Facilis descensus Averni:
Noctes atque dies patet atri ianua Ditis. Sed gradium revocare superasque evadere ad auras; Hoc opus, hic labor, est.
Der Abstieg zur Hölle ist leicht:
Tag und Nacht steht offen das Tor zum finsteren Pluto. Aber den Schritt zurück zu den himmlischen Lüften zu wenden, Das ist die schwierigste Kunst.
Einen Moment herrschte ungläubiges Schweigen, dann begannen Clary und Jace durcheinanderzureden.
»Valentin hatte eine Frau? Er war verheiratet? Ich dachte …«
»Das ist unmöglich! Meine Mutter würde nie … Sie war nur ein einziges Mal verheiratet, und zwar mit meinem Vater. Sie hatte keinen Exmann!«
Hodge hob abwehrend die Hände. »Kinder …«
»Ich bin kein Kind.« Clary wandte sich vom Tisch ab. »Und ich will nichts mehr hören.«
»Clary«, sagte Hodge. Die Freundlichkeit in seiner Stimme schmerzte sie. Langsam drehte sie sich um und schaute ihn an. Wie seltsam es doch war, dachte sie, dass er mit seinen grauen Haaren und seinem vernarbten Gesicht so viel älter wirkte als ihre Mutter. Und doch waren sie damals beide »junge Leute« gewesen, waren gemeinsam dem Kreis beigetreten und hatten beide Valentin gekannt. »Meine Mutter hätte niemals …«, setzte sie an, verstummte dann aber. Sie war sich nicht mehr sicher, wie gut sie Jocelyn wirklich kannte. Ihre Mutter war für sie zu einer Fremden geworden, einer Lügnerin, die Geheimnisse vor ihr verborgen hatte. Was hätte sie niemals getan?, fragte Clary sich.
»Deine Mutter hat den Kreis verlassen«, sagte Hodge. Er trat nicht auf sie zu, sondern beobachtete sie ruhig mit den wachen Augen eines Vogels von der anderen Seite des Raums aus. »Als wir erkannten, welch extreme Ansichten Valentin entwickelt hatte, als wir begriffen, wozu er bereit war, traten viele von uns aus. Lucian war der Erste. Das war ein schwerer Schlag für Valentin, denn die beiden standen sich sehr nahe.« Hodge schüttelte den Kopf. »Dann ging Michael Wayland. Dein Vater, Jace.«
Jace zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts.
»Und dann gab es noch diejenigen, die loyal blieben. Pangborn. Blackwell. Die Lightwoods …«
»Die Lightwoods? Du meinst Robert und Maryse?« Jace sah aus, als hätte ihn der Blitz getroffen. »Was ist mit dir? Wann bist du ausgetreten?«
»Gar nicht«, antwortete Hodge leise. »Ebenso wenig wie Robert und Maryse. Wir hatten Angst … Angst vor dem, was Valentin vielleicht tun würde. Nach dem Aufstand flohen die Loyalisten, wie Blackwell und Pangborn. Wir blieben und kooperierten mit dem Rat. Wir gaben ihnen Namen und halfen, diejenigen aufzuspüren, die geflohen waren. Dafür wurde uns eine mildere Strafe zuteil.«
»Milder?« Nur für einen Bruchteil blitzte in Jace’ Blick etwas auf, doch Hodge bemerkte es.
»Du denkst an den Fluch, der mich hier festhält, nicht wahr? Du hast immer geglaubt, es sei der Rachebann eines wütenden Dämons oder Hexenmeisters. Ich ließ dich in dem Glauben. Aber die Wahrheit sieht anders aus. Der Fluch, der mich bindet, wurde vom Rat ausgesprochen.«
»Dafür, dass du dem Kreis angehört hast?«, fragte Jace, die Augen vor Verblüffung weit aufgerissen.
»Dafür, dass ich ihn nicht vor dem Aufstand verlassen habe.«
»Aber die Lightwoods wurden nicht bestraft«, warf Clary ein. »Warum nicht? Sie haben schließlich das Gleiche getan wie Sie.«
»In ihrem Fall gab es mildernde Umstände: Sie waren verheiratet und hatten ein Kind. Aber es ist keineswegs so, dass sie aus freien Stücken an diesem abgelegenen Ort, fern der Heimat wohnen. Wir wurden hierher verbannt, wir drei – wir vier, sollte ich wohl sagen: Alec war noch ein Säugling, als wir die Gläserne Stadt verließen. Die Lightwoods dürfen ausschließlich in offiziellen Angelegenheiten nach Idris zurückkehren und auch das nur für kurze Zeit. Ich dagegen bin auf immer verbannt. Ich werde die Gläserne Stadt nie wiedersehen.«
Jace starrte seinen Lehrer an, als sähe er ihn mit neuen Augen, dachte Clary – doch es war nicht Jace, der sich verändert hatte. »Das Gesetz ist hart, aber es ist das Gesetz«, sagte er schließlich.
»Das habe ich dir beigebracht«, entgegnete Hodge versonnen. »Und jetzt erinnerst du mich an meine eigenen Lektionen. Recht so.« Er sah aus, als wolle er sich auf einen Stuhl sinken lassen, der in der Nähe stand, hielt sich aber aufrecht. Seine starre Haltung ließ etwas von dem Krieger erkennen, der er einst gewesen sein musste, dachte Clary.
»Warum haben Sie mir das nicht vorher gesagt?«, fragte sie. »Dass meine Mutter mit Valentin verheiratet war. Sie kannten ihren Namen …«
»Ich kannte sie als Jocelyn Fairchild, nicht als Jocelyn Fray«, erklärte Hodge. »Und da du so darauf beharrt hast, dass sie nichts von der Verborgenen Welt gewusst haben kann, war ich überzeugt, es könne nicht die Jocelyn sein, die ich kannte – und vielleicht wollte ich es auch nicht glauben. Niemand wünscht sich, dass Valentin zurückkehrt.« Erneut schüttelte er den Kopf. »Als ich heute Morgen nach den Stillen Brüdern in der Stadt der Gebeine schickte, hatte ich keine Ahnung, welche Nachrichten wir für sie haben würden. Wenn der Rat herausfindet, dass Valentin möglicherweise zurückgekehrt ist und dass er den Kelch sucht, dann wird es einen Aufruhr geben. Ich kann nur hoffen, dass das Abkommen dadurch nicht beeinträchtigt wird.«
»Ich wette, das würde Valentin gefallen«, sagte Jace. »Aber warum will er den Kelch unbedingt haben?«
Hodges Gesicht war grau. »Ist das denn nicht offensichtlich? Damit er eine eigene Armee aufstellen kann.«
Jace schaute verblüfft. »Aber das würde nie …«
»Abendessen!« Isabelle stand in der Tür zur Bibliothek. Sie hielt noch immer den Kochlöffel in der Hand, aber ihre Haare hatten sich aus dem Knoten gelöst und fielen ihr über Schultern und Rücken. »Entschuldigt, wenn ich euch unterbrochen habe«, sagte sie nachträglich.
»Gütiger Gott«, sagte Jace, »die Stunde der Prüfungen naht.«
Hodge schaute erschrocken. »Ich … ich hatte ein sehr reichhaltiges Frühstück«, stammelte er. »Ich meine Mittagessen. Ein reichhaltiges Mittagessen. Ich kann unmöglich etwas essen …«
»Ich habe die Suppe weggeschüttet und beim Chinesen in der Stadt etwas bestellt.«
Jace stand vom Schreibtisch auf und streckte sich. »Toll. Ich bin am Verhungern.«
»Ein bisschen könnte ich vielleicht auch noch essen«, gab Hodge kleinlaut zu.
»Ihr beide seid schreckliche Lügner«, erwiderte Isabelle finster. »Hört zu, ich weiß, dass ihr mein Essen nicht mögt …«
»Dann koch doch einfach nicht mehr«, riet Jace ihr. »Hast du Schweinefleisch Mu Shu bestellt? Ich liebe Schweinefleisch Mu Shu.«
Isabelle schaute genervt zur Decke. »Na klar. Steht alles in der Küche.«
»Super.« Jace schob sich an ihr vorbei und zerzauste ihr liebevoll die Haare. Hodge folgte ihm und blieb nur kurz stehen, um Isabelle die Schulter zu tätscheln, dann verschwand er, den Kopf auf komische Art entschuldigend eingezogen. War es wirklich möglich, dass Clary noch vor ein paar Minuten den Geist des Kriegers in ihm gesehen hatte, der er einmal gewesen war?
Isabelle schaute Jace und Hodge hinterher und drehte den Kochlöffel zwischen ihren vernarbten blassen Fingern.
»Ist er das wirklich?«, fragte Clary.
Isabelle sah sie nicht an. »Ist wer wirklich was?«
»Jace. Ist er wirklich ein schrecklicher Lügner?«
Jetzt richtete Isabelle ihre Augen auf Clary – große dunkle und überraschend nachdenkliche Augen.»Er ist kein Lügner. Nicht wenn es um wichtige Dinge geht. Er haut dir die schrecklichsten Wahrheiten um die Ohren, aber er lügt nicht.« Sie hielt einen Moment inne und fügte dann hinzu: »Deshalb empfiehlt es sich auch, ihn besser nicht zu fragen, wenn man nicht weiß, ob man die Antwort verkraften kann.«
Die Küche war warm, hell erleuchtet und erfüllt vom salzigsüßen Duft des chinesischen Essens. Der Duft erinnerte Clary an zu Hause. Sie setzte sich und schaute auf den Teller mit den glänzenden, dampfenden Nudeln, spielte mit ihrer Gabel und versuchte, nicht rüber zu Simon zu gucken, der Isabelle mit glasigen Augen anstarrte.
»Irgendwie ist es romantisch«, meinte Isabelle und saugte Perltapioka durch einen gigantischen rosa Strohhalm. »Was?«, fragte Simon, sofort hellwach.
»Die ganze Geschichte, dass Clarys Mutter mit Valentin verheiratet war«, erwiderte Isabelle. Jace und Hodge hatten ihr alles erzählt, bis auf die Tatsache, dass die Lightwoods dem Kreis angehört hatten. Und auch der Bann durch den Rat blieb unerwähnt, wie Clary bemerkte. »Jetzt ist er also von den Toten auferstanden und gekommen, um nach ihr zu suchen. Vielleicht will er wieder mit ihr zusammen sein«, fuhr Isabelle fort.
»Ich bezweifle allerdings, dass er einen Ravener zu ihr nach Hause geschickt hat, weil er wieder mit ihr zusammen sein will‹«, sagte Alec, der aufgetaucht war, als das Essen serviert wurde. Niemand hatte ihn gefragt, wo er gewesen war, und von sich aus hatte er nichts dazu gesagt. Er setzte sich neben Jace – genau gegenüber von Clary, vermied es aber, sie anzusehen.
»Das wäre auch nicht meine Vorgehensweise«, stimmte Jace ihm zu. »Zuerst die Pralinen und die Blumen, danach die zerknirschten Briefe und dann die Horden gefräßiger Dämonen. Das wäre meine Reihenfolge.«
»Vielleicht hat er ihr ja Pralinen und Blumen geschickt«, sagte Isabelle. »Und wir wissen es nur nicht.«
»Isabelle«, sagte Hodge geduldig, »es handelt sich hier um den Mann, der eine nie da gewesene Welle der Zerstörung über Idris brachte, der Schattenjäger und Schattenwesen gegeneinander aufbrachte und dafür verantwortlich ist, dass überall in den Straßen der Gläsernen Stadt Blut floss.«
»Irgendwie hat das was«, widersprach Isabelle, »dieses Böse.«
Simon versuchte, gefährlich dreinzuschauen, gab es aber auf, als er sah, dass Clary ihn anstarrte. »Warum will Valentin unbedingt diesen Kelch in die Finger bekommen und warum glaubt er, dass Clarys Mutter ihn hat?«, fragte er.
»Sie meinten vorhin, er könne damit eine Armee aufstellen«, wandte Clary sich an Hodge. »Soll das heißen, er will den Kelch dazu verwenden, Schattenjäger zu schaffen?«
»Ja.«
»Valentin könnte also aus jedem x-beliebigen Typ auf der Straße einen Schattenjäger machen? Nur mithilfe des Kelchs?« Simon beugte sich nach vorne. »Würde das auch bei mir funktionieren?«
Hodge musterte ihn lange und eingehend. »Möglicherweise«, sagte er. »Aber wahrscheinlich bist du zu alt. Der Kelch wirkt nur bei Kindern. Bei Erwachsenen würde er entweder überhaupt keine Veränderung herbeiführen oder sie sofort töten.«
»Eine Kinderarmee«, sagte Isabelle leise.
»Nur für ein paar Jahre«, meinte Jace. »Kinder wachsen schnell. Es würde nicht lange dauern, bis sie sich zu einer kampfbereiten Streitmacht entwickelt hätten.«
»Ich weiß nicht recht«, sagte Simon. »Einen Haufen Kinder zu Kriegern zu machen – da hab ich schon Schlimmeres gehört. Ich verstehe nicht, warum er den Kelch auf keinen Fall in die Hände bekommen darf.«
»Es gibt einen ganz entscheidenden Grund dafür, wenn man mal davon absieht, dass er diese Armee mit Sicherheit dazu einsetzen würde, den Rat anzugreifen«, sagte Hodge trocken. »Es werden nur deshalb so wenige Menschen ausgewählt und in Nephilim verwandelt, weil die meisten diese Verwandlung nicht überleben würden. Es bedarf einer besonderen Stärke und Widerstandskraft. Ehe sie verwandelt werden können, müssen die Betreffenden eingehend geprüft werden. Aber Valentin würde sich damit nicht aufhalten: Er würde den Kelch bei jedem Kind anwenden, das er in die Finger bekommt, und aus den zwanzig Prozent, die überleben, seine Armee zusammenstellen.«
Alec schaute Hodge entsetzt an. »Woher weißt du, dass er das tun würde?«
»Als er dem Kreis angehörte, war genau das sein Plan. Er sagte, es sei die einzige Möglichkeit, die Streitmacht zu errichten, die zur Verteidigung unserer Welt nötig sei.«
»Aber das ist Mord«, protestierte Isabelle, die ein wenig grün um die Nase aussah. »Dabei werden schließlich Kinder getötet.«
»Valentin meinte, wir hätten Tausende Jahre dafür gesorgt, dass die Welt für die Menschen sicher ist, und jetzt sei es an der Zeit, dass sie uns entlohnen, indem sie uns ein Opfer bringen«, erklärte Hodge.
»Ihre Kinder?«, fragte Jace mit geröteten Wangen. »Das widerspricht allem, wofür wir einstehen. Die Hilflosen beschützen, die Menschheit vor Schaden bewahren …«
Hodge schob seinen Teller beiseite. »Valentin war verrückt. Brillant, aber verrückt. Er interessierte sich für nichts anderes, als Dämonen und Schattenwesen zu töten, die Welt zu säubern. Dafür hätte er seinen eigenen Sohn geopfert und er konnte nicht verstehen, wieso nicht jeder dazu bereit war.«
»Er hatte einen Sohn?«, fragte Alec.
»Das habe ich bildlich gemeint«, sagte Hodge, holte sein Taschentuch hervor, wischte sich damit die Stirn ab und steckte es dann wieder weg. Clary sah, dass seine Hand dabei leicht zitterte. »Als Valentins Land brannte, als sein Haus zerstört wurde, nahm man an, er habe sich selbst und den Kelch darin verbrannt, statt sich dem Rat zu ergeben. Man fand seine Knochen zusammen mit denen seiner Frau in der Asche.«
»Aber meine Mutter lebt«, wandte Clary ein. »Sie ist bei diesem Brand nicht umgekommen.«
»Und Valentin allem Anschein nach auch nicht«, sagte Hodge. »Der Rat wird nicht erfreut sein, dass er an der Nase herumgeführt worden ist. Er wird den Kelch an sich bringen wollen. Aber was noch viel wichtiger ist: Er wird dafür sorgen wollen, dass Valentin ihn nicht bekommt.«
»Ich denke, wir sollten zuerst Clarys Mutter finden«, sagte Jace. »Sie und den Kelch, ehe Valentin ihn findet.«
Für Clary klang das nach einem guten Plan, aber Hodge schaute Jace an, als habe er vorgeschlagen, mit Nitroglyzerin zu jonglieren. »Auf gar keinen Fall.«
»Und was sollen wir dann tun?«
»Gar nichts«, erwiderte Hodge. »Am besten überlassen wir die ganze Angelegenheit qualifizierten und erfahrenen Schattenjägern.«
»Ich bin qualifiziert«, protestierte Jace. »Und ich bin erfahren.«
Hodges Ton war bestimmt, beinahe väterlich. »Ich weiß, aber du bist fast noch ein Kind.«
Jace musterte Hodge mit zusammengekniffenen Augen. Seine langen Wimpern warfen Schatten auf seine hervorstehenden Wangenknochen. Bei jedem anderen hätte es wie ein scheuer, fast entschuldigender Blick ausgesehen, aber bei Jace wirkte es aufgebracht und bedrohlich. »Ich bin kein Kind!«
»Hodge hat recht«, sagte Alec. Er schaute Jace an und Clary dachte, er müsse zu den wenigen Menschen auf der Welt gehören, die Jace nicht ansahen, als hätten sie Angst vor ihm, sondern Angst um ihn. »Valentin ist gefährlich. Ich weiß, dass du ein guter Schattenjäger bist, wahrscheinlich der beste unserer Altersklasse. Aber Valentin ist einer der besten, die es je gab. Es bedurfte einer gewaltigen Schlacht, um ihn zu Fall zu bringen.«
»Und wie es scheint, ist er nach dem Fall nicht am Boden geblieben«, sagte Isabelle und betrachtete die Zinken ihrer Gabel.
»Aber wir sind hier vor Ort«, sagte Jace. »Und wegen des Abkommens sind so gut wie keine anderen Schattenjäger in der Stadt. Wenn wir nichts unternehmen …«
»Wir werden etwas unternehmen«, entgegnete Hodge. »Ich werde dem Rat heute Abend eine Botschaft senden. Wenn die Mitglieder des Rats wollen, könnten sie bis morgen eine Armee von Nephilim hierher schicken. Sie werden sich um diese Angelegenheit kümmern. Du hast mehr als genug getan.«
Jace schwieg, aber seine Augen funkelten noch immer. »Das gefällt mir nicht.«
»Es braucht dir auch nicht zu gefallen«, meinte Alec. »Du musst einfach nur den Mund halten und keine Dummheiten machen.«
»Aber was ist mit meiner Mutter?«, fragte Clary. »Sie kann nicht warten, bis ein Abgesandter des Rats auftaucht. Valentin hat sie in seiner Gewalt, zumindest haben Pangborn und Blackwell das gesagt. Und er könnte sie …« Sie brachte es nicht fertig, das Wort foltern auszusprechen, aber sie wusste, dass sie nicht die Einzige war, die daran dachte. Plötzlich konnte ihr niemand am Tisch mehr in die Augen sehen.
Außer Simon. »Sie verletzen«, beendete er ihren Satz. »Aber, Clary, die beiden haben auch gesagt, deine Mutter sei bewusstlos und dass Valentin darüber nicht glücklich ist. Er scheint darauf zu warten, dass sie aufwacht.«
»Wenn ich sie wäre, würde ich bewusstlos bleiben«, murmelte Isabelle.
»Aber es könnte jederzeit passieren, sie könnte jeden Moment aus dem Koma erwachen«, sagte Clary und ignorierte Isabelles Bemerkung. »Ich dachte, der Rat sei verpflichtet, Menschen zu beschützen. Müssten nicht schon jetzt Schattenjäger eingesetzt werden? Sollten sie nicht bereits in diesem Moment nach ihr suchen?«
»Es wäre einfacher, wenn wir eine Ahnung hätten, wo wir überhaupt mit der Suche anfangen sollen«, fauchte Alec.
»Aber das wissen wir doch«, sagte Jace.
»Wirklich?« Clary sah ihn verblüfft und aufgeregt an. »Und wo?«
»Hier.« Jace beugte sich vor und legte einen Finger an ihre Schläfe, so sanft, dass sie errötete. »Alles, was wir wissen müssen, ist in deinem Kopf eingeschlossen, unter diesen hübschen roten Locken.«
Clary griff sich ins Haar, als wolle sie es schützen. »Ich glaube nicht …«
»Und was habt ihr jetzt vor?«, fragte Simon scharf. »Ihr den Kopf aufschneiden, um es herauszufinden?«
Jace’ Augen funkelten, aber er blieb ruhig. »Keineswegs. Die Stillen Brüder könnten ihr helfen, ihre Erinnerungen zurückzugewinnen.«
»Du hasst die Bruderschaft«, protestierte Isabelle.
»Ich hasse sie nicht«, sagte Jace offen. »Ich habe Angst vor ihnen. Das ist nicht dasselbe.«
»Hattest du nicht gesagt, sie seien Bibliothekare?«, fragte Clary.
»Ja, das sind sie auch.«
Simon pfiff durch die Zähne. »Die müssen ja mörderische Leihgebühren kassieren.«
»Die Stillen Brüder sind Archivare, aber das ist noch nicht alles«, warf Hodge ein. Er klang, als verlöre er allmählich die Geduld. »Um ihren Geist zu stärken, haben sie sich einige der mächtigsten Runen zu eigen gemacht, die je geschaffen wurden. Die Macht dieser Runen ist so groß, dass ihr Gebrauch …« Er sprach nicht weiter und Clary erinnerte sich an Alecs Worte: Sie verstümmeln sich selbst. »Na, jedenfalls wird ihr Körper dadurch verändert. Die Stillen Brüder sind keine Krieger wie andere Schattenjäger. Ihre Kräfte sind die des Geistes, nicht die des Körpers.«
»Sie können Gedanken lesen?«, fragte Clary mit dünner Stimme.
»Unter anderem. Sie gehören zu den am meisten gefürchteten Dämonenjägern.«
»Ich weiß nicht recht«, meinte Simon. »Für mich hört sich das gar nicht so schlecht an. Mir wäre es lieber, wenn mir jemand im Kopf herumfuhrwerkt, statt ihn mir abzuschlagen.«
»Dann bist du noch dümmer, als du aussiehst«, sagte Jace und warf ihm einen verächtlichen Blick zu.
»Jace hat recht«, sagte Isabelle, ohne Simon zu beachten. »Die Stillen Brüder sind wirklich Furcht einflößend.«
Hodge hatte seine Hand auf dem Tisch zur Faust geballt. »Sie sind sehr mächtig«, sagte er. »Sie leben in der Dunkelheit und sprechen nicht, aber sie können den Geist eines Menschen brechen, wie man eine Walnuss knackt – und ihn schreiend allein in der Dunkelheit zurücklassen, wenn sie es wollen.«
Clary sah Jace entsetzt an. »Und denen willst du mich überlassen?«
»Ich will dir helfen.« Jace beugte sich über den Tisch so dicht zu ihr vor, dass sie die dunkleren bernsteinfarbenen Flecken in seinen Augen erkennen konnte. »Vielleicht müssen wir nicht nach dem Kelch suchen«, sagte er sanft. »Vielleicht wird der Rat das übernehmen. Aber was in deinem Kopf steckt, gehört dir. Jemand hat dort Geheimnisse verborgen, Geheimnisse, die du nicht ergründen kannst. Möchtest du nicht die Wahrheit über dein Leben erfahren?«
»Ich möchte nicht, dass irgendjemand in meinem Kopf herumfuhrwerkt«, protestierte sie schwach. Sie wusste zwar, dass Jace recht hatte, aber die Vorstellung, sich in die Hände von Wesen zu begeben, die selbst einem Schattenjäger unheimlich waren, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.
»Ich werde dich begleiten«, sagte Jace. »Ich werde bei dir bleiben, bis es vorbei ist.«
»Das reicht.« Simon war vom Tisch aufgesprungen, das Gesicht rot vor Zorn. »Lass sie in Ruhe.«
Alec schaute Simon an, als habe er ihn gerade erst bemerkt, dann schob er sich sein zerzaustes schwarzes Haar aus den Augen und blitzte ihn an. »Was machst du eigentlich noch hier, Mundie?«
Simon ignorierte ihn. »Ich habe gesagt, du sollst sie in Ruhe lassen.«
Jace warf ihm einen langen, maliziösen Blick zu. »Alec hat recht«, sagte er. »Das Institut ist verpflichtet, Schattenjäger zu beschützen und nicht deren irdische Freunde. Insbesondere dann, wenn sie die Gastfreundschaft des Instituts bereits überstrapaziert haben.«
Isabelle stand auf und nahm Simons Arm. »Ich bringe ihn zur Tür.«
Einen Moment sah es so aus, als würde Simon sich ihr widersetzen, doch dann fing er Clarys Blick auf, die am anderen Ende des Tisches saß und schweigend den Kopf schüttelte. Er gab nach und ließ sich erhobenen Hauptes von Isabelle aus der Küche führen.
Clary stand auf. »Ich bin müde. Ich möchte schlafen gehen.«
»Du hast doch fast gar nichts gegessen …«, protestierte Jace.
Sie schob seine ausgestreckte Hand fort. »Ich habe keinen Hunger.«
Auf dem Korridor war es kühler als in der Küche. Clary lehnte sich an die Wand und zog an ihrem T-Shirt, das von kaltem Schweiß benetzt an ihrer Brust klebte. Am Ende des Flurs erkannte sie Isabelle und Simon, die im Halbdunkel verschwanden. Als sie den beiden hinterhersah, spürte sie ein seltsam zittriges Gefühl in der Magengegend. Seit wann war eigentlich Isabelle für Simon zuständig und nicht mehr sie selbst? Wenn sie eine Lektion aus alldem lernte, dann die, wie leicht man alles verlieren konnte, von dem man geglaubt hatte, es gehöre einem für immer.
Das Zimmer war ganz in Gold und Weiß getaucht, die hohen Wände schimmerten wie Emaille und die Decke funkelte, als wäre sie mit Diamanten besetzt. Clary trug ein grünes Samtkleid und hielt einen goldenen Fächer in der Hand. Ihr Haar war zu einem Knoten zusammengebunden, aus dem sich mehrere Locken gelöst hatten, jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, fühlte sich ihr Kopf merkwürdig schwer an.
»Hast du jemand Interessanteren gesehen als mich?«, fragte Simon. In dem Traum war er rätselhafterweise ein vollendeter Tänzer. Er führte sie durch die Menge, als sei sie ein Blatt, das die Strömung des Flusses erfasst hatte. Er war ganz in Schwarz gekleidet, wie ein Schattenjäger, und sein Typ kam gut zur Geltung: dunkles Haar, leicht gebräunte Haut, weiße Zähne. Er sieht gut aus, stellte Clary überrascht fest.
»Es gibt niemanden, der interessanter ist als du«, sagte Clary. »Es ist nur dieser Ort. So etwas habe ich noch nie gesehen.« Wieder drehte sie sich um, während sie an einem Champagnerbrunnen vorbeikamen – eine riesige silberne Schale, in deren Mitte eine Meerjungfrau mit einem Krug stand und prickelnden Schaumwein über ihren nackten Rücken goss. Menschen füllten ihre Gläser aus der Schale, lachten und unterhielten sich. Die Meerjungfrau drehte den Kopf, als Clary vorbeikam, und lächelte sie an. Dabei zeigte sie weiße Zähne, so scharf wie die eines Vampirs.
»Willkommen in der Gläsernen Stadt«, sagte eine Stimme, die nicht die von Simon war. Clary stellte fest, dass Simon verschwunden war; stattdessen tanzte sie jetzt mit Jace, der ganz in Weiß gekleidet war. Sein Hemd bestand aus dünner Baumwolle und sie konnte die schwarzen Male darunter erkennen. Um den Hals trug er eine Bronzekette, sein Haar und seine Augen schimmerten goldener denn je. Wie gerne würde sie sein Porträt mit der matten goldenen Farbe malen, die man manchmal an russischen Ikonen sah, dachte Clary.
»Wo ist Simon?«, fragte sie, als sie sich erneut um den Champagnerbrunnen drehten. Clary sah Isabelle zusammen mit Alec, beide in Königsblau. Sie hielten sich an der Hand, wie Hänsel und Gretel im finsteren Wald.
»Dieser Ort ist für die Lebenden«, sagte Jace. Seine Hände waren kühl und sie spürte sie auf eine Weise in den ihren, wie sie Simons Hände noch nie gespürt hatte.
Sie schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Was meinst du damit?«
Er kam näher. Sie fühlte seine Lippen an ihrem Ohr. Sie waren alles andere als kalt. »Wach auf, Clary«, flüsterte er. »Wach auf. Wach auf.«
Mit einem Ruck richtete sie sich auf und schnappte nach Luft, die schweißnassen Haare klebten an ihrem Hals. Ihre Handgelenke wurden niedergedrückt, und als sie versuchte, sich loszureißen, erkannte sie, wer sie da festhielt. »Jace?«
»Ja.« Er saß auf der Bettkante – wie war sie ins Bett gekommen? – und wirkte zerzaust und verschlafen.
»Lass mich los.«
»’tschuldigung.« Seine Finger gaben ihre Handgelenke frei. »Du hast versucht, mich zu schlagen, als ich deinen Namen sagte.«
»Ich glaube, ich bin ein bisschen schreckhaft.« Sie schaute sich um und sah, dass sie sich in einem kleinen Zimmer mit dunklen Holzmöbeln befand. Dem schwachen Licht nach zu urteilen, das durch das halb geöffnete Fenster fiel, musste es sehr früh am Morgen sein. Ihr Rucksack lehnte an der Wand. »Wie bin ich hierhergekommen? Ich kann mich nicht erinnern …«
»Ich habe dich schlafend auf dem Boden im Flur gefunden.« Jace klang amüsiert. »Hodge hat mir geholfen, dich ins Bett zu bringen. Er meinte, in einem Gästezimmer hättest du es bestimmt bequemer als auf der Krankenstation.«
»Wow. Ich kann mich an nichts erinnern.« Sie fuhr sich mit den Händen durchs Haar und schob sich eine zerwühlte Locke aus dem Gesicht. »Wie spät ist es überhaupt?«
»Ungefähr fünf.«
»Morgens?« Sie blitzte ihn an. »Ich hoffe, es gibt einen guten Grund dafür, dass du mich um diese Uhrzeit weckst.«
»Wieso? Hattest du einen schönen Traum?«
In ihren Ohren klang noch immer Musik und sie meinte, die schweren Juwelen zu spüren, die ihre Wangen streiften. »Ich kann mich nicht erinnern.«
Er stand auf. »Einer der Stillen Brüder ist hier und möchte dich sehen. Hodge hat mich geschickt, um dich zu holen. Eigentlich wollte er dich selbst wecken, aber da es fünf Uhr morgens ist, dachte ich, du würdest vielleicht weniger mürrisch reagieren, wenn dein Blick als Erstes auf jemand Attraktiven fällt.«
»Du meinst dich?«
»Wen sonst?«
»Diese Sache mit den Stillen Brüdern … ich war damit nicht einverstanden«, fauchte sie.
»Du willst doch deine Mutter finden, oder?«
Sie starrte ihn an.
»Du brauchst nur kurz mit Bruder Jeremiah zu reden. Das ist schon alles. Vielleicht magst du ihn ja sogar. Für einen Mann, der nie etwas sagt, hat er einen tollen Sinn für Humor.«
Clary stützte den Kopf in die Hände. »Geh raus. Raus mit dir, damit ich mich anziehen kann.«
Als er die Tür hinter sich zuzog, schwang sie die Beine aus dem Bett. Trotz der frühen Stunde drang bereits heißfeuchte Luft in das Zimmer. Sie schloss das Fenster und ging ins Bad, um sich das Gesicht zu waschen und den Geschmack von altem Papier aus dem Mund zu spülen.
Fünf Minuten später schlüpfte sie in eine abgeschnittene Jeans und ein schlichtes schwarzes T-Shirt und stieg in ihre grünen Turnschuhe. Wenn nur ihre dünnen, sommersprossigen Beine mehr wie die langen, schlanken von Isabelle ausgesehen hätten … Aber es war nicht zu ändern. Sie band ihr Haar zu einem Pferdeschwanz und trat zu Jace auf den Flur.
Church war bei ihm, murrte und streifte unruhig um seine Beine.
»Was ist mit dem Kater los?«, fragte Clary.
»Die Stillen Brüder machen ihn nervös.«
»Anscheinend machen sie jeden nervös.«
Jace lächelte matt. Church miaute, als sie den Korridor entlanggingen, folgte ihnen aber nicht. Wenigstens speicherten die dicken Mauern der Kathedrale die Nachtkühle, dachte Clary. Die langen Flure waren dunkel und kalt.
Als sie zur Bibliothek kamen, sah Clary zu ihrer Überraschung, dass dort keine einzige Lampe brannte. Nur der milchige Schein, der durch die hohen Fenster der gewölbten Decke fiel, erleuchtete den Raum. Hodge trug einen Anzug und saß hinter dem riesigen Schreibtisch; sein grau meliertes Haar schimmerte silbern im Licht der Morgendämmerung. Einen Moment lang dachte sie, er sei allein im Raum und Jace habe ihr einen Streich gespielt. Doch dann sah sie eine Gestalt aus dem Halbdunkel hervortreten und sie erkannte, dass das, was sie für einen dunkleren Schatten gehalten hatte, ein Mann war. Ein großer Mann in einer schweren Robe, die vom Kopf bis zu den Füßen reichte und ihn vollkommen umhüllte. Die Kapuze der Robe verdeckte sein Gesicht. Die Robe selbst hatte die Farbe von Pergament und die verschlungenen Runenmuster am Saum und an den Ärmeln sahen aus, als seien sie mit Blut aufgetragen worden. Clary spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten und fast schmerzhaft prickelten.
»Das ist Bruder Jeremiah aus der Stadt der Stille«, sagte Hodge.
