Epilog Der Aufstieg lockt

Der Krankenhausflur erstrahlte in blendendem Weiß. Nach so vielen Tagen, die Clary im Schein von Fackeln, Gaslaternen und gespenstischem Elbenlicht verbracht hatte, wirkte das Kunstlicht der Neonröhren auf sie fahl und unnatürlich. Als sie sich am Empfang in die Besucherliste eintrug, bemerkte sie, dass die Haut der Krankenschwester, die ihr das Klemmbrett reichte, unter der grellen Beleuchtung gelblich schimmerte. Vielleicht ist sie ja ein Dämon, dachte Clary und gab ihr die Liste zurück.

»Die letzte Tür am Ende des Ganges«, erklärte die Schwester und schenkte ihr ein freundliches Lächeln.

Oder ich werde allmählich verrückt, überlegte Clary und erwiderte laut: »Ich weiß. Ich war gestern schon hier.« Und vorgestern und vorvorgestern. Die Abenddämmerung hatte bereits eingesetzt und die meisten Besucher waren längst gegangen. Auf dem Flur kamen ihr nur ein alter Mann in Bademantel und Pantoffeln mit einem Sauerstoffgerät und zwei Ärzte in grüner OP-Kleidung entgegen. Sie hielten Plastikbecher in den Händen, aus denen heißer Kaffeedampf aufstieg. Obwohl das Wetter inzwischen umgeschlagen hatte und der Herbst in der Luft lag, lief die Klimaanlage im Krankenhaus noch auf vollen Touren.

Clary erreichte das Zimmer am Ende des Ganges und warf vorsichtig einen Blick durch die weit geöffnete Tür. Sie wollte Luke nicht wecken, falls er im Stuhl neben dem Bett eingenickt war – so wie bei ihren beiden letzten Besuchen. Doch er stand am Fenster und unterhielt sich mit einem groß gewachsenen Mann, der die pergamentfarbene Robe der Stillen Brüder trug und sich im selben Moment umdrehte, als habe er Clarys Kommen gespürt. Es war Bruder Jeremiah.

Clary verschränkte die Arme vor der Brust. »Was ist los?«

Luke wirkte mit seinem Dreitagebart und den müden Augen hinter der hochgeschobenen Brille erschöpft. Unter seinem weiten Holzfällerhemd konnte sie den dicken Verband erkennen, der um seine Brust gewickelt war. »Bruder Jeremiah wollte gerade gehen«, sagte er.

Jeremiah zog die Kapuze über den Kopf und bewegte sich auf die Tür zu, doch Clary versperrte ihm den Weg. »Und? Werden Sie meiner Mutter helfen?«, fragte sie fordernd.

Jeremiah kam auf sie zu; sie konnte die Kälte spüren, die sein Körper verströmte – wie die frostigen Schwaden eines Eisbergs. Du kannst niemand anderen retten, ohne dich zuerst selbst zu retten, verkündete die Stimme in Clarys Kopf.

»Diese Glückskeks-Weisheiten gehen mir allmählich auf die Nerven«, erwiderte Clary. »Was fehlt meiner Mutter? Können die Stillen Brüder ihr nicht helfen, so wie sie Alec geholfen haben?«

Wir haben niemandem geholfen, sagte Jeremiah. Und es ist auch nicht unsere Aufgabe, denjenigen beizustehen, die sich freiwillig vom Rat entfernt haben.

Clary trat einen Schritt beiseite, als Jeremiah an ihr vorbei hinaus auf den Flur schwebte, und beobachtete, wie er sich unauffällig unter die Leute mischte, die ihn gar nicht zu bemerken schienen. Als sie die Augenlider halb schloss, erkannte sie die schimmernde Aura des Zauberglanzes, die ihn umgab. Sie fragte sich, was die anderen wohl sahen: Einen Patienten? Einen Arzt, der in OP-Kleidung über den Flur eilte? Einen trauernden Besucher?

»Bruder Jeremiah hat die Wahrheit gesagt«, erklärte Luke vom Fenster aus. »Er hat Alec nicht geheilt; das war Magnus Bane. Und er weiß auch nicht, was deiner Mutter fehlt.«

»Ich weiß.« Clary wandte sich ihm zu und nickte. Vorsichtig näherte sie sich dem Bett. Es fiel ihr schwer, die kleine bleiche Gestalt darin, die an eine Fülle von Schläuchen und Infusionen angeschlossen war, mit ihrer rothaarigen, temperamentvollen Mutter in Verbindung zu bringen. Natürlich leuchteten ihre auf dem Kissen ausgebreiteten Haare immer noch kupferfarben, aber ihre Haut war so blass, dass Clary sich an Dornröschen in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett erinnert fühlte – deren Brust sich nur deshalb hob und senkte, weil sie von einem Uhrwerk angetrieben wurde.

Vorsichtig nahm sie die dünne Hand ihrer Mutter und hielt sie fest, so wie sie es schon an den Tagen zuvor getan hatte. Sie konnte den Pulsschlag in Jocelyns Handgelenk spüren, ruhig und beständig. Sie möchte aufwachen, dachte Clary. Ich weiß es ganz genau.

