bluts erfüllt war.

»... Entfernung gleichbleibend, Richtung gleichbleibend...«

Der Roboter hatte zwei Arme eingezogen. Eric starrte auf den dritten. Dieser wies senkrecht nach unten.

»... Höhe gleichbleibend, Richtung gleichbleibend... drittes Zentrum; Pulsationsschwankung gleichbleibend, Entfernung gleichbleibend...«

»Euklid«, sagte Eric leise, »haben sie uns eingeholt? Nicht wahr, sie sind genau unter uns?«

»Ich zeige die Richtung an«, antwortete der Roboter. Sein Arm rührte sich nicht. Er sah aus, als erwartete er etwas. Eric starrte ihn an. Die Daten änderten sich nicht mehr. Eric stand plötzlich in einem Raum ohne Inhalt und ohne Zeit. Es gab keine Beständigkeit und kein Sichändern. Er hing haltlos in der Einsamkeit und in der Leere, in einem endlosen Augenblick gefangen. Es gab nur sein Denken und die Frage, die darin dröhnte...

Und dann entschied er sich, und die seltsame Starre war gelöst.

»Euklid«, sagte Eric, »führe mich zum Boot. Aber wenn du dabei auch nur einen Meter tiefer hinuntersteigst, mach’ ich dich zu Blechsalat!«

Der Roboter ging los, Eric hinterdrein.

»Bis jetzt haben wir Glück, alter Freund!« sagte Eric. »Sie verlassen das Wasser nicht.«

Die dämmrigen Gänge, durch die sie kamen, waren leer wie vor jener scheinbar unendlich langen Zeit, als Eric und Euklid in das Riff eingedrungen waren. Das matte Licht saß nebelhaft darin ohne erkennbaren Ursprung, steril und vage, wie eine diffuse Masse, ein Nebel, ein Hauch, ein toter Belag. Von geheimnisvollem Leben erfüllt aber war das Dunkel, das aus den zahllosen Löchern, den Zwischenräumen, Spalten, Klüften, Schächten und Schlünden fast körperhaft emporgriff, das seine fauligen Ausdünstungen verströmte, seine Geräusche, das Gemurmel, Geblubber, Gewinsel und manchmal einen Schlag, einen Knall. Eric bohrte seine Blicke in das Bodenlose, über das seine Füße hinwegtanzten, er erblickte Krallen und Schnäbel, Büschel gespreizter Haare, Hörner, aufgerissene Mäuler, phosphoreszierende Augen. Aber es waren Truggebilde seiner Phantasie.

Dann schimmerte es hell zwischen den Stämmen hindurch, ein strahlender Kreis kam ihnen entgegen, Gischt wehte flockig auf – sie hatten den Rand des Korallenblocks erreicht. Blendend und betäubend fiel die Helligkeit über Eric her, und als er die Augen wieder öffnen konnte, sah er vier graue Flecken auf den Korallenstrünken liegen, vier Bündel, unscheinbar und formlos, aber doch alarmierend wie das Aufheulen einer Sirene.

»Sind sie noch da?« fragte Eric.

»Höhe null, Entfernung zwölf Meter.«

»Und dort... kein Lebewesen?« Er wies auf die grauen Flecken.

»Nichts.«

Eric kletterte hinab und rollte den Stoff auf. Etwas fiel hinunter, sprang klirrend auf einen Ast auf und sprang weiter, klingend, rasselnd, tiefer und tiefer, immer leiser, bis es aufklatschte, mit einem schmatzenden Geräusch vom Wasser gefressen wurde und nun stumm blieb. Eric hielt die Kleidungsstücke seiner vier verschollenen Kameraden in der Hand, die uniformen Overalls, Unterwäsche und, darin eingewickelt, vier Blaster, vier Uhren, vier Taschenlampen, drei gelochte Erkennungsmarken.

Eric steckte die Lochplättchen zu sich. Diese Schufte! Er zog den Blaster und feuerte sinnlos ins Wasser hinunter, bis ihm der brühheiße Wasserdampf ins Gesicht fuhr.

