In der Dunkelheit der Nacht

Die Nacht kam schnell. Kaum eine Stunde nachdem die Ranger den Speisesaal bezogen hatten, senkte sich die Dunkelheit über das Fort. Flint und Constance zündeten die Fackeln an, die an den Wänden steckten, während MacNeil und der Tänzer brennende Kerzen und Öllampen rund um die Schlafstelle im Kreis anordneten. Es gab zwar keiner offen zu, aber bei Licht war allen sehr viel wohler zu Mute, würden sie doch früh genug sehen können, falls jemand zu einem Anschlag auf sie ansetzte.

Flint und der Tänzer gingen zu den Pferden und holten das hinter den Sätteln zusammengerollte Gepäck. Sie blieben in den engen Gängen dicht beieinander und hielten ihre Laternen in die Höhe. Die langen Schatten waren sehr schwarz. Während dann Flint und Constance die Schlafmatten in der Mitte des Speisesaales ausrollten, machten sich MacNeil und der Tänzer daran, Tischplatten und Böcke zu einer Art Barrikade zusammenzurücken. Die war zwar nicht sehr standfest, vermittelte aber immerhin ein Gefühl von Schutz und Sicherheit, und darauf kam es an. Trotz der vielen Kerzen, Lampen und Fackeln war der Raum beklemmend düster und voll ruheloser Schatten. Auf jedes Geräusch folgte ein leises Echo, das an den Nerven kratzte, und draußen fegte heulend ein kräftiger Wind über das Fort. Aber all das machte den Rangern nicht viel aus; nach dem langen Ritt waren sie so müde, dass sie fast im Stehen einzuschlafen drohten.

Flint meldete sich freiwillig für die erste Wache, was die anderen begrüßten. Sie legten sich Seite an Seite unter die Decken und fanden es beruhigend, so nah beieinander zu sein.

Weil es zunehmend kalt wurde, erwog MacNeil im offenen Kamin Feuer zu machen, entschied sich aber dagegen. Die Mühe wäre größer als der Nutzen, und außerdem - es war Sommer; so kalt konnte es gar nicht sein.

Er zog seine Decken bis über die Ohren. Der Boden war hart und uneben, aber er hatte schon auf noch unbequemeren Unterlagen geschlafen. Und er war bereits so müde, dass die Augen von allein zufielen. Er gähnte, kratzte sich die Rippen und seufzte zufrieden. Es tat gut, endlich die Beine entlasten zu können.

Flint ging dem Tänzer zur Hand und richtete dessen Decken. Er war in solchen Dingen ziemlich hilflos. Auch mit dem Besatteln seines Pferdes tat er sich schwer, und wenn er sich selbst versorgen müsste, würde er wahrscheinlich verhungern. Dafür hatte er andere Talente, weshalb die anderen ein Auge zudrückten, wenn er sich ungeschickt anstellte. Als Flint fertig war, nahm sie neben ihm Platz.

»Ein Zimmer mit Bad wäre besser gewesen«, sagte sie leise. »Ein bisschen Wasser würde uns gut bekommen.«

»Es reicht, wenn du für dich sprichst«, entgegnete der Tänzer.

»Das tu ich ja«, sagte sie. »Ich habe einmal mit einem wandelnden Leichnam gekämpft, der sechs Monate lang unter Torf begraben lag, aber trotzdem nicht so schlimm roch wie ich zurzeit. Sei's drum. Morgen ist auch noch ein Tag. Schlaf jetzt, Giles. Ich weck dich dann zur nächsten Wache.«

Der Tänzer nickte müde, legte sich zurück und schloss die Augen. Flint lächelte ihn liebevoll an, zog dann ihren Säbel und legte ihn griffbereit über die Knie. Sie wähnte sich auf alles vorbereitet.

Constance kam fröstelnd aus einem Winkel zurück, der ihnen allen als Latrine diente, und stieg an MacNeils Seite unter ihre Decken. »Morgen suchen wir uns als Erstes ordentliches Nachtgeschirr. Eine Suppenterrine ist kein guter Ersatz dafür.«

MacNeil kicherte schläfrig und hielt die Augen geschlossen. »Gute Nacht, Constance. Angenehme Träume.«

Es wurde still im Speisesaal. Zu hören waren nur der Wind, der immer heftiger wehte, und leise Schnarchlaute von Giles, der schon eingeschlafen war. Er würde sich auch nicht von lauten Donnerschlägen stören lassen. Unzufrieden mit ihrer Lage auf dem harten Boden, wälzte sich Constance für eine Weile von einer Seite auf die andere, aber dann wurde auch sie ruhig. Ihr Atem ging leicht und gleichmäßig, die Gesichtszüge entspannten sich. MacNeil lag auf dem Rücken und döste vor sich ihn. Ab und zu öffnete er die Augen und starrte unter die hohe, umschattete Decke. Es war nicht ungefährlich, in diesem Fort zu nächtigen, doch das Risiko erschien ihm durchaus überschaubar. Das, was hier blutrünstig gewütet hatte, war jetzt offenbar nicht in der Nähe.

Wer mochte dahinter stecken? Der Dämonenkrieg hatte zahlreiche Unwesen aus tiefem Schlaf geweckt, der von den Menschen allein sonst nicht gestört worden wäre. Die Geschichte dieses Landstrichs lag tief vergraben in der Erde, drohte aber nach der langen Nacht wieder in Erscheinung zu treten. Manche der tieferen Bergwerksschächte waren nach der Entdeckung versiegelt worden, die Bergleute darin gemacht hatten.

Damals wohnten Riesen in der Erde…

MacNeil rutschte unruhig hin und her. Wenn er sich irrte und das Unheil immer noch im Fort steckte - nun, in dem Fall wäre ein Köder gelegt, der es aus der Deckung hervorlocken würde. MacNeil schmunzelte freudlos. Ja, Ranger waren im Grunde nichts anderes. Sie hatten die Aufgabe, den Feind zu stellen und seine Stärken und Schwächen offen zu legen. Der einzige Unterschied zu einem Köder bestand darin, dass Ranger Zähne hatten und selbst zubeißen konnten. MacNeil warf einen Blick auf Flint, die eine Hand auf dem Säbelgriff liegen hatte und vor sich hin stierte. Er war froh, dass Flint freiwillig die erste Wache übernommen hatte. Er konnte ihr voll vertrauen. Bei dem Tänzer wusste man nie, ob er nicht womöglich doch einnickte, wenn er es sich bequem gemacht hatte. Um wach zu bleiben, ging er deshalb die ganze Zeit auf und ab, was aber die anderen dann nicht zur Ruhe kommen ließ. Und Constance… mit ihr hatte er, MacNeil, noch keine Erfahrung gemacht. Er schloss die Augen und entspannte sich. Ja, auf Flint war Verlass. Er gähnte. Der Tag war lang und anstrengend gewesen…

Flint wachte über die schlafenden Gefährten. Allmählich brannten die Lichter herab.

Die Dämonen schwärmten aus der langen Nacht herbei, bösartig und gemein, und die Wachen hinter den Barrikaden der Stadt stellten sich ihnen mit ihren Waffen, mit siedend heißem Öl und dem Mut der Verzweiflung in den Weg. Duncan MacNeil hielt ihnen stand, schlug mit seinem Schwert in kurzen, wuchtigen Schwüngen um sich und streckte einen nach dem anderen nieder. Doch der Ansturm riss nicht ab. Gestalten wie aus Alb- und Fieberträumen fielen mit ihren Klauen und gefletschten Zähnen über ihn her, und ihre Augen glühten gierig in endloser Nacht. Blut spritzte von schwirrenden Klingen und Äxten. Dämonen starben zu Häuf, doch es rückten immer weitere nach.