»Natürlich möchte sie aufwachen«, sagte Luke und Clary erkannte verblüfft, dass sie ihre Gedanken laut ausgesprochen haben musste. »Sie hat allen Grund, aus dem Koma zu erwachen – sogar noch mehr Gründe, als sie selbst weiß.«

»Du meinst Jace«, erwiderte Clary und legte die Hand ihrer Mutter behutsam auf die Bettdecke zurück.

»Natürlich meine ich Jace«, bestätigte Luke. »Seit siebzehn Jahren hat sie um ihn getrauert. Wenn ich ihr nur mitteilen könnte, dass sie nicht länger um ihn weinen muss …«

»Es heißt, Menschen, die im Koma liegen, können manchmal hören, was andere sagen«, versuchte Clary, ihn zu trösten. Aber die Ärzte hatten auch gesagt, dass es sich nicht um ein gewöhnliches Koma handelte; denn ihr Zustand war weder durch eine Verletzung noch durch Sauerstoffmangel oder plötzliches Herzversagen hervorgerufen worden. Es schien, als wäre Jocelyn nur in einen tiefen Schlaf versunken, aus dem sie nicht geweckt werden konnte.

»Ich weiß.« Luke nickte. »Ich habe die ganze Zeit mit ihr geredet. Fast ununterbrochen.« Er schenkte Clary ein müdes Lächeln. »Ich habe ihr erzählt, wie tapfer du warst. Und dass sie stolz auf dich sein kann – auf ihre Kriegertochter.«

Clary spürte einen dicken, schmerzhaften Kloß in der Kehle. Sie schluckte zwei-, dreimal und sah an Luke vorbei aus dem Fenster, hinter dem sich die nackte Ziegelsteinwand des gegenüberliegenden Gebäudes erhob. Leider keine schöne Aussicht auf Bäume oder den Fluss, dachte Clary. »Ich habe die Einkäufe erledigt, um die du mich gebeten hast«, sagte sie. »Ich hab Erdnussbutter, Milch und Cornflakes und Brot besorgt.« Sie griff in ihre Jeanstasche. »Hier ist das Wechselgeld …«

»Behalt es«, meinte Luke. »Davon kannst du nachher das Taxi bezahlen.«

»Simon bringt mich nach Hause«, erwiderte Clary und warf einen Blick auf die Uhr, die an ihrem Schlüsselbund baumelte. »Wahrscheinlich wartet er unten schon auf mich.«

»Gut. Ich bin froh, dass du etwas Zeit mit ihm verbringst«, sagte Luke erleichtert. »Behalt das Geld trotzdem. Dann kannst du dir heute Abend eine Pizza bestellen.«

Sie öffnete den Mund, um zu protestieren, schloss ihn dann aber wieder. Luke war ein Fels in der Brandung, wie ihre Mutter immer zu sagen pflegte – solide, zuverlässig und vollkommen unerschütterlich. »Komm auch bald nach Hause, ja? Du brauchst etwas Schlaf.«

»Schlaf? Wer braucht schon Schlaf?«, spottete Luke, doch Clary sah die Erschöpfung in seinem Gesicht, als er sich wieder auf dem Stuhl neben dem Bett niederließ. Behutsam strich er Jocelyn eine Haarsträhne aus der Stirn. Clary wandte sich ab; in ihren Augen brannten heiße Tränen.


Als sie das Krankenhaus verließ, wartete Erics Transporter schon vor dem Haupteingang. Über ihr wölbte sich ein hoher Himmel, dessen kobaltblaue Tönung über dem Hudson River in ein dunkles Saphirblau überging. Simon beugte sich vor, um die Beifahrertür zu öffnen, und Clary kletterte auf den Sitz neben ihm. »Danke.«

»Und wohin soll’s jetzt gehen? Nach Hause?«, fragte er, während er den Wagen in den Verkehr steuerte.

Clary seufzte. »Ich weiß nicht einmal, wo mein Zuhause jetzt ist.«

Simon warf ihr einen Seitenblick zu. »Badet da jemand in Selbstmitleid?«, zog er sie auf, doch seine Stimme klang sanft. Als sie nach hinten schaute, konnte sie noch die dunklen Flecken auf der Rückbank erkennen, wo Alec schwer verletzt und blutend auf Isabelles Schoß gelegen hatte.

»Ja. Nein. Ach, ich weiß auch nicht.« Sie seufzte erneut und wickelte sich eine kupferrote Haarsträhne um die Finger. »Alles ist so anders, so verändert. Manchmal wünschte ich, ich könnte die Zeit zurückdrehen und wieder so sein wie früher.«

»Ich nicht«, entgegnete Simon zu ihrer großen Überraschung. »Wo soll ich dich jetzt hinbringen? Sag mir wenigstens, ob nach Süden oder Norden.«

»Zum Institut«, erklärte Clary. »Tut mir leid«, fügte sie hinzu, als er eine wunderbar illegale Hundertachtzig-GradWende machte. Der Bus legte sich so auf die Seite, dass die Reifen quietschten. »Das hätte ich dir gleich sagen sollen.«

»Ach was«, erwiderte Simon. »Du bist noch nicht wieder dort gewesen, oder? Ich meine, nicht mehr, seit …«

»Nein, seitdem nicht mehr«, sagte Clary. »Jace hat mich angerufen und mir mitgeteilt, dass es Alec und Isabelle gut geht. Anscheinend sind ihre Eltern bereits auf dem Weg von Idris hierher, nachdem ihnen endlich mal jemand Bescheid gegeben hat. Sie müssten in ein paar Tagen in New York sein.«

»War es merkwürdig … mit Jace zu sprechen?«, fragte Simon in bewusst neutralem Ton. »Ich meine, seitdem du herausgefunden hast …« Er verstummte.