»Entfernung ändert sich«, ließ sich Euklid vernehmen. »Erstes Zentrum; vierzehn Meter, sechzehn, achtzehn... zweites Zentrum, zwanzig, vierundzwanzig... drittes Zentrum; dreißig, vierunddreißig...«

»Sie ziehen sich zurück«, schrie Eric. »Das Schießen hat gewirkt! Wer hätte das gedacht! Los, hinab zum Boot!«

Wieder jagte er einige geballte Ladungen hinunter. Sie stiegen abwärts. Das Boot war noch da, es hing ein wenig schief, der Bug ragte aus dem Wasser, der Punkt, an dem sie das Seil befestigt hatten, hatte sich um mindestens drei Meter höher verlagert. Eric zerschnitt die Drahtlitze mit einem Blasterstrahl, das Boot fiel klatschend in sein Element. Eric sprang hinein, der Roboter wartete einen Augenblick ab, in dem der Bootsrand nahe an die Siliziummassen herankam, und war dann mit einem Spreizschritt darinnen.

Eric jagte los. Die schwarze Wand des Riffs rückte von ihnen ab. Vor ihnen erhob sich schlank und winzig, aber nichtsdestoweniger Brennpunkt aller momentanen Sehnsüchte Erics, der Wachtturm mit den unablässig kreisenden Antennen. Erst jetzt bemerkte Eric etwas auf dem Steuerpult liegen, was sich vorher nicht darauf befunden hatte: die vierte Erkennungsmarke, die beim Aufrollen der Kombinationsanzüge ins Wasser geklirrt war...

Der Überwachungsturm war insgesamt sechzig Meter hoch, davon ragten nur fünfzehn Meter aus dem milchigen Wasser. Seine Konstruktion war denkbar einfach – ein Rohr aus Hartaluminium, sechs Meter im Durchmesser, das durch eine fünfunddreißig Meter dicke Wasserschicht in den festen Steingrund des Meeres versenkt und thermoplastisch einzementiert war. Fünf Meter über dem Flüssigkeitsniveau stach ein Stern von Streben durch die Metallwand. Er trug den Boden der Kabine, der sich nach außen in einer Plattform fortsetzte. Sie war nur an einer Stelle von einer Falltür durchschnitten, von der Stufen bis fünf Meter unter den Normalpegel liefen und dort blind endeten. Der Ring einer Brüstung schloß sie ein.

Das halbe Volumen der Kabine nahmen der Sender, das Verstärkeraggregat und die Spinnbatterie ein, die andere Hälfte war leer. Eine magnetisch verschließbare Schiebetür stellte die Verbindung mit der Plattform her. Ein dickes Kabel führte in das nächste Stockwerk. Hier waren die Meßinstrumente montiert, die die physikalischen Bedingungen der Umgebung überwachten und jedes unerwartete Ereignis weitermeldeten – ein Aufflackern der Radioaktivität, eine Erhöhung der Strahlenintensität, tektonische Ereignisse, aber auch allgemeine Veränderungen im Landschaftsbild und vor allem die für kohlenstoff- und siliziumorganisches Leben charakteristischen Elektrizitäts- und Wärmepulsationen.

Der ganze von der Erde annektierte Weltraum war von solchen automatischen Stationen überzogen. Die meisten befanden sich auf unbewohnten Planeten und ergänzten die Beobachtungen der Überwachungssatelliten. Einige waren auch in menschenarmen Regionen besiedelter Planeten und einige mehr auf kalten Sonnen errichtet worden.

Dieses System ermöglichte es der Zentralregierung, die Übersicht über alle für sie interessanten Gebiete zu behalten. Es hatte sich ausgezeichnet bewährt. Zwar betrafen die meisten gemeldeten Veränderungen nur harmlose geologische oder biologische Ereignisse, aber einige Male hatten die Meldungen auch rechtzeitig auf bedenkliche Erscheinungen aufmerksam gemacht, wie auf die progressive Entwicklung von intelligenten Kieselsäurestrukturen auf Sixta I oder auf die Einwanderung der Pseudoskorpione in den Bereich von Schmidt VII.

Eric Frost hatte bisher nur mit den harmlosen Fällen zu tun gehabt. Aber hier handelte es sich um eine ernste Situation, und ernste Situationen fordern außergewöhnliche Maßnahmen. Eric schob Sid beiseite, der ihn mit Fragen bestürmte, und trat in den Senderaum. Er drückte auf die Taste, die den Notruf auslöste, und wartete.

