III Der Abstieg lockt

Der Abstieg lockt, wie der Aufstieg lockte.

WILLIAM CARLOS WILLIAMS, The Descent

21 Die Geschichte des Werwolfs

Tatsächlich kenne ich deine Mutter bereits seit unserer Kindheit. Wir sind zusammen in Idris aufgewachsen. Es ist ein wundervolles Land und ich habe immer bedauert, dass du nie dort gewesen bist. Es würde dir bestimmt gefallen – die dunklen, glänzenden Tannen im Winter, die schwere Erde und die kalten, kristallklaren Flüsse. Neben ein paar kleineren Orten gibt es eine große Stadt, Alicante, in der der Rat zusammentritt. Man nennt sie auch die Gläserne Stadt, weil ihre Türme aus derselben, dämonenabstoßenden Substanz erschaffen wurden, aus der auch unsere Stelen bestehen und die im Sonnenlicht schimmert wie Glas.

Als Jocelyn und ich alt genug waren, wurden wir nach Alicante zur Schule geschickt. Dort bin ich auch zum ersten Mal Valentin begegnet. Er war ein Jahr älter als ich und der beliebteste Schüler der ganzen Schule. Valentin sah gut aus, er war schlau, reich, entschlossen, ein großartiger Kämpfer. Ich war ein Nichts – weder reich noch besonders intelligent, aus einer der armen Familien vom Land. Beim Lernen kam ich kaum mit. Jocelyn war eine geborene Schattenjägerin; ich dagegen tat mich schwer. Ich ertrug nicht einmal die kleinsten Male und brachte selbst die simpelsten Techniken durcheinander. Manchmal war ich nahe dran, einfach wegzulaufen und in Schimpf und Schande nach Hause zurückzukehren. Ich habe sogar darüber nachgedacht, ein Irdischer zu werden – so unglücklich war ich.

Valentin hat mich gerettet. Eines Tages besuchte er mich auf meinem Zimmer – bis dahin hatte ich gedacht, er würde noch nicht mal meinen Namen kennen – und bot mir an, mir zu helfen. Er sagte, er wisse, wie schwer mir das Ganze fiele, doch er sähe in mir die Anlagen für einen großartigen Schattenjäger. Unter seiner Obhut verbesserte ich mich tatsächlich – ich bestand meine Prüfungen, trug meine ersten Male, tötete meinen ersten Dämon.

Ich betete ihn an. Ich glaubte wirklich, die Sonne drehte sich nur dank Valentin Morgenstern um die Erde. Natürlich war ich nicht der einzige Außenseiter, dessen er sich annahm. Da gab es andere wie Hodge Starkweather, der mit Büchern besser zurechtkam als mit Menschen, Maryse Trueblood, deren Bruder eine Irdische geheiratet hatte, oder Robert Lightwood, der sich mehr vor den Malen fürchtete als vor allem anderen – und Valentin kümmerte sich um uns alle. Damals hielt ich es für Freundschaft; heute bin ich mir dessen nicht mehr so sicher. Inzwischen glaube ich, er schuf sich in dieser Zeit seine Anhängerschaft.

Valentin war besessen von dem Gedanken, dass mit jeder Generation weniger und weniger Schattenjäger zur Welt kamen und dass wir eine vom Aussterben bedrohte Rasse seien. Er glaubte fest daran, man könne mehr Schattenjäger erschaffen, wenn der Rat nur etwas großzügiger mit dem Engelskelch umgehen würde. Für die Lehrer war diese Vorstellung ein Sakrileg: Es ist nicht jedem gegeben zu entscheiden, wer ein Schattenjäger werden kann und wer nicht. Darauf fragte Valentin dann immer spöttisch, warum man nicht einfach alle Menschen zu Schattenjägern machte. Warum schenkten wir ihnen nicht allen die Fähigkeit, die Verborgene Welt zu sehen? Warum behielten wir diese Macht selbstsüchtig für uns?

Wenn die Lehrer antworteten, dass die meisten Menschen diese Verwandlung nicht überleben würden, behauptete Valentin, die Lehrer würden lügen und versuchten, die Kräfte der Nephilim für eine kleine Elite zu bewahren. So argumentierte er damals – heute glaube ich, dass seiner Ansicht nach der Zweck wahrscheinlich jedes Mittel und sämtliche zu erwartenden Schäden heiligt. Na, jedenfalls überzeugte er unsere kleine Gruppe von der Richtigkeit seiner Ansichten und wir gründeten den Kreis, mit dem erklärten Ziel, die Rasse der Schattenjäger vor dem Aussterben zu bewahren. Natürlich waren wir als Siebzehnjährige nicht ganz sicher, wie wir das schaffen sollten, aber das hinderte uns nicht, fest daran zu glauben, dass wir eines Tages etwas Bedeutendes erreichen würden.

Dann kam die Nacht, in der Valentins Vater bei einer Routineaktion gegen ein Werwolflager getötet wurde. Als Valentin nach der Beerdigung in die Schule zurückkehrte, trug er die roten Male der Trauer. Doch das war nicht die einzige Veränderung: Ab jetzt neigte er immer häufiger zu Wutausbrüchen, die teilweise grausame Züge trugen. Ich machte seine Trauer für dieses an ihm neuartige Verhalten verantwortlich und versuchte mehr denn je, ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Nicht ein einziges Mal reagierte ich auf seinen Zorn meinerseits mit Zorn – stattdessen fühlte ich mich schuldig, weil ich ihn enttäuscht hatte.

Die Einzige, die seine Wutausbrüche lindern konnte, war deine Mutter. Sie hatte nie so richtig zu unserer Gruppe gehört und uns manchmal spöttisch als Valentins Fanclub bezeichnet. Das änderte sich nach dem Tod seines Vaters: Valentins Schmerz weckte ihr Mitgefühl und sie verliebten sich ineinander.

Auch ich liebte Valentin: Er war mein bester Freund und ich freute mich, dass Jocelyn nun mit ihm zusammen war. Nachdem wir die Schule beendet hatten, heirateten die beiden und lebten danach auf dem Landsitz von Jocelyns Familie. Ich kehrte ebenfalls nach Hause zurück, aber der Kreis blieb bestehen. Was ursprünglich einmal als eine Art Schülerstreich begonnen hatte, nahm an Umfang und Macht immer mehr zu und Valentins Bedeutung wuchs in gleichem Maße. Auch seine Ideale hatten sich verändert: Der Kreis beanspruchte immer noch den Kelch der Engel für sich, aber nach dem Tod seines Vaters hatte Valentin sich außerdem zu einem offenen Befürworter eines Krieges gegen alle Schattenwesen entwickelt – und nicht nur gegen jene, die das Abkommen missachtet hatten. Diese Welt sollte ausschließlich den Menschen vorbehalten sein, argumentierte er, Halbdämonen hätten keinen Platz darin. Denn schließlich könnte man einem Dämon nie wirklich vertrauen.

Mir gefiel die Richtung nicht, in die der Kreis steuerte, aber ich blieb loyal – teils, weil ich es immer noch nicht über mich brachte, Valentin zu enttäuschen, teils, weil Jocelyn mich darum gebeten hatte. Sie hoffte, ich würde einen mäßigenden Einfluss auf den Kreis ausüben können, doch das erwies sich als Trugschluss. Niemand von uns war in der Lage, Valentin zu mäßigen, und Robert und Maryse Lightwood – inzwischen miteinander verheiratet – unterstützten ihn und gingen dabei fast ebenso rücksichtslos vor wie er. Michael Wayland hatte seine Zweifel, so wie ich, doch trotz unserer Bedenken machten wir weiter mit. Unermüdlich jagte unsere Gruppe Schattenwesen – und bekämpfte dabei selbst jene, die sich nur geringe Verstöße gegen das Abkommen hatten zuschulden kommen lassen. Valentin tötete zwar nur Kreaturen, die das Abkommen missachtet hatten, aber auch gegen alle anderen ging er grausam vor. Ich habe gesehen, wie er einem Werwolfmädchen Silbermünzen an den Augenlidern befestigte, bis sie erblindete, nur weil er wissen wollte, wo der Bruder der Kleinen war. Ich habe gesehen, wie … aber das musst du dir nicht anhören. Nein. Entschuldige.

Irgendwann war Jocelyn schwanger. Am selben Tag, an dem sie mir davon erzählte, gestand sie mir auch, dass sie inzwischen Angst vor ihrem Ehemann hatte. Sein Verhalten war immer seltsamer, unberechenbarer geworden. Manchmal verschwand er ganze Nächte in den Kellern ihres Landguts und dann hörte sie gelegentlich Schreie, selbst durch die dicken Mauern hindurch …

Ich konfrontierte ihn damit. Er lachte mich aus, tat ihre Ängste als die Gefühlsschwankungen einer Frau ab, die ihr erstes Kind erwartet. Und dann lud er mich ein, am selben Abend mit ihm auf die Jagd zu gehen. Wir versuchten damals schon seit einiger Zeit, das Lager jener Werwölfe auszuräuchern, die Jahre zuvor seinen Vater getötet hatten. Valentin und ich waren Parabatai, ein perfektes Jägerpaar, Krieger, die füreinander starben. Also glaubte ich Valentin, als er mir an diesem Abend versprach, er würde mir den Rücken decken. Ich sah den Wolf erst, als er über mir war. Ich weiß nur noch, wie seine Zähne sich in meine Schulter gruben – der Rest der Nacht ist aus meiner Erinnerung gelöscht. Als ich erwachte, lag ich in Valentins Haus, die Schulter bandagiert, und Jocelyn war bei mir.

Nicht alle Werwolfbisse führen dazu, dass man sich in einen Wolf verwandelt. Meine Wunde heilte und ich verbrachte die nächsten Wochen in quälender Angst, in Erwartung des Vollmonds. Wenn der Rat davon erfahren hätte, hätte man mich in eine Beobachtungszelle gesperrt. Aber Valentin und Jocelyn hielten dicht. Drei Wochen später stand der Vollmond groß und leuchtend am Himmel und ich begann, mich zu verändern. Die erste Veränderung ist immer die schwerste. Ich erinnere mich an völlige Verwirrung, Todesqualen, tiefe Dunkelheit. Stunden später kam ich wieder zu mir, auf einer Wiese, Kilometer von der Stadt entfernt. Ich war von Kopf bis Fuß mit Blut bespritzt und um mich herum lagen die zerrissenen Kadaver kleiner Waldtiere.

Ich stolperte zurück zum Landgut, wo mich die beiden an der Tür erwarteten. Jocelyn fiel mir weinend um den Hals, aber Valentin zog sie weg. Ich stand nur da, blutig und am ganzen Körper zitternd, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, immer noch den Geschmack von rohem Fleisch im Mund. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte, aber ich schätze, ich hätte es wissen müssen.

Valentin zerrte mich die Treppe hinunter in den Wald. Er sagte mir, dass er mich eigentlich töten müsste, es aber nicht über sich brächte. Stattdessen holte er einen Dolch hervor, der einst seinem Vater gehört hatte – er war aus Silber und verbrannte meine Haut, als ich ihn berührte. Er meinte, ich sollte das einzig Ehrenhafte tun und meinem Leben selbst ein Ende setzen. Dann küsste er den Dolch, gab ihn mir, ging zurück ins Haus und verbarrikadierte die Tür.

Ich lief durch die Nacht, teils als Mensch, teils als Werwolf, bis ich die Grenze überquerte. Ich platzte mitten hinein in das Werwolflager, zog meinen Dolch und forderte denjenigen, der mich gebissen und in einen der ihren verwandelt hatte, zum Kampf. Lachend zeigte das ganze Rudel auf den Anführer. Klauen und Zähne immer noch blutig von der Jagd, erhob er sich und kam auf mich zu.

Ich habe den Kampf Mann gegen Mann nie gemocht. Die Armbrust war meine Waffe; ich besaß ein hervorragendes Auge und eine ruhige Hand. Aber im Zweikampf war ich nie sehr gut gewesen – so etwas hatte Valentin immer mehr gelegen als mir. Doch dieses Mal wollte ich nur sterben und dabei die Kreatur mit in den Tod nehmen, die mir das angetan hatte. Wahrscheinlich habe ich gedacht, wenn ich mich rächen und zugleich die Wölfe töten könnte, die Valentins Vater auf dem Gewissen hatten, würde er um mich trauern. Während wir miteinander rangen, teilweise in menschlicher, teilweise in Wolfsgestalt, sah ich, wie sehr meine wilde Entschlossenheit meinen Gegner überraschte. Als der Morgen dämmerte, wurde er langsam müde, doch meine Wut kannte keine Grenzen. Bei Sonnenaufgang jagte ich ihm meinen Dolch in den Hals und er starb und tränkte mich mit seinem Blut.

Eigentlich hatte ich erwartet, dass sich nun das ganze Rudel auf mich stürzen und mich in Stücke reißen würde. Stattdessen knieten sie vor mir nieder und boten mir unterwürfig ihre Kehlen dar. Bei den Wölfen gibt es ein ehernes Gesetz: Wer auch immer den Anführer tötet, nimmt dessen Platz ein. Ich war in das Lager der Wölfe eingedrungen, doch statt Rache und Tod fand ich dort ein neues Leben.

Ich ließ mein altes Selbst hinter mir und vergaß beinahe, wie es war, ein Schattenjäger zu sein. Nur Jocelyn konnte ich nicht vergessen; der Gedanke an sie war mein ständiger Begleiter. Ich hatte Angst um sie, weil sie mit Valentin zusammenleben musste, aber ich wusste, wenn ich auf das Landgut zurückkehrte, würde der Kreis mich jagen und töten.

Und dann kam sie eines Tages zu mir. Ich schlief in unserem Lager, als mein Erster Offizier mich weckte und mir mitteilte, dass draußen eine junge Schattenjägerin sei, die mich sehen wollte. Ich wusste sofort, um wen es sich handelte. Als ich in aller Hektik aufstand, um sie zu empfangen, sah ich das Missfallen in den Augen meines Untergebenen. Natürlich wusste das ganze Lager, dass ich einst ein Schattenjäger gewesen war, doch das wurde als dunkles Geheimnis behandelt, von dem niemand offen sprach. Valentin hätte sich köstlich amüsiert.

Jocelyn wartete außerhalb des Lagers auf mich. Sie war nicht mehr schwanger und wirkte blass und abgespannt. Sie erzählte mir, dass sie einen Jungen zur Welt gebracht hatte, Jonathan Christopher. Als sie mich sah, begann sie zu weinen. Und sie war wütend auf mich, weil ich sie nicht hatte wissen lassen, dass ich noch lebte. Valentin hatte dem Kreis erzählt, ich hätte mich umgebracht, doch sie hatte ihm nicht geglaubt – sie wusste, dass ich so etwas nie tun würde. Ich hielt ihr Vertrauen in mich für ungerechtfertigt, war aber so erleichtert, sie wiederzusehen, dass ich ihr nicht widersprach.

Ich fragte sie, wie sie mich gefunden hatte, und sie erzählte mir, dass in Alicante Gerüchte von einem Werwolf die Runde machten, der einst ein Schattenjäger gewesen sei. Auch Valentin hatte von diesen Gerüchten gehört; daher sei sie zu mir gekommen, um mich zu warnen. Kurze Zeit später tauchte er tatsächlich vor unserem Lager auf, doch ich verbarg mich vor ihm, wie nur Werwölfe es können, und er zog wieder ab, ohne dass es zum Blutvergießen gekommen wäre.

Danach begann ich, mich regelmäßig heimlich mit Jocelyn zu treffen. Es war das Jahr des Abkommens und in der ganzen Schattenwelt machten die wildesten Gerüchte die Runde – so hieß es unter anderem, Valentin werde möglicherweise versuchen, den Abschluss des Abkommens zu verhindern. Ich hörte, dass er sich im Rat leidenschaftlich gegen das Abkommen ausgesprochen hatte, jedoch ohne Erfolg. Also schmiedete der Kreis in aller Stille einen neuen Plan: Sie verbündeten sich mit den Dämonen, den größten Feinden der Schattenjäger, um so an Waffen zu kommen, die unentdeckt in die Große Halle des Erzengels geschmuggelt werden konnten, wo das Abkommen unterzeichnet werden sollte. Und mit der Hilfe eines Dämons stahl Valentin den Kelch der Engel und ließ an seiner Stelle eine Nachbildung zurück. Es sollte Monate dauern, bis der Rat bemerkte, dass der Engelskelch gestohlen worden war, und da war es längst zu spät.

Jocelyn versuchte herauszufinden, was Valentin mit dem Kelch vorhatte, doch es gelang ihr nicht. Aber sie wusste, dass der Kreis plante, die unbewaffneten Schattenwesen in der Großen Halle zu überfallen und zu töten. Nach einem solchen Massenmord wäre das Abkommen ein für alle Mal zum Scheitern verurteilt gewesen.

In diesen unruhigen Zeiten waren wir seltsamerweise sehr glücklich. Jocelyn und ich sandten geheime Botschaften an die Elben, die Hexenmeister und selbst an die Erzfeinde der Werwölfe, die Vampire, in denen wir sie vor Valentins Plänen warnten und aufforderten, sich auf einen Kampf vorzubereiten. Wir arbeiteten zusammen – Werwölfe und Nephilim.

Am Tage des Abkommens beobachtete ich aus einem Versteck, wie Jocelyn und Valentin das Herrenhaus verließen. Ich erinnere mich, wie sie sich niederbeugte und das flachsblonde Haar ihres Sohnes küsste. Ich erinnere mich, wie die Sonne auf ihr Haar schien; ich erinnere mich an ihr Lächeln.

Sie fuhren mit der Kutsche nach Alicante hinein; ich folgte ihnen auf vier Pfoten und mein Rudel begleitete mich. Die Große Halle des Erzengels war bis zum Bersten gefüllt mit den versammelten Mitgliedern des Rats und großen Abordnungen aus allen Teilen der Schattenwelt. Als das Abkommen unterzeichnet werden sollte, sprang Valentin auf und die Mitglieder des Kreises erhoben sich mit ihm und zogen ihre Waffen aus den Gewändern. Als daraufhin in der Großen Halle Panik ausbrach, lief Jocelyn zu der gewaltigen, doppelflügligen Eingangstür und riss sie auf.

Mein Rudel lauerte direkt vor dem Portal. Wir stürmten in die Halle, zerrissen die Nacht mit unserem Geheul und wurden gefolgt von Elbenrittern mit Waffen aus Glas und gewundenen Dornen. Nach ihnen kamen die Kinder der Nacht, die Fänge kampfbereit, und die Hexenmeister mit Flammen und Schwertern. Während die Massen in Panik aus der Großen Halle flohen, stürzten wir uns auf die Mitglieder des Kreises.

Nie zuvor hatte die Halle des Erzengels ein solches Blutbad erlebt. Wir versuchten, jene Schattenjäger zu schonen, die nicht zum Kreis gehörten – Jocelyn hatte sie mithilfe eines Hexenmeister-Spruchs markiert. Doch viele von ihnen kamen dennoch ums Leben und ich fürchte, dass mein Rudel für einige der Morde verantwortlich war. Mit Sicherheit hat man uns im Nachhinein alle toten Schattenjäger angelastet. Was den Kreis betraf, so waren seine Mitglieder viel zahlreicher, als wir erwartet hatten, und sie attackierten die Schattenwesen mit größter Erbitterung. Ich kämpfte mich durch das Gemetzel bis zu Valentin vor. Mein einziges Streben galt ihm – ich wollte derjenige sein, der ihn tötete, ich wollte, dass mir diese Ehre zuteil wurde. Ich entdeckte ihn schließlich bei der großen Statue des Erzengels, wo er einen Elbenritter mit einem einzigen, blitzschnellen Stoß seines bluttriefenden Dolches niederstreckte. Als er mich sah, lächelte er grausam und entschlossen. »Ein Werwolf, der mit Schwert und Dolch kämpft«, sagte er, »ist so unnatürlich wie ein Hund, der mit Messer und Gabel isst.«

»Du kennst dieses Schwert, du kennst diesen Dolch«, erwiderte ich. »Und du weißt, wer ich bin. Wenn du mit mir reden willst, nenn mich beim Namen.«

»Ich kenne keine Halbmenschen mit Namen«, höhnte Valentin. »Einst hatte ich einen Freund, einen ehrbaren Mann, der lieber gestorben wäre, als sein Blut verunreinigen zu lassen. Jetzt steht ein namenloses Monster vor mir, das sein Gesicht trägt.« Er hob seine Klinge. »Ich hätte dich schon damals töten sollen!«, brüllte er und stürzte sich auf mich.

Ich wehrte seinen Stoß ab und wir kämpften miteinander auf dem Rednerpodium, während die Schlacht um uns tobte und ein Mitglied des Kreises nach dem anderen sein Leben aushauchte. Ich sah, wie die Lightwoods ihre Waffen fallen ließen und flohen – Hodge war schon längst verschwunden, er hatte sich gleich am Anfang der Schlacht aus dem Staub gemacht. Und dann stürzte Jocelyn die Stufen hinauf auf mich zu, das Gesicht verzerrt vor Angst. »Valentin, hör auf!«, rief sie. »Das ist Luke, dein Freund, dein Bruder …«

Mit einem verächtlichen Schnauben packte Valentin sie, zog sie an sich und presste ihr seinen Dolch an die Kehle. Ich ließ mein Schwert sinken, denn ich wollte nicht, dass er sie verletzte. Dann sah er es in meinen Augen. »Du hast sie immer schon gewollt«, zischte er. »Und jetzt habt ihr beiden euch gegen mich verschworen. Das werdet ihr noch bereuen, und zwar für den Rest eures Lebens.«

Mit diesen Worten riss er Jocelyn das Medaillon vom Hals und schleuderte es mir entgegen. Die Silberkette traf meine Haut wie eine Peitsche. Ich brüllte vor Schmerz und stolperte rückwärts und im selben Moment verschwand er im Handgemenge, Jocelyn mit sich ziehend. Ich folgte ihm, verbrannt und blutend, doch er war zu schnell für mich, bahnte sich mit schweren Hieben einen Weg durch die Kämpfenden und die Toten.