»Was? Seitdem ich was herausgefunden habe?«, erwiderte Clary scharf. »Dass er ein mordlustiger Transvestit ist, der Katzen sexuell belästigt?«

»Kein Wunder, dass sein Kater alle Menschen hasst.«

»Ach, halt einfach den Mund, Simon«, murmelte Clary verärgert. »Ich weiß, was du meinst. Nein, es war nicht merkwürdig. Außerdem ist zwischen uns ja auch gar nichts gewesen.«

»Gar nichts?«, wiederholte Simon ungläubig.

»Nein, gar nichts«, bestätigte Clary mit fester Stimme und schaute aus dem Fenster, damit er nicht sehen konnte, wie sie errötete. Sie fuhren an einer Reihe von Restaurants vorbei und sie erkannte die helle Leuchtreklame von Taki’s in der Dämmerung.

Der Bus bog genau in dem Moment um die Ecke, als die Sonne hinter dem Rosettenfenster des Instituts unterging und die Straße in ein muschelrosafarbenes Licht tauchte. Simon hielt vor dem Portal an, stellte den Motor ab und spielte mit den Autoschlüsseln. »Willst du, dass ich mit raufkomme?«

Clary zögerte. »Nein. Ich muss das allein erledigen.«

Sie sah den enttäuschten Ausdruck in seinen Augen, der jedoch sofort wieder verschwand. Simon war in den vergangenen beiden Wochen deutlich erwachsener geworden, dachte sie – zum Glück, denn sie wollte ihn nicht hinter sich zurücklassen. Er war ein Teil von ihr, genau wie ihr Zeichentalent, die staubige Luft von Brooklyn, das Lachen ihrer Mutter und ihr eigenes Schattenjägerblut. »Okay«, sagte er. »Soll ich dich nachher abholen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Luke hat mir Geld für ein Taxi gegeben. Hast du Lust, morgen vorbeizukommen?«, fragte sie. »Dann machen wir Popcorn und sehen uns zusammen Trigun auf DVD an. Ich könnte mal ’ne Pause vertragen.«

Simon nickte. »Klingt gut.« Er beugte sich zu ihr hinüber und streifte ihre Wange mit den Lippen. Der Kuss war so zart wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, aber sie spürte, wie sie tief in ihrem Inneren erbebte. Sie sah ihm in die Augen.

»Glaubst du, das war ein Zufall?«, fragte sie.

»Was soll ein Zufall gewesen sein?«

»Dass wir genau an jenem Abend im Pandemonium gelandet sind, an dem Jace und die anderen auch da waren und einen Dämon verfolgt haben? Der Abend, bevor Valentin meine Mutter entführt hat?«

Simon schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht an Zufälle«, sagte er.

»Ich auch nicht.«

»Aber ich muss zugeben, Zufall hin oder her, es hat sich als ein Zusammentreffen glücklicher Umstände entpuppt«, meinte Simon.

»Ein Zusammentreffen glücklicher Umstände … ›The Fortuitous Occurrences‹«, wiederholte Clary. »Das wäre doch mal ein Bandname.«

»Jedenfalls besser als die meisten anderen, die bisher zur Wahl standen«, räumte Simon ein.

»Darauf kannst du wetten.« Sie sprang aus dem Bus, warf die Tür hinter sich zu und lief die grasüberwucherten Steinplatten zum Eingangsportal hinauf. Als er kurz hupte, winkte sie, drehte sich aber nicht mehr um.

Der Eingangsbereich der Kathedrale war kühl und dunkel und es roch nach Regen und feuchtem Papier. Ihre Schritte hallten laut auf dem Steinboden wider und sie musste an Jace denken und an das, was er in der Kirche in Brooklyn zu ihr gesagt hatte: Möglicherweise gibt es einen Gott, Clary, und möglicherweise auch nicht. Aber ich denke nicht, dass das eine Rolle spielt. So oder so sind wir auf uns allein gestellt.

Als sich die Aufzugtür hinter ihr schloss, warf sie einen verstohlenen Blick auf ihr Spiegelbild. Fast alle Verletzungen und Kratzer waren verheilt. Sie fragte sich, ob Jace sie jemals so mustergültig gekleidet gesehen hatte: Für den Krankenhausbesuch hatte sie einen schwarzen Faltenrock und eine Bluse mit Matrosenkragen angezogen und sogar etwas rosa Lipgloss aufgelegt – sie kam sich vor wie eine Achtjährige.