Als der Mann auf sie zukam, wehte sein Umhang und Clary erkannte, was an ihm so seltsam war: Er erzeugte nicht das geringste Geräusch. Wenn er ging, war kein Schritt zu hören. Selbst seine Robe, die eigentlich hätte rascheln müssen, blieb still. Sie fragte sich schon, ob er ein Geist sei, wurde aber eines Besseren belehrt, als er vor ihr zum Stehen kam. Er verströmte einen merkwürdig süßlichen Duft, nach Weihrauch und Blut, der Geruch eines lebendigen Lebewesens.
»Und dies, Jeremiah«, sagte Hodge und erhob sich von seinem Schreibtisch, »ist das Mädchen, von dem ich dir geschrieben habe. Clarissa Fray.«
Das Gesicht unter der Kapuze wandte sich langsam in ihre Richtung. Clary fröstelte es bis in die Fingerspitzen. »Hallo«, sagte sie.
Keine Antwort.
»Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass du recht hattest, Jace«, sagte Hodge.
»Ja, schließlich habe ich meistens recht«, erwiderte Jace.
Hodge ignorierte diese Bemerkung. »Ich habe letzte Nacht einen Brief an den Rat geschickt, aber Clarys Erinnerungen gehören ihr. Nur sie kann entscheiden, wie sie mit dem Inhalt ihres Kopfes verfahren will. Wenn sie die Hilfe der Stillen Brüder in Anspruch nehmen möchte, dann sollte sie diese Möglichkeit auch bekommen.«
Clary schwieg. Dorothea hatte gesagt, in ihrem Kopf sei eine Blockade, hinter der sich etwas verberge. Natürlich wollte sie wissen, worum es sich dabei handelte. Aber die schemenhafte Gestalt des Stillen Bruders war so … so still. Er verströmte eine Stille, schwarz und dick wie Tinte, eine dunkle Flut. Es ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.
Bruder Jeremiah schaute noch immer in ihre Richtung, doch unter seiner Kapuze konnte sie nichts als Dunkelheit erkennen. Das ist Jocelyns Tochter?
Clary schnappte kurz nach Luft und wich zurück. Die Worte hatten in ihrem Kopf vibriert, als habe sie selbst sie gedacht – aber das hatte sie nicht.
»Ja«, antwortete Hodge und fügte schnell hinzu: »Aber ihr Vater war ein Irdischer.«
Das spielt keine Rolle, sagte Jeremiah. Das Blut des Rates ist dominant.
»Warum haben Sie meine Mutter Jocelyn genannt?«, fragte Clary und suchte vergeblich nach einem Hinweis auf ein Gesicht unter der Kapuze. »Haben Sie sie gekannt?«
»Die Brüder besitzen Aufzeichnungen über alle Mitglieder des Rats«, erklärte Hodge. »Umfangreiche Aufzeichnungen …«
»So umfangreich können sie nicht sein«, meinte Jace, »wenn sie nicht einmal wussten, dass sie noch lebt.«
Sehr wahrscheinlich hat ein Hexenmeister ihr geholfen unterzutauchen. Die meisten Schattenjäger können dem Rat nicht so leicht entfliehen. Jeremiahs Stimme klang vollkommen ausdruckslos; er schien Jocelyns Handeln weder gutzuheißen noch zu missbilligen.
»Eine Sache verstehe ich nicht«, sagte Clary. »Warum denkt Valentin, dass meine Mom den Kelch der Engel hat? Wenn sie, wie Sie sagen, so viel Mühe auf sich genommen hat zu verschwinden, warum sollte sie ihn dann mitnehmen?«
»Um zu verhindern, dass er Valentin in die Hände fällt«, erwiderte Hodge. »Sie hat wie kein anderer Mensch gewusst, was passieren würde, wenn Valentin den Kelch in seine Hände bekommt. Und ich vermute, sie hatte kein großes Vertrauen zum Rat und fürchtete, dass der Kelch dort nicht sicher sein würde. Schließlich hatte Valentin ihn dem Rat schon einmal entwendet.«
»Aha.« Clary konnte die Zweifel in ihrer Stimme nicht verbergen. Das Ganze erschien ihr so unglaublich. Sie versuchte, sich ihre Mutter vorzustellen, wie sie im Schutz der Dunkelheit flüchtete, einen großen goldenen Kelch in der Tasche ihres Overalls versteckt. Aber es gelang ihr nicht.
»Jocelyn stellte sich gegen ihren Mann, als sie herausfand, wozu er den Kelch verwenden wollte«, erklärte Hodge. »Es ist nicht abwegig anzunehmen, dass sie alles in ihrer Macht Stehende getan hätte, um zu verhindern, dass der Kelch in seine Hände gelangt. Auch der Rat hätte sich als Allererstes an sie gewandt, wenn er geglaubt hätte, sie sei noch am Leben.«
»Mir kommt es so vor«, sagte Clary gereizt, »dass niemand, den der Rat für tot hält, auch wirklich tot ist. Vielleicht sollte er in zahnmedizinische Aufzeichnungen investieren.«
»Mein Vater ist tot«, sagte Jace, ebenso gereizt. »Ich brauche keine zahnmedizinischen Aufzeichnungen, um das zu wissen.«
Clary drehte sich zu ihm um. »Hör zu, ich wollte nicht …«
Das reicht, unterbrach Bruder Jeremiah sie. Du hast jetzt Gelegenheit, die Wahrheit zu erfahren, wenn du geduldig genug bist zuzuhören.
Mit einer schnellen Bewegung hob er die Hände und zog die Kapuze von seinem Gesicht. Clary vergaß Jace und unterdrückte den Impuls, laut aufzuschreien. Der Kopf des Archivars war kahl, glatt und weiß wie ein Ei; dort, wo einst die Augen gesessen hatten, befanden sich nur dunkle Höhlen. Seine Lippen waren von einem Muster dunkler Linien überzogen, das an Operationsnähte erinnerte. Jetzt verstand sie, was Alec mit Verstümmelung gemeint hatte.
Die Brüder der Stadt der Stille lügen nicht, sagte Jeremiah. Wenn du die Wahrheit von mir hören willst, dann werde ich sie dir offenbaren, aber ich verlange im Gegenzug von dir das Gleiche.
Clary hob das Kinn. »Auch ich lüge nicht.«
Der Geist kann nicht lügen. Jeremiah trat auf sie zu. Ich will deine Erinnerungen.
Der Geruch nach Blut und Tinte war erdrückend. Clary wurde von Panik erfasst. »Stopp …«
»Clary.« Es war Hodge, der in sanftem Ton zu ihr sprach. »Es ist durchaus möglich, dass es Erinnerungen gibt, die du vergessen oder unterdrückt hast, Erinnerungen, die entstanden sind, als du zu jung warst, um dich bewusst daran zu erinnern, und an die Bruder Jeremiah herankommen kann. Es würde uns sehr weiterhelfen.«
Sie schwieg und biss sich auf die Lippe. Sie hasste die Vorstellung, dass jemand in ihren Kopf eindrang und Erinnerungen berührte, die so persönlich und verborgen waren, dass nicht einmal sie selbst Zugang dazu hatte.
»Sie muss nichts tun, was sie nicht will«, sagte Jace plötzlich. »Oder?«
Clary fiel Hodge ins Wort, ehe er antworten konnte. »Schon gut. Ich mache es.«
Bruder Jeremiah nickte kurz und bewegte sich mit einer Geräuschlosigkeit auf sie zu, die ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. »Wird es wehtun?«, flüsterte sie.
Statt einer Antwort berührte er ihr Gesicht mit seinen schmalen weißen Händen. Die mit Runen übersäte Haut seiner Finger war so dünn wie Pergament. Sie konnte die Kraft der Runen spüren, die wie statische Energie auf ihrer Haut prickelte. Bevor sie die Augen schloss, sah sie den ängstlichen Ausdruck auf Hodges Gesicht.
Farben wirbelten in der Dunkelheit hinter ihren Augenlidern. Sie spürte eine Art Druck, ein Ziehen in Kopf, Händen und Füßen. Die Hände zu Fäusten geballt, versuchte sie, diesem Gewicht und der Dunkelheit standzuhalten. Es fühlte sich an, als würde sie gegen etwas Hartes und Unnachgiebiges gedrückt und langsam zermalmt. Sie hörte sich selbst nach Luft ringen und plötzlich war ihr eiskalt. Das Bild einer vereisten Straße blitzte vor ihr auf, graue, hoch aufragende Häuser, eine Explosion von Weiß, die ihr Gesicht mit stechenden Eispartikeln überzog …
»Das reicht!« Jace’ Stimme durchschnitt die Winterkälte und der fallende Schnee verschwand in einem Regen aus weißen Funken. Clary riss die Augen auf.
Langsam sah sie die Bibliothek wieder scharf – die von Büchern gesäumten Wände, die besorgten Gesichter von Hodge und Jace. Bruder Jeremiah stand reglos da, ein geschnitzter Abgott aus Elfenbein und roter Tinte. Clary spürte einen stechenden Schmerz in ihren Händen und schaute auf die roten Furchen, die ihre Nägel in die Haut gegraben hatten.
»Jace«, sagte Hodge mahnend.
»Sieh dir ihre Hände an.« Jace deutete auf Clary, die ihre Finger eingezogen hatte, um die verletzten Handinnenflächen zu verbergen.
Hodge legte ihr seine breite Hand auf die Schulter. »Alles in Ordnung?«
Sie nickte langsam. Das erdrückende Gewicht war verschwunden, aber sie spürte den Schweiß, der ihre Haare durchnässte und ihr T- Shirt am Rücken haften ließ wie Klebeband.
In deinem Kopf ist eine Blockade, sagte Bruder Jeremiah. Es gibt keinen Zugang zu deinen Erinnerungen.
»Eine Blockade?«, fragte Jace. »Du meinst, sie verdrängt ihre Erinnerungen?«
Nein. Ich meine, sie sind durch einen Bann aus ihrem Bewusstsein ausgesperrt worden. Ich kann den Bann hier nicht brechen. Sie muss in die City of Bones, die Stadt der Gebeine, kommen und vor die Bruderschaft treten.
»Ein Bann?«, fragte Clary ungläubig. »Wer sollte mir einen Bann auferlegen?«
Niemand antwortete ihr. Jace schaute seinen Tutor an. Er war überraschend blass, dachte Clary, wenn man bedachte, dass dies alles seine Idee gewesen war. »Hodge, sie sollte nicht gehen müssen, wenn sie nicht …«
»Schon gut.« Clary atmete tief ein. Dort, wo sich ihre Nägel in die Haut gekrallt hatten, schmerzten ihre Handflächen und sie sehnte sich danach, sich irgendwo hinzulegen und im Dunkeln auszuruhen. »Ich werde gehen. Ich will die Wahrheit wissen. Ich will wissen, was in meinem Kopf ist.«
Jace nickte. »Gut. Dann komme ich mit dir.«
Als sie das Institut verließen, erschien es Clary, als würde sie eine heiße Waschküche betreten. Feuchte Luft drückte auf die Stadt und legte sich wie eine schwüle Glocke darüber.
»Ich verstehe nicht, warum wir nicht sofort mit Bruder Jeremiah mitgehen durften«, murrte Clary. Sie standen an der Ecke vor dem Institut. Die Straßen waren verlassen, bis auf einen Müllwagen, der langsam den Block entlangfuhr. »Ist es ihm peinlich, mit Schattenjägern gesehen zu werden, oder was?«
»Die Angehörigen der Bruderschaft sind Schattenjäger«, erklärte Jace. Irgendwie schaffte er es, trotz der Hitze cool auszusehen. Clary hätte ihn dafür schlagen können.
»Ich nehme an, er holt sein Auto?«, fragte sie sarkastisch. Jace grinste. »So ungefähr.«
Sie schüttelte den Kopf. »Irgendwie wäre mir wohler, wenn Hodge mitkäme.«
»Wieso? Reicht dir mein Schutz nicht?«
»Ich brauche jetzt keinen Schutz, sondern jemanden, der mir hilft zu denken.« Plötzlich erinnerte sie sich und schlug sich die Hand vor den Mund. »Oh – Simon!«
»Nein, ich bin Jace«, meinte Jace geduldig. »Simon ist der wieselartige kleine Typ mit dem schlechten Haarschnitt und dem grässlichen Modegeschmack.«
»Ach, sei still«, sagte sie, wenn auch eher automatisch als wirklich ernst gemeint. »Ich wollte ihn vor dem Schlafengehen doch noch anrufen. Fragen, ob er gut nach Hause gekommen ist.«
Jace schüttelte den Kopf und schaute zum Himmel, als könnte dieser sich jeden Moment öffnen und die Geheimnisse des Universums preisgeben. »Bei all dem, was passiert ist, machst du dir Sorgen um Wieselgesicht?«
»Nenn ihn nicht so. Er sieht nicht aus wie ein Wiesel.«
»Vielleicht hast du recht«, entgegnete Jace. »Ich hab schon attraktivere Wiesel gesehen. Er erinnert eher an eine Ratte.«
»Das tut er nicht …«
»Wahrscheinlich ist er zu Hause und liegt in einer Pfütze seines eigenen Geifers. Warte nur, bis er Isabelle langweilt und du ihn wieder aufpäppeln darfst.«
»Glaubst du, dass er Isabelle langweilen wird?«, fragte Clary.
Jace dachte einen Augenblick nach. »Ja.«
Clary fragte sich, ob Isabelle vielleicht klüger war, als Jace sie einschätzte. Vielleicht würde sie erkennen, was für ein toller Typ Simon war: wie lustig, wie schlau, wie cool. Vielleicht würden sie zusammen ausgehen. Die Vorstellung erfüllte Clary mit unbeschreiblichem Entsetzen.
Sie hing ihren Gedanken nach und brauchte einen Moment, bis sie bemerkte, dass Jace etwas zu ihr gesagt hatte. Als sie ihn blinzelnd anschaute, sah sie, dass er ironisch grinste. »Was ist?«, fragte sie genervt.
»Ich wünschte, du würdest deine verzweifelten Versuche einstellen, meine Aufmerksamkeit zu erregen«, sagte er. »Es wird langsam peinlich.«
»Sarkasmus ist der letzte Ausweg der Fantasielosen«, konterte sie.
»Ich kann nichts dafür. Ich nutze meine Schlagfertigkeit, um meinen inneren Schmerz zu verbergen.«
»Dein Schmerz wird sich schneller zeigen, als dir lieb ist, wenn du nicht auf den Verkehr achtest. Willst du, dass dich ein Taxi überfährt?«
»Mach dich nicht lächerlich«, sagte er. »In dieser Gegend würden wir nie so einfach ein Taxi bekommen.«
Wie auf Kommando fuhr ein schmaler schwarzer Wagen mit getönten Scheiben an den Randstein und hielt mit laufendem Motor vor Jace. Er war lang und schnittig, besaß nach außen gewölbte Scheiben und eine Straßenlage wie eine Limousine.
Jace schaute sie von der Seite an; sein Blick war amüsiert, hatte aber auch etwas Drängendes. Sie betrachtete den Wagen erneut, entspannte ihre Augen und ließ die Kraft des Wahrhaftigen den Schleier des Zauberglanzes durchdringen.
Im nächsten Moment erinnerte der Wagen an Aschenputtels Kutsche, die jedoch nicht pink, golden und blau wie ein Osterei leuchtete, sondern schwarz wie Samt schimmerte und dunkel getönte Scheiben besaß. Auch die Räder und das Verdeck waren schwarz. Auf dem Kutschbock aus schwarzem Metall saß Bruder Jeremiah und hielt die Zügel in seinen behandschuhten Händen. Sein Gesicht war unter der Kapuze seiner pergamentfarbenen Robe verborgen. Am anderen Ende der Zügel standen zwei pechschwarze Pferde, die schnaubten und mit den Hufen scharrten.
»Steig ein«, sagte Jace. Als Clary mit offenem Mund stehen blieb, nahm er sie am Arm, schob sie halb durch die geöffnete Tür der Kutsche und schwang sich selbst hinein. Die Kutsche setzte sich in Bewegung, noch ehe er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Er fiel neben ihr auf die Sitzbank, die mit einem glänzenden Stoff bezogen war, und schaute sie an. »Eine persönliche Eskorte zur Stadt der Gebeine sollte man auf keinen Fall ausschlagen.«
»Das wollte ich ja gar nicht. Ich war nur so überrascht. Ich hatte nicht erwartet … ich meine, ich dachte, es sei ein Auto.«
»Entspann dich einfach«, schlug Jace vor. »Genieß den Geruch dieser neuen Kutsche.«
Clary verdrehte die Augen und schaute aus dem Fenster. Sie hätte gedacht, ein Pferd und eine Kutsche würden im Verkehr von Manhattan keine Chance haben, aber sie rollten mit Leichtigkeit durch das Stadtzentrum; ihre lautlose Fahrt blieb unbemerkt in dem Gewirr von Taxis, Bussen und Geländewagen, welche die Straßen verstopften. Vor ihnen wechselte ein gelbes Taxi die Spur und schnitt ihnen den Weg ab. Clary verkrampfte sich und dachte mit Sorge an die Pferde – da machte die Kutsche einen Ruck nach vorne, als die Pferde auf das Taxi sprangen. Sie unterdrückte einen Aufschrei. Statt über den Boden zu schleifen, schwebte die Kutsche hinter den Pferden in die Luft und rollte leicht und lautlos über das Dach des Taxis hinweg und auf der anderen Seite wieder hinunter. Clary schaute zurück, als die Kutsche auf dem Asphalt aufsetzte – der Taxifahrer rauchte, starrte geradeaus und schien von alldem nichts zu bemerken. »Ich dachte immer, Taxichauffeure wären rücksichtslose Autofahrer, aber das hier spottet jeder Beschreibung«, sagte sie matt.
»Nur weil du jetzt durch den Schleier des Zauberglanzes sehen kannst …«Jace ließ das Ende des Satzes zwischen ihnen in der Luft hängen.
»Ich kann nur hindurchsehen, wenn ich mich konzentriere«, sagte sie. »Es verursacht irgendwie Kopfschmerzen.«
»Ich wette, das liegt an der Blockade in deinem Kopf. Die Brüder werden sich darum kümmern.«
»Und dann?«
»Then you’ll see the world as it is – infinite. Unendlich«, sagte Jace mit einem trockenen Lächeln.
»Verschone mich mit Blake-Zitaten.«
Sein Lächeln wirkte sofort sehr viel weniger amüsiert. »Ich hätte nicht gedacht, dass du es erkennst. Du machst auf mich nicht den Eindruck, als würdest du viele Gedichte lesen.«
»Jeder kennt dieses Blake-Zitat wegen der Doors.«
Jace schaute sie verständnislos an.
»The Doors. Das war eine Band.«
»Wenn du es sagst.«
»Ich nehme an, du hast in deinem Job nicht viel Zeit, Musik zu hören«, sagte Clary und dachte an Simon, dem Musik alles bedeutete.
Jace zuckte die Achseln. »Vielleicht ab und zu mal den wehklagenden Chor der Verdammten.«
Clary warf ihm einen forschenden Blick zu, um zu sehen, ob er Witze machte, doch sein Gesicht war ausdruckslos.
»Aber du hast gestern im Institut Klavier gespielt. Also musst du doch …«
Die Kutsche sprang erneut hoch. Clary krallte sich an der Kante der Sitzbank fest und schaute aus dem Fenster – sie rollten über das Dach eines Stadtbusses. Aus dieser Perspektive konnte sie die oberen Stockwerke der alten Stadthäuser entlang der Straße sehen, die mit grotesken Fratzen und kunstvollen Ornamenten verziert waren.
»Ich habe nur ein bisschen geklimpert«, sagte Jace, ohne sie anzusehen. »Mein Vater bestand darauf, dass ich ein Instrument erlerne.«
»Klingt streng, dein Vater.«
»Nein, keineswegs«, entgegnete Jace scharf. »Er hat mich verwöhnt. Er hat mir alles beigebracht – Waffentraining, Dämonenlehre, Alchimie, alte Sprachen. Er hat mir alles gegeben, was ich wollte. Pferde, Waffen, Bücher, sogar einen Jagdfalken.«
Aber Waffen und Bücher sind nicht unbedingt das, was sich die meisten Kinder zu Weihnachten wünschen, dachte Clary, als die Kutsche wieder auf die Fahrbahn aufsetzte. »Warum hast du Hodge nicht gesagt, dass du die Männer kanntest, mit denen Luke gesprochen hat? Dass sie diejenigen sind, die deinen Vater getötet haben?«
Jace schaute auf seine Hände. Es waren schlanke und behutsame Hände – die Hände eines Künstlers, nicht die eines Kriegers. Der Ring, der ihr schon vorher aufgefallen war, funkelte an seinem Finger. Sie hatte immer gedacht, ein Junge, der einen Ring trug, müsse etwas Feminines an sich haben, aber das stimmte nicht. Der Ring war massiv und bestand aus geschwärztem Silber, in das ein Muster aus Sternen und der Buchstabe W eingraviert waren. »Wenn ich es Hodge gesagt hätte, wüsste er, dass ich Valentin selbst töten will. Und das würde er niemals zulassen.«
»Du meinst, du willst ihn aus Rache töten?«
»Um der Gerechtigkeit willen«, sagte Jace. »Bisher wusste ich nicht, wer meinen Vater umgebracht hat. Doch jetzt weiß ich es. Das ist meine Chance, der Gerechtigkeit zu dienen.«
Clary verstand zwar nicht, wieso der Tod eines Menschen es rechtfertigte, einen anderen Menschen zu töten, ahnte aber, dass es keinen Sinn hatte, dies auszusprechen. »Aber du wusstest doch, wer ihn getötet hat«, sagte sie. »Es waren diese Männer. Du hast gesagt …«
Da Jace sie nicht anschaute, verstummte sie. Sie fuhren jetzt am Astor Place vorbei und wichen knapp einer violetten Straßenbahn der New York University aus, die sich durch den Verkehr schob. Die Passanten auf den Bürgersteigen sahen aus, als würden sie von der feuchten Hitze erdrückt wie zwischen Glas gepresste Insekten. Mehrere Gruppen obdachloser Kinder hatten sich um den Sockel einer großen Messingstatue versammelt und Pappschilder vor sich aufgestellt, auf denen sie um Geld baten. Clary bemerkte ein ungefähr gleichaltriges Mädchen mit kahl rasiertem Schädel, das sich an einen braunhäutigen Jungen mit Dreadlocks und einem Dutzend Piercings im Gesicht lehnte. Als die Kutsche vorbeifuhr, drehte er den Kopf, als könne er sie sehen, und einen kurzen Moment lang blickte sie in seine Augen. Eines davon war trüb, als habe es keine Pupille.
»Ich war damals zehn«, sagte Jace. Sie wandte sich ihm wieder zu und schaute ihn an. Sein Gesicht war ausdruckslos. Jedes Mal, wenn er von seinem Vater sprach, schien die Farbe aus seinem Gesicht zu weichen. »Wir wohnten in einem Herrenhaus auf dem Land. Mein Vater sagte immer, es sei sicherer dort. Ich hatte gehört, wie sie die Auffahrt hinaufkamen, und war zu ihm gegangen, um es ihm zu sagen. Er befahl mir, ich solle mich verstecken, also versteckte ich mich. Unter der Treppe. Es waren noch andere bei ihnen. Keine Menschen. Forsaken. Sie überwältigten meinen Vater und schnitten ihm die Kehle durch. Das Blut lief über den Boden, sickerte in meine Schuhe. Ich verharrte regungslos in meinem Versteck.«
Es dauerte einen Moment, bis Clary erkannte, dass er offenbar nicht vorhatte, noch mehr zu erzählen. Und sie benötigte eine weitere Sekunde, um einen Ton herauszubringen. »Es tut mir so leid, Jace.«
Seine Augen funkelten in der Dunkelheit. »Ich habe nie verstanden, warum die Irdischen sich dauernd für Dinge entschuldigen, an denen sie keine Schuld tragen.«
»Das war keine Entschuldigung, eher eine Art … mitzufühlen … eine Art mitzuteilen, dass es mir leidtut, dass du unglücklich bist.«
»Ich bin nicht unglücklich«, sagte er. »Nur Menschen ohne Ziel sind unglücklich. Ich habe ein Ziel.«
»Meinst du damit, Dämonen zu töten oder Rache für den Tod deines Vaters zu nehmen?«
»Beides.«
»Würde dein Vater wirklich wollen, dass du diese Männer tötest? Nur aus Rache?«
»Ein Schattenjäger, der einen seiner Brüder umbringt, ist schlimmer als ein Dämon und sollte wie ein solcher zur Strecke gebracht werden«, entgegnete Jace. Es klang, als zitiere er die Worte aus einem Lehrbuch.
»Aber sind alle Dämonen böse? Ich meine, wenn nicht alle Vampire böse sind und auch nicht alle Werwölfe, vielleicht …«
Jace sah sie direkt an. Er wirkte gereizt. »Das ist etwas völlig anderes. Vampire, Werwölfe und selbst Hexenmeister sind teilweise menschlich. Sie sind Teil dieser Welt und in ihr geboren. Sie gehören hierher. Aber Dämonen kommen aus anderen Welten. Es sind interdimensionale Parasiten. Sie dringen in eine Welt ein und zehren sie auf. Sie können nichts aufbauen, nur zerstören – sie können nicht schaffen, nur benutzen. Sie verwandeln einen Ort zu Asche, und wenn er tot ist, ziehen sie zum nächsten. Sie wollen Leben, nicht nur dein Leben oder meines, sondern das gesamte Leben dieser Welt, ihrer Flüsse und Städte, ihrer Meere, alles. Und das Einzige, was zwischen ihnen und der Zerstörung all dessen steht, was du hier siehst …« – Jace zeigte nach draußen und holte mit der Hand zu einer Geste aus, als wolle er die gesamte Stadt einschließen, von den Wolkenkratzern im Zentrum bis zu den Verkehrsstaus auf der Houston Street – »… sind die Nephilim.«
»Oh«, flüsterte Clary. Was hätte sie auch sonst sagen sollen? »Wie viele andere Welten gibt es denn?«
»Das weiß niemand. Hunderttausende, vielleicht Millionen.«
»Und das sind alles … tote Welten? Aufgezehrt?« Clarys Magen zog sich zusammen, aber vielleicht lag es auch an dem Ruck, den die Kutsche machte, als sie über einen roten Mini fuhren. »Das klingt so traurig.«
»Das habe ich nicht gesagt.« Das dunkle orangefarbene Licht, das wie ein Dunstschleier über der Stadt lag, drang durch die Fenster und hob sein scharfes Profil hervor. »Es gibt vermutlich andere lebendige Welten, so wie unsere. Aber nur Dämonen können sich zwischen ihnen bewegen. Vermutlich weil sie überwiegend körperlos sind; allerdings kennt niemand den genauen Grund. Viele Hexenmeister haben Versuche unternommen, sind aber stets daran gescheitert. Nichts von der Erde kann die Schranken zwischen den Welten durchdringen. Wenn wir dazu in der Lage wären, könnten wir sie vielleicht aufhalten und verhindern, dass sie hierherkommen, aber bisher ist es niemandem gelungen herauszufinden, wie sie es machen. Inzwischen kommen immer mehr. Früher gab es nur kleine Invasionen von Dämonen, mit denen man leicht fertig werden konnte. Aber allein seit dem Jahr meiner Geburt sind mehr Dämonen durch die Schranken gedrungen als in allen Jahren davor zusammengenommen. Der Rat muss ständig Schattenjäger entsenden und sehr oft kehren sie nicht zurück.«
»Aber wenn du den Kelch der Engel hättest, könntest du weitere erschaffen, oder? Weitere Dämonenjäger?«, fragte Clary vorsichtig.
»Ja«, bestätigte Jace. »Aber wir haben den Kelch schon seit über fünfzehn Jahren nicht mehr in unserem Besitz und viele von uns sterben jung. Wir werden also allmählich immer weniger.«
»Könnt ihr euch denn nicht, äh …« Clary suchte nach dem richtigen Wort. »Fortpflanzen?«
Jace brach in Gelächter aus, genau in dem Moment, als die Kutsche eine scharfe Linkskurve fuhr. Er trotzte der Fliehkraft, doch Clary wurde gegen ihn geschleudert. Jace fing sie auf und hielt sie sanft, aber bestimmt auf Abstand. Sie spürte den kalten Abdruck seines Ringes wie ein Stück Eis auf ihrer verschwitzten Haut. »Natürlich«, sagte er. »Wir finden es toll, uns fortzupflanzen. Das ist eine unserer Lieblingsbeschäftigungen.«
Clary riss sich von ihm los, das Gesicht rot vor Scham, und schaute wieder aus dem Fenster. Sie fuhren auf ein schweres gusseisernes Tor zu, an dem sich dunkle Pflanzen emporrankten.
»Wir sind da«, verkündete Jace, als das sanfte Rollen der Räder auf dem Asphalt vom Holpern über Kopfsteinpflaster abgelöst wurde. Clary erkannte eine Inschrift auf dem Bogen, als sie durch das Tor fuhren: Marmorfriedhof der Stadt New York.
»Aber in Manhattan werden doch schon seit hundert Jahren keine Menschen mehr begraben, weil ihnen der Platz ausgegangen ist, oder?«, sagte sie. Die Kutsche fuhr durch eine schmale Gasse mit hohen Steinmauern zu beiden Seiten.
»Die City of Bones existiert schon länger.« Die Kutsche kam holpernd zum Stehen. Clary zuckte zusammen, als Jace den Arm ausstreckte, aber er wollte nur die Tür an ihrer Seite öffnen. Sein Arm war schlank und muskulös und mit feinen goldenen Härchen überzogen.
»Man hat keine Wahl, oder?«, fragte sie. »Wenn es darum geht, ein Schattenjäger zu sein, meine ich. Man kann sich nicht einfach dagegen entscheiden.«
»Nein.« Die Tür schwang auf und ließ einen Schwall stickiger Luft hinein. Die Kutsche hatte auf einem weiten Rasenstück angehalten, das von moosbewachsenen Marmorwänden umgeben war. »Aber wenn ich eine Wahl hätte, würde ich mich trotzdem dafür entscheiden.«
»Warum?«
Jace zog eine Augenbraue hoch, was Clary sofort neidisch machte. Sie hatte sich schon immer gewünscht, das zu können. »Weil es das ist, was ich gut kann.«
Er schob sich an ihr vorbei und sprang aus der Kutsche. Clary rutschte zur Kante der Sitzbank, sodass ihre Beine in der Luft hingen. Es war ziemlich hoch. Entschlossen sprang sie. Ihre Füße schmerzten beim Aufprall auf den Boden, aber sie fiel nicht hin. Triumphierend drehte sie sich um und sah, dass Jace sie beobachtete. »Ich hätte dir geholfen«, sagte er.
Sie blinzelte. »Schon in Ordnung. Das war nicht nötig.«
Jace schaute hinter sich. Bruder Jeremiah stieg lautlos mit wallender Robe vom Kutschbock herab. Seine Gestalt warf keinen Schatten auf das von der Sonne verbrannte Gras.
Kommt, sagte er. Er schwebte von der Kutsche und den beruhigenden Lichtern der Second Avenue davon, auf den dunklen Mittelpunkt des Gartens zu. Es war klar, dass sie ihm folgen sollten.
Das Gras war trocken und raschelte unter den Füßen, aber die Marmorwände zu beiden Seiten schimmerten glatt und weiß wie Perlen. Namen und Daten waren in sie eingemeißelt. Clary brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass sie Gräber kennzeichneten. Ein Schauer fuhr ihr über den Rücken. Wo waren die Leichen? In den Wänden, stehend begraben, als seien sie bei lebendigem Leib eingemauert worden …?
Während sie die Inschriften las, hatte sie nicht auf ihre Schritte geachtet, und als sie plötzlich mit etwas zusammenstieß, das eindeutig lebendig war, schrie sie laut auf.
Es war Jace. »Schrei nicht so. Du weckst noch die Toten.«
Sie musterte ihn stirnrunzelnd. »Warum bleiben wir stehen?«
Er zeigte auf Bruder Jeremiah, der vor einer Engelsstatue innegehalten hatte. Sie war nur ein wenig größer als er selbst, ihr Sockel mit Moos bewachsen. Der Marmor der Statue war so glatt, dass er fast durchsichtig schimmerte; das Gesicht des Engels wirkte entschlossen, schön und traurig zugleich. In ihren langen weißen Händen hielt die Statue einen Kelch, dessen Rand mit Edelsteinen besetzt war. Irgendetwas an diesem Engel schien Clarys Erinnerung zu wecken, denn er kam ihr auf unheimliche Weise vertraut vor. Auf dem Sockel stand eine Jahreszahl, 1234, umgeben von den Wörtern: Nephilim: facilis descensus averni.
»Soll das der Kelch der Engel sein?«, fragte sie.
Jace nickte. »Und das dort unten auf dem Sockel ist das Motto der Nephilim, der Schattenjäger.«
»Was bedeutet es?«
Jace’ Lächeln blitzte in der Dunkelheit auf. »Es bedeutet: ›Seit 1234 sehen wir Schattenjäger in Schwarz besser aus als die Witwen unserer Feinde.‹«
»Jace …«
Es bedeutet: Der Abstieg zur Hölle ist leicht, erklärte Jeremiah.
»Hübsch, und so aufbauend«, meinte Clary und bekam trotz der Hitze eine Gänsehaut.
»Das hier ist ein kleiner Scherz der Brüder«, sagte Jace. »Du wirst schon sehen.«
Sie schaute Bruder Jeremiah an. Er hatte eine schwach leuchtende Stele aus irgendeiner Innentasche seiner Robe geholt und zog mit deren Spitze das Muster einer Rune auf dem Sockel der Statue nach. Plötzlich öffnete sich der Mund des Marmorengels zu einem stummen Schrei und ein gähnendes schwarzes Loch klaffte in dem grasbewachsenen Boden zu Jeremiahs Füßen. Es sah aus wie ein offenes Grab.