Ich stolperte hinaus ins Mondlicht. Die Große Halle brannte und das Feuer hatte die Nacht zum Tag gemacht. Ich rannte die grünen Rasenflächen der Hauptstadt hinunter bis zum dunklen Fluss und suchte die Uferstraße ab, auf der die Menschen in die Nacht flohen. Schließlich fand ich Jocelyn irgendwo am Fluss. Valentin war verschwunden und sie hatte schreckliche Angst um Jonathan und wollte unbedingt zurück nach Hause. Wir fanden ein Pferd und sie galoppierte davon. Ich wechselte in meine Wolfsgestalt und folgte ihr, so gut ich konnte.

Wölfe sind schnell, doch ein ausgeruhtes Pferd läuft schneller. Irgendwann fiel ich zurück und sie kam lange vor mir am Herrenhaus an.

Schon als ich mich dem Haus näherte, wusste ich, dass irgendetwas Schreckliches passiert sein musste. Auch hier hing der Geruch von Feuer in der Luft, jedoch überlagert von irgendetwas anderem – dem süßlichen Gestank eines Dämonenzaubers. Ich wurde wieder zum Mann und humpelte die lange Auffahrt hinauf, die im Mondlicht vor mir lag, so hell wie ein Silberfluss … bis ich auf die Ruinen stieß. Jemand hatte das Herrenhaus in Schutt und Asche gelegt und der Nachtwind verstreute die weißen Flocken weithin über die Felder der Umgebung. Die Grundmauern waren noch zu erkennen, weiß wie verbrannte Knochen: hier ein Fenster, dort ein Kamin – doch vom eigentlichen Haus, seinen Ziegeln, dem Mörtel, den unbezahlbaren Büchern und den uralten Wandteppichen, die von Generation zu Generation weitervererbt worden waren, sah man nichts mehr außer feinem Staub, der durch das Mondlicht schwebte.

Valentin hatte das Haus mit Dämonenfeuer zerstört. So muss es gewesen sein: Kein irdisches Feuer brennt so heiß oder lässt so wenige Reste zurück.

Ich bahnte mir einen Weg durch die immer noch schwelenden Trümmer und fand Jocelyn schließlich. Sie kniete auf etwas, das einst die Vordertreppe gewesen sein musste. Die Stufen waren schwarz vor Ruß. Und dann sah ich die Knochen. Völlig verkohlt, aber erkennbar menschlicher Herkunft, umgeben von Tuchfetzen und Juwelen, die das Feuer nicht verschlungen hatte. Rote und goldene Fäden hingen noch an den Knochen von Jocelyns Mutter und die Hitze hatte den Dolch ihres Vaters mit seiner Skeletthand verschmolzen. Auf einem anderen Knochenstapel glitzerte Valentins silbernes Amulett mit den immer noch weiß glühenden Insignien des Kreises … und verstreut unter den übrigen Resten, fanden sich die Knochen eines Kindes – als ob sie zu klein und leicht gewesen wären, um beieinanderzubleiben.

Das werdet ihr noch bereuen , hatte Valentin gesagt. Und während ich neben Jocelyn auf den verbrannten Stufen kniete, wusste ich, dass er recht behalten würde. Ich habe es damals bereut und ich bereue es seither jeden Tag meines Lebens.

In jener Nacht ritten wir zurück in die Stadt, durch die immer noch wütenden Feuer und die schreienden Menschenmassen hindurch, hinaus in die Dunkelheit des weiten Landes. Es dauerte eine Woche, bis Jocelyn wieder sprach. Ich nahm sie mit mir und wir verließen Idris und flohen nach Paris. Wir hatten kein Geld, aber sie weigerte sich, das dortige Institut aufzusuchen und um Hilfe zu bitten. Sie hatte ein für alle Mal genug von den Schattenjägern, erzählte sie mir, ein für alle Mal genug von der Verborgenen Welt.

Wir saßen in dem winzigen, billigen Hotelzimmer, das wir gemietet hatten, und ich versuchte, sie zu überzeugen, aber ohne Erfolg – sie blieb stur. Irgendwann gestand sie mir den Grund dafür: Sie trug ein weiteres Kind unter dem Herzen, hatte schon seit Wochen gewusst, dass sie wieder schwanger war. Sie wünschte sich ein neues Leben für sich und ihr Baby und wollte unbedingt verhindern, dass das Kind jemals etwas vom Rat oder vom Bündnis erfuhr. Dann zeigte sie mir das Amulett, das sie von dem Knochenstapel an sich genommen hatte. Sie verkaufte es auf dem Flohmarkt von Clignancourt und erwarb von dem Geld ein Flugticket. Sie wollte mir nicht sagen, wohin die Reise ging; je weiter sie von Idris entfernt sei, sagte sie, desto besser.

Ich wusste, dass sie mit ihrem alten Leben auch mich zurücklassen würde, und versuchte, sie zum Bleiben zu bewegen, doch ohne Erfolg. Ich war mir sicher: Wenn sie kein Kind unter dem Herzen getragen hätte, hätte sie sich selbst umgebracht. Und da es immer noch besser war, sie an die Welt der Irdischen zu verlieren als an den Tod, stimmte ich ihren Plänen letztlich widerstrebend zu.

Dann kam der Moment unseres Abschieds am Flughafen. Und die letzten Worte, die Jocelyn in dieser trostlosen Abflughalle zu mir sagte, trafen mich bis ins Mark: »Valentin ist nicht tot.«

Nachdem sie verschwunden war, kehrte ich zu meinem Rudel zurück, doch ich fand keinen Frieden dort. Eine unstillbare Sehnsucht ließ mich nicht mehr los und jeden Morgen erwachte ich mit ihrem Namen unausgesprochen auf meinen Lippen. Ich wusste, dass ich nicht mehr der Anführer war, der ich einst gewesen war. Ich handelte gerecht und fair, blieb aber immer distanziert und ich fand unter den Wolfsmenschen weder Freunde noch eine Gefährtin. Letzten Endes war ich zu sehr Mensch, zu sehr Schattenjäger, um unter Werwölfen wirklichen Frieden zu finden. Ich ging auf die Jagd, doch auch das schenkte mir keine Befriedigung; und als die Zeit für die Unterzeichnung des Abkommens endlich gekommen war, ging ich in die Stadt, um meine Unterschrift zu leisten.

In der Großen Halle des Erzengels, in der man inzwischen sämtliche Spuren jener blutigen Nacht beseitigt hatte, trafen sich die Schattenjäger und die vier Rassen der Halbmenschen ein weiteres Mal, um jenes Abkommen zu unterzeichnen, das uns allen den Frieden bringen würde. Ich war überrascht, die Lightwoods anzutreffen, die ihrerseits genauso überrascht schienen, dass ich noch lebte. Sie erzählten, dass sie neben Hodge Starkweather und Michael Wayland die einzigen Mitglieder des Kreises seien, die jene Nacht in der Großen Halle überlebt hätten. Michael, der die Trauer über den Verlust seiner Frau nicht verwinden konnte, hatte sich zusammen mit seinem jungen Sohn auf sein Landgut zurückgezogen. Die anderen drei waren vom Rat mit Verbannung bestraft worden: Sie würden bald nach New York aufbrechen, um das dortige Institut zu leiten. Dabei waren die Lightwoods dank ihrer Beziehungen zu den höchsten Kreisen des Rates mit einer viel leichteren Strafe davongekommen als Hodge. Der Rat hatte ihn mit einem Fluch belegt: Er sollte mit den Lightwoods nach New York gehen, doch sobald er versuchte, den geweihten Boden des dortigen Instituts zu verlassen, würde er augenblicklich einen grausamen Tod sterben. Hodge wollte sich in New York seinen Studien widmen, erzählten sie, und würde ihren Kindern bestimmt ein großartiger Tutor sein.

Nach der Unterzeichnung des Abkommens erhob ich mich von meinem Stuhl, verließ die Halle und ging hinunter zum Fluss, wo ich Jocelyn in jener Nacht gefunden hatte. Ich stand dort, betrachtete die dunklen Fluten und wusste, ich würde in meiner Heimat nie mehr Frieden finden. Ich wollte bei ihr sein und nirgendwo sonst. Damals nahm ich mir vor, sie zu suchen.

Ich verließ mein Rudel und ernannte einen anderen Anführer – ich glaube, sie waren erleichtert, dass ich fortging. Ich reiste so, wie ein Wolf ohne Rudel reist: allein, immer bei Nacht, auf den Nebenstraßen und Landstraßen. Als Erstes kehrte ich nach Paris zurück, fand aber dort keine Spur mehr von ihr. Von dort aus fuhr ich nach London und nahm schließlich ein Schiff nach Boston.

Nach einer Weile in dieser Stadt ging ich schließlich in die Weißen Berge des hohen Nordens. Lange Jahre blieb ich auf Reisen, doch mit der Zeit dachte ich immer häufiger an New York und an die Schattenjäger, die dort im Exil lebten. In gewisser Weise war das ja auch Jocelyns Schicksal. Irgendwann kam ich in New York an, mit nichts als einer Reisetasche in der Hand; ich hatte keine Ahnung, wo ich nach deiner Mutter suchen sollte. Es wäre ein Leichtes gewesen, ein Wolfsrudel zu finden und mich ihm anzuschließen, doch ich widerstand der Versuchung. Stattdessen sandte ich, wie schon in anderen großen Städten, Botschaften in die Schattenwelt aus mit der Frage, ob irgendjemand Jocelyn gesehen hatte. Doch es kam keine Antwort, nichts – es schien, als ob sie ohne einen Hinweis in der Welt der Irdischen verschwunden war. Langsam begann ich zu verzweifeln.

Schließlich fand ich sie durch einen Zufall. Eines Tages streifte ich ziellos durch die Straßen von SoHo, als mir im Fenster einer Galerie auf der Broome Street ein Gemälde ins Auge fiel. Es handelte sich um die Darstellung einer Landschaft, die ich sofort wiedererkannte: der Blick aus dem Fenster ihres Elternhauses. Grüne Rasenflächen führten in einem kühnen Schwung hinunter zu einer Baumreihe, welche die dahinterliegende Straße verbarg. Ich erkannte ihren Malstil, ihre Pinselführung, jedes einzelne Detail. Ich hämmerte gegen die Tür der Galerie, doch sie war verschlossen. Also sah ich mir das Bild noch einmal genau an und dann entdeckte ich ihre Signatur. Damals las ich zum ersten Mal ihren neuen Namen: Jocelyn Fray.

Noch am selben Abend habe ich sie gefunden. Sie lebte in einem fünfstöckigen Haus ohne Aufzug, mitten im Künstlerviertel East Village. Mit pochendem Herzen stieg ich das halbdunkle Treppenhaus hinauf und klopfte an. Die Tür ihrer Wohnung öffnete sich und vor mir stand ein kleines Mädchen mit dunkelroten Zöpfen und neugierigen Augen. Und hinter ihr entdeckte ich Jocelyn, die auf mich zukam, die Hände voller Farbe. Sie sah noch genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte, wie sie mir seit unserer Kindheit vertraut war …

Den Rest kennst du.

22 Renwicks Ruine

Nachdem Luke geendet hatte, blieb es lange Zeit totenstill in der Zelle; nur das leise Tropfen von Wasser an einer der Steinmauern war zu hören. Nach einer Weile durchbrach Luke die Stille:

»Sag doch was, Clary.«

»Was soll ich denn sagen?«

Er seufzte. »Vielleicht, dass du verstehst, was ich dir erzählt habe?«

Clary hörte das Blut in ihren Ohren rauschen. Sie hatte das Gefühl, als wäre ihr ganzes Leben auf einer hauchdünnen Eisscholle aufgebaut gewesen – und jetzt begann dieses Eis zu brechen und drohte, sie mit sich in das darunterliegende eisige Wasser zu reißen. Hinab in die dunkle Tiefe, dachte sie, in der all die Geheimnisse ihrer Mutter lagen, die vergessenen Überreste eines schiffbrüchigen Lebens.

Sie schaute Luke an. Er wirkte plötzlich verschwommen und unscharf, so als ob sie ihn durch eine Milchglasscheibe sähe. »Mein Vater«, setzte sie an, »dieses Bild, das meine Mutter immer auf dem Kaminsims stehen hatte …« »Das war nicht dein Vater«, erklärte Luke.

»Hat es ihn denn je gegeben?«, fragte Clary mit zunehmend zorniger Stimme. »Gab es jemals einen John Clark oder hat meine Mutter ihn auch erfunden?«

»John Clark hat tatsächlich existiert. Aber er war nicht dein Vater. Er war der Sohn eurer Nachbarn, damals im East Village. Er kam bei einem Autounfall ums Leben, so wie deine Mutter es dir erzählt hat, aber sie haben einander nie kennengelernt. Sie besaß sein Foto, weil die Nachbarn sie beauftragt hatten, ein Porträt von ihm in seiner Army-Uniform zu malen. Nachdem sie das Bild gemalt hatte, behielt sie das Foto und behauptete, dass der Mann darauf dein Vater gewesen sei. Ich schätze, für sie war es so einfacher. Denn wenn sie dir erzählt hätte, er habe sich aus dem Staub gemacht oder sei verschwunden, hättest du irgendwann nach ihm suchen wollen. Und ein Toter …«

»Kann sich nicht gegen Lügen wehren«, beendete Clary mit bitterer Stimme seinen Satz. »Und sie fand es in Ordnung, mich all die Jahre glauben zu lassen, mein Vater sei tot? Und dabei ist mein richtiger Vater …«

Luke sagte nichts, ließ sie das Ende des Satzes selbst finden, das Undenkbare selbst denken.

»Valentin.« Ihre Stimme zitterte. »Das willst du mir doch damit sagen, richtig? Dass Valentin mein Vater war … ist?« Luke nickte; nur seine ineinander verschränkten Hände verrieten seine Anspannung. »Ja.«

»Oh mein Gott.« Clary sprang auf und lief durch die Zelle.

»Das ist nicht wahr. Das ist einfach nicht wahr.«

»Clary, bitte reg dich nicht so auf …«

»Reg dich nicht so auf? Du erzählst mir gerade, dass mein richtiger Vater im Grunde der Herrscher alles Bösen ist, und ich soll mich nicht aufregen?«

»Er war nicht immer böse«, erwiderte Luke und klang dabei fast schon entschuldigend.

»Oh, da bin ich aber anderer Meinung. In meinen Augen ist er nie was anderes gewesen. Der ganze Blödsinn über die Reinhaltung der Rasse und die Bedeutung des unverdorbenen Blutes – das klingt doch wie einer dieser widerlichen Faschisten. Und ihr beide seid auch noch voll drauf reinge fallen.«

»Ich bin nicht derjenige, der noch vor ein paar Minuten etwas von ›miesen‹ Schattenwesen erzählt hat«, sagte Luke leise. »Oder davon, dass man ihnen nicht trauen kann.« »Das ist nicht dasselbe!« Clary konnte die Tränen in ihrer Stimme hören. »Ich hatte einen Bruder«, fuhr sie stockend fort. »Und Großeltern. Sind sie tot?«

Luke nickte und blickte hinunter auf seine großen Hände, die nun geöffnet auf seinen Knien lagen. »Ja.«

»Jonathan«, sagte sie leise. »Um wie viel wäre er älter als ich? Ein Jahr?«

Luke schwieg.

»Ich habe mir immer einen Bruder gewünscht«, murmelte sie.

»Nicht«, sagte er unglücklich. »Quäl dich nicht. Du begreifst doch wohl, warum deine Mutter dies alles von dir ferngehalten hat, oder? Was hätte es für einen Nutzen gehabt, dich wissen zu lassen, was du schon vor deiner Geburt

verloren hattest?«

»Dieses Kästchen«, begann Clary, deren Gedanken sich nun überschlugen, »mit den Initialen J. C. darauf. Jonathan Christopher. Deshalb hat sie immer geweint, wenn sie es betrachtet hat. Das war seine Haarlocke – die meines Bruders, nicht meines Vaters.«

»Ja.«

»Und als du sagtest ›Clary ist nicht Jonathan‹, hast du meinen Bruder gemeint. Deshalb war Mom auch immer so überfürsorglich – weil sie bereits ein Kind verloren hatte.« Ehe Luke antworten konnte, öffnete sich die Zellentür mit einem metallischen Klang und Gretel betrat den Raum. Das »Verbandszeug«, unter dem Clary sich eine Hartplastik-Box mit aufgedrucktem rotem Kreuz vorgestellt hatte, erwies sich als ein großes Holztablett mit aufgerollten Bandagen und dampfenden Schüsseln voll undefinierbaren Flüssigkeiten und Kräutern, die ein intensives zitronenartiges Aroma verströmten. Gretel stellte das Tablett neben dem Bett ab und bedeutete Clary, sich aufzusetzen, was dieser mit einiger Mühe auch gelang.

»Braves Mädchen«, meinte die Wolfsfrau, tunkte etwas Mull in eine der Schüsseln und tupfte damit sanft das getrocknete Blut von Clarys Gesicht. »Wie hast du denn das geschafft?«, fragte sie missbilligend, als ob sie annähme, Clary sei sich mit einer Käsereibe durchs Gesicht gefahren. »Das habe ich mich auch schon gefragt«, sagte Luke, der die Prozedur mit verschränkten Armen beobachtete.

»Hugo hat mich angegriffen.« Clary versuchte, nicht zusammenzuzucken, als sich die blutstillende Flüssigkeit beißend auf ihren Wunden verteilte.

»Hugo?«, meinte Luke verblüfft.

»Hodges Vogel. Zumindest nehme ich an, es ist sein Vogel.

Er könnte natürlich auch zu Valentin gehören.«

»Hugin«, sagte Luke leise. »Hugin und Munin waren Valentins zahme Vögel. Ihre Namen bedeuten ›Gedanke‹ und ›Erinnerung‹.«

»Eigentlich sollten sie ›Angriff‹ und ›Tod‹ heißen«, meinte Clary. »Hugo hätte mir fast die Augen ausgekratzt.« »Dafür hat man ihn abgerichtet.« Luke klopfte mit den Fingerspitzen einer Hand auf seinen anderen Arm. »Hodge muss ihn nach dem Aufstand mitgenommen haben. Aber er war immer noch Valentins Geschöpf.«

»Genau wie Hodge«, sagte Clary und verzog das Gesicht, als Gretel die lange Risswunde an ihrem Arm säuberte, die mit Schmutz und getrocknetem Blut verkrustet war, und an schließend verband.

»Clary …«

»Ich will nicht weiter über die Vergangenheit reden«, unterbrach sie ihn aufgebracht. »Sag mir lieber, was wir nun tun sollen. Jetzt hat Valentin meine Mom, Jace und den Kelch. Und wir haben gar nichts.«

»Das würde ich nicht gerade behaupten«, erwiderte Luke.

»Wir haben ein mächtiges Wolfsrudel. Unser Problem ist nur, dass wir nicht wissen, wo Valentin steckt.«

Clary schüttelte den Kopf und mehrere Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht, die sie mit einer ungeduldigen Handbewegung zur Seite strich. Mein Gott, ich bin ja völlig verdreckt, dachte sie. Ich würde alles – na ja, fast alles – für eine Dusche geben.

»Hat Valentin nicht irgendeine Art von Versteck? Ein geheimes Lager?«

»Falls er so etwas besitzt«, sagte Luke, »dann ist es ihm wirklich gelungen, das geheim zu halten.«

Inzwischen war Gretel mit Clarys Verband fertig und sie bewegte vorsichtig ihren Arm. Die grünliche Salbe, die Gretel ihr auf die Wunde geschmiert hatte, unterdrückte den Schmerz, aber der Arm fühlte sich noch immer steif und starr an. »Warte mal«, sagte Clary.

»Diesen Spruch werde ich nie verstehen«, meinte Luke. »Ich hatte nicht vor wegzugehen.«

»Könnte Valentin noch irgendwo in New York sein?« »Möglich wär’s.«

»Als ich ihn im Institut sah, kam er durch ein Portal. Magnus erzählte mir, dass es in New York nur zwei Portale gäbe, eines bei Madame Dorothea und eines bei Renwicks. Aber das bei Madame Dorothea ist zerstört und außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass er sich dort verstecken würde, also …« »Bei Renwicks?«, meinte Luke verwirrt. »Renwick ist kein Schattenjäger-Name.«

»Und wenn Renwick gar keine Person ist?«, fragte Clary.

»Was ist, wenn damit ein Ort gemeint wäre? Bei Renwicks. So wie ein Restaurant oder … oder ein Hotel oder etwas in der Art.«

Plötzlich schien Luke ein Gedanke zu kommen. Er wandte sich an Gretel, die mit dem Tablett in den Händen auf ihn zutrat und ihn verarzten wollte. »Ich brauche ein Telefonbuch.«

Gretel hielt mitten in der Bewegung inne, das Tablett anklagend vor sich ausgestreckt. »Aber Sir, Ihre Wunden …« »Vergiss meine Wunden und hol mir ein Telefonbuch«,

knurrte er. »Wir sind in einer Polizeistation, da sollten genug alte Exemplare herumliegen.«

Gekränkt stellte Gretel das Tablett auf den Boden und marschierte aus der Zelle. Luke warf Clary über seine halb auf der Nase thronende Brille einen Blick zu und meinte: »Schlaues Mädchen.«

Clary schwieg. Ihr Magen fühlte sich an wie ein einziger fester Klumpen und sie hatte das Gefühl, als müsse sie um ihn herumatmen. Irgendwo in ihrem Gehirn meldete sich ein winziger Gedanke, der sich den Weg zu einer ausgewachsenen Erkenntnis bahnen wollte. Doch sie schob ihn mit Macht beiseite – im Augenblick konnte sie es sich nicht leisten, ihre Energie an Dinge zu verschwenden, die nichts mit den aktuellen Problemen zu tun hatten.

Gretel kam mit einem feucht wirkenden Branchenbuch zurück und warf es Luke hin. Er blätterte die Seiten im Stehen durch, während die Wolfsfrau sich mit Verbänden und klebrig aussehenden Salben an seinen Verletzungen zu schaffen machte. »Es gibt sieben Renwicks im Telefonbuch«, sagte er schließlich. »Aber keine Restaurants, Hotels oder Ähnliches.« Er schob seine Brille hoch, die jedoch sofort wieder ein Stück nach unten rutschte. »Die aufgeführten Renwicks sind alles keine Schattenjäger«, fuhr er fort, »und es erscheint mir unwahrscheinlich, dass Valentin sein Hauptquartier im Haus eines Irdischen oder Schattenwesens aufschlägt. Obwohl, vielleicht …«

»Habt ihr ein Telefon?«, unterbrach Clary ihn.