Nicht dass es noch irgendeine Rolle spielte, was Jace von ihrem Aussehen hielt, dachte sie und fragte sich, ob es zwischen ihnen jemals so sein würde wie zwischen Simon und seinen Schwestern: Eine Mischung aus Langeweile und liebevoller Gereiztheit. Sie konnte es sich nicht vorstellen.

Noch bevor die Aufzugstür aufschwang, hörte sie das laute Miauen. »Hi, Church«, sagte sie und beugte sich zu dem blauen Fellknäuel hinab. »Wo sind die anderen?«

Church, der eindeutig gestreichelt werden wollte, schnurrte irgendetwas Unverständliches. Seufzend gab Clary nach. »Verrückter Kater«, murmelte sie und kraulte ihn hinter den Ohren. »Wo …«

»Clary!« Isabelle schwebte in einem langen roten Rock ins Foyer; ihre Haare waren mit glitzernden Nadeln hochgesteckt. »Bin ich froh, dich zu sehen.« Sie stürzte sich auf Clary und umarmte sie so heftig, dass diese fast das Gleichgewicht verlor.

»Isabelle«, keuchte Clary. »Ich freu mich auch.« Sie wartete, bis Isabelle sie wieder freigab.

»Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht«, rief Isabelle mit leuchtenden Augen. »Nachdem ihr beide mit Hodge in die Bibliothek gegangen wart und ich allein bei Alec saß, hörte ich eine unglaubliche Explosion. Als ich nachgesehen habe, wart ihr alle verschwunden, die ganze Bibliothek war ein einziges Chaos und überall sah man Blut und so eine klebrige schwarze Flüssigkeit.« Sie schüttelte sich bei der Erinnerung daran. »Was war das für ein Zeug?«

»Ein Fluch«, erklärte Clary leise. »Hodges Verbannungszauber.«

»Ach ja, richtig«, sagte Isabelle. »Jace hat mir das von Hodge erzählt.«

»Tatsächlich?« Clary war überrascht.

»Ja, dass der Fluch von ihm genommen wurde und er das Institut verlassen hat. Ich hätte nur gedacht, er würde sich noch von uns verabschieden«, fügte Isabelle hinzu. »Ich muss sagen, ich bin ein bisschen enttäuscht, aber vermutlich hatte er Angst vor dem Rat. Irgendwann wird er sich bestimmt wieder bei uns melden.«

Dann hatte Jace ihnen also nicht erzählt, dass Hodge sie alle betrogen hatte, dachte Clary verwirrt. Andererseits: Wenn Jace Isabelle und Alec die Enttäuschung und Bestürzung ersparen wollte, war es vielleicht besser, sie mischte sich nicht ein.

»Jedenfalls war das Ganze furchtbar und ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn nicht plötzlich Magnus hier aufgetaucht wäre und Alec gesund gezaubert hätte«, fuhr Isabelle fort und runzelte die Stirn. »Jace hat uns auch erzählt, was danach auf Roosevelt Island passiert ist. Im Grunde wussten wir es längst, da Magnus die ganze Nacht am Telefon hing. Die gesamte Schattenwelt war in heller Aufregung. Du bist inzwischen eine echte Berühmtheit, wusstest du das?«

»Ich?«

»Klar. Valentins Tochter.«

Clary lief es kalt über den Rücken. »Dann ist Jace vermutlich auch berühmt.«

»Ihr seid beide in aller Munde«, erwiderte Isabelle in dem gleichen, übermäßig gut gelaunten Ton. »Die berühmten Geschwister.«

Clary musterte Isabelle neugierig. »Ehrlich gesagt hätte ich nicht erwartet, dass du dich derart freuen würdest, mich wiederzusehen.«

Entrüstet stemmte Isabelle die Hände in die Hüften. »Wieso nicht?«

»Ich bin nicht davon ausgegangen, dass du mich überhaupt leiden kannst.«

Isabelles Strahlen erlosch und sie schaute auf ihre silbern lackierten Zehennägel. »Ich hätte es auch nicht gedacht«, gestand sie. »Aber als ich nach dir und Jace gesucht habe und ihr weg wart …« Sie verstummte einen Moment. »Da hab ich mir nicht nur Sorgen um ihn gemacht, sondern auch um dich«, fuhr sie schließlich fort. »Du hast so etwas Beruhigendes an dir … Und Jace ist viel umgänglicher, wenn du in der Nähe bist.«

Clary riss erstaunt die Augen auf. »Tatsächlich?«

»Ja. Er ist dann irgendwie weniger scharfzüngig … zwar nicht unbedingt netter, aber man kann die Freundlichkeit erahnen, die unter seiner harten Schale verborgen ist.« Sie zögerte einen Moment. »Natürlich hab ich mich anfangs über dich geärgert, aber dann ist mir klar geworden, wie blöd das war. Nur weil ich noch nie eine Freundin hatte, bedeutet das nicht, dass ich nicht lernen kann, mit einem Mädchen befreundet zu sein.«

»Geht mir auch so«, sagte Clary. »Ach ja, noch was, Isabelle.«

»Ja, was denn?«

»Du musst nicht so übertrieben nett tun. Mir ist es lieber, wenn du dich so gibst, wie du wirklich bist.«

»Wie ein Miststück, meinst du?«, fragte Isabelle und lachte.