Langsam trat Clary an den Rand des Lochs und blinzelte hinein. Stufen aus Granit, deren Kanten durch jahrelangen Gebrauch ausgetreten waren, führten in die Tiefe. In regelmäßigen Abständen waren Fackeln über der Treppe angebracht, die in intensivem Grün und Blau leuchteten. Der Fuß der Treppe verlor sich in der Dunkelheit.
Jace nahm die Stufen mit der Leichtigkeit eines Mannes, dem die Situation zwar nicht unbedingt angenehm, aber doch vertraut war. Auf halbem Weg zur ersten Fackel blieb er stehen und blickte zu ihr hinauf. »Komm schon«, sagte er ungeduldig.
Clary hatte kaum ihren Fuß auf die erste Stufe gestellt, als ihr Arm mit einem kalten Griff gepackt wurde. Sie schaute überrascht auf. Bruder Jeremiah hielt sie am Handgelenk und seine eisigen weißen Finger gruben sich in ihre Haut. Sie konnte den knöchernen Schimmer seines vernarbten Gesichts hinter der Kapuze sehen.
Fürchte dich nicht, sagte seine Stimme in ihrem Kopf. Es würde mehr als eines einzelnen menschlichen Schreis bedürfen, um diese Toten aufzuwecken.
Als er ihren Arm wieder freigab, stolperte sie mit hämmerndem Herzen hinter Jace die Stufen hinunter, der am Fuß der Treppe auf sie wartete. Er hatte eine der grün leuchtenden Fackeln aus der Halterung genommen und hielt sie auf Augenhöhe vor sich. Sie verlieh seiner Haut einen blassen grünen Schimmer. »Alles in Ordnung?«
Clary nickte, denn sie traute sich nicht zu sprechen. Die Stufen endeten auf einem flachen Absatz; vor ihnen erstreckte sich ein langer schwarzer Tunnel, aus dessen Wänden gewundene Baumwurzeln hervorragten. An seinem Ende war ein schwaches bläuliches Licht zu erkennen. »Es ist so … dunkel«, sagte sie matt.
»Soll ich deine Hand halten?«
Clary hielt beide Hände hinter den Rücken, wie ein kleines Kind. »Hör auf, so von oben herab mit mir zu reden.«
»Tja, ich kann ja wohl schlecht von unten hinauf mit dir reden. Dazu bist du zu klein.« Jace schaute an ihr vorbei und die Fackel versprühte Funken, als er weiterging. »Nur keine Umstände, Bruder Jeremiah«, sagte er gedehnt. »Geh ruhig vor. Wir sind direkt hinter dir.«
Clary zuckte zusammen. Sie war noch immer nicht an das stille Kommen und Gehen des Archivars gewöhnt. Er schwebte lautlos an ihr vorbei und in den Tunnel hinein. Einen kurzen Moment später folgte sie ihm und schob Jace’ ausgestreckte Hand von sich.
Das Erste, was Clary von der Stadt der Stille sah, waren endlose Reihen hoher Marmorbögen, die sich in der Ferne verloren wie ordentlich aufgereihte Spalierbäume eines Obstgartens. Der harte Marmor schimmerte in der Farbe hellen Elfenbeins und sah aus wie poliert; an einigen Stellen waren schmale Streifen Onyx, Jaspis und Jade eingesetzt. Während sie vom Tunnel aus auf den Wald aus Bögen zugingen, sah Clary, dass der Boden mit den gleichen Runen versehen war, die manchmal Jace’ Haut in Linien, Spiralen und kunstvoll verschlungenen Mustern bedeckten.
Als die drei durch den ersten Marmorbogen schritten, tauchte etwas Großes und Weißes zu ihrer Linken auf wie ein Eisberg vor dem Bug der Titanic. Es war ein weißer Steinblock, glatt und quadratisch, in dessen Vorderseite eine Art Tür eingelassen war. Clary fühlte sich an ein Spielhäuschen für Kinder erinnert, in dem sie gerade nicht mehr aufrecht stehen konnte.
»Das ist ein Mausoleum«, erklärte Jace und richtete das Licht der Fackel darauf. Clary sah, dass eine Rune in die mit Eisenriegeln verschlossene Tür eingemeißelt war. »Ein Grab. Hier bestatten wir unsere Toten.«
»Alle eure Toten?« Sie hätte ihn gerne gefragt, ob auch sein Vater hier beerdigt war, aber er war bereits weitergegangen und konnte sie nicht mehr hören. Sie eilte ihm hinterher, denn sie wollte an diesem unheimlichen Ort nicht mit Bruder Jeremiah allein sein. »Hattest du nicht gesagt, es sei eine Bibliothek?«
Die Stadt der Stille hat viele Ebenen, warf Jeremiah ein. Und nicht all unsere Toten sind hier bestattet. Es gibt ein weiteres Beinhaus in Idris, das natürlich viel größer ist. Aber auf dieser Ebene befinden sich die Mausoleen und der Ort der Feuerbestattung.
»Der Ort der Feuerbestattung?«
Diejenigen, die in der Schlacht sterben, werden verbrannt und aus ihrer Asche werden die Marmorbögen errichtet, die du hier siehst. Das Blut und die Gebeine der Dämonenjäger sind ein machtvoller Schutz gegen das Böse – Selbst über den Tod hinaus dient der Rat der Sache.
Wie anstrengend, dachte Clary, das ganze Leben zu kämpfen und diesen Kampf selbst dann noch fortsetzen zu müssen, wenn das Leben vorbei war. Aus den Augenwinkeln konnte sie die rechteckigen weißen Grabkammern sehen, die sich in ordentlichen Reihen zu beiden Seiten erhoben und deren Türen von außen verschlossen waren. Jetzt verstand sie, warum dieser Ort Stadt der Stille genannt wurde: Ihre einzigen Bewohnerwaren die Stillen Brüder und die Toten, die sie so eifrig bewachten.
Inzwischen standen sie vor einer weiteren Treppe, die noch tiefer in die Dunkelheit hineinführte. Jace hielt die Fackel hoch und sie warf Schatten an die Wände. »Wir steigen jetzt zur zweiten Ebene hinunter, wo sich die Archive und die Ratszimmer befinden«, sagte er, als wolle er sie beruhigen.
»Wo sind die Wohnbereiche?«, fragte Clary, teils aus Höflichkeit, teils aus Neugier. »Wo schlafen die Brüder?«
Schlafen?
Das stille Wort hing in der Dunkelheit zwischen ihnen. Jace lachte und die Flamme der Fackel in seiner Hand flackerte. »Das musstest du ja fragen.«
Am Fuß der Treppe befand sich ein weiterer Tunnel, der sich an seinem Ende zu einem rechteckigen Platz verbreiterte, dessen Ecken jeweils ein Turm aus geschnitzten Knochen markierte. An den Seiten des Platzes brannten Fackeln in langen Onyxhaltern und die Luft roch nach Asche und Rauch. In der Mitte des Platzes stand ein langer Tisch aus schwarzem, hell marmoriertem Basalt. An der dunklen Wand hinter dem Tisch hing ein enormes silbernes Schwert, dessen Heft die Form ausgebreiteter Flügel hatte, mit der Spitze nach unten. Entlang des Tischs saß eine Reihe Stiller Brüder, jeder in die gleiche pergamentfarbene Robe gekleidet wie Jeremiah.
Jeremiah verlor keine Zeit. Wir sind angekommen. Clarissa, trete vor den Rat der Stadt der Stille.
Clary sah Jace an, der jedoch verwirrt blinzelte. Bruder Jeremiah hatte offenbar nur in ihrem Kopf gesprochen. Sie schaute zum Tisch, auf die lange Reihe der stummen Gestalten in ihren schweren Roben. Der Boden des Platzes zeigte ein Schachbrettmuster aus goldener Bronze und einem dunkleren Rot. Direkt vor dem Tisch befand sich ein großes Quadrat aus schwarzem Marmor, verziert mit einem parabelförmigen Muster aus silbernen Sternen.
Clary trat in die Mitte des schwarzen Quadrats, als trete sie vor ein Erschießungskommando. Sie hob den Kopf. »In Ordnung«, sagte sie. »Und jetzt?«
Die Brüder gaben ein Geräusch von sich, das Clary die Haare im Nacken und auf den Armen zu Berge stehen ließ, ein Geräusch wie ein Seufzen oder ein Stöhnen. Einmütig hoben sie die Hand und schoben die Kapuzen zurück, sodass ihre vernarbten Gesichter und die leeren Augenhöhlen sichtbar wurden.
Clary hatte zwar schon Bruder Jeremiahs unverhülltes Gesicht gesehen, trotzdem krampfte sich ihr Magen zusammen. Es war, als würde sie eine Reihe von Totenköpfen ansehen – wie einer dieser mittelalterlichen Holzschnitte, auf denen die Toten herumliefen, sich unterhielten und auf den aufgetürmten Leibern der Lebenden tanzten. Ihre zugenähten Münder schienen sie anzugrinsen.
Der Rat grüßt dich, Clarissa Fray, hörte sie nicht nur eine, sondern ein Dutzend Stimmen in ihrem Kopf sagen. Einige klangen tief und heiser, andere weich und monoton, aber alle waren fordernd und beharrlich und drängten gegen die fragilen Schranken ihres Geistes.
»Stopp«, sagte sie und zu ihrem Erstaunen klang ihre Stimme fest und entschlossen. Der Lärm in ihrem Kopf riss so abrupt ab wie eine Schallplatte, die sich plötzlich nicht länger dreht. »Sie können in meinen Kopf hineinschauen«, sagte sie, »aber erst, wenn ich bereit bin.«
Wenn du unsere Hilfe nicht willst, können wir auch darauf verzichten. Schließlich hast du uns um Unterstützung gebeten.
»Sie wollen wissen, was in meinem Kopf ist, und das möchte ich auch. Das heißt aber nicht, dass Sie nicht vorsichtig vorgehen sollten«, erwiderte Clary.
Der Bruder, der in der Mitte des Tischs saß, stützte das Kinn auf seine dünnen weißen Finger. Zugegeben, es ist ein interessantes Puzzle, sagte er und die Stimme, die sie hörte, war ruhig und neutral. Und wenn du dich nicht wehrst, besteht auch kein Grund, Zwang anzuwenden.
Clary biss die Zähne zusammen. Sie wollte sich wehren, ihnen Widerstand leisten, wollte diese aufdringlichen Stimmen aus ihrem Kopf verbannen. Es fiel ihr schwer, einfach abzuwarten und eine solch schwerwiegende Verletzung ihres intimsten, persönlichsten Inneren zu erlauben …
Aber sie sagte sich, dass dies aller Wahrscheinlichkeit nach bereits geschehen war. Das hier war nichts anderes als das Aufdecken eines vergangenen Verbrechens, des Diebstahls ihrer Erinnerung. Wenn es funktionierte, würde das wiederhergestellt werden, was man ihr genommen hatte. Sie schloss die Augen.
»Fangen Sie an«, sagte sie.
Der erste Kontakt erfolgte in Form eines Flüsterns in ihrem Kopf, so zart, als würde ein herabfallendes Blatt sie streifen. Sag dem Rat deinen Namen.
Clarissa Fray.
Weitere Stimmen gesellten sich zu der ersten. Wer bist du?
Ich bin Clary. Meine Mutter ist Jocelyn Fray. Ich wohne 807 Berkeley Place in Brooklyn. Ich bin fünfzehn Jahre alt. Der Name meines Vaters war …
Plötzlich schien ihr Geist zurückzuschnellen wie ein Gummiband und sie taumelte lautlos in einen Wirbel von Bildern, die an die Innenseiten ihrer geschlossenen Lider geworfen wurden. Ihre Mutter scheuchte sie mitten in der Nacht über eine dunkle Straße, an deren Rändern sich schmutzige Schneehaufen auftürmten. Dann ein niedriger grauer und bleierner Himmel, Reihen schwarzer, kahler Bäume. Ein leeres, in die Erde gegrabenes Rechteck, in das ein schlichter Sarg herabgelassen wurde. Asche zu Asche. Jocelyn, die in ihre Patchwork-Decke gehüllt war und mit Tränen in den Augen hastig ein Kästchen schloss und unter ein Kissen schob, als Clary ins Zimmer kam. Sie sah erneut die Initialen auf der Schachtel: J. C.
Die Bilder kamen jetzt schneller, als würde sie ein Daumenkino durchblättern. Clary stand oben an einer Treppe und schaute einen schmalen Gang hinunter. Wieder sah sie Luke, vor ihm auf dem Boden seine grüne Reisetasche. Jocelyn stand vor ihm und schüttelte den Kopf. »Warum jetzt, Lucian? Ich dachte, du wärst tot …« Clary blinzelte; Luke sah anders aus, fast fremd. Er hatte einen Bart und seine Haare waren lang und unordentlich – Zweige senkten sich herab und versperrten ihr die Sicht; sie war wieder im Park und grüne Elfen, so klein wie Zahnstocher, schwebten zwischen den roten Blumen umher. Freudig streckte sie die Hand nach einer der Elfen aus, aber ihre Mutter schrie entsetzt auf und riss sie hoch. Dann war es erneut Winter auf der dunklen Straße und sie rannten, dicht zusammengedrängt unter einem Regenschirm; Jocelyn schob und zog sie zwischen den aufgetürmten Schneewänden hindurch. Ein Torweg aus Granit tauchte im Schneegestöber auf – über der Tür waren Worte eingemeißelt: DER MAGNIFIZIÖSE. Dann stand sie in einem Eingang, der nach Eisen und schmelzendem Schnee roch. Ihre Finger waren taub vor Kälte. Eine Hand unter ihrem Kinn hob ihren Kopf und oben an der Wand entdeckte sie mehrere Worte, von denen ihr zwei sofort ins Auge fielen: MAGNUS BANE.
Plötzlich fuhr ein stechender Schmerz durch ihren linken Arm. Sie schrie auf, während die Bilder verblassten und sie nach oben getrieben wurde und die Oberfläche ihres Bewusstseins durchbrach wie ein Taucher, der aus den Fluten emporschnellt. Etwas Kaltes drückte sich an ihre Wange. Sie riss die Augen auf und sah silberne Sterne. Sie musste zweimal blinzeln, ehe ihr klar wurde, dass sie auf dem Marmorfußboden lag, die Knie an die Brust gezogen. Als sie sich bewegen wollte, schoss ein heißer Schmerz durch ihren Arm.
Vorsichtig richtete sie sich auf. Die Haut über ihrem linken Ellbogen war aufgeschürft und blutete. Sie musste darauf gelandet sein, als sie das Bewusstsein verlor. Auf ihrem T-Shirt war Blut. Als sie sich verwirrt umschaute, erblickte sie Jace, der sie ansah, zwar vollkommen reglos, aber sehr blass um die Nase.
Magnus Bane. Die Worte bedeuteten etwas, aber was? Doch ehe sie die Frage laut aussprechen konnte, unterbrach Bruder Jeremiah sie.
Die Blockade in deinem Kopf ist stärker, als wir erwartet hatten, erklärte er. Nur derjenige, der sie errichtet hat, kann sie ohne Gefahr entfernen. Würden wir es tun, so würde das deinen Tod bedeuten.
Clary rappelte sich auf und hielt sich den verletzten Arm. »Aber ich weiß nicht, wer die Blockade errichtet hat. Wenn ich es wüsste, wäre ich nicht hierhergekommen.«
Die Antwort auf diese Frage ist mit deinen Gedanken verwoben, sagte Bruder Jeremiah. Du hast sie als Schriftzug in deinem Wachtraum gesehen.
»Magnus Bane? Aber … was kann das schon sein?«
Es ist genug. Bruder Jeremiah stand auf. Wie auf ein Zeichen erhob sich auch der Rest der Bruderschaft. In einer Geste stillschweigender Anerkennung verneigten die Männer den Kopf vor Jace und verschwanden dann zwischen den Säulen. Nur Bruder Jeremiah blieb zurück. Er sah teilnahmslos zu, wie Jace zu Clary eilte.
»Ist mit deinem Arm alles in Ordnung? Lass mich mal sehen«, forderte er und umfasste ihr Handgelenk.
»Au! Es ist nichts. Lass das, du machst es nur noch schlimmer«, sagte Clary und versuchte, sich loszumachen.
»Du blutest auf die Sprechenden Sterne«, sagte er. Clary schaute auf den Boden und sah, dass er recht hatte: Auf dem schwarzen und silbernen Marmor war ein Blutfleck. »Ich wette, irgendwo gibt es auch für diesen Fall ein Gesetz.« Vorsichtig drehte er ihren Arm um, sanfter, als sie es ihm zugetraut hätte. Dann zog er die Unterlippe zwischen die Zähne und pfiff leise. Clary blickte auf ihren Arm und erkannte, dass er vom Ellbogen bis zum Handgelenk mit Blut bedeckt war. Ihr Arm fühlte sich steif an und pochte vor Schmerz.
»Ist das der Moment, wo du dein T-Shirt in Streifen reißt, um meine Wunde zu verbinden?«, witzelte sie. Sie hasste den Anblick von Blut, besonders den ihres eigenen.
»Wenn es dir darum ging, dass ich mir die Kleider vom Leib reiße, hättest du mich nur bitten müssen.« Er griff in die Tasche und holte seine Stele heraus. »Das wäre nicht annähernd so schmerzhaft gewesen.«
Als sie sich an den stechenden Schmerz erinnerte, den die Stele bei ihrer ersten Berührung verursacht hatte, wappnete sie sich, doch dieses Mal spürte sie nur eine leichte Wärme, während der glühende Stab leicht über ihre Wunde glitt.
»So, das war’s schon«, sagte Jace und richtete sich auf. Clary beugte verblüfft ihren Arm – das Blut war zwar noch da, aber die Wunde schien verschwunden, ebenso wie der Schmerz und die Steifheit. »Und wenn du das nächste Mal vorhast, dich zu verletzen, um meine Aufmerksamkeit zu erregen, dann denk dran, dass ein paar süße Worte Wunder wirken können.«
Unwillkürlich verzog Clary den Mund zu einem Lächeln. »Ich werde daran denken«, sagte sie, und als er sich abwandte, fügte sie hinzu: »Danke.«
Jace ließ die Stele in seine hintere Hosentasche gleiten, ohne sich zu ihr umzudrehen, aber sie glaubte, aus seiner Schulterhaltung eine gewisse Befriedigung herauslesen zu können. »Bruder Jeremiah«, sagte er und rieb sich die Hände, »du bist die ganze Zeit sehr still gewesen. Bestimmt möchtest du uns an ein paar deiner Gedanken teilhaben lassen.«
Ich habe den Auftrag, euch aus der Stadt der Stille hinauszuführen, und das ist alles, entgegnete der Archivar. Clary fragte sich, ob sie es sich nur einbildete oder ob seine »Stimme« tatsächlich leicht pikiert klang.
»Wir finden auch selbst hinaus«, schlug Jace hoffnungsvoll vor. »Ich bin sicher, dass ich den Weg noch kenne …«
Die Wunder der Stadt der Stille sind nicht für die Augen der Nichteingeweihten bestimmt, sagte Jeremiah und kehrte ihnen mit einem lautlosen Flattern seiner Robe den Rücken zu. Hier entlang.
Als sie ins Freie traten, atmete Clary tief die schwere Morgenluft ein und genoss den Geruch der Stadt, diese Mischung aus Smog, Schmutz und Menschen. Jace schaute sich aufmerksam um. »Es wird bald regnen.«
Er hat recht, dachte Clary, während sie in den eisengrauen Himmel hinaufschaute. »Fahren wir mit der Kutsche zurück zum Institut?«
Jace schaute von Bruder Jeremiah, der reglos wie eine Statue verharrte, zu der Kutsche, die wie ein schwarzer Schatten im Torbogen zur Straße stand. Dann grinste er.
»Auf keinen Fall«, sagte er. »Ich hasse diese Dinger. Lass uns ein Taxi nehmen.«
Jace beugte sich nach vorne und schlug mit dem Kopf gegen die Trennscheibe zwischen Rücksitz und Fahrer. »Biegen Sie links ab! Links! Ich hab gesagt, Sie sollen den Broadway nehmen, Sie hirnamputierter Idiot!«
Der Taxifahrer reagierte, indem er das Steuer so scharf nach links riss, dass Clary gegen Jace geschleudert wurde. Sie stieß einen verärgerten Aufschrei aus. »Warum müssen wir überhaupt den Broadway nehmen?«
»Ich sterbe vor Hunger und zu Hause sind nur noch die Reste vom Chinesen.« Er nahm sein Mobiltelefon aus der Tasche und wählte eine Nummer. »Alec! Wach auf!«, brüllte er in den Hörer. Clary konnte ein verärgertes Brummen am anderen Ende hören. »Wir treffen uns bei Taki’s. Frühstück. Ja, du hast mich richtig verstanden. Frühstück. Was? Es ist nur ein paar Blocks entfernt. Komm in die Gänge.«
Er beendete das Gespräch und schob das Handy in eine seiner vielen Taschen, während das Taxi am Straßenrand anhielt. Jace reichte dem Fahrer ein Bündel Geldscheine und schob Clary mit dem Ellbogen aus dem Wagen. Als er auf dem Gehweg hinter ihr stand, streckte er sich wie eine Katze und breitete die Arme aus. »Willkommen im tollsten Restaurant von New York.«
Das Restaurant sah nicht nach etwas Besonderem aus – ein flacher Backsteinbau, der in der Mitte durchhing wie ein eingefallenes Souffle. Darüber prangte ein ramponierter Neonschriftzug mit seinem Namen, der hin und wieder flackerte. Zwei Männer in langen Mänteln, die Filzhüte tief ins Gesicht gezogen, trieben sich vor dem schmalen Eingang des fensterlosen Gebäudes herum.
»Sieht aus wie ein Gefängnis«, bemerkte Clary.
Jace zeigte mit dem Finger auf sie. »Aber könntest du im Gefängnis Spaghetti Fra Diavolo bestellen, nach denen du dir die Finger lecken würdest? Wohl kaum.«
»Ich will keine Spaghetti. Ich will wissen, was Magnus Bane ist.«
»Nicht was, sondern wer. Es ist ein Name.«
»Und weißt du auch, wer hinter diesem Namen steckt?«
»Ja, ein Hexenmeister«, erwiderte Jace mit betont sachlicher Stimme. »Denn nur ein Hexenmeister hätte eine solche Blockade in deinem Kopf errichten können. Oder vielleicht einer der Stillen Brüder, aber sie waren es ja nicht.«
»Ist er ein Hexenmeister, von dem du schon mal gehört hast?«, hakte Clary nach. Allmählich hatte sie Jace’ vernünftigen Ton satt.
»Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor …«
»Hi!« Es war Alec, der aussah, als wäre er aus dem Bett gefallen und mitsamt Pyjamahose direkt in die Jeans gestiegen. Seine ungekämmten Haare standen wild in alle Richtungen ab. Er kam mit großen Schritten auf sie zu, die Augen auf Jace geheftet, und ignorierte Clary wie üblich. »Izzy ist unterwegs«, sagte er. »Sie bringt den Irdischen mit.«
»Simon? Wo kommt der denn her?«, fragte Jace.
»Er ist heute Morgen ganz früh aufgetaucht. Konnte es wohl ohne Izzy nicht mehr aushalten. Rührend.« Alec klang amüsiert. Clary hätte ihm am liebsten einen Tritt verpasst. »Was ist jetzt, gehen wir rein? Ich bin am Verhungern.«
»Ich auch«, sagte Jace. »Ich könnte ein paar frittierte Mäuseschwänze vertragen.«
»Was?«, fragte Clary, überzeugt, dass sie sich verhört hatte.
Jace grinste sie an. »Entspann dich. Es ist ein ganz normales Restaurant.«
An der Tür wurden sie von einem der davorstehenden Männer aufgehalten. Als dieser sich aufrichtete, konnte Clary einen kurzen Blick auf das Gesicht unter dem Hut werfen. Seine Haut war dunkelrot und seine breiten, kantigen Hände endeten in blauschwarzen Fingernägeln. Clary versteifte sich, aber Jace und Alec schienen unbesorgt. Sie sagten etwas zu dem Mann, der daraufhin nickte, zurücktrat und sie vorbeiließ.
»Jace«, zischte Clary, als sich die Tür hinter ihnen schloss. »Wer war das?«
»Du meinst Gancy?« Jace ließ seinen Blick durch das hell erleuchtete Restaurant schweifen. Obwohl der Raum fensterlos war, wirkte er freundlich und einladend. Gemütliche Sitzecken aus Holz reihten sich aneinander, jede mit bunten Kissen gepolstert. Liebenswert zusammengewürfeltes Geschirr stand auf der Theke, hinter der ein blondes Mädchen in rosaweißer Servierschürze flink einem untersetzten Mann in einem Flanellhemd Wechselgeld herausgab. Sie sah Jace, winkte und bedeutete ihm, sie sollten sich setzen, wo sie wollten. »Clancy hält unerwünschte Gäste fern«, sagte Jace und führte sie zu einer der Sitzecken.
»Er ist ein Dämon«, zischte Clary. Ein paar der Gäste drehten sich zu ihr um – ein Junge mit spitzen blauen Dreadlocks saß neben einem hübschen indischen Mädchen mit langem schwarzem Haar und hauchdünnen goldenen Flügeln, die aus ihrem Rücken zu wachsen schienen. Der Junge schaute finster. Clary stellte erleichtert fest, dass das Restaurant fast leer war.
»Nein, ist er nicht«, sagte Jace und setzte sich auf eine Bank. Clary wollte neben ihn rutschen, aber Alec war schneller. Vorsichtig nahm sie den beiden gegenüber Platz; trotz Jace’ Behandlung war ihr Arm noch immer steif. Sie fühlte sich hohl und ganz leicht benommen, als hätten die Stillen Brüder in sie hineingegriffen und ihr Innerstes herausgekratzt. »Er ist ein Ifrit«, erklärte Jace. »Das sind Hexenmeister ohne Zauberkräfte. Halbe Dämonen, die nichts verhexen können, aus welchem Grund auch immer.«
»Arme Schweine«, sagte Alec und nahm eine der Speisekarten. Auch Clary nahm eine Karte und riss erstaunt die Augen auf. Heuschrecken in Honig waren als Spezialität aufgeführt, ebenso wie rohes Fleisch, ganze rohe Fische und etwas, das sich Fledermaus auf Toast nannte. Auf einer der Getränkeseiten standen die diversen Blutgruppen, die es vom Fass gab – zu Clarys Erleichterung waren es verschiedene Sorten von Tierblut, statt der menschlichen Blutgruppen A, Null oder B negativ. »Wer isst denn einen ganzen rohen Fisch?«, fragte sie laut.
»Wassergeister«, erwiderte Alec. »Seikies, vielleicht auch die eine oder andere Nixe.«
»Lass am besten die Finger von den Elbengerichten«, sagte Jace und schaute Clary über den Rand der Speisekarte hinweg an. »Sie machen Menschen ein bisschen verrückt. Du isst eine Elbenpflaume und im nächsten Moment rennst du nackt und mit einem Geweih auf dem Kopf die Madison Avenue entlang. Nicht, dass mir das je passiert wäre«, fügte er rasch hinzu.
Alec lachte. »Weißt du noch …«, setzte er an und erzählte eine Geschichte, in der so viele seltsame Worte und Eigennamen vorkamen, dass Clary gar nicht erst versuchte, ihm zu folgen. Stattdessen beobachtete sie Alec, während er mit Jace sprach. Er verströmte eine unruhige, fast fieberhafte Energie, die vorher nicht da gewesen war. Etwas an Jace schien seine Sinne zu schärfen, ihn konzentrierter zu machen. Wenn sie die beiden zusammen malen würde, dachte sie, würde sie Jace ein wenig verschwommen darstellen, während Alec deutlich hervortreten und ganz aus scharfen, klaren Flächen und Winkeln bestehen würde.
Jace hielt während Alecs Wortschwall den Blick nach unten gerichtet, lächelte ein wenig und klopfte mit dem Fingernagel an sein Wasserglas. Sie spürte, dass er an etwas anderes dachte, und empfand eine plötzliche Sympathie für Alec. Es war bestimmt nicht leicht, Jace gern zu haben. Ich habe über euch gelacht, weil mich Liebesbezeugungen amüsieren, vor allem, wenn die Liebe nicht erwidert wird.
Jace blickte auf, als die Kellnerin vorbeikam. »Bekommen wir irgendwann auch mal einen Kaffee?«, fragte er laut und schnitt Alec mitten im Satz das Wort ab.
Alec verstummte und seine Energie schwand. »Ich …«
Clary beeilte sich, etwas zu sagen. »Für wen ist all das rohe Fleisch bestimmt?«, fragte sie und deutete auf die dritte Seite der Speisekarte.
»Werwölfe«, meinte Jace. »Aber ab und zu habe ich auch nichts gegen ein blutiges Steak.« Er beugte sich vor, streckte seine Hand über den Tisch und blätterte in Clarys Speisekarte. »Die Gerichte für Menschen sind hier hinten.«
Sie studierte die ganz gewöhnlichen Menüs und fühlte sich wie betäubt. Es war einfach alles zu viel. »Sie haben Smoothies?«
»Das Aprikosen-Pflaumen-Smoothie mit Wildblütenhonig ist einfach göttlich«, sagte Isabelle, die plötzlich zusammen mit Simon aufgetaucht war. »Rutsch rüber«, meinte sie zu Clary, die sich so dicht an die Wand schob, dass sie die kalten Backsteine an ihrem Arm spürte. Simon, der sich neben Isabelle setzte, schenkte ihr ein leicht verlegenes Lächeln, das sie jedoch nicht erwiderte. »Du solltest mal einen probieren.«
Da Clary sich nicht sicher war, ob Isabelle mit ihr redete oder mit Simon, hielt sie lieber den Mund. Isabelles Haare kitzelten sie im Gesicht; sie rochen nach einem Vanilleparfüm. Clary unterdrückte ein Niesen. Sie hasste Parfüm mit Vanille und hatte nie verstanden, warum manche Mädchen unbedingt wie eine Nachspeise riechen wollten.
»Wie ist es in der Stadt der Gebeine gelaufen?«, fragte Isabelle und schlug ihre Speisekarte auf. »Habt ihr herausgefunden, was in Clarys Kopf los ist?«
»Wir haben einen Namen«, erwiderte Jace. »Magnus …«
»Sei still«, zischte Alec und schlug mit der geschlossenen Speisekarte nach Jace, der ihn daraufhin mit schmerzverzerrtem Gesicht ansah und sich den Arm rieb. »Herrje! Was hast du nur für ein Problem?«
»In diesem Laden wimmelt es von Schattenwesen. Das weißt du ganz genau. Ich denke, du solltest versuchen, die Details eurer Nachforschungen für dich zu behalten.«
»Nachforschungen?«, lachte Isabelle. »Sind wir jetzt Detektive? Vielleicht sollten wir uns alle einen Codenamen zulegen.«
»Gute Idee«, sagte Jace. »Ich bin Baron Heißsporn von Hugenstein.«
Alec musste lachen und spuckte das Wasser wieder in sein Glas. In dem Moment kam die Kellnerin, um ihre Bestellungen aufzunehmen. Auch aus der Nähe betrachtet, war sie ein hübsches blondes Mädchen; allerdings leuchteten ihre Augen irritierend – vollkommen blau, ohne Pupillen und das geringste Weiß. Sie lächelte und enthüllte dabei scharfe kleine Zähne. »Wisst ihr schon, was ihr wollt?«
Jace grinste. »Das Übliche«, sagte er und die Kellnerin schenkte ihm ein Lächeln.
»Für mich auch«, stimmte Alec ein, bekam aber kein Lächeln. Isabelle bestellte umständlich ein Früchte-Smoothie, Simon wollte Kaffee und Clary entschied sich nach kurzem Zögern für einen großen Kaffee und Kokos-Pfannkuchen. Die Kellnerin zwinkerte ihr mit einem blauen Auge zu und stolzierte davon.
»Ist sie auch ein Ifrit?«, fragte Clary und sah ihr nach.
»Kaelie? Nein. Sie ist halb Fee, glaube ich«, meinte Jace.
»Sie hat Nixenaugen«, sagte Isabelle nachdenklich.
»Wisst ihr wirklich nicht, was sie ist?«, fragte Simon.
Jace schüttelte den Kopf. »Ich achte ihre Privatsphäre.« Er verpasste Alec einen Stoß in die Rippen. »Hey, lass mich mal kurz raus.«
Mit finsterem Blick machte Alec Platz. Clary schaute Jace nach, als er zu Kaelie hinüberging. Sie lehnte an der Theke und sprach durch die Durchreiche zur Küche mit dem Koch, von dem Clary jedoch nur einen gebeugten Kopf mit einer Kochmütze sehen konnte. Große pelzige Ohren ragten durch Löcher auf beiden Seiten der Kochmütze heraus.
Kaelie lächelte Jace an, der einen Arm um sie legte. Sie schmiegte sich an ihn. Clary fragte sich, ob Jace das etwa unter »Achtung ihrer Privatsphäre« verstand.
Isabelle verdrehte die Augen. »Er sollte die Bedienung wirklich nicht so anmachen.«
Alec schaute sie an. »Du glaubst doch nicht, dass er es ernst meint, oder? Dass er sie mag, meine ich.«
Isabelle zuckte die Achseln. »Sie ist ein Schattenwesen«, sagte sie, als würde das alles erklären.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Clary.
Isabelle schaute sie gelangweilt an. »Was verstehst du nicht?«
»Diese ganze Schattenwesengeschichte. Ihr jagt sie nicht, weil sie keine echten Dämonen sind, aber sie sind auch keine Menschen. Vampire töten beispielsweise, sie trinken Blut …«
»Nur bösartige Vampire trinken das Blut lebender Menschen«, warf Alec ein. »Und die dürfen wir töten.«
»Und was sind Werwölfe? Nichts weiter als zu groß geratene Hündchen?«
»Sie töten Dämonen«, sagte Isabelle. »Solange sie uns in Ruhe lassen, kümmern wir uns auch nicht um sie.«
Genauso als würde man Spinnen leben lassen, weil sie Mücken fressen, dachte Clary. »Das heißt also, sie sind gut genug, um nicht getötet zu werden, gut genug, euch euer Essen zu kochen, gut genug, um mit ihnen zu flirten – aber nicht wirklich gut genug? Ich meine, nicht so gut wie Menschen?«
Isabelle und Alec schauten sie an, als würde sie Urdu sprechen. »Anders als Menschen«, sagte Alec schließlich.