»Ich hab meins nicht dabei.« Luke schaute Gretel an.

»Kannst du uns das Telefon holen?«

Mit einem angewiderten Schnauben schleuderte sie das Bündel blutiger Verbände, das sie in den Händen hielt, zu Boden und stapfte ein weiteres Mal aus der Zelle. Luke legte das Telefonbuch auf den Tisch, griff nach einer Bandage und begann, damit die Schnittwunde zu verbinden, die quer über seine Rippen verlief. »Tut mir leid«, sagte er, als er Clarys Blick bemerkte. »Ich weiß, dass es abstoßend aussieht.«

»Wenn wir Valentin kriegen«, fragte sie plötzlich, »können wir ihn dann töten?«

Luke ließ fast das Verbandszeug fallen. »Was?«

Clary spielte mit einem Faden, der aus der Tasche ihrer Jeans herabhing. »Er hat meinen großen Bruder umgebracht. Er hat meine Großeltern getötet. Oder etwa nicht?« Luke legte den Rest der Bandage auf den Tisch und zog sein Hemd zurecht. »Und was willst du mit seinem Tod erreichen? Seine Taten ungeschehen machen?«

Ehe Clary antworten konnte, tauchte Gretel wieder auf. Mit einem gequälten Ausdruck in den Augen hielt sie Luke ein klobiges, altmodisches Mobiltelefon hin. Clary fragte sich, wer wohl die Rechnungen dafür bezahlte.

Dann streckte sie ihre Hand aus. »Ich muss jemanden anrufen.«

Luke zögerte. »Clary …«

»Es geht um Renwicks. Dauert nicht lange.«

Misstrauisch reichte er ihr das Telefon. Sie tippte eine Nummer ein und drehte sich dann halb von ihm weg, um für sich selbst die Illusion von Privatsphäre zu schaffen. Nach dem dritten Klingeln hob Simon den Hörer ab. »Hallo?«

»Ich bin’s.«

Sein Tonfall wanderte eine Oktave nach oben. »Wo bist du? Alles in Ordnung mit dir?«

»Mir geht’s prima. Warum? Hast du irgendwas von Isabelle gehört?«

»Nein. Was sollte Isabelle mir denn erzählen? Ist was nicht in Ordnung? Geht es um Alec?«

»Nein«, erwiderte Clary, die nicht lügen und behaupten wollte, Alec sei wohlauf. »Es geht nicht um Alec. Eigentlich wollte ich dich nur bitten, im Internet was für mich rauszusuchen.«

Simon schnaubte. »Machst du Witze? Habt ihr da drüben etwa keinen Computer? Schon gut, erspar mir die Antwort.«

Clary hörte, wie eine Tür geöffnet wurde und dann ein lautes Miau, als Simon die Katze seiner Mutter von ihrem Lieblingsplatz auf seiner Computertastatur verscheuchte. Sie sah ihn genau vor sich, wie er sich vor den PC setzte und die Finger über das Keyboard fliegen ließ. »Was soll ich checken?« Sie sagte es ihm. Während sie mit Simon sprach, konnte sie Lukes besorgten Blick auf sich spüren. Genauso hatte er sie damals angesehen, als sie mit elf Jahren eine schwere Grippe hatte und ihr Fieber einfach nicht sinken wollte. Er hatte ihr Eiswürfel zum Lutschen gebracht, ihr aus ihren Lieblingsbüchern vorgelesen und dabei alle Stimmen gesprochen. »Du hast recht«, riss Simons Stimme sie aus ihren Erinnerungen. »Es ist ein Gebäude. Oder besser, es war eines – und ist heute verlassen.«

Fast wäre ihr das Telefon aus den schweißfeuchten Fingern gerutscht. Sie umklammerte den Hörer fester. »Erzähl mal mehr darüber.«

»Renwick Smallpox Hospital war das berühmteste aller Irrenhäuser, Schuldnergefängnisse und Krankenhäuser, die während des neunzehnten Jahrhunderts auf Roosevelt Island erbaut wurden«, las Simon pflichtbewusst vor. »Vom Architekten Jacob Renwick entworfen, diente es als Quarantänestation für die ärmsten Opfer der unkontrollierbaren Pockenepidemie, die Manhattan heimsuchte. Fast alle, die dieses makabre neugotische Gebäude betraten, starben innerhalb seiner Mauern. Im Laufe des nächsten Jahrhunderts wurde das Hospital aufgrund seines schlechten baulichen Zustands aufgegeben. Der Zugang zu den Ruinen ist heute verboten.«

»Okay, das genügt«, sagte Clary mit klopfendem Herzen.

»Das muss es sein. Roosevelt Island? Lebt da denn überhaupt noch jemand?«

»Nicht alle von uns sind mit einem goldenen Löffel im Mund geboren, Prinzesschen«, sagte Simon mit gespieltem Sarkasmus. »Wie auch immer – braucht ihr mich noch mal als Fahrer oder für was anderes?«

»Nein! Alles okay hier, wir brauchen nichts. Ich musste nur ein paar Informationen haben.«

»Wie du meinst.« Simon klang ein wenig gekränkt, dachte Clary. Doch dann sagte sie sich, dass es so besser sei – er saß heil und gesund zu Hause und darauf kam es letztlich an. Sie beendete das Telefonat und wandte sich an Luke. »Am Südende von Roosevelt Island gibt es ein verlassenes Hospital namens Renwicks. Meiner Meinung nach steckt Valentin dort.«

Luke schob seine Brille wieder die Nase hinauf. »Blackwell’s Island. Natürlich.«

»Wieso Blackwell’s Island? Ich sagte …«

Er schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. »So hat man Roosevelt Island früher genannt – Blackwell’s. Es gehörte einer alten Schattenjäger-Familie. Ich hätte daran denken müssen.« Er drehte sich zu Gretel um. »Hol Alaric. Wir brauchen das ganze Rudel hier, und zwar so schnell wie möglich.« Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln, das Clary an jenes kalte Grinsen erinnerte, das Jace’ Lippen kurz vor einem Kampf umspielte. »Sag ihnen, sie sollen sich auf eine Schlacht vorbereiten.«


Ihr Weg hinauf zur Straße führte sie durch ein weitläufiges Labyrinth aus Zellen und Korridoren, die sich letztlich zu einem Raum öffneten, der einst der Eingangsbereich einer Polizeiwache gewesen war. Das Gebäude war inzwischen verlassen; in der schräg einfallenden Nachmittagssonne warfen die leeren Tische und die Umkleideschränke mit ihren Vorhängeschlössern und Termitenlöchern eigenartige Schatten. Auf den gesprungenen Bodenfliesen las Clary das Motto der New Yorker Polizei: Fidelis ad Mortem.

»Treu bis in den Tod«, übersetzte Luke, der ihrem Blick gefolgt war.

»Lass mich raten«, meinte Clary. »Im Inneren ist es eine verlassene Polizeiwache, aber von außen sehen die Irdischen nur ein abbruchreifes Mietshaus oder ein leeres Baugrundstück oder …«

»Eigentlich sieht es von außen aus wie ein chinesisches Restaurant«, erklärte Luke. »Alle Gerichte nur zum Mitnehmen, kein Restaurantbetrieb.«

»Ein chinesisches Restaurant?«, wiederholte Clary ungläubig.

Luke zuckte die Achseln. »Tja, wir sind nun mal in Chinatown. Das hier war einst die Wache des Zweiten Bezirks.«

»Die Leute finden es wahrscheinlich ziemlich eigenartig, dass es keine Telefonnummer für Essensbestellungen gibt.«

»Doch, die gibt es«, sagte Luke grinsend. »Wir gehen allerdings nicht sehr oft ans Telefon. Nur manchmal, wenn sie sich langweilen, liefern ein paar von den Wölflingen Schweinefleisch süßsauer aus.«

»Du machst Witze.«

»Ganz und gar nicht. Außerdem können wir die Trinkgelder gut gebrauchen.« Damit öffnete er die Vordertür und strahlendes Sonnenlicht erfüllte den Raum.

Clary war sich immer noch nicht sicher, ob er sie auf den Arm genommen hatte, und folgte Luke über die Baxter Street zu seinem Auto. Das Innere des Pick-ups wirkte auf sie beruhigend vertraut – der schwache Geruch nach Holzspänen, Altpapier und Seife, die weggeworfenen Kaugummipapierchen und leeren Kaffeebecher auf dem Boden und die von der Sonne ausgebleichten Würfel aus goldfarbenem Plüsch, die sie ihm mit zehn Jahren geschenkt hatte, weil sie genauso aussahen wie die goldenen Würfel am Rückspiegel des Millennium Falcon. Clary schwang sich auf den Beifahrersitz und ließ sich mit einem Seufzer gegen die Kopfstütze sinken. Sie war erschöpfter, als sie es sich selbst eingestanden hatte. Luke schloss die Tür hinter ihr. »Schön hierbleiben.« Sie schaute ihm nach, als er zu Gretel und Alaric hinüberging, die geduldig auf den Stufen der alten Polizeiwache warteten. Dann vertrieb sie sich die Zeit damit, ihren Blick absichtlich scharf und wieder unscharf werden zu lassen, wodurch der Zauberglanz abwechselnd sichtbar und unsichtbar wurde. Das Gebäude auf der anderen Straßenseite, das zunächst wie eine alte Polizeiwache ausgesehen hatte, verwandelte sich auf diese Weise in eine heruntergekommene Ladenfront mit einem gelben Vordach, auf dem »ChinaRestaurant Jade Wolf« stand.

Luke unterhielt sich gestenreich mit seinem Ersten und Zweiten Offizier und deutete irgendwann die Straße hinunter. Sein Pick-up war das erste Fahrzeug in einer Reihe von Transportern, Motorrädern, Jeeps und sogar einem schrottreif aussehenden alten Schulbus. Die Fahrzeugkolonne erstreckte sich in einer Linie den ganzen Häuserblock entlang und um die nächste Straßenecke herum – ein ganzer Konvoi von Werwölfen. Clary fragte sich, wie sie in so kurzer Zeit so viele fahrbare Untersätze zusammengeraubt, erbettelt oder organisiert hatten. Einen Vorteil hatte das Ganze jedenfalls: Zumindest mussten sie nicht alle mit der Luftseilbahn nach Roosevelt Island reisen.

Luke bekam von Gretel eine weiße Papiertüte gereicht, nickte kurz und kam dann zum Pick-up zurückgelaufen. Während er seinen schlaksigen Körper hinter das Steuer zwängte, gab er Clary die Tüte. »Hier, dafür bist du zuständig.«

Clary musterte die Tüte misstrauisch. »Was ist da drin? Waffen?«

Luke schüttelte sich vor lautlosem Lachen. »Eigentlich sind es Wan-Tans«, sagte er und lenkte den Pick-up in den Verkehr. »Und Kaffee.«

Während sie nach Norden rollten, öffnete Clary mit wild knurrendem Magen die Tüte. Sie riss eine der Teigtaschen auf, genoss den pikant-salzigen Geschmack des Schweinefleischs und machte sich mit Appetit über den hellen Teig her. Anschließend spülte sie das Ganze mit einem Schluck supersüßen Kaffees hinunter und bot Luke eine zweite Teigtasche an. »Auch eine?«

»Klar.« Es war fast wie in alten Zeiten, dachte sie, während sie durch die Canal Street rollten. Früher hatten sie hier immer große Tüten mit Apfeltaschen bei der Golden Carriage Bakery geholt – und sie schon zur Hälfte verputzt, noch bevor sie auf dem Rückweg die Manhattan Bridge erreichten.

»Erzähl mir was über diesen Jace«, sagte Luke.

Clary hätte sich fast an einer Teigtasche verschluckt. Schnell griff sie nach dem Kaffee und ertränkte ihren Hustenanfall in der heißen Flüssigkeit. »Was soll mit ihm sein?«

»Hast du irgendeine Ahnung, was Valentin von ihm wollen könnte?«

»Nein.«

Luke blinzelte im Licht der untergehenden Sonne. »Ich dachte, Jace wäre eines der Lightwood-Kinder?«

»Nein.« Clary biss in ihre dritte Teigtasche. »Sein Nachname ist Wayland. Sein Vater war …«

»Michael Wayland?«

Sie nickte. »Und als Jace zehn Jahre alt war, hat Valentin ihn getötet. Michael, meine ich.«

»So was wäre ihm durchaus zuzutrauen«, sagte Luke. Sein Tonfall blieb neutral, doch irgendetwas in seiner Stimme veranlasste Clary, ihm einen Seitenblick zuzuwerfen. Glaubte er ihr etwa nicht?

»Jace hat mit angesehen, wie er starb«, fügte sie hinzu, um ihrer Behauptung Nachdruck zu verleihen.

»Das ist ja schrecklich«, sagte Luke. »Armer Junge.«

Sie rollten nun über die Brücke an der 59. Straße. Clary schaute hinunter und sah den Fluss in der untergehenden Sonne rotgolden schimmern. Von hier aus konnte man schon die Südspitze von Roosevelt Island erkennen, wenn auch erst als kleinen Fleck weit oben im Norden. »Er ist darüber hinweggekommen«, sagte sie. »Die Lightwoods haben sich gut um ihn gekümmert.«

»Das kann ich mir vorstellen. Sie waren immer eng mit Michael befreundet«, bemerkte Luke und wechselte in die linke Spur. Im Seitenspiegel sah Clary, wie die Karawane der ihnen folgenden Fahrzeuge ebenfalls ihre Fahrtrichtung anpasste. »Sie haben sich bestimmt gern seines Sohnes angenommen.«

»Was passiert eigentlich, wenn der Mond aufgeht?«, fragte sie. »Werdet ihr dann alle plötzlich zu Wölfen?«

Lukes Mundwinkel zuckten. »Nicht alle. Nur die Jungen, diejenigen, die sich vor Kurzem zum ersten Mal verändert haben, können ihre Transformation nicht kontrollieren. Aber die meisten von uns haben das im Laufe der Jahre gelernt. Nur der Vollmond kann meine Transformation heute noch erzwingen.«

»Also wenn der Mond nur halb voll ist, fühlst du dich auch nur wie ein Halbwolf?«, fragte Clary.

»So könnte man das sagen.«

»Na ja, du kannst ja immer noch deinen Kopf aus dem Autofenster hängen und heulen, wenn dir danach ist.« Luke lachte. »Ich bin ein Werwolf, kein Golden Retriever.«

»Wie lange bist du schon der Anführer dieses Rudels?«, wechselte Clary plötzlich das Thema.

Luke zögerte. »Etwa eine Woche.«

Clary wandte sich ihm ruckartig zu. »Eine Woche?«

Er seufzte. »Ich wusste, dass Valentin deine Mutter entführt hatte«, sagte er tonlos. »Und ich wusste, dass ich allein kaum eine Chance gegen ihn haben würde und dass ich vom Rat keine Hilfe erwarten konnte. Ich brauchte etwa einen Tag, um das nächste große Werwolfrudel in der Stadt zu finden.«

»Du hast den Rudelführer umgebracht und seinen Platz eingenommen?«

»Es war der schnellste Weg, um in kurzer Zeit an eine große Zahl von Verbündeten zu kommen«, erwiderte Luke, ohne jedes Bedauern, aber auch ohne Stolz in der Stimme. Clary erinnerte sich, wie sie ihn heimlich in seinem Haus beobachtet hatte, wie ihr die tiefen Kratzer auf seinen Händen und in seinem Gesicht aufgefallen waren. »Ich hatte es vorher schon einmal getan und ich war mir ziemlich sicher, dass ich es wieder tun könnte.« Er zuckte die Achseln. »Deine Mutter war verschwunden und ich wusste, dass ich dich dazu gebracht hatte, mich zu hassen. Ich hatte nichts mehr zu verlieren.«

Clary stemmte die Sohlen ihrer grünen Turnschuhe gegen das Armaturenbrett. Durch die gesprungene Windschutzscheibe, über ihre Schuhspitzen hinweg, konnte sie erkennen, wie der Mond über der Brücke aufging. »Tja«, sagte sie. »Das ist jetzt anders.«


Das Hospital am Südende von Roosevelt Island wurde von Flutlicht angestrahlt, was seine gespenstischen Konturen scharf gegen den dunklen Fluss und die hell erleuchtete Silhouette Manhattans hervortreten ließ. Luke und Clary verstummten, als der Pick-up auf die winzige Insel rollte und aus der gepflasterten Straße ein Schotterweg wurde, der schließlich als gestampfter Lehmpfad endete. Der Weg verlief parallel zu einem hohen Maschendrahtzaun, dessen Krone dick mit Stacheldraht umwickelt war.

Als der Untergrund zu uneben wurde, um noch länger weiterzufahren, brachte Luke den Pick-up zum Stehen und schaltete das Licht aus. Dann schaute er Clary an. »Würdest du hier auf mich warten, wenn ich dich darum bitte?«

Sie schüttelte den Kopf. »Im Wagen muss es nicht unbedingt sicherer sein. Wer weiß, wie Valentin seine Stellung bewachen lässt?«

Luke lachte leise. » Stellung. Hör sich das einer an.« Er schwang sich aus dem Pick-up und ging dann auf ihre Seite hinüber, um ihr vom Beifahrersitz zu helfen. Sie hätte zwar auch selbst aus dem Wagen springen können, aber es war schön, dass er ihr half – so wie er es getan hatte, als sie noch zu klein gewesen war, um allein sicher auszusteigen.

Als ihre Füße den trockenen Lehmboden berührten, stiegen kleine Staubwolken in die Höhe. Die Autos, die ihnen gefolgt waren, schlossen nun eins nach dem anderen so zu ihnen auf, dass sie eine Art Kreis um Lukes Pick-up bildeten. Im Licht ihrer Scheinwerfer blitzte der Maschendrahtzaun silberweiß. Hinter dem Zaum ragte das Hospital auf – eine Ruine, deren verfallener Zustand im grellen Flutlicht unbarmherzig deutlich wurde: Mauerreste ohne Dach ragten aus dem unebenen Boden hervor wie abgebrochene Zähne und die steinernen Zinnen waren von einem dichten Efeuteppich überwuchert. »Es ist ein Trümmerhaufen«, hörte Clary sich selbst leise und leicht beklommen sagen. »Keine Ahnung, wie Valentin sich hier verstecken könnte.«

Lukes Augen folgten ihrem Blick in Richtung Hospital. »Es ist ein starker Zauberglanz«, erklärte er. »Versuch, an den Lichtern vorbeizuschauen.« Alaric kam über den Pfad auf sie zu; seine Jeansjacke öffnete sich in der leichten Brise, sodass seine vernarbte Brust zum Vorschein kam. Die Werwölfe, die ihm folgen, sehen aus wie ganz normale Menschen, dachte Clary. Wenn ihr die Gruppe unter anderen Umständen in einer Menge aufgefallen wäre, hätte sie wahrscheinlich angenommen, dass sie sich von irgendwoher kannten. Sie ähnelten einander auf eine Weise, die nicht auf körperlichen Merkmalen beruhte es lag mehr in ihren unverblümten Blicken, in ihrer energischen Ausstrahlung. Sie waren sonnengebräunter, schlanker und sehniger als der durchschnittliche Stadtmensch, so wie eine Gruppe von Farmern oder eine Motorradgang. Auf jeden Fall sahen sie überhaupt nicht wie Monster aus.

Sie versammelten sich bei Lukes Pick-up zu einer kurzen Lagebesprechung, fast wie ein Footballteam vor dem Anpfiff. Clary, die sich wie eine Außenseiterin fühlte, drehte sich um und betrachtete erneut das Hospital. Dieses Mal versuchte sie, an den Lichtern vorbei oder durch sie hindurchzuschauen, so wie sie manchmal durch eine dünne Deckschicht von Farbe hindurchschaute, um das darunterliegende Gemälde zu sehen. Wie schon zuvor musste sie sich nur vorstellen, ein solches Bild zu zeichnen – die Lichter schienen zu verschwinden und plötzlich schaute sie über eine von Eichen gesäumte Rasenfläche auf ein prunkvolles neugotisches Bauwerk, das zwischen den Bäumen emporragte wie das Bollwerk eines gewaltigen Schiffes. Die Fenster in den unteren Geschossen waren dunkel, ihre Blenden geschlossen, aber aus den spitz zulaufenden Fensterbögen im dritten Stock fiel Licht, als handle es sich um Feuer auf den Gipfeln einer weit entfernten Gebirgskette. Eine massive steinerne Veranda verbarg die Eingangstür des Gebäudes.

»Kannst du es jetzt sehen?«, fragte Luke, der sich ihr lautlos von hinten genähert hatte, auf den leisen Sohlen … eines Wolfs.

»Sieht eher wie eine Burg als ein Krankenhaus aus«, sagte sie, während sie das Gebäude unverwandt musterte.

Luke packte sie bei den Schultern und drehte sie mit dem Gesicht zu sich. »Hör mir zu, Clary.« Sein Griff war so fest, dass es schmerzte. »Bleib immer in meiner Nähe. Beweg dich, wenn ich mich bewege. Halt dich zur Not an meinem Hemd fest. Die anderen werden einen Ring um uns bilden und uns schützen, doch wenn du außerhalb dieses Rings gerätst, werden sie nichts für dich tun können. Sie werden uns jetzt langsam zur Tür bringen.« Er ließ ihre Schultern los, und als er sich bewegte, sah sie unter seiner Jacke etwas metallisch aufblitzen. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass er eine Waffe trug, doch dann erinnerte sie sich daran, was Simon über den Inhalt von Lukes alter grüner Reisetasche gesagt hatte. »Versprichst du mir zu tun, was ich sage?«

»Versprochen.«

Der Zaun war echt und nicht durch den Zauberglanz erschaffen. Alaric, der die Führung übernommen hatte, rüttelte prüfend daran und hob dann langsam eine Hand. Lange Klauen wuchsen unter seinen Fingernägeln hervor, mit denen er auf den Maschendrahtzaun einhieb und das Metall wie Butter zerschnitt. Die Maschen fielen zu einem großen Haufen zusammen.

