Wölfe im Wald

Lautlos wie ein Gespenst bewegte sich Vogelscheuchen-Jack durch den Wald, auf Pfaden, die nur er sehen konnte. Er war Teil des Waldes und kannte sich darin aus wie in seiner Hosentasche. Schlafenden Riesen gleich ragten die hohen Bäume auf. Ein böiger Wind rüttelte an ihren knorrigen Ästen. Vereinzelt strahlte fahles Mondlicht durchs Laubdach und bildete am Boden schimmernde Pfützen. Plötzlich blieb Jack stehen, tauchte in den Schatten ab und rührte sich nicht. Irgendetwas hier war ihm nicht geheuer. Schnuppernd hielt er die Nase in den Wind, nahm aber nur vertraute Gerüche wahr: den scharfen Duft von Borke und Blättern und das volle Aroma des Waldbodens. Jack konzentrierte sich auf sein Gespür. Es zog ein Gewitter auf, eines, das besonders heftig zu werden versprach. Doch das hatte er schon den Wolken am Nachmittag angesehen und der schwülen Luft angemerkt. Was ihn da irritierte, befand sich hier im Wald… etwas Altes und Schreckliches, erwachend aus langem Schlaf__

Damals wohnten Riesen in der Erde.

Etwas Böses trieb sich um. Die Vögel und Tiere wussten Bescheid. Gewöhnlich war auch die Nacht voll von kleinen hektischen Lauten, doch heute herrschte tiefes Schweigen, und alle Tiere hockten in ihren Nestern und Höhlen und warteten darauf, dass das Böse vorbeizöge.

Jack legte die Stirn in Falten. Wie war es möglich, dass im Wald ein böses Wesen erwachte und er erst jetzt Kenntnis davon nahm? Dann glaubte er die Antwort gefunden zu haben und grinste vor sich hin. Er war in letzter Zeit so sehr mit seinen neuen Kumpanen beschäftigt gewesen, dass er für alles nur wenig Sinn gehabt hatte. Er hätte es kaum gemerkt, wäre der halbe Wald niedergebrannt. Jack seufzte reumütig. Über die jüngsten Entwicklungen war er beileibe nicht glücklich, aber daran konnte er im Augenblick nichts ändern. Ihm blieb nichts anders übrig, als abzuwarten und die Augen offen zu halten. Seine Augen… oder die eines anderen.

Grinsend stand er auf, schloss die Augen, ließ seinen Geist zwischen den hohen Bäumen ausgreifen und gab einen tonlosen Ruf von sich. Er schlug die Augen wieder auf und wartete geduldig, bis wenige Minuten später ein heller Schatten durch die Nacht herbeischwebte. Jack streckte seinen Arm aus, auf dem sich kurz darauf eine Eule niederließ. Die Krallen drangen durch seine Lumpen, nicht aber in die Haut. Die Eule schaute ihn mit sehr ernster Miene an und Jack begegnete ihrem Blick mit seinen großen goldenen Augen. Die beiden hatten sich schnell verständigt.

Auf weit ausgestreckten Schwingen flog er durch den Wald. Die Nacht war seltsam still, und im Finstern pochte dumpf das Böse wie ein riesiges Herz. Darauf nahm er Kurs und flog zwischen schwankenden Bäumen neugierig näher. Dann schwebte er auf die Lichtung hinaus. Mondlicht blitzte um ihn auf und er verharrte flatternd in der Luft. Inmitten der Lichtung erhob sich ein Berg aus Stein und Holz die Grenzfeste.

Normalerweise wäre er an ihr als Rastplatz oder auch Brutstätte durchaus interessiert gewesen. Nicht so jetzt.

Denn dort lauerte das Böse. In der Dunkelheit öffnete sich kriechend langsam ein riesiges Auge. Die Eule machte kehrt, floh zurück in den Schutz der hohen Bäume, und Jack war wieder ganz er selbst, der Kontakt unterbrochen.

Als er den Arm hob, flatterte der Vogel auf und verschwand im Dunklen. Jack setzte eine nachdenkliche Miene auf. Als er sich selbst im Fort aufgehalten hatte, waren seine Sinne auf Grund der Nähe zur Menschenwelt wie betäubt gewesen; jetzt aber, da er sich hier draußen im Wald aufhielt, schrien seine Instinkte geradezu auf bei dem Gedanken, zum Fort zurückzukehren. Leider blieb ihm keine andere Wahl. Schulter zuckend setzte sich Jack in Bewegung und beschleunigte in einen Laufschritt, den er, wenn es drauf ankam, stundenlang beibehalten konnte. Er war schon spät dran, und Hammer wartete nicht gern. Jack schmunzelte. Es gab vieles, das Hammer an ihm, Jack, nicht leiden konnte.

Er dachte über Jonathon Hammer nach - und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Der Kerl war kalt wie eine Hundeschnauze, aber immerhin hatte er ihm das Leben gerettet, und Vogelscheuchen-Jack blieb anderen nichts schuldig. Es war sein Fehler gewesen, dass er sich nicht besser vorgesehen hatte und in eine simple Falle getappt war, eine mit Reisig abgedeckte Fallgrube. Die Gardisten hätten bestimmt kurzen Prozess mit ihm gemacht und seinen aufgespießten Kopf auf dem nächsten Markplatz als abschreckendes Beispiel zur Schau gestellt, wäre Hammer nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen.

Jack lief lautlos und wendig zwischen den dicht bei dicht stehenden Bäumen einher, von denen noch infolge des Kriegs viele tot waren und vor sich hin moderten. Jack empfand diese in den Wald geschlagene Wunde, als trüge er sie am eigenen Körper. Zu anderen Zeiten wäre er vor jedem einzelnen Baum stehen geblieben, um nach Anzeichen neuen Lebens Ausschau zu halten, doch dazu hatte er in dieser Nacht keine Zeit. Vor ihm flackerte aus der Dunkelheit ein Lichtschein auf, worauf er in einen langsameren Schritt zurückfiel. Leise pirschte er sich bis an den Rand einer Lichtung vor und ging in Kauer-Stellung. Er sah Hammer vor einem hoch auflodernden Lagerfeuer ungeduldig auf und ab schreiten und fragte sich, wie er ihm am besten beibringen sollte, was er über das Fort in Erfahrung gebracht hatte.

Jonathon Hammer war ein großer, kräftiger Mann mit beeindruckend breiten Schultern. Er war Ende dreißig, was man ihm auch ansah. Das dunkle Haar trug er kurz geschnitten und nach vorn gebürstet, wo es schon recht schütter geworden war. Obwohl sein Lächeln täuschend warmherzig wirkte, konnte seine Miene nicht verhehlen, dass er in Wahrheit kalt und rachsüchtig war. Über einem weißen Leinenhemd trug er eine einfache Lederweste, und die Beine seiner schwarzen Hose waren in die Stulpen der dreckverschmierten Stiefel gestopft. Dem Äußeren nach hätte er alles Mögliche sein können, sowohl Händler als auch Gerichtsvollzieher. Sein langes Schwert aber, das er geschultert hatte und das ihm quer über den Rücken hing, wies ihn eindeutig als den Krieger aus, der er war. Obwohl Hammer von stattlicher Größe war, ragte der Knauf des Schwertes über den Kopf hinaus, während die Spitze fast den Boden streifte. Ein längeres Schwert hatte Jack nie zuvor gesehen, und der Breite der Scheide nach zu urteilen schien es auch überaus gewichtig zu sein. Hammer aber bewegte sich so unbeschwert damit, als wäre es gar nicht da. An der Hüfte trug er noch ein zweites Schwert, das er auch hin und wieder zur Hand nahm. Das

Langschwert auf dem Rücken aber hatte ihn Jack noch nie ziehen sehen. Hammer nahm es selbst dann nicht von der Schulter, wenn er sich schlafen legte.

Hammer hatte schon als Söldner gedient, als Leibwache eines Barons und bei der königlichen Garde, war aber immer schon ehrgeiziger gewesen, als ihm gut tat. Wo er sich auch befand, früher oder später lief er aus dem Ruder, trank übermäßig viel, verführte andere zum Spiel oder schlug sich mit Offizieren, die er nicht leiden konnte. Und dann wurde er wieder auf die Straße gesetzt. Während einer seiner Reisen hatte er sein Langschwert gefunden. Unter welchen Umständen - das verriet er nie.

Vor nicht allzu langer Zeit hatte er zu einer Eskorte gehört, die eine Wagenladung voller Gold zur Grenzfeste begleitet hatte. Seitdem dachte er an nichts anderes mehr. Mit einer solchen Menge Gold würde er ein eigenes Söldnerheer ausheben und das Hagreich im Sturm erobern können. König Jonathon der Erste… Jack grinste.

Hammer hatte immer schon hoch hinaus gewollt. Kaum war das Gold im Fort abgeliefert und sicher deponiert, hatte er sich aus dem Staub gemacht, lebte seitdem im Unterholz und strickte an einem Plan, wie er sich das Gold beschaffen konnte. Doch in jener Nacht schien im Fort etwas vorgefallen zu sein, das er nicht vorhergesehen hatte.

Hammer hatte am Waldrand gestanden und grauenvolle Schreie gehört, aber nicht den Mumm gehabt, auf eigene Faust nachzusehen, was da passiert war. Während der nächsten Tage hatte er lediglich Ausschau gehalten, doch im Fort war kein einziges Lebenszeichen zu erkennen gewesen. Es dauerte eine Weile, bis er Wilde, den Bogenschützen, ausfindig gemacht hatte und Vogelscheuchen-Jack für sich gewinnen konnte. Doch diese Zeit war gut genutzt, wie er fand. Mit diesen beiden Burschen an seiner Seite würde er bestimmt Erfolg haben.

Dumm nur, dass die Ranger eher im Fort waren.

Jack hockte im Schatten am Rande der Lichtung, auf der Hammer und Wilde lagerten. Jede Verzögerung war gefährlich. Je später er sich zurückmeldete, desto mehr würde Hammer ihn dafür büßen lassen. Dennoch zögerte Jack. Er brauchte Zeit, um über die beiden Kerle nachzudenken, denen er sich als Verbündeter angeschlossen hatte. Hammer, ihm schuldete er etwas. Aber Wilde…

Edmond Wilde saß auf der anderen Seite des Feuers und nagte gierig an einem Hühnerknochen. Er war groß und hager, ging auf die dreißig zu und trug schäbige schwarze Klamotten. In dem schmalen Gesicht standen die dunklen Augen eng beieinander, und im Dunklen sah er aus wie ein unglücklicher Geier. Die schwarzen Haare waren lang und fettig. Ständig fielen ihm einzelne Strähnen ins Gesicht, die er dann mit einem hektischen Kopfschlenker zurückwarf. Insgesamt bewegte er sich verstohlen und unbeholfen, als fürchtete er, auf sich aufmerksam zu machen. Wenn er aber einen Bogen oder ein Schwert in der Hand hielt, schien er wie ausgewechselt. Dann richtete er sich kerzengerade auf, seine Augen glänzten hellwach, und er strahlte etwas aus, das Angst machte. Als Bogenschütze war Wilde fast so gut, wie er sich selbst sah, das heißt, er war meisterhaft.

Der Bogen lag neben ihm auf dem Boden, entspannt, um die Sehne zu schonen. Es war ein Langbogen von über zwei Metern Länge. Jack hatte ihn einmal heimlich zu spannen versucht und all seine Kraft aufbringen müssen, um die Wurfarme zu biegen. Da Wilde nicht gerade athletisch war, vermutete Jack, dass es einen besonderen Trick geben musste, mit dem sich der Bogen leichter spannen ließ. Er hätte Wilde gern danach gefragt, doch Wilde war jemand, den man nur in Ausnahmefällen etwas fragte. Als Hammer ihn aufgegriffen hatte, war er auf der Flucht gewesen, hatte aber nie erklärt, wovor. In Anbetracht seiner Vorlieben und Einstellungen vermutete Jack, dass er wahrscheinlich wegen Mordes oder Vergewaltigung gesucht worden war. Oder sowohl als auch.

Der Bogenschütze verlor kein einziges Wort über seine Herkunft, aber seine Kleider, obwohl abgetragen und dreckig, schienen ursprünglich von sehr guter Qualität gewesen zu sein. Seine Sprache war durchweg grob und vulgär, und doch ließ er manchmal einen gehobenen Ton anklingen. Was allerdings kaum etwas besagte. Im Hinblick auf Wilde wusste Jack nur eines: dass er ein Schwein war, durch und durch. Solange sich Hammer in Hörweite aufhielt, sang Wilde das Hohe Lied der Treue auf ihn. Seine Loyalität aber glich eher der eines hungrigen Wiesels. Hammer führte ihn an einer Kandare aus Schrecken und Brutalität, was Wilde für selbstverständlich zu halten schien. Jack grinste grimmig. Auch er war der Meinung, dass Wilde keinen Fehler hatte, der sich nicht mit einem Galgenstrick aus der Welt bringen ließe. Er war ein mieser, heuchlerischer, hinterhältiger Hund, ekelhaft, wenn betrunken, unerträglich, wenn nüchtern. Er würde einem Bettler die Pfennige aus dem Hut nehmen und sich dann auch noch darüber beklagen, dass es nur Pfennige seien. Wie auch immer, er war ein meisterhafter Bogenschütze, der Hammer dienlich sein konnte, und darum blieb er.