»Besser als Irdische?«, fragte Simon.
»Nein«, sagte Isabelle entschieden. »Man könnte einen Irdischen zu einem Schattenjäger machen. Ich meine, wir stammen von Irdischen ab. Aber man könnte aus einem Schattenwesen nie ein Mitglied des Rats machen. Sie können die Runen nicht tragen.«
»Also sind sie schwach?«, fragte Clary.
»Das würde ich nicht sagen«, entgegnete Jace, während er wieder auf die Sitzbank neben Alec rutschte. Seine Haare waren zerzaust und er hatte Lippenstift auf der Wange. »Zumindest nicht, wenn ein Peri, ein Djinn, ein Ifrit oder, Gott weiß, wer sonst noch zuhört.« Er grinste, als Kaelie mit dem Essen erschien. Clary betrachtete ihre Pfannkuchen. Sie sahen fantastisch aus: goldbraun und mit Honig übergossen. Sie nahm einen Bissen, während Kaelie auf ihren hohen Absätzen davonstakste. Die Pfannkuchen waren köstlich.
»Ich habe dir doch gesagt, dass es das tollste Restaurant in ganz Manhattan ist«, sagte Jace und aß seine Pommes frites mit den Fingern.
Sie schaute zu Simon, der den Kopf gesenkt hatte und in seinem Kaffee rührte.
»Mmmf«, sagte Alec mit vollem Mund.
»Genau«, entgegnete Jace. Er schaute Clary an. »Das Ganze ist keine einseitige Angelegenheit. Wir mögen den Schattenwesen vielleicht nicht immer von Herzen zugetan sein, aber das gilt auch umgekehrt. Ein paar Hundert Jahre des gemeinsamen Abkommens können tausend Jahre der Feindseligkeit nicht auslöschen.«
»Ich bin sicher, sie weiß nicht, was das Abkommen ist, Jace«, gab Isabelle zu bedenken.
»Doch, das weiß ich.«
»Aber ich nicht«, sagte Simon.
»Mag sein, aber wen interessiert schon, was du weißt?« Jace betrachtete eine Fritte, bevor er hineinbiss. »Zu gewissen Zeiten und an gewissen Orten genieße ich die Gesellschaft gewisser Schattenwesen. Aber wir werden nicht unbedingt zu denselben Partys eingeladen.«
»Moment mal.« Isabelle setzte sich plötzlich aufrecht hin. »Wie, sagtest du, war noch mal der Name?«, wandte sie sich an Jace. »Der Name in Clarys Kopf?«
»Ich habe keinen Namen genannt. Zumindest nicht vollständig. Er lautet Magnus Bane«, sagte Jace und grinste Alec spöttisch an. »Klingt schwer nach ›übervorsichtiger Nervensäge‹.«
Alec murmelte eine Antwort in seinen Kaffee, die unschwer als »blödes Arschloch« zu erkennen war. Clary musste innerlich grinsen.
»Eigentlich ist das unmöglich … aber ich bin mir fast sicher …« Isabelle tauchte in ihre Handtasche und holte einen zusammengefalteten blauen Papierbogen heraus, mit dem sie wild herumwedelte. »Seht euch das mal an.«
Alec griff nach dem Papier, schaute es sich mit einem Achselzucken an und reichte es an Jace weiter. »Eine Einladung zu einer Party. Irgendwo in Brooklyn«, sagte er. »Ich hasse Brooklyn.«
»Sei nicht so ein Snob«, erwiderte Jace. Dann setzte er sich aufrecht hin und musterte Isabelle. »Wo hast du das her, Izzy?«
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Von diesem Wassergeist im Pandemonium. Er sagte, es würde super werden. Er hatte einen ganzen Packen von Einladungen.«
»Was für eine Party?«, fragte Clary ungeduldig. »Zeigt ihr uns den Zettel endlich mal, oder nicht?«
Jace drehte den Bogen um, sodass alle ihn lesen konnten. Auf dem Papier, das fast so dünn war wie Pergament, stand in einer feinen, eleganten Handschrift etwas geschrieben. Es war die Ankündigung einer Zusammenkunft im bescheidenen Heim von Magnus dem Magnifiziösen, dem Hexenmeister, und versprach den Gästen »einen hinreißenden Abend voller Vergnügungen, die Ihre wildesten Vorstellungen übertreffen werden«.
»Magnus«, sagte Simon. »Magnus wie Magnus Bane?«
»Ich bezweifle, dass es viele Hexenmeister mit dem Namen Magnus in und um New York gibt«, meinte Jace.
Alec blinzelte. »Heißt das, dass wir zu der Party gehen müssen?«, fragte er in die Runde.
»Wir müssen gar nichts«, antwortete Jace, während er das Kleingedruckte auf dem Papier studierte. »Aber dieser Einladung nach zu urteilen, ist Magnus Bane der Oberste Hexenmeister von Brooklyn.« Er schaute zu Clary. »Und mich persönlich würde schon mal interessieren, was der Name des Obersten Hexenmeisters von Brooklyn in deinem Kopf zu suchen hat.«
Die Party begann nicht vor Mitternacht. Da bis dahin noch viel Zeit war, verschwanden Jace und Alec in der Waffenkammer und Isabelle und Simon verkündeten, sie wollten einen Spaziergang im Central Park machen, damit sie ihm die Feenkreise zeigen könne. Simon fragte Clary, ob sie vielleicht mitkommen wolle. Aber obwohl sie eine mörderische Wut verspürte, lehnte sie mit der Begründung ab, sie sei zu erschöpft.
Dafür musste sie nicht einmal lügen – sie war wirklich erschöpft, ihr Körper war noch immer geschwächt von den Nachwirkungen des Giftes und dem Mangel an Schlaf. Sie legte sich auf ihr Bett im Institut, streifte die Schuhe ab und wollte schlafen, aber es gelang ihr nicht. Das Koffein sprudelte in ihren Adern wie Mineralwasser und in ihrem Kopf rasten die Bilder. Immer wieder sah sie das Gesicht ihrer Mutter, das mit panischem Ausdruck auf sie herabblickte. Sie sah die Sprechenden Sterne, hörte die Stimmen der Stillen Brüder in ihrem Kopf. Warum war eine Blockade in ihrem Kopf? Warum sollte ein mächtiger Hexenmeister sie dort errichtet haben, zu welchem Zweck? Sie fragte sich, welche Erinnerungen sie verloren haben mochte, welche Erlebnisse sie gehabt hatte, an die sie sich nicht mehr erinnern konnte. Oder vielleicht war alles, an das sie sich zu erinnern glaubte, eine Lüge …?
Sie setzte sich auf, denn sie konnte ihre Gedanken und die damit verbundenen Konsequenzen nicht länger ertragen. Barfuß lief sie durch den Korridor in Richtung Bibliothek. Vielleicht konnte Hodge ihr helfen.
Aber in der Bibliothek war niemand. Das Nachmittagslicht fiel durch die halb zugezogenen Vorhänge und warf goldene Streifen auf den Fußboden. Auf dem Schreibtisch lag das Buch, aus dem Hodge vorgelesen hatte; sein abgenutzter Ledereinband glänzte. Daneben schlief Hugo auf seiner Stange, den Schnabel unter einen Flügel gesteckt.
Meine Mutter kannte dieses Buch, dachte Clary. Sie hat es berührt und darin gelesen. Bei dem Gedanken, etwas in den Händen zu halten, das ein Teil des Lebens ihrer Mutter gewesen war, empfand sie einen nagenden Schmerz in der Magengegend. Sie lief durch den Raum und legte ihre Hände auf das Buch. Das sonnenbeschienene Leder fühlte sich warm an. Sie schlug den Band auf.
Etwas Zusammengefaltetes, das zwischen den Seiten gelegen hatte, glitt auf den Boden zu ihren Füßen. Sie bückte sich, um es aufzuheben, und faltete es reflexartig auseinander.
Es war die Fotografie einer Gruppe junger Menschen, keiner von ihnen älter als Clary. Sie wusste, dass die Aufnahme vor mindestens zwanzig Jahren entstanden sein musste, allerdings nicht wegen der Kleidung, die die Porträtierten trugen – unauffällig und schwarz wie die der meisten Schattenjäger –, sondern weil sie sofort ihre Mutter erkannte: Jocelyn, höchstens siebzehn oder achtzehn, die halblangen Haare offen und das Gesicht ein wenig runder, Kinn und Mund weniger ausgeprägt. Sie sieht aus wie ich, dachte Clary benommen.
Jocelyn hatte den Arm um einen Jungen gelegt, den Clary nicht kannte. Es versetzte ihr einen Schock. Ihr war nie der Gedanke gekommen, dass ihre Mutter je mit einem anderen Mann als ihrem Vater zusammen gewesen sein könnte. Schließlich hatte Jocelyn sich nie verabredet oder an Liebschaften interessiert gezeigt. Sie war nicht wie die meisten alleinerziehenden Mütter, die bei den Treffen der Elternvertretung nach potenziellen Dads Ausschau hielten. Oder wie Simons Mutter, die ständig ihr Profil in Internet-Singlebörsen auf den neuesten Stand brachte. Der Junge auf dem Foto sah gut aus: Seine Haare waren so blond, dass sie fast weiß schienen, und er hatte dunkle Augen.
»Das ist Valentin«, sagte eine Stimme neben ihrem Ellbogen. »Mit siebzehn.«
Clary zuckte zusammen und ließ dabei fast das Foto fallen. Hugo gab ein aufgeschrecktes und mürrisches Krächzen von sich, ehe er es sich wieder mit gesträubtem Gefieder auf seiner Stange gemütlich machte.
Es war Hodge, der sie mit neugierigen Augen musterte.
»Tut mir leid«, sagte sie, legte die Fotografie auf den Tisch und trat eilig zurück. »Ich wollte nicht in Ihren Sachen herumschnüffeln.«
»Schon gut.« Er berührte das Foto mit einer vernarbten und wettergegerbten Hand – ein seltsamer Kontrast zu den makellosen, ordentlichen Ärmelaufschlägen seines Tweedanzugs. »Es ist schließlich ein Teil deiner Vergangenheit.«
Clary trat wieder an den Schreibtisch heran, als übe das Foto eine magische Anziehungskraft auf sie aus. Der weißhaarige Junge auf dem Foto lächelte Jocelyn an, seine Augen auf eine Art zusammengekniffen, wie man sie nur bei Jungen sieht, die ihr Gegenüber wirklich mögen. Niemand hatte sie jemals so angesehen, dachte Clary. Mit seinem kühlen, fein geschnittenen Gesicht wirkte Valentin vollkommen anders als ihr Vater, dessen offenes Lächeln und rötliches Haar sie geerbt hatte. »Valentin sieht … irgendwie nett aus.«
»Nett war er nun wirklich nicht«, erwiderte Hodge mit einem schiefen Lächeln, »aber er war charmant, clever und sehr überzeugend. Erkennst du sonst noch jemanden?«
Sie betrachtete das Foto erneut. Links hinter Valentin stand ein dünner Junge mit einem hellbraunen Haarschopf. Er hatte die breiten Schultern und schlaksigen Handgelenke eines Halbwüchsigen, der noch nicht zu voller Größe aufgeschossen ist. »Sind Sie das?«
Hodge nickte. »Und sonst …?«
Sie musste zweimal hinsehen, ehe sie noch einen weiteren Jungen identifizieren konnte: Er wirkte so jung, dass er fast nicht zu erkennen war. Schließlich verrieten ihn seine Brille und die Augen dahinter, so blau wie Meerwasser. »Luke«, sagte sie.
»Lucian. Und hier.« Hodge beugte sich über das Foto und zeigte auf ein elegant aussehendes Teenager-Paar, beide dunkelhaarig, das Mädchen einen halben Kopf größer als der Junge. Ihr Gesicht war schmal und hart, fast wie das eines Raubtiers. »Die Lightwoods«, sagte er. »Und das hier« – er zeigte auf einen sehr attraktiven Jungen mit schwarzem, lockigem Haar und einem kantigen, gebräunten Gesicht – »ist Michael Wayland.«
»Er sieht Jace gar nicht ähnlich.«
»Jace kommt nach seiner Mutter.«
»Ist das eine Art Klassenfoto?«, fragte Clary.
»Nicht ganz. Es ist ein Bild des Kreises, aufgenommen in dem Jahr, als er gegründet wurde. Deshalb steht Valentin, der Anführer, vorn und Luke rechts neben ihm. Er war Valentins Stellvertreter.«
Clary wandte den Blick ab. »Ich begreife immer noch nicht, warum meine Mutter bei so etwas mitgemacht hat.«
»Du musst verstehen …«
»Das sagen Sie andauernd«, erwiderte Clary verärgert. »Ich weiß nicht, warum ich irgendwas verstehen muss. Sagen Sie mir doch einfach die Wahrheit und entweder verstehe ich sie oder nicht.«
Hodges Mundwinkel zuckten. »Wie du meinst.« Er hielt inne, um Hugo zu streicheln, der wichtigtuerisch am Rand des Schreibtischs herumstolzierte. »Das Abkommen hatte nie die Unterstützung des gesamten Rats. Besonders die ehrwürdigeren Familien sehnten sich nach den alten Zeiten, als die Schattenwesen noch getötet werden durften. Nicht nur aus Hass, sondern weil sie sich dadurch sicherer fühlten. Es ist einfacher, eine Bedrohung als Masse zu behandeln, als Gruppe und nicht als Individuen, die einzeln beurteilt werden müssen … und die meisten von uns kannten jemanden, der von einem Schattenwesen verletzt oder getötet worden war. Es gibt nichts, was mit dem moralischen Absolutismus der Jugend vergleichbar wäre. Als Kind ist es einfach, an Gut und Böse, Hell und Dunkel zu glauben. Valentin hat das nie aufgegeben, weder seinen destruktiven Idealismus noch seinen leidenschaftlichen Hass auf alles, das für ihn ›nicht menschlich‹ ist.«
»Aber meine Mutter hat er geliebt«, sagte Clary.
»Ja. Er hat deine Mutter geliebt. Und er liebte Idris …«
»Was war denn so toll an Idris?«, fragte Clary und hörte selbst den mürrischen Ton in ihrer Stimme.
»Es war«, setzte Hodge an, korrigierte sich dann aber, »es ist die Heimat der Nephilim – der Ort, an dem sie wirklich sie selbst sein können, sich nicht verstecken und nichts mit dem Schleier des Zauberglanzes kaschieren müssen. Ein vom Erzengel gesegneter Ort. Erst wenn du Alicante mit seinen Gläsernen Türmen gesehen hast, weißt du überhaupt, was eine Stadt ist. Diese Metropole ist schöner, als du dir vorstellen kannst.« In seiner Stimme klang ein tiefer Schmerz mit.
Clary erinnerte sich plötzlich an ihren Traum. »Haben in der Gläsernen Stadt jemals … Tanzveranstaltungen stattgefunden?«
Hodge blinzelte sie an, als erwache er gerade aus einem Traum. »Jede Woche. Ich habe nie daran teilgenommen, aber deine Mutter ging regelmäßig auf die Bälle. Genau wie Valentin.« Er lachte leise in sich hinein. »Ich war eher ein Gelehrter, verbrachte meine Tage in der Bibliothek von Alicante. Die Bücher, die du hier siehst, sind nur ein Bruchteil der Schätze, die dort stehen. Ich hatte gehofft, mich eines Tages vielleicht der Bruderschaft anschließen zu können, aber nach dem, was ich getan hatte, kam das natürlich nicht mehr infrage.«
»Das tut mir leid«, sagte Clary unbeholfen. Ihre Gedanken wurden noch immer von der Erinnerung an ihren Traum beherrscht. Gab es auf den Bällen einen Brunnen mit einer Meerjungfrau? Trug Valentin Weiß, sodass meine Mutter die Male auf seiner Haut durch den Stoffsehen konnte?
»Kann ich das behalten?«, fragte sie und zeigte auf das Foto.
Hodge zögerte einen Moment. »Mir wäre es lieber, wenn du es Jace nicht zeigen würdest«, sagte er schließlich. »Es gibt schon genug Dinge, mit denen er fertig werden muss – da sollte nicht auch noch ein Foto von seinem toten Vater auftauchen.«
»Natürlich.« Sie drückte das Foto an ihre Brust. »Danke.«
»Nicht der Rede wert.« Er schaute sie fragend an. »Bist du in die Bibliothek gekommen, um mit mir zu sprechen, oder hattest du einen anderen Grund?«
»Ich wollte wissen, ob Sie etwas vom Rat gehört haben. Über den Kelch. Und … meine Mom.«
»Ich habe heute Morgen eine kurze Antwort erhalten.«
»Und, hat der Rat Leute geschickt? Schattenjäger?«, fragte sie und konnte die Ungeduld in ihrer Stimme hören.
Hodge wandte den Blick von ihr ab. »Ja, das haben sie.«
»Warum wohnen sie dann nicht hier?«
»Man ist besorgt, dass das Institut von Valentin beobachtet wird. Je weniger er weiß, desto besser.« Hodge sah ihren verzweifelten Gesichtsausdruck und seufzte. »Es tut mir leid, dass ich dir nicht mehr sagen kann, Clarissa. Der Rat vertraut mir nicht besonders, selbst jetzt noch nicht. Man hat mir nur sehr wenig mitgeteilt. Ich wünschte, ich könnte dir helfen.«
Die Trauer in seiner Stimme hinderte sie daran, ihn weiter zu drängen. »Sie können mir helfen … Ich kann nämlich nicht schlafen«, sagte sie. »Ich grüble zu viel. Könnten Sie …«
»Ah, ein unruhiger Geist.« Seine Stimme war voller Mitgefühl. »Dagegen kann ich dir etwas geben. Warte hier.«
Der Trank, den Hodge ihr gab, roch angenehm nach Wacholder und Laub. Clary öffnete die Phiole auf dem Weg in ihr Zimmer und schnupperte daran. Unglücklicherweise war das Fläschchen noch offen, als Clary ihr Zimmer betrat, wo Jace ausgestreckt auf ihrem Bett lag und seelenruhig in ihrem Skizzenblock blätterte. Erschrocken schrie Clary auf und ließ die Phiole fallen; sie rollte über den Boden und die blassgrüne Flüssigkeit ergoss sich auf die Holzdielen.
»Oje«, sagte Jace, setzte sich auf und legte den Skizzenblock beiseite. »Ich hoffe, das war nichts Wichtiges.«
»Es war ein Schlaftrunk«, sagte sie wütend und berührte die Phiole mit der Spitze ihres Turnschuhs. »Und jetzt ist er hinüber.«
»Wenn bloß Simon hier wäre. Er könnte dich vermutlich in den Schlaf langweilen.«
Clary war nicht in der Stimmung, Simon zu verteidigen. Stattdessen setzte sie sich neben Jace aufs Bett und nahm ihm den Skizzenblock ab. »Normalerweise erlaube ich keinem, einen Blick darauf zu werfen.«
»Warum nicht?« Jace sah zerzaust aus, als hätte er eben noch geschlafen. »Du bist eine ziemlich gute Malerin. Stellenweise sogar hervorragend.«
»Meine Skizzen sind … wie ein Tagebuch. Nur dass ich nicht in Worten denke. Ich denke in Bildern, also male ich. Aber trotzdem ist es sehr privat.« Sie fragte sich, ob sie so verrückt klang, wie sie befürchtete.
Jace sah gekränkt aus. »Ein Tagebuch ohne Bilder von mir? Wo sind die heißen Fantasien? Die Titelbilder von Liebesromanen? Die …«
»Verlieben sich eigentlich alle Mädchen, denen du begegnest, in dich?«, fragte Clary leise.
Die Frage ließ seine Selbstsicherheit verpuffen, als hätte man mit einer Nadel in einen Luftballon gestochen. »Ich würde es nicht als Liebe bezeichnen«, sagte er nach einer Weile. »Zumindest …«
»Du könntest versuchen, nicht die ganze Zeit den Charmeur zu spielen«, sagte Clary. »Vielleicht wäre das für alle eine Erleichterung.«
Er schaute auf seine Hände. Sie sahen bereits aus wie die Hände von Hodge, übersät mit winzigen weißen Narben, auch wenn die Haut jung und faltenlos war. »Wenn du wirklich müde bist, könnte ich dafür sorgen, dass du einschläfst. Ich könnte dir eine Gutenachtgeschichte erzählen«, sagte er.
Sie sah ihn an. »Meinst du das ernst?«
»Ich meine alles ernst.«
Sie fragte sich, ob die Müdigkeit sie beide ein bisschen verrückt gemacht hatte. Aber Jace sah nicht müde aus, eher traurig. Sie schob den Skizzenblock auf den Nachttisch, streckte sich aus und rollte sich auf die Seite. »Okay.«
»Mach die Augen zu.«
Als sie die Augen schloss, sah sie immer noch kleine Lichtpunkte an den Innenseiten ihrer Lider, die an winzige Sternenexplosionen erinnerten.
»Es war einmal ein Junge«, begann Jace.
»Ein Schattenjäger-Junge?«, unterbrach Clary ihn sofort.
»Natürlich.« Einen Moment klang seine Stimme leicht amüsiert, doch als er weitersprach, war der Unterton verschwunden. »Als der Junge sechs Jahre alt war, schenkte sein Vater ihm einen Falken, den er abrichten sollte. ›Falken sind Raubvogels sagte der Vater, ›die Schattenjäger der Lüfte.‹
Der Falke mochte den Jungen nicht und der Junge mochte den Falken nicht. Sein spitzer Schnabel machte ihn nervös und die scharfen Augen schienen ihn ständig zu beobachten. Wenn er in seine Nähe kam, hackte der Falke mit dem Schnabel nach ihm und kratzte ihn mit den Krallen. Wochenlang bluteten die Handgelenke und Hände des Jungen. Er wusste nicht, dass der Vater einen Falken ausgesucht hatte, der über ein Jahr in freier Wildbahn gelebt hatte und daher fast unmöglich zu zähmen war. Aber der Junge versuchte es, weil der Vater ihm gesagt hatte, er solle den Falken abrichten, und er wollte seinen Vater nicht enttäuschen.
Der Junge blieb die ganze Zeit bei dem Falken, hielt ihn wach, indem er mit ihm sprach, und spielte ihm sogar Musik vor, denn es hieß, ein müder Vogel ließe sich leichter zähmen. Er lernte, mit der Ausrüstung umzugehen, mit der Haube, dem Brehlriemen und der Langfessel, mit der er den Vogel an seinem Handgelenk festband. Sein Vater hatte ihm aufgetragen, darauf zu achten, dass der Falke nichts sehen konnte, aber das brachte er nicht fertig. Stattdessen versuchte der Junge, sich dort hinzusetzen, wo der Vogel ihn sehen konnte, wenn er seine Flügel streichelte, denn er wollte, dass er ihm vertraute. Und er fütterte ihn aus der Hand. Zuerst wollte der Vogel nichts fressen; später fraß er jedoch so gierig, dass sein Schnabel die Haut der Handflächen aufschlitzte. Aber der Junge freute sich darüber, denn es war ein Fortschritt und er wollte, dass der Vogel ihn kennenlernte, selbst wenn dieser dazu sein Blut trinken musste.
Allmählich erkannte der Junge, dass der Falke schön war, dass seine schlanken Flügel für den schnellen Flug gemacht waren, dass er stark und geschickt, wild und geschmeidig war. Wenn er im Sturzflug auf den Boden zuschoss, bewegte er sich schnell wie ein Blitz. Als er lernte, zu kreisen und auf seinem Handgelenk zu landen, schrie der Junge fast vor Freude. Manchmal hüpfte der Vogel auf seine Schulter und legte ihm den Schnabel ins Haar. Er wusste, dass sein Falke ihn liebte, und als er sicher war, dass der Vogel nicht nur gezähmt, sondern perfekt abgerichtet war, ging er zu seinem Vater und zeigte ihm, was er geschafft hatte, in der Hoffnung, sein Vater würde stolz auf ihn sein.
Stattdessen nahm der Vater den Vogel, der nun zahm und zutraulich war, in die Hände und brach ihm das Genick. ›Ich habe dir gesagt, du sollst ihn abrichten‹, sagte der Vater und ließ den leblosen Körper des Falken zu Boden fallen. ›Stattdessen hast du ihm beigebracht, dich zu lieben. Falken sind aber keine liebevollen Haustiere: Ihre Natur ist kämpferisch, wild und grausam. Dieser Vogel war nicht gezähmt, er war gebrochen.›
Als sein Vater gegangen war, weinte der Junge um seinen Vogel, bis der Vater schließlich einen Bediensteten schickte, das tote Tier zu holen und zu begraben. Der Junge weinte nie wieder und er vergaß nie, was er gelernt hatte: dass lieben zerstören heißt und dass geliebt zu werden bedeutet, derjenige zu sein, der zerstört wird.«
Clary, die die ganze Zeit still dagelegen und kaum geatmet hatte, rollte auf den Rücken und öffnete die Augen. »Das ist eine schreckliche Geschichte«, sagte sie entrüstet.
Jace hatte die Beine angezogen und das Kinn auf die Knie gestützt. »Ja, wirklich?«, fragte er nachdenklich.
»Der Vater des Jungen ist furchtbar. Es ist eine Geschichte über Kindesmisshandlung. Ich hätte wissen sollen, was sich Schattenjäger unter einer Gutenachtgeschichte vorstellen – alles, wovon man entsetzliche Albträume bekommt …«
»Manchmal bekommt man von den Malen entsetzliche Albträume«, sagte Jace. »Wenn man noch zu jung dafür ist.« Er schaute sie nachdenklich an. Das Licht der Abenddämmerung drang durch die Vorhänge und machte aus seinem Gesicht eine Kontraststudie. Chiaroscuro, dachte sie, die Kunst von Licht und Schatten. »Wenn man es recht bedenkt, ist es eine gute Geschichte. Der Vater des Jungen hat nur versucht, ihn stärker zu machen. Unbeugsam.«
»Aber man muss lernen, ein wenig nachzugeben«, sagte Clary und gähnte. Trotz der schrecklichen Geschichte hatte der Rhythmus von Jace’ Stimme sie schläfrig gemacht. »Oder man zerbricht.«
»Nicht wenn man stark genug ist«, erwiderte Jace bestimmt. Er streckte die Hand aus und sie spürte, wie er mit dem Handrücken über ihre Wange streichelte. Sie merkte, dass ihr die Augen zufielen. Die Erschöpfung machte ihre Knochen weich und sie fühlte sich, als würde sie davongespült. Als sie einschlief, hörte sie seine Worte in ihrem Kopf nachhallen. Er hat mir alles gegeben, was ich wollte. Pferde, Waffen, Bücher, sogar einen Jagdfalken.
»Jace«, versuchte sie zu sagen. Aber der Schlaf hatte sie bereits übermannt. Er zog sie hinab und sie blieb stumm.
Eine drängende Stimme riss sie aus ihren Träumen. »Wach auf!« Langsam öffnete Clary die Augen. Sie fühlten sich schwer und verklebt an. Irgendetwas kitzelte in ihrem Gesicht. Haare!
Ruckartig setzte sie sich auf und krachte mit dem Kopf gegen etwas Hartes. »Au! Du hast mir gegen den Kopf geschlagen!«
Es war die Stimme eines Mädchens. Isabelle. Sie schaltete die Lampe neben dem Bett ein, schaute Clary vorwurfsvoll an und rieb sich den Schädel. Im Licht der Lampe schien sie förmlich zu schillern – sie trug einen langen silbernen Rock, ein paillettenbesetztes Top, ihre Nägel waren lackiert wie funkelnde Münzen und sie hatte ihr dunkles Haar mit silbernen Perlen durchflochten. Sie sah aus wie eine Mondgöttin. Clary hasste sie.
»Du hättest dich ja nicht so über mich beugen müssen. Du hast mich fast zu Tode erschreckt.« Clary rieb sich ebenfalls den Kopf. Direkt über ihrer Augenbraue spürte sie eine schmerzende Stelle. »Was willst du überhaupt?« Isabelle deutete auf den dunklen Nachthimmel vor dem Fenster. »Es ist fast Mitternacht. Wir müssen los, zu der Party, und du bist noch immer nicht umgezogen.«
»Ich wollte so gehen«, sagte Clary und zeigte auf ihr Ensemble aus Jeans und T-Shirt. »Ist das ein Problem?« »Ist das ein Problem?« Isabelle sah aus, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. »Natürlich ist das ein Problem! Kein Schattenwesen würde solche Kleider tragen. Und es ist eine Party. Du wirst auffallen wie ein bunter Hund, wenn du so … leger gekleidet bist«, sagte sie und schaute, als habe sie ein viel schlimmeres Wort als »leger« verwenden wollen.
»Ich wusste nicht, dass wir uns schick machen«, erwiderte Clary sauer. »Ich habe keine Partyklamotten dabei.« »Dann musst du dir welche von mir leihen.«
»Oh nein.« Clary dachte an das zu große T-Shirt und die weiten Jeans. »Ich meine, das geht doch nicht.« Isabelles Lächeln funkelte wie ihre Fingernägel. »Ich bestehe darauf.«
»Ich würde wirklich lieber meine eigenen Sachen anziehen«, protestierte Clary und wand sich unbehaglich, als Isabelle sie vor den bodenlangen Spiegel in ihrem Zimmer stellte.
»Das geht aber nicht«, sagte Isabelle. »Du siehst aus wie eine Achtjährige, und was noch schlimmer ist, du siehst aus wie eine Irdische.«
Clary schob rebellisch den Kiefer vor. »Von deinen Kleidern passt mir kein einziges.«
»Das werden wir ja sehen.«
Clary beobachtete Isabelle im Spiegel, als diese ihren Kleiderschrank durchstöberte. Ihr Zimmer sah aus, als sei darin eine Discokugel explodiert. Die Wände waren schwarz und schimmerten golden von der Farbe, die jemand in schwungvoller Schwammtechnik aufgetragen hatte. Überall lagen Kleidungsstücke: auf dem zerwühlten schwarzen Bett, über den Lehnen der Holzstühle. Sie quollen aus dem Schrank heraus und hingen an der großen Garderobe, die an einer Wand platziert worden war. Der Frisiertisch, dessen Spiegel eine pinkfarbene Pelzumrandung besaß, war übersät mit Glitter, Pailletten und Rouge- und Pudertöpfchen.
»Schönes Zimmer«, sagte Clary und dachte sehnsüchtig an ihre orangefarbenen Wände zu Hause.
»Danke. Ich habe es selbst gestrichen.« Isabelle kam mit einem engen schwarzen Teil vom Kleiderschrank zurück, das sie Clary zuwarf.
Clary faltete das Kleid auseinander und hielt es sich an. »Es sieht verdammt eng aus.«
»Es dehnt sich«, sagte Isabelle. »Zieh es an.«
Rasch schlüpfte Clary in das kleine Bad, das leuchtend blau gestrichen war, und zwängte sich das Kleid über den Kopf – es war eng und hatte winzige Spaghettiträger. Sie versuchte, flach zu atmen, und ging ins Schlafzimmer zurück, wo Isabelle in Sandalen auf dem Bett saß und sich ein paar juwelenbesetzte Ringe an die Zehen schob. »Du kannst wirklich froh sein, dass du so eine flache Brust hast«, sagte Isabelle. »Ich könnte so was nie ohne BH tragen.«
Clary schaute mürrisch. »Es ist zu kurz.«
»Es ist nicht zu kurz. Es ist prima«, meinte Isabelle und fummelte mit den Füßen unter dem Bett herum. Sie holte ein Paar Stiefel und schwarze Netzstrümpfe hervor. »Hier, das kannst du dazu anziehen. Damit siehst du größer aus.«
»Genau, denn ich bin flachbrüstig und ein Zwerg.« Clary zog den Saum ihres Kleides herunter, das gerade die obere Hälfte ihrer Oberschenkel bedeckte. Sie trug fast nie Röcke, und schon gar keine kurzen, und empfand es daher als äußerst beunruhigend, dass man so viel von ihren Beinen sah. »Wenn es schon an mir so kurz ist, wie kurz muss es dann erst an dir sein?«, überlegte sie laut. Isabelle grinste. »Ich trage es als Oberteil.«
Clary ließ sich auf das Bett fallen und zog die Strümpfe und die Schnürstiefel an, die ein wenig weit um die Waden waren, ansonsten aber passten. Sie band die Stiefel zu, stand auf und betrachtete sich im Spiegel. Sie musste zugeben, dass die Kombination aus schwarzem Kleid, Netzstrümpfen und hohen Stiefeln ziemlich scharf aussah. Das Einzige, was den Anblick verdarb, waren …
»Deine Haare«, sagte Isabelle. »Sie müssen unbedingt hochgesteckt werden. Setz dich.« Sie zeigte gebieterisch in Richtung Frisiertisch. Clary setzte sich davor und kniff die Augen zusammen, als Isabelle – nicht besonders sanft – ihre Zöpfe öffnete, die Haare auskämmte und mit Haarklammern hochsteckte. Clary öffnete die Augen genau in dem Moment, als ihr ein Puderquast ins Gesicht gedrückt wurde und sie in eine dichte Glitterwolke einhüllte. Sie hustete und sah Isabelle vorwurfsvoll an.
Isabelle lachte. »Schau nicht mich an, sondern dich.« Als sie in den Spiegel blickte, sah Clary, dass Isabelle ihre Haare zu einer eleganten Hochsteckfrisur eingeschlagen hatte, die von funkelnden Nadeln zusammengehalten wurde. Plötzlich erinnerte sie sich an ihren Traum, an das schwere Haar, das ihren Kopf nach unten drückte, als sie mit Simon tanzte … Unruhig rutschte sie auf dem Stuhl hin und her.