»Los.« Er winkte die anderen durch das Loch im Zaun. Sie strömten vorwärts wie ein Mann, in einer geschlossenen, perfekt koordinierten Bewegung. Luke packte Clary am Arm, schob sie vor sich her und duckte sich, um ihr durch den Zaun zu folgen. Hinter dem Zaun gruppierten sie sich neu und spähten in Richtung des ehemaligen Pocken-Krankenhauses, wo sich dunkle Schatten auf der Veranda gesammelt hatten und sich nun langsam die Vortreppe hinunterbewegten.

Alaric hob den Kopf und schnüffelte prüfend gegen den Wind. »Der Gestank des Todes liegt in der Luft.«

»Forsaken«, stieß Luke zischend hervor.

Er schob Clary hinter sich, die auf dem unebenen Boden ins Stolpern geriet. Die Mitglieder des Rudels begannen, sich um Luke und sie zu scharen. Während sie sich dem Haus näherten, ließen sie sich auf alle viere fallen, Lippen wichen hinter hervortretenden Fängen zurück, Gliedmaßen verwandelten sich in lange, pelzige Extremitäten und dichtes Fell überwucherte die Kleidung. Irgendwo in Clarys Hinterkopf schrie eine winzige Stimme instinktiv: »Wölfe! Lauf weg!« Aber sie kämpfte dagegen an und blieb, wo sie war, obwohl sie spürte, wie ihre Nackenhaare sich aufrichteten und ihre Hände zu zittern begannen.

Das Rudel umringte sie, die Schnauzen nach außen gerichtet. Auf beiden Seiten flankierten weitere Wölfe den Kreis; es war, als ob Luke und sie sich im Mittelpunkt eines Sterns befänden. In dieser Formation bewegten sie sich langsam auf die Eingangstür des Hospitals zu. Clary, die immer noch hinter Luke ging, sah nicht einmal, wie der erste Forsaken angriff. Sie hörte einen Wolf unter Schmerzen aufheulen. Dann stieg das Heulen einen Moment lang an, verwandelte sich in ein Knurren, gefolgt von einem dumpfen Schlag, einem gurgelnden Aufschrei und einem Geräusch wie reißendes Papier …

Einen kurzen Moment fragte Clary sich, ob Forsaken essbar waren.

Sie warf Luke einen Blick zu. Sein Gesicht war angespannt. Jetzt sah Clary sie auch, am äußeren Rand des Rings der Werwölfe, beschienen vom grellen Flutlicht und dem sanften Schimmer Manhattans, der aus der Ferne zu ihnen herüberdrang: Dutzende von Forsaken, mit leichenblasser Haut, über und über gebrandmarkt mit Runen, die an ihnen wie Verletzungen aussahen. Mit leeren Augen stürzten sie sich auf die Wölfe, die sich ihnen frontal entgegenstellten, mit ausgefahrenen Klauen und gebleckten Zähnen. Sie sah einen der Forsaken – eine Frau – mit rudernden Armen und aufgeschlitzter Kehle rückwärtsstolpern. Ein anderer hieb mit einem Arm auf einen Wolf ein, während sein anderer Arm einen guten Meter entfernt auf dem Boden lag; Blut strömte pulsierend aus dem Stumpf. Schwarzes Blut, zäh und trübe wie Sumpfwasser, floss in Strömen und machte das Gras so rutschig, dass Clary fast gestolpert wäre. Luke konnte sie gerade noch festhalten. »Hiergeblieben.«

Ich bleibe doch hier, wollte sie ihm zurufen, doch sie brachte keinen Ton hervor. Die Wölfe bewegten sich immer noch – quälend langsam – über den Rasen auf das Hospital zu. Lukes Hand umklammerte ihren Arm wie eine Stahlfalle. Clary hätte nicht sagen können, wer gewann – und ob überhaupt jemand gewann. Die Wölfe waren schneller und größer, doch die Forsaken attackierten sie mit grausiger Unerbittlichkeit und waren überraschend schwer zu töten. Sie sah, wie ein riesiger, grau melierter Wolf, den sie als Alaric erkannte, einen Forsaken niederstreckte, indem er ihm die Beine wegschlug und ihm mit einem Sprung an die Kehle ging. Doch selbst mit herausgerissenem Kehlkopf bewegte sich die Kreatur weiter und ihr Axtschlag hinterließ eine tiefe rote Schnittwunde in Alarics glänzendem Fell.

Derart abgelenkt, bemerkte Clary den Forsaken, der den schützenden Ring um sie durchbrochen hatte, erst, als er drohend über ihr aufragte – es kam ihr vor, als wäre er vor ihren Füßen aus dem Boden geschossen. Mit weißen Augen und verfilztem Haar hob er ein bluttriefendes Messer.

Sie schrie auf. Luke wirbelte herum, drängte sie zur Seite, packte die Kreatur beim Handgelenk und drehte es herum. Sie hörte Knochen brechen und das Messer fiel ins Gras. Die Hand des Forsaken baumelte leblos an seinem Körper herab, aber er kam weiter auf sie zu, ohne ein Anzeichen von Schmerz. Luke rief mit rauer Stimme nach Alaric. Clary versuchte, den Dolch an ihrem Gürtel zu erreichen, doch Lukes Griff um ihren Arm war zu fest. Ehe sie ihn anschreien konnte, sie loszulassen, warf sich eine schlanke Gestalt wie ein silberner Blitz zwischen sie und den Angreifer. Es war Gretel. Sie landete mit ihren Vorderpfoten auf der Brust des Forsaken und warf ihn zu Boden. Ein wütendes Heulen stieg aus ihrer Kehle auf, doch der Forsaken war stärker; er schleuderte sie beiseite wie eine Stoffpuppe und rollte sich wieder auf die Füße.

Irgendetwas hob Clary hoch. Sie protestierte lautstark, aber es war nur Alaric, halb in menschlicher, halb in Werwolfgestalt, die Hände mit scharfen Klauen versehen. Dennoch war die Bewegung, mit der er sie in seine Arme nahm, sanft.

»Schaff sie hier raus! Bring sie zur Tür!«, rief Luke und deutete mit dem Arm die Richtung an.

»Luke!« Clary wand sich in Alarics Griff hin und her.

»Nicht hinschauen«, sagte Alaric knurrend.

Aber sie konnte nicht anders – und sah, wie Luke mit gezückter Klinge in der Hand Gretel beistehen wollte. Doch er kam zu spät: Der Forsaken packte sein Messer, das ins blutige Gras gefallen war, und jagte es Gretel in den Rücken, wieder und wieder, während sie mit den Klauen um sich schlug und kämpfte und immer schwächer wurde, bis das Licht in ihren silbrigen Augen schließlich erstarb. Mit einem Schrei schwang Luke seine Klinge in Richtung der Kehle des Forsaken …

»Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht hinsehen«, knurrte Alaric und drehte sich so, dass Clarys Sicht von seinem gewaltigen Rumpf versperrt wurde. Inzwischen hetzten sie die Stufen hinauf, wobei Alarics Klauen über den Granit kratzten wie Nägel über eine Schultafel.

»Alaric«, sagte Clary.

»Ja?«

»Tut mir leid, dass ich ein Messer nach dir geworfen habe.«

»Das muss es nicht. Wie gesagt, es war ein guter Wurf.«

Sie versuchte, an ihm vorbeizuschauen. »Wo ist Luke?«

»Ich bin hier«, sagte Luke und Alaric drehte sich um. Luke kam die Stufen hinauf und schob sein Schwert zurück in die Scheide, die er unter der Jacke an seinem Körper befestigt hatte. Die Klinge war schwarz und klebrig.

Auf der Veranda ließ Alaric Clary aus seinen Armen gleiten. Als sie auf die Füße kam, drehte sie sich um, doch sie konnte weder Gretel sehen noch den Forsaken, der sie getötet hatte, nur ein Meer aus hin und her wogenden Körpern und blitzendem Metall. Ihr Gesicht war feucht. Sie führte eine Hand an ihre Wange, um zu sehen, ob sie blutete, doch dann wurde ihr klar, dass sie weinte. Luke sah sie mit einem seltsamen Blick an. »Sie war doch nur ein Schattenwesen«, sagte er.

Clarys Augen brannten. »Sag so was nicht.«

»Verstehe.« Er drehte sich zu Alaric um. »Danke, dass du auf sie aufgepasst hast. Während wir reingehen …«

»Ich komme mit euch«, unterbrach Alaric ihn. Inzwischen hatte er sich fast vollständig in einen Menschen zurückverwandelt, doch seine Augen waren immer noch die eines Wolfs und zwischen den zurückgezogenen Lippen schauten Zähne hervor, so lang wie Zahnstocher. Er dehnte seine Finger, an denen Clary lange Nägel sah.

Luke musterte ihn besorgt. »Nein, Alaric.«

Alaric knurrte mit tonloser Stimme: »Du bist der Rudelführer, und nachdem Gretel tot ist, bin ich dein Erster Offizier. Es wäre nicht richtig, dich allein gehen zu lassen.«

»Ich …« Luke schaute Clary an und sah dann wieder auf das Schlachtfeld vor dem Hospital. »Ich brauche dich hier draußen, Alaric. Tut mir leid, aber das ist ein Befehl.«

In Alarics Augen blitzte Verärgerung auf, doch dann trat er beiseite. Die schwere Eingangstür des Hospitals war mit prunkvollen Holzschnitzereien versehen – Muster, die Clary bekannt vorkamen, wie die Rosen von Idris, ineinander verschlungene Runen, strahlende Sonnen. Als Luke dagegentrat, hörte man das Krachen eines aufbrechenden Riegels. Er stieß die Tür auf und schob Clary hindurch. »Rein mit dir.«

Sie stolperte an ihm vorbei, drehte sich auf der Schwelle noch einmal um. Alaric beobachtete sie mit glühenden Wolfsaugen. Hinter ihm war der Rasen übersät mit Leichen, der Boden durchtränkt von schwarzem und rotem Blut. Als die Tür hinter ihr zuschlug und ihr die Sicht versperrte, war sie dankbar.

Clary und Luke standen nun im Dämmerlicht des steinernen Eingangsbereichs, der von einer einzelnen Fackel beleuchtet wurde. Nach dem Dröhnen des Schlachtengetümmels umhüllte die Stille sie wie ein dämpfender Umhang. Clary schnappte nach Luft – Luft, die nicht schwül und feucht und vom Geruch nach Blut erfüllt war.

»Alles in Ordnung?« Luke hielt sie an der Schulter fest.

Sie wischte sich die Tränen von den Wangen. »Du hättest das eben nicht sagen sollen. Das über Gretel – dass sie nur ein Schattenwesen war. So was würde ich nie denken.«

»Freut mich zu hören.« Er griff nach der Fackel in der Metallhalterung. »Ich hatte schon befürchtet, die Lightwoods hätten dich in eine Kopie ihrer selbst verwandelt.«

»Nein, das ist ihnen nicht gelungen.«

Die Fackel ließ sich nicht aus dem Wandhalter nehmen. Luke runzelte die Stirn. Clary wühlte in ihrer Tasche, brachte den glatten Elbenlichtstein zum Vorschein, den Jace ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, und hielt ihn hoch. Lichtstrahlen brachen zwischen ihren Fingern hervor, als hätte sie eine magische Nussschale geknackt und die darin eingeschlossene Lichtquelle befreit.

»Elbenlicht?«, fragte Luke und wandte sich von der Fackel ab.

»Jace hat mir den Stein geschenkt.« Clary spürte, dass er in ihrer Hand pulsierte wie das Herz eines winzigen Vogels. Sie fragte sich, wo Jace sich in diesem Gemäuer aus grauen Steinen wohl befinden mochte, ob er Angst hatte und sich fragte, ob er sie jemals wiedersehen würde.

»Lange her, dass ich im Schein von Elbenlicht gekämpft habe«, meinte Luke. Dann stieg er die ersten Stufen der Treppe hinauf, die unter seinen Stiefeln laut knarrten. »Mir nach.«

Das flackernde Elbenlicht warf seine langen, seltsam verzerrten Schatten an die glatten Granitmauern. Als sie einen steinernen Absatz erreichten, an dem die Treppe in einen Bogen mündete, blieben sie stehen. Über ihnen brannte Licht. »Hat das Hospital so ausgehen … damals, vor über hundert Jahren?«, flüsterte Clary.

»Die Strukturen des alten Gebäudes, das Renwick errichten ließ, sind sicher noch vorhanden – obwohl ich mir vorstellen könnte, dass Valentin, Blackwell und die anderen das Haus nach ihrem Geschmack umbauen ließen«, erwiderte Luke. »Sieh mal.« Er kratzte mit dem Stiefel über den Boden. Clary blickte nach unten und entdeckte eine in den Granit gemeißelte Rune – ein Kreis mit der lateinischen Inschrift »In Hoc Signo Vinces«.

»Was heißt das?«, fragte sie.

»Der Satz bedeutet: ›In diesem Zeichen wirst du siegen.‹ Es war das Motto des Kreises.«

Sie schaute hoch, in Richtung der Lichter über ihnen. »Dann sind sie also hier.«

»Oh ja, sie sind hier«, bestätigte Luke und aus seiner rauen Stimme klang angespannte Erwartung. »Komm.«

Sie stiegen die Wendeltreppe weiter hinauf, immer dem Licht entgegen, bis sich ein langer, schmaler Korridor vor ihnen öffnete. Entlang der Wände zuckten die Flammen rußender Fackeln. Clary schloss die Hand um den Elbenstein, dessen Licht wie das eines verlöschenden Sterns aufflackerte und verschwand.

Auf beiden Seiten des Korridors befanden sich zahlreiche schwere, geschlossene Türen. Clary fragte sich, ob dahinter wohl Krankensäle gelegen hatten, als das Gebäude noch als Hospital gedient hatte, oder ob die Türen zu Privatgemächern führten. Als sie weitergingen, entdeckte Clary Fußspuren auf dem Boden – feuchte, schlammige Stiefelabdrücke von der matschigen Wiese vor dem Haus. Jemand musste kurz vor ihnen den Korridor entlanggegangen sein.

Die erste Tür, die sie zu öffnen versuchten, gab sofort nach und schwang auf, doch der Raum dahinter war leer: Die polierten Holzdielen und die steinernen Mauern glänzten gespenstisch im Schein des Mondes, der durch das hohe Fenster fiel. Von draußen drang gedämpft das Dröhnen des Kampfgetümmels herein – rhythmisch wie das Rauschen des Meeres. Im zweiten Zimmer, in das sie einen Blick warfen, lagerten unzählige Waffen: Schwerter, Keulen und Äxte. Bleiches Mondlicht ergoss sich wie silbriges Wasser über die Reihen von nacktem, kaltem Stahl. Luke stieß einen leisen Pfiff aus. »Das nenn ich mal eine Waffensammlung.«

»Glaubst du, das sind Valentins persönliche Kriegswerkzeuge?«

»Das ist eher unwahrscheinlich. Ich vermute, sie sind für seine Armee bestimmt.« Luke wandte sich ab und ging weiter.

Der dritte Raum entpuppte sich als ein Schlafzimmer. Die Vorhänge des Himmelbetts glänzten dunkelblau, der Perserteppich auf dem Boden zeigte ein Muster aus blauen, schwarzen und grauen Tönen und sämtliche Möbel waren weiß gestrichen – wie das Mobiliar eines Kinderzimmers. Über allem schwebte eine dünne, gespenstische Staubschicht, die im Mondlicht schwach schimmerte.

In dem Himmelbett lag Jocelyn.

Sie schlief tief und fest auf dem Rücken, eine Hand achtlos über die Brust gelegt. Ihre langen Haare waren über das Kissen ausgebreitet und sie trug ein weißes Nachthemd, das Clary noch nie gesehen hatte. Ihr Atem ging ruhig und regelmäßig. Im bleichen Mondlicht, das auf das Bett fiel, konnte Clary erkennen, dass die Lider ihrer Mutter wie im Traum zuckten.

Mit einem unterdrückten Schrei wollte Clary sich auf das Bett stürzen, doch Lukes ausgestreckter Arm hielt sie zurück, versperrte ihr wie eine eiserne Schranke den Weg. »Warte«, stieß er angespannt hervor, »wir müssen vorsichtig sein.«

Clary sah zu ihm auf, aber er schaute mit wütendem und schmerzerfülltem Gesicht an ihr vorbei. Sie folgte seinem Blick und entdeckte etwas, das sie vorher nicht hatte sehen wollen: Silberne Fesseln, die mit schweren Ketten auf beiden Seiten des Betts im Granitboden verankert waren, schlossen sich um Jocelyns Hand- und Fußgelenke. Der Nachttisch neben dem Bett war übersät mit einer seltsamen Mischung aus Schläuchen und Phiolen, Glasgefäßen und langen, spitz zulaufenden, chirurgischen Instrumenten aus glänzendem, messerscharfem Stahl. Eine dünne Sonde führte von einem der Glasgefäße zu einer Vene in Jocelyns linkem Arm.

Clary riss sich von Luke los, warf sich auf das Bett und schlang die Arme um den reglosen Körper ihrer Mutter. Doch genauso gut hätte sie eine Schaufensterpuppe umarmen können. Jocelyn lag starr und steif da; ihr langsamer Atemrhythmus blieb unverändert.

Noch eine Woche zuvor – als sie die schreckliche Auseinandersetzung mit ihrer Mutter gehabt hatte und diese bei ihrer Rückkehr verschwunden war – wäre Clary in Tränen ausgebrochen. Doch nun fühlte sie sich wie versteinert, als sie sich aufrichtete und ihre Mutter losließ. Sie verspürte weder Furcht noch Selbstmitleid, nur eine kalte Wut und den brennenden Wunsch, den Mann zu finden, der Jocelyn das angetan hatte, der für all dies verantwortlich war.

»Valentin«, sagte sie bitter.

»Natürlich. Wer sonst?« Luke stand neben Clary, berührte vorsichtig Jocelyns Gesicht und hob ihre Lider. Ihre Augen wirkten leer und ausdruckslos wie Murmeln. »Man hat ihr keine Drogen oder Beruhigungsmittel verabreicht«, murmelte er. »Vermutlich handelt es sich um eine Art Zauberbann.«

Clary stieß einen kleinen unterdrückten Schluchzer aus. »Wie kriegen wir sie hier raus?«

»Ich kann ihre Fesseln nicht berühren«, sagte Luke. »Silber. Hast du vielleicht …«

»Die Waffenkammer«, rief Clary. »Da habe ich eine Axt gesehen. Mehrere sogar. Wir könnten die Ketten durchschneiden …«

»Diese Ketten lassen sich nicht zerbrechen.« Die Stimme, die von der Tür herüberdrang, klang tief, knurrig und vertraut. Clary wirbelte herum und entdeckte Blackwell. Er trug die gleiche Robe wie bei seinem Besuch in Lukes Wohnung und hatte die Kapuze in den Nacken geschoben. Unter dem Saum der Robe schauten schlammige Stiefel hervor. »Graymark«, sagte er und grinste hämisch. »Welch nette Überraschung.«

Luke richtete sich auf. »Falls du wirklich überrascht sein solltest, bist du ein Narr. Schließlich habe ich mich nicht besonders leise hier reingeschlichen.«

Blackwells Wangen leuchteten in einem noch dunkleren Violettrot auf als zuvor, doch er blieb reglos an der Tür stehen. »Bist du wieder mal der Anführer eines Wolfsrudels?«, fragte er und lachte gehässig. »Du hast dich nicht verändert, was? Lässt die Drecksarbeit immer noch von deinen Schattenwesen machen. Valentins Truppen sind dabei, sie in der Luft zu zerreißen und ihre Glieder über die gesamte Wiese zu verteilen, und du hockst hier oben im Trockenen und schäkerst mit deinen Freundinnen.« Er musterte Clary höhnisch. »Ist die Kleine hier nicht ein bisschen zu jung für dich, Lucian?«

Clary lief vor Wut rot an und ballte die Hände zu Fäusten, doch Luke blieb vollkommen ruhig. »Die da draußen würde ich nicht gerade als ›Truppen‹ bezeichnen, Blackwell«, erwiderte er höflich. »Das sind Forsaken. Gepeinigte, einst menschliche Wesen. Wenn ich mich recht erinnere, vertritt der Rat eine eindeutige Haltung zu alldem hier – dem Quälen von Menschen, dem Ausüben schwarzer Magie. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Ratsmitglieder darüber sehr erfreut sein werden.«

»Pfeif auf den Rat«, knurrte Blackwell. »Wir brauchen weder ihn noch seine tolerante Haltung gegenüber Halbblütern. Außerdem werden die Forsaken nicht mehr lange Forsaken sein. Wenn Valentin erst einmal den Kelch an ihnen ausprobiert hat, sind sie Schattenjäger genau wie wir anderen. Und viel besser als die Milchbärte mit einem Herz für Schattenwesen, die der Rat heutzutage als Krieger losschickt.« Er grinste breit, wodurch seine Zahnstummel zum Vorschein kamen.

»Wenn das Valentins Pläne mit dem Kelch sind, warum hat er ihn dann nicht längst eingesetzt?«, fragte Luke. »Worauf wartet er noch?«

Blackwell hob beide Augenbrauen. »Weißt du das denn nicht? Er hat seinen …«

Ein aalglattes Lachen unterbrach ihn. Pangborn tauchte neben ihm auf; er war ganz in Schwarz gekleidet und trug einen Ledergurt über der Schulter. »Das reicht, Blackwell«, sagte er. »Du redest mal wieder zu viel.« Er ließ seine spitzen Zähne aufblitzen. »Interessanter Schachzug, Graymark. Ich hätte nicht gedacht, dass du die Gefühllosigkeit hast, dein neuestes Rudel auf ein Himmelfahrtskommando zu schicken.«

Ein Muskel zuckte in Lukes Wange. »Was ist mit Jocelyn?«, fragte er. »Was hat Valentin ihr angetan?«

Pangborn lachte amüsiert. »Ich dachte, sie wäre dir egal.«

»Ich begreife nicht, was er noch von ihr will«, fuhr Luke fort und ignorierte die höhnische Bemerkung. »Er hat den Kelch. Jetzt kann sie doch von keinem großen Nutzen mehr für ihn sein. Valentin war noch nie ein Freund von sinnlosem Töten. Morde mit einem bestimmten Ziel oder Zweck – das klingt schon eher nach ihm.«

Pangborn zuckte gleichgültig die Achseln. »Für uns spielt es keine Rolle, was er mit ihr vorhat«, erwiderte er. »Schließlich war sie mal seine Frau. Vielleicht hasst er sie ja. Da hast du deinen Zweck.«

»Lasst sie gehen«, sagte Luke. »Wenn ihr sie freigebt, werden wir mit ihr verschwinden und ich werde mein Rudel zurückrufen. Dann habt ihr was bei mir gut.«

»Nein!« Clarys wütender Ausruf veranlasste Pangborn und Blackwell zu einem teils ungläubigen, teils angewiderten Stirnrunzeln, als wäre sie eine sprechende Kakerlake. Clary wandte sich an Luke. »Was ist mit Jace? Er muss hier irgendwo sein.«

Blackwell lachte in sich hinein. »Jace? Ich kenne keinen Jace«, meinte er. »Natürlich könnte ich Pangborn bitten, Jocelyn freizulassen. Aber ich habe keine Lust dazu. Das Miststück hat mich immer wie ein Stück Dreck behandelt. Hielt sich wohl für was Besseres … mit ihrem Aussehen und ihrer Abstammung. Dabei war sie nichts weiter als ein kleines Biest mit einer langen Ahnenreihe. Und sie hat Valentin nur geheiratet, damit sie uns alle verraten konnte …«

»Enttäuscht, dass er nicht dich geheiratet hat, Blackwell?«, entgegnete Luke spöttisch, doch Clary konnte die kalte Wut in seiner Stimme hören.