Jack seufzte wieder. Dass er sich ausgerechnet diesem Jonathon Hammer gegenüber verpflichtet fühlen musste!

Achselzuckend richtete er sich auf und tappte leise auf die Lichtung hinaus.

Wilde zuckte aufgeschreckt zusammen, sprang auf und griff nach seinem Schwert. Als er sah, wer da kam, setzte er sich mit verärgerter Miene wieder ans Feuer.

»Der edle Wilde ist zurück«, sagte er zu Hammer.

Hammer achtete nicht auf dessen Geknurre. Er war völlig ungerührt geblieben von Jacks dramatischem Auftritt und bedachte ihn nun mit kühlem Blick. »Du hast dir viel Zeit gelassen«, sagte er.

»Es ist ein großes Fort«, antwortete Jack. »Ich habe überall nachgesehen, aber nirgends eine Spur von dem Gold entdeckt. Da gibt es zwar keine einzige Leiche mehr, dafür aber jede Menge Blut. Ich hab mir auch ein Bild von den Rangern machen können, die sich zurzeit dort aufhalten. Sie haben mich dann entdeckt, und ich musste machen, dass ich fortkam.«

Hammer krauste die Stirn. »Haben sie dich erkannt?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht.«

»Das war unachtsam von dir«, sagte Hammer. »Sehr unachtsam.«

Er stand gemächlich auf und schlug mit dem Handrücken so wuchtig zu, dass Jack auf dem Boden landete. Er hatte den Schlag zwar kommen sehen, aber nicht mehr rechtzeitig in Deckung gehen können. Hammer war für seine Größe ausgesprochen schnell. Jack wich kriechend ein Stück zurück, ohne Hammer aus den Augen zu lassen. Er spürte, dass ihm aus dem linken Nasenloch Blut tropfte, wischte mit der Hand darüber und sah auf den Knöcheln roten Schmier. Wilde kicherte schadenfroh. Jack nahm keine Notiz von ihm und stand langsam vom Boden auf. Er überging die Schmerzen im Gesicht und gab keinen Laut von sich. Jedes Wort wäre ohnehin überflüssig gewesen. Sobald er seine Schuld bei Hammer abgetragen und ihm geholfen haben würde, das Gold zu beschaffen, würde er sich schneller in den Wald verzogen haben, als Hammer mit der Wimper zucken konnte.

Hammer nahm wieder vor dem Feuer Platz. Nach einer Weile setzte sich Jack ihm gegenüber.

»Was hast du auskundschaften können?«, fragte Hammer mit ruhiger Stimme, gerade so, als hätte es den Gewaltausbruch vorhin gar nicht gegeben.

»Rein- und wieder rauszukommen ist kein Problem«, antwortete Jack und betupfte die Nase vorsichtig mit dem Ärmel. »Bewacht wird das Fort von vier Rangern, die aber nicht mal eine anständige Wache auf die Beine kriegen. Ich bin sicher, auch sie wissen nicht, wo das Gold steckt.«

»Vielleicht doch. Vielleicht haben sie's so gut versteckt, dass sie's mit der Wache nicht mehr so genau nehmen müssen«, überlegte Wilde.

»Ich habe mich überall gründlich umgesehen«, entgegnete Jack, der nach wie vor nur Hammer im Auge hatte.

»Da ist kein Gold.«

»Also nur vier Männer«, murmelte Hammer nachdenklich.

»Zwei Männer und zwei Frauen«, korrigierte Jack. »Die eine der beiden Frauen ist eine Hexe.«

Wilde rutschte beunruhigt hin und her. »Eine Hexe. Das gefällt mir nicht.«

»Hexen sind nicht weniger verwundbar als andere«, sagte Hammer. »Oder weißt du nicht mehr mit deinem Bogen umzugehen?«

Wilde grinste müde. Er nahm seinen Bogen zur Hand und hatte ihn mit einem schnellen, geschickten Handgriff gespannt. Dann zog er einen Pfeil aus dem Köcher, der neben ihm lag, legte ihn an die Sehne, und sah sich in aller Gelassenheit nach einem Ziel in der Dunkelheit jenseits des Feuerscheins um. Schließlich zog er die Sehne zurück, zielte und ließ den Pfeil fliegen - alles in einer einzigen fließenden Bewegung, die so schnell war, dass man ihr mit den Augen nicht folgen konnte. Gleich darauf fiel, von Wildes Pfeil durchbohrt, eine Eule vom Himmel. Sie zuckte noch ein wenig und verströmte Blut aus der schneeweißen Brust. Wie ein Blitz war Jack zur Stelle und ging vor dem Vogel, der scheinbar vorwurfsvoll zu ihm aufblickte in die Knie.

»Du hättest mir nicht folgen dürfen, mein Freund«, flüsterte Jack. »Ich bin in letzter Zeit in schlechter Gesellschaft.«

Dann brach er den Pfeil entzwei und zog ihn so vorsichtig wie möglich aus dem Vogelleib. Die Eule gab einen kläglichen Laut von sich. Jack legte seine linke Handfläche auf die blutende Wunde und schloss die Augen. Sein Geist griff weit aus, und die Bäume verliehen ihm Kraft. Er nahm diese Kraft auf und gab sie an den Vogel weiter, der sofort zu bluten aufhörte.

Bald war auch die Wunde verheilt und verschwunden. Jack öffnete die Augen und setzte sich zurück auf die Hacken. Das Zaubern erschöpfte ihn immer sehr. Die Eule rappelte sich auf. Anfangs stand sie noch unsicher auf den Beinen, anscheinend irritiert darüber, nun doch nicht sterben zu müssen. Dann warf sie Jack einen strengen Blick zu, breitete die Flügel aus und flog in den ihr vertrauten Nachthimmel auf.

Jack nahm eine Bewegung im Rücken wahr und wirbelte mit gezücktem Messer herum. Wilde hatte einen zweiten Pfeil aufgelegt, den er der Eule hinterherschicken wollte, zögerte aber, als er Jack sah.

»Nur zu«, sagte Jack. »Versuch's. Vielleicht hast du ja Glück.«

Wilde war sichtlich verunsichert. »Du wirst dich doch wohl nicht wegen einer verfluchten Eule an mir vergreifen wollen.«

»Meinst du?«

Wilde spürte plötzlich einen kalten Schauer über den Rücken rieseln. Zwar konnte ihm, dem Meisterschützen, ein Mann mit einem Messer kaum gefährlich werden, doch diese Vogelscheuche wusste die Kraft der Bäume für sich zu nutzen, und Wilde wähnte unzählige Augen auf sich gerichtet - die Augen des Waldes. Der Wind flüsterte in den Zweigen der Bäume am Rand der Lichtung, und ihm war, als hörte er warnende Stimmen.

»Es reicht«, sagte Hammer. Der Bann war gebrochen. Wilde atmete erleichtert auf. Er legte den Bogen ab und steckte den Pfeil zurück in den Köcher, worauf Jack sein Messer im Ärmel verschwinden ließ. Hammer nickte. »Packt eure Sachen zusammen«, sagte er. »Wir gehen zurück zum Fort.«

»Jetzt?«, stöhnte Wilde. »Mitten in der Nacht?« »Was ist los?«, fragte Jack. »Angst vorm Dunkeln?« Wilde warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Ich dachte eher an die Ranger. Deinetwegen dürften sie jetzt auf der Hut sein.«

»Sie werden nicht damit rechnen, dass wir schon heute Nacht wieder auftauchen«, sagte Hammer. »Wir können's uns nicht leisten, noch lange zu warten. Wenn alles nach Plan läuft, wird in wenigen Tagen Verstärkung eintreffen, und das heißt, wir hätten's dann mit einem ganzen Bataillon Gardisten zu tun. Wir sollten also das Gold - ich würde sagen, in spätestens vierundzwanzig Stunden - eingesackt und die Gegend verlassen haben. Es sei denn, wir vergessen die ganze Sache. Jack, wie wird das Wetter?«

»Ziemlich schlecht«, antwortete Jack. »Es zieht ein Gewitter auf. Ich spür's genau. Und es wird heftig regnen.

Sehr bald schon.«

»Könnte uns gelegen kommen. Als Ablenkung.« Hammer hob die rechte Hand und befingerte versonnen das mit Leder umwickelte Heft seines langen Schwertes, das neben dem Kopf über die Schulter hinausragte. Jack mochte es nicht, wenn Hammer auf diesen Tick verfiel. Es sah aus, als tätschelte er ein Tier. Das Langschwert machte Jack Angst. Selbst durch die silberne Scheide hindurch konnte er die rohe Gewalt spüren, die wie ein anhaltendes Summen von der Klinge ausging. Das Schwert hatte selbst magische Kräfte, und die waren alles andere als heilsam. Seit er mit Hammer zusammen war, hatte er ihn noch nie die Klinge ziehen sehen, und er hoffte insgeheim, dass es dazu auch nie kommen würde. Als Hammer die Hand endlich sinken ließ, konnte Jack wieder erleichtert aufatmen.

»Wilde«, sagte Hammer, »du bringst die Hexe um, sobald sich dir eine Gelegenheit dazu bietet. Wir dürfen kein Risiko eingehen. Ich werde mich mit Jack um die Ranger kümmern.«

Wilde nickte. Jack wollte etwas sagen, behielt es dann aber doch für sich. Er dachte an die Hexe zurück. Sie war jung und sehr hübsch. Doch er schuldete ihr nichts. Hammer gegenüber war er allerdings noch verpflichtet.

Aber nicht für immer, Hammer; nicht für immer.

Geduldig wartete er am Rand der Lichtung, während Hammer das Feuer löschte und Wilde sich mit geradezu zärtlicher Hingabe seinem Bogen und den Pfeilen widmete. Jack setzte sich auf einen Baumstumpf und ließ die Gedanken treiben. Wie so häufig in jüngster Zeit führten sie ihn zurück in die Fallgrube, aus der ihn Hammer befreit hatte.

Es war eine simple Falle. Jack folgte einem Wildwechsel, als er plötzlich in der Nähe das Gezwitscher aufgebrachter Vögel hörte. Sofort blieb er stehen, so reglos, dass er mit seinen Lumpen im grün besprenkelten Schatten des Waldes nicht auszumachen war.

Irgendetwas musste die Vögel aufgeschreckt haben, und Jack hätte nicht schon neun Jahre im Wald überlebt, wenn er solche Alarmsignale unbeachtet ließe. Nach einer Weile setzte er sich wieder in Bewegung und schlich vorsichtig auf die Stelle zu, wo er die Störung vermutete. Auf allen vieren kriechend, gelangte er schließlich an den Rand einer kleinen Lichtung. Mittendrin saß auf einem Stumpf ein Mann. Er hatte ihm den Rücken zugekehrt, trug die Uniform eines Gardesoldaten und war mit einer Axt bewaffnet, die neben ihm am Baumstumpf lehnte. Jack ließ ihn nicht aus den Augen und wartete, doch der Soldat rührte sich nicht. Andere Soldaten waren nicht in Sicht. Jack runzelte die Stirn. Anscheinend fahndete man wieder nach ihm. Vielleicht war das auf ihn ausgesetzte Kopfgeld erhöht worden. Wenn ja, würde der Soldat bestimmt nicht allein im Wald sein. Jack hielt es deshalb für ratsam, das Weite zu suchen.

Aber Neugier hielt ihn zurück. Der Soldat hatte sich während der ganzen Zeit, in der er ihn beobachtete, nicht von der Stelle gerührt. Er schien zu schlafen, zumal der Kopf nach vorn gebeugt war. Oder womöglich war er tot. Jack kniff die Brauen zusammen. Die Richtung, in die er sich von seinen Gedanken gedrängt sah, behagte ihm nicht, aber er konnte sie auch nicht außer Acht lassen. In diesem Teil des Waldes gab es zwar nicht viele Raubtiere, die sich über einen bewaffneten Mann hermachen würden, doch es war nicht auszuschließen, dass Wölfe aufkreuzten…

Jack biss sich auf die Unterlippe. Sich an einen bewaffneten Mann auf einer Lichtung heranzupirschen war selbst für ihn keine Kleinigkeit. Aber er musste herausfinden, warum der Soldat so reglos dahockte. Womöglich lief hier irgendwo ein Mörder frei herum. Und außerdem war er neugierig. Schmunzelnd schüttelte Jack den Kopf.

Eines Tages würde ihn die eigene Neugier noch in große Schwierigkeiten bringen.

Lautlos trat er hinter den Bäumen hervor und schlich auf die Lichtung hinaus. Schnell sah er sich nach allen Seiten um, bereit, auf das erste Anzeichen einer Gefahr wieder kehrtzumachen. Alles schien ganz vertraut. Die Sonne strahlte aus wolkenlosem Himmel. Es war angenehm warm. Insekten summten in windstiller Luft, und in den Bäumen sangen Vögel. Von dem nach wie vor reglosen Soldaten abgesehen, war die Lichtung leer.

Vorsichtshalber zog Jack das Messer aus dem Ärmel und schlich langsam näher, Schritt für Schritt, den Blick angestrengt auf den Rücken des Soldaten gerichtet. Fast hatte er die sitzende Gestalt erreicht, als der Boden plötzlich unter den Füßen nachgab und er in ein Loch stürzte.