»Noch nicht aufstehen. Wir sind noch nicht fertig«, sagte Isabelle und nahm einen Eyeliner. »Mach die Augen auf.«
Clary riss die Augen auf und war froh, dass sie so ihre Tränen unterdrücken konnte. »Isabelle, kann ich dich mal was fragen?«
»Klar«, antwortete Isabelle und setzte fachmännisch den Eyeliner an.
»Ist Alec schwul?«
Isabelles Handgelenk zuckte, der Eyeliner rutschte ab und hinterließ einen langen schwarzen Strich von Clarys Augenwinkel bis zum Haaransatz. »Verdammt«, murmelte Isabelle und legte den Stift weg.
»Schon gut«, begann Clary und führte eine Hand an ihr Auge.
»Nein, ist es nicht.« Isabelle klang, als sei sie den Tränen nah, während sie in dem Chaos auf ihrem Frisiertisch wühlte. Schließlich fand sie ein Wattebällchen und reichte es Clary. »Hier, nimm das.« Sie setzte sich auf die Bettkante, ließ ihre Fußkettchen klimpern und schaute Clary durch ihren Haarvorhang an. »Wie bist du dahintergekommen?«, fragte sie schließlich.
»Ich …«
»Du darfst es auf keinen Fall irgendjemandem sagen.«
»Nicht einmal Jace?«
»Vor allem nicht Jace.«
»In Ordnung.« Clary merkte, wie steif ihre Stimme sich anhörte. »Ich glaube, mir war nicht klar, dass es so eine große Sache ist.«
»Für meine Eltern wäre es eine ziemlich große Sache«, sagte Isabelle leise. »Sie würden Alec verstoßen und ihn aus dem Rat werfen …«
»Wie? Man darf als Schattenjäger nicht schwul sein?«
»Es gibt zwar keine offizielle Vorschrift, aber es wird nicht gern gesehen. Ich meine, die Leute in unserem Alter sind weniger das Problem – glaube ich«, fügte sie unsicher hinzu und Clary erinnerte sich, dass Isabelle bisher nur wenigen Jugendlichen ihres Alters begegnet war. »Aber die ältere Generation. Wenn jemand schwul ist, dann wird nicht darüber gesprochen.«
»Oh«, sagte Clary und wünschte sich, sie hätte nie davon angefangen.
»Ich liebe meinen Bruder«, fuhr Isabelle leise fort. »Ich würde alles für ihn tun. Aber daran kann ich nichts ändern.«
»Wenigstens hat er dich«, sagte Clary unbeholfen und dachte einen Moment an Jace, der Liebe als etwas betrachtete, das dem Betreffenden nur das Herz brach. »Glaubst du wirklich, dass es Jace … etwas ausmachen würde?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Isabelle in einem Ton, dem zu entnehmen war, dass sie lieber das Thema wechseln wollte. »Aber das habe nicht ich zu entscheiden.«
»Vermutlich nicht«, meinte Clary. Sie beugte sich zum Spiegel vor und wischte mit dem Wattebällchen, das Isabelle ihr gegeben hatte, den verschmierten Eyeliner weg. Als sie sich wieder zurücklehnte, ließ sie die Watte vor Überraschung fast fallen: Was hatte Isabelle mit ihr angestellt? Ihre Wangenknochen sahen scharf und kantig aus, ihre Augen lagen tief in den Höhlen und waren von einem geheimnisvollen leuchtenden Grün umrahmt.
»Ich sehe aus wie meine Mom«, sagte sie verblüfft.
Isabelle hob die Augenbrauen. »Was? So alt? Vielleicht noch ein wenig Glitter …«
»Nein, kein weiterer Glitter«, stammelte Clary hastig. »Nein, es ist gut so. Es gefällt mir.«
»Prima.« Isabelles Fußkettchen klimperten, als sie vom Bett aufsprang. »Lass uns gehen.«
»Ich muss noch mal in mein Zimmer, etwas holen«, sagte Clary und stand auf. »Ach, noch was: Brauche ich irgendwelche Waffen? Trägst du welche?«
»Ich habe jede Menge davon.« Isabelle lächelte und streckte abwechselnd ihre Füße in die Luft, sodass ihre Kettchen bimmelten wie Weihnachtsglocken. »Die hier zum Beispiel. Die linke Kette ist aus Gold, was für Dämonen giftig ist, und die rechte ist gesegnetes Eisen, für den Fall, dass ich irgendwelchen unfreundlichen Vampiren oder Elben begegne – Elben hassen Eisen. In beide Kettchen sind Kraftrunen eingraviert, damit ich mordsmäßig zutreten kann.«
»Dämonenjagd und Mode«, sagte Clary. »Ich hätte nie gedacht, dass das zusammenpasst.«
Isabelle lachte laut auf. »Du würdest staunen …«
Die Jungs warteten am Eingang auf sie. Sie waren vollkommen in Schwarz gekleidet, sogar Simon, der eine etwas zu große schwarze Hose und sein eigenes, auf links gedrehtes TShirt trug, um das Band-Logo zu verbergen. Er stand unbehaglich ein wenig abseits, während Jace und Alec an der Wand lehnten und gelangweilt dreinschauten. Simon blickte auf, als Isabelle näher kam, ihre goldene Peitsche ums Handgelenk geschlungen und die Fußkettchen bimmelnd wie Glöckchen. Clary hatte erwartet, dass er sie verblüfft anstarren würde, denn Isabelle sah umwerfend aus. Aber seine Augen bewegten sich an ihr vorbei zu Clary, wo sie mit einem Ausdruck der Verwunderung haften blieben.
»Was ist das denn?«, fragte er und richtete sich auf. »Was du da anhast, meine ich.«
Clary schaute an sich herunter. Sie hatte eine leichte Jacke übergeworfen, damit sie sich nicht so nackt fühlte, und den Rucksack aus ihrem Zimmer geholt. Er hing über ihrer Schulter und baumelte wie gewohnt zwischen ihren Schulterblättern. Aber Simon blickte nicht auf ihren Rucksack; er blickte auf ihre Beine, als habe er sie noch nie zuvor gesehen.
»Das ist ein Kleid, Simon«, sagte Clary trocken. »Ich weiß, ich trage nicht oft Kleider, aber übertreibst du nicht ein wenig?« »Es ist so kurz«, erwiderte er verwirrt. Selbst in Dämonenjägerkluft sah er immer noch aus wie die Sorte Jungen, die bei einer Verabredung das Mädchen zu Hause abholen, nett zu den Eltern und freundlich zu den Haustieren sind, dachte Clary.
Jace hingegen sah aus wie die Sorte Jungen, die plötzlich hereingeschneit kommt und dann das Haus nur so zum Spaß niederbrennt. »Mir gefällt das Kleid«, sagte er und stieß sich von der Wand ab. Seine Augen wanderten langsam an ihr auf und ab, wie die streichelnden Pfoten einer Katze. »Aber es fehlt noch etwas.«
»Seit wann bist du Modeexperte?« Ihre Stimme klang stockend – er stand dicht vor ihr, so nah, dass sie seine Wärme spüren und den leicht verbrannten Geruch neu aufgebrachter Male riechen konnte.
Er nahm etwas aus seiner Jackentasche und reichte es ihr – einen langen, dünnen Dolch in einer Lederscheide. Der Griff des Dolches war mit einem einzelnen roten Stein in Form einer Rose verziert.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich wüsste nicht einmal, wie man damit umgeht …«
Er drückte ihr den Dolch in die Hand und schloss dann ihre Finger darum. »Du wirst es lernen. Es liegt dir im Blut«, fügte er leise hinzu.
Langsam zog sie ihre Hand zurück. »Okay.«
»Ich könnte dir eine Scheide dafür geben, die du dir um den Oberschenkel binden kannst«, bot Isabelle an. »Ich habe jede Menge davon.«
»Auf keinen Fall!«, protestierte Simon.
Clary warf ihm einen genervten Blick zu. »Danke, aber ich bin nicht der Typ für so was.« Sie steckte den Dolch in die Außentasche ihres Rucksacks.
Als sie die Tasche zuzog, schaute sie auf und sah, dass Jace sie unter schweren Lidern hervor beobachtete. »Und noch etwas«, sagte er. Er zog die funkelnden Klammern aus ihrem Haar, sodass es in warmen, schweren Locken herabfiel. Das Gefühl der weichen Haare auf ihrer nackten Haut war fremd und auf seltsame Art angenehm.
»Viel besser«, sagte er und sie dachte, dass dieses Mal seine Stimme ein wenig gestockt hatte.
Die Wegbeschreibung auf der Einladung führte sie in ein Industriegebiet in Brooklyn, wo die Straßen von Fabriken und Lagerhäusern gesäumt waren. Clary sah, dass manche Gebäude zu Lofts und Galerien umgebaut worden waren, aber ihre hoch aufragenden, rechteckigen Formen hatten noch immer etwas Bedrohliches und die wenigen Fenster waren mit Eisengittern gesichert.
Mithilfe des Sensors, den Isabelle bediente und der über eine Art Navigationssystem zu verfügen schien, machten sie sich von der U- Bahn-Station aus auf den Weg. Simon, der solche technischen Spielereien liebte, war fasziniert – oder zumindest tat er so, als sei der Sensor der Grund seiner Faszination. In der Hoffnung, möglichst wenig mit den anderen reden zu müssen, ließ Clary sich zurückfallen, während sie einen heruntergekommenen Park durchquerten, dessen Gras von der Sommerhitze verbrannt war. Zu ihrer Rechten schimmerten die Turmspitzen einer Kirche grau und schwarz vor dem Sternenlosen Nachthimmel.
»Komm schon«, sagte eine drängende Stimme an ihrem Ohr. Es war Jace, der auf sie gewartet hatte und jetzt neben ihr ging. »Ich will mich nicht ständig umschauen müssen, nur um sicherzugehen, dass dir nichts passiert ist.«
»Dann kümmre dich doch einfach nicht um mich.«
»Das letzte Mal, als ich dich allein gelassen habe, hat dich ein Dämon angegriffen«, erinnerte er sie.
»Oh, es täte mir wirklich furchtbar leid, wenn dein beschaulicher Abendspaziergang durch meinen plötzlichen Tod ruiniert würde.«
Er blinzelte. »Es gibt eine feine Grenze zwischen Sarkasmus und unverhohlener Feindschaft und du hast sie anscheinend gerade überschritten. Was ist los?«
Sie biss sich auf die Lippe. »Heute Morgen haben seltsame, unheimliche Typen in meinem Kopf herumgewühlt. Und gleich werde ich den seltsamen, unheimlichen Typen treffen, der als Erster in meinem Kopf herumgewühlt hat. Was ist, wenn mir nicht gefällt, was er dort findet?«
»Wie kommst du darauf, dass es dir nicht gefallen könnte?«
Clary schob sich die Haare aus ihrem verschwitzten Nacken. »Ich hasse es, wenn du eine Frage mit einer Gegenfrage beantwortest.«
»Nein, tust du nicht. Du findest es charmant. Aber willst du denn nicht die Wahrheit erfahren?«
»Nein. Ich meine, vielleicht. Ich weiß es nicht.« Sie seufzte. »Würdest du es wollen?«
»Das ist die richtige Straße«, rief Isabelle, die etwa zwanzig Meter vor ihnen ging. Sie befanden sich in einer schmalen Gasse mit alten Lagerhäusern, von denen die meisten allerdings den Eindruck machten, als ob dort Leute wohnten: Blumenkästen vor den Fenstern, Spitzengardinen, die in der schwülen Nachtluft flatterten, nummerierte Plastikmülleimer auf dem Bürgersteig. Clary schaute angestrengt und konzentriert auf die Szenerie, aber es ließ sich unmöglich sagen, ob das die Straße war, die sie in der Stadt der Gebeine gesehen hatte – in ihrer Vision war sie fast vollkommen unter Schnee begraben gewesen.
Sie spürte, wie Jace mit dem Finger sanft über ihre Schulter strich. »Absolut. Immer«, murmelte er.
Sie schaute ihn aus dem Augenwinkel an, denn sie wusste nicht, was er meinte. »Was?«
»Die Wahrheit«, sagte er. »Ich würde …«
»Jace!« Es war Alec, der nicht weit entfernt auf dem Bürgersteig stand. Clary fragte sich, warum seine Stimme so laut geklungen hatte.
Jace drehte sich um und ließ die Hand von ihrer Schulter gleiten.
»Ja?«
»Glaubst du, wir sind hier richtig?« Alec zeigte auf etwas, das Clary nicht sehen konnte; es war hinter einem großen schwarzen Wagen versteckt.
»Was haben wir denn hier?«Jace schloss zu Alec auf und Clary hörte ihn lachen. Als sie das Auto erreichte, sah sie es auch: mehrere silbern glänzende Motorräder mit tief liegendem schwarzem Chassis. Ölverschmierte Rohre und Leitungen wanden sich um die Fahrgestelle; sie sahen aus wie Adern. Die Maschinen hatten etwas unangenehm Organisches an sich, wie Kreaturen in einem Gemälde von Giger.
»Vampire«, sagte Jace.
»Für mich sehen sie eher aus wie Motorräder«, meinte Simon und gesellte sich zusammen mit Isabelle, die die Maschinen finster musterte, zu ihnen.
»Es sind auch Motorräder, aber sie wurden umgebaut, damit sie mit Dämonenenergie angetrieben werden können«, erklärte Isabelle. »Vampire fahren solche Maschinen, damit sie sich nachts schnell fortbewegen können. Es entspricht nicht unbedingt den Vereinbarungen des Bündnisses, aber …«
»Ich habe gehört, dass einige der Maschinen fliegen können«, sagte Alec eifrig. Er klang wie Simon, wenn er ein neues Videospiel ausprobierte. »Oder dass sie unsichtbar werden, wenn man einen Hebel betätigt. Oder unter Wasser fahren können.«
Jace war vom Bordstein gesprungen und ging um die Maschinen herum. Er betrachtete sie eingehend und berührte dann eines der glatten Fahrgestelle. Auf der Seite befand sich eine silberne Aufschrift: Nox invictus. »Siegreiche Nacht«, übersetzte er.
Alec schaute ihn befremdet an. »Was machst du da?«
Clary glaubte zu sehen, wie Jace die Hand wieder in die Jackentasche steckte. »Nichts.«
»Komm endlich weiter«, sagte Isabelle. »Ich hab mich nicht so aufgebrezelt, um dir dabei zuzusehen, wie du dich an ein paar Motorrädern in der Gosse zu schaffen machst.«
»Sie sind ein schöner Anblick«, meinte Jace und sprang wieder auf den Bürgersteig zurück. »Das musst du zugeben.«
»Ein schöner Anblick bin ich auch«, entgegnete Isabelle, die nicht so aussah, als wolle sie irgendetwas zugeben. »Jetzt komm endlich.«
Jace sah Clary an. »Dieses Haus«, fragte er und zeigte auf das Lagergebäude aus rotem Backstein. »Ist es das?«
Clary seufzte. »Ich denke schon«, meinte sie unsicher. »Aber sie sehen alle gleich aus.«
»Finden wir es heraus«, sagte Isabelle und ging mit entschlossenen Schritten die Treppe hinauf. Die anderen folgten ihr und drängten sich in den übel riechenden Eingang. Eine nackte Glühbirne baumelte an einem Kabel über ihren Köpfen und beleuchtete eine große Metalltür und eine Reihe von Klingeln an der linken Wand. Nur auf einer stand ein Name: Bane.
Isabelle drückte auf die Klingel. Nichts passierte. Sie klingelte erneut. Gerade wollte sie es zum dritten Mal versuchen, als Alec sie am Handgelenk festhielt. »Sei nicht so unhöflich«, mahnte er.
Sie funkelte ihn böse an: »Alec …«
In dem Moment flog die Tür auf.
Ein schlanker Mann stand im Rahmen und betrachtete sie neugierig. Isabelle fasste sich als Erste wieder und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Magnus? Magnus Bane?«
»Das bin ich.« Der Mann im Türrahmen war so groß und so dünn wie eine Bohnenstange; seine Haare bildeten eine Krone aus dichten schwarzen Stacheln. Der Form seiner schläfrigen Augen und dem goldenen Ton seiner gleichmäßig gebräunten Haut nach zu urteilen, war er Halbasiate. Er trug Jeans und ein schwarzes Hemd, das mit Dutzenden Metallschnallen bedeckt war. Seine Augen waren von einer Art Maske aus schwarzem Glitter umrahmt, die Lippen dunkelblau geschminkt. Er fuhr sich mit der Hand, an der fast an jedem Finger ein Ring steckte, durch die stachligen Haare und betrachtete sie nachdenklich. »Kinder der Nephilim«, sagte er. »Ich kann mich nicht erinnern, euch eingeladen zu haben.«
Isabelle holte ihre Einladung hervor und schwenkte sie wie eine weiße Fahne. »Ich habe eine Einladung. Und das hier« – mit einer ausladenden Bewegung ihres Armes deutete sie auf den Rest der Gruppe – »sind meine Freunde.«
Magnus zupfte ihr den Zettel aus der Hand und betrachtete ihn angewidert. »Ich muss betrunken gewesen sein«, sagte er. Dann riss er die Tür auf. »Kommt rein. Und versucht, meine Gäste am Leben zu lassen.«
Jace schob sich durch die Tür und musterte Magnus prüfend. »Selbst wenn einer von ihnen seinen Drink auf meine neuen Schuhe verschüttet?«
»Selbst dann.« Plötzlich schnellte Magnus’ Hand nach vorn, so rasch, dass Clary es kaum wahrnahm. Er riss Jace die Stele aus der Hand – Clary hatte gar nicht bemerkt, dass dieser sie hervorgeholt hatte – und hielt sie hoch. Jace sah leicht betreten aus. »Und das«, sagte Magnus und steckte die Stele in Jace’ Jeanstasche, »behältst du besser in der Hose, Schattenjäger.«
Magnus grinste, während er sich zur Treppe wandte und einen verblüfft dreinschauenden Jace zurückließ, der den anderen die Tür aufhielt. »Kommt rein«, sagte er. »Ehe noch jemand auf die Idee kommt, es sei meine Party.«
Sie schoben sich an Jace vorbei und lachten nervös. Nur Isabelle blieb stehen und schüttelte den Kopf. »Bitte versuch, ihn nicht zu verärgern. Denn dann wird er uns nicht helfen.«
Jace wirkte gelangweilt. »Ich weiß, was ich tue.«
»Das hoffe ich.« Isabelle rauschte mit wehenden Röcken an ihm vorbei.
Magnus’ Wohnung befand sich am Ende einer langen, wackligen Treppe. Simon beeilte sich, Clary einzuholen, die es augenblicklich bereute, dass sie eine Hand auf das Geländer gelegt hatte, um sich festzuhalten. Es war mit einem klebrigen, eklig grünen Zeug beschmiert.
»Igitt«, sagte Simon und bot ihr einen Zipfel seines T-Shirts an, damit sie ihre Hand daran abwischen konnte, was sie auch tat. »Ist alles in Ordnung? Du wirkst so … verstört.«
»Er kommt mir so bekannt vor. Magnus, meine ich.«
»Du glaubst also, er geht auf die St. Xavier School?«
»Sehr witzig.« Sie warf ihm einen wütenden Blick zu.
»Du hast recht. Für einen Schüler ist er zu alt. Aber ich glaube, ich hatte ihn letztes Jahr in Chemie.«
Clary lachte laut auf. Sofort war Isabelle bei ihnen und steckte ihren Kopf zwischen sie. »Was ist denn so lustig, Simon? Habe ich was verpasst?«
Simon war so anständig, verlegen zu schauen, schwieg aber. »Nein, du hast nichts verpasst«, murmelte Clary und ließ die beiden allein. Allmählich taten ihr in Isabelles hochhackigen Stiefeln die Füße weh. Als sie den oberen Treppenabsatz erreichte, humpelte sie ein wenig, doch sie vergaß den Schmerz in dem Moment, als sie durch die Tür zu Magnus’ Wohnung ging.
Das Loft wirkte riesig und war fast vollkommen unmöbliert. Die Fenster reichten vom Boden bis zur Decke und waren mit einem dicken Film aus Schmutz und Farbe beschmiert, sodass kaum Licht von der Straße hineindrang. Große Metallsäulen, um die sich bunte Lichterketten wanden, stützten eine gewölbte, rußige Decke. Die Türen waren aus den Angeln gehoben und am anderen Ende des Raumes zu einer improvisierten Theke über zerbeulte Mülltonnen gelegt worden. Eine Frau mit violetter Haut und einem metallischen Bustier mixte Drinks in hohen grellbunten Gläsern, die den darin enthaltenen Getränken eine ungewöhnliche Tönung gaben: Blutrot, Dunkelblau, Giftgrün. Selbst für eine New Yorker Barfrau arbeitete sie erstaunlich schnell und effizient – vermutlich nicht zuletzt deshalb, weil sie ein zweites Paar langer, eleganter Arme hatte. Clary fühlte sich an Lukes Statue der indischen Göttin Kali erinnert.
Die Partygäste sahen ebenso seltsam aus. Ein attraktiver Junge mit grünschwarzen Haaren grinste Clary über einen Teller mit rohem Fisch hinweg an. Seine Zähne waren scharf und gezackt wie die eines Hais. Neben ihm stand ein Mädchen mit langem dunkelblondem Haar, in das Blumen geflochten waren. Die Beine unter dem Saum ihres kurzen grünen Kleids endeten in Füßen mit Schwimmhäuten. Eine Gruppe junger Frauen, die so blass waren, dass Clary sich fragte, ob sie weiße Theaterschminke trugen, schlürfte aus geschliffenen Kristallgläsern eine dunkelrote Flüssigkeit, die für Wein zu dickflüssig schien. Die Mitte des Raums war voller Körper, die zu hämmernden, von den Wänden zurückprallenden Beats tanzten, obwohl Clary nirgendwo eine Band sehen konnte.
»Gefällt dir die Party?«
Sie drehte sich um und erkannte Magnus, der an einer der Säulen lehnte. Seine Augen leuchteten in der Dunkelheit. Sie ließ den Blick schweifen und stellte fest, dass Jace und die anderen verschwunden waren, von der Menge geschluckt.
Sie versuchte zu lächeln. »Gibt es einen bestimmten Anlass für die Party?«
»Den Geburtstag meiner Katze.«
»Oh. Wo ist denn Ihre Katze?«
Er stieß sich von der Säule ab und schaute ernst. »Ich weiß es nicht. Sie ist weggelaufen.«
Clary blieb eine Antwort erspart, da Jace und Alec plötzlich wieder auftauchten. Alec schaute wie üblich mürrisch drein. Jace trug eine Kette winziger schimmernder Blüten um den Hals und schien mit sich zufrieden. »Wo sind Simon und Isabelle?«, fragte Clary.
»Auf der Tanzfläche.«Jace zeigte hinter sich. Clary konnte die beiden gerade noch am Rand der Menge sehen. Simon tat, was er meistens tat, wenn er vorgab zu tanzen: Er wippte auf den Fußballen auf und ab und zog ein unbehagliches Gesicht. Isabelle wand sich geschmeidig wie eine Schlange um ihn herum und streichelte mit den Fingern über seine Brust. Sie warf ihm einen Blick zu, als beabsichtige sie, ihn in die nächste Ecke zu zerren und dort Sex mit ihm zu haben. Clary schlang die Arme um ihren Brustkorb, wobei ihre Armreifen aneinanderschlugen. Wenn sie noch enger tanzen, brauchen sie nicht einmal in eine Ecke zu gehen, dachte sie aufgebracht.
»Hör zu«, wandte Jace sich an Magnus, »wir müssen wirklich mit …«
»Magnus Bane!« Die tiefe, dröhnende Stimme gehörte zu einem überraschend kleinen Mann, der ungefähr Anfang dreißig zu sein schien. Er war kompakt und muskulös, hatte einen glatt rasierten Schädel und einen spitzen Ziegenbart. Mit einem zitternden Finger zeigte er auf Magnus. »Irgendjemand hat Weihwasser in den Tank meines Motorrads geschüttet. Es ist ruiniert. Hinüber. Alle Rohre sind geschmolzen.«
»Geschmolzen?«, murmelte Magnus. »Wie schrecklich.«
»Ich will wissen, wer das war.« Der Mann öffnete den Mund und enthüllte lange, spitze Eckzähne. Clary starrte ihn fasziniert an. Sie sahen überhaupt nicht so aus, wie sie sich Vampirzähne vorgestellt hatte, sondern waren dünn und scharf wie Nadeln. »Ich dachte, du hättest hoch und heilig versprochen, dass heute Abend keine Werwölfe hier sein würden, Bane.«
»Ich habe keine Kinder des Mondes eingeladen«, sagte Magnus und betrachtete seine glitzernden Fingernägel. »Gerade wegen eurer blöden kleinen Fehde. Wenn irgendeiner von ihnen beschlossen hat, deine Maschine lahmzulegen, war es jedenfalls keiner meiner Gäste und deshalb …«, er schenkte dem Mann ein gewinnendes Lächeln, »fällt das auch nicht unter meine Verantwortung.«
Der Vampir tobte vor Wut und zeigte mit dem Finger auf Magnus. »Willst du mir etwa sagen, dass …«
Magnus’ mit Glitter überzogener Zeigefinger zuckte nur ganz kurz, so geringfügig, dass Clary fast glaubte, er habe sich überhaupt nicht bewegt. Der Vampir hörte auf zu brüllen, würgte und fasste sich an den Hals. Sein Mund bewegte sich, aber es kam kein Laut heraus.
»Du hast meine Gastfreundschaft überstrapaziert«, sagte Magnus gedehnt und riss die Augen weit auf. Schockiert sah Clary, dass die Pupillen vertikalen Schlitzen glichen, wie denen einer Katze. »Und jetzt verschwinde.« Er spreizte die Finger seiner Hand und der Vampir drehte sich so elegant, als habe ihn jemand bei der Schulter gepackt. Er wurde herumgewirbelt und marschierte durch die Menge zur Tür.
Jace pfiff leise. »Sehr eindrucksvoll.«
»Du meinst diese kleine Stummschaltung?« Magnus schaute zur Decke. »Ich weiß. Was hat er bloß für ein Problem?«
Alec machte ein Geräusch, als würde er ersticken. Nach einem kurzen Augenblick wurde Clary klar, dass er lachte. Das sollte er öfter machen.
»Wir haben das Weihwasser in seinen Tank gekippt«, sagte er.
»Alec!«, rief Jace. »Halt den Mund.«
»Das habe ich mir schon gedacht«, meinte Magnus und schaute amüsiert. »Ihr rachsüchtigen kleinen Mistkerle. Ihr wusstet, dass ihre Maschinen mit Dämonenenergie fahren. Ich glaube nicht, dass er es reparieren kann.«
»Ein motorisierter Blutsauger weniger«, sagte Jace. »Mir bricht das Herz.«
»Ich habe gehört, dass einige von ihren Maschinen fliegen können«, warf Alec ein, der ausnahmsweise einmal lebhaft wirkte. Er lächelte fast.
»Das ist lediglich ein altes Hexenmärchen«, sagte Magnus, dessen Katzenaugen funkelten. »Seid ihr deshalb zu meiner Party gekommen? Nur um die Maschine eines Blutsaugers zu ruinieren?«
»Nein.« Jace war wieder vollkommen ernst. »Wir müssen mit dir reden. Am liebsten irgendwo, wo uns keiner stört.«
Magnus zog eine Augenbraue hoch. Verdammt, dachte Clary, noch einer, der das kann. »Habe ich Ärger mit dem Rat?«
»Nein«, sagte Jace.
»Vermutlich nicht«, mischte Alec sich ein. »Au!« Er warf Jace, der ihm einen Tritt verpasst hatte, einen wütenden Blick zu.
»Nein«, wiederholte Jace. »Wir können unter dem Siegel des Bündnisses reden. Wenn du uns hilfst, wird alles, was du sagst, vertraulich behandelt.«
»Und wenn ich euch nicht helfe?«
Jace streckte seine Hände aus. Die schwarzen Runenmale auf seinen Handflächen stachen deutlich hervor. »Vielleicht passiert nichts; vielleicht bekommst du aber auch Besuch aus der Stadt der Stille.«
Magnus’ Stimme klang wie über Eisscherben rinnender Honig. »Das ist ja eine tolle Wahl, vor die du mich da stellst, kleiner Schattenjäger.«
»Es ist überhaupt keine Wahl«, entgegnete Jace.
»Ja«, sagte der Hexenmeister. »Genau das meinte ich.«
Magnus’ Schlafzimmer glich einer Explosion von Farben: kanariengelbes Bettzeug auf einer Matratze auf dem Boden, ein stahlblauer Frisiertisch, auf dem mehr Töpfe, Pinsel und Make-up-Utensilien lagen als auf dem von Isabelle. Samtvorhänge in Regenbogenfarben verdeckten die vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster und ein verfilzter Wollteppich lag auf dem Fußboden.
»Hübsches Zimmer«, meinte Jace und zog einen der schweren Vorhänge zur Seite. »Man verdient wohl ganz gut als Oberster Hexenmeister von Brooklyn?«
»Es geht«, sagte Magnus. »Zusätzliche Krankenversicherungsleistungen kann man allerdings vergessen. Kein Zahnersatz.« Er schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Als er die Arme verschränkte, schob sich sein Hemd etwas nach oben und legte einen Teil seines flachen goldbraunen, aber nabellosen Bauches frei. »Also«, sagte er. »Was habt ihr auf dem Herzen, ihr verschlagenen kleinen Mistkerle?«
»Es geht gar nicht um sie«, sagte Clary, die ihre Stimme gefunden hatte, ehe Jace antworten konnte. »Ich bin diejenige, die mit Ihnen sprechen möchte.«
Magnus richtete seine katzenartigen Augen auf sie. »Du bist keine von ihnen«, sagte er. »Du gehörst nicht zum Rat. Aber du kannst die Verborgene Welt sehen.«
»Meine Mutter gehörte dem Rat an.« Zum ersten Mal hatte sie es laut ausgesprochen und sie wusste, dass es stimmte. »Aber sie hat mir nichts davon erzählt. Sie hat es geheim gehalten. Und ich weiß nicht, warum.«
»Dann frag sie.«
»Das kann ich nicht. Sie ist …« Clary zögerte. »Sie ist verschwunden.«
»Und dein Vater?«
»Er starb, bevor ich geboren wurde.«
Magnus seufzte genervt. »Wie hat Oscar Wilde es einmal formuliert: ›Ein Elternteil zu verlieren, das könnte man noch als Missgeschick durchgehen lassen. Aber alle beide zu verlieren, das sieht doch schon sehr nach Unachtsamkeit aus.‹«
Clary hörte, dass Jace ein kleines, zischendes Geräusch machte, als würde er Luft durch seine Zähne einsaugen. »Ich habe meine Mutter nicht verloren«, sagte sie. »Sie wurde verschleppt. Von Valentin.«
»Ich kenne keinen Valentin«, sagte Magnus, doch seine Augen flackerten wie die Flamme einer Kerze und Clary wusste, dass er log. »Es tut mir leid, dass du in einer so unangenehmen Situation steckst, aber ich wüsste nicht, was das alles mit mir zu tun hat. Wenn du mir sagen könntest …«
»Sie kann dir nichts sagen, weil sie sich an nichts erinnert«, unterbrach Jace ihn in scharfem Ton. »Jemand hat ihre Erinnerungen ausgelöscht. Deshalb haben wir die Stadt der Stille aufgesucht, um zu sehen, was die Brüder aus ihrem Kopf herausholen können. Sie fanden zwei Worte. Und ich glaube, du kannst dir denken, wie sie lauten.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann zog Magnus die Mundwinkel hoch und zeigte ein bitteres Lächeln. »Meine Signatur. Als ich es tat, wusste ich, dass es eine Torheit war. Ein Akt der Hybris …«
»Sie haben meinen Geist signiert?«, fragte Clary ungläubig.
Magnus hob die Hand und schrieb mit glühenden Buchstaben etwas in die Luft. Als er die Hand wieder senkte, schwebten die Schriftzeichen im Raum, heiß und golden: Magnus Bane.
»Ich war stolz auf meine Arbeit – auf das Werk, das ich an dir vollbracht hatte«, sagte er gedehnt und schaute Clary an. »So sauber. So perfekt. Alles, was du sahst, hast du im gleichen Moment wieder vergessen. Kein Bild einer Fee, eines Kobolds oder einer langbeinigen Bestie blieb dir im Gedächtnis und konnte deinen unschuldigen irdischen Schlaf stören. Und genau so hat sie es gewollt.«
Clarys Stimme klang dünn vor Anspannung. »Wer hat das so gewollt?«
Magnus seufzte und sein Atem ließ die Feuerbuchstaben zu glühender Asche zerfallen. Schließlich setzte er zu einer Antwort an – und obwohl sie nicht überrascht war, obwohl sie genau gewusst hatte, was er erwidern würde, trafen die Worte Clary bis ins Mark.
»Deine Mutter«, sagte er.
»Meine Mutter hat mir das angetan?«, fragte Clary, doch ihr überraschtes Entsetzen klang nicht überzeugend; das hörte sie selbst. Sie schaute sich zu Jace um und sah das Bedauern in seinem Blick; selbst Alec hatte es offenbar bereits vermutet und schien Mitleid mit ihr zu haben. »Aber warum?«
»Ich weiß es nicht.« Magnus spreizte die Finger seiner langen weißen Hände. »Es ist nicht mein Aufgabe, Fragen zu stellen. Ich tue das, wofür ich bezahlt werde.«
»Innerhalb der Grenzen des Bündnisses«, erinnerte Jace ihn mit einer Stimme, so weich wie das Fell einer Katze.