Blackwells Gesicht lief dunkelrot an; er machte wütend einen Schritt in den Raum hinein und setzte zu einer Antwort an.

Im gleichen Moment griff Luke mit einer blitzartigen Bewegung, die Clary kaum wahrnahm, nach dem Skalpell auf dem Nachttisch und warf es. Der Stahl wirbelte durch die Luft und bohrte sich mit der Spitze in Blackwells Kehle, schnitt ihm förmlich das Wort ab. Er würgte, verdrehte die Augen und fiel auf die Knie, die Hände an der Kehle. Scharlachrote Flüssigkeit sprudelte zwischen seinen gespreizten Fingern hervor. Er öffnete die Lippen, als wollte er etwas sagen, doch stattdessen lief nur ein dünnes Blutrinnsal aus seinem Mund. Seine Hände sanken herab und er ging dröhnend zu Boden wie ein gefällter Baum.

»Ach, herrje«, näselte Pangborn und betrachtete angewidert den reglosen Körper seines Waffenbruders. »Wie unangenehm.«

Das Blut aus Blackwells aufgeschlitzter Kehle ergoss sich wie eine dickflüssige rote Suppe über den Boden. Luke packte Clary an der Schulter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Doch seine Worte drangen nicht zu ihr durch – Clary spürte nur ein dumpfes Dröhnen in ihrem Kopf. Plötzlich erinnerte sie sich an irgendein Gedicht, das sie in der Schule gelernt hatte – irgendetwas über den Tod … wenn man den ersten Toten gesehen hat, spielen alle weiteren keine Rolle mehr. Dieser Dichter hatte keine Ahnung gehabt, wovon er sprach, dachte sie.

Luke ließ sie los. »Die Schlüssel, Pangborn«, sagte er.

Pangborn stieß Blackwell mit dem Fuß an und blickte auf. Er wirkte gereizt. »Oder was? Wirst du sonst eine Spritze nach mir werfen? Auf dem Tisch lag nur ein einziges Skalpell«, höhnte er, griff über seine Schulter und zückte ein langes, rasiermesserscharfes Schwert. »Nein, nein. Wenn du die Schlüssel haben willst, wirst du wohl zu mir kommen und sie dir holen müssen. Nicht weil mich Jocelyn Morgenstern in irgendeiner Weise interessieren würde, sondern einzig und allein deshalb, weil ich schon so lange darauf warte, dich ins Jenseits zu befördern. Und jetzt ist es endlich so weit.«

Er schien sich an seinen Worten förmlich zu weiden, während er in beinahe freudiger Erwartung langsam näher kam. Seine Klinge blitzte im Mondlicht heimtückisch und drohend auf. Clary sah, wie Luke eine Handbewegung in ihre Richtung machte – seine Hand wirkte seltsam lang und seine Fingernägel waren spitz wie winzige Dolche –, und erkannte gleichzeitig zwei Dinge: dass er im Begriff war, sich zu verwandeln, und dass er ihr nur ein einziges Wort ins Ohr geflüstert hatte.

Lauf.

Clary lief. Sie umkurvte Pangborn, der sie kaum eines Blickes würdigte, sprang über Blackwells Leichnam und war im nächsten Moment durch die Tür, noch bevor Lukes Verwandlung vollständig vollzogen war. Ihr Herz raste, aber sie schaute sich nicht um, als sie hinter sich ein langes, durchdringendes Wolfsheulen hörte, den Klang von Metall und ein krachendes Klirren. Splitterndes Glas, dachte sie. Vielleicht hatten sie Jocelyns Nachttischchen umgestoßen.

Sie stürzte durch den Korridor zur Waffenkammer und griff nach einer verwitterten Axt mit Stahlheft, die an einer Wand hing. Doch die Waffe rührte sich keinen Millimeter, sosehr sie auch daran zerrte. Clary versuchte ihr Glück bei einem Schwert, dann bei einem Klingenstab und sogar bei einem kleinen Dolch, doch nicht eine einzige Waffe ließ sich aus ihrer Halterung nehmen. Nach einer Weile musste sie ihre Versuche mit blutig eingerissenen Fingernägeln aufgeben. Dieser Raum war beherrscht von einem Zauberbann. Nicht von der vertrauten Kraft der Runen, sondern von einer wilden, seltsamen, düsteren Form von Magie.

Clary taumelte rückwärts aus der Waffenkammer; in diesem Geschoss gab es nichts, was ihr weiterhelfen konnte. Sie humpelte den Korridor entlang – allmählich spürte sie den Schmerz abgrundtiefer Erschöpfung in Armen und Beinen – und stand schließlich wieder im Treppenhaus. Nach oben oder nach unten? Unten war alles dunkel und verlassen gewesen, erinnerte sie sich. Natürlich hätte sie sich mit ihrem Elbenlicht einen Weg suchen können, doch bei dem Gedanken daran, diese schwarzen Tiefen allein zu erkunden, ließ irgendetwas sie zögern. Über ihr strahlten weitere Lichter und einen Moment lang glaubte sie, einen Schatten oder eine Bewegung gesehen zu haben.

Mühsam stieg sie die Stufen hinauf. Ihre Beine brannten, ihre Füße schmerzten, alles tat weh. Zwar waren ihre Verletzungen verbunden worden, doch das bedeutete nicht, dass sie ihr nicht länger zusetzten. Die Spuren von Hugos Krallen brannten auf ihrer Wange und in ihrem Mund verspürte sie einen metallischen, bitteren Geschmack.

Endlich erreichte sie den obersten Treppenabsatz. Das geschwungene Geländer erinnerte an die Bugreling eines Schiffs. Auch in diesem Stockwerk herrschte eine unheimliche Stille; das Schlachtgetümmel drang nicht bis hier hoch. Vor ihr erstreckte sich ein weiterer langer Korridor mit unzähligen Türen, die jedoch nicht alle verschlossen waren. Aus manchen drang zusätzliches Licht auf den Flur. Instinktiv zog es sie zur letzten Tür auf der linken Seite. Als sie davorstand, warf sie vorsichtig einen Blick in den dahinterliegenden Saal.

Im ersten Moment erinnerte sie der Raum an eines der historischen Zimmer im Metropolitan Museum of Art. Es schien fast, als machte sie einen Schritt in die Vergangenheit – die Holzvertäfelung an den Wänden glänzte, als wäre sie gerade erst frisch poliert worden, und der endlos lange Esstisch war mit feinstem Porzellan gedeckt. Ein schimmernder Spiegel mit einem kunstvollen Goldrahmen schmückte die hintere Wand, flankiert von zwei Ölgemälden in wuchtigen Rahmen. Alles glitzerte und funkelte im Licht der Fackeln – die Servierplatten, auf denen sich die Speisen stapelten, die wie Lilien geformten Weinkelche, das blendend weiße Tafelleinen. Am Ende des Saals befanden sich zwei breite Fenster, die von schweren Samtvorhängen umrahmt wurden. Vor einem der Fenster stand Jace – so reglos, dass Clary ihn erst für eine Statue hielt, bis sie erkannte, dass sich das Licht in seinen hellen Haaren brach. Mit der linken Hand hielt er einen der Vorhänge beiseite und in der dunklen Fläche des Fensters sah Clary die Reflexion von Dutzenden Kerzen, die im Raum verteilt waren – Lichtspiegelungen, die wie Glühwürmchen im Glas der Scheibe gefangen schienen.

»Jace.« Sie hörte ihre eigene Stimme wie aus großer Ferne; Erstaunen und Dankbarkeit schwangen darin mit und eine Sehnsucht, die so stark war, dass es wehtat. Er ließ den Vorhang sinken und drehte sich um, ein verblüffter Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit.

»Jace!«, rief sie erneut und rannte auf ihn zu. Er fing sie auf, als sie sich ihm in die Arme warf, und drückte sie fest an sich.

»Clary.« Seine Stimme klang vollkommen verändert, war fast nicht wiederzuerkennen. »Clary, was tust du denn hier?«

»Ich bin deinetwegen hier«, erwiderte sie, halb erstickt und gegen sein Hemd gedrückt.

»Das hättest du nicht tun sollen.« Plötzlich löste er sich von ihr und hielt sie auf Armeslänge von sich, um sie betrachten zu können. »Großer Gott«, murmelte er und berührte ihr Gesicht. »Du Närrin. Was für eine verrückte Idee.« Seine Stimme klang nun zornig, doch sein Blick strich zärtlich über ihre Züge und seine Finger schoben behutsam eine ihrer roten Locken nach hinten. Nie zuvor hatte sie ihn auf diese Weise gesehen: Er strahlte eine ungeheure Zerbrechlichkeit aus, als hätte ihn jemand zutiefst verletzt. »Warum denkst du eigentlich nie nach?«, flüsterte er.

»Aber ich habe doch nachgedacht«, entgegnete sie. »Ich habe an dich gedacht.«

Einen kurzen Moment lang schloss er die Augen. »Wenn dir irgendwas zugestoßen wäre …« Seine Finger fuhren zärtlich über ihre Arme, bis hinunter zu den Handgelenken, als müsse er sich vergewissern, dass sie wirklich vor ihm stand. »Wie hast du mich gefunden?«

»Luke«, erwiderte sie. »Ich bin mit Luke gekommen. Um dich zu retten.«

Während er sie noch immer festhielt, ging sein Blick zum Fenster und seine Mundwinkel verzogen sich missbilligend. »Also sind das … du bist mit dem Wolfsrudel gekommen?«, fragte er mit einem seltsamen Unterton in der Stimme.

»Es ist Lukes Rudel«, erklärte sie. »Er ist ein Werwolf und …«

»Ich weiß«, schnitt Jace ihr das Wort ab. »Ich hätte es wissen müssen – die Handfesseln.« Dann blickte er schnell zur Tür. »Wo ist er jetzt?«

»Unten«, antwortete Clary langsam. »Er hat Blackwell getötet. Ich bin hier heraufgekommen, um dich zu suchen …«

»Er muss sie zurückrufen«, forderte Jace.

Sie blickte ihn verständnislos an. »Was?«

»Luke«, sagte Jace. »Er muss sein Rudel zurückrufen. Das Ganze ist ein Missverständnis.«

»Was soll das heißen? Hast du dich etwa selbst entführt?« Sie hatte es halb scherzhaft sagen wollen, aber der Satz kam wie gepresst aus ihrem Mund. »Komm schon, Jace.«

Sie versuchte, ihn am Handgelenk mit sich zu ziehen, doch er gab nicht nach. Stattdessen schaute er sie forschend an und ihr wurde plötzlich etwas bewusst, was ihr in ihrer ersten Erleichterung gar nicht aufgefallen war.

Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er mit Schnittwunden und Prellungen übersät gewesen, seine Kleidung hatte vor Schmutz und Blut gestarrt und sein Haar war völlig verklebt gewesen von Staub und Wundsekret. Doch jetzt trug er ein weites weißes Hemd und dunkle Hosen und sein frisch gewaschenes, flachsblondes Haar fiel ihm locker ins Gesicht. Als er mit seiner schlanken Hand eine widerspenstige Strähne zur Seite strich, bemerkte Clary, dass der schwere Silberring wieder an seinem Finger steckte.

»Sind das deine Sachen?«, fragte sie verblüfft. »Und … du bist ja komplett verarztet worden …« Ihre Stimme verstummte langsam. »Valentin scheint sich ja wirklich sehr um dich zu kümmern.«

Er schenkte ihr ein trauriges und zugleich liebevolles Lächeln. »Wenn ich dir die Wahrheit sage, wirst du mich für verrückt halten«, meinte er.

Sie spürte ihr Herz in ihrer Brust pochen, so schnell wie den Flügelschlag eines Kolibris. »Ganz bestimmt nicht.« »Mein Vater hat mir diese Sachen gegeben«, sagte er.

Das Pochen verwandelte sich in ein lautes Wummern. »Jace«, setzte sie vorsichtig an, »dein Vater ist tot.«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. Sie hatte das Gefühl, dass er eine tiefe, intensive Gefühlsregung unterdrückte, etwas wie Entsetzen oder Entzücken – oder beides. »Das habe ich bisher auch gedacht, aber es stimmt nicht. Das alles war nur ein Missverständnis.«

Clary erinnerte sich daran, was Hodge über Valentin erzählt hatte, über seine Fähigkeit, gewinnende und glaubhaft klingende Lügen zu erzählen. »Hat Valentin dir das vielleicht eingeredet? Er ist ein Lügner, Jace. Erinnere dich daran, was Hodge gesagt hat. Wenn Valentin behauptet, dass dein Vater noch lebt, dann nur, um von dir alles zu bekommen, was er will.«

»Ich habe meinen Vater gesehen«, erwiderte Jace. »Ich habe mit ihm gesprochen. Und er hat mir das hier gegeben.« Er zupfte an seinem neuen, sauberen Hemd, als ob es sich dabei um einen unwiderlegbaren Beweis handelte. »Mein Vater ist nicht tot. Valentin hat ihn nicht umgebracht. Hodge hat mich belogen. All die Jahre habe ich geglaubt, er wäre tot, aber das stimmte nicht.«

Clary schaute sich hastig in dem Raum um, mit seinem glänzenden Porzellan, den flackernden Fackeln und den funkelnden, leeren Spiegeln. »Wenn dein Vater wirklich hier ist, wo steckt er dann? Hat Valentin ihn auch entführt?«

Jace’ Augen leuchteten. Sein Hemdkragen stand offen und sie konnte die dünnen weißen Narben auf seinem Schlüsselbein erkennen, wie Risse auf seiner glatten gebräunten Haut. »Mein Vater …«

Mit einem lauten Quietschen schwang die Tür auf, die Clary hinter sich zugezogen hatte, und ein Mann betrat den Saal.

Es war Valentin. Sein silbernes, kurz geschorenes Haar leuchtete wie ein polierter Stahlhelm und ein harter Zug umspielte seine Lippen. An einer Seite seines breiten Gürtels hing eine Scheide, aus der am oberen Ende der Griff eines langen Schwerts herausragte. »Und«, fragte er, eine Hand auf das Heft gelegt, »hast du deine Sachen zusammengesucht? Unsere Forsaken werden die Wolfsmenschen nicht ewig aufhalten …«

Als er Clary erblickte, unterbrach er sich mitten im Satz. Er war kein Mann, der sich von irgendetwas völlig überrumpeln ließ, doch sie sah ein kurzes Erstaunen in seinen Augen aufflackern. »Wer ist das?«, fragte er und schaute Jace dabei an.

Doch Clary griff bereits an ihre Hüfte, auf der Suche nach ihrem Dolch. Sie fasste ihn am Heft, zerrte ihn aus seiner Scheide und holte zum Wurf aus. Blinde Wut pochte in ihrem Kopf wie ein Trommelwirbel. Sie konnte diesen Mann töten. Sie würde ihn töten.

Jace umfasste ihr Handgelenk. »Nicht.«

»Aber Jace …«, sagte sie ungläubig.

»Clary«, unterbrach er sie mit fester Stimme. »Das ist mein Vater.«

23 Valentin

»Oh, ich störe wohl gerade«, meinte Valentin trocken. »Hättest du die Güte, mein Sohn, mir zu sagen, wer das ist? Vielleicht eines der Lightwood-Kinder?«

»Nein«, sagte Jace. Er klang müde und unglücklich, hielt Clary aber weiterhin am Handgelenk fest. »Das ist Clary. Clarissa Fray. Sie ist eine Freundin. Sie …«

Valentins schwarze Augen musterten sie langsam, von ihren zerzausten Haaren bis zu den Spitzen ihrer verschlissenen Turnschuhe, und blieben schließlich an dem Dolch in ihrer Hand hängen.

Ein undefinierbarer Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus – teils Belustigung, teils Verärgerung. »Woher hast du diese Waffe junges Fräulein?«

»Jace gab sie mir«, erwiderte Clary kalt.

»Natürlich«, sagte Valentin in mildem Ton. »Darf ich den Dolch mal sehen?«

»Nein!« Clary wich einen Schritt zurück, als fürchtete sie, er würde sich auf sie stürzen. Doch im nächsten Moment spürte sie, wie ihr die Waffe aus den Fingern gewunden wurde. Jace warf ihr einen entschuldigenden Blick zu; er hielt den Dolch in der Hand. »Jace«, zischte sie und in ihrer Stimme schwang die Enttäuschung mit, die sie angesichts dieses Verrats empfand. »Du verstehst noch immer nicht, Clary«, erwiderte er nur und ging auf Valentin zu. »Hier bitte, Vater«, sagte er derart ehrerbietig, dass Clary sich der Magen umdrehte, und reichte ihm die Waffe.

Valentin nahm den Dolch in seine große, langgliedrige Hand und betrachtete ihn. »Das ist ein kindjal, ein tscherkessischer Dolch. Dieser hier ist Teil eines speziell gefertigten Paares. In die Klinge ist das Zeichen der Morgensterns eingraviert. Hier, siehst du?« Er drehte den Dolch und zeigte ihn Jace. »Es überrascht mich, dass die Lightwoods das nicht bemerkt haben.«

»Ich habe ihnen den Dolch nicht gezeigt«, erklärte Jace. »Und sie haben nicht in meinen Privatsachen herumgeschnüffelt.« »Natürlich nicht«, bestätigte Valentin. Er gab Jace den kindjal zurück. »Schließlich dachten sie, du wärst Michael Waylands Sohn.«

Jace schob den Dolch mit dem roten Knauf in seinen Gürtel. »Das habe ich auch gedacht«, sagte er leise und in diesem Moment erkannte Clary, dass es sich nicht um einen Scherz handelte, dass Jace nicht einfach gute Miene zum bösen Spiel machte, während er seine eigenen Ziele verfolgte. Er dachte ernsthaft, dass Valentin sein verloren geglaubter Vater sei, der nun zu ihm zurückgekehrt war.

Eine kalte Verzweiflung erfasste Clary. Wenn Jace wütend gewesen wäre oder feindselig, damit hätte sie umgehen können. Doch dieser neue Jace, zerbrechlich und strahlend vor Glück über das ihm widerfahrene Wunder, kam ihr wie ein Fremder vor.

Valentin schaute an Jace vorbei zu Clary; seine Augen funkelten vor Belustigung. »Vielleicht wäre das jetzt der richtige Moment, sich hinzusetzen, Clary?«

Trotzig verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Nein.« »Wie du willst.« Valentin zog einen Stuhl heran und ließ sich am Kopfende des Tischs nieder. Jace zögerte einen Moment, setzte sich dann aber neben ihn. Vor ihm auf dem Tisch stand eine halb leere Flasche Wein. »Aber du wirst ein paar Dinge zu hören bekommen, die möglicherweise dafür sorgen, dass du wünschst, du hättest dich hingesetzt.« »Ich lass es dich wissen, wenn es so weit ist«, entgegnete Clary kühl.

»Schön.« Valentin lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Der Kragen seines Hemds öffnete sich leicht, sodass seine vernarbten Schlüsselbeine zum Vorschein kamen. Von Malen übersät, genau wie die seines Sohnes, wie die aller Nephilim. Ein Leben voller Narben und Töten, hatte Hodge gesagt. »Clary«, sagte Valentin, als koste er den Klang ihres Namens auf seiner Zunge. »Eine Kurzform von Clarissa? Kein Name, den ich ausgewählt hätte.« Ein spöttisches Grinsen umspielte seine Lippen. Er weiß, dass ich seine Tochter bin, dachte Clary. Irgendwoher weiß er es. Aber er sagt es nicht. Warum hält er diese Information zurück? Wegen Jace, erkannte sie plötzlich. Jace würde denken … sie wollte sich gar nicht vorstellen, was er denken würde.

Valentin hatte beim Betreten des Saals gesehen, wie Jace und sie sich umarmt hatten; er musste wissen, welch brisante Information er damit in den Händen hielt. Irgendwo hinter diesen unergründlichen Augen arbeitete sein scharfer Verstand fieberhaft, versuchte er abzuschätzen, wie er sein Wissen am besten nutzen konnte.

Erneut warf Clary Jace einen flehentlichen Blick zu, aber er starrte auf ein Weinglas, das zur Hälfte mit einer purpurrot schimmernden Flüssigkeit gefüllt war. Sie sah, wie sich seine Brust mit jedem Atemzug rasch hob und senkte; er war bestürzter, als er zugeben wollte.

»Es interessiert mich nicht, welchen Namen du ausgewählt hättest«, sagte Clary.

»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte Valentin und beugte sich vor.