Clary wollte gerade protestieren, als Alec auf Krücken ins Foyer gehumpelt kam. Eines seiner Beine war bis zum Knie bandagiert und ein dickes Pflaster klebte auf seiner Schläfe. Doch ansonsten wirkte er erstaunlich gesund für jemanden, der vier Tage zuvor fast gestorben wäre. Er winkte Clary zur Begrüßung mit einer Krücke zu.

»Hi, Alec«, sagte Clary. Sie war überrascht, dass er schon wieder auf den Beinen war. »Geht’s dir …«

»Gut? Ja, alles in Ordnung«, erwiderte Alec. »Noch ein paar Tage, und dann brauche ich die hier auch nicht mehr.«

Ein Anflug von schlechtem Gewissen schnürte Clary die Kehle zu. Wenn sie nichts gesagt hätte, stünde Alec jetzt nicht auf Krücken vor ihr. »Ich bin wirklich froh, dass es dir besser geht, Alec«, sagte sie aufrichtig und von ganzem Herzen.

Alec blinzelte. »Danke.«

»Dann hat Magnus dich also kuriert?«, fragte Clary. »Luke meinte …«

»Ja, das hat er!«, rief Isabelle. »Das war einfach der Wahnsinn. Er ist wie aus dem Nichts hier aufgetaucht, hat alle nach draußen gescheucht und die Tür zum Krankensaal fest verschlossen. Und dann folgte eine Explosion auf die nächste und blaue und rote Funken schossen unter der Tür durch.«

»Ich kann mich an nichts davon erinnern«, meinte Alec.

»Danach hat er die ganze Nacht an Alecs Bett gewacht, um sicherzugehen, dass er wieder gesund wird«, fügte Isabelle hinzu.

»Auch daran kann ich mich nicht erinnern«, ergänzte Alec hastig.

Ein Lächeln umspielte Isabelles rote Lippen. »Ich frage mich, woher Magnus wusste, dass er hier gebraucht wurde? Als ich ihn danach gefragt habe, wollte er mir keine Antwort geben.«

Clary erinnerte sich an das zusammengefaltete Blatt Papier, das Hodge ins Feuer geworfen hatte, nachdem Valentin verschwunden war. Hodge war schon ein seltsamer Mann, dachte sie. Er hatte sich die Zeit genommen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um Alec zu retten, und zugleich alle – und alles – hintergangen, was ihm jemals etwas bedeutet hatte. »Keine Ahnung«, sagte sie.

Isabelle zuckte die Achseln. »Vermutlich hat er es irgendwo gehört. Allem Anschein nach unterhält er eine richtige Gerüchteküche. Er ist ja so ein Mädchen

»Magnus ist der Oberste Hexenmeister von Brooklyn«, erinnerte Alec seine Schwester, musste aber ebenfalls grinsen. »Jace ist oben im Gewächshaus, falls du ihn sprechen möchtest«, wandte er sich an Clary. »Ich bring dich hin.«


»Echt?«

»Klar.« Alec musterte sie nur ein kleines bisschen unsicher.

»Warum nicht?«

Clary warf Isabelle einen Blick zu, die ihrerseits die Achseln zuckte. Welche Pläne Alec auch verfolgen mochte, seine Schwester hatte er jedenfalls nicht eingeweiht. »Geht ruhig«, sagte Isabelle. »Ich muss sowieso noch ein paar Dinge erledigen.« Sie scheuchte sie mit einer Handbewegung fort. »Na los, ab mit euch.«


Gemeinsam gingen sie den Korridor entlang. Selbst auf Krücken war Alec derart schnell, dass Clary fast laufen musste, um mit ihm Schritt zu halten. »Renn doch nicht so. Ich hab kurze Beine«, erinnerte sie ihn.

»’tschuldigung.« Zerknirscht drosselte er sein Tempo. »Hör mal«, setzte er an, »diese Sachen, die du zu mir gesagt hast, als ich dich wegen Jace angebrüllt habe …«

»Ich erinnere mich«, murmelte Clary betreten.

»Als du mir gesagt hast, dass ich… dass ich … nur weil ich …« Alec hatte Schwierigkeiten, einen vollständigen Satz zu bilden. Er stockte und versuchte es erneut. »Als du gesagt hast, ich sei …«

»Alec, nicht.«

»Okay. Vergiss es.« Er presste die Lippen zusammen. »Du möchtest nicht darüber reden.«

»Nein, darum geht es nicht. Ich fühle mich nur so mies wegen der Sachen, die ich gesagt habe. Das war einfach gemein. Und es entsprach nicht einmal der Wahrheit …«

»Doch, es ist wahr«, sagte Alec. »Jedes einzelne Wort.«

»Aber das ist keine Entschuldigung«, erwiderte Clary. »Nicht alles, was wahr ist, muss auch unbedingt laut ausgesprochen werden. Es war einfach gemein von mir. Und mein Seitenhieb, Jace hätte mir anvertraut, du hättest noch nie einen Dämon getötet, war nur die halbe Wahrheit: Er hat sofort hinzugefügt, das läge daran, dass du ihm und Isabelle jedes Mal Rückendeckung geben würdest. Und das hat er als Lob gemeint. Jace kann manchmal ein Idiot sein, aber er …« Liebt dich, wollte sie hinzufügen, hielt sich jedoch zurück, »hat nie ein böses Wort über dich gesagt. Das schwöre ich.«