Magnus legte den Kopf auf die Seite. »Innerhalb der Grenzen des Bündnisses, natürlich.«
»Also erlaubt das Bündnis diese geistige Vergewaltigung?«, fragte Clary verbittert. Als niemand ihr antwortete, ließ sie sich auf die Kante von Magnus’ Bett sinken. »Ist es nur einmal passiert? War es etwas Bestimmtes, das ich vergessen sollte? Wissen Sie, worum es dabei ging?«
Magnus marschierte rastlos vor dem Fenster auf und ab. »Ich glaube, du verstehst nicht ganz. Das erste Mal, als ich dich sah, musst du ungefähr zwei Jahre alt gewesen sein. Damals schaute ich aus diesem Fenster« – er tippte an das Glas und Staub und Farbpartikel rieselten zu Boden – »und sah, wie sie die Straße entlangkam und etwas an sich drückte, das in eine Decke gehüllt war. Ich war ziemlich überrascht, als sie vor meiner Tür stehen blieb. Sie sah so normal aus, so jung.«
Das silberne Mondlicht fiel auf sein falkenähnliches Profil. »Als sie hereinkam, schlug sie die Decke zurück. Du warst darin eingewickelt. Sie setzte dich auf den Boden und du bist herumgetapst, hast Sachen aufgehoben, meine Katze am Schwanz gezogen … Als die Katze dich kratzte, hast du geschrien wie eine Banshee und ich habe deine Mutter gefragt, ob du tatsächlich etwas von einer solchen Todesfee in dir hättest. Deine Mutter konnte darüber nicht lachen.« Er hielt inne. Alle schauten ihn jetzt gespannt an, sogar Alec. »Sie erzählte mir, sie sei eine Schattenjägerin. Lügen hätten keinen Zweck gehabt – die Male des Bündnisses verschwinden nie vollständig, auch wenn sie mit der Zeit verblassen, sie hinterlassen schwache silberne Narben auf der Haut. Sie flackerten, als sie sich bewegte.« Er rieb sich das Auge und verschmierte dabei etwas Glitter. »Deine Mutter erzählte mir, sie hätte gehofft, du wärst mit einem blinden Inneren Auge geboren worden. Aber an diesem Nachmittag hatte sie dich dabei erwischt, wie du eine Elfe geneckt hast, die in einer Hecke gefangen saß. In dem Moment wusste sie, dass du sehen kannst. Und deshalb fragte sie mich, ob es möglich sei, dir das Zweite Gesicht zu nehmen.«
Clary gab einen kurzen Laut von sich, ein gequältes Stöhnen, aber Magnus fuhr unerbittlich fort.
»Ich sagte ihr, diesen Teil deines Geistes zu verstümmeln, könne schwere Schäden hinterlassen und dich möglicherweise in den Wahnsinn treiben. Sie vergoss keine Träne. Deine Mutter war nicht der Typ Frau, der leicht weint. Stattdessen fragte sie mich, ob es eine andere Möglichkeit gäbe. Ich sagte ihr, man könne dafür sorgen, dass du die Teile der Verborgenen Welt, die du sehen kannst, vergisst – und zwar noch im gleichen Moment. Es gab nur eine Bedingung dabei: Sie musste alle zwei Jahre mit dir zu mir kommen, damit der Bann erneuert werden konnte.«
»Und, hat sie sich daran gehalten?«, fragte Clary.
Magnus nickte. »Seit diesem ersten Besuch habe ich dich alle zwei Jahre behandelt. Ich habe dich aufwachsen sehen. Im Grunde bist du das einzige Kind, dessen Entwicklung ich auf diese Weise miterleben konnte. In meinem Gewerbe wird man normalerweise nur ungern in die Nähe von Kindern gelassen.«
»Dann hast du Clary also erkannt, als wir unten an der Tür standen«, sagte Jace. »Du musst sie erkannt haben.«
»Natürlich.« Magnus klang gereizt. »Es war ein Schock. Aber was hättet ihr an meiner Stelle getan? Sie schien mich nicht zu erkennen. Sie sollte mich ja auch nicht kennen. Aber allein die Tatsache, dass sie hier war, bedeutete, dass der Bann an Kraft verlor. Eigentlich hätte deine Mutter schon vor einem Monat zu mir kommen sollen. Ich habe sogar noch bei euch zu Hause vorbeigeschaut, als ich aus Tansania zurückkam, aber Jocelyn meinte, ihr beide hättet euch gestritten und du wärst weggelaufen. Sie sagte, sie würde sich mit mir in Verbindung setzen, sobald du zurück wärst, aber …« – ein elegantes Schulterzucken – »das hat sie nicht getan.«
Ein kalter Schauer der Erinnerung ließ Clarys Haut kribbeln. Sie wurde sich plötzlich bewusst, wie sie neben Simon im Hausflur gestanden und verzweifelt versucht hatte, sich an etwas zu erinnern, das sich am Rand ihres Blickfelds bewegt hatte … Ich dachte, ich hätte Madame Dorotheas Katze gesehen, aber es war wohl nur eine Lichtspiegelung.
Doch Madame Dorothea besaß keine Katze. »Sie waren an diesem Tag da«, sagte Clary. »Ich habe Sie aus Madame Dorotheas Wohnung kommen sehen. Ich erinnere mich an Ihre Augen.«
Magnus sah aus, als würde er gleich schnurren. »Mich vergisst man nicht so schnell, das ist wahr«, brüstete er sich. Dann schüttelte er den Kopf. »Aber du solltest dich nicht an mich erinnern. In dem Moment, als ich dich sah, habe ich einen Schleier aus Zauberglanz errichtet, so dick wie eine Mauer. Du hättest direkt mit dem Gesicht dagegenlaufen sollen – metaphorisch gesprochen.«
Wenn man mit dem Gesicht gegen eine metaphorische Mauer läuft, zieht man sich dann metaphorische Verletzungen zu?, rätselte Clary. »Wenn Sie den Bann aufheben, kann ich mich dann an all das erinnern, was ich vergessen habe? Bekomme ich alle Erinnerungen zurück, die Sie mir gestohlen haben?«
»Ich kann ihn nicht aufheben.« Magnus schien sich nicht sehr wohl in seiner Haut zu fühlen.
»Was?« Jace klang wütend. »Warum nicht? Der Rat verlangt, dass du …«
Magnus schaute ihn kühl an. »Ich mag es nicht, wenn man mir sagt, was ich zu tun habe, kleiner Schattenjäger.«
Clary sah, wie sehr es Jace missfiel, »klein« genannt zu werden, aber ehe er etwas entgegnen konnte, ergriff Alec das Wort. Seine Stimme war sanft und bedächtig. »Weißt du denn nicht, wie man ihn umkehren kann? Den Bann, meine ich.«
Magnus seufzte. »Einen Bann aufzuheben, ist wesentlich komplizierter, als ihn zu schaffen. Und diesen habe ich besonders sorgfältig und verschlungen konstruiert … Wenn ich auch nur den geringsten Fehler bei seiner Aufhebung machen würde, könnte ihr Geist für immer geschädigt werden. Andererseits hat der Bann bereits an Kraft verloren«, fügte er hinzu. »Die Wirkung wird mit der Zeit von selbst verschwinden.«
Clary musterte ihn scharf. »Werde ich dann alle meine Erinnerungen zurückbekommen? Alles, was aus meinem Kopf entfernt wurde?«
»Ich weiß es nicht. Die Erinnerungen könnten alle auf einmal zurückkommen oder bruchstückweise. Möglicherweise wirst du dich aber auch an nichts mehr von dem erinnern, was du im Laufe der Jahre vergessen hast. Der Auftrag, den deine Mutter mir erteilte, war einzigartig. Ich hatte damit nicht die geringste Erfahrung – und von daher weiß ich auch nicht, was nun passieren wird.«
»Aber ich will nicht warten.« Clary presste die Hände so fest in ihrem Schoß zusammen, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. »Mein ganzes Leben habe ich mich gefühlt, als würde etwas mit mir nicht stimmen. Als würde etwas fehlen oder als sei etwas beschädigt. Jetzt weiß ich …«
»Ich habe dir nicht geschadet«, unterbrach Magnus sie und verzog ärgerlich die Lippen. »Jeder Teenager fühlt sich so – innerlich zerrissen oder fehl am Platz, irgendwie anders, als Königskind, das aus Versehen in eine Familie von Bauern hineingeboren wurde. In deinem Fall besteht der Unterschied darin, dass es der Wahrheit entspricht: Du bist anders. Vielleicht nicht besser, aber anders. Und es ist kein Zuckerschlecken, anders zu sein. Willst du wissen, wie es ist, wenn deine Eltern brave Kirchgänger sind und du mit dem Teufelsmal geboren wirst?« Mit gespreizten Fingern zeigte er auf seine Augen. »Wenn dein Vater bei deinem Anblick zurückzuckt und deine Mutter sich in der Scheune erhängt, in den Wahnsinn getrieben von der Erinnerung an das, was sie getan hat? Als ich zehn war, versuchte mein Vater, mich im Fluss zu ertränken. Ich wehrte mich mit aller Kraft – ließ ihn an Ort und Stelle in Flammen aufgehen. Schließlich wandte ich mich an die Priester in der Kirche, um Zuflucht zu suchen. Sie versteckten mich. Es heißt, Mitleid sei bitter, aber es ist besser als Hass. Als ich herausfand, wer ich wirklich war – nur zur Hälfte ein menschliches Wesen –, habe ich mich selbst gehasst. Und es gibt nichts Schlimmeres.«
Als Magnus geendet hatte, herrschte einen Moment lang Schweigen. Zu Clarys Überraschung fand Alec als Erster seine Stimme wieder. »Es war nicht deine Schuld«, sagte er. »Du kannst nichts dafür, wie du geboren wurdest.«
Magnus wirkte verschlossen. »Ich bin darüber hinweg«, murmelte er und wandte sich an Clary. »Aber ich denke, du weißt, was ich meine. Anders ist nicht besser, Clarissa. Deine Mutter hat versucht, dich zu schützen. Mach ihr das nicht zum Vorwurf.«
Clarys Hände entspannten sich. »Es ist mir egal, ob ich anders bin. Ich will nur die sein, die ich wirklich bin.«
Magnus fluchte in einer Sprache, die sie nicht kannte. Es klang wie knisternde Flammen. »Also gut. Hör zu. Ich kann nicht ungeschehen machen, was ich getan habe. Aber ich kann dir etwas anderes geben – einen Teil von dem, was dir gehört hätte, wenn du als echtes Kind der Nephilim aufgewachsen wärst.« Er stolzierte durch das Zimmer hinüber zum Bücherregal und nahm ein schweres Buch heraus, dessen grüner Samtumschlag stark abgenutzt wirkte. Als er darin blätterte, wirbelten Staub und dunkle Stoffstückchen durch die Luft. Die Seiten waren aus dünnem, fast durchsichtigem Pergament und jeweils mit einer tiefschwarzen Rune bedruckt.
Jace zog die Augenbrauen hoch. »Ist das ein Exemplar des Grauen Buches?«
Magnus, der fieberhaft in dem Band blätterte, schwieg.
»Hodge hat eins«, bemerkte Alec. »Er hat es mir mal gezeigt.«
»Aber es ist nicht grau«, hörte Clary sich sagen. »Es ist grün.«
»Wenn es so etwas wie tödliche Buchstabengläubigkeit gäbe, wärst du schon als Kind gestorben«, meinte Jace. Dann wischte er den Staub von der Fensterbank und betrachtete sie eingehend – so als überlege er, ob sie wohl sauber genug sei, sich daraufzusetzen. »Grau ist das Codewort für ›Schwarze Kunst‹. Darunter versteht man »magisches, verborgenes Wissen‹. In dem Buch sind alle Runen verzeichnet, die der Erzengel Raziel im ursprünglichen Buch des Bündnisses festgehalten hat. Es gibt nicht viele Exemplare, weil jedes eigens angefertigt werden muss. Einige der Runen sind so stark, dass sie normale Seiten verbrennen würden.«
Alec sah beeindruckt aus. »Das wusste ich gar nicht.«
Jace hüpfte auf die Fensterbank und ließ seine Beine baumeln. »Nicht jeder schläft im Geschichtsunterricht.«
»Ich schlafe nicht …«
»Oh doch, das tust du und sabberst dabei aufs Pult.«
»Schluss jetzt«, sagte Magnus, allerdings nicht unfreundlich. Er steckte einen Finger zwischen zwei Seiten des Buches, ging zu Clary und legte es behutsam in ihren Schoß. »Wenn ich das Buch jetzt aufschlage, möchte ich, dass du die Seite studierst. Sieh sie dir so lange an, bis du spürst, dass sich etwas in deinem Geist verändert.«
»Wird es wehtun?«, fragte Clary nervös.
»Jedes Wissen tut weh«, erwiderte er, richtete sich auf und öffnete das Buch in ihrem Schoß. Clary starrte auf die saubere weiße Seite mit der schwarzen Rune. Sie erinnerte sie an eine Spirale mit Flügeln. Erst als Clary den Kopf neigte, verwandelte die Rune sich in einen Stab, um den sich Blätter rankten. Die Ecken des Musters schienen ihre Gestalt zu verändern und kitzelten Clarys Geist wie Federn, die über empfindliche Haut streicheln. Sie fühlte, dass ihr Körper zaghaft zu reagieren begann, und hätte am liebsten den Kopf weggedreht. Stattdessen zwang sie sich hinzuschauen, bis ihre Augen brannten und alles verschwamm. Sie wollte gerade blinzeln, als sie es spürte: ein Klicken in ihrem Kopf, wie ein Schlüssel, der im Schloss gedreht wird.
Die Rune auf der Seite schien nun schärfer hervorzutreten und sie dachte unwillkürlich: Erinnerung. Wenn die Rune aus einem Wort bestanden hätte, dann wäre es dieses gewesen, aber sie bedeutete mehr – mehr als alle Worte, die Clary sich vorstellen konnte. Es war die erste Erinnerung eines Kindes an das Licht, das durch die Gitterstäbe seines Bettchens fällt, die Erinnerung an den Geruch des Regens auf den Straßen in der Stadt, an den Schmerz unvergessenen Verlusts, den Stachel der Demütigung und die grausame Vergesslichkeit des Alters, wenn die ältesten Erinnerungen quälend klar und deutlich hervortreten, aber die unmittelbarsten Ereignisse nicht mehr ins Gedächtnis gerufen werden können.
Mit einem leisen Seufzer blätterte sie weiter und weiter – überließ sich ganz den Bildern und Empfindungen. Kummer. Gedanken. Stärke. Schutz. Gnade … nur um überrascht und vorwurfsvoll aufzuschreien, als Magnus ihr das Buch vom Schoß riss.
»Das reicht«, sagte er und stellte das Buch wieder ins Regal zurück. Er wischte sich die Hände an seiner Hose ab, auf der graue, staubige Streifen zurückblieben. »Wenn du alle Runen auf einmal liest, bekommst du Kopfschmerzen.«
»Aber …«
»Die meisten Schattenjäger-Kinder lernen über Jahre immer nur eine einzige Rune«, erklärte Jace. »Das Graue Buch enthält Runen, die selbst ich nicht kenne.«
»Man stelle sich das mal vor«, meinte Magnus.
Jace ignorierte ihn. »Magnus hat dir die Rune für Verstehen und Erinnern gezeigt. Sie öffnet deinen Geist, damit du den Rest der Male lesen und erkennen kannst.«
»Die Rune kann auch ruhende Erinnerungen aktivieren«, sagte Magnus. »Auf diese Weise stellen sie sich vielleicht wieder ein. Mehr kann ich nicht für dich tun.«
Clary schaute auf ihren Schoß. »Ich kann mich noch immer an nichts erinnern, was mit dem Kelch der Engel zusammenhängt.«
»Ach, darum geht es also?« Magnus klang wirklich überrascht. »Ihr seid hinter dem Engelskelch her? Hör zu, ich habe deine Erinnerungen durchforstet. Aber darin war nichts, was mit den Insignien der Engel zusammenhängen würde.«
»Insignien der Engel?«, fragte Clary verblüfft. »Ich dachte …«
»Der Erzengel gab den ersten Schattenjägern drei Dinge: einen Kelch, ein Schwert und einen Spiegel. Die Stillen Brüder haben das Schwert und der Kelch und der Spiegel waren in Idris, zumindest bis Valentin auftauchte.«
»Niemand weiß, wo sich der Spiegel jetzt befindet«, sagte Alec. »Er ist seit einer Ewigkeit verschwunden.«
»Uns geht es um den Kelch«, bemerkte Jace. »Valentin sucht danach.«
»Und ihr wollt den Kelch finden, ehe er ihn in die Finger bekommt?«, fragte Magnus mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Hatten Sie nicht gesagt, Sie wüssten nicht, wer Valentin ist?«, hakte Clary nach.
»Ich habe gelogen«, gab Magnus offen zu. »Ich gehöre nicht zu den Feenwesen. Ich bin nicht verpflichtet, wahrhaftig zu sein. Und nur ein Narr würde sich zwischen Valentin und seine Rache stellen.«
»Du glaubst, dass es ihm darum geht? Um Rache?«, fragte Jace.
»Ich nehme es an. Er hat eine schwere Niederlage erlitten und er schien – scheint – nicht der Typ Mann zu sein, der eine Niederlage würdevoll hinnimmt.«
Alec schaute Magnus ernst an. »Warst du bei dem Aufstand dabei?«
Magnus blickte ihm in die Augen. »Ja. Ich habe etliche von euren Leuten getötet.«
»Angehörige des Kreises«, berichtigte Jace. »Niemanden von uns …«
»Wenn ihr die hässlichen Seiten eures Tuns hartnäckig leugnet«, sagte Magnus, noch immer an Alec gewandt, »werdet ihr nie aus euren Fehlern lernen.«
Alec, der mit einer Hand an der Bettdecke zupfte, wurde rot. »Es scheint dich nicht zu überraschen, dass Valentin noch am Leben ist«, erwiderte er und wich Magnus’ Blick aus.
Magnus breitete die Hände aus. »Überrascht es euch denn?«
Jace öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder. Einen Moment wirkte er verwirrt. »Du wirst uns also nicht helfen, den Kelch der Engel zu finden?«, fragte er schließlich.
»Nein, selbst wenn ich könnte – wozu ich übrigens nicht in der Lage bin. Ich habe keine Ahnung, wo er sich befindet, und es ist mir auch egal. Wie gesagt: Nur ein Narr würde sich einmischen …«
Alec setzte sich auf. »Aber ohne den Kelch können wir nicht …«
»Noch mehr von euch erschaffen, ich weiß«, sagte Magnus. »Aber möglicherweise hält nicht jeder das für ein solches Drama wie ihr. Wohlgemerkt, wenn ich zwischen dem Rat und Valentin wählen müsste, würde ich mich für den Rat entscheiden. Zumindest ist er nicht wild entschlossen, meine Art auszulöschen. Aber andererseits hat der Rat auch nichts getan, was meine uneingeschränkte Loyalität verdienen würde. Nein, ich werde mich nicht an der Suche beteiligen. So – wenn ihr nichts dagegen habt, würde ich jetzt gern zu meiner Party zurückkehren, ehe die Gäste sich gegenseitig verspeisen.«
Jace ballte die Hände zu Fäusten und sah aus, als wollte er eine boshafte Bemerkung machen, doch Alec stand auf und legte ihm die Hand auf die Schulter. Clary war sich in dem schummrigen Licht nicht ganz sicher, aber es schien, als drücke Alec ziemlich fest zu. »Steht das denn zu befürchten?«, fragte er.
Magnus betrachtete ihn amüsiert. »Es ist tatsächlich schon vorgekommen.«
Jace murmelte Alec etwas zu, der ihn daraufhin losließ. Er sprang von der Fensterbank und kam zu Clary herüber. »Alles in Ordnung?«, fragte er leise.
»Ich denke schon. Ich fühle mich nicht anders …«
Magnus stand bei der Tür und schnippte ungeduldig mit den Fingern. »Bewegt euch, Teenager. Der Einzige, der in meinem Schlafzimmer poussieren darf, ist meine großartige Wenigkeit.«
»Poussieren?«, fragte Clary, die das Wort noch nie gehört hatte.
»Großartig?«, wiederholte Jace spöttisch.
Magnus knurrte etwas, das klang wie »Raus«.
Sie verließen das Zimmer und Magnus schloss hinter ihnen die Tür ab. Die Stimmung auf der Party erschien Clary irgendwie verändert. Vielleicht lag es aber auch nur an ihrem leicht veränderten Blick: Alles wirkte deutlicher, hatte kristallklare, scharfe Konturen. Sie sah, wie eine Gruppe von Musikern die kleine Bühne in der Mitte des Raumes betrat. Sie trugen fließende Gewänder in dunklen Gold-, Purpur- und Grüntönen und ihre hohen Stimmen waren durchdringend und ätherisch.
»Ich hasse Elben-Bands«, murmelte Magnus, als die Musiker einen sehnsüchtigen Song anstimmten, dessen Melodie so zart und durchscheinend wie ein Bergkristall war. »Ständig spielen sie diese trübseligen Balladen.«
Jace musste lachen und ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Wo ist Isabelle?«
Clary verspürte einen Anfall von schlechtem Gewissen: Sie hatte Simon vollkommen vergessen. Rasch drehte sie sich um und hielt Ausschau nach den vertrauten hageren Schultern und dem dunklen Haarschopf. »Ich kann ihn nirgendwo sehen. Die beiden, meine ich.«
»Da ist sie.« Alec hatte seine Schwester entdeckt und winkte sie erleichtert zu sich herüber. »Wir sind hier drüben«, rief er ihr zu. »Und nimm dich vor dem Puck in Acht.«
»Vor dem Puck?«, wiederholte Jace und musterte einen dünnen Mann mit brauner Haut in einer grünen PaisleyWeste, der Isabelle sinnend betrachtete, während sie an ihm vorbeirauschte.
»Er hat mich eben gekniffen, als ich an ihm vorbeikam«, sagte Alec steif. »An einer sehr intimen Stelle.«
»Ich sage es dir nur ungern, aber wenn er an deinen intimen Stellen interessiert ist, dann interessiert er sich vermutlich nicht für die deiner Schwester«, meinte Jace.
»Nicht unbedingt«, warf Magnus ein. »Elben sind nicht sehr wählerisch.«
Jace verzog verächtlich die Lippen. »Wolltest du dich nicht um deine Gäste kümmern?«, fragte er den Hexenmeister.
Doch ehe Magnus antworten konnte, war Isabelle bei ihnen. Ihr Gesicht wirkte rot und fleckig und sie roch stark nach Alkohol.
»Jace! Alec! Wo wart ihr denn? Ich habe überall …«
»Wo ist Simon?«, unterbrach Clary sie.
Isabelle schwankte. »Er ist eine Ratte«, sagte sie düster.
»Hat er dir was getan?«, fragte Alec mit brüderlicher Besorgnis. »Hat er dich angefasst? Wenn er irgendwas versucht hat …«
»Nein, Alec«, erwiderte Isabelle gereizt. »Nicht, was du denkst. Er ist eine Ratte.«
»Sie ist betrunken«, sagte Jace und wollte sich angewidert abwenden.
»Bin ich nicht«, protestierte Isabelle entrüstet. »Okay, vielleicht ein bisschen, aber das spielt jetzt keine Rolle. Viel wichtiger ist, dass Simon einen dieser blauen Drinks getrunken hat. Ich habe ihm gesagt, er soll die Finger davonlassen, aber er wollte nicht auf mich hören, und dann hat er sich in eine Ratte verwandelt.«
»Eine Ratte?«, fragte Clary ungläubig. »Du meinst doch nicht …«
»Ich meine eine Ratte«, sagte Isabelle. »Klein. Braun. Schuppiger Schwanz.«
»Das wird dem Rat nicht gefallen«, meinte Alec nachdenklich. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass es gegen das Gesetz verstößt, Irdische in Ratten zu verwandeln.«
»Genau genommen hat sie ihn nicht in eine Ratte verwandelt«, bemerkte Jace. »Das Schlimmste, was man ihr vorwerfen könnte, wäre Fahrlässigkeit.«
»Wen interessiert das blöde Gesetz?«, schrie Clary und packte Isabelle am Handgelenk. »Mein bester Freund ist eine Ratte!«
»Au!« Isabelle versuchte, ihre Hand wegzuziehen. »Lass mich los!«
»Erst wenn du mir sagst, wo er ist.« Noch nie zuvor hatte Clary einen so übermächtigen Drang verspürt, jemanden zu schlagen. »Ich kann nicht glauben, dass du ihn einfach allein gelassen hast! Wahrscheinlich ist er schon halb wahnsinnig vor Angst …«
»Wenn nicht sogar schon jemand auf ihn draufgetreten ist«, warf Jace nicht sehr hilfreich ein.
»Ich habe ihn nicht allein gelassen. Er ist unter die Bar gelaufen«, protestierte Isabelle. »Lass los, du zerquetschst meinen Armreif.«
»Miststück«, sagte Clary aufgebracht und schleuderte Isabelles Hand mit Wucht zurück. Sie wartete nicht auf eine Reaktion, sondern lief zur Bar, wo sie sich hinkniete und unter die Theke spähte. Sie glaubte, in der muffig-feuchten Dunkelheit ein Paar funkelnder Knopfaugen zu sehen.
»Simon?«, fragte sie mit erstickter Stimme. »Bist du das?«
Simon, die Ratte, krabbelte mit zitternden Schnurrhaaren ein paar Zentimeter auf sie zu. Clary erkannte die Form seiner kleinen, flach am Kopf anliegenden runden Ohren und seine scharfe, spitze Nase. Mühsam unterdrückte sie einen Anflug von Ekel. Sie konnte Ratten mit ihren gelblichen scharfen und beißwütigen Zähnen nicht ausstehen und wünschte, er hätte sich in einen Hamster verwandelt.
»Ich bin es, Clary«, sagte sie gedehnt. »Alles in Ordnung?«
Jace und die anderen traten hinzu und Isabelle wirkte inzwischen eher verärgert als zerknirscht. »Ist er da drunter?«, fragte Jace neugierig.
Clary, die noch immer auf Händen und Knien hockte, nickte. »Schhh. Ihr verscheucht ihn noch.« Vorsichtig schob sie ihre Finger unter die Bar und lockte ihn damit. »Bitte komm raus, Simon. Magnus wird den Zauber aufheben. Es wird alles gut.«
Sie hörte ein Quieken und dann schaute die rosa Nase der Ratte unter der Bar hervor. Mit einem erleichterten Aufschrei nahm Clary die Ratte hoch. »Simon. Du hast mich verstanden!«
Die Ratte, die sich in Clarys Hände schmiegte, quiekte mürrisch. Voller Freude drückte sie sie an ihre Brust. »Oh, mein armes Baby«, säuselte Clary, fast so, als sei ihr Freund wirklich ein Haustier. »Armer Simon, es wird alles gut, das verspreche ich …«
»An deiner Stelle hätte ich nicht zu viel Mitleid mit ihm«, sagte Jace. »So nah wie jetzt war er deiner Brust wahrscheinlich noch nie.«
»Halt den Mund!« Clary warf Jace einen wütenden Blick zu, hielt die Ratte aber ein wenig von sich weg. Simons Schnurrhaare zitterten, ob vor Zorn, vor Aufregung oder aus nackter Angst, konnte sie nicht sagen. »Hol Magnus«, befahl sie in scharfem Ton. »Wir müssen ihn zurückverwandeln.«
»Nicht so eilig – wir wollen schließlich nichts überstürzen.« Jace, der Mistkerl, grinste doch wahrhaftig. Er streckte seine Hand nach Simon aus, als wolle er ihn streicheln. »So ist er richtig niedlich. Sieh dir nur seine kleine rosa Nase an.«
Simon zeigte Jace seine langen gelben Zähne und wollte nach ihm schnappen. Jace zog blitzschnell seine ausgestreckte Hand zurück. »Izzy, hol unseren großartigen Gastgeber.«
»Warum ich?«, fragte Isabelle bockig.
»Weil es deine Schuld ist, dass der Irdische jetzt eine Ratte ist, Dumpfbacke«, erwiderte er. Clary fiel auf, wie selten die anderen Simon bei seinem richtigen Namen nannten. »Wir können ihn schließlich nicht hierlassen.«
»Du würdest ihn nur zu gerne hierlassen, wenn sie nicht wäre«, konterte Isabelle und schaffte es, in dieses eine Wort so viel Gift zu legen, dass es einen Elefanten umgehauen hätte. Als sie davonstolperte, wirbelte ihr Rock um ihre Hüften.
»Ich kann nicht glauben, dass sie dich nicht daran gehindert hat, dieses blaue Zeug zu trinken«, sagte Clary zu Simon, der Ratte. »Das kommt davon, wenn man so oberflächlich ist.«
Simon quiekte gereizt. Clary hörte, wie jemand kicherte, und entdeckte Magnus, der sich über sie beugte. Isabelle stand hinter ihm und funkelte sie wütend an. »Rattus norvegicus«, sagte Magnus und betrachtete Simon. »Eine gewöhnliche Wanderratte, nichts Exotisches.«
»Es ist mir egal, was für eine Art Ratte er ist«, erwiderte Clary verärgert. »Ich will, dass er wieder zurückverwandelt wird.«
Magnus kratzte sich nachdenklich am Kopf und verstreute dabei Glitter. »Überflüssig«, meinte er.
»Das habe ich auch gesagt.« Jace sah zufrieden aus.
»Überflüssig?«, schrie Clary so laut, dass Simon seinen Kopf unter ihrem Daumen versteckte. »Wie können Sie nur sagen, es sei überflüssig?«
»Weil er sich in ein paar Stunden von selbst zurückverwandeln wird«, entgegnete Magnus. »Die Wirkung des Cocktails ist nicht von Dauer. Es hätte keinen Sinn, einen Umkehrzauber anzuwenden; das würde ihm nur schaden. Zu viel Magie ist nicht gut für irdische – ihr Organismus ist nicht daran gewöhnt.«
»Und ich bezweifle, dass sein Organismus daran gewöhnt ist, eine Ratte zu sein«, konterte Clary. »Sie sind ein Hexenmeister; können Sie den Zauber nicht einfach aufheben?«
Magnus überlegte. »Nein.«
»Sie meinen, Sie wollen nicht.«
»Nichts ist umsonst, Süße. Und du kannst dir meine Dienste nicht leisten.«
»Ich kann auch keine Ratte in der U-Bahn mit nach Hause nehmen«, sagte Clary vorwurfsvoll. »Ich könnte ihn fallen lassen oder die Bahnpolizei könnte mich verhaften, weil ich Schädlinge in einem öffentlichen Verkehrsmittel transportiere.« Simon zirpte verärgert. »Das heißt natürlich nicht, dass du ein Schädling bist«, beeilte Clary sich zu versichern.
Während ihres Gesprächs hatte ein Mädchen an der Tür laut herumkrakeelt und nun gesellten sich sechs oder sieben andere Gäste zu ihr. Aufgebrachte Stimmen übertönten die Geräusche der Party und das Dröhnen der Musik. Magnus verdrehte die Augen. »Entschuldigt mich«, sagte er und tauchte in die Menge ein, die sich sofort hinter ihm schloss.
Isabelle, die auf ihren Sandalen herumwippte, stieß einen lauten Seufzer aus. »Na, der war ja eine echte Hilfe.«
»Du könntest die Ratte doch in deinen Rucksack stecken«, meinte Alec.
Clary musterte ihn böse, konnte aber an seinem Vorschlag nichts Nachteiliges entdecken. Schließlich hatte sie keine Tasche, in die sie Simon hätte hineinstecken können. Isabelles Kleider boten nicht genug Platz für Taschen; sie waren zu eng. Clary wunderte sich, dass in ihnen genügend Platz für Isabelle war.
Sie nahm ihren Rucksack von der Schulter und fand zwischen ihrem zusammengerollten Sweatshirt und ihrem Skizzenblock ein Versteck für die kleine braune Ratte, die einst Simon gewesen war. Er rollte sich auf ihrem Portemonnaie zusammen und schaute sie vorwurfsvoll an. »Tut mir leid«, sagte sie zerknirscht.
»Weshalb die Entschuldigung?«, fragte Jace. »Ich versteh einfach nicht, wieso Irdische ständig die Verantwortung für Dinge übernehmen wollen, die nicht ihre Schuld sind. Du hast dem Idioten diesen Cocktail schließlich nicht eingeflößt.«
»Er ist nur meinetwegen hier«, sagte Clary kleinlaut.
»Jetzt bilde dir bloß nichts ein. Er ist wegen Isabelle hier.«
Wütend klappte Clary den Rucksack zu und stand auf. »Lass uns von hier verschwinden. Ich habe die Nase voll.«
Wie sich herausstellte, bestand das dichte Knäuel schreiender Menschen an der Tür aus weiteren Vampiren, wie man an ihrer blassen Haut und den tiefschwarzen Haaren leicht erkennen konnte. Sie müssen sie färben, dachte Clary, sie konnten unmöglich alle von Natur aus schwarzhaarig sein und außerdem hatten einige blonde Augenbrauen. Die Vampire beschwerten sich lauthals über ihre zerstörten Motorräder und die Tatsache, dass einige ihrer Freunde aus unerklärlichen Gründen verschwunden waren.
»Wahrscheinlich sind sie betrunken und liegen irgendwo im Rinnstein«, meinte Magnus und wedelte gelangweilt mit seinen langen weißen Fingern. »Ihr wisst doch, wie euresgleichen sich in Fledermäuse und Staubhaufen verwandelt, wenn ihr ein paar Bloody Marys zu viel getrunken habt.«
»Sie mixen ihren Wodka mit echtem Blut«, raunte Jace Clary ins Ohr.
Der Hauch seines Atems verlieh ihr eine Gänsehaut. »Verstehe. Danke.«
»Wir können jetzt doch nicht hier herumlaufen und jeden Staubhaufen einsammeln, nur weil sich am Morgen herausstellen könnte, dass es sich dabei um Gregor handelt«, meinte ein Mädchen mit Schmollmund und aufgemalten Augenbrauen.