»Außerdem bist du nicht Jace’ Vater. Du versuchst nur, uns reinzulegen«, fuhr sie fort. »Michael Wayland war sein Vater. Die Lightwoods wissen das. Alle wissen das.«

»Die Lightwoods waren falsch unterrichtet«, entgegnete Valentin. »Sie haben wahrhaftig geglaubt – geglaubt –, dass Jace der Sohn ihres Freundes Michael ist. Das Gleiche gilt für den Rat. Nicht einmal die Stillen Brüder kennen seine wahre Identität. Aber es wird nicht mehr lange dauern, bis sie es erfahren.«

»Aber der Ring der Familie Wayland …«

»Richtig, der Ring«, sagte Valentin und warf einen Blick auf Jace’ Hand, wo der Ring wie die schillernde Haut einer Schlange funkelte. »Ist es nicht lustig, dass ein M, auf den Kopf gestellt, einem W täuschend ähnlich sieht? Wenn du dir natürlich die Mühe gemacht hättest, einmal genauer darüber nachzudenken, wäre es dir wahrscheinlich merkwürdig erschienen, dass die Waylands eine Sternschnuppe als Wappen gewählt haben sollten. Dagegen passt dieses Symbol perfekt zum Namen der Familie Morgenstern.«

Clary starrte ihn an. »Ich hab keine Ahnung, wovon du redest.«

»Entschuldige, ich vergaß, wie bedauernswert unvollkommen die Bildung der Irdischen ist«, spottete Valentin.

»Morgenstern – so wie in ›Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern! Wie wurdest du zu Boden geschlagen, der du alle Völker niederschlugst!‹«

Clary lief es eiskalt über den Rücken. »Du spielst auf Satan an.«

»Oder auf jeden anderen großen Machtverlust, den man in Kauf nimmt, wenn man sich weigert, anderen zu dienen«, entgegnete Valentin. »So wie bei mir. Ich war nicht gewillt, einer korrupten Regierung zu dienen, und dafür verlor ich meine Familie, meine Ländereien und fast mein Leben …« »Du trägst die Schuld für den Aufstand!«, fauchte Clary.

»Deinetwegen sind viele Menschen gestorben! Schattenjäger wie du!«

»Clary.« Jace beugte sich vor und stieß dabei fast das Weinglas mit dem Ellbogen um. »Hör ihm einfach nur zu, okay? Es ist nicht so, wie du denkst. Hodge hat uns belogen.« »Ich weiß«, sagte Clary. »Er hat uns an Valentin verraten. Er war Valentins Marionette.«

»Nein«, sagte Jace. »Nein, Hodge wollte den Kelch der Engel all die Jahre für sich. Er hat die Ravener ausgeschickt, um deine Mutter zu holen. Mein Vater … Valentin erfuhr erst später davon und kam hierher, um ihn aufzuhalten. Er hat

deine Mutter in dieses Haus gebracht, um sie zu heilen, nicht um ihr wehzutun.«

»Und du glaubst diesen Mist?«, erwiderte Clary voller Abscheu. »Nichts davon ist wahr. Hodge hat für Valentin gearbeitet; sie waren beide gemeinsam hinter dem Kelch her. Es stimmt, Hodge hat uns reingelegt, aber er war nur ein Werkzeug …« »Aber er war derjenige, der den Kelch der Engel gebraucht hat«, sagte Jace. »Auf diese Weise konnte er sich von dem Fluch befreien und fliehen, bevor mein Vater dem Rat von seinen Untaten berichtet hätte.«

»Das stimmt nicht!«, entgegnete Clary zornig. »Ich war dabei!« Sie schaute Valentin an. »Ich war in der Bibliothek, als du aufgetaucht bist, um den Kelch zu holen. Du hast mich nicht gesehen, aber ich war da; und ich habe dich gesehen. Du hast den Kelch an dich genommen und Hodge von seinem Fluch befreit. Er hätte es allein gar nicht tun können; das hat er selbst gesagt.«

»Ich habe tatsächlich den Fluch von ihm genommen«, antwortete Valentin ruhig, »aber ich habe es nur aus Mitleid getan. Er war so eine jämmerliche Figur.«

»Du hast kein Mitleid empfunden. Du hast rein gar nichts empfunden.«

»Das reicht, Clary!« Es war Jace. Sie starrte ihn an; seine Wangen waren so rot, als hätte er von dem Wein getrunken, der vor ihm stand, und seine Augen glänzten viel zu hell.

»Sprich nicht so mit meinem Vater.«

»Er ist nicht dein Vater!«

Jace sah aus, als hätte sie ihm ins Gesicht geschlagen. »Warum bist du so fest entschlossen, uns nicht zu glauben?« »Weil sie dich liebt«, sagte Valentin.

Clary spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Sie schaute ihn an, wusste nicht, was er als Nächstes sagen würde, fürchtete sich aber davor. Es kam ihr so vor, als würde sie auf einen Abgrund zugeschoben, als stünde sie kurz vor einem schrecklichen, rasenden Sturz in ein unendliches Nichts. Um sie herum begann sich alles zu drehen.

»Was?«, fragte Jace, völlig verblüfft.

Amüsiert musterte Valentin Clary – mit einem Blick, als hätte er einen Schmetterling auf ein Stück Karton aufgespießt.

»Sie hat Angst, dass ich dich ausnutze«, sagte er. »Dass ich dich einer Gehirnwäsche unterzogen habe. Doch das stimmt selbstverständlich nicht. Schau in deine eigenen Erinnerungen, Clary, dann weißt du es.«

»Clary.« Jace erhob sich langsam, ohne den Blick von ihr zu wenden. Sie sah die dunklen Ringe unter seinen Augen, spürte seine Anspannung. »Ich …«

»Setz dich«, kommandierte Valentin. »Sie wird von ganz allein daraufkommen, Jonathan.«

Jace gehorchte sofort und ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken. Clary, die immer noch gegen den Schwindel ankämpfte, versuchte zu verstehen. Jonathan? »Ich dachte, dein Name sei Jace«, sagte sie. »Hast du dabei auch gelogen?«

»Nein, Jace ist ein Spitzname.«

Inzwischen war sie dem Abgrund so nahe, dass sie fast hineinschauen konnte. »Wofür?«

Er sah sie an, als könne er nicht verstehen, warum sie aus einer solchen Kleinigkeit eine derart große Sache machte. »Er steht für meine Initialen«, erklärte er. »J. C.«

Der Abgrund tat sich vor ihr auf. Sie vermeinte zu spüren, wie sie ins Nichts stürzte. »Jonathan«, flüsterte sie kaum hörbar. »Jonathan Christopher.«

Jace runzelte die Stirn. »Woher weißt du …?«

Valentin unterbrach ihn; seine Stimme hatte einen beruhigenden Ton angenommen. »Jace, ich hatte gehofft, dir das ersparen zu können. Ich glaubte, die Geschichte von einer verstorbenen Mutter würde dir weniger wehtun als die einer Mutter, die dich noch vor deinem ersten Geburtstag verlassen hat.«

Jace’ schlanke Finger schlossen sich so krampfartig um den Stiel des Weinglases, dass Clary einen Moment lang fürchtete, er würde zerbrechen. »Meine Mutter lebt?«

»Ja«, sagte Valentin. »Sie lebt und liegt in diesem Augenblick schlafend in einem der Zimmer im Untergeschoss. Es stimmt«, fuhr er fort, noch ehe Jace etwas sagen konnte, »Jocelyn ist deine Mutter, Jonathan. Und Clary … Clary ist deine Schwester.«

Jace’ Hand zuckte zurück. Das Weinglas stürzte um und schäumende scharlachrote Flüssigkeit ergoss sich über das weiße Tischtuch.

»Jonathan«, sagte Valentin.

Jace’ Gesicht hatte eine schreckliche grünweiße Farbe angenommen. »Das ist nicht wahr«, stieß er hervor. »Das muss ein Fehler sein. Das kann einfach nicht stimmen.« Valentin blickte seinem Sohn fest in die Augen. »Eigentlich ein Grund zum Feiern«, sagte er leise, fast schon nachdenklich. »Zumindest hätte ich das angenommen. Gestern noch warst du ein Waisenkind, Jonathan. Und heute hast du einen Vater, eine Mutter und eine Schwester, von deren Existenz du noch nie etwas geahnt hast.«

»Das ist nicht wahr«, sagte Jace erneut. »Clary kann nicht meine Schwester sein. Wenn sie es wäre …«

»Was dann?«, fragte Valentin.

Jace gab keine Antwort, doch sein entsetzter und zugleich angewiderter Gesichtsausdruck genügte Clary. Auf unsicheren Beinen näherte sie sich dem Tisch, kniete sich neben seinen Stuhl und griff nach seiner Hand. »Jace …«

Er zuckte vor ihrer Berührung zurück; seine Finger krallten sich in das durchnässte Tischtuch. »Lass mich.«

Der Hass auf Valentin brannte in ihrer Kehle wie unvergossene Tränen. Er hatte Jace verschwiegen, was er wusste – dass sie seine Tochter war –, und sie durch sein Schweigen zu seiner Komplizin gemacht. Und nun, nachdem er die Wahrheit mit der Wucht eines riesigen, alles zermahlenden Felsbrockens auf sie hatte niederstürzen lassen, lehnte er sich zurück und betrachtete das Ergebnis mit eiskalter Genugtuung. Warum konnte Jace nicht begreifen, wie abscheulich dieser Mann war?

»Sag mir, dass es nicht wahr ist«, meinte Jace und starrte auf das Tischtuch.

Clary musste schlucken, um das Brennen aus ihrer Kehle zu vertreiben. »Das kann ich nicht.«

»Du gibst also zu, dass ich die ganze Zeit die Wahrheit gesagt habe?«, fragte Valentin und klang, als ob er dabei lächelte.

»Nein«, fauchte sie zurück, ohne ihn anzuschauen. »Du verbreitest Lügen, vermischt mit ein klein wenig Wahrheit – und nichts anderes.«

»Das wird langsam langweilig«, näselte Valentin. »Wenn du unbedingt die Wahrheit hören willst, Clarissa – bitte, das ist die Wahrheit. Du hast Geschichten über den Aufstand gehört und deshalb glaubst du, dass ich der Bösewicht bin. Oder stimmt das etwa nicht?«

Clary antwortete nicht. Sie schaute Jace an, der so aussah, als müsse er sich jeden Augenblick übergeben. Aber Valentin fuhr unerbittlich fort. »Eigentlich ist es ganz einfach. Die Geschichte, die du gehört hast, stimmt in einigen, aber nicht in allen Teilen – Lügen, vermischt mit ein wenig Wahrheit, so wie du gesagt hast. Tatsache bleibt jedoch, dass Michael Wayland niemals der Vater von Jace war oder gewesen ist. Ich habe Michaels Namen an- und seinen Platz eingenommen, als ich mit meinem Sohn aus der Gläsernen Stadt floh. Es war nicht schwer; Wayland hatte keine nahen Verwandten mehr und seine engsten Freunde, die Lightwoods, lebten im Exil. Er selbst war aufgrund seiner Beteiligung am Aufstand in Ungnade gefallen, also lebte ich ein Leben in der Verbannung, in aller Stille, zusammen mit Jace auf dem Gut der Waylands.

Ich las meine Bücher. Ich erzog meinen Sohn. Und ich wartete, bis meine Zeit gekommen war.« Nachdenklich fuhren seine Finger über den kunstvoll verzierten Rand des Weinglases. Clary fiel auf, dass er Linkshänder war – genau wie Jace. »Zehn Jahre später erhielt ich einen Brief. Der Schreiber dieser Zeilen deutete an, dass er meine wahre Identität kenne und sie enthüllen würde, wenn ich nicht bereit wäre, bestimmte Dinge zu tun. Ich wusste nicht, woher dieser Brief kam, aber das spielte auch keine Rolle: Ich war nicht bereit, die Forderungen des Verfassers zu erfüllen. Abgesehen davon war mir klar, dass von nun an meine Sicherheit gefährdet sein würde, bis er mich endgültig für tot halten würde, mich sozusagen außerhalb seines Einflusses glaubte. Also inszenierte ich meinen Tod ein weiteres Mal, mit der Hilfe von Blackwell und Pangborn, und sorgte zu Jaces’ Schutz dafür, dass er hierher geschickt wurde, in die Obhut der Lightwoods.« »Du hast Jace also glauben lassen, dass du tot bist? Du hast ihn all die Jahre leiden lassen? Das ist ja widerlich.«

»Nicht«, sagte Jace dumpf. Er hatte seine Hände vors Gesicht gehoben und sprach durch die Finger. »Hör auf, Clary.« Valentin betrachtete seinen Sohn mit einem Lächeln, das Jace nicht sehen konnte. »Es stimmt – Jonathan musste glauben, dass ich tot sei. Er musste davon überzeugt sein, dass er Michael Waylands Sohn war, sonst hätten die Lightwoods ihn nicht so fürsorglich behandelt. Schließlich standen sie in Michaels Schuld, nicht in meiner. Sie haben Jace um Michaels willen geliebt, nicht um meinetwillen.«

»Vielleicht haben sie ihn einfach um seiner selbst willen geliebt«, erwiderte Clary.

»Eine bewunderswert sentimentale Interpretation«, sagte Valentin, »aber höchst unwahrscheinlich. Du kennst die Lightwoods nicht so, wie ich sie einst gekannt habe.« Entweder sah er nicht, wie Jace zusammenzuckte, oder er ignorierte dessen Reaktion ganz bewusst. »Letztlich ist es auch völlig unerheblich«, fügte er hinzu. »Die Lightwoods waren als Schutz für Jace gedacht, nicht als dessen Ersatzfamilie. Er hat eine Familie. Er hat einen Vater.«

Jace gab einen kehligen Laut von sich und nahm die Hände vom Gesicht. »Und Mutter …«

»Ist nach dem Aufstand geflohen«, sagte Valentin. »Ich war ein entehrter Mann. Hätte man gewusst, dass ich am Leben war, hätte der Rat mich verfolgt und zur Strecke gebracht. Sie ertrug den Gedanken nicht, auf ewig in einem Atemzug mit mir genannt zu werden, und floh.« Der Schmerz in seiner Stimme war deutlich hörbar – und falsch, dachte Clary bitter.

Dieser berechnende Widerling. »Ich wusste damals nicht, dass sie schwanger war. Mit Clary.« Er lächelte kurz, strich mit seinem Finger über das Weinglas. »Aber wie heißt es so schön: Blut ist dicker als Wasser«, fuhr er fort. »Das Schicksal hat uns wieder zusammengeführt – unsere Familie ist wieder vereint. Wir können das Portal benutzen«, wandte er sich an Jace.

»Nach Idris gehen, zurück auf unsere Ländereien.«

Jace zuckte leicht zusammen, nickte dann aber, den Blick immer noch reglos auf seine Hände gerichtet.

»Dort können wir zusammen leben«, sagte Valentin. »So, wie es von Anfang an hätte sein sollen.«

Das klingt ja toll, dachte Clary. Nur du, deine im Koma liegende Frau, dein völlig verwirrter Sohn und deine Tochter, die dich abgrundtief hasst. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass deine beiden Kinder sich wahrscheinlich ineinander verliebt haben. Das klingt wirklich wie das perfekte Familienglück. Doch laut sagte sie nur: »Ich werde mit dir nirgendwo hingehen – und meine Mutter auch nicht.«

»Er hat recht, Clary«, stieß Jace heiser hervor. Er dehnte seine Hände; die Fingerspitzen hatten rote Flecken. »Es ist der einzige Weg; nur dort können wir alles wieder in Ordnung bringen.«

»Das kann nicht dein Ernst sein …«

Ein gewaltiges Krachen drang von unten zu ihnen hinauf, so laut, als ob eine der Mauern des Hospitals eingestürzt wäre.

Luke, dachte Clary und sprang auf.

Obwohl Jace immer noch kreidebleich um die Nase war, reagierte er automatisch – er erhob sich von seinem Stuhl und seine Hand fuhr zum Gürtel. »Vater, sie sind …«

»Sie kommen.« Valentin stand ebenfalls auf. Clary hörte Schritte; einen Augenblick später flog die Tür des Saals auf und Luke stand auf der Schwelle.

Clary unterdrückte einen Aufschrei. Luke war von Kopf bis Fuß mit Blut beschmiert, seine Jeans und sein Hemd waren dunkel und durchtränkt und seine untere Gesichtshälfte leuchtete blutrot. Auch seine Hände schimmerten bis zu den Handgelenken feucht. Clary erkannte, dass frisches Blut von ihnen tropfte, konnte aber nicht sagen, wie viel davon sein eigenes war. Sie hörte sich seinen Namen rufen und dann lief sie quer durch den Raum auf ihn zu und wäre fast über ihre eigenen Beine gestolpert bei dem Versuch, sein Hemd zu packen und sich daran festzuklammern – etwas, das sie zum letzten Mal als Achtjährige getan hatte.

Einen kurzen Moment lang strich er ihr mit seiner großen Hand über den Kopf und zog sie fest an seine Brust. Doch dann schob er sie sanft von sich. »Ich bin ganz voll Blut«, sagte er. »Aber keine Sorge – es ist nicht meins.«

»Von wem ist es dann?«, ertönte Valentins Stimme. Clary drehte sich um, Lukes Arm immer noch schützend auf ihren Schultern. Valentin betrachtete sie beide mit berechnendem Blick, die Augen eng zusammengekniffen. Jace hatte sich ebenfalls erhoben, war um den Tisch getreten und stellte sich nun zögernd hinter seinen Vater. Clary konnte sich nicht erinnern, dass sie ihn jemals hatte zögern sehen.

»Es stammt von Pangborn«, sagte Luke.

Valentin fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht, als ob diese Nachricht ihn schmerzlich berührte. »Ich verstehe. Hast du ihm mit deinen Fängen die Kehle herausgerissen?« »Nein. Tatsächlich habe ich ihn hiermit getötet«, erwiderte Luke. In seiner freien Hand hielt er den langen, dünnen Dolch, mit dem er auch den Forsaken umgebracht hatte. Die Steine im Griff schimmerten bläulich. »Erkennst du ihn?« Valentin warf einen Blick auf den Dolch und Clary sah, wie sich seine Kiefer anspannten. »Ja«, sagte er und Clary fragte sich, ob er sich ebenfalls an ihr Gespräch erinnerte. Das ist ein kindjal, ein tscherkessischer Dolch. Dieser hier ist Teil eines speziell gefertigten Paares.

»Vor siebzehn Jahren hast du ihn mir mit dem Rat in die Hand gedrückt, meinem Leben damit ein Ende zu setzen«, meinte Luke und fasste den Dolch fester. Die Klinge war länger als die Klinge des kindjal mit den roten Steinen im Griff, der in Jaces’ Gürtel steckte – fast schon wie die eines Schwertes, mit einer nadeldünnen Spitze. »Und ich hätte deinen Rat beinahe befolgt.«

»Erwartest du, dass ich das leugne?« In Valentins Stimme schwang Schmerz mit, die Erinnerung an vergangenen Kummer. »Ich habe versucht, dich vor dir selbst zu schützen, Lucian. Ich habe einen schweren Fehler begangen. Wenn ich damals doch nur die Stärke aufgebracht hätte, dich zu töten, dann wärst du als aufrechter Mann gestorben.«

»So wie du?«, fragte Luke und in diesem Augenblick entdeckte Clary etwas von dem alten Luke in ihm, den sie seit Ewigkeiten kannte – der genau wusste, wann sie log oder ihm etwas vorspielte, und der ihr auf den Kopf zusagte, wenn sie arrogant oder unaufrichtig war. In der Bitterkeit seiner Stimme spürte sie etwas von der Zuneigung, die er einst für Valentin empfunden hatte und die nun Hass und Erschöpfung gewichen war. »Ein Mann, der seine bewusstlose Frau an ein Bett kettet, in der Hoffnung, nach ihrem Erwachen durch Folter Informationen aus ihr herauspressen zu können? Das nennst du aufrecht?«

Jace starrte seinen Vater an. Clary sah, wie Valentins Gesichtszüge sich für einen kurzen Augenblick vor Wut verzerrten, doch dieser Moment ging schnell vorüber und seine Augen wirkten wieder ausdruckslos. »Ich habe sie nicht angerührt«, sagte er. »Sie liegt zu ihrem eigenen Schutz in Ketten.«

»Schutz wovor?«, wollte Luke wissen und machte einen Schritt nach vorn. »Der Einzige, der sie hier bedroht, bist du. Der Einzige, der sie je bedroht hat, warst du. Sie hat ihr ganzes Leben nichts anderes getan, als vor dir davonzulaufen.« »Ich habe sie geliebt«, erwiderte Valentin. »Ich hätte ihr niemals wehgetan. Du warst es, der sie gegen mich aufgehetzt hat.«

Luke lachte. »Dafür hätte sie mich nicht gebraucht. Sie hat dich von ganz allein hassen gelernt.«

»Das ist eine Lüge!«, brüllte Valentin mit plötzlich aufflackernder Wildheit und riss sein Schwert aus der Scheide. Die Klinge war flach und mattschwarz, mit einem Muster aus silbernen Sternen. Er richtete die Schwertspitze auf Lukes Herz.

Jace machte einen Schritt auf Valentin zu. »Vater …« »Jonathan, schweig!«, donnerte Valentin, doch es war zu spät; Clary erkannte den Schock in Lukes Augen, als er Jace anstarrte.

»Jonathan?«, flüsterte er.

Jace verzog den Mund. »Nenn mich nicht so«, entgegnete er wütend und seine goldenen Augen blitzten. »Ich werde dicheigenhändig töten, wenn du mich noch einmal so nennst.« Luke schien die Klinge, die auf sein Herz gerichtet war, zu ignorieren und schaute Jace unverwandt an. »Deine Mutter wäre stolz auf dich«, sagte er so leise, dass selbst Clary, die neben ihm stand, Mühe hatte, ihn zu verstehen.