»Das brauchst du nicht zu schwören«, meinte Alec. »Das weiß ich längst.« Er klang vollkommen ruhig und auf eine Weise seiner selbst sicher, wie sie es noch nie an ihm erlebt hatte. Überrascht schaute sie ihn an. »Und ich weiß auch, dass ich Abbadon nicht getötet habe«, fuhr er fort. »Aber ich bin froh, dass du so getan hast.«

Clary lachte verlegen. »Du bist froh, dass ich dich angelogen habe?«

»Es war freundlich«, erwiderte er. »Und das bedeutet mir eine Menge … dass du nett zu mir warst … obwohl ich mich dir gegenüber so mies verhalten habe.«

»Ich glaube, Jace hätte wegen dieser Lüge bestimmt ziemlich sauer reagiert, wenn er zu dem Zeitpunkt nicht so mitgenommen gewesen wäre«, sagte Clary. »Allerdings nicht annähernd so sauer wie in dem Moment, wenn er erfährt, was ich dir vorher an den Kopf geworfen habe.«

»Ich hab eine Idee«, meinte Alec und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Wir werden es ihm einfach nicht sagen. Jace mag zwar, nur mit einem Korkenzieher und einem Gummiband bewaffnet, einen Du’sien-Dämon aus fünfzehn Meter Entfernung enthaupten können, aber manchmal habe ich das Gefühl, er versteht nicht viel von Menschen.«

»Ich schätze, da hast du recht.« Clary grinste.

Sie hatten den Fuß der Wendeltreppe erreicht, die zum Dach führte. »Dort kann ich nicht mit hinaufkommen.« Alec klopfte mit der Krücke gegen eine der Eisenstufen.

»Ist schon okay. Ich finde alleine hinauf.«

Er wandte sich zum Gehen, warf ihr aber über die Schulter noch einen Blick zu. »Ich hätte daraufkommen müssen, dass du Jace’ Schwester bist«, sagte er nachdenklich. »Ihr habt die gleiche künstlerische Begabung.«

Mit einem Fuß auf der untersten Stufe blieb Clay abrupt stehen und starrte ihn verblüfft an. »Jace kann zeichnen?«

»Nicht die Bohne.« Als Alec lächelte, leuchteten seine Augen auf wie blaue Lichter und Clary erkannte, was Magnus so anziehend an ihm fand. »Das war nur ein Witz. Er kriegt keine gerade Linie hin.« Dann grinste er und humpelte auf seinen Krücken davon.

Clary schaute ihm nachdenklich hinterher. Sie würde sich an einen Alec, der Witze riss und sich über Jace lustig machte, durchaus gewöhnen können, auch wenn seine Art von Humor nicht immer die ihre war.

Das Gewächshaus sah noch genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte; nur der Himmel über dem Glasdach schimmerte dieses Mal saphirblau. Der reine, frische Duft der Blüten sorgte dafür, dass sie einen klaren Kopf bekam. Sie holte tief Luft und bahnte sich ihren Weg durch das dichte Blatt- und Astwerk.

Jace saß auf der Marmorbank in der Mitte des Gewächshauses. Er hatte den Kopf gesenkt und drehte einen Gegenstand in den Händen. Als sie unter einem Ast hindurchtauchte, schaute er auf und schloss die Finger rasch darum. »Clary.« Er klang überrascht. »Was machst du denn hier?«

»Ich wollte dich sehen«, sagte sie. »Ich wollte wissen, wie’s dir geht.«

»Mir geht’s gut.« Er trug eine Jeans und ein weißes T-Shirt und seine Verletzungen waren kaum noch zu sehen. Natürlich, dachte Clary – die wahren Verletzungen lagen tief in seinem Inneren, verborgen vor den Blicken aller Außenstehenden.

»Was ist das?«, fragte sie und zeigte auf seine zusammengeballte Faust.

Langsam öffnete er die Hand und ein scharfkantiges Stück Silber kam zum Vorschein, das an den Rändern blau und grün schimmerte. »Eine Scherbe des Portals.«

Clary setzte sich neben ihn auf die Bank. »Kannst du irgendwas darin erkennen?«

Er drehte das Bruchstück, ließ das Licht wie Wasser darüberströmen. »Teile des Himmels. Bäume, einen Weg … Ich versuche schon die ganze Zeit, die Scherbe so anzuwinkeln, dass ich unser Haus sehen kann … meinen Vater.«

»Valentin«, verbesserte sie ihn. »Warum willst du ihn sehen?«

»Ich dachte, ich könnte vielleicht erkennen, was er mit dem Kelch der Engel anstellt«, erklärte er zögernd. »Wo er sich befindet.«

»Jace, das ist nicht mehr unsere Aufgabe. Nicht unser Problem. Jetzt, wo der Rat endlich weiß, was passiert ist, und die Lightwoods schon auf dem Weg hierher sind, sollen sie sich darum kümmern.«

In diesem Moment sah er ihr gerade ins Gesicht und Clary fragte sich, wie es sein konnte, dass sie einander so wenig ähnelten, obwohl sie angeblich Bruder und Schwester waren. Hätte sie nicht wenigstens seine langen dunklen Wimpern haben können oder seine hohen Wangenknochen? Irgendwie war das nicht fair.