Er landete so unglücklich und wuchtig auf dem festgetrampelten Lehmboden der Fallgrube, dass ihm für eine Weile die Luft wegblieb. Als der jähe Schmerz des Aufpralls abgeklungen war und Jack wieder durchatmen konnte, bewegte er behutsam Arme und Beine und stellte zu seiner großen Erleichterung fest, dass ihm alle Knochen heil geblieben waren. Ein gebrochenes Bein hätte seinen sicheren Tod bedeutet, selbst wenn es ihm gelungen wäre, der Grube zu entkommen. Er wäre eines elenden Hungertodes gestorben. Vorsichtig richtete er den Oberkörper auf und sah sich um. Er war fast zehn Fuß tief gestürzt und konnte von Glück sagen, dass er sich nur Prellungen und ein paar Schürfwunden zugezogenen hatte. Er stand auf und spitzte die Ohren, konnte aber nichts hören. Diejenigen, die ihm diese Falle gestellt hatten, waren offenbar nicht zugegen. Wenn er sich geschickt anstellte, würde er verschwinden können, bevor man ihn hier erwischte. Doch seine Hoffnungen wurden enttäuscht, als er feststellen musste, dass die Erde an den Rändern der Grube unter den Fingern weg bröckelte und keinerlei Halt bot.

Jack plierte nach oben in den hellen Ausschnitt. Es waren nur neun oder zehn Fuß, doch es hätte genauso gut ein Vielfaches davon sein können. An eine Flucht war nicht zu denken. Er versuchte es, doch es half nichts. Also setzte er sich auf den Boden der Grube und wartete auf seine Häscher. Vielleicht waren sie ja so gut und verzichteten darauf, ihn an Ort und Stelle zu töten.

Vielleicht würden sie ihn stattdessen im nächsten Ort aufs Schafott schaffen wollen. Dann bliebe ihm immerhin noch die Chance, Reißaus zu nehmen. Jack schmunzelte freudlos. Ein hübscher Gedanke, nicht mehr. Dass er ihnen noch einmal entwischte, wie früher schon so oft, würde man jetzt bestimmt zu verhindern wissen. Wenn seine Häscher schlau wären, würden sie ihm vom Grubenrand aus mit einem Pfeil den Garaus machen.

Jack lehnte sich an die Erdwand zurück und starrte in den Himmel. Der war hell und klar und sehr blau. Er befand sich in seinem Wald. Es gab schlimmere Arten zu sterben.

Plötzlich wurde es dunkler; die Umrisse eines Kopfes und breiter Schultern schoben sich vor den Ausschnitt.

Jack stand auf und griff nach dem Messer. Vor einem Pfeil in Deckung zu gehen hatte keinen Sinn, aber er würde sich wehren. Das war er seinem Namen schuldig.

»Hallo, da unten«, sagte eine Männerstimme.

»Hallo, da oben.« Die Stimme drohte zu kippen, was er aber nicht zuließ.

»Es scheint, du steckst in der Klemme«, sagte der Mann.

»Sieht so aus.«

»Kann es sein, dass du Vogelscheuchen-Jack bist?«

»Unter Umständen.«

Der Mann lachte. »Freu dich, dass ich hier zufällig vorbeigekommen bin. Augenblick, ich bin gleich wieder da.

Nicht weglaufen.«

Er verschwand. Jack schöpfte vorsichtig Hoffnung. Vielleicht hatte er ja tatsächlich Glück. Der Mann kehrte zurück und warf das Ende eines Seils in die Grube. Jack zog ein paar Mal kräftig daran, um dessen Festigkeit zu prüfen und kletterte dann aus der Grube. Flink wälzte er sich über den Rand und musterte seinen Retter mit argwöhnischem Blick. Der Mann war an seiner Haltung, der Montur und dem Schwert als Soldat zu erkennen, trug aber keinerlei Insignien. Er war groß und hatte ein durchaus freundliches Gesicht. Was aber mehr als alles andere an ihm auffiel, war das Langschwert, dessen Heft hinter der linken Schulter aufragte. Selbst aus der Entfernung einiger Schritte konnte Jack die Gewalt spüren, die in dieser Waffe steckte und darauf zu warten schien, losgelassen zu werden. Jack fragte sich, ob es für ihn in der Grube nicht womöglich sicherer gewesen wäre.

»Danke«, sagte er. »Könnte sein, dass du mir das Leben gerettet hast.«

»Könnte sein«, antwortete der Mann. »Wie bist du in dieses Loch hineingeraten?«

Jack zuckte die Achseln. »Ich war ein bisschen zu neugierig.« Er schaute sich um und war nicht überrascht zu sehen, dass der Wachposten immer noch auf dem Baumstumpf saß, gerade so, als wäre es ihm völlig gleichgültig, was hinter seinem Rücken vor sich ging. Jack ging auf die reglose Gestalt zu und sah ihr ins Gesicht. Es war eine Puppe - auf Abstand mit einer lebendigen Person zum Verwechseln ähnlich, aber eben nur eine Puppe. Jack musste lachen, obwohl ihm gar nicht danach zumute war.

»Vogelscheuche führt Vogelscheuche auf den Leim. Nicht schlecht. Und es hätte mich tatsächlich erwischt, wenn du nicht vorbeigekommen wärst. Besten Dank.«

»Das reicht mir nicht«, sagte der Mann ruhig.

Jack merkte auf und griff möglichst unauffällig mit der Rechten an den linken Ärmel, in dem sein Messer steckte.

»Versuch's gar nicht erst«, sagte der Mann. »Du willst doch nicht, dass ich mein Schwert ziehe, oder?«

»Nein«, antwortete Jack.

»Mein Name ist Jonathon Hammer. Ich habe dir das Leben gerettet. Du stehst jetzt in meiner Schuld, Vogelscheuchen-Jack. Die kannst du abtragen, indem du für zwei Monate in meinen Dienst trittst.«

Jack ließ sich die Grube und Hammers Schwert durch den Kopf gehen und nickte. »Na gut«, sagte er. »Für zwei Monate bin ich dein Diener.«

»Schön. Es heißt, dass du auf deine Art ein ehrenwerter Mann bist. Tu, was ich dir sage, und wir werden gut miteinander auskommen. Vielleicht wirst du sogar reich dabei. Solltest du allerdings querzutreiben versuchen…«

»Ich stehe zu meinem Wort«, knurrte Jack. »Darauf ist Verlass.«

»Ja«, antwortete Hammer grinsend. »So sagt man.«

Das war vor zwei Wochen gewesen. Seitdem ging es Jack so dreckig wie nie zuvor in seinem Leben. Mehr als einmal hatte er darüber nachgedacht, Hammer und Wilde den Rücken zu kehren und im Wald zu verschwinden.

Doch das konnte er einfach nicht. Vogelscheuchen-Jack war ein Mann, der auf Ehre hielt und niemandem etwas schuldig blieb.

Hammer und Wilde waren zum Aufbruch bereit. Jack führte sie durch den Wald zur Grenzfeste. Je eher er die ganze unleidige Geschichte hinter sich gebracht haben würde, desto besser. Jedoch - und darauf war er nicht weiter eingegangen, weil die beiden bloß gelacht hatten - mit dem Fort stimmte irgendetwas nicht. Darin spukte es. Das spürte er unter der Haut. Doch er sagte auch jetzt nichts und begnügte sich damit, Augen und Ohren besonders aufmerksam offen zu halten.

Es drängte sich ihm das ungute Gefühl auf, dass seine Probleme noch längst nicht überstanden waren.

Träume in erwachender Welt

Über dem Wald brach schließlich der Gewittersturm aus. Donner krachten, Blitze zuckten, und der Regen stürzte wie aus Eimern gegossen herab, schlug durchs Laub und prasselte auf den Boden. Die offenen Pfade verwandelten sich sofort in Suhlen aus Schlamm und Mulch. Die Vögel und alles Getier suchten in Löchern oder Bauten Schutz vor der Sintflut, und im ganzen Wald bewegte sich kein lebendes Wesen mehr, ausgenommen jene drei dunklen Gestalten, die, nass bis auf die Haut, mit fester Absicht ihr Ziel verfolgten.

Das Donnern schien kein Ende nehmen zu wollen; und die Blitze folgten Schlag auf Schlag aufeinander, dass es zwischendurch kaum wieder dunkel wurde. Die Banditen stampften durch tiefen Morast, rutschten immer wieder aus und fielen nicht selten der Länge nach hin; Hammer aber ließ sich durch nichts aufhalten und trieb die beiden anderen mit Nachdruck an. Der Mond war von dicken Wolken verhängt, und das Licht der Laterne, die die Männer mit sich führten, reichte nicht weiter als zwei, drei Schritt. Selbst Vogelscheuchen-Jack drohte die Orientierung zu verlieren, doch unter Aufbietung all seiner Fähigkeiten gelang es ihm schließlich, die große Lichtung aufzuspüren. Dort angekommen, stellten sich die drei unter einen Baum und spähten auf die dunkle Silhouette des Forts hinaus.

Jack nahm kaum Notiz von Kälte und Nässe; er war daran gewöhnt. Regenwasser tropfte ihm vom Gesicht, durchdrang seine Lumpen, was er aber nur am Rande wahrnahm. Wie einem Tier war ihm einerlei, was jenseits seines Einflusses lag. Eine gründliche Wäsche konnte ihm und seinen Sachen wohl auch nicht schaden, zumal Hammer und Wilde merklich ungehalten die Nase rümpften, sooft sie Wind von ihm bekamen. Er warf Wilde einen Blick zu, der in seinem dünnen, triefend nassen Mantel einen erbärmlichen Eindruck machte. Das lange Haar klebte ihm im Gesicht, und das spärliche Licht trug dazu bei, dass er wie eine ertrunkene Ratte aussah. Er zitterte am ganzen Leib und schniefte und fluchte ständig vor sich hin. Er hielt den Kragen eng umschlossen, um zu verhindern, dass er, einem Trichter gleich, den Regen in den Nacken und über den blanken Rücken laufen ließ. Hammer dagegen schien vom schlechten Wetter ungerührt zu sein; er starrte gebannt in Richtung Fort und achtete so wenig wie Jack auf Nässe und Kälte.

»Zumindest können wir jetzt ziemlich sicher sein, dass auf den Wehrgängen so gut wie keine Wachen stehen«, erklärte er nach einer Weile. »Wer rechnete auch damit, dass bei dem Regen jemand unterwegs ist?«

»Jedenfalls keiner, der noch halbwegs bei Verstand ist«, maulte Wilde, der gleich darauf kräftig niesen musste und anschließend den Schnodder mit dem Ärmel abwischte. »Wie lange wollen wir hier eigentlich rumstehen?

Ich hol mir noch den Tod.«

An Jack gewandt, fragte Hammer: »Wird sich das Gewitter bald verziehen?«

Jack sah sich um und dachte einen Augenblick lang nach. »Ich glaube nicht. Es wird sich allem Anschein nach eher noch verschlimmern.«

»Also gut«, sagte Hammer. »Machen wir uns auf den Weg. Was auch passiert, wir bleiben zusammen. Nicht dass einer auf die Idee kommt, einen Alleingang zu machen.«

Er sah sich ein letztes Mal um, deckte die Laterne ab und rannte dann, dicht gefolgt von Wilde und Jack, auf das Grenzfort zu. Auf der offenen Lichtung schüttete der Regen so heftig herab, dass er alle anderen Laute übertönte, und trotz Laterne und der vielen Blitze war kaum mehr die Hand vor Augen zu sehen. Wilde ließ sich zurückhängen, zumal er immer wieder ausglitt und stürzte. Jack hatte Mühe, ihn auf Trab zu halten. Trotzdem war Hammer bald enteilt und nur noch als undeutlicher Schatten auszumachen. Unter dem Eindruck des kalten Regens zitterte Jack am ganzen Leib. Die Lichtung kam ihm jetzt viel größer vor als er gedacht hatte. Das Fort war nicht zu erkennen, und er fragte sich, ob Hammer womöglich die Orientierung verloren hatte und am Ziel vorbeilief. Doch dann tauchte das Gemäuer aus dem Regen auf, so plötzlich, dass er scharf abbremsen musste, um nicht dagegen zu laufen. Im Windschatten der Mauer schüttelte sich Jack wie ein Hund, was ihm aber auch nicht viel half. Er konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor in seinem Leben derartig nass gewesen zu sein. Der Regen hatte noch zugenommen und drohte einem den Atem zu nehmen.

Hammer forderte ihn mit Gesten auf, das Seil aufzuschlagen. Zu reden wäre vergeblich gewesen, so laut donnerte und regnete es. Jack wickelte das Seil auseinander, prüfte den Halt des Draggens und blickte zur Mauer hinauf. Die ins Gesicht klatschenden Tropfen taten so weh, dass er sich abwenden musste. Es dauerte eine Weile, bis er wieder Mut fasste, einen Blick nach oben riskierte und den Draggen hochschleuderte. Der flog gleich beim ersten Versuch dicht über den Mauerrand hinweg und verhakte sich dahinter. Jack zog das Seil stramm und schaute Hammer an, der ihm zunickte und ihn aufforderte, als Erster hinaufzuklettern. Jack vergewisserte sich, dass das Seil fest genug war und machte sich auf den steilen Weg nach oben. Seil und Mauer waren schrecklich schlüpfrig, und Jack musste ein ums andere Mal blitzschnell reagieren und fest zupacken, um einen Absturz zu verhindern. Als er endlich die Bastion erreicht hatte, ließ er sich entkräftet in den Wehrgang fallen und schnappte nach Luft. Widerwillig raffte er sich schließlich wieder auf und zog zweimal kurz am Seil, um zu signalisieren, dass der Nächste hochkommen konnte. Wilde tat sich noch viel schwerer; Jack musste weit nach unten greifen und ihm mit aller Gewalt über die Brüstung helfen. Hammer, der zum Schluss kam, schien dagegen kaum Schwierigkeiten zu haben.