»Ich habe keine Mutter«, konterte Jace. Seine Hände zitterten. »Die Frau, die mir das Leben geschenkt hat, ließ mich im Stich, ehe ich alt genug war, mich an ihr Gesicht erinnern zu können. Ich habe ihr nichts bedeutet, also bedeutet auch sie mir nichts.«

»Deine Mutter ist nicht diejenige, die dich im Stich gelassen hat«, sagte Luke und richtete seine Augen langsam auf Valentin. »Ich hätte gedacht, nicht einmal du würdest so tief sinken, dein eigen Fleisch und Blut als Pfand zu missbrauchen. Da habe ich mich wohl getäuscht.«

»Das reicht jetzt.« Valentins Stimme klang beinahe gelangweilt, doch in ihr schwang eine unbändige Wut mit, ein gieriges Verlangen nach Gewalt. »Nimm die Hände von meiner Tochter oder ich töte dich auf der Stelle.«

»Ich bin nicht deine Tochter«, rief Clary wütend, aber Luke stieß sie so heftig von sich, dass sie beinahe hingefallen wäre. »Raus mit dir«, sagte er. »Bring dich in Sicherheit.« »Ich lass dich nicht allein!«

»Clary, ich mein’s ernst. Raus mit dir.« Luke hob bereits seinen Dolch. »Das ist nicht dein Kampf.«

Clary stolperte weg von ihm, in Richtung der Tür, die zum Treppenhaus führte. Vielleicht konnte sie Hilfe holen, vielleicht war Alaric …

Plötzlich stand Jace vor ihr, blockierte den Weg zur Tür. Sie hatte ganz vergessen, wie schnell er sich bewegen konnte – sanft wie eine Katze, geschwind wie Quecksilber. »Bist du wahnsinnig?«, zischte er. »Sie haben die Eingangstür aufgebrochen. Da unten wird es vor Forsaken nur so wimmeln.« Sie versuchte, ihn wegzustoßen. »Lass mich …«

Jace packte sie und hielt sie eisern fest. »Damit sie dich in Fetzen reißen? Kommt nicht infrage.«

Plötzlich ertönte hinter ihnen ein lautes metallisches Geräusch. Clary wandte sich um und sah, dass Valentin Luke angegriffen hatte, der wiederum den Schwertstreich mit einem ohrenbetäubenden Krachen parierte. Knirschend lösten sich die Klingen voneinander und jetzt bewegten sich die beiden Männer in einem verschwommenen Schleier von Finten und Paraden durch den Raum. »Oh mein Gott«, flüsterte sie. »Sie bringen sich gegenseitig um.«

Jace’ Augen wirkten beinahe schwarz. »Du verstehst das nicht«, sagte er. »Nur so kann es entschieden werden …« Er unterbrach sich und hielt kurz die Luft an, als Luke Valentins Parade unterlief und ihn mit einem Hieb an der Schulter traf.

Valentins weißes Hemd verfärbte sich blutrot.

Valentin warf den Kopf zurück und lachte. »Tatsächlich ein Treffer«, sagte er. »Ich hätte nicht gedacht, dass du es noch in dir hast, Lucian.«

Luke hatte sich zu voller Größe aufgerichtet; die Klinge seines Dolchs versperrte Clary die Sicht auf sein Gesicht. »Du hast mir diese Finte selbst beigebracht.«

»Aber das ist lange her«, erwiderte Valentin mit einer Stimme wie wilde Seide, »und seither wirst du wohl kaum eine Klinge geführt haben, oder? Wo du doch jetzt mit Klauen und Fängen kämpfst.«

»Mit ihnen werde ich dir das Herz herausreißen.« Valentin schüttelte den Kopf. »Du hast mir schon vor Jahren das Herz herausgerissen«, entgegnete er und nicht einmal Clary hätte sagen können, ob die Trauer in seiner Stimme echt oder gespielt war. »Als du mich betrogen und hintergangen hast.« Luke setzte zu einem erneuten Hieb an, aber Valentin machte schnell einen Schritt zurück. Für einen so großen Mann bewegte er sich überraschend leichtfüßig.

»Du hast meine Frau gegen ihre eigene Art aufgehetzt. Du bist zu ihr gelaufen, als sie sich am wenigsten wehren konnte, gegen deine bemitleidenswerte, hilflose Not. Ich war nicht da und sie glaubte, dass du sie liebst. Sie war eine Närrin.« Jace stand stocksteif neben Clary. Sie konnte seine Spannung förmlich fühlen – wie Funken, die aus einem zu Boden gefallenen Stromkabel sprühen. »So spricht Valentin von deiner Mutter«, sagte sie.

»Sie hat mich im Stich gelassen«, erwiderte Jace. »Eine tolle Mutter.«

»Sie dachte, du seist tot. Willst du wissen, woher ich das weiß? Weil sie ein Kästchen in ihrem Schlafzimmer aufbewahrt hat, ein Kästchen mit deinen Initialen – J. C.« »Na schön, sie hatte also ein Kästchen«, sagte Jace. »Viele Leute haben Kästchen. Sie bewahren Dinge darin auf. Scheint in letzter Zeit ganz groß in Mode zu kommen, habe ich gehört.«

»Eine Haarlocke lag darin. Von dir. Und ein, vielleicht zwei Fotos. Sie hat sie jedes Jahr hervorgeholt und sich darüber die Augen ausgeweint, verzweifelt und untröstlich …«

Jace’ Hand ballte sich zur Faust. »Hör auf«, stieß er zwi schen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Aufhören womit? Dir die Wahrheit zu erzählen? Sie glaubte, du seist tot – sie hätte dich nie zurückgelassen, wenn sie gewusst hätte, dass du noch am Leben bist. Du hast selbst geglaubt, dein Vater sei tot …«

»Ich habe gesehen, wie er starb! Oder zumindest habe ich das gedacht. Ich habe nicht einfach … nicht einfach davon gehört und beschlossen, es zu glauben!«

»Sie fand deine verbrannten Knochen«, sagte Clary leise.

»In den Ruinen ihres Hauses. Neben den Knochen ihrer Mutter und ihres Vaters.«

Endlich schaute Jace sie an. Sie sah den offensichtlichen Unglauben in seinen Augen und die Anstrengung, mit der er diesen Unglauben aufrechterhielt. Und als würde sie einen Zauberglanz durchschauen, erkannte sie, dass er den zerbrechlichen Glauben an seinen Vater trug wie eine durchscheinende Rüstung, die ihn vor der Wahrheit schützte.

Irgendwo, dachte sie, hatte diese Rüstung einen Riss; mit den richtigen Worten konnte sie sie durchbrechen.

»Das ist lächerlich«, sagte er. »Ich bin nicht gestorben – es gab keine Knochen.«

»Oh doch.«

»Dann muss es ein Zauberglanz gewesen sein«, erwiderte er grob.

»Frag deinen Vater, was mit den Eltern seiner Frau geschehen ist«, sagte Clary und berührte seine Hand. »Und frag ihn, ob es ein Zauberglanz war …«

»Halt die Klappe!« Jace’ Selbstbeherrschung brach zusammen und er wandte sich gegen sie, fuchsteufelswild. Clary sah, wie Luke, irritiert durch den Lärm, einen kurzen Blick in ihre Richtung warf und wie Valentin diesen Moment der Ablenkung nutzte: Er tauchte unter Lukes Dolch hindurch und jagte ihm mit einem Stoß die Klinge seines Schwerts kurz unterhalb des Schlüsselbeins tief in die Brust.

Lukes Augen öffneten sich weit, eher überrascht als schmerzverzerrt. Valentin zog sein Schwert zurück, das bis zum Griff rötlich glänzte. Mit einem kurzen Lachen stieß er erneut zu und dieses Mal fiel der Dolch aus Lukes Hand und schlug klirrend auf dem Boden auf. Valentin schob die Waffe mit dem Fuß beiseite; sie rutschte unter den Tisch, während Luke zusammenbrach.

Valentin hob das schwarze Schwert hoch über Lukes hilflosen Körper, bereit, ihm den Todesstoß zu versetzen. Die silbernen Sterne auf der Klinge glitzerten und einen schrecklichen, scheinbar unendlich langen Augenblick fragte Clary sich, wie etwas so Tödliches so schön sein konnte.

Noch ehe sie selbst wusste, was sie tun würde, wirbelte Jace zu ihr herum – als ob er ahnte, was sie vorhatte. »Clary …« Der unendlich lange Augenblick war vorüber. Clary entwand sich Jace’ Griff, tauchte unter seinen nachfassenden

Händen hindurch und rannte über den Steinfußboden zu Luke. Er lag auf dem Boden und versuchte, sich mit einem Arm hochzudrücken.

Clary warf sich genau in dem Moment über ihn, als Valentins Schwert abwärtsstieß.

Als das Schwert auf sie zuschoss, sah sie Valentin in die Augen – es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, auch wenn es in Wahrheit nur den Bruchteil einer Sekunde dauerte. Sie sah, dass er den Stoß hätte abbrechen können, wenn er es gewollt hätte; sah, dass er genau wusste, er würde sie ebenfalls damit durchbohren; sah, dass es ihm völlig egal war.

Schützend hielt sie sich die Hände vors Gesicht, kniff die Augen zusammen …

Es klirrte. Sie hörte Valentin aufschreien, öffnete die Augen und sah, dass seine Schwerthand plötzlich leer war und blutete. Der kindjal mit dem roten Knauf lag einige Meter entfernt auf dem Steinboden, neben ihm das schwarze Schwert. Erstaunt wandte sie sich um, sah Jace an der Tür stehen, den Arm immer noch erhoben, und begriff plötzlich, dass er den Dolch mit genug Kraft geworfen haben musste, um seinem Vater das schwarze Schwert aus der Hand zu schlagen.

Leichenblass ließ er den Arm sinken, die Augen unverwandt auf Valentin gerichtet, weit aufgerissen und flehend. »Vater, ich …«

Valentin schaute auf seine blutende Hand und Clary sah, wie seine Züge sich einen winzigen Augenblick vor Wut verzerrten und dann wieder glätteten – so, als ob eine Kerze aufflackernd erlosch. Dann sagte er milde: »Das war ein

hervorragender Wurf, Jace.«

Jace zögerte. »Aber deine Hand – ich dachte, du …« »Ich hätte deiner Schwester nichts zuleide getan«, sagte Valentin, während er rasch zu seinem Schwert und dem kindjal mit dem roten Knauf ging und beide aufhob. »Ich hätte den Stoß natürlich abgebremst«, fuhr er fort und schob sich den Dolch in den Gürtel. »Aber die Sorge um deine Familie ist lobenswert.«

Lügner. Aber Clary hatte keine Zeit für Valentins Verdrehung der Tatsachen; sie wandte sich Luke zu und spürte, wie ihr übel wurde. Luke lag auf dem Rücken, die Augen halb geschlossen, und sein Atem ging stoßweise. Über dem Loch in seinem zerrissenen Hemd bildeten sich Blutblasen. »Ich brauche einen Verband«, rief Clary erstickt. »Ein Tuch, irgendwas.«

»Bleib, wo du bist, Jonathan«, sagte Valentin mit stahlharter Stimme und Jace, der bereits in seine Tasche hatte greifen wollen, erstarrte mitten in der Bewegung. »Clarissa«, fuhr Valentin fort, seine Stimme so ölig wie ein in Butter getauchtes Schwert, »dieser Mann ist ein Feind unserer Familie, ein Feind des Rats. Wir sind Jäger und das bedeutet, dass wir manchmal töten müssen. Das verstehst du doch?«

»Dämonenjäger«, erwiderte Clary. »Dämonentöter. Aber keine Mörder. Das ist ein Unterschied.«

»Aber er ist ein Dämon, Clarissa«, sagte Valentin, mit der gleichen sanften Stimme wie zuvor. »Ein Dämon mit dem Gesicht eines Menschen. Ich weiß, wie trügerisch solche Monster sein können – ich selbst verschonte ihn, wie du weißt.« »Monster?«, wiederholte Clary. Sie dachte an Luke, der sie als Fünfjährige auf der Schaukel angeschubst hatte, höher und immer höher; Luke am Tag ihrer Einschulung, der mit gezückter Kamera ein Foto nach dem anderen schoss, wie ein stolzer Vater; Luke, der jeden Bücherkarton, der in seinem Laden eintraf, gründlich durchforstete, immer auf der Suche nach einem Buch, das ihr gefallen und das er beiseitelegen konnte. Luke, der sie hochhob, damit sie Äpfel von den Bäumen auf seiner Farm pflücken konnte. Luke, dessen Platz als Vater nun der Mann einzunehmen versuchte, der vor ihr stand. »Luke ist kein Monster«, konterte sie mit einer Stimme, die Valentins in nichts nachstand – Stahl traf auf Stahl. »Oder ein Mörder. Ganz im Gegensatz zu dir.«

»Clary!«, rief Jace.

Clary beachtete ihn nicht; ihr Blick bohrte sich in Valentins kalte schwarze Augen. »Du hast die Eltern deiner Frau umgebracht – hast sie nicht während eines Kampf getötet, sondern kaltblütig ermordet. Und ich wette, du hast auch Michael Wayland und seinen kleinen Jungen umgebracht. Hast ihre Knochen zu denen meiner Großeltern geworfen, damit meine Mutter glaubte, Jace und du wären tot. Hast deine Halskette um Michael Waylands Hals gelegt, bevor du ihn verbrannt hast, damit alle annahmen, seine Knochen wären deine. Und dann dieses ganze Gerede über unbesudeltes Blut – als du sie umgebracht hast, waren dir ihr Blut und ihre Unschuld doch völlig egal! Kinder und alte Leute kaltblütig ermorden … so etwas nenne ich monströs.« Erneut verzerrten sich Valentins Züge vor Wut. »Das reicht!«, brüllte er, hob sein schwarzes Schwert ein weiteres Mal an und Clary vernahm in seiner Stimme die Wahrheit dessen, was er wirklich war, erkannte die Wut, die ihn sein ganzes Leben lang beherrscht hatte – jene immerwährende, tief in ihm brodelnde Wut. »Jonathan! Bring deine Schwester hier weg oder ich schwöre beim Erzengel, ich schlage sie nieder, ehe ich dieses Monster töte, welches sie zu schützen versucht!« Einen winzigen Moment lang zögerte Jace; dann hob er den Kopf. »Sofort, Vater«, sagte er und ging durch den Raum auf Clary zu. Noch bevor sie die Arme heben konnte, um ihn abzuwehren, hatte er sie grob an den Handgelenken gepackt, riss sie auf die Füße und zerrte sie von Luke weg.

»Jace«, flüsterte sie entsetzt.

»Nicht«, sagte er. Seine Finger gruben sich schmerzhaft in ihre Unterarme. Er roch nach Wein und Metall und Schweiß.

»Kein Wort mehr.«

»Aber …«

»Ich sagte: Kein Wort!« Er schüttelte sie grob. Sie stolperte, fing sich wieder und schaute hinüber zu Valentin, der triumphierend über Lukes zusammengesunkenem Körper stand. Mit der Spitze seines eleganten Stiefels stieß er Luke in die Seite, worauf dieser einen erstickten Laut von sich gab. »Lass ihn in Ruhe!«, schrie Clary und versuchte, sich aus Jace’ Griff loszureißen, doch ohne Erfolg – er war viel zu stark für sie.

»Hör auf«, zischte er ihr ins Ohr. »Du machst es dir selbst nur noch schwerer. Es ist besser, wenn du nicht hinsiehst.« »So wie du?«, zischte sie zurück. »Einfach die Augen vor etwas verschließen und so tun, als ob es gar nicht passierte, macht es nicht ungeschehen, Jace. Das solltest du eigentlich am besten wissen …«

»Clary, hör auf damit.« Der Ton seiner Stimme ließ sie fast innehalten – so verzweifelt klang er.

Valentin lachte leise. »Hätte ich nur daran gedacht, eine Klinge aus reinem Silber mitzubringen, Lucian – dann hätte ich dich auf die Art und Weise ins Jenseits befördern können, die deiner Art gebührt.«

Luke knurrte etwas, das Clary nicht verstand. Sie hoffte nur, dass es eine Gemeinheit war. Erneut versuchte sie, sich aus Jace’ Griff zu befreien; dabei rutschte sie aus und er fing ihren Sturz ab, zog sie mit ungeheurer Kraft wieder zu sich heran.

Endlich legte er seine Arme um sie, dachte sie – doch nicht so wie erhofft, sondern auf eine Art, die sie nie für möglich gehalten hätte.

»Lass mich wenigstens aufstehen«, sagte Luke. »Lass mich aufrecht sterben.«

Valentin schaute über sein Schwert hinweg auf ihn hinab und zuckte die Achseln. »Du kannst auf dem Rücken sterben oder auf deinen Knien«, erwiderte er. »Aber nur ein Mann verdient es, stehend zu sterben – und du bist keiner.« »Nein!«, schrie Clary, während Luke unter großen Schmerzen versuchte, sich hinzuknien.

»Warum musst du es dir selbst so schwer machen?«, fragte Jace leise und angespannt. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht hinschauen.«

Sie keuchte vor Anstrengung und Schmerz. »Warum belügst du dich selbst?«

»Ich lüge nicht!« Seine Hände umklammerten sie mit brutaler Kraft, obwohl sie gar nicht versucht hatte, sich zu befreien. »Ich will nur das Gute in meinem Leben behalten … meinen Vater … meine Familie … ich kann sie nicht noch einmal verlieren.«

Luke kniete inzwischen mit aufrechtem Oberkörper und Valentin hob das blutbefleckte Schwert. Luke hielt die Augen geschlossen und murmelte irgendetwas: ein paar Worte, ein Gebet, Clary wusste es nicht. Verzweifelt wand sie sich in Jace’ Armen hin und her, bis sie ihm ins Gesicht schauen konnte.

Seine Lippen waren nur ein dünner Strich, sein ganzes Gesicht angespannt, aber seine Augen …

Die Rüstung zeigte erste Risse; sie brauchte nur noch einen letzten Stoß und Clary suchte nach den richtigen Worten. »Du hast eine Familie«, sagte sie. »Deine Familie, das sind die Menschen, die dich lieben – wie die Lightwoods, Alec, Isabelle …« Ihre Stimme brach. »Luke ist meine Familie und du zwingst mich dazu, seinen Tod mit anzusehen, so wie du als Zehnjähriger den angeblichen Tod deines Vaters mit ansehen musstest? Ist es das, was du willst, Jace? Ist das die Art von Mann, die du sein willst? So wie …«

Sie hielt inne, plötzlich erschreckt von dem Gedanken, dass sie vielleicht zu weit gegangen sei.

»Wie mein Vater«, sagte er.

Seine Stimme klang eiskalt und distanziert, flach wie eine Rasierklinge. Ich habe ihn verloren, dachte sie verzweifelt. »Runter mit dir«, sagte er und stieß sie grob von sich. Sie stolperte, fiel zu Boden und überschlug sich. Als sie wieder auf die Knie kam, sah sie, wie Valentin sein Schwert hoch über den Kopf hob. Das Licht des Kronleuchters brachte die Klinge zum Funkeln und seine Reflexionen explodierten wie kleine Lichtblitze vor ihren Augen. »Luke!«, schrie sie gellend. Die Klinge stieß ruckartig abwärts – in den Boden. Luke war verschwunden. Jace, der sich schneller bewegt hatte, als Clary es selbst für einen Schattenjäger für möglich gehalten hätte, hatte ihn aus dem Weg gestoßen, wodurch er einige Meter über das Parkett geschleudert worden war. Nun stand Jace seinem Vater gegenüber und blickte ihn über das zitternde Heft des Schwerts hinweg an, leichenblass, aber mit festem Blick.

»Du solltest jetzt besser gehen«, sagte er.

Valentin starrte seinen Sohn ungläubig an. »Was hast du gerade gesagt?«

Luke war es gelungen, sich aufzusetzen; frisches Blut durchtränkte sein Hemd. Er starrte Jace an, der eine Hand ausstreckte und sanft, beinahe desinteressiert den Griff des Schwerts streichelte, das noch immer im Boden steckte, »ich glaube, du hast mich verstanden, Vater.«

Valentins Stimme klang schneidend wie ein Peitschenhieb.

»Jonathan Morgenstern…«

Blitzschnell umfasste Jace den Griff des Schwerts, zog es ruckartig aus den Bodendielen und hob es an. Er hielt es locker, ausbalanciert, mit der breiten Seite nach oben, sodass die Schwertspitze nur Zentimeter unter dem Kinn seines Vaters schwebte. »Das ist nicht mein Name«, erwiderte er.

»Ich heiße Jace Wayland.«

Valentins Augen waren unverwandt auf Jace gerichtet; er schien das Schwert an seiner Kehle kaum wahrzunehmen.

»Wayland?«, brüllte er. »Du hast keinen Tropfen WaylandBlutes in dir! Michael Wayland ist ein Fremder für dich …« »Genau wie du«, sagte Jace ruhig. Dann ließ er das Schwert sinken. »Und jetzt geh.«

Valentin schüttelte den Kopf. »Niemals. Ich nehme keine Befehle von einem Halbstarken entgegen.«

Die Schwertspitze zuckte hoch und berührte Valentin an der Kehle. Mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen beobachtete Clary die Szene. »Ich bin ein sehr gut ausgebildeter Halbstarker«, sagte Jace. »Du selbst hast mich die hohe Kunst des Tötens gelehrt. Ist dir bewusst, dass ich nur zwei Finger bewegen muss, um dir die Kehle aufzuschlitzen?« Seine Augen funkelten eiskalt. »Ganz bestimmt ist es das.« »Du magst zwar gut ausgebildet sein«, meinte Valentin abschätzig, bewegte sich jedoch keinen Millimeter, »aber du bist nicht fähig, mich zu töten. Du hattest immer schon ein weiches Herz.«

»Er ist vielleicht nicht fähig dazu«, erwiderte Luke, der inzwischen wieder aufrecht stand, bleich und blutig, »aber ich bin es.

Und ich bin mir nicht sicher, ob er mich aufhalten könnte.« Valentins Augen zuckten fieberhaft zwischen Luke und seinem Sohn hin und her. Als Luke sprach, hatte Jace sich nicht umgedreht, sondern war reglos wie eine Statue stehen geblieben; sein Schwert hatte sich keinen Zentimeter bewegt.

»Hörst du, wie dieses Monster mir droht, Jonathan?«, fragte Valentin. »Und du stellst dich auf seine Seite?«

»Er hat nicht unrecht«, sagte Jace sanft. »Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich ihn aufhalten könnte, wenn er dich angreift. Werwölfe regenieren sich so schnell.«

Valentin verzog verächtlich das Gesicht. »Also ziehst du diese Kreatur, diesen halbblütigen Dämon deinem eigenen Blut, deiner eigenen Familie vor – so wie deine Mutter?« Zum ersten Mal schien das Schwert in Jace’ Hand leicht zu zittern. »Du hast mich verlassen, als ich ein Kind war«, sagte er mit fester Stimme. »Du hast mich glauben lassen, du wärst tot, und mich fortgeschickt, damit ich bei Fremden aufwachse. Du hast mir nie gesagt, dass ich eine Mutter habe und eine Schwester. Du hast mich zurückgelassen und zwar allein.« Das letzte Wort klang wie ein Aufschrei.