Sid ging aufgeregt in die Kabine, der Roboter folgte ihm und trat zur Steckdose, um sich aufzuladen.

»Nun red schon, was hat das alles zu bedeuten?« drängte Sid.

»Hier Paula Xaver Paula«, erscholl eine überlaute Stimme aus dem Lautsprecher. Eric regelte die Lautstärke. »Hier Paula Xaver Paula. Wir rufen Heinrich zwei Strich vier Strich vierundzwanzig. Heinrich zwei Strich vier Strich vierundzwanzig, bitte kommen!«

Eric trat ans Mikrofon und drückte die Sprechtaste. »Hier Heinrich zwei Strich vier Strich vierundzwanzig. Achtung! Notstufe zwei. Benötige Verbindung über Hyperrelais. Stellt bitte Verbindung mit Überwachungszentrale her. Wir warten. Ende!«

Er ließ die Sprechtaste los, trat wieder ins Freie hinaus.

»Du blutest ja«, rief Sid, »komm ins Schiff, ich behandle dich.«

Er packte Eric beim Ärmel und zog ihn hinter sich her, um den Turm herum, dorthin, wo die Rakete in der magnetischen Schiene ankerte, über die ausgefahrene Leiter in die Toröffnung hinein, in den Hauptraum des kleinen Fahrzeugs, der nicht mehr als drei Meter im Durchmesser maß.

Eric ließ es mit sich geschehen. Als Reaktion auf das Erlebte überkam ihn eine lähmende Wunschlosigkeit. Ihm war, als sei seine Energie verbraucht, seine Kraftreserve vertropft und das letzte Quäntchen Wille aus ihm hinausgepumpt. Er kam sich vor wie eine Gummipuppe, wie ein hohler Abklatsch seiner selbst. Das einzige Gefühl, das ihm geblieben war, war ein spinnwebendünner Hauch von Verwunderung, der alles das umschloß, was er eben erlebt hatte. Er besaß kein Training im Heldentum und keinen selbstvernichtenden Ehrgeiz. Er hatte nichts Außergewöhnliches geleistet und war noch nie über sich selbst hinausgewachsen. Er hätte sich überhaupt nicht für fähig gehalten, eine solche Situation zu überstehen.

Ein Schmerz, als zöge ihm jemand die Haut vom Knie, ließ ihn zusammenzucken, dann machte sich die Wirkung der antiseptischen schmerzstillenden Lösung bemerkbar, mit der Sid seine Wunden wusch.

»Wo hast du dir das geholt?« fragte Sid.

Irgend etwas hatte ihn aufrechtgehalten, irgend etwas war über ihn gekommen, das er an sich noch nicht gekannt hatte. War es Gehorsam oder Lebenswille, Feigheit oder Mut? War es etwas Gewöhnliches, nur eben noch nicht Erlebtes, oder etwas Seltsames, Erschreckendes, etwas Erfreuliches oder etwas Böses? Er wußte von den Robotern, die in den Reihen der Pseudoskorpione Amok gelaufen waren, die die Eissperre der Suiziden durchbrochen hatten, die Schiffbrüchige aus Stichflammen und Explosionen herausgeholt hatten. Aber er war doch kein Roboter!

Die Eiweißschicht des plastischen Verbandmaterials, der in der Luft erstarrenden Flüssigkeit, mit dem Sid seine Abschürfungen verschlossen hatte, legte sich mild über seine geschundenen Körperstellen.

Habe ich richtig gehandelt? fragte er sich. Ich habe Erfolg gehabt. Ich habe das Bestmögliche aus der Situation herausgeholt. Ich habe die Information nicht vernichtet, sondern gerettet. Jetzt ist der Raum mit elektromagnetischen Impulsen durchsetzt, kilometerlangen Schlangen aus schwingenden Kräften, die kreuz und quer dahinflitzen, nebeneinander und gegeneinander, ganze Sterne von unsichtbaren Blitzen, die von zahlreichen Stationen hinausspringen, bis sie jenes freie Hyperrelais gefunden haben, das meine Informationen durch den endlosen interstellaren Raum schleusen wird. Ich habe Erfolg gehabt, dachte er noch einmal. Aber hat man nur Erfolg, wenn man richtig handelt? Und hat man richtig gehandelt, wenn man Erfolg hat?