Zu dritt eilten sie über den engen Wehrgang weiter, der Treppe entgegen, und in den Hof hinunter.

Duncan MacNeil führte seinen Trupp durch das Fort und steuerte hinab in die Kellergewölbe. Die dicken Mauern hielten das Tosen des Sturms draußen. MacNeil und Constance trugen Laternen, während Flint und der Tänzer ihre Schwerter gepackt hielten.

»Ich verstehe nicht, warum wir uns ein zweites Mal im Keller umsehen sollen«, sagte Constance. »Wir wissen doch schon, dass das Gold da nicht zu finden ist.«

MacNeil zuckte mit den Achseln. »Es muss hier irgendwo sein. Vielleicht gibt's noch einen Keller unter dem Keller oder Geheimgänge, die wir übersehen haben.«

»Und wenn nicht?«, fragte Constance.

»Dann gehen wir noch einmal jeden verdammten Raum durch und nehmen alles auseinander, bis wir das Gold endlich gefunden haben. Hast du's wirklich noch nicht mit deinem sechsten Sinn entdeckt?«

Die Hexe stöhnte ungehalten. »Ich kann's ja nochmal versuchen, Duncan, aber es wird nichts nützen. Hier ist irgendetwas, dass meiner Hellsicht entgegenwirkt.«

Sie blieb stehen, setzte die Laterne ab, massierte ihre Schläfen mit den Fingerspitzen und schloss die Augen. Das gedämpfte Gewitter im Hintergrund lenkte ab, doch es gelang ihr, alle Störungen auszublenden. Die Dunkelheit verdichtete sich und öffnete ihr inneres Auge. Sie erzitterte, als ein bitterkalter Luftschwall durch sie hindurchwehte, und es machte sich ein unbehagliches Gefühl in ihr breit, das schließlich an Panik grenzte.

Constance kämpfte dagegen an, und während sie dies tat, öffnete sich ihr Zweites Gesicht und entdeckte ihr ein einzelnes, riesiges Auge, das in ihre Richtung starrte und ihre Anwesenheit gewahrte. Erschrocken brach Constance den Kontakt sofort ab und nahm sich davor so gründlich wie möglich in Schutz. Der flüchtige Blick hatte ausgereicht, um einen unbestimmten Eindruck zu bekommen, wovon sie Näheres erst gar nicht wissen wollte. Ängstlich zog sie die Schultern ein und spürte trotz des Schutzschirms, den sie um sich aufgespannt hatte, etwas Schreckliches, das im Dunkeln umherstreifte und Ausschau nach ihr hielt. Dann aber entfernte es sich. Zitternd und schluchzend schlug Constance die Augen wieder auf.

»Und?«, fragte MacNeil ungeduldig.

»Da ist irgendetwas hier bei uns im Fort«, antwortete Constance. »Ich weiß nicht, was es ist oder wo es steckt, aber es scheint sehr alt und äußerst gefährlich zu sein.

»Fang jetzt nicht wieder damit an«, sagte MacNeil. »Außer uns ist hier niemand. Die Nerven spielen dir einen Streich. Wir sind alle ein bisschen überspannt.«

Constance warf ihm einen kühlen Blick zu, sagte aber nichts. Vielleicht hatte er ja sogar Recht. Sie konnte ihrem Gespür auch nicht voll und ganz trauen. MacNeil setzte sich wieder in Bewegung. Flint und der Tänzer folgten.

Constance nahm ihre Laterne wieder zur Hand und bildete das Schlusslicht. Vor lauter unterdrückter Wut zitterte ihr die Hand, was die Schatten der Gruppe umso bizarrer umherzucken ließ. MacNeil sah sich kein einziges Mal nach ihr um. Tatsächlich war ihm selbst einigermaßen mulmig zumute, denn er konnte Constances Warnungen nicht einfach außer Acht lassen, sosehr er es sich auch wünschte. Schließlich hatte sie das Zweite Gesicht.

Salamander hättest du aufs Wort geglaubt…

Ja, zugegeben. Aber Constance war bei weitem nicht so erfahren wie ihre Vorgängerin, und solange sie nichts Handfesteres offen legte als irgendwelche Befürchtungen, sah er keine Veranlassung, sich von den Kellergewölben fern zu halten. Auch wenn ihm selbst darin die Haare zu Berge standen.

Constance wollte sich nicht anmerken lassen, dass sie beleidigt war, darüber nämlich, dass er ihr einfach nicht traute, obwohl sie sich so viel Mühe gab und ihr Bestes versuchte. Als sie erfahren hatte, welcher Ranger-Gruppe sie angehören sollte, war sie überglücklich gewesen. Sie kannte Sergeant Duncan MacNeil und hatte schon als junges Mädchen für ihn geschwärmt, seit er sie in ihrer kleinen Heimatstadt Königseck vor Dämonen in Schutz genommen hatte.

Sie hatte alle für sie erreichbaren Hebel in Bewegung gesetzt, um seinem Trupp zugeteilt zu werden, damit sie sich ihm erkenntlich zeigen konnte - als beste Hexe, die ihm je zur Seite gestanden hatte. In ihren Träumen hatte sie sich sogar noch mehr versprochen. Jetzt war sie zum ersten Mal mit ihm im Einsatz und alles lief schief. Weil er ihr keine Möglichkeit einräumte, sich zu bewähren. Constance reckte das Kinn nach vorn. Sie würde es ihm schon noch zeigen. Und nicht nur ihm.

Der Keller war bald erreicht. Angesichts des heillosen Durcheinanders schüttelte MacNeil den Kopf. Offenbar war seit den ersten Tagen des Forts hier unten aller Unrat abgeladen worden. Constance hängte ihre Laterne an einen Wandhaken und sagte:

»Bis auf das Gold wäre hier alles zu finden. Aber du willst doch wohl nicht, dass wir im Müll wühlen?«

»Ich fürchte, wir kommen nicht daran vorbei«, antwortete Duncan.

Flint verzog das Gesicht. »Hoffentlich stecken wir uns nicht mit irgendeiner Seuche an.«

»Wenn das bloß unsere einzige Sorge wäre«, entgegnete Constance. »Habt ihr schon bemerkt, wie kalt es hier unten ist?«

MacNeil krauste die Stirn, als er sah, dass sich sein Atem vor dem Mund in Dampf verwandelte. Er fing plötzlich zu frieren an, schlug den Umhang enger um sich und rätselte, ob es auch schon während ihres ersten Besuchs im Keller dermaßen kalt gewesen war. Er warf einen Blick in die Runde und sah, dass auch den anderen Dampf vorm Gesicht stand. Dann fiel ihm auf, dass sich Raureif an den Wänden bildete - und er erschauderte.

So kalt kann es doch gar nicht sein, unmöglich…

Er strengte seinen Verstand an und starrte auf die Abfälle am Boden. »Wenn es noch eine Etage tiefer geht, muss sich hier irgendwo eine Falltür befinden«, sagte er. »Kommt, schaffen wir den Müll beiseite. Wir müssen den Boden freilegen.«

Die anderen nickten und machten sich an die Arbeit. MacNeil setzte seine Laterne ab und packte mit an. Den ganzen Kehricht wegzuräumen kostete viel Zeit und Mühe, doch am Ende war, wie erhofft, eine Falltür freigelegt, genau in der Mitte des Bodens. Sie bestand aus einer fast sechs mal sechs Fuß großen Platte aus Eichenbrettern und war mit zwei schweren Eisenstangen verriegelt. MacNeil kniete sich hin und prüfte die Riegel, scheute aber aus unbestimmten Gründen davor zurück, sie in die Hand zu nehmen. Dabei handelte es sich nur um ganz gewöhnliche Riegel. Und dennoch richteten sich ihm alle Härchen im Nacken und auf den Unterarmen auf, und dass er eine Gänsehaut bekam, lag nicht nur an der Kälte im Keller.

Er schaute Constance an und sagte mit betont ruhiger Stimme: »Versuch bitte mit deinen Mitteln herauszufinden, was unter dieser Falltür liegt.«

Die Hexe nickte und starrte auf die Eichenbretter. Ihr Blick verschleierte sich und wirkte wie entrückt.

Tief im Innern der Erde rührte sich etwas und wünschte aufzuwachen. Schwer lasteten die Erd- und Steinmassen und die Zeit nagte an seinen Knochen. Dunkelheit kam und ging, so schnell, dass es in seinem Schlaf bislang unbeeindruckt davon geblieben war; doch allmählich lösten sich die Ketten seiner Ohnmacht. Es träumte üble Träume und die Welt stand Kopf. Bald würde es aus seinem Schlaf erwachen und zum Entsetzen aller seinen Namen nennen.

Constance brach die Verbindung ab, worauf ihre Hellsicht wieder eintrübte. Von einem heftigen Schwindel gepackt, geriet sie ins Wanken und würgte vor Ekel in Erinnerung dessen, was sie im Ansatz erspürt zu haben glaubte. Alarmiert von ihrem bleichen Gesicht, nahm MacNeil sie beim Arm.

»Es geht schon wieder, Duncan«, sagte sie und lächelte matt.

»Was ist dir zu Gesicht gekommen?«

»Dasselbe wie zuvor. Aber jetzt habe ich es ein bisschen deutlicher gesehen. Da steckt etwas in der Tiefe, etwas, das sehr alt, böse und unermesslich mächtig ist. Noch schläft es, könnte aber jeden Augenblick aufwachen. Von ihm gehen entsetzliche Träume aus, die die Leute hier in den Wahnsinn getrieben haben.«

MacNeil legte die Stirn in Falten. »Na schön, ich glaube dir, Constance. Was bleibt mir auch anders übrig.

Sprich's aus, womit haben wir's zu tun? Mit einem Dämon?«

»Nein, es ist um einiges älter. Ich weiß auch nicht genau, wo es steckt, jedenfalls nicht unmittelbar unter der Falltür, sondern sehr viel tiefer.«

MacNeil nickte. »Wir müssen uns die Sache aus der Nähe ansehen. Ist es gefährlich, nach unten zu gehen?«

»Ja«, antwortete die Hexe. »Aber frag mich nicht, wie sehr.«

»Deine Hinweise sind ziemlich dürftig.«

»Besser weiß ich es nicht. Und überhaupt, warum willst du unbedingt da runter? Warum warten wir nicht einfach, bis Verstärkung gekommen ist?«

»Denk doch mal nach«, erwiderte MacNeil. »Ich habe den Auftrag, das Gold zu finden, koste es, was es wolle.

Wie würden wir dastehen, wenn herauskommt, dass wir von der Falltür wussten, aber aus Angst darauf verzichtet haben, einen Blick dahinter zu werfen? Nein, Constance, ich werde sie öffnen und nach unten steigen.

Flint, Giles, haltet euch bereit. Wenn die Tür offen ist, und es steigt etwas daraus hervor, schlagt zu und fackelt nicht lange.«

»Verstanden«, antwortete Flint. Der Tänzer schmunzelte.

An Constance gewandt, sagte MacNeil: »Sei auf der Hut und hilf uns, wo du kannst. Aber komm uns bloß nicht in die Quere. Die Kämpfer sind wir.«

Die Hexe nickte, worauf MacNeil nach dem ersten der beiden Riegel griff - und die Hand sofort wieder zurückzog, denn er hatte den Eindruck, als sei das Eisen unter seiner Berührung lebendig geworden. Er schaute es sich aus der Nähe an, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen. Das sind die Nerven, dachte er, nur die Nerven, nichts weiter. Wieder packte er zu und zerrte daran. Der Riegel rutschte zur Seite, wie geschmiert und fast lautlos. MacNeil schluckte und versuchte sich an der zweiten Eisenstange. Die war sehr viel weniger leicht zu bewegen, und er musste sich mächtig ins Zeug legen, um auch sie beiseite schieben zu können. Danach nahm er den schweren Eisenring in der Mitte der Tür in beide Hände, holte tief Luft und zog mit aller Kraft, zunächst ohne Erfolg. Doch er ließ nicht locker, bis es plötzlich laut krachte und die Tür schwungvoll aufflog.

Und aus der Öffnung quoll Blut, zähflüssig und in nicht enden wollendem Strom. Es spritzte bis unter die Decke und fiel als roter, stinkender Regen zurück. Immer mehr Blut flutete aus dem Loch und überschwemmte den gesamten Keller. MacNeil und die anderen versuchten Reißaus zu nehmen, doch es gab für sie kein Entrinnen.

Unaufhörlich und unter gewaltigem Druck ergoss sich das Blut. Dann aber, urplötzlich, versiegte der Strom.

MacNeil hob den Kopf und schaute sich um. Blut tropfte vom Gewölbe und rann dampfend von den Wänden.

Der ganze Raum sah aus wie mit roter Farbe frisch gestrichen. Der Gestank war kaum auszuhalten. Vorsichtig rückte MacNeil auf die Luke zu. Die anderen taten es ihm gleich. Alle vier waren über und über mit Blut beschmiert. Flint schüttelte angewidert den Kopf.