Sie kamen ohne Zahl.

Ein langes, spindeldürres Wesen mit gezacktem Rückgrat und Krallenhänden bäumte sich vor MacNeil auf. Sich duckend wich er einem mörderischen Schwinger aus und stieß dem Gegner die Schwertspitze in den Leib. Das Gedärm platzte daraus hervor und spulte sich zuckend vor seinen Beinen ab. Trotzdem griff das Ungeheuer weiter an, bis MacNeil ihm mit einem beidhändig geführten Hieb den knochigen Kopf vom Hals trennte. Lautlos geiferte das Maul auf dem von Blut überschwemmten Boden, und es dauerte noch eine Weile, bis auch der schwankende Körper endlich in sich zusammensackte. Dämonen gaben keinen Laut von sich, auch nicht, wenn sie starben. Als böse Gedanken, die Gestalt angenommen hatten, waren sie still, ob lebendig oder tot.

Auf Fledermausschwingen flatterte etwas aus der Dunkelheit hervor, das so groß war wie der Kopf eines Mannes, ein dichtes schwarzes Fell und ein Dutzend Beine besaß. MacNeil zerschlug es in der Luft. Es zerplatzte und ließ faulig stinkenden Seim auf ihn nieder regnen, der seine entblößte Haut ätzend traktierte. Er war noch abgelenkt, schüttelte sich und fluchte, als ein Flickendämon mit gewaltigem totenbleichem Rumpfund großen sichelförmigen Kiefern wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte und ihn zu Boden stieß.

Im ersten Augenblick sah er nichts als ein Durcheinander von Menschen- und Dämonenbeinen, die im blutdurchtränkten Schlamm umherstolperten. Er schlug nach dem bleichen Dämon aus, doch der kam ihm zuvor und hackte ihm die Krallen ins zerrissene Kettenhemd. Vor Schmerzen schrie er laut auf und wehrte sich in seiner Verzweiflung mit einem wuchtigen Fußtritt, worauf der Dämon das Gleichgewicht verlor. MacNeil nutzte die Gelegenheit und sprang auf. Doch als er wieder auf den Beinen stand, war der Dämon auch schon verschwunden, fortgetragen von den drängenden Leibern. Dafür bekam er es nun mit anderen zu tun. MacNeil wischte sich mit dem Ärmel Blut und Schweiß vom Gesicht und verschaffte sich Platz, indem er das Schwert kreisen ließ. Er legte all seine verbliebene Kraft in die Schläge und metzelte Gegner um Gegner nieder.

Die Dämonen kamen inzwischen von allen Seiten und die Nacht war nicht dunkel genug, um das Grauenvolle, das sie anrichteten, zu verbergen. MacNeil kämpfte weiter. Er wusste nicht, wie viele Dämonen er bereits getötet hatte. Mit dem Zählen hatte er längst aufgehört. Es kamen ihm immer mehr vor die Schwertspitze. Beidhändig hielt er das Heft gepackt, und wenn er mit der Klinge auf Dämonenknochen traf, fuhr ihm ein schmerzendes Schüttern durch die Arme. Überall gellten Schreie durch die Nacht; nahebei fluchte jemand unablässig mit heiserer Stimme. Da war das Schluchzen einer Frau zu hören, das schlagartig verstummte. Und so plötzlich, wie sie aufgekreuzt waren, zogen sich die Dämonen wieder zurück und verschmolzen lautlos mit der endlosen Nacht.

MacNeil stützte sich auf sein Schwert und schnappte nach Luft, die schwer nach Blut und Tod stank. Die Muskeln an Armen und Rücken taten unerträglich weh — und er war sterbensmatt. Die Verschnaufpausen zwischen den Attacken der Dämonen wurden immer kürzer. Sie eilten in die Schlacht wie Schweine an den Trog, unersättlich in ihrer Blutgier. So stark er auch war, MacNeil wusste, dass ihm die Kräfte schwanden, eher früher als später.

Schwerfällig richtete er sich auf und schaute in die Runde. Überall lagen Gefallene; die Barrikaden waren fast vollständig eingerissen. Niemand hatte die Kraft, sich um die Verwundeten zu kümmern. Viele Leichen zeigten Fraßspuren. Die Dämonen hatten immer Hunger. Um sich vor der bitterkalten Nacht zu schützen, raffte MacNeil seinen zerrissenen Umhang fester zusammen. Seine Hände zitterten, und das nicht allein vor Kälte. Von einem Sternenlosen Himmel leuchtete der Blaue Mond. Das Finsterholz hatte die Herrschaft an sich gerissen. Königseck wurde von Dämonen belagert. Die kleine Stadt war von der Außenwelt abgeschnitten - wie lange schon, wusste von den Verteidigern kein Einziger mehr. Der Albtraum schien kein Ende zu nehmen, und es war, als hätte es immer schon nichts anderes gegeben. Über dem Finsterholz ging keine Sonne mehr auf; da waren nur die Nacht und attackierende Ungeheuer. MacNeil packte das Schwert fester, doch es konnte ihm keinen Mut mehr machen. Er hatte sich immer für besonders tapfer gehalten, aber das war vor dem Krieg gewesen. Damals hatte er gegen Wegelagerer, Schmuggler und Spione aus Grundland gefochten und über Gefahren nur lachen können. Er war stark und gut und schnell mit dem Schwert und noch nie vor einem Duell zurückgeschreckt. Im Unterschied zu den meisten anderen Gardisten hatte es ihn immer zum Kampfeinsatz gedrängt. Er liebte es, wenn das Blut in Wallung geriet, und war geradezu süchtig nach Ruhm. Dann aber brach der Krieg aus. Er wurde zur Verteidigung von Königseck gerufen und sah sich diesen Horden scheußlicher Kreaturen gegenüber, die in immer größerer Zahl aus der Dunkelheit herbeischwärmten. Er hatte seinen Posten hinter den Barrikaden eingenommen, gefochten und getötet, bis ihm die Arme schmerzten und der Harnisch mit Dämonenblut besudelt war. Doch es half nichts. Aus den eigenen Reihen fiel einer nach dem anderen; es machte sich Verzweiflung breit und die Belagerung wollte nicht enden.

MacNeil lehnte sich an die Barrikade und machte für einen Moment die Augen zu. Vor Müdigkeit zitterte er am ganzen Körper. Schweiß und Blut rannen ihm übers Gesicht. Einem neuerlichen Angriff würde er nicht standhalten können. Unmöglich. Er schlug die Augen wieder auf und warf einen Blick zurück auf die Stadt. Da und dort flackerten aus dem Dunkel ein paar Lampen. Es gab nicht mehr viele, die sich darum kümmerten, Licht zu machen. MacNeil betrachtete sein Schwert. Davon tropfte immer noch das Blut von Dämonen, doch er brachte nicht mehr die Kraft auf, die Klinge sauber zu wischen.

Ja, er hatte sich stets für tapfer gehalten. Fast zwei Jahre lang hatte er den Gesetzen des Königs mit seiner Waffe Nachdruck verliehen, und Verbrecher gejagt, damit auf den Straßen Sicherheit herrschte. Er war stolz auf seinen Mut und seine Kraft, und sie hatten ihn nie im Stich gelassen. Bis er schließlich nach Königseck kam, wo die Dämonen ihn das Fürchten lehrten. So viele er auch von ihnen umbrachte, es kamen immer mehr aus der Dunkelheit nach, getrieben von Hass und Unersättlichkeit. MacNeil gab alles, was er hatte, um sie aufzuhalten, doch es war nicht genug. In Erwartung eines weiteren Ansturms starrte er hinaus in die endlose Nacht. Er rechnete mit seinem baldigen Tod und fürchtete, qualvoll sterben zu müssen.