»Als ich durch das Portal schaute und Idris sah, wusste ich genau, was Valentin vorhatte … dass er versuchte, meinen Willen zu brechen. Aber es war mir egal – ich sehnte mich trotzdem mehr danach, nach Hause zurückzukehren, als ich es mir je hätte vorstellen können.«

Clary schüttelte den Kopf. »Ich versteh nicht, was an Idris so toll sein soll. Es ist doch nur ein Ort. Aber die Art und Weise, wie du und Hodge davon redet …« Sie verstummte.

Erneut schloss er die Hand um die Spiegelscherbe. »In Idris war ich glücklich. Es ist der einzige Ort, an dem ich jemals richtig glücklich gewesen bin.«

Clary pflückte einen Zweig von einem Strauch neben ihr und begann, die Blätter einzeln abzuzupfen. »Hodge hat dir leidgetan, richtig? Deswegen hast du Alec und Isabelle auch nicht erzählt, was er getan hat.«

Jace zuckte die Achseln.

»Irgendwann werden sie es herausfinden«, meinte Clary leise.

»Ich weiß. Aber dann bin ich wenigstens nicht derjenige, der es ihnen gesagt hat.«

»Jace …« Die Oberfläche des Teichs war übersät mit grünen Blättern. »Wie kannst du dort glücklich gewesen sein? Ich weiß, was du geglaubt hast, aber Valentin war ein schrecklicher Vater. Er hat deinen Lieblingsfalken getötet, dich belogen … und ich weiß, dass er dich geschlagen hat. Versuch gar nicht erst, es zu leugnen.«

Ein kleines Lächeln huschte über Jace’ Gesicht. »Nur jeden zweiten Donnerstag.«

»Also wie konntest du dann glücklich sein?«

»Idris war der einzige Ort, an dem ich wusste, wer ich war, wo ich hingehörte. Das mag blöd klingen, aber …« Er zuckte die Achseln. »Ich töte Dämonen, weil es das ist, was ich gut kann, und weil man mich darin unterrichtet hat. Aber das bin nicht ich. Und ich war als Dämonentöter auch nur deshalb so gut, weil ich nach dem Tod meines Vaters nichts mehr zu verlieren hatte. Es gab keine Konsequenzen mehr zu bedenken. Niemanden, der um mich trauern würde. Niemanden, der in meinem Leben eine Rolle spielte.« Sein Gesicht wirkte wie versteinert. »Doch das hat sich jetzt geändert«, fügte er hinzu.

Der Blattstängel war nun vollkommen kahl und Clary warf ihn beiseite. »Wieso?«

»Deinetwegen«, erwiderte er. »Wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich mit meinem Vater durch das Portal gegangen. Wenn es dich nicht gäbe, würde ich ihm sogar jetzt noch folgen.«

Clary starrte auf den mit Blättern bedeckten Teich. Ihre Kehle brannte. »Ich dachte, ich würde dich verwirren.«

»Es ist schon so lange her, dass ich eine Familie hatte. Ich glaube, es war die Vorstellung, zu jemandem zu gehören, die mich so durcheinandergebracht hat«, meinte er schlicht. »Du hast mir das Gefühl gegeben, zu dir zu gehören.«

»Ich möchte, dass du mit mir kommst«, sagte Clary abrupt.

Er warf ihr einen Seitenblick zu und die Art und Weise, wie seine flachsblonden Haare ihm dabei in die Augen fielen, erfüllte sie mit einer unerträglichen Traurigkeit. »Wohin?«, fragte er.

»Ich hatte gehofft, du würdest mit mir ins Krankenhaus fahren.«

»Ich wusste es.« Er kniff die Augen zu engen Schlitzen zusammen. »Clary, diese Frau …«

»Sie ist auch deine Mutter, Jace.«

»Ja, ich weiß.« Er nickte. »Aber für mich ist sie eine vollkommen Fremde. Ich habe bisher immer nur einen Elternteil gehabt, meinen Vater, und der ist verschwunden. Auf eine Art, die schlimmer ist, als wenn er tot wäre.«

»Ich weiß. Und ich weiß, dass es keinen Zweck hat, dir zu erzählen, wie toll meine Mom ist … was für eine fantastische, großartige, wundervolle Frau sie ist und dass du dich glücklich schätzen könntest, sie zu kennen. Ich bitte dich auch nicht um deinetwillen, mich zu begleiten, sondern um meinetwillen. Ich glaube, wenn sie deine Stimme hört …«

»Was dann?«

»Dann wacht sie vielleicht aus dem Koma auf.« Sie sah ihn ruhig an.