»Alles in Ordnung, Alter«, sagte Sid.

Während seines Abenteuers hatte er keine Zeit gehabt zu überlegen. Er hatte gehandelt, ohne klar zu denken. Wenn er etwas falsch gemacht hatte – konnten sie ihn bestrafen?

»Sid«, fragte er, »habe ich etwas falsch gemacht?«

Er rief sich die Ereignisse ins Gedächtnis zurück und berichtete.

»Habe ich etwas falsch gemacht?« fragte er dann wieder.

Sid fuhr zusammen.

»Falsch gemacht«, ächzte er. »Es war Wahnsinn, hörst du: Wahnsinn, zurückzukehren. Und du bist noch stolz darauf, daß du entkommen bist! Wie willst du denn wissen, ob sie nicht längst dein Gedächtnis analysiert haben? Vielleicht sind sie schon auf dem Weg zur Hyperschleuse!«

»Aber ich habe das Gefühl, ich glaube nicht, daß sie –«

»Du hast Gefühle«, höhnte Sid. Aufgeregt stach er mit dem Zeigefinger in die Richtung Erics, als wollte er ihn durchbohren. »Was willst du denn der Zentrale berichten? Hast du es dir überlegt?«

Eric brummte etwas Unverständliches.

»Weißt du, was ich sollte? Ich sollte die Sache melden!«

»Das besorge ich selbst.«

»Sei nicht blöd, ich melde dich natürlich nicht, ich grabe mir doch nicht selbst das Grab.«

»Du glaubst, daß –«

»Wenn ich dich erschießen muß, bin ich hier festgenagelt – wir brauchen doch zwei Leute zum Start! Es bleibt uns nichts übrig, als...«

»... als was?«

»Wir verduften schleunigst, alle beide. Ich kenne nicht weit von hier einen Planeten, in zwei Jahren können wir dort sein, da tauchen wir unter. Wir werden uns...«

Er schwieg plötzlich. Beim Hin- und Herlaufen hatte er sich eben der Tür zugewandt. Dort stand ein Schatten, ein dunkler Kreis gegen die weißglänzende Aluminiumwand des Turmes.

»Ein Hyperrelais ist frei«, sagte Euklid.

Eric stand plötzlich in einem Raum ohne Inhalt und ohne Zeit. Es gab keine Beständigkeit und kein Sichändern. Er hing haltlos in der Einsamkeit und in der Leere, in einem endlosen Augenblick gefangen. Es gab nur sein Denken und die Frage, die darin dröhnte.

Und dann entschied er sich, und die seltsame Starre war gelöst.

Eric stemmte sich aus seinem Hocker hoch und sah den Kameraden an. – »Geht alles in Ordnung, Kleiner«, sagte er.

Er ging in den Funkraum hinüber, die Sprechtaste war schon hineingedrückt. Der Roboter schob sich neben ihn. Sid kam hinterdrein und lehnte sich an die Wand.

»Hier Eric Frost auf dem vierten Planeten von Heyse II, Wachtturm vierundzwanzig. Wir haben Anzeichen von fremdartigen Intelligenzen vorgefunden.«

Es dauerte zwölf Sekunden, bis Antwort kam. Die Entfernung bis zum Relais und vom Relais bis zur Erde betrug also drei Millionen Komma sechs Kilometer. Dazwischen lagen die unermeßlichen Strecken, die durch den Hyperraum überbrückt wurden.

»Hier Zentrale, Abteilung Cäsar neun. Berichte über die Umstände der Entdeckung.«

»Ich, Eric Frost, drang in den Korallenstock ein, dessen Emportauchen die Wachstation gemeldet hat. Ich – und der Informationsroboter. Auf einer Lichtung bemerkte ich ein Kind. Den Vorschriften gemäß schoß ich sofort. Es dürfte sich aber um keinen Realkörper gehandelt haben, eher um eine Projektion. Der Roboter meldete ihn nicht. Dagegen stellte er die typischen Wärmepulsationen von Organismen fest, etwa fünfzig Meter dahinter. Nach der Blasterentladung war vom Kind nichts mehr zu sehen, doch die Pulsationszentren begannen sich langsam zu nähern. Gemeinsam mit dem Roboter konnte ich entkommen.«

»War das Bild des Jungen deutlich oder verschwommen? War es schwarz-weiß oder farbig? Verschwand es nach dem Schuß augenblicklich oder allmählich?«

Eric blickte auf Euklid, der regungslos am Pult stand. Euklid weiß alles, was ich weiß, dachte er. Er weiß sogar mehr.