»Gregor wird nichts passieren. Ich fege nur selten«, beruhigte Magnus sie. »Es wird mir eine Freude sein, sämtliche Verbliebene morgen früh zu euch zu schicken – natürlich in einem Wagen mit geschwärzten Fensterscheiben.«
»Und was ist mit unseren Motorrädern?«, fragte ein dünner Junge, dessen blonde Haarwurzeln unter seiner schlecht gefärbten schwarzen Mähne zu erkennen waren. Ein goldener Ohrring in Form eines Holzpflocks hing von seinem linken Ohrläppchen herunter. »Es dauert Stunden, sie zu reparieren.«
»Ihr habt Zeit bis Sonnenaufgang«, sagte Magnus, der nun sichtlich die Geduld verlor. »Ich schlage vor, ihr fangt gleich an.« Er hob seine Stimme. »Okay, das war’s! Die Party ist vorbei! Alle Mann raus!« Er schwenkte die Arme und verstreute dabei Glitter.
Mit einem einzelnen, durchdringenden Ton hörte die Band auf zu spielen. Die Partygänger maulten und beschwerten sich, marschierten aber gehorsam zum Ausgang. Nicht ein einziger Gast blieb stehen, um sich bei Magnus für die Party zu bedanken.
»Okay, lass uns abhauen.« Jace schob Clary durch die dichte Menge in Richtung Tür. Schützend hielt sie ihren Rucksack mit beiden Händen vor sich. Plötzlich rempelte jemand ihre Schulter an und sie schrie auf und wich zur Seite aus, fort von Jace. Eine Hand streifte ihren Rucksack. Sie schaute auf und sah den Vampir mit dem Holzpflock-Ohrring, der sie angrinste. »Na, Süße«, sagte er. »Was hast du denn da Schönes in deinem Rucksack?«
»Weihwasser«, entgegnete Jace, der wie ein Flaschengeist wieder an Clarys Seite aufgetaucht war – ein sarkastischer blonder Flaschengeist.
»Oooh, ein Schattenjäger. Wie unheimlich«, sagte der Vampir und verschwand mit einem Zwinkern in der Menge.
»Vampire sind ja solche Primadonnen«, seufzte Magnus, der an der Tür stand. »Ehrlich, ich weiß wirklich nicht, warum ich diese Partys gebe.«
»Wegen Ihrer Katze«, erinnerte Clary ihn.
Magnus wurde munter. »Ach richtig. Der große Vorsitzende Miau Tse-tung verdient es, dass ich mich anstrenge.« Er schaute Clary und die Schattenjäger hinter ihr an. »Ihr geht schon?«
Jace nickte. »Wir wollen deine Gastfreundschaft nicht überstrapazieren.«
»Welche Gastfreundschaft?«, fragte Magnus. »Ich würde gerne behaupten, dass es mir eine Freude war, eure Bekanntschaft gemacht zu haben, aber das entspricht leider nicht der Wahrheit. Nicht dass ihr nicht alle ganz reizend gewesen wärt … Und was dich betrifft,« er zwinkerte Alec zu, »rufst du mich mal an?«
Alec wurde rot und stotterte. Wahrscheinlich hätte er die ganze Nacht lang dagestanden, wenn Jace ihn nicht am Ellbogen gepackt und zur Tür gezerrt hätte, Isabelle an den Fersen. Clary wollte ihnen folgen, als sie eine leichte Berührung an ihrem Arm spürte. Es war Magnus.
»Ich habe eine Nachricht für dich«, sagte er. »Von deiner Mutter.«
Clary war so überrascht, dass sie fast ihren Rucksack fallen gelassen hätte. »Von meiner Mutter? Sie meinen, sie hat Sie gebeten, mir etwas auszurichten?«
»Nicht direkt«, erwiderte Magnus. Seine Katzenaugen mit ihren vertikalen Pupillen, die aussahen wie Risse in einer grün-goldenen Mauer, schauten ausnahmsweise einmal ernst. »Aber ich kannte sie auf eine andere Art, als du sie kennst. Sie handelte auf diese Weise, weil sie dich von einer Welt fernhalten wollte, die sie hasste. Ihre gesamte Existenz, die ständige Flucht, das permanente Versteckspiel – die Lügen, wie du es nennst – dienten deiner Sicherheit. Mach ihre Opfer nicht zunichte, indem du dein Leben aufs Spiel setzt. Das würde sie nicht wollen.«
»Sie würde nicht wollen, dass ich sie rette?«
»Nicht, wenn es bedeutet, dass du dich nur selbst in Gefahr bringst.«
»Aber ich bin der einzige Mensch, den es interessiert, was mit ihr geschieht …«
»Nein, das bist du nicht«, entgegnete Magnus.
Clary blinzelte. »Ich verstehe nicht. Gibt es … Magnus, wenn Sie etwas wissen …«
Er schnitt ihr mit brutaler Entschlossenheit das Wort ab: »Und noch etwas.« Sein Blick schnellte zur Tür, durch die Jace, Alec und Isabelle verschwunden waren. »Denk daran, dass es nicht die Monster waren, vor denen deine Mutter aus der Verborgenen Welt geflohen ist und vor denen sie sich versteckt hielt. Nicht die Hexenmeister, nicht die Werwölfe, nicht das Lichte Volk, nicht einmal die Dämonen. Es waren sie. Es waren die Schattenjäger.«
Sie warteten draußen vor dem Lagerhaus auf sie. Jace lehnte am Treppengeländer, die Hände in den Taschen, und schaute zu, wie die Vampire fluchend um ihre kaputten Motorräder herumstaksten. Ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen. Alec und Isabelle standen ein wenig abseits. Isabelle wischte sich die Augen und Clary verspürte eine irrationale Wut – Isabelle kannte Simon doch kaum und diese ganze vertrackte Situation war nicht ihr Problem. Clary war diejenige, die das Recht hatte, sich Sorgen um ihn zu machen, nicht das Schattenjäger-Mädchen.
Jace stieß sich vom Treppengeländer ab, als Clary auftauchte. Er ging neben ihr her, sagte aber nichts und schien in Gedanken versunken. Isabelle und Alec liefen vor ihnen; es klang, als würden sie streiten. Clary beschleunigte ihre Schritte ein wenig und reckte den Hals, um die beiden besser verstehen zu können.
»Es ist nicht deine Schuld«, sagte Alec. Er klang genervt, als habe er so etwas schon öfter mit seiner Schwester durchgemacht. Clary fragte sich, wie viele Freunde sie wohl schon aus Versehen in Ratten verwandelt hatte. »Aber es sollte dich lehren, nicht auf so viele Partys von Schattenwesen zu gehen«, fügte er hinzu. »Sie sind den Ärger nicht wert, den man sich mit ihnen einhandelt.«
Isabelle schniefte laut. »Wenn ihm etwas passiert wäre, ich … ich weiß nicht, was ich getan hätte.«
»Wahrscheinlich genau das, was du bisher getan hast«, sagte Alec gelangweilt. »So gut hast du ihn schließlich nicht gekannt.«
»Das bedeutet aber nicht, dass ich ihn nicht …«
»Was? Dass du ihn nicht liebst?«, meinte Alec verächtlich und hob die Stimme. »Man muss jemand kennen, um ihn zu lieben.«
»Aber das ist es doch nicht allein.« Isabelle klang fast traurig. »Hast du dich auf der Party nicht amüsiert, Alec?«
»Nein.«
»Ich dachte, du magst Magnus vielleicht. Er ist nett, oder?«
»Nett?« Alec schaute sie an, als sei sie verrückt geworden. »Kätzchen sind nett. Hexenmeister sind …« Er zögerte. »Nicht nett«, schloss er müde.
»Ich dachte, ihr würdet euch gut verstehen.« Isabelles geschminkte Augen glänzten, als sie ihrem Bruder einen kurzen Blick zuwarf. »Dass ihr vielleicht Freunde werden könntet.«
»Ich habe genug Freunde«, sagte Alec und schaute über die Schulter zurück zu Jace, fast so, als könne er nichts dagegen tun.
Doch Jace war immer noch in Gedanken versunken; er hielt den Kopf gesenkt und bemerkte Alecs Blick nicht.
Plötzlich verspürte Clary den Drang, ihren Rucksack zu öffnen und hineinzuschauen. Doch dann runzelte sie die Stirn – er war bereits offen. Sie rief sich die letzten Minuten der Party ins Gedächtnis zurück: Sie hatte den Rucksack hochgenommen und den Reißverschluss zugezogen. Da war sie sich ganz sicher. Mit hämmerndem Herzen riss sie den Rucksack auf.
Sie erinnerte sich daran, wie ihr einmal das Portemonnaie in der U-Bahn gestohlen worden war. Damals hatte sie ihre Tasche geöffnet und die Geldbörse nicht mehr gefunden. Ihr Mund war ganz trocken gewesen vor Überraschung – Habe ich es fallen lassen? Habe ich es verloren? Irgendwann wurde ihr klar: Es ist weg. Jetzt war es genauso, nur tausendmal schlimmer. Mit staubtrockenem Mund durchwühlte sie den Rucksack, schob Kleider und den Skizzenblock beiseite und griff ganz tief hinein, bis sich der Bodensatz unter ihren Fingernägeln sammelte. Nichts.
Sie war stehen geblieben. Jace ging ein paar Schritte weiter und schaute dann ungeduldig zurück; Alec und Isabelle waren schon einen Block voraus.
»Was ist los?«, fragte Jace und sie spürte, dass er eigentlich noch etwas Sarkastisches hatte hinzufügen wollen. Aber er musste den Ausdruck auf ihrem Gesicht gesehen haben, denn er verkniff sich die Bemerkung. »Clary?«
»Er ist weg«, flüsterte sie. »Simon. Er war in meinem Rucksack …«
»Ist er herausgeklettert?«
Das war an sich eine vernünftige Frage, aber Clary, erschöpft und panisch, reagierte vollkommen unvernünftig. »Natürlich nicht!«, schrie sie. »Denkst du, er will von einem Auto überfahren oder von einer Katze gefressen werden?«
»Clary …«
»Halt den Mund!«, kreischte sie und schleuderte ihm den Rucksack entgegen. »Du warst derjenige, der gesagt hat, es sei zwecklos, ihn zurückzuverwandeln …«
Geschickt fing er den Rucksack auf und untersuchte ihn. »Der Reißverschluss ist aufgebrochen«, sagte er. »Von außen. Jemand hat den Rucksack aufgerissen.«
Clary schüttelte benommen den Kopf; sie konnte nur noch flüstern. »Das war ich nicht …«
»Ich weiß.« Seine Stimme klang sanft. Er legte die Hände an den Mund und rief: »Alec! Isabelle! Geht schon mal weiter. Wir kommen gleich nach.«
Die beiden Gestalten, die schon weit entfernt waren, blieben stehen. Alec zögerte, aber seine Schwester packte ihn am Arm und schob ihn zum U-Bahn-Eingang. Irgendetwas drückte gegen Clarys Rücken: Es war Jace, der sie mit einer Hand behutsam umdrehte. Sie ließ sich von ihm führen, stolperte neben ihm über den holprigen Bürgersteig. Schließlich standen sie wieder vor der Tür von Magnus’ Haus. Der Gestank nach schalem Alkohol und der süße, unheimliche Geruch, den Clary inzwischen mit allen Schattenwesen in Verbindung brachte, erfüllten den Eingang. Jace nahm die Hand von Clarys Rücken und drückte auf die Klingel.
»Jace«, sagte sie.
Mit dunklen Augen schaute er auf sie herab. »Ja?«
Sie suchte nach Worten. »Glaubst du, dass es ihm gut geht?«
»Simon?« Er zögerte einen Moment und Clary musste an Isabelles Worte denken: Stell ihm keine Fragen, wenn du nicht weißt, ob du die Antwort verkraften kannst. Statt etwas zu sagen, drückte er erneut auf die Klingel, allerdings energischer als zuvor.
Dieses Mal reagierte Magnus und seine Stimme dröhnte durch den winzigen Eingang. »Wer wagt es, meine Ruhe zu stören?«
Jace wirkte fast ein wenig nervös. »Jace Wayland. Erinnerst du dich? Ich gehöre zum Rat.«
»Oh, ja.« Magnus schien freundlicher gestimmt. »Bist du der mit den blauen Augen?«
»Er meint Alec«, erklärte Clary.
»Nein. Meine Augen werden meist als golden beschrieben«, erwiderte Jace in die Gegensprechanlage. »Und leuchtend.«
»Oh, der bist du.« Magnus klang enttäuscht. Wenn Clary nicht so niedergeschlagen gewesen wäre, hätte sie gelacht. »Ich denke, du kommst besser rauf.«
Der Hexenmeister öffnete die Tür in einem Seidenkimono mit Drachenmuster und einem goldenen Turban auf dem Kopf. In seinem Blick spiegelte sich kaum verhohlene Verärgerung.
»Ich habe bereits geschlafen«, verkündete er hochmütig.
Da Jace aussah, als wolle er gleich etwas Unhöfliches sagen, vermutlich über den Turban, kam Clary ihm lieber zuvor. »Entschuldigen Sie die Störung …«
Etwas Kleines, Weißes linste hinter dem Fußgelenk des Hexenmeisters hervor. Mit seinen grauen Zickzackstreifen und den rosa Puschelohren wirkte das Knäuel eher wie eine große Maus als eine kleine Katze.
»Der Große Vorsitzende Miau Tse-tung?«, fragte Clary.
Magnus nickte. »Er ist zurückgekommen.«
Jace musterte das kleine gefleckte Kätzchen leicht verächtlich. »Das ist keine Katze«, bemerkte er. »Es hat die Größe eines Hamsters.«
»Ich werde geflissentlich vergessen, dass du das gesagt hast«, meinte Magnus und schubste Miau Tse-tung vorsichtig mit dem Fuß zurück in Richtung Wohnung. »Warum seid ihr hier?«
Clary hielt ihm den aufgerissenen Rucksack entgegen. »Wegen Simon. Er ist weg.«
»Was meinst du mit weg?«, fragte Magnus.
»Na, verschwunden, nicht mehr da, abwesend, nicht präsent«, erwiderte Jace.
»Vielleicht hat er sich irgendwo versteckt«, sinnierte Magnus. »Es kann nicht leicht sein, sich an das Dasein als Ratte zu gewöhnen, besonders für jemanden, der so beschränkt ist.«
»Simon ist nicht beschränkt«, protestierte Clary wütend.
»Das stimmt«, pflichtete Jace ihr bei. »Er sieht nur beschränkt aus. In Wirklichkeit ist er von recht durchschnittlicher Intelligenz.« Sein Ton klang locker, aber seine Schultern waren angespannt. »Beim Rausgehen hat einer deiner Gäste Clary angerempelt. Ich glaube, er hat den Rucksack aufgerissen und die Ratte herausgenommen. Simon, meine ich.«
Magnus sah ihn an. »Und?«
»Ich muss herausfinden, wer es war«, erwiderte Jace entschlossen. »Und ich denke, du weißt es. Schließlich bist du der Oberste Hexenmeister von Brooklyn. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in deiner Wohnung irgendetwas passiert, von dem du nichts mitbekommst.«
Magnus schaute auf einen seiner glänzenden Fingernägel. »Da hast du nicht unrecht.«
»Bitte, sagen Sie es uns«, bat Clary. Jace umfasste ihr Handgelenk und drückte es. Sie wusste, dass er ihr damit zu verstehen geben wollte, still zu sein, aber sie konnte nicht anders. »Bitte.«
Magnus ließ seine Hand mit einem Seufzer fallen. »Also gut. Ich habe gesehen, wie einer der Vorstadtvampire mit einer braunen Ratte in der Hand wegging. Ehrlich, ich habe wirklich gedacht, sie würde ihm gehören. Manchmal verwandeln sich die Kinder der Nacht in Ratten oder Fledermäuse, wenn sie betrunken sind.«
Clarys Hände zitterten. »Aber jetzt glauben Sie, es könnte Simon gewesen sein?«
»Das ist nur eine Vermutung, aber es wäre durchaus denkbar.«
»Da ist noch etwas.« Jace sprach ganz ruhig, aber er war jetzt angespannt und äußerst wachsam, so wie an dem Abend, als sie in Clarys Wohnung auf den Forsaken gestoßen waren. »Wo ist ihr Versteck?«
»Ihr was?«
»Das Vampirversteck. Dahin sind sie doch gegangen, oder?«
»Ich denke schon.« Magnus sah aus, als wäre er lieber ganz woanders.
»Du musst uns sagen, wo es ist.«
Magnus schüttelte den Kopf. »Ich werde es mir nicht mit den Kindern der Nacht wegen eines Irdischen verderben, den ich nicht einmal kenne.«
»Einen Moment«, unterbrach Clary ihn. »Was könnten die Vampire mit Simon vorhaben? Ich dachte, sie dürften keine Menschen verletzen …«
»Du möchtest wissen, was ich denke?«, fragte Magnus, nicht einmal unfreundlich. »Sie haben vermutlich angenommen, er sei eine zahme Ratte, und sich gedacht, dass es lustig sein könnte, das Tier eines Schattenjägers zu töten. Sie schätzen euch nicht besonders, egal, was das Abkommen vorschreiben mag – und das Bündnis sagt nichts über das Töten von Tieren.«
»Sie werden ihn umbringen?«, fragte Clary entsetzt.
»Nicht notwendigerweise«, beeilte Magnus sich zu versichern. »Vielleicht haben sie gedacht, er sei einer von ihnen.«
»Und was passiert in diesem Fall mit ihm?«
»Tja, in dem Moment, in dem er sich wieder in einen Menschen zurückverwandelt, werden sie ihn trotzdem töten. Aber vielleicht gibt euch das ein paar Stunden mehr Zeit.«
»Dann müssen Sie uns helfen«, drängte Clary den Hexenmeister. »Sonst wird Simon sterben.«
Magnus musterte sie mit einer Mischung aus Abgeklärtheit und Mitgefühl. »Sie müssen alle irgendwann sterben, Süße«, sagte er, »du gewöhnst dich besser daran.« Er wollte die Tür schließen, aber Jace stellte einen Fuß dazwischen. Magnus seufzte. »Und was jetzt?«
»Du hast uns noch immer nicht gesagt, wo ihr Versteck ist«, erinnerte Jace ihn.
»Und das werde ich auch nicht. Ich habe euch gesagt …«
Clary unterbrach ihn und schob sich vor Jace. »Sie haben in meinem Kopf herumgepfuscht«, sagte sie. »Meine Erinnerungen ausgelöscht. Können Sir mir nicht diesen einen Gefallen tun?«
Magnus kniff seine funkelnden Katzenaugen zusammen. Irgendwo in der Ferne schrie der Vorsitzende Miau Tse-tung. Langsam senkte der Hexenmeister den Kopf und seine Stirn stieß, noch nicht einmal sanft, gegen die Wand. »Das alte Hotel Dumont. Im Norden.«
»Ich weiß, wo das ist«, sagte Jace zufrieden.
»Wir müssen sofort dahin. Haben Sie ein Portal?«, fragte Clary.
»Nein.« Magnus schaute verärgert. »Portale sind ziemlich schwer zu bauen und stellen für ihren Besitzer kein geringes Risiko dar. Sehr hässliche Dinge können durch sie zu einem hereinkommen, wenn man sie nicht sorgfältig abschirmt. Die einzigen Portale, die es meines Wissens in der Stadt gibt, sind das bei Dorothea und das bei Renwick. Aber beide liegen zu weit weg, als dass sich die Mühe lohnen würde, dort hinzufahren – selbst wenn ihr genau wüsstet, dass ihre Besitzer euch die Benutzung gestatten, was sie wahrscheinlich nicht tun würden. Kapiert? Und jetzt verschwindet.« Magnus starrte auf Jace’ Fuß, der noch immer die Tür aufhielt. Jace rührte sich nicht.
»Noch eines«, sagte Jace. »Gibt es hier irgendwo geweihten Boden?«
»Das ist eine gute Idee. Wenn ihr es auf eigene Faust mit einer ganzen Vampirhorde aufnehmen wollt, dann solltet ihr vorher besser beten.«
»Wir brauchen Waffen«, entgegnete Jace knapp. »Mehr als die, die wir bei uns haben.«
»In der Diamond Street gibt es eine katholische Kirche. Ist euch damit geholfen?«
Jace nickte und trat zurück. »Das ist …«
Mit einem Krachen schlug die Tür vor ihrer Nase zu. Clary, die so heftig atmete, als sei sie gerannt, starrte auf das Metall, bis Jace ihren Arm nahm und sie die Treppe hinunter in die Nacht führte.
Bei Nacht wirkte die Kirche in der Diamond Street gespenstisch – ihre gotischen Spitzbogenfenster reflektierten das Mondlicht wie silberglänzende Spiegel. Ein schmiedeeiserner, mattschwarz lackierter Zaun umgab das Bauwerk. Clary rüttelte am Haupttor, doch ein schweres Vorhängeschloss hielt die beiden Flügeltüren zusammen. »Abgeschlossen«, sagte sie und sah sich kurz zu Jace um.
Er schwang seine Stele. »Lass mich mal.«
Clary schaute zu, wie er das Schloss bearbeitete, und ihr Blick fiel auf die geschwungene Linienführung seines geschmeidigen Rückens, die Muskeln unter dem kurzärmligen T-Shirt. Das Mondlicht ließ die Farbe seiner Haare verblassen, sodass sie jetzt eher silbern statt golden schimmerten.
Mit einem dumpfen Klirren fiel das Vorhängeschloss zu Boden, blieb dort als schwerer Klumpen verdrehter Kettenglieder liegen, Jace wirkte sehr zufrieden mit sich. »Wie üblich bin ich wieder mal erstaunlich gut im Öffnen von Schlössern«, sagte er.
Clary spürte plötzlich, wie Wut in ihr aufstieg. »Wenn der selbstgefällige Teil des Abends vorüber ist, können wir dann vielleicht mal voranmachen und meinen besten Freund davor bewahren, dass man ihm das Blut aus den Adern saugt und er an Exsanguination stirbt?«
»Exsanguination«, meinte Jace beeindruckt. »Ein großes Wort.«
»Und du bist ein großes …«
»Ts, ts«, unterbrach er sie. »Keine Flüche in der Kirche.«
»Wir sind noch nicht in der Kirche«, murmelte Clary und folgte ihm den Steinweg hinauf zum doppelflügeligen Hauptportal. Der Steinbogen über dem Tor war kunstvoll gemeißelt und ein Engel blickte von der höchsten Stelle des Spitzbogens auf sie hinab. Hoch aufragende Türme zeichneten sich schwarz vor dem Nachthimmel ab und Clary erkannte, dass dies die Kirche war, die sie wenige Stunden zuvor vom McCarren Park aus gesehen hatte. Sie biss sich auf die Lippe. »Irgendwie kommt es mir nicht richtig vor, eine Kirchentür aufzubrechen.«
Jace’ mondbeschienenes Profil wirkte gelassen. »Das tun wir auch nicht«, erwiderte er und schob die Stele in seine Hosentasche. Dann legte er seine schlanke, braun gebrannte Hand, die über und über mit feinen weißen Narben übersät war, auf die Holztür des Portals, oberhalb des Türriegels. »Im Namen des Rats«, sagte er, »erbitte ich Zugang zu diesem geweihten Boden. Im Namen des niemals endenden Kriegs erbitte ich Zugang zu Euren Waffen. Und im Namen des Erzengels Raziel erbitte ich Euren Segen bei meiner Mission im Kampf gegen die Dunkelheit.«
Clary starrte ihn an. Er wartete reglos. Der Nachtwind blies ihm eine Haarsträhne in die Augen; er blinzelte einmal und genau in dem Moment, als sie etwas sagen wollte, öffnete sich die Tür mit einem Klick, schwang mit knarrenden Angeln auf und gab den Blick frei auf einen kühlen, leeren Raum, der von einzelnen Kerzen beleuchtet wurde. Jace trat einen Schritt zur Seite. »Nach dir.«
Als Clary den Raum betrat, wurde sie von einer Woge kühler Luft und dem Duft nach Stein und Kerzenwachs umfangen. Im Halbdunkel erkannte sie Reihen von Kirchenbänken, die sich bis zum Altar erstreckten, und vor einer der hinteren Mauern leuchteten flackernde Opferkerzen auf einem Metallgestell. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie – abgesehen vom Institut, das im Grunde nicht zählte – noch nie in einer Kirche gewesen war. Natürlich hatte sie Abbildungen gesehen und das Innere von Kirchen in Spiel- und Zeichentrickfilmen bewundert, wo sie regelmäßig auftauchten. Eine Szene aus ihrer Lieblings-Zeichentrickserie spielte in einem Gotteshaus mit einem riesigen Vampirpriester. Eigentlich sollte man sich in einer Kirche geborgen fühlen, doch sie fühlte sich nicht sicher. Seltsame Gestalten schienen bedrohlich aus den Schatten aufzuragen und auf sie herabzusehen. Clary erschauderte.
»Die Steinmauern halten die Hitze draußen«, sagte Jace, der ihr Zittern bemerkt hatte.
»Daran liegt es nicht«, erwiderte sie. »Ich … ich war noch nie in einer Kirche.«
»Du warst doch im Institut.«
»Ich meine, in einer richtigen Kirche. Während der Messe und so …«
»Tatsächlich? Okay, also das hier ist das Kirchenschiff, in dem das Kirchengestühl steht – der Ort, an dem die Leute während des Gottesdienstes sitzen.« Sie gingen weiter und Jace’ Stimme wurde als Echo von den Mauern zurückgeworfen. »Diese erhöhte, halbkreisförmige Nische, in der wir gerade stehen, ist die Apsis. Und das da ist der Altar, wo der Priester die Eucharistie feiert. Der Altar befindet sich immer auf der Ostseite der Kirche.« Jace kniete nieder und einen Moment lang dachte Clary, er würde beten. Der Altar bestand aus einem hohen dunklen Granitblock, der mit einem roten Tuch bedeckt war. Dahinter ragte eine kunstvoll vergoldete Tafel auf, die Figuren von Heiligen und Märtyrern zeigte, mit flachen goldenen Scheiben hinter den Köpfen – den Heiligenscheinen.
»Jace«, flüsterte sie. »Was machst du da?«
Jace legte beide Hände auf den Steinboden, bewegte sie rasch hin und her und wirbelte mit den Fingerspitzen Staub auf. »Ich suche nach Waffen.«
»Hier?«
»Sie sind versteckt, normalerweise in der Nähe des Altars. Speziell für uns aufbewahrt, für Notfälle.«
»Und was soll das sein? Eine Art Pakt, den ihr mit der katholischen Kirche abgeschlossen habt?«
»Nicht ausschließlich mit der katholischen Kirche. Dämonen sind schon genauso lange auf der Erde wie wir. Man findet sie überall auf der Welt, in den unterschiedlichsten Gestalten – griechische Daímõne, persische Daevas, hinduistische Asura, japanische Oni. Die meisten Religionen haben eine Methode entwickelt, die Existenz dieser Wesen und ihre Bekämpfung in ihren Glauben zu integrieren. Schattenjäger halten nicht an einer einzelnen Religion fest und im Gegenzug unterstützen alle Religionen uns in unserem Kampf. Ich hätte genauso gut auch zu einer jüdischen Synagoge oder einem japanischen Schinto-Tempel gehen und Hilfe erbitten können … Ah, hier ist sie ja.« Er wischte den Staub beiseite und Clary kniete sich neben ihn. In eine der achteckigen Steinplatten vor dem Altar war eine Rune gemeißelt. Clary erkannte sie – fast so mühelos, als würde sie ein englisches Wort lesen. Es war die Rune, die »Nephilim« bedeutete.
Jace holte seine Stele hervor und berührte damit die Steinplatte. Mit einem dumpfen Rumpeln wich sie zurück und gab eine dunkle Grube frei, die sich darunter befand. In ihr lag eine lange Holzkiste. Jace klappte den Deckel der Kiste auf und musterte zufrieden die sorgfältig darin gestapelten Gegenstände.
»Was ist das alles?«, fragte Clary.
»Phiolen mit Weihwasser, gesegnete Messer, Stahl- und Silberklingen«, erklärte Jace und legte die Waffen auf den Boden neben sich. »Elektrum-Draht – im Moment nicht besonders nützlich, aber es kann nie schaden, eine kleine Menge bei sich zu haben – Silberkugeln, Schutzamulette, Kruzifixe, Davidsterne …«
»Großer Gott«, murmelte Clary.
»Ich bezweifle, dass Er in diese Kiste passen würde.«
»Jace.« Clary war entsetzt.
»Was denn?«
»Ich weiß nicht, aber irgendwie erscheint es mir unangebracht, derartige Scherze in einer Kirche zu machen.«
Er zuckte die Achseln. »Ich bin nicht sehr religiös.«
Clary sah ihn überrascht an. »Tatsächlich nicht?«
Er schüttelte den Kopf und eine Haarsträhne fiel ihm in die Augen. Doch statt sie beiseitezuschieben, hielt er eine kleine Flasche mit klarer Flüssigkeit prüfend hoch. Clary juckte es in den Fingern, ihm die Strähne aus dem Gesicht zu streichen. »Hast du gedacht, ich wäre fromm?«, fragte er.
»Nun ja …« Sie zögerte. »Wenn es Dämonen gibt, dann muss es doch auch …«
»Muss es was?« Jace steckte die Phiole in seine Tasche. »Ah … du meinst: Wenn es das gibt …« Er zeigte nach unten auf den Boden. »Dann muss es auch das geben.« Er deutete nach oben, in Richtung des Kirchengewölbes.
»Das ist doch logisch, oder?«
Jace senkte den Kopf, nahm eine Klinge in die Hand und begutachtete das Heft. »Ich will’s mal so sagen«, setzte er an. »Ich töte nun schon seit etlichen Jahren Dämonen und habe bestimmt schon fünfhundert von diesen Höllengeburten dorthin zurückgeschickt, wo sie hergekommen sind. Aber in all der Zeit – in all diesen Jahren – habe ich nicht einen einzigen Engel gesehen. Und noch nicht einmal von jemandem gehört, der einen gesehen hätte.«
»Aber es war doch ein Engel, der die Schattenjäger überhaupt erst erschaffen hat«, warf Clary ein. »Das hat mir Hodge zumindest erzählt.«
»Eine hübsche Geschichte.« Jace warf ihr aus zusammengekniffenen, katzenartigen Augen einen Blick zu. »Mein Vater hat an Gott geglaubt. Aber ich glaube nicht an seine Existenz.«
»Kein bisschen?« Sie war sich nicht sicher, warum sie ihn drängte. Bisher hatte sie nie einen Gedanken daran verschwendet, ob sie selbst an Gott und Engel und all das glaubte – und danach gefragt, hätte sie wahrscheinlich mit Nein geantwortet. Aber Jace hatte etwas an sich, dass in ihr den Wunsch weckte, ihm einen Stoß zu geben, seine zynische Schale zu knacken und ihn zu dem Geständnis zu zwingen, dass er an irgendetwas glaubte, dass er irgendetwas fühlte, dass ihm irgendetwas am Herzen lag.
»Man könnte es auch folgendermaßen formulieren«, sagte er und schob zwei Messer in seinen Gürtel. Das schwache Licht, das durch die Buntglasfenster fiel, zeichnete farbige Quadrate auf sein Gesicht. »Mein Vater hat an einen gerechten Gott geglaubt. Deus lo vult!, so lautete sein Motto, ›Gott will es‹. Das war der Wahlspruch der Kreuzfahrer, die hinaus in den Kampf zogen und abgeschlachtet wurden, genau wie mein Vater. Als ich ihn in seinem eigenen Blut liegen sah, wusste ich, dass ich zwar nicht aufgehört hatte, an Gott zu glauben, aber daran, dass es ihn interessierte. Möglicherweise gibt es einen Gott, Clary, und möglicherweise auch nicht. Aber ich denke nicht, dass das eine Rolle spielt. So oder so sind wir auf uns allein gestellt.«
Sie waren die einzigen Fahrgäste in ihrem U-Bahn-Wagen. Während sie in den Norden der Stadt rollten, saß Clary schweigend da und dachte an Simon. Hin und wieder sah Jace zu ihr hinüber, als wollte er etwas sagen, hielt dann aber, ganz untypisch für ihn, den Mund.
Als sie endlich ausstiegen und die Treppe der U-BahnStation hinaufgingen, waren die Straßen wie ausgestorben. Die Luft hing schwer und metallisch über der Stadt und die Bars, Waschsalons und Wechselstuben lagen still hinter ihren Wellblechverschlägen. Nachdem sie fast eine Stunde gesucht hatten, fanden sie das Hotel schließlich in einer Seitenstraße der 116. Straße. Sie waren zweimal daran vorbeigelaufen, weil sie es für eines der vielen leer stehenden Mietshäuser gehalten hatten, bis Clary das Schild entdeckte. Eine Schraube hatte sich gelöst, sodass die Metalltafel halb versteckt hinter einem verkrüppelten Baum hing. HOTEL DUMONT hätte darauf stehen sollen, doch irgendjemand hatte das N übermalt und durch ein R ersetzt.
»Hotel Dumort«, meinte Jace, als Clary ihn darauf aufmerksam machte. »Entzückend.«
Clary hatte zwar nur zwei Jahre Französisch in der Schule gelernt, aber das reichte, um den Witz zu verstehen. »Du mort«, sagte sie. »Des Todes.«
Jace nickte. Er war jetzt vollkommen konzentriert, wie eine Katze, die eine Maus hinters Sofa hat huschen sehen.
»Aber das kann nicht das Hotel sein, das wir suchen«, sagte Clary. »Sämtliche Fenster sind mit Brettern vernagelt und die Tür ist zugemauert … Ach ja, richtig«, fügte sie hinzu, als sie seinen Blick auffing, »Vampire. Aber wie kommen sie in das Gebäude hinein?«
»Sie fliegen«, erklärte Jace und zeigte auf die oberen Geschosse des Bauwerks, das einst ein sehr elegantes Luxushotel gewesen sein musste. Die Natursteinfassade war mit anmutigen Ornamenten und Lilien versehen, die durch den jahrelangen Kontakt mit verschmutzter Luft und saurem Regen dunkel und verwittert wirkten.