Die Dämonen hatten ihn tatsächlich das Fürchten gelehrt. Und er wusste mittlerweile, was Panik und Verzweiflung waren.

Er sah auf die aufgebrochene Barrikade und fragte sich, warum er eigentlich noch seine Stellung hielt.

Königseck bedeutete ihm nichts. Sie war eine von vielen kleinen Städten im Hinterland, wichtig allenfalls für ihre Einwohner. Und dass sie früher oder später fallen würde, ließ sich ohnehin nicht vermeiden. "Wenn er bliebe, würde er mit ihr fallen. Wenn er denn bliebe. Er dachte angestrengt nach. Warum sollte er bleiben? Der Hauptmann, von dem er seine Befehle erhalten hatte, war tot. So auch die Mehrzahl der Gardisten. Er würde sich klammheimlich aus dem Staub machen und in der Dunkelheit ungesehen verschwinden können. Niemand würde Notiz davon nehmen. Nur er selbst.

MacNeil schüttelte den Kopf. In all den Liedern, die er kannte, wurden ausnahmslos Helden besungen, für die es ganz und gar undenkbar gewesen wäre, Reißaus zu nehmen. Sie hatten ihre Stellung bis zum bitteren Ende gehalten. Dennoch, es war etwas anderes, hier draußen im Dunklen zu stehen, einem Feind gegenüber, der an Zahl und Stärke immer weiter zuzunehmen schien… Er merkte auf. Da regte sich was. Auch andere spürten es und setzten sich in Bewegung, um die Lücken in den Barrikaden zu schließen. MacNeil packte sein Schwert und wunderte sich über die Tränen, die ihm übers Gesicht liefen und das getrocknete Blut wieder anfeuchteten. Er verbat sich zu weinen, konnte aber nicht aufhören. Vor Kälte, Müdigkeit und Schmerzen konnte er sich kaum mehr aufrecht halten und musste trotzdem kämpfen. Es war doch nicht gerecht, dass man ihm so viel abverlangte. Er hatte sein Bestes gegeben; mehr war nicht drin. Ausgeschlossen.

Die Dunkelheit schien überzukochen, als die Dämonen wieder attackierten und in lautloser, mörderischer Wut gegen die Barrikaden anstürmten. Das Schwert schwingend, hielt MacNeil stand. Stinkendes Blut spritzte umher.

Die Füße drohten auf dem glitschigen Untergrund auszurutschen. Die Muskulatur in Armen und Rücken schmerzte wie toll, doch er kämpfte weiter, hob und ließ das Schwert immer wieder niedersausen. Er fing zu wimmern an und biss sich auf die Lippen, bis sich ihm der Mund mit eigenem Blut füllte. Die Dämonen durchbrachen die Barrikade und warfen ihn zurück. Doch er wehrte sich mit allem, was er aufbringen konnte.

Die Mitstreiter fielen zu Häuf Ihre Schreie waren noch lange zu hören. Von allen Seiten drängten die Dämonen herbei. MacNeil drosch auf sie ein.

Nein. Nein, so war es nicht. Die lange Nacht ging zu Ende; es dämmerte, und mit der Dunkelheit zogen sich die Dämonen zurück. Königseck war gerettet. Ich habe überlebt. Das weiß ich doch. Ich bin ja dabei gewesen. So war es nicht.

Die Dämonen schwärmten über ihn weg, und da war nichts als undurchdringliche Dunkelheit.

Ein leichter Wind flüsterte im Moor und silbrig schimmerte das Mondlicht auf der Nebelbank im Morgengrauen.

In weniger als einer Stunde würde die Sonne aufgehen. Jessica Flint befand sich immer noch allein auf dem alten Friedhof. Sie zog den Mantel enger um sich. Wäre sie wieder in der Kaserne, könnte sie nichts mehr hinter dem Ofen hervorlocken, es sei denn, es bräche ein Krieg aus. Und der Sergeant, dem sie diesen Dienst nun zu verdanken hatte, konnte sich auf etwas gefasst machen.

Sie schaute sich um. Die Moorlandschaft dehnte sich nach allen Seiten hin aus. Im Mondlicht war alles voller Silber und Schatten. Am Horizont, über eine halbe Meile weit entfernt, lag die kleine Ortschaft Burg Mills, zu der der Friedhof gehörte. Den Dörflern zuliebe hielt Flint zu dieser frühen Stunde hier draußen im Moor Wache und schnatterte vor Kälte. Sechs Monate zuvor war ein gesuchter Mörder und Frauenschänder gestellt und von den Dorfbewohnern am Ort seines letzten Verbrechens im Rahmen ausgelassener Feierlichkeiten aufgeknüpft worden. Um den Friedhof nicht zu entweihen, hatte man die Leiche im Torf verscharrt. Einen Monat später war der Tote hervorgekrochen und ins Dorf zurückgekehrt, wo er vier Frauen mit bloßen Händen umbrachte, ehe er überwältigt, gefesselt und mit brennenden Fackeln verscheucht werden konnte. Er verschwand, wo er hergekommen war: im Moor. Aber er tauchte nun Monat für Monat wieder auf. Um sich vor ihm zu schützen, stellte man Wachen auf, sobald die Sonne unterging. Aber nun richtete das Scheusal seine Aufmerksamkeit auf den Friedhof, der seinen sterblichen Überresten vorenthalten worden war. Er hob Gräber aus, zerschlug Särge und verging sich an den Leichen. So musste auch der Totenacker bewacht werden. Das Unglückslos war auf Flint gefallen.

Sie warf einen Blick auf die mit Öl getränkte Fackel, die neben einem Grabstein stand. Falls der Unhold aufkreuzte, würde Flint die Fackel anzünden, denn nur mit Feuer — und das aus nächster Nähe -ließ er sich vertreiben.

Flint krauste die Stirn und legte die Hand auf den Knauf des Säbels, der an ihrer Seite hing. Gegen einen Untoten hatte sie noch nie gekämpft. Vielleicht, so dachte sie, wäre bei dem Monstrum der Einsatz der Klinge am Ende doch wirkungsvoller als eine brennende Fackel. Sie zuckte mit den Achseln und sah sich nach allen Seiten um.

Der Friedhof war nicht mehr als ein Flecken unebener Erde mit einem Dutzend verwitterter Steine und einigen windschiefen Holzkreuzen. Der Geruch, der hier herrschte, war auch nicht besonders zu genießen.

Flint vermutete, dass die Bewohner von Burg Mills von der Möglichkeit des Einbalsamierens nicht einmal gehört hatten.

Ein schwacher Laut ließ sie aufmerken. Sie wirbelte herum und zog den Säbel. Die Stelle, an der der Mörder im Moor verscharrt worden war, lag weniger als hundert Schritt weit entfernt. Die dunkle, feuchte Oberfläche glänzte im kalten Mondlicht. Flint fuhr mit der Zunge über die trockenen Lippen und erstarrte, als plötzlich eine klauenähnliche Hand aus dem Morast hervorbrach. Schmier troff von den zuckenden Knochenfingern. Langsam wuchs die Hand weiter empor; ihr folgte ein langer dürrer Arm, dann ein Schädel. Flint traute ihren Augen nicht, schüttelte sich und kramte Feuerstein und Stahl aus der Tasche, um die mitgebrachte Fackel anzustecken. Einen Augenblick lang sah es so aus, als sei sie zu feucht geworden, aber dann fing der ölige Brennstoff Feuer. In der einen Hand die brennende Fackel, in der anderen den gezogenen Säbel wandte sie sich dem Ungeheuer zu. Die Torfdecke gab nur widerstrebend nach. Mit einem lang anhaltenden schmatzenden Laut schlüpfte der Untote zum Vorschein. Wankend stand er am Rand der Sumpfmulde, drehte den Schädel und starrte Flint entgegen.