»Auf Schlachtfeldern geht's jedenfalls weniger blutig zu«, bemerkte sie. »Wo zum Teufel kommt das ganze Blut wohl her?«

»Keine Ahnung«, sagte MacNeil. Er starrte ins dunkle Loch, konnte aber nichts sehen. Stattdessen schlug ihm noch immer der Gestank frischen Blutes entgegen. Constance reichte ihm ihre Laterne, die er vorsichtig in den Ausschnitt senkte. Im Schein des gelben Lichtes entdeckte er Stufen aus grob behauenem Holz, die in einen engen Stollen hinabführten. Weiter reichte das Licht nicht. MacNeil sah nur, dass Stufen und Stollenwände restlos mit Blut beschmiert waren. Die anderen hockten sich neben ihn und schauten hinab, als plötzlich Geräusche aus der Tiefe herauftönten, die alle vier vor Schreck erstarren ließen. Es waren schlurfende Geräusche; ob sie sich näherten oder entfernten, war nicht zu unterscheiden. MacNeil sah den Gefährten an, dass auch sie keinen Rat wussten. Plötzlich verstummten die Geräusche. MacNeil setzte die Laterne ab und zog sein Schwert.

»Flint, du bleibst mit Constance hier und hältst Wache. Tänzer und ich steigen nach unten. Mal sehen, was sich hinter dem Tunnel verbirgt.«

Grinsend zückte der Tänzer seine Klinge.

MacNeil fuhr fort: »Wenn was schief geht, macht die Tür zu und legt die Riegel vor, gleichgültig, ob wir wieder draußen sind oder nicht. Falls da unten Gefahr lauert, will ich nicht, dass sie sich auch noch auf das ganze Fort erstreckt. Seht also zu, dass die Falltür sicher verschlossen ist, und meldet der Verstärkung, die hoffentlich bald eintrifft, was geschah.«

»Wir können dich und den Tänzer doch nicht einfach im Stich lassen«, meinte Constance.

»Doch, das können wir«, entgegnete Flint. »Er hat Recht, Constance. Unsere Pflichten als Ranger gehen vor. Wir haben unseren Job zu tun.«

Die Hexe wandte sich ab. Mac Neil sah sie einen Augenblick lang an, nahm dann die Laterne zur Hand und schlüpfte vorsichtig durch die Türöffnung. Die schmalen Holzstufen knarrten unter seinem Gewicht, hielten aber stand. Die Laterne am langen Arm vor sich herführend, stieg er langsam hinab ins Dunkle. Der Tänzer folgte dichtauf, das Schwert in Bereitschaft. Schatten trudelten an den Wänden bedrohlich umeinander.

MacNeil zählte dreizehn Stufen, bis er an einen Stollen kam, der kaum zwei Schritt breit war. Er rückte ein Stück zur Seite, duckte sich, um den Kopf nicht anzustoßen, und ließ den Tänzer zu sich aufschließen. Schulter an Schulter rückten sie nun weiter vor. Die Tunnelwand war wie abgezirkelt, so rund gewölbt, zeigte aber keinerlei Spuren menschlicher Werkzeuge. Über den glatten, festen Lehm rann Blut, das auch in glitschigen Pfützen den Boden bedeckte. MacNeil hatte den Eindruck, er schliche durch die Eingeweide eines Riesen. Der Gestank war so entsetzlich, dass es ihm den Atem verschlug. Er hielt einen Augenblick lang inne und lauschte, doch das Geräusch von vorhin war nicht mehr auszumachen. Zögernd setzte er sich wieder in Bewegung. Der Tänzer tappte leise nebenher. Ihn an der Seite zu wissen beruhigte MacNeil. Dunkelheit, Stille und Gestank wären für ihn sonst kaum auszuhalten gewesen; allzu sehr erinnerten sie ihn an seine Zeit im Finsterholz. Er hielt das Schwertheft fest in der Hand, die, wie er spürte, trotz der Kälte zu schwitzen anfing.

Gleichgültig, auf was er stoßen mochte, er würde sich mit der Waffe durchsetzen. Er war Gardist und Ranger; durch nichts in der Welt ließ er sich aufhalten.

Und doch ist es schon vorgekommen, dass du am liebsten Reißaus genommen hättest. Die Dämonen tauchten auf aus der langen Nacht, so zahlreich, dass du mit dem Töten nicht schnell genug nachgekommen bist. Da wolltest du schon kehrtmachen und davon rennen. Und fast wär's so weit gewesen, aber da setzte zum Glück die Dämmerung ein. Die Sonne ging auf und trieb die Dämonen ins Dunkle zurück. Dich hat gerettet, dass es Tag wurde. Ob du damals weggelaufen wärst oder nicht, wird somit immer eine offene Frage bleiben.

MacNeil blendete die mahnende Stimme aus und konzentrierte sich auf das, was vor ihm lag. Der Tunnel war anscheinend leicht abschüssig und er fragte sich beklommen, wie tief er wohl reichen mochte. Immer wieder rutschte er mit den Sohlen auf dem blutverschmierten Grund aus. Die Schatten buckelten und huschten so sehr umher, wie die Laterne in seiner Hand auf und ab wippte. Er warf dem Tänzer einen Blick zu und sah, dass der ganz und gar unbeeindruckt zu sein schien. Seine Miene wirkte so ruhig und entspannt wie immer. Plötzlich hob er eine Hand und blieb stehen. MacNeil hielt gleichfalls an.

»Was ist?«, flüsterte er.

Der Tänzer schüttelte den Kopf. »Hör doch mal.«

MacNeil krauste die Stirn und lauschte. Aus der Tiefe des Tunnels vernahm er ein leise schleppendes Geräusch, das allmählich näher kam. Da schien etwas herbeizurutschen, etwas, das wohl ziemlich schwer war. MacNeil setzte die Laterne in sicherer Entfernung auf dem Boden ab. Mit einem Blick auf den Tänzer sah er, dass der Partner schmunzelte. Die beiden Männer standen mit blankem Schwert in Erwartung dessen, was da auf sie zukam.

Ein riesiger Koloss tauchte vor ihnen aus der Dunkelheit auf. Zuerst zeigte sich nur eine bleiche gräuliche Gestalt, die den gesamten Tunnel ausfüllte, doch dann, als sie näher rückte, sah sich MacNeil einem leibhaftigen Riesen gegenüber. Aufgerichtet wäre er gut und gerne zwanzig Fuß groß gewesen, doch in den engen Tunnelgrenzen war er gezwungen, auf Händen und Knien zu kriechen. Seine Haut und die Haare waren milchig weiß, die großen starrenden Augen schienen blind zu sein. Er war vollkommen nackt, bedeckt nur vom Dreck und Schmiere der Höhle. MacNeil fragte sich, wie lange dieses Monstrum schon im Untergrund ausharrte und wovon es lebte, zumal es sich ja nur kriechend vorwärts bewegen konnte, wie ein verunstalteter Wurm. Es wies mächtige, breite Pratzen auf — und Fingernägel so lang und krumm wie Krallen. Ähnlich lang und spitz waren die Zähne, und in dem massigen Gesicht zeigte sich kaum eine menschliche Regung. Geifer troff von den Lefzen und schnüffelnd schien das Monstrum nach der Witterung zu suchen, die es aus den Tiefen der Höhle hierher gelockt hatte. Mit dem Rücken schrappte es an der Decke entlang; Hände und Knie sanken im blutdurchtränkten Boden ein.

Was für ein Koloss, staunte MacNeil benommen; was für Ausmaße…

Langsam und schwerfällig robbte das Monstrum näher. MacNeil und der Tänzer wichen zurück, denn sie sahen nun, dass es nicht allein war. Dahinter kam noch ein Moloch angekrochen. Und damit nicht genug, es folgten, wie zu hören war, einer um den anderen. Das Ungeheuer zuvörderst hob den riesigen Kopf und fing wie ein Hund zu heulen an. MacNeil und der Tänzer erschauderten unter dem Eindruck dieses entsetzlichen Heulens, das laut und schneidend durch den Tunnel hallte. Und plötzlich rückte das Monstrum überraschend schnell weiter vor und langte mit seinen muskelbepackten Armen nach den beiden aus.

MacNeil wehrte sich mit dem Schwert und schlug eine tiefe Kerbe in die ihm entgegengestreckte Hand. Das Monstrum brüllte mit ohrenbetäubender Lautstärke und zog die Hand zurück. Die Klinge steckte so tief und fest, dass MacNeil mit beiden Händen zupacken musste, um sie frei zu ziehen. Er taumelte zurück und war noch immer wie benommen von der schieren Größe seines Gegenübers. Allein die Pranke schien über den Knöcheln so breit zu sein wie MacNeils Unterarm lang. Er warf sich zu Boden, als sich diese Hand zu einer Faust ballte und nach vorn schnellte. Die Faust krachte vor die Tunnelwand, was das Monstrum in wilde Wut versetzte und veranlasste, mit beiden Fäusten zuzuschlagen. Seite an Seite wichen MacNeil und der Tänzer zurück, außer Reichweite des tobenden Gegners. Als der wieder vorpreschte, trat ihm der Tänzer beherzt entgegen und ließ sein Schwert auf die Handgelenke des Monstrums niederfahren. Dickes, violettes Blut spritzte daraus hervor und wieder erhob das Scheusal ein gellendes Gebrüll. Wieder schlug es mit verblüffender Schnelligkeit zu. Der Tänzer sprang zurück, war aber ein wenig zu langsam. Von der Faust gestreift, wurde er zur Seite geschleudert und prallte mit Wucht vor die Tunnelwand.

Und der Riese rückte näher. Er quetschte seine bleichen Massen durch den Stollen und schlug trommelnd mit den Fäusten um sich. Das nachfolgende Monstrum versuchte mit Macht, die erste Position zu erreichen. MacNeil sprang auf die Füße, schnappte sich die Laterne und hackte auf den Arm des Widersachers ein. Noch mehr Blut spritzte auf, doch das Monstrum ließ sich nicht aufhalten. MacNeil zielte mit dem Schwert auf dessen Kehle, musste aber, bevor er zuschlagen konnte, den schwingenden Fäusten ausweichen. Auch der Tänzer, der auf gleicher Höhe stand, konnte den Unhold nicht aufhalten. Und so zogen sich die beiden Schritt für Schritt zurück. Die Riesen heulten und brüllten mit unverminderter Lautstärke. MacNeil und der Tänzer hatten die Stufen fast erreicht, als das erste Monstrum plötzlich und blitzschnell attackierte, mit der linken Hand MacNeil bei der Schulter und mit der rechten den Tänzer bei dem Arm zu fassen bekam, der das Schwert hielt. MacNeil stöhnte vor Schmerzen und wähnte sich wie in einen Schraubstock gespannt. Das Schwert fiel ihm aus der Hand. Auch der Tänzer wurde kreidebleich im Gesicht, hielt aber an der Waffe fest, obwohl er nicht die Kraft hatte, sie zum Einsatz zu bringen. Langsam zog das Monstrum die beiden auf sich zu, sperrte das Maul auf und entblößte seine großen, spitzen Hauer.

Auf den Stufen waren nun klappernde Schritte zu hören. Flint und Constance eilten zur Hilfe. Die Hexe hob beide Hände und sprach ein einziges Zauberwort, worauf ein weißer Feuerstrahl aus den Händen zuckte, dem Riesen ins Gesicht, von dem nach kurzem Auffackeln nichts weiter übrig blieb als verkohlte Schwarte und leere Augenhöhlen. Die Pranken ließen von MacNeil und dem Tänzer ab und betasteten die knöcherne Ruine. Der Tänzer wechselte sein Schwert in die linke Hand, trat vor und rammte die Klinge in den Hals des Gegners. Zähflüssiges Blut ergoss sich über den Tunnelboden. Der Riese sackte in sich zusammen und zuckte noch, als der Nachfolger ihn zur Seite drückte und nach vorn drängte.

MacNeil hob sein Schwert auf und wich zusammen mit dem Tänzer zur Stiege zurück. Constance verharrte noch immer in beschwörender Pose, und zwischen ihren Händen knisterte im weißen Lichtbogen schiere Energie. Ihr zur Seite stand Flint mit blank gezogenem Säbel. Unter ihrem Schutz schleppten sich MacNeil und der Tänzer erschöpft die Stufen hinauf. Flint folgte, worauf Constance die Hände senkte und das Feuer erlöschen ließ. Als auch sie zurück im Keller war, warf MacNeil die Falltür zu und legte beide Riegel vor. Unmittelbar darauf wurde darunter ein wüstes Poltern laut. Die Tür bebte, hielt aber stand, und nach einer Weile vergeblichen Anrennens schien sich das Monstrum endlich geschlagen zu geben.

Constance nahm, völlig entkräftet, wie es schien, auf dem Boden Platz. MacNeil setzte die Laterne ab, lehnte sich auf sein Schwert und holte tief Luft. Seine Hände zitterten, und das nicht nur vor Erschöpfung. Riesen in der Erde… Hatten sie all die Leichen verschwinden lassen? In seiner Vorstellung sah er eine Armee kriechender Ungetüme durch die Falltür drängen und mit den Toten in ihre Verstecke tief im Innern der Erde zurückkehren. Er schluckte und schüttelte den Kopf, um sich von diesem Gedanken zu befreien.

Als sich Hände und Pulsschlag wieder beruhigt hatten, blickte er auf und hoffte, dass den anderen sein kurzer Schwächeanfall nicht aufgefallen war. Auch Flint und der Tänzer hockten auf dem Boden. Der Tänzer versuchte mit einer Hand sein Schwert zu putzen und ließ sich von Flint den Arm massieren, den das Monstrum mit seiner Pranke erwischt hatte. Constance starrte mit besorgter Miene auf die Falltür.