»Ich habe es für dich getan – zu deiner eigenen Sicherheit«, widersprach Valentin.

»Wenn Jace dir etwas bedeuten würde, wenn Blutsbande dir etwas bedeuten würden, hättest du seine Großeltern nicht umgebracht. Du hast unschuldige Menschen ermordet«, warf Clary wütend ein.

»Unschuldig?«, zischte Valentin. »In einem Krieg gibt es keine Unschuldigen! Sie haben sich mit Jocelyn gegen mich gestellt! Sie hätten zugelassen, dass sie meinen Sohn mitnimmt!«

»Das heißt, du wusstest, dass sie dich verlassen wollte?«, stieß Luke hervor. »Du wusstest, dass sie fliehen wollte, schon vor dem Aufstand?«

»Natürlich habe ich es gewusst!«, brüllte Valentin. Seine kühle, beherrschte Maske hatte Risse bekommen und jetzt konnte Clary die unbändige Wut sehen, die dahinter tobte, die die Sehnen an seinem Hals hervortreten und ihn die Hände zu Fäusten ballen ließ. »Ich tat, was ich tun musste, um mein Eigentum zu schützen, und am Schluss schenkte ich ihnen mehr, als sie je verdient hatten: einen Scheiterhaufen, wie er nur den größten Kriegern des Rats zugestanden wird!« »Du hast sie verbrannt«, sagte Clary mit ausdrucksloser Stimme.

»Ja!«, brüllte Valentin. »Ich habe sie verbrannt!«

»Meine Großeltern …«, murmelte Jace halb erstickt. »Du hast sie doch nie kennengelernt«, erwiderte Valentin.

»Täusch doch keinen Kummer vor, den du nicht fühlst.« Die Schwertspitze zitterte immer heftiger. Luke legte eine Hand auf Jace’ Schulter. »Ganz ruhig«, sagte er.

Jace schaute ihn nicht an. Er atmete so schwer wie nach einem langen Lauf. Clary sah, dass Schweiß auf seinen Schulterblättern schimmerte und sein Haar an den Schläfen klebte. Die Adern auf seinen Handrücken traten deutlich hervor. Er wird ihn umbringen, dachte sie. Er wird Valentin töten.

Schnell machte sie einen Schritt nach vorn. »Jace – wir brauchen den Kelch. Du weißt, was er sonst damit tun wird.« Jace leckte sich die trockenen Lippen. »Der Kelch, Vater. Wo ist er?«

»In Idris«, entgegnete Valentin kühl. »Wo ihr ihn nie finden werdet.«

Jace’ Hand zitterte. »Sag mir …«

»Gib mir das Schwert Jonathan«, sagte Luke ruhig, beinahe freundlich.

Jace’ Stimme klang, als würde er auf dem Boden eines tiefen Brunnenschachts stehen. »Was?«

Clary kam noch einen Schritt näher. »Gib Luke das Schwert, Jace.«

Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht.«

Sie machte einen weiteren Schritt auf ihn zu – noch ein Schritt und sie würde ihn berühren können. »Doch, du kannst es«, sagte sie sanft. »Bitte.«

Er schaute sie nicht an; seine Augen blieben unverwandt auf das Gesicht seines Vaters gerichtet. Der Augenblick schien sich unendlich lange hinzuziehen. Schließlich nickte er kurz, ohne jedoch den Arm zu senken. Aber er ließ zu, dass Luke sich neben ihn stellte und seine Hand auf Jace’ Schwerthand legte.

»Du kannst jetzt loslassen, Jonathan«, sagte Luke – und korrigierte sich nach einem Blick in Clarys Gesicht: »Jace.«

Jace schien ihn nicht gehört zu haben. Er löste seinen Griff um das Schwert und bewegte sich von seinem Vater weg. Sein Gesicht hatte inzwischen wieder etwas Farbe angenommen und wirkte nicht mehr völlig aschfahl, seine Lippe blutete an einer Stelle, wo er sie aufgebissen hatte. Clary drängte es danach, ihn zu berühren, ihre Arme um ihn zu legen; doch sie wusste, dass er das nicht zugelassen hätte.

»Ich mache dir einen Vorschlag«, wandte Valentin sich in überraschend ausgeglichenem Ton an Luke.

»Lass mich raten«, sagte Luke. »Er lautet ›Töte mich nicht‹, richtig?«

Valentin lachte freudlos. »Ich würde mich wohl kaum so weit erniedrigen, dich um mein Leben anzuflehen.«

»Gut«, sagte Luke und hob Valentins Kinn mit der Schwertspitze leicht an. »Ich habe nicht vor, dich zu töten, außer, du zwingst mich dazu. Ich will dich nicht vor deinen eigenen Kindern umbringen müssen. Mir geht es nur um den Kelch.«

Der Lärm von unten wurde langsam lauter und Clary glaubte, Schritte im Flur vor der Tür zu hören. »Luke …«

»Ich höre es«, antwortete er knapp.

»Der Kelch ist in Idris, das habe ich doch schon gesagt«, beteuerte Valentin und seine Augen blickten nervös an Luke vorbei zur Tür.

Luke schwitzte. »Wenn er in Idris ist, hast du das Portal genutzt, um ihn dorthin zu bringen. Ich gehe mit dir und wir holen ihn zurück.« Lukes Augen zuckten nun ebenfalls unruhig hin und her. Inzwischen waren die Geräusche im Flur immer lauter geworden – man hörte Rufe und irgendetwas zerbrach auf dem Boden. »Clary, du bleibst bei deinem Bruder. Wenn wir durch das Portal gegangen sind, benutzt es ebenfalls, um euch an einen sicheren Ort zu bringen.«

»Ich gehe hier nicht weg«, sagte Jace.

»Oh doch, das wirst du.« Irgendetwas prallte gegen die Tür. »Valentin, das Portal. Vorwärts«, befahl Luke mit lauter Stimme.

»Oder was?« Valentin warf lauernde Blicke in Richtung Tür.

»Oder ich töte dich, solltest du mich dazu zwingen«, sagte Luke. »Vor ihren Augen, wenn es sein muss. Das Portal, Valentin. Sofort.«

Valentin hob seine Hände. »Ganz, wie du willst.«

Er machte genau in dem Moment einen Schritt zurück, als die Tür zersplitterte und ihre Angeln quer durch den Raum schlitterten. Luke duckte sich instinktiv, um nicht von den entgegenstürzenden Teilen getroffen zu werden, und drehte sich, das Schwert noch immer in der Hand.

Ein Wolf stand in der Tür – ein Gebirge aus knurrendem, grau meliertem Pelz, die Schultern nach vorn gewölbt, die Lefzen weit hinter die gebleckten Zähne zurückgezogen. Blut floss aus unzähligen klaffenden Wunden in seinem Pelz.

Jace fluchte leise. Eine Seraphklinge lag bereits in seiner Hand, als Clary ihn am Handgelenk zu fassen bekam. »Nicht – er ist ein Freund.«

Jace warf ihr einen skeptischen Blick zu, ließ aber den Arm sinken.

»Alaric …« Luke rief ihm etwas zu, in einer Sprache, die Clary nicht verstand. Alaric knurrte erneut und duckte sich zu Boden und einen kurzen, verwirrten Augenblick lang glaubte sie, er wolle sich auf Luke stürzen. Doch dann sah sie Valentins Hand zum Gürtel fahren, gefolgt von einem Blitz aus roten Juwelen, und ihr fiel ein, dass Valentin immer noch Jace’ Dolch hatte.

Sie hörte, wie jemand Lukes Namen rief, und dachte, sie sei es selbst gewesen – bis ihr auffiel, dass ihre Kehle wie zugeschnürt war und es Jace gewesen sein musste, der gerufen hatte.

Luke drehte sich um – quälend langsam, wie es Clary schien –, doch der Dolch hatte schon Valentins Hand verlassen und wirbelte auf ihn zu wie ein silbernes Rad. Luke riss das Schwert hoch – und plötzlich warf sich etwas Riesiges und Graumeliertes zwischen ihn und Valentin. Sie hörte Alaric aufheulen; dann brach das Heulen plötzlich ab, als die Klinge ihr Ziel traf. Clary schnappte nach Luft und versuchte, in Lukes Richtung zu stürzen, doch Jace zog sie zurück.

Der Wolf krümmte sich zu Lukes Füßen; auf seinem Fell breitete sich ein großer Blutfleck aus. Verzweifelt versuchte Alaric, mit seinen Klauen den Dolch zu packen, der bis zum Heft in seiner Brust steckte.

Valentin lachte. »Auf diese Weise vergiltst du also die bedingungslose Loyalität, die du dir so billig erkauft hast, Lucian«, sagte er. »Indem du sie für dich sterben lässt.« Er wich zurück, die Augen unverwandt auf Luke gerichtet.

Leichenblass starrte Luke erst ihn, dann Alaric an, der zu seinen Füßen lag; schließlich schüttelte er den Kopf, fiel auf die Knie und beugte sich über den sterbenden Werwolf. Jace, der Clary noch immer an den Schultern festhielt, zischte: »Bleib hier, hörst du mich? Bleib hier.« Dann setzte er Valentin nach, der mit unerklärlicher Hast in Richtung der rückwärtigen Wand zurückwich. Hatte er etwa vor, sich aus dem Fenster zu stürzen? Clary erblickte sein Spiegelbild in dem großen Spiegel mit Gold rahmen und der Ausdruck auf seinem Gesicht – eine Art höhnischer Erleichterung – erfüllte sie mit wilder Wut.

»Einen Teufel werde ich tun«, murmelte sie und folgte Jace. Sie hielt nur kurz inne, um den kindjal mit dem blauen Griff aufzuheben, den Valentin mit dem Fuß unter den Tisch geschoben hatte. Die Waffe lag warm und beruhigend in ihrer Hand, während sie einen umgestürzten Stuhl aus dem Weg schob und langsam auf den Spiegel zuging.

Jace hatte die Seraphklinge gezückt und ihr helles, aufwärtsgerichtetes Licht ließ die Ringe unter seinen Augen und seine eingefallenen Wangen noch stärker hervortreten als zuvor. Valentin hatte sich umgewandt und stand jetzt im Schein der Klinge mit dem Rücken zum Spiegel. Clary konnte auch Luke darin erkennen; sie sah im Spiegelbild, dass er sein Schwert weggelegt hatte und sanft und vorsichtig den kindjal mit dem roten Knauf aus Alarics Brust zog. Ihr wurde heiß und sie umfasste den Griff ihres eigenen Dolchs fester. »Jace …«, sagte sie.

Er drehte sich nicht zu ihr um, blickte jedoch in den Spiegel in Richtung ihrer Reflexion. »Clary, ich hab dir doch gesagt, du sollst zurückbleiben.«

»Sie ist genau wie ihre Mutter«, meinte Valentin; mit einer Hand hinter dem Rücken, tastete er den schweren vergoldeten Rahmen des Spiegels ab. »Die tut auch nie das, was man ihr sagt.«

Jace zitterte zwar nicht mehr so stark wie vorhin, doch Clary spürte, dass er angespannt war wie das Fell einer Trommel. »Ich werde mit ihm nach Idris gehen, Clary. Ich bringe den Kelch zurück.«

»Das kannst du nicht machen«, setzte Clary an und sah im Spiegel, wie sich sein Gesicht verzog.

»Hast du vielleicht eine bessere Idee?«, konterte er.

»Aber Luke …«

»Lucian«, berichtigte Valentin in seidenweichem Ton, »kümmert sich gerade um einen gefallenen Kameraden. Und was den Kelch angeht und Idris, so sind beide nicht weit. Im Spiegelreich sozusagen.«

Jace’ Augen verengten sich. »Der Spiegel ist das Portal?«

Valentins Mund wurde schmal; dann ließ er die Hand sinken und trat vom Spiegel zurück, dessen Oberfläche plötzlich zu verschwimmen begann wie feuchte Wasserfarben auf einer Leinwand. Statt des Saals mit seinem dunklen Holz und den vielen Kerzen sah Clary plötzlich grüne Felder, dicht belaubte smaragdgrüne Bäume und eine große Wiese, die in sanftem Schwung zu einem großen, steinernen Haus in der Ferne abfiel. Sie hörte Bienen summen, das Rascheln von Blättern im Wind und roch den Duft von Geißblatt, der mit der Brise herangetragen wurde.

»Ich sagte doch, es ist nicht weit.« Inzwischen war Valentin vor den Spiegel getreten, der sich in eine Art goldumrahmten Torbogen verwandelt hatte; sein Haar flatterte im selben Wind, der auch die Blätter an den weit entfernten Bäumen rascheln ließ. »Ist es so, wie du es in Erinnerung hast, Jonathan? Hat sich irgendetwas verändert?«

Clarys Herz zog sich zusammen. Zweifellos war dies Jace’ frühere Heimat, mit der er in Versuchung gebracht werden sollte, wie man ein Kind mit Süßigkeiten oder einem Spielzeug in Versuchung bringt. Sie schaute zu ihm hinüber, doch er schien sie überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Er starrte auf das Portal und auf das dahinterliegende Panorama, die grünen Weiden und das große Haus. Sie sah, wie sein Gesicht weicher wurde, sah den melancholischen Zug um seinen Mund, als ob er jemanden anschaute, den er liebte.

»Du kannst immer noch nach Hause zurückkehren«, sagte sein Vater. Das Licht der Seraphklinge in Jace’ Hand ließ seinen Schatten auf das Portal fallen und verdunkelte die grünen Felder und sanft geschwungenen Wiesen.

Das Lächeln verschwand von Jace’ Lippen. »Es ist nicht mehr mein Zuhause«, sagte er. »Ich bin jetzt hier zu Hause.«

Mit heiß lodernder Wut in den Augen schaute Valentin seinen Sohn an. Clary würde diesen Blick nie vergessen; sie sehnte sich plötzlich heftig nach ihrer Mutter. Denn ganz egal, wie zornig ihre Mutter auf sie gewesen war, Jocelyn hatte sie niemals auf diese Weise angeschaut – aus ihren Augen hatte immer nur Liebe gesprochen.

Wenn sie nicht schon voller Mitleid für Jace gewesen wäre, hätte sie es spätestens in diesem Moment empfunden.

»Wie du willst«, sagte Valentin und machte einen schnellen Schritt rückwärts durch das Portal, sodass seine Füße den Boden von Idris berührten. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ah«, sagte er, »die Heimat.« Jace stürzte auf den Rand des Portals zu, fing sich aber mit einer Hand am Rahmen ab. Ein seltsames Zögern sprach aus seiner Haltung, obwohl Idris lockte wie eine Fata Morgana in der Wüste. Er musste nur noch einen Schritt tun …

»Jace, nicht«, sagte Clary schnell. »Versuch nicht, ihm zu folgen.«

»Aber der Kelch«, murmelte Jace. Clary hätte nicht sagen können, was er in diesem Augenblick dachte, doch die Klinge in seiner Hand zitterte heftig.

»Lass das den Rat machen! Jace, bitte.« Wenn du durch das Portal gehst, wirst du nie wieder zurückkommen. Valentin wird dich töten – auch wenn du es nicht glauben willst, er wird es tun.

»Deine Schwester hat recht.« Valentin stand inmitten von grünem Gras und Wildblumen; Blattlaub kräuselte sich zu seinen Füßen und Clary wurde plötzlich bewusst, dass er und sie, obwohl nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, in zwei unterschiedlichen Ländern standen. »Glaubst du wirklich, dass du eine Chance gegen mich hättest? Selbst mit deiner Seraphklinge und obwohl ich unbewaffnet bin? Ich bin nicht nur stärker als du, ich bezweifle auch, dass du es in dir hast, mich zu töten. Und du wärst gezwungen, mich zu töten, Jonathan, bevor ich dir den Kelch überlasse.«

Jace’ Hand verkrampfte sich um das Heft seiner Engelsklinge. »Ich kann …«

»Nein, das kannst du nicht.« Valentin griff plötzlich durch das Portal, packte Jace am Handgelenk und zog seinen Arm auf ihn zu, bis die Spitze der Seraphklinge seine Brust berührte. An der Stelle, an der Jace’ Hand und Arm durch das Portal reichten, schienen sie zu schimmern wie unter einer Wasseroberfläche. »Komm schon«, sagte Valentin. »Stoß mit der Klinge zu. Zehn Zentimeter reichen, vielleicht fünfzehn.« Ruckartig zog er die Klinge in seine Richtung, bis die Spitze den Stoff seines Hemds durchtrennte. Genau über seinem Herzen erschien ein roter Kreis, wie eine Mohnblüte. Jace keuchte, riss seinen Arm los und taumelte zurück.

»Genau wie ich es mir gedacht habe«, sagte Valentin. »Viel zu weichherzig.« Dann schlug er blitzschnell mit geballter Faust in Jace’ Richtung. Clary schrie auf, doch der Schlag erreichte sein Ziel nicht – stattdessen traf er die Oberfläche des Portals zwischen ihnen. Es klang so, als ob Tausende kleiner Gegenstände zerbrechen würden; dann erschien ein Netz winziger Risse auf dem Glas, das kein Glas war, und das Letzte, was Clary hörte, ehe das Portal in einem Regen spitzer Scherben zerfiel, war Valentins höhnisches Gelächter.


Die Splitter strömten über den Boden wie ein Schauer aus Eis, eine Kaskade silberner Spiegelbilder von seltsamer Schönheit. Clary machte unwillkürlich einen Schritt zurück, doch Jace blieb regungslos inmitten des gläsernen Schauers stehen und starrte den leeren Spiegelrahmen an.

Clary hatte angenommen, er würde explodieren, seinem Vater etwas nachschreien oder ihn verfluchen, doch stattdessen stand er nur da, bis die letzten Scherben zu Boden gefallen waren. Danach kniete er sich schweigend hin, suchte vorsichtig in dem Wirrwarr aus zerbrochenem Glas ein größeres Stück heraus und drehte es langsam in den Händen.

»Nicht.« Clary kniete neben ihm nieder und legte den Dolch auf den Boden, den sie noch immer in der Hand hielt. Das beruhigende Gefühl, das die Waffe ihr gegeben hatte, war verschwunden. »Du hättest nichts tun können, um ihn aufzuhalten.«

»Doch, das hätte ich.« Jace starrte noch immer auf die Spiegelscherbe. Glassplitter glitzerten in seinen Haaren. »Ich hätte ihn töten können.« Er drehte das Bruchstück, sodass sie hineinschauen konnte. »Hier, sieh mal«, sagte er.

Clary warf einen Blick in die Scherbe und sah Teile von Idris – ein Stückchen blauen Himmel, den Schatten von grünen Blättern. Sie stieß einen gequälten Seufzer aus. »Jace …«

»Alles in Ordnung?«

Clary schaute hoch. Es war Luke, der sich über sie beugte. Er war unbewaffnet und hatte tiefe dunkle Ringe unter den Augen. »Mit uns ist alles in Ordnung«, erwiderte sie. Hinter ihm erkannte sie eine gekrümmte Gestalt auf dem Boden, halb bedeckt von Valentins langem Mantel. Eine Hand mit spitzen Klauen ragte unter dem Saum heraus. »Alaric …?«

»Er ist tot«, sagte Luke. Seine Stimme klang schmerzerfüllt. Clary wusste, auch wenn er Alaric kaum gekannt hatte, würde die schwere Last der Schuld ihn für immer begleiten. Auf diese Weise vergiltst du also die bedingungslose Loyalität, die du dir so billig erkauft hast, Lucian. Indem du sie für dich sterben lässt.

»Mein Vater ist entkommen. Mit dem Kelch«, murmelte Jace matt. »Wir haben ihm den Kelch regelrecht in die Hände gespielt. Ich habe versagt.«

Luke legte eine Hand auf Jace’ Schulter, fegte ein paar Glassplitter beiseite. Seine Krallen waren noch immer ausgefahren und blutverschmiert, doch Jace nahm die Berührung wortlos hin, als störte es ihn nicht im Geringsten. »Es ist nicht deine Schuld«, widersprach Luke und schaute Clary an. Seine blauen Augen wirkten ruhig und schienen zu sagen: Dein Bruder braucht dich jetzt; bleib bei ihm.

Clary nickte. Luke ging zum Fenster und stieß es auf. Eine starke Brise frischer Luft strömte in den Saal und ließ die Kerzen flackern. Clary hörte, wie er den unten versammelten Wölfen etwas zurief.

Sie wandte sich wieder Jace zu. »Alles wird gut«, sagte sie zögernd, obwohl sie wusste, dass das möglicherweise nicht stimmte, und legte eine Hand auf seine Schulter. Der Stoff seines Hemdes fühlte sich rau und schweißdurchtränkt an, irgendwie seltsam beruhigend. »Wir haben meine Mutter wieder. Wir haben dich. Wir haben alles, was wirklich wichtig ist.«

»Er hatte recht. Deshalb konnte ich mich auch nicht dazu überwinden, durch das Portal zu gehen«, flüsterte Jace. »Ich konnte es einfach nicht. Ich konnte ihn nicht töten.«

»Du hättest nur dann wahrhaftig versagt, wenn du es getan hättest – wenn du ihn getötet hättest«, entgegnete Clary.

Er erwiderte nichts darauf, murmelte nur leise etwas vor sich hin, das sie nicht verstehen konnte. Sie beugte sich vor und nahm ihm den Glassplitter aus der Hand. Er blutete aus zwei feinen Schnittwunden, die die Scherbe in seiner Handfläche hinterlassen hatte. Sie legte das Bruchstück beiseite, nahm behutsam seine Hand und schloss seine Finger über der verletzten Haut. »Also ehrlich, Jace«, tadelte sie ihn milde, »du solltest doch wissen, dass man nicht mit Glasscherben spielt.«

Er stieß einen Laut hervor, der wie ein unterdrücktes Lachen klang, und zog sie in seine Arme. Clary wusste, dass Luke sie vom Fenster aus beobachtete, doch sie kniff entschlossen die Augen zu und vergrub ihr Gesicht in Jace’ Schulter. Er roch nach Salz und Blut, und erst als sein Mund dicht an ihrem Ohr war, verstand sie, was er da sagte, was er die ganze Zeit vor sich hin gemurmelt hatte wie eine Beschwörung: ihren Namen, immer wieder ihren Namen.

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