Seine Haut war fleckig und geschrumpelt, wirkte aber fast unversehrt. Augen hatte er keine mehr, und doch spürte Flint, dass der Unhold sie sehen konnte. Zerfetzte Lumpen, von Schmier und Fäulnis zusammengehalten, bedeckten das Gerippe. Schlamm kleckerte von ihm ab, als er sich in Bewegung setzte - gezielt auf Flint zu.

Na schön, dachte sie. Jetzt muss ich also was tun für meinen Sold.

Mit hoch erhobener Fackel stellte sie sich dem Scheusal in den Weg. Das Mondlicht schimmerte hell auf der Klinge ihres Krummschwertes, das sie ihm entgegenstreckte. Er torkelte auf sie zu. Die Knochenfinger krallten und streckten sich zuckend. Flint wartete bis zum allerletzten Augenblick und schlug mit dem Säbel nach ihm aus. Erstaunlich schnell wich das Gerippe zur Seite aus und ließ die Waffe ins Leere stoßen. Flint geriet für einen kurzen Moment aus dem Gleichgewicht, und noch ehe sie zurückweichen konnte, hielt der Untote sie beim linken Handgelenk gepackt. Seine Knochen bohrten sich tief in ihr Fleisch, und obwohl sie bereits blutete, ließ sie die Fackel nicht fallen. Sie holte kurz mit der Klinge aus und hackte auf den Unterarm der Moorleiche ein.

Plötzlich befreit, stolperte sie zurück, hatte aber noch die abgeschlagenen Knochen am Handgelenk. Und obwohl rücklings zu Boden gestürzt, war es ihr irgendwie gelungen, an Säbel und Fackel festzuhalten.

Das Monstrum starrte auf den Stumpf des Unterarms. Daraus trat kein Tropfen Blut hervor. Umso bleicher schimmerte das freigelegte Gebein im Mondlicht.

Flint schüttelte die Knochenhand ab. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren, dachte sie. Schlag ihm den Kopf ab und die Beine, verbrenn den Rest im Feuer der Fackel, und er wird keinem Menschen mehr ein Leid antun.

Sie sprang auf, stolperte aber prompt wieder und schlug so unglücklich zu Boden, dass ihr die Luft wegblieb.

Säbel und Fackel glitten ihr aus der Hand. Auf dem nassen Boden verlosch die Flamme. Keuchend raffte sich Flint auf und griff nach dem Säbel. Doch das Monstrum war eher zur Stelle.

Nein, das ist doch so nicht gewesen.

Mit der Hand, die ihm noch geblieben war, ergriff es die Waffe. In seinem augenlosen Gesicht machte sich ein Grinsen breit. Hektisch wich Flint zurück.

Nein, so war's nicht. Ich habe das Scheusal zur Strecke gebracht.

Der Tote ragte über ihr auf, groß und finster und schrecklich. Mondlicht glitzerte auf der Klinge, als er sie hoch über den Kopf hob und niedersausen ließ, wieder damit ausholte und abermals zuschlug, ausholte und zuschlug…

Giles der Tänzer passierte einen langen Durchgang, der weder Anfang noch Ende hatte. Zu beiden Seiten brannten Fackeln an den Wänden, die aber gegen die Dunkelheit kaum ankommen konnten. Er streifte durch die Flure von Burg Lancing, mit gezogenem Schwert und auf der Suche nach dem Werwolf.

Dieses Untier, das seine Gestalt nach Belieben verändern konnte, war so schlau wie tödlich, und der Tänzer hatte lange Zeit gerätselt, hinter welchem der Gäste des Barons sich der Werwolf verbarg. Jetzt aber wusste er Bescheid. Die Bestie konnte nicht mehr weit vor ihm sein. Auf leisen Sohlen schlich er durch den Korridor und suchte mit kühlem, scharfem Blick nach Hinweisen auf sein Opfer. Es schien ihm, als sei er schon überaus lange auf der Jagd, aber er hatte Geduld. Er wusste, dass er den Werwolf irgendwann zur Strecke bringen und töten würde.

Immer weiter folgte er dem Korridor, und es zeigte sich ein erster Zweifel auf seiner Stirn. Er hatte nicht für möglich gehalten, dass Burg Lancing derartig groß war. Er hätte doch mittlerweile irgendwo ankommen müssen.

Und da war noch etwas, woran er sich erinnern sollte, was ihm aber nicht mehr einfiel. Plötzlich ließ ihn ein Geräusch aufmerken. Er blieb jählings stehen und lauschte. Da war es wieder, das Geräusch: ein tiefes, kehliges Knurren, ganz in der Nähe. Der Tänzer schmunzelte. Das könnte interessant werden. Er hatte noch nie einen Werwolf getötet und hoffte, dass das Monstrum ihm einen guten Kampf liefern würde. Als Schwertmeister war er schon lange nicht mehr ernstlich gefordert gewesen. Ob Mensch oder Tier, Zauberer oder Gestaltwandler - er würde jeden Gegner niederzwingen. Vorsichtig schlich der Tänzer weiter voran und lauschte. Doch da gab es nur Stille und Dunkelheit. Dann aber, als er um eine Ecke bog, stand plötzlich der Werwolf vor ihm.

Er war groß, überragte Giles um etliches und reichte mit seinem zotteligen Kopf fast bis zur Decke. Das dichte Fell war durchschwitzt und voller Blutflecken und stank so ranzig wie die Luft in einem verdreckten Metzgerladen. Gelb wie Urin waren die eng zusammenstehenden Augen, und die grinsenden Lefzen entblößten nadelspitze Zähne. Das Tier knurrte den Tänzer an, und aus dem Maul zog sich der Geifer in langen Fäden.

Beide starrten einander lange Zeit an. Dann hob der Tänzer sein Schwert und lächelte. Heulend warf sich ihm der Werwolf entgegen und schnappte nach seinem Hals. Leichtfüßig wich der Tänzer zur Seite hin aus und rammte dem Tier das Schwert in den Leib. Wieder heulte es auf und wirbelte herum. Noch in der Bewegung verheilte die klaffende Wunde. Der Tänzer zog nun seinen silbernen Dolch aus dem Stiefelschaft, versenkte die Klinge zwischen den Rippen des Wesens und gab ihm eine Drehung aus dem Handgelenk mit. Wie mit menschlicher Stimme schrie es auf und sackte schlaff zu Boden. Das Blut, das es verströmte, war rot wie Menschenblut.

Vorsichtig wich der Tänzer aus seiner Reichweite zurück und sah gelassen zu, wie der Werwolf röchelnd verendete.

Vor seinen Augen nahm nun das Monster eine andere Gestalt an. Fell, Fang und Klauen lösten sich scheinbar in Nichts auf, und schließlich sah er Jessica Flint vor sich liegen - mit seinem Messer im Herzen.

Constance, die Hexe, stand im dunklen Vorraum, durch den kalte Zugluft strömte. Vier Männer warfen je ein Seil mit Schlinge um einen der Deckenbalken. Dabei nahmen sie von der Hexe keinerlei Notiz, und obwohl ihre Münder zu schmunzeln schienen, wirkten ihre Blicke rätselnd und verwirrt.