»Was ist los?«, fragte MacNeil. »Die Tür wird die Riesen doch wohl zurückhalten. Oder?«

»Tja«, antwortete Constance zögernd. »Soviel ich sehen kann, ist von den Riesen keiner mehr da. Sie sind…

weg. Verschwunden.«

MacNeil musterte sie mit kritischem Blick. »Ist auf deine Hellsicht zurzeit Verlass?«

»Bedingt. Mal mehr, mal weniger. Und Feuerstrahlen zu zünden kostet immer sehr viel Kraft. Aber in diesem Punkt bin ich mir sicher, Duncan. Da unten ist nichts. Rein gar nichts.«

»Unmöglich«, entgegnete MacNeil. »Diese Riesen sind aus Fleisch und Blut, keine Gespenster.«

»Der, den ich abgestochen habe, war sehr lebendig«, bestätigte der Tänzer. »Ich bin doch immer noch voll von dessen Blut.«

Flint lächelte ihm zu. »Deine bislang größte Beute.

Wir hätten sie mit nach Hause nehmen sollen, um sie ausstopfen zu lassen.«

»Das nächste Mal vielleicht«, antwortete der Tänzer.

»Da unten ist nichts«, beharrte Constance. »Nicht einmal eine Spur von diesen Riesen. Macht die Tür auf und überzeugt euch selbst.«

Wortlos sahen die anderen einander an. MacNeil zuckte mit den Achseln und nahm sein Schwert in die Hand.

»Also gut, schauen wir nach. Haltet euch in Bereitschaft. Wir gehen vor wie gehabt.«

Der Tänzer stand schwungvoll auf und warf den Lappen beiseite, mit dem er die Klinge geputzt hatte. Flint ließ sich mit dem Aufstehen etwas mehr Zeit.

»Angeber«, kommentierte sie schmunzelnd.

Constance stand auf und trat mit sorgenvoller Miene von der Falltür zurück. MacNeil zögerte und sah die Hexe an.

»Könntest du uns gegebenenfalls wieder mit deinem Feuerstrahl zur Hilfe kommen?«

»Nein. Der Einsatz vorhin hat mich vollkommen ausgelaugt. Ich bin kein Zauberer, sondern eine Hexe, die ihre Grenzen kennt.«

MacNeil nickte und beugte sich über die Falltür. Er lauschte angestrengt, konnte aber nichts Verdächtiges hören.

Das Schwert gepackt, holte er tief Luft und schob die Riegel zurück. Unter der Tür blieb es still. Entschlossen hievte er sie auf und sprang schnell zur Seite. Krachend klappte die Holzfüllung auf den Boden. Die Ranger warteten mit angehaltenem Atem, gefasst auf das Schlimmste, doch in der dunklen Öffnung regte sich nichts. MacNeil nahm seine Laterne und senkte sie vorsichtig ins Loch hinein. Allem Anschein nach war der Tunnel tatsächlich leer. Er schaute in die Runde. .

»Fehlanzeige. Nichts deutet daraufhin, dass diese Riesen hier gewesen wären.«

»Sag ich doch«, bemerkte Constance. »Sie sind weg.«

»Möglich«, erwiderte MacNeil. »Ich werde jedenfalls nicht hinuntersteigen und nachsehen.« Er schickte sich an, die Falltür wieder zu schließen, hielt aber plötzlich inne und betrachtete die Unterseite. Die dicken Holzbretter trugen deutliche Spuren von den wuchtigen Fausthieben des ausgesperrten Riesen. MacNeil beeilte sich, die Tür zu schließen und zu verriegeln. Er dachte kurz nach, wandte sich dann an die anderen und sagte: »Helft mir, ein paar der schweren Fässer auf die Tür zu stellen. Ich will, dass sie möglichst fest verbarrikadiert ist.«

In gemeinsamer Anstrengung schafften sie es, zwei große Fässer auf die Luke zu stellen und mit schwerem Eisenschrott zu füllen. Die Holzbretter knarrten unter dem Gewicht der Auflage. Um auf Nummer Sicher zu gehen, stellten die Ranger zwei weitere Fässer dazu. Dann traten sie einen Schritt zurück, betrachteten ihr Werk und verschnauften.

»Das müsste reichen«, meinte MacNeil.

»Nicht einmal ein tollwütiger Elefant käme da durch«, glaubte der Tänzer. »Und außerdem würde ich an dieser Stelle gern darauf hinweisen, dass ich Schwertkämpfer bin und kein Arbeitstier.«

»Wär's dir lieber, die Riesen würden ausbrechen und dich zum Kampf stellen?«

Der Tänzer überlegte nicht lange und nickte mit dem Kopf.

Das Schlimme ist, er meint es ernst, dachte MacNeil.

»Wir haben ein Problem«, erklärte Flint plötzlich.

»Nur eines?«, erwiderte MacNeil. »An welches denkst du denn?«

»Was, wenn das Gold nun in den Stollen da unten versteckt ist?«, fragte sie. »Wie wollen wir's in dem Fall bergen?«

»Überhaupt nicht«, entgegnete MacNeil entschieden. »Ich bin doch nicht lebensmüde und steige noch einmal in das Loch, nur mit einem Schwert bewaffnet. Nicht für alles Geld der Welt. Wir warten, bis die Verstärkung hier ist. Dann sehen wir weiter.«

Flint und der Tänzer zeigten sich einverstanden. Constance krauste die Stirn, sagte aber nichts. MacNeil seufzte leise und dehnte die schmerzenden Muskeln. Nach einem Schwertkampf hatte er sich noch nie dermaßen müde gefühlt. Es war wohl an der Zeit, an der Kondition zu arbeiten, vielleicht auch die Ernährung umzustellen. MacNeil verzog das Gesicht. Er hasste es, sich an Diätpläne halten zu müssen.

»Na schön«, sagte er. »Gehen wir wieder nach oben. Die Zeiten ändern sich. Ich kann mich erinnern, dass verlassene Forts nichts als Ratten in ihren Kellergewölben beherbergt haben.«

»Ja«, bestätigte Flint. »Wir sollten vielleicht das nächste Mal ein bisschen Gift hier unten verstreuen.«

Lachend verließen die Ranger den Keller. In der Dunkelheit unter ihnen regte sich etwas im Schlaf.

Hammer, Wilde und Vogelscheuchen-Jack traten in den Vorraum und zogen die Tür hinter sich zu, die das Rauschen des Regens zu einem Flüstern dämpfte. Die drei schüttelten die tropfnassen Haare aus und sahen sich im trüben Schein der Laterne Hammers um. Mit Hilfe von Feuerstein und Stahl entzündete Wilde eine Fackel, die er aus einer der Wandhalterungen genommen hatte. Die flackernde Flamme warf gelbes Licht in den Raum und ließ lange Schatten springen. Die Männer sahen sich nun von vier Pferden beäugt, nahmen Notiz von den vielen Blutspuren und entdeckten die vier Seilschlingen, die von einem Deckenbalken herabhingen.

»Was ist denn hier passiert?«, fragte Wilde beunruhigt. »Hammer, davon hast du nichts gesagt.«

»Als ich das Gold abgeliefert habe, war noch alles in bester Ordnung«, antwortete Hammer. »Nachdem nichts mehr von hier zu hören war, musste man zwar damit rechnen, dass sich was Schlimmes zugetragen hat, aber damit… Sei's drum, das tut jetzt nichts zur Sache. Was passiert ist, ist passiert, dieses Blut hier ist längst getrocknet. Kümmern wir uns nicht weiter drum. Lasst uns das Gold holen und wieder verschwinden.«

Wilde war merklich verunsichert. »Ich weiß nicht, Hammer. So etwas ist mir noch nie untergekommen.«

»Na und?«, entgegnete Hammer. »Was hast du dir gedacht? Dass wir hier mir nichts, dir nichts hereinspazieren und uns die Taschen voll stopfen? Wer reich werden will, muss bereit sein, dafür auch ein paar Risiken auf sich zu nehmen.«

»Berechenbare Risiken, einverstanden. Aber das hier ist was anderes.«

»Dir werden doch jetzt nicht die Nerven durchgehen, Edmond«, sagte Hammer. »Das will ich dir nicht raten.«

Wilde hielt dem Blick von Hammer eine Weile lang stand; dann fingen seine Augen zu flackern an und er schaute weg. »Hab ich dich je hängen lassen?«

»Nein, Edmond. Noch nie. Du weißt nämlich, dass ich dich in einem solchen Fall umbringen würde. Also, mein Freund, mach dir keine Gedanken darüber, was hier passiert sein könnte. Denk lieber daran, was passieren wird, wenn du nicht sofort aufhörst, mir die Zeit zu stehlen. Los, ab in den Keller. Du gehst voran.«

Wilde blickte zur Tür, auf die Hammer mit dem Finger zeigte. Auf der Holzfüllung prangte ein großer, dunkler Fleck, und das eiserne Schloss war, wie es schien, von der anderen Seite aufgebrochen worden. Ohne seinen Blick von der Tür abzuwenden, reichte er Jack seine Fackel und setzte sich langsam in Bewegung. Er zog sein Schwert, zögerte einen Augenblick lang, riss dann die Tür auf und sprang einen Schritt zurück, das Schwert vor sich ausgestreckt. Er starrte in einen dunklen, leeren Korridor mit blutverschmierten Wänden. Da Wilde anscheinend nicht weiter wollte, trat Jack vor und gab ihm die Fackel zurück. Wilde nahm sie entgegen, dankte mit einem knappen Kopfnicken und machte sich auf den Weg durch den Korridor. Jack folgte. Zum Schluss kam Hammer, der in der einen Hand seine Laterne, in der anderen das kurze Schwert gepackt hielt. Das Heft des geschulterten Langschwertes, das über die Schulter hinausragte, schimmerte matt im Dunkeln.

Schaurige Schatten begleiteten die drei auf dem Weg tiefer ins Fort. In der Stille tönten ihre Schritte überlaut und die Luft wurde immer kälter. Vogelscheuchen-Jack schaute befangen in die Runde und wünschte sich in seinen Wald zurück. Seit er das Fort betreten hatte, schienen seine Instinkte gehemmt und verwirrt zu sein; trotzdem spürte er genau, dass hier vor nicht allzu langer Zeit etwas Furchtbares geschehen war. Vor allem irritierten ihn die Blutflecken. Wo waren die Leiber geblieben, die all dieses Blut verschüttet hatten? Waren sie womöglich gefressen worden? Jack runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Sich hinter geschlossenen Mauern aufzuhalten bekam ihm nicht gut. Er hasste es, sich in umbauten Räumen zu befinden, weil er sich dann wie eingesperrt und in einer Falle wähnte. Aus diesem Grund hatte er auch vor all den Jahren sein Dorf verlassen und sein Zuhause im Wald eingerichtet. Stein-und Holzhäuser waren tot, der Wald dagegen voller Leben, und zwischen hohen Bäumen fühlte er sich freier als unter Menschen. Wenn er ab und zu seine Familie besuchte, schlief er immer draußen vor der Tür und blieb nicht lange.

Die Grenzfeste machte ihm in vielerlei Hinsicht Sorge. Zum einen fand er die dicken Mauern bedrückend und einengend. Die Decken hingen für seinen Geschmack viel zu niedrig, sodass er immer unwillkürlich den Kopf einziehen wollte. Bei seinem ersten Besuch war ihm dieser Umstand kaum aufgefallen, weil ihn sein Auftrag so sehr in Anspruch genommen hatte, dass ihm keine Zeit zum Grübeln geblieben war. Jetzt aber konnte er kaum an etwas anderes denken. Zum anderen war da diese Ahnung… die Ahnung einer schrecklichen Gefahr, die ganz in der Nähe lauerte. Obwohl seine Instinkte eingetrübt waren, spürte Jack diese Gefahr mit der gleichen Sicherheit, die ihm auch eigen war, wenn es darum ging, im Wald versteckte Fährten ausfindig zu machen oder das Wetter vorherzusagen. Er versuchte zu ergründen, wodurch er sich bedroht fühlte, konnte aber keine schlüssige Antwort finden. Was es auch sein mochte, es war sehr alt und ganz und gar tödlich. Und sie rückten ihm immer näher.

Vogelscheuchen-Jack wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn und wünschte sich an einen anderen Ort.

Irgendwohin.

Wilde führte um eine Kurve herum und blieb unversehens stehen. Jack und Hammer eilten herbei und stellten sich neben ihn. Vor ihnen lag ein Korridor, der über und über mit einem dicken, gräulichen Gespinst verhängt war, das an den Rändern ein wenig ausfranste, aber zur Mitte hin immer dichter wurde und sich schließlich zu einer festen, pulsierenden Masse zusammenballte. Es war nicht zu erkennen, wie tief sich das Gespinst in den Korridor hinein erstreckte, aber es schien doch einige Schritt weit zu reichen. Und es bewegten sich Schatten darin, winzig kleine, aber auch größere dunkle Schemen, die blitzschnell auftauchten und wieder verschwanden.

Jack glaubte ein ums andere Mal, glühend rote Augen gesehen zu haben. Witternd hielt er seine Nase in die Luft, unter die sich ein fauler Verwesungsgeruch mischte.

»Bist du auch schon an dieser Stelle gewesen?«, fragte Hammer.