Er hielt ihrem Blick stand und schließlich breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus – ein schiefes und leicht verschmitztes, aber aufrichtiges Lächeln. »Okay. Ich komm mit.« Er stand auf. »Du brauchst mir nicht aufzuzählen, welche positiven Eigenschaften deine Mutter hat«, fügte er hinzu. »Das weiß ich längst.«

»Ach ja?«

Jace zuckte leicht die Achseln. »Schließlich hat sie dich großgezogen, oder?« Er schaute zum Glasdach hinauf. »Die Sonne ist schon fast untergegangen.«

Clary erhob sich ebenfalls. »Wir brechen am besten sofort auf. Ich ruf uns ein Taxi«, fügte sie hinzu. »Luke hat mir Geld gegeben.«

»Nicht nötig«, erwiderte Jace mit einem breiten Grinsen. »Komm. Ich muss dir was zeigen.«


»Aber … wo hast du das denn her?«, fragte Clary und musterte das Motorrad, das am Rand des Dachs stand. Die Maschine leuchtete in einem glänzenden Giftgrün und besaß silberfarbene Felgen und züngelnde Flammen auf dem Tank.

»Magnus hat sich beschwert, nach der letzten Party habe irgendjemand eine Harley vor seinem Haus stehen gelassen«, erklärte Jace. »Ich konnte ihn davon überzeugen, sie mir zu geben.«

»Und du hast die Maschine hierher geflogen?« Clary starrte ihn an.

»Ja. Ich mausere mich zu einem verdammt guten Fahrer.« Er schwang ein Bein über die Sitzbank und bedeutete Clary, sich hinter ihn zu setzen. »Komm, ich werd’s dir zeigen.«

»Zumindest weißt du dieses Mal, wie das Ding funktioniert«, erwiderte sie und kletterte hinter ihn. »Aber wenn wir wieder auf einem Supermarktparkplatz notlanden, bring ich dich um.«

»Mach dich nicht lächerlich«, entgegnete Jace. »An der Upper East Side gibt’s keine Supermärkte.« Die Harley startete mit einem lauten Röhren, das sein Lachen übertönte. Erschrocken klammerte Clary sich an seinen Gürtel, als das Motorrad über das schräge Dach des Instituts schoss und sich in die Lüfte erhob.

Der Wind zerrte an Clarys Haaren, während sie höher und höher stiegen, über die Kathedrale und die Dächer der umliegenden Hochhäuser hinaus. Und dann sah sie es: Unter ihr lag die Stadt, wie eine achtlos geöffnete Schmuckschatulle, farbenprächtiger und aufregender, als sie jemals gedacht hätte – das smaragdgrüne Quadrat des Central Park, wo der Rat der Elben während der Mittsommernächte zusammentraf; die Lichter der Clubs und Bars, in denen die Vampire die Nacht durchtanzten; die Gassen von Chinatown, durch die die Werwölfe bei Nacht schlichen, zu erkennen nur an den Lichtreflexen der Straßenlaternen auf ihrem dichten Fell; die Hexenmeister mit ihren prachtvollen Fledermausflügeln und den geheimnisvollen Katzenaugen. Und als sie über den Fluss flogen, sah Clary mehrere silberschuppige Schwänze unter der Wasseroberfläche aufblitzen, gefolgt von schimmernden langen Haaren, und hörte das hohe, perlende Lachen der Meerjungfrauen.

Jace schaute sich über die Schulter zu ihr um; der Wind wirbelte seine Haare durcheinander. »Woran denkst du?«, rief er.

»Nur daran, wie sehr sich da unten alles verändert hat, jetzt, wo ich mein Zweites Gesicht zurückhabe und wieder sehen kann.«

»Dort unten ist alles noch genau wie zuvor«, erwiderte er und steuerte die Maschine auf den East River zu. Vor ihnen lag die Brooklyn Bridge. »Du bist diejenige, die sich verändert hat.«

Unwillkürlich klammerten sich ihre Hände fester um seinen Gürtel, als er das Motorrad immer tiefer auf die Wasseroberfläche zulenkte. »Jace!«

»Keine Sorge.« Er klang amüsiert. »Ich weiß, was ich tue. Ich werde uns schon nicht ertränken.«

Clary kniff die Augen gegen den starken Fahrtwind zusammen. »Willst du testen, was Alec über die Vampirmotorräder gesagt hat? Dass einige auch unter Wasser fahren können?«

»Nein.« Sorgfältig richtete er die Maschine wieder auf und sie entfernten sich von der Wasseroberfläche. »Ich denke, das ist nur ein Mythos.«

»Aber Jace«, rief Clary, »alle Mythen sind wahr.«

Sie konnte ihn zwar nicht lachen hören, doch sie spürte, wie sein Brustkorb unter ihren Fingern bebte. Als er die Harley in den Himmel riss, klammerte sie sich noch fester an ihn und dann schossen sie über die Brücke wie ein Vogel, der aus seinem Käfig befreit wurde. Ihr Magen machte einen Satz, als die Pfeiler der Brücke unter den Motorradreifen verschwanden und der silbrig glänzende Fluss tief unter ihnen dahinströmte. Doch dieses Mal ließ Clary die Augen weit geöffnet, damit sie alles sehen konnte.

Загрузка...