Derjenige, der als Erster fertig war, nahm einen Stuhl von der Seitenwand und stellte ihn unter die Schlinge, die er geknüpft hatte. Dann bestieg er den Stuhl, legte sich die Schlinge um den Hals und wartete darauf, dass die anderen es ihm gleichtäten. Bald standen alle vier Männer auf den Stühlen. Sie zogen die Schlinge enger um den Hals und sprangen von den Stühlen, einer nach dem anderen und ohne sich ein letztes Mal angesehen zu haben.

Reglos baumelten sie vom Deckenbalken herab und erstickten langsam.

Constance ging im weiten Bogen um sie herum, als ein letztes Zucken durch deren Glieder ging, und eilte in den Korridor hinaus, der vom Vorraum wegführte. Ein Wachposten schlug mit dem Schwert auf einen Bettler ein, der auf allen vieren zu fliehen versuchte und eine lange Blutspur hinter sich herzog. Weder die Wache noch der Bettler beachteten Constance. Sie ging durch das Fort und traf überall auf ähnliche Szenen von Wahnsinn, Totschlag und groteskem Selbstmord. In einer Ecke hockte ein Mann, der sich immer wieder ein Messer in den Bauch rammte, bis ihm das Messer schließlich aus der Hand fiel. In einem Sitzbad ertränkte eine Mutter ihre zwei Kinder, legte sie dann beide in ihren Schoß und sang ein Wiegenlied. Zwei Männer duellierten sich mit Äxten und hieben aufeinander ein, ohne Anstalten zu ihrem eigenen Schutz zu machen. Sie teilten aus und steckten ein, doch keiner fiel. Blut spritzte und lief in großen Pfützen auf dem Boden zusammen. So war es überall im Fort: Männer, Frauen und Kinder nahmen ein schreckliches Ende, aus Gründen, die Constance nicht nachzuvollziehen vermochte. Allerdings schienen sie samt und sonders von Wahnsinn geschlagen zu sein. Es war sehr kalt im Fort, und Dunkelheit ballte sich um weichende Reste von Licht.

Im Hintergrund waren unablässig dumpfe Schläge zu hören, wie von einer großen Basstrommel. Die Schallquelle ließ sich nicht genau bestimmen, und es dauerte eine Weile, bis Constance gewahrte, dass da in unermesslich weiter Ferne ein riesiges Herz pochte.

Schließlich erreichte sie den Speisesaal, wo Hunderte von Männern, Frauen und Kindern saßen und aßen. Constance war auf der Hut, als sie den Saal betrat. Auch hier blieb sie von allen unbeachtet. Sie trat auf den nächsten Tisch zu und wandte sich angewidert ab, als sie sah, woraus die Mahlzeit bestand. Das Fleisch auf den Tellern war roh und blutig und voller Maden, die sich kriechend auf dem Tisch ausbreiteten. Über die Tellerränder labberten zuckend violette Innereien. Manche Schalen lagen voller Vogelköpfe mit lebendig blinkenden Augen. Die Hexe schaute weg und ihr Blick fiel auf den Mann, der am Kopf des Tisches saß - offenbar tot. Sein Hals war zweimal aufgeschlitzt, das Hemd mit Blut durchtränkt. Er lächelte freundlich und bot Constance aus einem Glas zu trinken an, das randvoll mit Blut gefüllt war.

Constance schreckte zurück, als sie bemerkte, dass er sie sehen konnte. Und nun wandte sich ihr ein Gesicht nach dem anderen zu. Von denen, die an den Tischen saßen, lebte keiner mehr. Manche waren erstochen, manche verbrannt worden. Einige hockten da mit gebrochenem Hals, auf dem noch das Würgemal der Schlinge zu sehen war. Constance schüttelte sich vor Entsetzen und presste die Lippen aufeinander, um nicht laut aufzuschreien. Plötzlich hoben die Toten, einer nach dem anderen, die Arme und zeigten mit ausgestrecktem Finger auf eine Stelle hinter ihr. Zögernd, widerwillig drehte sich Constance um. Sie ahnte, dass sie das, worauf man sie aufmerksam machte, eigentlich gar nicht sehen wollte. Trotzdem drehte sie sich um und ihr Aufschrei erstickte im Hals, als sie MacNeil, Flint und den Tänzer an der Wand hängen sah, festgenagelt mit Dutzenden langer Messer. Die Füße baumelten eine Handbreit über dem Boden, und nach der Blutmenge zu urteilen, die sie vergossen hatten, waren sie schon lange Zeit tot.

Constance wimmerte leise. Im Rücken hörte sie schlurfende Geräusche und sah, als sie sich umdrehte, die Toten, mit langen Messern bewaffnet, langsam näher kommen. Constance wich zurück und prallte vor die geschlossene Tür. Hektisch zerrte sie an der Klinke, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Sie wirbelte herum, starrte auf die Messerspitzen, die schon sehr nahe waren, und schrie auf.

Der Schrei riss MacNeil aus tiefem Schlaf. Noch hallte es heulend Dämonen, Dämonen! durch seinen Kopf, aber schon saß er aufrecht auf der Matte und schwang sein Schwert, bis ihm bewusst wurde, wo er war. Schnaubend ließ er Luft ab. Der Traum fiel von ihm ab. Sein Gesicht war schweißgebadet; er wischte es mit einem Deckenzipfel trocken. Die Hände zitterten. Er holte tief Luft und hielt sie einen Augenblick lang an. Doch es half nicht viel. Er schaute sich um. Constance richtete sich neben ihm auf. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und schluchzte. Das Echo ihres Schreis verhallte soeben. Der Tänzer stand auf den Beinen und starrte suchend ins Dunkel. Auch Flint hatte ihren Säbel gezückt; ihr Blick war wie umwölkt.

MacNeil beruhigte sich. Alles in Ordnung. Es war nur ein Traum. Keine Gefahr. Der letzte Rest an Panik versiegte, und er war wieder ganz er selbst. Er legte Constance eine tröstende Hand auf die Schulter, worauf sie vor Schreck zusammenzuckte. Als sie aber aufblickte und sah, wer sie da berührt hatte, atmete sie erleichtert auf.

Der Albtraum stand ihr noch im Gesicht geschrieben, und es rührte MacNeil seltsam an zu sehen, wie verletzlich sie war. Gern hätte er sie in die Arme genommen und versprochen, sie vor der "Welt in Schutz zu nehmen. Noch während er diesem Gedanken nachhing, entspannte sich ihre Miene. Constance hatte sich wieder unter Kontrolle.

Sie schniefte noch einmal und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen.

»Tut mir Leid«, flüsterte sie. »Ich hatte einen schrecklichen Traum. Einen Albtraum.«

»Das dachte ich mir«, antwortete MacNeil. »Geht's wieder?«

»Ja. Entschuldige, dass ich dich geweckt habe.«

»Dafür danke ich dir«, sagte MacNeil. »Ich habe selbst ziemlich schlecht geträumt und hätte wahrscheinlich auch bald zu schreien angefangen.«

»Ihr habt schlecht geträumt?«, fragte der Tänzer stirnrunzelnd.

»Ja«, antwortete MacNeil. »Na und? Das kommt immer wieder mal vor.«

»Mir ist es nicht besser ergangen«, sagte der Tänzer. »Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass gleich drei von uns zur selben Zeit einen Albtraum haben?«

»Alle vier«, schaltete sich Flint ein.