»Ich glaube ja«, antwortete Jack. »Aber… davon hab ich nichts gesehen.«

»Es hängt hier offenbar schon eine Weile rum«, bemerkte Hammer. »Daran muss eine Spinne lange weben.«

»Von einer Spinne kommt das nicht«, erklärte Jack. »Spinnennetze haben Muster, und das hier hat keines, jedenfalls kein erkennbares.«

»Vielleicht rührt es von einer besonders seltenen Spinne her«, meinte Hammer.

»Ob die für das Blut gesorgt hat?«, fragte Wilde.

»Woher soll ich das wissen?«, blaffte Hammer. »Möglich, ja, aber ich schätze, eher nicht. Die Opfer würden doch noch hier herumliegen, wenn sie von einer Spinne angegriffen worden wären, oder?«

»Nicht unbedingt«, entgegnete Jack. »Manche Spinnen schleppen ihre Beute in ihr Netz und wickeln sie zu einem Kokon ein, entweder um sie darin zu lagern und später aufzufressen oder um die eigenen Eier hineinzulegen. Die geschlüpften Larven mästen sich dann an dem Opfer.«

Die drei Ganoven starrten auf das Netz, um festzustellen, ob womöglich Menschenreste darin zu erkennen waren.

»Hier kommen wir nicht durch«, sagte Wilde. »Wir müssen uns einen anderen Weg suchen.«

»Nein«, widersprach Hammer. »In den Keller führt nur dieser eine Weg. Wir müssen ihn uns freischlagen. Mit dem Schwert. Oder das Zeugs abfackeln…«

Von Hammer dazu aufgefordert, trat Wilde vorsichtig bis auf Armeslänge an das Netz heran, und hielt seine Fackel in das Gespinst. Es rauchte und rußte, blieb aber sonst unbeschadet. Wilde zog die Fackel zurück und sah sich Hilfe suchend nach Hammer um.

»Na schön«, knurrte der. »Dann bleibt uns nur die brachiale Methode. Wilde, du nimmst dir die linke Seite vor, ich die rechte. Jack hält die Laterne und passt auf, dass uns keine Spinnen überraschen.«

Gesagt, getan. Jack nahm die Laterne entgegen, worauf Hammer mit erhobenem Schwert nach vorn trat und auf die Ausläufer des dichten Gewebes einschlug. Die Fasern gaben zwar nach und zerrissen, blieben aber an der Klinge kleben. Hammer musste beidhändig zupacken und sich mächtig ins Zeug legen, um das Schwert wieder frei zu ziehen. Mit spöttischem Grinsen steckte Wilde seine Fackel in eine der Halterungen an der Wand.

Derweil holte Hammer zu einem neuen Schwerthieb aus, hielt aber plötzlich inne, als ihm auffiel, dass die zertrennten Stränge langsam wieder zusammenwuchsen. Wilde schreckte zurück. Jack nagte an der Unterlippe.

Ihm wurde zunehmend unwohl in seiner Haut.

Tief im Innern des Netzes rührte sich etwas. In der Mitte des verworrenen Gespinstes bewegte sich eine dunkle große Gestalt. Mit Schrecken sahen die drei den Schatten wie aus dichtem Nebel langsam hervorsteigen und auf sie zukommen. Jack und Wilde wichen ein paar Schritte zurück, doch Hammer blieb, wo er war, und hob sein Schwert. Je weiter sich der Schatten auf den Rand des Netzes zubewegte, desto deutlicher wurde, dass es sich um eine Menschengestalt handelte. Allerdings war sie ungewöhnlich dünn und knochig. Sie streckte eine Hand nach Hammer aus und griff durch das klebrige, milchig weiße Gespinst, das sich vor ihr teilte. Die Finger waren nicht mehr als gelbliche Knochen, verkrustet mit getrocknetem Blut und faulenden Gewebefetzen. Das Gespinst dehnte sich wie Gummi, zerriss und entließ schließlich dieses dürre Wesen, das sich vor die drei Ganoven stellte und unablässig grinste.

Es war das lebendige Skelett eines Menschen, der schon vor langer Zeit gestorben zu sein schien. Hautreste und verwesende Fleischfasern hingen von den Knochen, die mit einer dicken Blutkruste überzogen waren. Dass dieses scheußliche Gerippe überhaupt zusammenhielt, verdankte es offenbar dem Spinngewebe, das mit seinen weiß schimmernden Strängen Muskeln und Sehnen ersetzte und sich wie Schlangen um die toten Knochen wand. Ruhig und gelassen ließ das Wesen seinen Blick von dem einen Ganoven zum anderen gleiten. Trotz leerer Augenhöhlen schien es sehen zu können, und es hörte nicht auf zu grinsen.

»Ist es nun tot oder lebendig?«, fragte Jack.

»Tot«, antwortete Hammer. »So oder so.«

Er trat einen Schritt vor und schlug mit dem Schwert nach dem Hals des Scheusals - schnell, wuchtig und zielsicher. Gewöhnlich hätte dieser Hieb unweigerlich zur Enthauptung geführt. Doch mit unglaublicher Schnelligkeit hob das Wesen einen Arm und wehrte sich. Die Klinge glitt von den Knochen ab, ohne Schaden anzurichten. Hammer fackelte nicht lange. Kaum hatte er sein Gleichgewicht zurückgefunden, schlug er gezielt auf den erhobenen Knochenarm, auf die gesponnenen Stränge, die die Glieder zusammenhielten. Aber kaum waren diese Fasern zerschnitten, wuchsen sie auch schon wieder zusammen, so schnell, als wären sie gar nicht erst getrennt gewesen. Hammer erstarrte vor Entsetzen. Im letzten Augenblick konnte er zur Seite wegtauchen, als der Knochenmann mit der Faust nach ihm schlug und statt seiner die Wand traf, so wuchtig, dass etliche kleinere Knöchel knackten. Aber er kannte keine Schmerzen und richtete sein unablässiges Grinsen auf die drei Ganoven. Weil schon so lange tot, kannte er auch kein Mitleid oder Erbarmen mehr.

»Was zum Teufel ist das für einer?«, reif Hammer. »Ist dir so was schon mal über den Weg gelaufen, Jack?«

»Nein«, antwortete Vogelscheuchen-Jack. »Aus dem Wald stammt's jedenfalls nicht.«

»Da irrst du, mein Lieber«, entgegnete Wilde. »Ich hab ein solches Exemplar schon mal gesehen, im Bin-sicht, um genau zu sein, unmittelbar an der Grenze zum Finsterholz. Das Gespinst selbst ist ein Lebewesen, das seine Opfer verschlingt, indem es sie einwickelt. Und wenn es sie aufgefressen hat, setzt es die Knochen wieder zusammen und schickt sie hinaus in die Welt, um Beute zu machen. Ganz schön schlau, dieses Netz. Und kaum kaputt zu kriegen.«

Hammer warf einen kurzen Blick auf Wilde. »Was hattest du an einem so gefährlichen Ort wie dem Bin-sicht überhaupt zu suchen?«

Wilde warf sich in die Brust. »Ich bin ein Held gewesen. Vielleicht erinnerst du dich.«

»Das ist ziemlich lange her«, sagte Hammer.

Plötzlich sprang das Skelett auf sie zu und die drei stoben auseinander. Wilde zog einen Pfeil aus dem Köcher und spannte den Bogen. Das Scheusal wirbelte herum, wandte sich ihm zu, nach wie vor grinsend. Wilde brauchte nicht lange zum Zielen und ließ den Pfeil fliegen. Er durchschlug den Schädel und warf das Skelett so wuchtig zurück, dass es krachend vor eine geschlossene Tür prallte. In schneller Folge schickte Wilde drei Pfeile hinterher, um mit ihnen den Schädel an der Holztür festzunageln, was auch gelang. Der Knochenmann versuchte vergeblieh, sich wieder loszureißen; die Pfeile steckten tief und fest.

Wilde setzte seine alte hochmütige Miene auf »Ich bin so gut wie eh und je, Hammer; vergiss das nicht.«

Der Knochenmann erschlaffte und hing leblos an der Tür. Die dicken Spinnfäden, die ihn zusammenhielten, lösten sich von den Gliedern, fielen zu Boden und schlängelten sich mit verblüffender Geschwindigkeit zurück ins große Gespinst. Ohne Halt tropften nun die Knochen, einer nach dem anderen, zu Boden, bis nur noch der Schädel an den Pfeilen hing. Zum Schluss fiel auch die Kinnlade und nahm das starre Grinsen mit sich.

Jack wollte eine Bemerkung machen, doch es verschlug ihm die Sprache, als er sah, dass die Mitte des weißlichen Gespinsts wieder in Bewegung geriet. Die dicken Fasern und Stränge dehnten und verdrehten sich, bis schließlich das gesamte Knäuel von heftigen Zuckungen geschüttelt wurde.

Wilde legte einen Pfeil an die Bogensehne und ließ ihn in die pulsierende Masse schnellen. Das Geschoss verschwand darin, spurlos. Ein Strang aus grauen Fasern wuchs nun aus dem Knäuel und griff wie ein Tentakel nach Jack, der, um ihm auszuweichen, zur Seite springen musste. Hammer schlug beherzt zu und durchtrennte den Tentakel mit dem Schwert. Kaum war das abgeschnittene Ende zu Boden gefallen, wuchs er zur alten Länge nach. Gleichzeitig bildeten sich nun weitere Tentakel, die tastend umherwehten. Jack schreckte zurück.

»Wir müssen hier raus, Hammer! Dagegen kommen wir nicht an.«

»Er hat Recht«, stimmte Wilde zu. »Wir haben keine Chance.«

»Und ob wir die haben!«, rief Hammer.

Er steckte sein Schwert in die Scheide am Gürtel und griff stattdessen nach dem Langschwert. Das mit Lederstreifen umwickelte Heft schien ihm geradezu in die Hand zu springen, und im Nu glitt die lange Klinge aus der Scheide. Über sechs Fuß maß das Schwert, und seine Parierstange war so lang wie Hammers Unterarm.

Obwohl sie äußerst schwer sein musste, führte Hammer seine Waffe mit erstaunlicher Leichtigkeit. Der Stahl schimmerte gelblich, was so unansehnlich war, dass sich Jack vor Abscheu schüttelte. Trotz seiner verminderten Instinkte konnte er deutlich die Gewalt spüren, die von dieser Waffe ausging. In der langen Klinge tobte wüste Zauberkraft, die sich nur mittels uralter Formeln halbwegs bändigen ließ. Jack ahnte, dass hinter dieser Kraft nur böse Mächte stecken konnten.

Er glaubte auch zu spüren, dass dieses Schwert womöglich lebte und beseelt war.

Hammer holte aus, setzte einen Schritt nach vorn und hieb mit der Klinge in die Mitte des Gespinsts. Weiße Fasern schwirrten umeinander, als sich das zitternde Knäuel zurückzuziehen versuchte, weg von der mächtigen Waffe. Doch die bohrte sich tief ins Herz des Geschlinges und zog Hammer hinter sich her. Und was mit der glühenden Klinge unmittelbar in Berührung kam, löste sich zischend auf. Das Gespinst schwelte und bebte, warf lange Arme und Fäden in die Luft, als wollte es sich davonhangeln.

Langsam schritt Hammer näher. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzogen - wegen des fürchterlichen Gestanks aus dem versengten Gewebe. Das Schwert brannte mit bitter gelber Flamme. Immer wieder stach er damit zu und das Netz zerfiel in verkohlte Klumpen. Aus dem milchig weißen Herz kamen dunkle Gestalten torkelnd zum Vorschein, Gliederpuppen, zusammengesetzt aus Knochen und Horror, untote Geschöpfe des Netzes, geführt an dessen Fäden. Sie warfen sich Hammer entgegen, langten mit ihren Knochenhänden und gelben Klauen nach ihm aus, mussten aber doch zerbrechen und vergehen unter dem Streich der Klinge, die sie aus der Sklaverei des Gespinstes befreite.

Der Korridor war knapp drei Meter hoch und fast ebenso breit. Das Gespinst hatte ihn auf eine Länge von über fünf Schritt ausgefüllt. Als Hammer das Schwert endlich ruhen ließ und sich umschaute, waren nur noch ein paar rußschwarze Fäden übrig geblieben, die von der Decke und den Wänden herabhingen. Auf den Steinplatten am Boden lag ein

Wust alter Knochen, die nun endlich ihren Frieden hatten. Hammer betrachtete das Schwert. Die Klinge leuchtete ebenso gelblich wie die Flammen, die von einem Scheiterhaufen aufstiegen.

»Verdammter Narr!«, zischte Wilde. »Das ist der Wolfsfluch, stimmt's?«

»Ja«, antwortete Hammer. »Das ist er.« Er warf das Langschwert zurück in die Scheide, mit Nachdruck, denn es schien sich dagegen zu sträuben.

Jack warf einen prüfenden Blick auf die Kerze in seiner Laterne, die er die ganze Zeit über festgehalten hatte.

Dass die Kerze noch brannte, war wie ein Wunder. Wilde zog die Fackel aus der Halterung und wandte sich wieder an Hammer.

»Ich dachte, das Höllenschwert sei während des Dämonenkrieges verloren gegangen«, sagte er.