»Das Bild war deutlich, und es war farbig. Nach dem Schuß verschwand es im Nebel der Entladung.«

»Noch etwas zu bemerken?«

»Ich melde, daß mich Sid Rosselino zur Flucht von der Truppe überreden wollte.«

Hinter Eric ertönte ein Stammeln. »Eric, du hast mich... Wie konntest du das tun! Wie konntest du mich um Gottes willen –«

»Sei still, Kleiner«, sagte Eric. Er stand so, daß er beide, Sid und den Roboter, sehen konnte.

Die Pause dauerte wieder ihre zwölf Sekunden.

»Eric Frost und Sid Rosselino haben sich mit ihrer Rakete sofort zur Hauptstation der Sonne Smirnikoff zu begeben und sich dort bei der Hafenpolizei zu melden. Ende.«

Ein Knacken im Mikrofon, dann Stille. Eric schaltete den Sender aus. Er blieb so stehen, wie er stand. Sid war bleich, seine Lippen zuckten, seine dunklen Augen waren dunkler als sonst. Das Facettenauge Euklids glänzte matt.

Eric zog den Blaster. Sein Gesicht war maskenhaft starr. Niemand wußte, daß er die Zähne eisern aufeinander biß und wie mühsam er die Muskeln zu beherrschen suchte, die seine Knie gestreckt hielten. Heldentum liegt mir wirklich nicht, dachte er.

Er hob die Waffe und legte an. Langsam und konzentriert zog er den Hahn durch. Es zischte leise, dann glühte es orange und weiß auf, einen Augenblick stand der Roboter in einen rotsamtenen Mantel gehüllt, dann knickten seine Spinnenbeine wie Streichhölzer ab, mit dumpfem Dröhnen schlug die Kugel am Boden auf, einige Ringsegmente lösten sich voneinander, rollten durch den Raum... Das Zischen hatte aufgehört, eine krause, verbackene, fladenartige, rauchende Masse lag auf dem Boden, einzelne zähe Blasen wuchsen und zerrissen mit kleinen puffenden Geräuschen. Euklid hatte seine Funktion eingestellt.

Sid stand an die Wand gepreßt, er hielt die Hände mit gespreizten Fingern vor sich, als ob er etwas abwehren wollte. Eric berührte den Lauf des Blasters leicht mit den Fingerspitzen, um festzustellen, ob das Metall noch heiß war. Dann steckte er ihn ein.

»Ich mag Spitzel nicht«, sagte er, »auch nicht solche aus Blech und Draht. Na komm, Kleiner«, fügte er hinzu, als sich Sid noch immer nicht rührte.

Er schob den Kameraden vor sich her, zur Tür hinaus. Die rote Sonne unter dem Horizont war inzwischen wieder ein ganzes Stück weiter nach rechts gezogen, die weißen Wellen gischteten und schäumten, doch dort, wo früher der schwarze Strich gelegen hatte, türmte sich nun ein Berg. Und dieser Berg war rechts und links genauso nahe wie vorn.

Das brachte Sid in die Wirklichkeit zurück. Sie rannten um die Plattform herum, und sie merkten, daß sie behindert waren, als müßten sie sich gegen eine Last stemmen. Es ging bergauf – der Turm stand schief. In wenigen Stunden würde er aus seinen Fundamenten gerissen sein, das letzte Stück Meer würde verschwunden sein, und die Korallenbank würde den Planeten gänzlich überziehen.

Ein Zittern lief über die Plattform, der Turm bebte und knirschte wie unter dem Biß eines zerrenden Giganten. Sie kamen an jene Seite, wo ihr Raumschiff stand oder, richtiger gesagt, hing. Auch hier war die schwarze Wand, wenn auch ein wenig weiter entfernt als in der anderen Richtung.