MacNeil sah sie verwundert an. »Du bist während der Wache eingeschlafen?«

Flint blickte zerknirscht drein und nickte. »Ich bin für einen Moment weggedöst.«

»Das sieht dir gar nicht ähnlich«, sagte der Tänzer.

»In der Tat«, meinte auch MacNeil.

Constance musterte Flint und wollte etwas sagen, besann sich dann aber eines anderen. Stattdessen fragte sie in die Runde: »Wovon habt ihr geträumt?«

Flint krauste die Stirn. »Davon, wie ich einmal gegen einen Untoten gekämpft habe. Im Traum war ich ihm am Ende unterlegen, obwohl ich ihn in Wirklichkeit besiegt habe.«

»Ich träumte von einem Werwolf, den ich Vorjahren tötete«, berichtete der Tänzer. »Im Traum aber war alles ganz anders.«

Constance richtete ihren Blick auf MacNeil. »Und was ist mit dir, Duncan? Was hast du geträumt?«

»Das ist doch egal«, antwortete er. »Es war nur ein Albtraum.«

»Vielleicht ist es wichtig. Erzähl.«

Nein, Constance. Das kann ich nicht erzählen, weder dir noch sonst irgendwem. Ich kann keinem erzählen, wie ich einmal fast Hals über Kopf davongelaufen wäre.

»Im Traum wähnte ich mich wieder in die lange Nacht zurückversetzt«, sagte er schließlich, »und kämpfte gegen Dämonen.«

Constance krauste die Stirn. »Dämonen…«

»Aber das hat alles nichts zu bedeuten«, fiel ihr MacNeil ins Wort. »Außerdem haben wir schon darüber geredet.

Ihr erinnert euch?«

»Ja«, sagte Constance. Sie dachte eine Weile lang nach und betrachtete MacNeil mit ernster Miene. »Mein Traum war anders. Ihr habt alle von längst vergangenen Dingen geträumt. Was mir im Traum erschien, waren Vorgänge hier im Fort.«

»Hattest du eine Vision?«, fragte Flint.

»Ich weiß nicht. Vielleicht.« Constance erschauderte plötzlich. »Ich sah hier Leute durchdrehen und mordend übereinander herfallen.«

Für eine Weile blieb es still.

»Das könnte eine Erklärung sein«, sagte MacNeil. »Aber wenn das tatsächlich passiert ist, wo sind all die Leichen.«

»Jedenfalls sind sie nicht weggeschafft worden«, antwortete Flint. »Denn dann hätten wir die eine oder andere Spur entdeckt.«

»Ja, ich glaube, dass hier tatsächlich alles so passiert ist, wie ich es geträumt habe«, sagte Constance.

»Bist du sicher?«, fragte MacNeil.

»Natürlich. Ich bin eine Hexe. Hier im Fort steckt eine unsichtbare Macht, die uns mit Albträumen gequält hat.

Sie will uns testen und unsere Schwachstellen aufdecken. Im Unterschied zu euch habe ich einen Teil der Wahrheit erkannt.«

MacNeil wählte seine Worte mit Bedacht. »Ich vermute, du deutest da zu viel hinein, Constance. Kann sein, dass uns die Träume geschickt worden sind. Aber es sind eben nur Träume, nicht mehr. Alles andere ist Spekulation.

Wir sind durch alle Räume gegangen, haben alle Winkel in diesem Fort durchsucht, aber außer uns ist niemand hier.«

»Nicht umdrehen«, flüsterte der Tänzer plötzlich. »Was du da sagst, trifft nicht mehr zu. Wir werden von der Tür aus beobachtet.«

In der Stille der Nacht trat hinter den Bäumen am Waldrand eine einsame Gestalt hervor und eilte über die Lichtung auf das Fort zu. Der Mond schien taghell, und da war kein Schatten, in dem Vogelscheuchen-Jack Deckung gefunden hätte. Mit gesenktem Kopf und wild rudernden Armen rannte er entschlossen drauflos. Wenn es auf den Wehrgängen der Festung noch Wachposten gegeben hätte, wäre er nicht weit gekommen. Bei diesem Licht war er kaum zu übersehen. Aber er hatte fast eine geschlagene Stunde darauf gewartet, dass sich eine Wolke über den Mond schöbe, was aber nicht eintraf, sodass er sich am Ende genötigt sah, sein Glück zu versuchen und zu laufen. Die Chancen, unentdeckt zu bleiben, standen gut, weil anscheinend nur ganz wenige Männer Wache schoben. Seine Nerven drohten in Erwartung herbeischwirrender Pfeile zu zerreißen, die er früh genug zu sehen hoffte, um ihnen ausweichen zu können.

Endlich waren die Mauern des Forts erreicht. In deren Schatten geduckt, hielt er inne, bis er wieder zu Luft kam.

Dunkel und still breitete sich die Nacht um ihn aus.

Vogelscheuchen-Jack war ein groß gewachsener Mann Mitte zwanzig. Eine dichte, dunkle Mähne, die seit Jahren nicht gebürstet war, fiel ihm bis auf die Schultern herab. Ein um die Stirn geschlungener schmaler Stoffstreifen hinderte die Strähnen daran, ihm ins Gesicht und über die dunklen, stets hellwachen Augen zu fallen. Er trug ein Sammelsurium aus grünen und braunen Lumpen, die man kaum als Kleider bezeichnen konnte und die im Wesentlichen von schierem Dreck zusammengehalten schienen. Sie stanken ziemlich streng, waren aber wegen ihrer Farben im Wald eine geradezu vollendete Tarnung. Wenn er nicht gesehen sein wollte, sah ihn auch niemand.

Als Wegelagerer, der er gewesen war, hatte Jack legendären Ruhm erworben. Er hatte fast neun Jahre lang ganz allein im Wald von dem gelebt, was er dank seiner Geschicklichkeit und Schläue erbeuten konnte.

Es ging ihm so gut, dass die Welt der Menschen für ihn immer weniger anziehend wurde. Trotzdem vergaß er seine menschliche Herkunft nie. Im Gegenteil, die harsche Natur lehrte ihn Mitleid und Erbarmen erst wirklich schätzen.

Nie beraubte er Leute, die selbst bedürftig waren. Er half verarmten Familien, die sich nicht selbst unterhalten konnten, indem er für sie wilderte. Steuereintreiber kamen nicht an ihm vorbei, ohne gründlich geschröpft zu werden. Wer sich aber verirrt hatte oder in Not geraten war, konnte sich seiner Unterstützung sicher sein.

Offiziell galt er als Gesetzesbrecher, auf den ein Kopfgeld ausgesetzt war, doch es gab niemanden, der ihn ans Messer geliefert hätte. Vogelscheuchen-Jack war ein Teil des Waldes, was allgemein so hingenommen wurde.

Zu anderen Menschen hielt er Abstand, denn er war von Natur aus scheu und fühlte sich nicht wohl in Gesellschaft. Manche behaupteten, dass er zum Volk der Zwerge gehöre, ein Kobold sei oder gar eine Kreuzung aus Mensch und Dämon, doch dem war nicht so. Er war ein einfacher Mann, der den Wald über alles in der Welt liebte.

Vogelscheuchen-Jack.

Er stand auf und nahm das Seil zur Hand, das er um seine Schulter geschlungen hatte. Er prüfte den Knoten, mit dem er den Draggen befestigt hatte, und nahm mit Blick auf die hohen Zinnen Maß. Um ein Gefühl für das Gewicht des kleinen Ankers zu bekommen, ließ er ihn eine Weile hin und her pendeln; dann holte er schwungvoll aus und schleuderte ihn in den Nachthimmel hinaus. Im Mondlicht glitzernd, flog der Draggen in hohem Bogen über die Brustwehr und verschwand dahinter. Jack zog nun an dem Seil, bis sich der Draggen auf der anderen Seite fest verhakt hatte, und kletterte wendig und flink die Mauer empor, an der er ausreichend viele Trittstellen für die Fußspitzen fand.