»Das war es auch. Und ich hab's gefunden.«

»Dann halt dich fern von mir, Hammer. Komm mir nicht zu nahe.«

»Was soll das heißen, Wilde? Hast du Angst?«

»Vor diesem Ding? O ja. Und das hättest du auch, wenn du diesem verfluchten Schwert nicht schon verfallen wärst.«

Jack hatte keine Ahnung, wovon die Rede war, und es kümmerte ihn auch nicht. Er war nur froh, dass ihm dieses Gespinst und seine scheußlichen Geschöpfe nicht mehr gefährlich werden konnten. Aber es gab noch weitere Gefahren, und obwohl auch er das Langschwert ziemlich ungeheuerlich fand, war Jack vor allem darauf aus, das Gold zu finden und möglichst schnell wieder zu verschwinden, ehe die Ranger ihnen auf die Schliche kamen. Als er diesen Gedanken aussprach, nickten die anderen beifällig.

»Du hast Recht. Weil du dumm genug warst, dich den Rangern zu zeigen, werden sie jetzt wahrscheinlich auf der Hut sein, und wir können uns nicht erlauben, entdeckt zu werden. Wenn sie irgendwo in der Nähe sind, werden sie uns bestimmt gehört haben. Am besten, wir verziehen uns an einen sicheren Ort und halten uns für eine Stunde oder so bedeckt, bis wieder Ruhe eingekehrt ist.«

»Bist du verrückt? Ich bleib an diesem gottverlassenen Ort keine Minute länger als nötig«, rief Wilde mit Blick auf Hammer und ballte die Faust um seinen Bogen. »Du hast doch das Gespinst gesehen. Angeblich sind diese Scheusale ausgestorben, seit der Bin-sicht im Dämonenkrieg vernichtet worden ist. Wenn es hier im Fort noch gibt, was eigentlich nie hätte existieren dürfen, sollten wir zusehen, möglichst schnell wieder weg zu sein. Wer weiß, was uns hier sonst noch für Scheusale über den Weg laufen.«

»Du enttäuschst mich, Edmond«, sagte Hammer. »Im Ernst. Sieh dich bloß einmal an. Ich kann mich an die Zeit erinnern, als du noch Mitglied der königlichen Garde warst. Du hast den aufrührerischen Schwertmeister Sir Guillain erschlagen und dem

König in der entscheidenden Schlacht des Dämonenkrieges zur Seite gestanden. Und was ist aus dir geworden?

Ein Schlappschwanz, der sich vor Angst in die Hose macht.«

»Mein Gedächtnis arbeitet auch noch ganz gut«, entgegnete Wilde. »Damals war ich ein junger Spund, der geglaubt hat, was ihm zum Thema Ehre und Pflicht vorgelogen worden ist. So naiv bin ich nicht mehr. Ich riskier mein Leben nicht mehr für andere.«

»Du wirst tun, was ich von dir verlange«, flüsterte Hammer. »Nicht wahr?«

Die beiden fixierten einander mit den Augen. Wilde schaute als Erster zur Seite.

»Na gut, halten wir uns für eine Stunde bedeckt. Obwohl mir die Sache nicht gefällt.«

»Sie braucht dir ja auch nicht zu gefallen«, sagte Hammer. Er wandte sich von Wilde ab und ging den Korridor entlang. Der Bogenschütze schaute ihm mit frostiger Miene nach und setzte sich dann selbst in Bewegung. Jack folgte zum Schluss. Er hatte von Wildes heldenhafter Vergangenheit nichts gewusst. Von den fünftausend Männern und Frauen, die in der großen letzten Schlacht des Dämonenkrieges gekämpft hatten, waren am Ende nicht mehr als zweihundert am Leben geblieben, nämlich die Tapfersten der Tapferen. Jack mochte kaum glauben, dass Edmond Wilde dazuzählte. Er kannte den Bogenschützen nur als Banditen und Mörder, der seinen Opfern nach Möglichkeit aus dem Hinterhalt auflauerte, plündernd und raubend durch die Gegend zog und sich für Geld zu jeder Schandtat überreden ließ. Jack schüttelte den Kopf. Aus Menschen war er noch nie schlau geworden.

Hammer warf einen Blick hinter jede Tür, an der sie vorbeikamen. Die Dritte führte in einen kleinen Anbau.

Hammer sah sich darin um und nickte zufrieden. »Hier können wir bleiben. Keine Fenster und nur diese eine Tür. Gut zu verteidigen und unauffällig. Kommt, ruht euch aus. Eine Stunde. Mal sehen, was sich so tut.«

Er winkte seine Kumpane zu sich, zog die Tür zu und stemmte einen Stuhl unter die Klinke. Noch während sich Jack und Wilde in der Kammer umschauten, nahm Hammer den einzig übrig gebliebenen Stuhl in Beschlag, ließ sich wohlig seufzend darauf nieder und streckte die Beine aus. Wilde warf ihm einen verächtlichen Blick zu und rammte wütend seine Fackel in eine Wandhalterung. Dann setzte er sich in eine Ecke, aus der sich die Tür im Auge behalten ließ, und legte den Bogen in den Schoß. Jack nahm in der Ecke gegenüber Platz und musste tief Luft holen, als er unter der feuchten Hose den kalten Steinboden spürte. Er setzte die Laterne neben sich ab und sah sich um. Die Kammer war dunkel, muffig und für sein Empfinden viel zu eng. Zu allem Überfluss hatte er sich erkältet. Manchmal kam es wirklich knüppeldick. Vergeblich suchte er nach einer halbwegs bequemen Sitzhaltung, in der er sich hätte entspannen können. Dass er das letzte Mal auf weichem Moos und unter wärmender Sommersonne gelagert hatte, schien eine Ewigkeit her zu sein. Er schniefte betrübt und schloss die Augen. Er war müde und ein kurzes Nickerchen würde ihm gut tun. Eine kurze Ruhepause nur.

Hammer hockte, der Tür zugewandt, auf seinem Stuhl. Er war eingeschlafen, das Kinn hing ihm auf der Brust.

Das Langschwert steckte in der Scheide, wartend, aufmerksam.

Duncan MacNeil irrte durch das Labyrinth aus Korridoren und Durchgängen. Flint und der Tänzer folgten in kurzem Abstand, Constance als Letzte. MacNeil spähte ins Dunkle. Er war fest davon überzeugt, Kampfgeräusche gehört zu haben, doch es deutete rein gar nichts daraufhin, dass sich außer den vieren sonst noch jemand im Fort aufhielt.

Draußen stürmte noch immer das Ungewitter. Der Regen prasselte fast so laut wie Donner, und so grell leuchteten die Blitze durch die' Scharten der Außenmauer, dass die Ranger, geblendet davon, für eine Weile nichts mehr sehen konnten. MacNeil trug seine Laterne vor sich her und gab Acht, dass er nicht irgendwo aneckte. Als er in einen Nebengang einbog, entdeckte er die Überreste des riesigen Gespinstes und blieb verwundert stehen. Die anderen gesellten sich zu ihm. Faulendes Gewebe hing in Fetzen von Decken und Wänden und ein übler Gestank machte sich breit. Auf dem Boden häuften sich gelbliche Knochen, blutverkrustet. MacNeil sah auf Anhieb, dass es sich um die Knochen von Menschen handelte.

»Was ist denn hier passiert?«, hauchte Flint. Keiner antwortete ihr.

MacNeil kniete sich hin und untersuchte die Steinplatten. Die wenigen Spuren, die er ausmachte, boten kaum Aufschluss. Die Knochen und Reste des Gespinstes wagte er nicht zu berühren. Er stand wieder auf und sah sich mit sorgenvoller Miene um. Rätselhaft, dachte er. Vor knapp drei Stunden hatte er diesen Korridor schon einmal passiert, und da war nichts von alledem zu sehen gewesen. MacNeil schüttelte den Kopf. Aber vor einem Rätsel zu stehen war ihm ja nicht neu.

Er wandte sich an Constance. »Kannst du sehen, was hier vorgefallen ist?«

Constance krauste die Stirn und schloss die Augen. »Es waren drei Männer hier. Banditen. Einer von ihnen ist Vogelscheuchen-Jack. Der andere gehörte zu denen, die das Gold hierher brachten. Sie mussten sich zur Wehr setzen, gegen einen Gegner, den ich nicht erkennen kann.«

»Der hat wahrscheinlich dieses Netz gesponnen«, sagte MacNeil. »Siehst du noch etwas?«

Constance kniff die Brauen zusammen und konzentrierte sich. »Da war noch etwas zugegen«, sagte sie leise.

»Nicht nur die Banditen und das Netz… Duncan, sie haben Unheil mit ins Fort gebracht. Etwas Altes, sehr Mächtiges.« Sie erschauderte und schlug die Augen auf. »Sonst sehe ich nichts. Die Banditen sind verschwunden. Ich könnte ihnen auf die Spur kommen, aber dazu müsste ich einen Zauber beschwören, der mich für mehrere Stunden schachmatt setzte.«

»Das lohnt nicht«, sagte MacNeil. »Drei Banditen können uns nicht sehr gefährlich werden, gleichgültig was sie mit sich ins Fort gebracht haben. Wir werden sie aufstöbern, suchen Raum um Raum nach ihnen ab. Was allerdings eine Weile dauern könnte. Sei's drum, wir hätten heute Nacht ohnehin nicht viel geschlafen.«

Constance schaute ihn an, sagte aber nichts. Die Banditen waren in Begleitung von etwas sehr Bösem, das sie alle bedrohte, aber sie konnte sich mit ihrer Hellsicht kein klares Bild davon machen. Und darum mochte sie MacNeil nicht widersprechen. Er würde ihre Bedenken nicht würdigen.

Salamanders Bedenken hätte er sehr wohl ernst genommen…

»Seltsamer Zufall«, sagte Flint.

»Was?«, fragte MacNeil.

»Wir haben in der Höhle unterm Keller gegen

Monstren angekämpft, und es scheint, als wären diese Ganoven hier im Korridor ebenfalls böse überrascht worden. Und wir haben alle von Monstren geträumt. Vielleicht hängt das eine mit dem anderen zusammen.«

»Inwiefern?«

Flint zuckte mit den Achseln. »Wer weiß ?«

Die Ranger standen eine Weile nachdenklich beieinander. Plötzlich hatte MacNeil einen Einfall.

»Ich weiß nicht, wie ihr denkt, aber mir scheint, die Banditen werden, was sie auch suchen, im Keller zu finden hoffen. Schließlich sollte da auch das Gold lagern«, sagte MacNeil und sah in die Runde.

»Und?«, fragte Constance.

»Ich schlage vor, wir steigen in den Keller zurück und warten dort auf sie.«

Flint und der Tänzer tauschten skeptische Blicke. Constance sah zu Boden. Und MacNeil schmunzelte plötzlich.

»Ist doch viel besser, als alle Räume durchzugehen, oder?«

Nach längerer Pause meldete sich Flint wieder zu Wort. »Warum machst du uns Vorschläge. Du bist doch unser Anführer und kannst bestimmen, was zu tun ist. Wir gehorchen. So war es schließlich bislang immer.«

»Aber jetzt ist alles anders«, entgegnete MacNeil. »Wir haben's hier nicht mit einem gewöhnlichen Fall zu tun und sind außerordentlichen Gefahren ausgesetzt. Ich habe nicht das Recht, von euch zu verlangen, dass ihr mir unter solchen Umständen Folge leistet. Ihr habt die Möglichkeit, nein zu sagen.«

Flint schüttelte den Kopf. »Ich dachte, du hättest Salamanders Tod mittlerweile verwunden. Es war nicht deine Schuld. Du konntest schließlich nicht ahnen, dass ihr in einen Hinterhalt geraten würdet. Nun ja, Salamander hat eine Gefahr an diesem Ort vorausgesehen, konnte aber nichts Genaues ausmachen. Sie hat ihrem Schwert mehr vertraut als ihrer Magie, und das war der Fehler, der ihr zum Verhängnis wurde. Giles und ich sind mit deinen Entscheidungen einverstanden. Das war schon immer so. Du willst also in den Keller zurück?«

»Ja«, antwortete Mac Neil.

»Dann kommen wir mit, der Tänzer und ich. Wir sind schon seit acht Jahren zusammen und haben nicht vor, den Zug zu wechseln. Wo du hingehst, gehen auch wir. Nicht wahr, Giles?«

»So ist es«, bestätigte der Tänzer.

MacNeil wandte sich Constance zu. Sie lächelte und sagte: »Ich komme natürlich auch mit. Was würdest du ohne mich anfangen? Ich gehöre schließlich auch mit zur Truppe.«

»Dann lasst uns gehen«, sagte MacNeil. »Kommen wir den Banditen zuvor.«

Er drehte sich um und ging voran, damit die anderen nicht sehen konnten, wie sehr ihn die Loyalität seiner Untergebenen anrührte. Flint und der Tänzer grinsten sich zu und folgten. Constance bildete erneut das Schlusslicht und summte vor sich hin.

»Was meinst du? Ob wir wieder auf Monstren treffen?«, fragte Flint.

»Sehr wahrscheinlich.«

»Gut«, sagte Flint. »Du kannst ein zusätzliches Training gebrauchen. Bist in letzter Zeit ein bisschen langsam und träge geworden.«

»Stimmt, meine besten Jahre sind wohl schon vorbei.«

Sie kicherten leise. Auch Constance, die hinter ihnen ging, schmunzelte. Ihr Blick aber war weit entrückt. Sie hatte ihre Hellsicht auf den Keller gerichtet und sah eine Gelegenheit, MacNeil ihre großen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Er würde noch stolz auf sie sein können.

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