Sid stürmte zu den Aggregaten und ließ sie anlaufen. Das Bienengesumme der Milliarden Ionisationsstöße begann, ausgelöst von den Elektronen, die auf Caesiumatome trafen. Das Plasma entstand und wurde angeheizt.

Eric zog die Leiter ein und ließ die Tür in die magnetische Sperre einschnappen. Dann wandte er sich dem Elektronenrechner zu und gab ihm die Daten für den Start an. Den Turm brauchte er nicht mehr zu schonen, und so verzichtete er auf das sonst übliche Abrücken von Bauwerken.

Acht Minuten vergingen, dann rief Sid: »Die kritische Temperatur ist erreicht!«

»Gut, komm her, wir starten.«

Sie ließen sich beide in den Andrucksesseln nieder. Eric als Pilot steckte seine Erkennungsmarke in den Schlitz des Anlassers und drückte auf den Starter. Eine Sekunde lang geschah nichts... Dann schienen die Schaumgummimassen, auf denen sie ruhten, um sie herum emporzuquellen... Und dann war nichts mehr da, was die Beschleunigung dämpfte – sie spürten ihr eigenes Gewicht zunehmen, mehr und mehr, bis ihre Glieder schwerer als Blei waren und sie die Trägheit wie mit Gummifäden an ihre Sitze fesselte.

»Wie bist du darauf gekommen, daß uns der Roboter nachspioniert hat?« fragte Sid. Seine Worte waren auseinandergerissen und leise, denn jeder Atemzug war gegen Schmerz eingetauscht. Eric antwortet ebenso mühsam.

»Ist es dir nicht aufgefallen? Der Mann, der meine Meldung aufnahm, sprach von einem Jungen, auf den ich geschossen habe. Ich habe immer nur ein Kind erwähnt, niemals einen Jungen. Er muß vorher mit Euklid gesprochen haben.«

»Warum hast du mich angezeigt, war das notwendig?«

»Ja, der Roboter ist gerade in die Rakete gekommen, als du von Flucht sprachst. Und er hört sehr gut.«

»Aber er konnte es doch nicht mehr mitteilen.«

»Das wissen wir nicht. Er stand während des ganzen Gesprächs neben mir. Er braucht seine Nachricht nur ins Ultraschallgebiet transformiert durchzugeben, und wir hören nichts davon. Das Mikrofon setzt Ultraschallschwingungen genausogut in elektromagnetische Wellen um wie gewöhnlichen Schall. Er kann sprechen, wenn ich es so nennen darf, während ich meine Nachricht durchgebe. Wenn die Zentrale darauf eingestellt ist, kann man diese Meldung dort von meiner lösen und getrennt abhören. Und es gibt noch andere Wege.«

»Aber du hättest mich doch nicht –«

»Es war nicht unbedingt erforderlich, aber doch angeraten. Hätte ich es nicht getan, hätten sie uns sicher sofort eine Patrouille an den Hals gehängt. So glauben sie, daß wir brav und redlich auf dem Weg nach Smirnikoff sind.«

Eric drosselte die Energiezufuhr, der Andruck ließ nach. Die beiden Kameraden traten zum Bildschirm und richteten das Objektiv auf den Planeten, den sie vor kurzem verlassen hatten. Er war eine schwarze Kugel mit einem winzigen weißen Feld in der Mitte. Ein leichter rötlicher Schleier von angeregten Caesiumatomen dämpfte die Schärfe der Konturen. Es sah aus, als ob das Schwarz im Begriff war, sich zu schließen. Das rote Leuchten, das hinter seinem Rand vorbeidrang, wurde zusehends heller, bis sich die Sonne Heyse II langsam ins Blickfeld schob. Jetzt kam sie als glühender Rand hinter dem Planeten hervor, zuerst dort, wo früher der Quellpunkt ihres Glühens gesessen hatte, dann aber auch an den anderen Seiten, bis sie den Planeten als blendende Korona umgab. Und in dem Maß, wie sich der Planet verkleinerte, dehnte und streckte sie sich, den schwarzen Schattenkreis des Planeten überstrahlend, bis sie ihn gefressen zu haben schien.