Bald hatte er die Zinnen und den Wehrgang dahinter erreicht. Kauernd verharrte er einen Augenblick lang auf der Stelle, doch da war offenbar keiner, der ihn bemerkt hätte.

Lautlos schlich er nach unten in den Hof und zu den Ställen. Die Anzahl der dort untergebrachten Pferde würde ihm verraten, wie viele Gardisten im Fort stationiert waren. Schon auf halbem Weg spürte er, dass hier etwas schrecklich im Argen lag. Er blieb vor dem um einen Spaltbreit geöffneten Stalltor stehen und schnüffelte.

Schwer hing der kupferne Geruch von Blut in der Luft. Vorsichtig stieß er das Tor auf und schlich langsam nach innen, setzte einen Schritt vor den anderen. Dann fuhr er vor Schreck zusammen, als er die Verwüstungen und all die dunklen Flecken entdeckte - das viele Blut, wie er sofort erkannte. Jack krauste die Stirn. Allem Anschein nach waren diese längst getrockneten Blutflecken schon einige Wochen alt, trotzdem war ihr Gestank kaum auszuhalten. Er suchte auf dem Boden nach irgendwelchen Hinweisen und kam zu dem Ergebnis, dass vor kurzem zwei Personen hier gewesen sein muss-ten.

Doch es gab keine Spur, die erklärt hätte, was den Pferden widerfahren war. Mit düsterer Miene ging Jack nach draußen.

Die Luft im Hof war frisch und klar. Er atmete tief ein und aus, um den bestialischen Blutgestank loszuwerden.

Jack sah sich um. Er ahnte, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste, weshalb das Fort verlassen war, und zwar schon seit langem, wie es schien. Genau das verunsicherte ihn. Es war auf natürliche Weise nicht zu erklären und reizte seine Nerven wie jenes Donnergrollen, das, weil allzu weit entfernt, noch gar nicht zu hören war. Jack verließ sich auf seine Instinkte nicht weniger als auf seinen Verstand. Mit argwöhnischem Blick folgte er den Spuren der Gardisten, die über den Hof auf das Hauptportal zuführten.

Im Vorraum standen vier Pferde, dicht an dicht und offenbar schlafend. Eingedenk des Zustandes, in dem sich die Ställe befanden, nickte er verständnisvoll mit dem Kopf. Weniger leicht zu verstehen waren dagegen die vier Schlingen, die von der Decke hingen. Jack kniff die Brauen zusammen. Das ungute Gefühl, das sich ihm schon im Hof aufgedrängt hatte, war in diesem Vorraum noch stärker, zumal es hier wieder schrecklich nach Blut stank. Und es war kalt, unnatürlich kalt. Er spürte in den Knochen, dass sich hier Entsetzliches zugetragen hatte. Er folgte den Spuren der Gardisten, die auf dem staubigen Dielenboden gut auszumachen waren. Obwohl er leise an ihnen vorbeischlich, schienen die Pferde in ihrem Schlaf gestört.

Vielleicht durch schlechte Träume. Zögernd betrat Jack den Korridor. Die Dunkelheit machte ihm nichts aus, aber es behagte ihm nicht, von allen Seiten ummauert zu sein. Er fühlte sich wie in einer Falle und hatte die Vorstellung, die Wände würden immer enger zusammenrücken. Um den Gedanken zu verscheuchen, schüttelte er sich wie ein Hund und ging entschlossen weiter.

Er folgte den Spuren durch schmale Korridore und gelangte schließlich in den Speisesaal. Er öffnete die Tür einen Spaltbreit, spähte in den hell erleuchteten Raum und hielt die Luft an. Da hockte eine Frau, die über drei schlafende Gefährten wachte. Als er sah, dass auch sie eingeschlafen war, entspannte er sich ein wenig. An ihrem Äußeren erkannte Jack die vier Fremden als Ranger — und er war enttäuscht, weil er Ranger immer für sehr viel geschickter gehalten hatte. Seine Furchen auf der Stirn wurden noch tiefer, als ihm auffiel, dass sie im Schlaf mit Armen und Beinen zuckten und vor sich hin murmelten. Offenbar träumten sie schlecht, was er verstehen konnte. Es gruselte ihn selbst hier an diesem Ort. Plötzlich fuhr einer der Ranger schreiend in die Höhe und weckte die anderen.

Aus Angst, entdeckt zu werden, wagte es Jack nicht sich zu rühren. Still und reglos stand er hinter der Tür und hörte zu, wie sie einander ihre Träume erzählten. Einer der vier bemerkte ihn dann doch.

Die dunkle Gestalt war verschwunden, ehe MacNeil die Tür erreichte. Mit gezücktem Schwert rannte er ihr im Korridor nach. Auf den ersten Blick hatte sie eine verstörende Ähnlichkeit mit einem der Dämonen aus seinem Traum. Doch als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah MacNeil, dass er einem Mann in Lumpen hinterherjagte. Da regte sich was in seiner Erinnerung. Vogelscheuchen-Jack?

MacNeil schmunzelte in sich hinein. Er hatte von diesem Spitzbuben gehört, auch davon, dass ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt war. Er legte noch einen Schritt zu und rannte, so schnell es seine müden Beine erlaubten. Doch der andere lief wie ein aufgeschreckter Hirsch und war MacNeil bald aus den Augen entschwunden. Trotzdem rannte er weiter, ohne auf seine Gefährten zu achten, die in einigem Abstand folgten. Die Jagd dauerte an und führte durch etliche Räume und Flure, die im Dunklen kaum voneinander zu unterscheiden waren. Der Verfolgte hatte schon den Hof erreicht, als MacNeil in den Vorraum gelaufen kam, wo er kurz anhalten musste, um die aufgescheuchten Pferde zu beruhigen. Als er endlich in den Hof hinauslief, war Vogelscheuchen-Jack nirgends zu sehen. Wenig später waren auch die anderen drei zur Stelle. Gemeinsam standen sie vor dem Portal und starrten in den dunklen Hof hinaus.

»Wen suchen wir eigentlich, wenn ich fragen darf?«, keuchte Constance.

»Einen Gesetzlosen«, antwortete MacNeil. »Er hat uns vor der Tür zum Speiseraum aufgelauert.«

»Wie lange?«, wollte Flint wissen.

»Allzu lange«, gab der Tänzer zurück. »Wer er auch ist, er ist sehr gut.«

»Vogelscheuchen-Jack, wenn ich mich nicht irre«, erklärte MacNeil.

Der Tänzer hob eine Braue. »Mir war gar nicht bewusst, dass wir uns in seinem Revier befinden. Was will er wohl von uns?«

»Wichtiger wäre zu wissen, wie er hier hereinkommen konnte und wo er jetzt hin ist.« MacNeil befingerte unruhig das Heft seines Schwertes. »Über den Haupteingang kann er nicht gekommen sein. Der ist immer noch verriegelt und verrammelt. Davon habe ich mich überzeugt, bevor wir schlafen gingen.«

»Wahrscheinlich ist er über die Außenmauer geklettert«, sagte Flint. »Vielleicht steht er jetzt irgendwo da oben auf dem Wehrgang.«

Sie alle blickten hoch zu den Zinnen, doch es war zu dunkel, um etwas zu erkennen.