Sid Rosselino blühte sichtlich auf. Seine Lebensgeister regten sich wieder. Er zog einen Kamm hervor und versuchte, in seine widerspenstigen schwarzen Strähnen einen Scheitel zu ziehen.

»Meinst du, daß es Krieg geben wird mit diesen Bestien?« fragte er.

»Warum Bestien?«

»Das fragst du noch? Denkst du nicht an unsere Vorgänger, die zwei verschollenen Trupps? Denkst du nicht an das Kind? An die Kombinationsanzüge der Toten, mit denen sie dich warnen wollten?«

»Bist du sicher, daß das eine Warnung sein sollte? Vielleicht wollten sie uns nur etwas zurückgeben, das nicht ihr Eigentum war. Und wer sagt dir, daß sie unsere Kameraden getötet haben? Du weißt, daß das Gesetz uns vorschreibt, uns selbst zu vernichten, wenn akute Gefahr besteht, wenn man uns gefangennimmt. Und das Kind, das ist das Seltsamste, es gibt mir am meisten zu denken. Um es projizieren zu können, müssen sie über hochentwickelte technische Mittel verfügen. Daher meine ich, daß es ihnen ein Leichtes gewesen sein müßte, mich in ihre Gewalt zu bringen. Wenn sie es nicht getan haben, dann nur, weil sie es nicht wollten. Sie haben versucht, in meine Nähe zu kommen, und das ist ihnen gelungen. Sie hätten mich töten oder fangen können. Aber sie haben es nicht getan. Was können sie beabsichtigt haben?

Zähle zwei und zwei zusammen: Sie versuchten, friedlichen Kontakt aufzunehmen. Und das stimmt auf einmal mit dem wunderbar überein, was mir immer unerklärlich erschienen ist: das Auftreten des Kindes. Könnte es nicht ein Friedenszeichen sein? Überlege einmal! Was tun wir, wenn wir einem Fremden Frieden anzeigen wollen? Wir halten ihm ein Blatt oder eine Blume entgegen – für uns sind das Symbole des Friedens. Was aber soll uns ein Wesen präsentieren, das ganz andere Dinge benutzt als wir? Was bleibt ihm übrig, als unsere Gehirne nach etwas zu durchforschen, was für uns das Friedlichste und Sympathischste ist, was es gibt: ein kleines Kind! Ich habe auch zuerst geglaubt, es sei eine Falle. Aber wer so intelligent ist wie diese Wesen, stellt keine so plumpen Fallen. Es war ein Friedenssymbol!«

Sid wiegte den Kopf und stieß einen Pfiff aus.

»Donnerwetter, ich glaube, du hast recht! Aber was wird nun geschehen?«

»Das ist nicht einfach abzuschätzen. Unsere Regierung sieht jeden Eindringling als Angreifer an. Bis jetzt haben wir noch keine friedfertigen Lebewesen im Weltraum getroffen – oder zumindest weiß ich nichts davon. Also wird die Regierung losschlagen. Daß die Lage ernst ist, daß die Invasoren mächtig sind, weiß sie. Also wird sie das schwerste Geschütz auffahren, das sie besitzt: Antimaterie. Ich bin überzeugt, daß sie das ganze System der Sonne Heyse II mit Antiwasserstoff vernichten wird.«

»Aber vielleicht wäre eine friedliche Zusammenarbeit viel fruchtbarer!«

»Wer weiß das? Ich weiß es nicht, und du weißt es nicht, und niemand weiß es. Für die Regierung gibt es nur den Weg der Sicherheit. Und der heißt Vernichtung.«

Sid runzelte die Stirn. Er war kein großer Denker, kein überlegener Geist, nur ein Durchschnittscharakter mit Durchschnittsbegreifen. Und wenn er auch kein Philosoph war, so kam ihm doch in den Sinn, daß hier etwas tragisch war – falsch, traurig und tragisch.

Sid konnte es nicht ausdrücken, obwohl er es Eric gern gesagt hätte. – Statt dessen fragte er: »Und wohin fliegen wir?«

»Zu deinem Planeten, Kleiner«, sagte Eric und lehnte sich tief aufatmend in seinen Stuhl zurück.

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