»Wenn er es dort hinauf geschafft hat, ist er längst über alle Berge«, knurrte MacNeil. Nach kurzem Zögern rammte er sein Schwert in die Scheide. Flint und der Tänzer sahen einander an und steckten dann ihre Schwerter ebenfalls weg.

An Constance gewandt, sagte MacNeil: »Kannst du deinen magischen Blick auf diesen Kerl richten?«

Die Hexe schüttelte den Kopf. »Irgendetwas, das hier im Fort steckt, verschleiert mir den Blick. Draußen im Wald könnte ich ihn vielleicht sehen.«

MacNeil schüttelte den Kopf. »Im Dunklen werden wir die Vogelscheuche nie erwischen.« Wieder schaute er zu den Zinnen auf. »Wenn er es über die Mauer schafft, schaffen's andere auch. Wir müssen noch mehr auf der Hut sein.«

»Ich verstehe das nicht. Was kann ein kleiner Ganove wie Vogelscheuchen-Jack hier gewollt haben?«, fragte Constance. »Wonach könnte er gesucht haben?«

»Das frage ich mich auch«, begann Flint. »Ein Fort liegt eigentlich nicht auf seiner Linie, wenn man glauben kann, was man so alles über ihn hört. Das ist nicht sein Stil. Oder gibt's hier etwas, das wir noch nicht kennen, Duncan? Etwas, über das wir noch nicht unterrichtet sind?«

MacNeil schmunzelte. »Dir entgeht doch auch gar nichts, Jessica. Na schön, lasst uns zurück in den Speisesaal gehen, und ich erzähle euch die ganze Geschichte. Hier draußen will ich lieber nicht reden. Wer weiß, wer alles zuhört.«

Zurück im Speisesaal rückte sich MacNeil einen Stuhl zurecht und forderte die anderen auf, sich zu setzen. Als alle Platz genommen hatten, beugte er sich vor.

»Dass wir hier sind, hat mehrere Gründe«, sagte MacNeil langsam. »Zum einen sollen wir herausfinden, wo die hier im Fort verwahrten hunderttausend Golddukaten geblieben sind.« Er schaute in die Runde und grinste, als er die Verwunderung in den Gesichtern der anderen sah.

»Hunderttausend Dukaten!«, staunte Flint. »Das ist ein dicker Batzen Gold.«

»Allerdings«, sagte MacNeil. »Es ist der Sold aller im Grenzgebiet stationierten Soldaten. Eigentlich sollte das Geld hier nur eine Nacht lang deponiert sein, um dann aufgeteilt und weitergeleitet zu werden. Dummerweise sind ausgerechnet in der einen Nacht alle Kontakte des Forts zur Außenwelt abgerissen. Ihr könnt euch vorstellen, wie man bei Hofe darauf reagiert hat. Also, unser offizieller Auftrag besteht darin, festzustellen, was mit der Belegschaft des Forts passiert ist. Wir sollen aber auch das Gold aufzutreiben versuchen. Ihr dürft jetzt raten, welcher Teilauftrag Vorrang hat.«

»Deshalb hast du also gleich nach unserer Ankunft darauf bestanden, alle Räume zu sehen«, sagte Flint.

»Richtig.«

Der Tänzer fragte: »Warum hat man uns nicht eingeweiht?«

MacNeil zuckte mit den Achseln. »Man wollte, dass ich euch erst vor Ort Bescheid gebe. Was ich hiermit getan habe. Wenn Vogelscheuchen-Jack von dem Gold erfahren hat, arbeitet er mit Sicherheit nicht allein. Ohne Hilfe könnte er so viel Gold gar nicht wegschaffen.«

»Vielleicht ist es längst weggeschafft«, meinte Flint.

»Das scheint mir aber nicht der Fall zu sein«, entgegnete MacNeil. »Alles deutet darauf hin, dass wir die Ersten sind, die dieses Fort betreten haben, seit hier… was auch immer passiert ist.«

Constance krauste die Stirn. »Vogelscheuchen-Jack arbeitet für gewöhnlich allein. Und dass er an Gold interessiert wäre, hat man auch noch nicht gehört.«

»An Gold ist doch jeder interessiert«, erwiderte der Tänzer.

»Nicht Jack«, beharrte Constance. »Jack ist anders.«

MacNeil sah die Hexe an. »Du kennst Vogelscheuchen-Jack?«

»Ich bin ihm begegnet, ein Mal«, antwortete Constance. »Es ist schon ein paar Jahre her. Ich war hier ganz in der Nähe auf der Suche nach Alraune und habe mich verirrt. Jack stöberte mich auf und führte mich auf den Weg zurück. Er war sehr freundlich, sehr nett, dabei aber äußerst scheu. Wie auch immer, er hat mir auf Anhieb gefallen. Er hat ein schlichtes Gemüt und ist sehr zufrieden mit seinem Leben. Der Wald bietet ihm alles, was er braucht. Nun ja… zugegeben, käuflich ist jeder.«

»Genau«, sagte MacNeil. »Und darum müssen wir das Gold sicherstellen oder zumindest herausfinden, was damit passiert ist, ehe Jack mit seinen Kumpanen zurückkommt. Womöglich hat er eine kleine Armee hinter sich, der er jetzt Meldung macht.«

Der Tänzer blickte nachdenklich zur Decke auf. »Auch wenn es sich um eine sehr kleine Armee handeln würde, hätten wir wohl kaum eine Chance, das Fort zu verteidigen.«

MacNeil zuckte mit den Schultern. »Wir müssten sie nur ein paar Tage lang von dem Gold abhalten. Dann wird unsere Verstärkung hier sein. Aber dafür müssen wir das verdammte Gold erst einmal finden.«

»Also gut«, sagte Flint. »Was machen wir jetzt? Wir haben uns schon überall umgesehen.«

»Ja, aber offenbar nicht gründlich genug«, erklärte MacNeil. Also müssen wir noch einmal jeden Raum, jeden Flur und jede Abstellkammer durchsuchen, und zwar so lange, bis wir etwas finden.«

»Jetzt?«, fragte Constance. »Es ist doch noch Nacht.«

MacNeil grinste. »Macht dir immer noch dein Traum zu schaffen, Constance? Fürchtest du, es könnten dich aus dunklen Ecken böse Dämonen anspringen?«

Constance hielt seinem Blick stand. »Du kannst einen manchmal ziemlich ärgern, Duncan. In diesem Fort gibt es etwas, das andere dermaßen um den Verstand gebracht hat, dass sie sich gegenseitig umgebracht haben. Es treibt immer noch sein Unwesen und ist, wie alles Böse, besonders mächtig während der Nachtstunden.«

»Dafür haben wir keinen konkreten Beweis, Constance.«

»Mein magischer Blick…«

»Ist verschleiert. Das hast du schon gesagt.«

»Salamander hättest du geglaubt, oder?«

Für eine Weile herrschte beklommene Stille.

»Je eher wir mit der Suche beginnen, desto früher sind wir damit fertig«, stellte MacNeil leise fest. »Wenn wir uns aufteilen, geht's noch schneller. Flint, du und der Tänzer, ihr fangt im Eingangsbereich an. Seht euch dort gründlich um, und wenn ihr alles auf den Kopf stellen müsst. Constance und ich werden hier anfangen und uns dann Raum für Raum auf euch zubewegen. Irgendwo in der Mitte werden wir dann aufeinander treffen.«

»Das wird dauern«, sagte der Tänzer.

»Machen wir uns also an die Arbeit«, drängte MacNeil.

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