»Wir können nicht fliegen«, fühlte Clary sich gezwungen anzumerken.
»Nein«, stimmte Jace ihr zu. »Wir können nicht fliegen. Aber wir können einbrechen und hineinmarschieren.« Er überquerte die Straße und ging auf das Hotel zu.
»Fliegen klingt irgendwie lustiger«, sagte Clary und bemühte sich, mit ihm Schritt zu halten.
»Im Moment klingt alles tausendmal lustiger.« Clary fragte sich, ob er das ernst meinte. Er strahlte eine Erregung aus, eine so erwartungsvolle Vorfreude auf die Jagd, dass er auf sie nicht den Eindruck machte, als wäre er so unzufrieden, wie er behauptete. Er hat mehr Dämonen getötet als jeder andere in seinem Alter. Und man tötete nicht derart viele Dämonen, indem man zögerlich in den Kampf ging.
Eine schwüle Brise war aufgekommen und rüttelte an den Blättern der verkrüppelten Bäume vor dem Hotel, wirbelte den Abfall am Straßenrand auf und trieb ihn über die geborstenen Steinplatten des Bürgersteigs. Die Gegend wirkte seltsam ausgestorben, dachte Clary – normalerweise lief in Manhattan immer irgendjemand durch die Straßen, selbst um vier Uhr morgens. Einige Straßenlaternen waren ausgefallen; lediglich die in der Nähe des Hotels warf ein schwaches gelbes Licht auf den rissigen Gehweg, der zu dem Bereich des Hotels führte, wo sich einst der Haupteingang befunden hatte.
»Bleib aus dem Lichtkegel«, sagte Jace und zog sie am Ärmel zu sich heran. »Möglicherweise halten sie von den Fenstern aus Wache. Und sieh nicht nach oben«, fügte er hinzu, doch es war bereits zu spät. Clary hatte längst zu den zersprungenen Fenstern in den oberen Geschossen hinaufgeschaut. Einen Moment lang glaubte sie, eine Bewegung hinter einer der Glasscheiben bemerkt zu haben, das Aufblitzen eines bleichen Gesichts oder einer Hand, die einen schweren Vorhang beiseitezog …
»Komm schon.« Jace zerrte sie hinter sich her, bis sie mit den Schatten in der näheren Umgebung des Hotels verschmolzen. Sie spürte die Anspannung in ihrem Magen, den beschleunigten Pulsschlag in ihren Handgelenken, das laute Rauschen des Bluts in ihren Ohren. Das schwache Brummen einiger Autos in der Ferne schien sehr weit weg; außer dem Knirschen ihrer eigenen Schuhe auf dem überwucherten Gehweg war nichts zu hören. Sie wünschte, sie könnte sich so lautlos fortbewegen wie ein Schattenjäger. Vielleicht würde sie Jace eines Tages bitten, es ihr beizubringen.
Leise schlichen sie um die Ecke des Hotels herum, in eine schmale Seitenstraße, die früher vermutlich als Lieferantenzufahrt gedient hatte. Die Gasse war düster und mit Müll übersät: schimmlige Pappkartons, leere Glasflaschen, zerrissene Plastiktüten und verstreut herumliegende Gegenstände, die Clary zunächst für Zahnstocher hielt, die bei näherem Hinsehen jedoch aussahen wie …
»Knochen«, meinte Jace nüchtern. »Hundeknochen, Katzenknochen. Sieh nicht zu genau hin. Das Durchwühlen von Vampirmüll ist kein echtes Vergnügen.«
Clary schluckte hart, um die aufsteigende Übelkeit zu bekämpfen. »Zumindest wissen wir, dass wir am richtigen Ort sind«, sagte sie schließlich und wurde dafür mit einem Anflug von Respekt belohnt, der kurz in Jace’ Augen aufleuchtete.
»Oh ja, wir sind am richtigen Ort«, bestätigte er. »Jetzt müssen wir nur noch rausfinden, wie wir in das Hotel hineinkommen.«
Sämtliche Fenster, die auf die Seitengasse hinausführten, waren zugemauert; es gab keine Tür und keine Feuerleiter. »Als das noch ein Hotel war, muss hier irgendwo der Lieferanteneingang gewesen sein«, sagte Jace nachdenklich. »Die Waren wurden bestimmt nicht durch den Haupteingang ins Hotel gebracht und sonst ist nirgendwo Platz für die Lieferwagen. Es muss hier also irgendwo einen Weg ins Gebäude geben.«
Clary dachte an die kleinen Geschäfte und Weinhandlungen in der Nähe ihres Hauses in Brooklyn. Wenn sie morgens zur Schule gegangen war, hatte sie oft gesehen, wie Waren angeliefert wurden. Sie erinnerte sich, wie der koreanische Feinkosthändler immer die Metalltüren geöffnet hatte, die in den Gehweg vor der Ladentür eingelassen waren, damit die Pappkartons mit Papierhandtüchern und Katzenfutter in den Vorratskeller unter dem Geschäft gebracht werden konnten. »Ich wette, die Türen sind im Boden, wahrscheinlich unter all diesem Müll begraben.«
Jace, der sich unmittelbar hinter ihr befand, nickte. »So was Ähnliches hab ich mir auch schon überlegt.« Er seufzte. »Ich schätze, uns bleibt nichts anderes übrig, als den Abfall wegzuräumen. Am besten fangen wir mit dem Container an.« Wenig begeistert zeigte er auf den Müllbehälter.
»Du würdest lieber gegen eine gierige Horde Dämonen kämpfen, oder?«, fragte Clary.
»Zumindest wimmeln die nicht von Maden. Jedenfalls nicht alle«, fügte er nachdenklich hinzu. »Denn da gab es mal diesen Dämon, den ich in der Kanalisation unter der Grand Central Station aufgespürt hatte und der …«
»Stopp.« Clary hob abwehrend eine Hand. »Ich bin jetzt echt nicht in der Stimmung dafür.«
»Das muss das erste Mal sein, dass ein Mädchen je so was zu mir gesagt hat«, meinte Jace sinnend.
»Bleib einfach in meiner Nähe und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein.«
Jace’ Mundwinkel zuckten. »Jetzt ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt für neckisches Geplänkel. Lass uns lieber den Müll wegschaffen.« Er marschierte zum Container hinüber und packte ihn an einer Seite. »Stell du dich auf die andere Seite. Dann kippen wir ihn um.«
»Umkippen macht viel zu viel Lärm«, widersprach Clary, nahm aber ihre Position auf der anderen Seite des riesigen Müllbehälters ein – ein klassischer dunkelgrüner Container der städtischen Müllabfuhr, der mit seltsamen Flecken übersät war. Das Ding stank, sogar noch stärker als herkömmliche Container – nach Müll und irgendetwas anderem. Ein süßlich-schwerer Geruch, der ihr die Kehle zuschnürte und sie innerlich würgen ließ. »Wir sollten ihn lieber wegschieben.«
»Also, jetzt hör mal zu …«, setzte Jace an, als aus dem Schatten hinter ihnen plötzlich eine Stimme erklang.
»Haltet ihr das wirklich für klug?«
Clary erstarrte und blinzelte in die Dunkelheit der Gasse. Einen kurzen, panischen Moment lang fragte sie sich, ob sie sich die Stimme vielleicht nur eingebildet hatte, doch Jace stand ebenfalls wie erstarrt. Auf seinem Gesicht spiegelte sich Erstaunen. Es kam nur selten vor, dass ihn irgendetwas überraschte, und noch seltener, dass sich jemand unbemerkt an ihn heranschleichen konnte. Er trat einen Schritt beiseite, seine Hand glitt zu seinem Gürtel und er fragte in ausdruckslosem Tonfall: »Ist da jemand?«
»Dios mio«, erwiderte eine männliche, amüsiert klingende Stimme in fließendem Spanisch. »Ihr seid nicht aus dieser Gegend, oder?«
Aus dem tiefen Dunkel trat ein Schatten hervor, der langsam Gestalt annahm: ein Junge, kaum älter als Jace und etwa fünfzehn Zentimeter kleiner. Er wirkte feingliedrig, hatte die großen dunklen Augen und die honigfarbene Haut einer Figur eines Gemäldes von Diego Rivera und trug eine schwarze, weite Hose und ein weißes Hemd mit offenem Kragen. Die Goldkette an seinem Hals funkelte schwach, als er ins Licht trat.
»Könnte man so sagen«, erwiderte Jace vorsichtig, nahm die Hand jedoch nicht vom Gürtel.
»Ihr solltet besser hier abhauen.« Der Junge fuhr sich mit der Hand durch die dicken schwarzen Locken. »Dieser Ort ist gefährlich.«
Er meint, das ist ein schlimmes Viertel. Clary hätte am liebsten laut losgeprustet, auch wenn es überhaupt nicht lustig war. »Wissen wir«, sagte sie. »Wir haben uns bloß ein bisschen verlaufen, das ist schon alles.«
Der Junge deutete auf den Müllcontainer. »Was hattet ihr damit vor?«
Ich bin nicht gut im Stegreiflügen, dachte Clary und sah zu Jace hinüber, der hoffentlich hervorragend darin war.
Doch Jace enttäuschte sie umgehend. »Wir versuchen, ins Hotel hineinzukommen. Und wir dachten, dass sich unter dem Container eine Kellertür befinden könnte.«
Ungläubig riss der Junge die Augen auf. »La puta madre – warum wollt ihr da unbedingt rein?«
Jace zuckte die Achseln. »Bloß aus Jux. Wir wollten nur ein wenig Spaß.«
»Ihr kapiert’s nicht. Hier spukt es. Das Hotel ist verflucht, bringt Unglück.« Er schüttelte heftig den Kopf und sagte irgendetwas auf Spanisch, von dem Clary annahm, dass es um die Dummheit verwöhnter weißer Jugendlicher im Allgemeinen und Jace’ und ihre Blödheit im Besonderen ging. »Los, kommt mit, ich bring euch zur U-Bahn.«
»Wir wissen, wo die Haltestelle ist«, erwiderte Jace.
Der Junge lachte leise und kehlig. »Claro. Natürlich wisst ihr das, aber wenn ich euch begleite, wird euch niemand belästigen. Ihr wollt doch keinen Ärger, oder?«
»Kommt darauf an«, sagte Jace und verlagerte sein Gewicht, sodass seine Jacke leicht aufsprang und die schimmernden Waffen an seinem Gürtel zu sehen waren. »Wie viel zahlen sie dir dafür, dass du die Leute vom Hotel fernhältst?«
Der Junge warf einen kurzen Blick über seine Schulter. Clarys Nerven waren zum Reißen gespannt, während sie sich vorstellte, wie sich die schmale Gasse mit weiteren Schattengestalten füllte – mit bleichen Gesichtern, roten Lippen und plötzlich aufblitzenden Eckzähnen. Als der Junge sich Jace wieder zuwandte, wirkte sein Mund wie eine dünne Linie. »Wie viel zahlt wer mir, chico?«
»Die Vampire. Wie viel zahlen sie dir? Oder gibt es irgendeinen anderen Grund? Haben sie dir erzählt, sie würden dich zu einem der ihren machen? Dir Unsterblichkeit versprochen, nie mehr Schmerzen, keine Krankheiten, ewiges Leben? Glaub mir, das ist es nicht wert. Das ewige Leben zieht sich verdammt lange hin, wenn man die Sonne nie wieder zu sehen bekommt, chico«, sagte Jace.
Der Junge musterte ihn mit ausdrucksloser Miene. »Ich heiße Raphael. Nicht chico.«
»Aber du weißt, wovon wir reden. Du weißt von den Vampiren, oder?«, fragte Clary.
Raphael drehte den Kopf zur Seite und spuckte auf den Boden. Als er Jace und Clary wieder ansah, funkelte in seinen Augen blanker Hass. »Los vampiros, si, die blutrünstigen Bestien. Lange bevor das Hotel verrammelt wurde, gab es schon diese Gerüchte, von dem lauten Gelächter mitten in der Nacht, den kleinen Tieren, die ständig verschwanden, den Geräuschen …« Er unterbrach sich und schüttelte den Kopf. »Das ganze Viertel weiß, dass man sich von diesem Haus fernhalten muss, aber was soll man machen? Die Polizei rufen und sagen, dass man ein Problem mit Vampiren hat?«
»Hast du jemals welche gesehen?«, fragte Jace. »Oder kennst du jemanden, der sie gesehen hat?«
Raphael zögerte einen Moment. »Da gab es mal ein paar Jungs«, setzte er langsam an, »eine Gruppe von Freunden. Die hielten es für eine gute Idee, in das Hotel einzudringen und die Monster darin zu töten. Die Jungen haben Gewehre und Messer mitgenommen, allesamt von einem Priester gesegnet. Danach hat man sie nicht mehr gesehen. Meine Tante hat später ihre Kleidung gefunden, draußen vor dem Haus.«
»Vor dem Haus deiner Tante?«, hakte Jace nach.
»Si. Einer der Jungen war mein Bruder«, erwiderte Raphael tonlos. »Und jetzt wisst ihr auch, warum ich hier manchmal mitten in der Nacht vorbeikomme, auf dem Weg von meiner Tante nach Hause, und warum ich euch vor dem Hotel gewarnt habe. Wenn ihr da reingeht, werdet ihr nicht mehr rauskommen.«
»Mein Freund ist in dem Gebäude«, sagte Clary. »Wir sind hier, um ihn da rauszuholen.«
»Verstehe«, meinte Raphael, »dann kann ich euch wohl nicht davon abhalten …«
»Nein«, erwiderte Jace. »Aber mach dir keine Sorgen. Was deinen Freunden widerfahren ist, wird uns nicht passieren.« Er zog eines der Engelsschwerter aus dem Gürtel und hielt es hoch; das schwache Licht, das die Klinge ausstrahlte, erhellte die Vertiefungen unter seinen Wangenknochen und verbarg seine Augen im Dunkel. »Ich habe schon eine ganze Menge Vampire getötet. Auch wenn ihre Herzen nicht schlagen, können sie dennoch sterben.«
Raphael holte scharf Luft und murmelte etwas auf Spanisch, doch so leise und schnell, dass Clary ihn nicht verstehen konnte. Er kam ein paar Schritte näher und stürzte in seiner Eile fast über einen Haufen zerknitterter Kunststoffverpackungen. »Ich weiß, wer ihr seid – ich hab schon mal von Leuten wie euch gehört. Der alte padre von St. Cecilia hat’s mir erzählt. Aber ich dachte, das wäre nur ein Mythos.«
»Alle Mythen sind wahr«, sagte Clary, allerdings so leise, dass er sie offenbar nicht gehört hatte. Mit zusammengepresstem Mund starrte er Jace an, die Hände zu Fäusten geballt.
»Ich will euch begleiten«, stieß er hervor.
Jace schüttelte den Kopf. »Nein. Auf keinen Fall.«
»Ich könnte euch zeigen, wie man in das Hotel hineinkommt«, warf Raphael ein.
Jace zögerte; die Versuchung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Wir können dich trotzdem nicht mitnehmen.«
»Okay, okay.« Raphael marschierte an ihm vorbei und trat einen Haufen Müll beiseite, der vor einer Wand lag. Darunter kam ein Gitterrost zum Vorschein – dünne Metallstäbe, mit einer bräunlich roten Rostschicht überzogen. Er kniete sich auf den Boden, umfasste die Stäbe und zog das Gitter beiseite. »Auf diesem Weg sind mein Bruder und seine Freunde reingekommen. Der Schacht führt in den Keller, glaube ich.« Er blickte kurz auf, als Jace und Clary sich neben ihn hockten. Clary hielt einen Moment die Luft an. Der Müllgestank war überwältigend und selbst in der Dunkelheit konnte sie die hin und her huschenden Kakerlaken erkennen, die eilig unter dem nächsten Müllhaufen Schutz suchten.
Ein schmales Lächeln hatte sich in Jace’ Mundwinkel geschlichen. Das Elbenlicht des Engelsschwerts, das er noch immer in der Hand hielt, verlieh seinem Gesicht ein gespenstisches Äußeres; es erinnerte Clary an Simon, der sich eine Taschenlampe unter das Kinn gehalten und ihr Horrorgeschichten erzählt hatte, als sie beide elf gewesen waren. »Danke«, wandte Jace sich an Raphael. »Wir finden den Weg alleine.«
Das Gesicht des Hispanoamerikaners schimmerte bleich. »Geht da rein und tut das für euren Freund, was ich für meinen Bruder nicht tun konnte.«
Jace steckte die Seraphklinge wieder in den Gürtel und warf Clary einen Blick zu. »Mir nach«, sagte er und ließ sich in einer geschmeidigen Bewegung, die Füße zuerst, in den Schacht gleiten. Clary hielt den Atem an und wartete auf einen Schrei – vielleicht vor Schmerz oder aus Verblüffung. Doch sie hörte nur ein leises, dumpfes Geräusch, als Jace mit den Füßen auf festem Boden landete. »Alles in Ordnung«, rief er mit gedämpfter Stimme nach oben. »Spring runter. Ich fang dich auf.«
Clary sah kurz zu Raphael hinüber. »Danke für deine Hilfe.«
Der Junge schwieg und hielt ihr nur die Hand hin. Clary ergriff sie und stützte sich daran ab, während sie sich in die richtige Position über dem Schacht brachte. Seine Finger waren kalt und er ließ sie los, als sie sich in das Loch im Boden gleiten ließ. Ihr Fall dauerte nur eine Sekunde und Jace fing sie auf, wobei ihr Kleid nach oben rutschte und seine Hände ihre nackten Beine streiften. Fast unmittelbar danach gab er sie wieder frei. »Alles in Ordnung?«
Rasch zerrte sie ihr Kleid herunter, froh, dass er sie in der Dunkelheit nicht sehen konnte. »Mir geht’s gut.«
Jace zog das schwach leuchtende Engelsschwert aus dem Gürtel und hielt es hoch, sodass der langsam stärker werdende Lichtschein ihre Umgebung erhellte. Sie befanden sich in einem niedrigen Raum, dessen Betonboden an mehreren Stellen geborsten war. In den Rissen hatte sich Dreck gesammelt und Clary konnte erkennen, dass schwarze Ranken die Wände hinaufkrochen. Ein Durchgang ohne Tür führte in den nächsten Raum.
Ein lautes Plumpsgeräusch ließ sie erstarren. Als sie sich umdrehte, entdeckte sie Raphael, der wenige Schritte hinter ihr gelandet war. Er war ihnen durch den Schacht gefolgt, richtete sich nun auf und grinste irre.
Jace funkelte ihn wütend an. »Ich hab dir doch gesagt …«
»Ich weiß.« Raphael winkte herablassend ab. »Und was willst du dagegen tun? Ich kann weder den Weg zurücknehmen, auf dem wir reingekommen sind, noch kannst du mich hier zurücklassen, wo mich die Untoten finden, oder?«
»Warum eigentlich nicht?«, erwiderte Jace. Er wirkte müde, stellte Clary überrascht fest. Die Schatten unter seinen Augen waren tiefer und dunkler als sonst.
Raphael zeigte in eine Richtung. »Wir müssen da lang, zur Treppe. Die Vampire sind in den oberen Geschossen des Hotels. Ihr werdet schon sehen.« Er schob sich an Jace vorbei durch den schmalen Durchgang. Jace sah ihm nach und schüttelte den Kopf.
»Allmählich entwickle ich einen richtigen Hass auf Irdische«, sagte er.
Das Kellergeschoss des Hotels bestand aus einem Labyrinth von unübersichtlichen Fluren, die in leere Vorratsräume führten, in eine verlassene Waschküche – wo sich stockfleckige Handtücher in verrotteten Weidenkörben stapelten – und sogar in eine gespenstische Küche, deren Edelstahlanrichten sich in der Dunkelheit verloren. Die meisten Treppen, die in die oberen Geschosse führten, waren verschwunden – nicht verfallen und zusammengebrochen, sondern bewusst zertrümmert und zu Brennholzstapeln an den Mauern aufgeschichtet. Kleine Fetzen einst kostbarer Perserteppiche hingen wie pelziger Schimmelbelag an den Holzresten.
Die zerstörten Stufen verblüfften Clary. Was haben Vampire gegen Treppen?, fragte sie sich.
Nach einigem Suchen fanden sie eine noch unversehrte Stiege, tief versteckt hinter der Waschküche. Die Dienstmädchen mussten sie in den Zeiten vor der Erfindung des Aufzugs zum Wäschetransport benutzt haben. Eine dicke Staubschicht lag auf den Stufen, wie eine Lage grauen Pulverschnees, die Clary zum Husten reizte.
»Schhh«, zischte Raphael. »Sie könnten dich hören. Wir sind jetzt in der Nähe ihrer Schlafquartiere.«
»Und woher willst du das wissen?«, flüsterte sie zurück. Schließlich sollte er gar nicht hier sein. Woher nahm er das Recht, ihr eine Lektion über Lärmvermeidung erteilen zu wollen?
»Ich kann es fühlen.« In einem seiner Augenwinkel zuckte ein Muskel und sie erkannte, dass er genauso viel Angst hatte wie sie. »Du etwa nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie spürte gar nichts, abgesehen von dieser seltsamen Kälte; nach der drückenden Schwüle draußen in der Gasse spürte sie die Kühle im Inneren des Hotels umso deutlicher.
Am oberen Ende der Treppe befand sich ein Absatz mit einer Tür, auf der, in kaum noch lesbaren Buchstaben, das Wort »Foyer« geschrieben stand. Die Tür knarrte in den rostigen Angeln, als Jace sie aufdrückte. Clary machte sich auf das Schlimmste gefasst …
Doch der Raum dahinter war leer. Sie standen in einer großen Eingangshalle, deren vermoderter Teppichboden an manchen Stellen weggerissen war und den Blick auf die darunter liegenden faulenden Holzdielen freigab. Eine große geschwungene Treppe mit vergoldetem Geländer und luxuriösen Teppichen musste früher den Mittelpunkt der Halle gebildet haben. Doch von der einstigen Pracht waren nur noch ein paar Stufen übrig, die sich rasch in der Dunkelheit verloren. Der Treppenrest endete direkt über ihren Köpfen, mitten in der Luft. Der Anblick war so surreal wie eines der Gemälde von Magritte, die Jocelyn so liebte. Dieses hier würde den Titel Treppe ins Nichts tragen, dachte Clary.
»Was haben Vampire gegen Treppen?«, fragte sie. Ihre Stimme klang so trocken wie der Staub, der jeden einzelnen Gegenstand bedeckte.
»Nichts«, sagte Jace. »Aber sie sind nicht auf sie angewiesen.«
»Damit zeigen sie, dass dieser Ort ihnen gehört.« Raphaels Augen leuchteten. Er wirkte beinahe begeistert. Jace warf ihm einen Seitenblick zu.
»Hast du jemals einen Vampir gesehen, Raphael?«, fragte er.
Raphael schaute ihn fast verträumt an. »Ich weiß, wie sie aussehen: Sie sind bleicher und dünner als Menschen, aber sehr stark. Sie bewegen sich anmutig wie Katzen und springen mit einer Blitzartigkeit, die Schlangen zu eigen ist. Sie sind schön und schrecklich. Genau wie dieses Hotel.«
»Du findest dieses Gebäude schön?«, fragte Clary überrascht.
»Man kann sehen, dass es mal schön war, vor vielen Jahren. Wie eine alte Frau, die in ihrer Jugend eine Schönheit war, aber jetzt durch das Alter gezeichnet ist. Du musst dir vorstellen, wie diese Treppe früher einmal ausgesehen hat, mit brennenden Gaslampen entlang der Geländer, wie Glühwürmchen in der Dunkelheit, und vielen, vielen Leuten. Nicht so, wie sie jetzt aussieht, so …« Er stockte, suchte nach dem richtigen Wort.
»Verstümmelt?«, meinte Jace trocken.
Raphael wirkte bestürzt, als hätte Jace ihn aus einem Traum gerissen. Er lachte zittrig und drehte sich zur Seite.
»Wo sind sie denn nun?«, wandte Clary sich an Jace. »Die Vampire, meine ich.«
»Vermutlich irgendwo da oben. Sie bevorzugen einen Schlafplatz unter dem Dach, wie Fledermäuse. Und es dauert nicht mehr lange bis Sonnenaufgang.«
Wie Marionetten, deren Köpfe an Fäden befestigt sind, sahen Clary und Raphael gleichzeitig die Treppe hinauf. Doch über ihnen war nichts zu sehen außer der Deckenmalerei, die an manchen Stellen abgeblättert und schwarz war, als hätte sie bei einem Brand Schaden genommen. Links von ihnen führte ein Torbogen tiefer in die Dunkelheit; die Säulen auf beiden Seiten waren mit Blüten- und Blattmotiven verziert. Als Raphael einen Blick über seine Schulter warf, blitzte am unteren Ende seiner Kehle eine weiße Narbe auf und hob sich deutlich von seiner braunen Haut ab. Clary fragte sich, woher er sie wohl hatte.
»Ich denke, wir sollten zum Dienstbotenaufgang zurückkehren«, flüsterte sie. »Ich fühle mich hier wie auf dem Präsentierteller.«
Jace nickte. »Dir ist schon klar, dass du von der Stiege aus nach Simon rufen musst, in der Hoffnung, dass er dich hört?«
Sie fragte sich, ob sich ihre Furcht wohl auf ihrem Gesicht spiegelte. »Ich …«
In dem Moment erklang ein markerschütternder Schrei. Clary wirbelte herum.
Raphael. Er war verschwunden. Keinerlei Abdrücke oder Spuren im Staub deuteten darauf hin, in welche Richtung er gegangen oder verschleppt worden war. Instinktiv streckte sie eine Hand nach Jace aus, doch der hatte sich bereits in Bewegung gesetzt, rannte in Richtung des gähnenden Torbogens am anderen Ende der Halle. Sie konnte ihn nicht mehr erkennen, sah nur noch das hin und her tanzende Elbenlicht seines Schwerts, dem sie folgte – wie ein Reisender, der sich von trügerischen Irrlichtern durch ein Moor leiten lässt.
Hinter dem Torbogen lag ein riesiger Raum, der früher einmal der Ballsaal gewesen sein musste. Der ursprünglich makellos weiße Marmorboden war derart beschädigt und gesprungen, dass er an ein Meer von Eisschollen erinnerte. Entlang der Wände erstreckten sich geschwungene Balkone, deren Geländer von Rost überzogen waren. Dazwischen hingen riesige Spiegel in Goldrahmen, jeweils gekrönt von einem vergoldeten Amorhaupt. Spinnweben schwebten in der klammen Luft wie altmodische Brautschleier.
Raphael stand mit herabhängenden Armen in der Mitte des Saals. Clary rannte zu ihm, während Jace ihr etwas bedächtiger folgte. »Alles in Ordnung?«, fragte sie atemlos.
Der Junge nickte langsam. »Ich dachte, ich hätte eine Bewegung gesehen. Aber ich hab mich wohl getäuscht.«
»Wir haben beschlossen, zur Dienstbotentreppe zurückzukehren«, sagte Jace. »Hier im Erdgeschoss ist nichts zu finden.«
Raphael nickte. »Gute Idee.«
Er lief in Richtung Tür, ohne zu überprüfen, ob sie ihm auch folgten. Doch er kam nur ein paar Schritte weit, bis Jace ihn rief: »Raphael?«
Der Junge drehte sich um, mit großen, neugierigen Augen, als Jace auch schon sein Messer warf.
Raphaels Reflexe waren schnell, aber nicht schnell genug. Die Klinge traf ihn mit voller Wucht, brachte ihn ins Taumeln. Seine Beine sackten unter ihm weg und er stürzte schwer auf den gesprungenen Marmorboden. Im schwachen Schein des Elbenlichts schimmerte sein Blut schwarz.
»Jace«, flüsterte Clary ungläubig und blieb wie erstarrt stehen. Er hatte zwar gesagt, er hasste die Irdischen, aber …
Als sie zu Raphael laufen wollte, stieß Jace sie brutal aus dem Weg. Er stürzte sich auf den Jungen und griff nach dem Messer, das aus Raphaels Brust ragte.
Doch Raphael war schneller. Er umfasste das Messer und kreischte laut auf, als seine Hand das kreuzförmige Heft berührte. Die Waffe fiel klirrend zu Boden; die Klinge war blutverschmiert. Mit einer Hand packte Jace den Jungen am Hemdkragen, in der anderen hielt er Sanvi. Das Schwert verströmte ein so strahlendes Licht, dass Clary plötzlich Farben erkennen konnte: das Königsblau der abblätternden Tapete, die Goldtupfen im Marmorboden, der rote Fleck, der sich auf Raphaels Brust ausbreitete.
Doch Raphael lachte laut auf. »Du hast danebengetroffen«, höhnte er und grinste zum ersten Mal, wobei seine spitzen weißen Schneidezähne zum Vorschein kamen. »Du hast mein Herz verfehlt.«
Jace verstärkte seinen Griff. »Du hast dich in letzter Sekunde bewegt«, sagte er. »Das war sehr unhöflich.«
Raphael runzelte die Stirn und spuckte rotes Blut. Clary wich zurück, starrte ihn mit wachsendem Entsetzen an.
»Wann hast du es herausgefunden?«, fragte er gebieterisch. Sein Akzent war verschwunden; er sprach präziser und abgehackter.
»Ich hatte bereits in der Gasse eine Ahnung«, sagte Jace, »dachte aber, du würdest uns ins Hotel führen und dich dann auf uns stürzen. Denn nachdem wir das Grundstück widerrechtlich betreten hatten, befanden wir uns außerhalb des Schutzbereichs des Bündnisses und waren damit Freiwild. Als du uns jedoch nicht attackiert hast, dachte ich, ich hätte mich geirrt. Doch dann sah ich diese Narbe an deiner Kehle.« Er rückte ein wenig ab, hielt die Klinge aber nach wie vor an Raphaels Kehle. »Als ich deine Kette zum ersten Mal sah, dachte ich, sie sieht aus wie eine dieser Ketten, an die man ein Kruzifix hängt. Und genau das hast du auch gemacht, oder? Wenn du deine Familie besucht hast. Was bedeutet schon ein kleines Brandmal, wo die Haut deiner Art so rasend schnell verheilt?«
Raphael lachte. »Das war alles? Meine Narbe?«
»Als du aus der Eingangshalle gelaufen bist, hast du keinerlei Abdrücke im Staub hinterlassen. Da wusste ich Bescheid.«
»Es war gar nicht dein Bruder, der auf der Suche nach Monstern hier eingedrungen und nicht mehr zurückgekehrt ist, oder?«, fragte Clary, als ihr die Wahrheit dämmerte. »Das warst du.«
»Ihr seid beide sehr clever«, erwiderte Raphael, »aber nicht clever genug. Seht mal nach oben«, fügte er hinzu und zeigte mit der Hand zur Decke.
Jace stieß die Hand fort, ohne den Blick von Raphael zu wenden. »Clary. Was siehst du da oben?«
Langsam hob sie den Kopf. Furcht erfasste ihren Magen wie eine eiserne Faust, ballte ihn zusammen.
Du musst dir vorstellen, wie diese Treppe früher einmal ausgesehen hat, mit brennenden Gaslampen entlang der Geländer, wie Glühwürmchen in der Dunkelheit, und vielen, vielen Leuten. Sämtliche Balkone waren gefüllt mit Gestalten, Reihe an Reihe – Vampire mit totenbleichen Gesichtern und roten, klaffenden Mündern, die auf sie herabstarrten.
Jace blickte Raphael unverwandt an. »Du hast sie gerufen. Stimmt’s?«
Raphael grinste noch immer. Das Blut strömte nicht länger aus seiner Wunde. »Spielt das eine Rolle? Es sind viel zu viele, selbst für dich, Wayland.«
Jace schwieg. Obwohl er sich nicht bewegt hatte, ging sein Atem stoßweise und Clary konnte fast spüren, wie sehr es ihn danach verlangte, den Vampir zu töten, ihm das Messer ins Herz zu bohren und ihm ein für alle Mal das dreckige Grinsen aus dem Gesicht zu wischen. »Jace«, sagte sie warnend. »Töte ihn nicht.«
»Warum nicht?«
»Vielleicht können wir ihn als Geisel verwenden.« Jace’ Augen weiteten sich ungläubig. »Als Geisel?«
Clary konnte sie sehen. Es wurden immer mehr; sie füllten den Torbogen, bewegten sich so lautlos wie die Brüder in der Stadt der Gebeine. Doch die Stillen Brüder hatten weder eine so bleiche, farblose Haut noch Hände, die sich an den Fingerspitzen zu Klauen krümmten …
Clary fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Ich weiß, was ich tue. Hilf ihm auf die Beine, Jace.«
Jace warf ihr einen Blick zu und zuckte dann die Achseln. »Von mir aus.«
»Das ist nicht lustig«, fauchte Raphael.
»Deswegen lacht ja auch keiner.« Jace richtete sich auf, zerrte Raphael hoch und drückte ihm die Messerspitze zwischen die Schulterblätter. »Ich kann dein Herz auch genauso gut von hinten durchbohren«, sagte er. »Wenn ich du wäre, würde ich keine falsche Bewegung machen.«
Clary drehte sich von ihnen weg, um sich den heranschleichenden düsteren Gestalten zuzuwenden. Gebieterisch streckte sie eine Hand aus. »Keinen Schritt weiter«, rief sie. »Oder er wird Raphael die Klinge ins Herz rammen.«
Ein Murmeln ging durch die Menge, das sowohl ein Flüstern als auch Gelächter hätte sein können. »Stopp«, sagte Clary erneut. Und dieses Mal unternahm Jace etwas – sie konnte nicht sehen, was –, das Raphael vor Schmerz aufschreien ließ.
Einer der Vampire hielt eine Hand hoch, um seine Gefährten zurückzuhalten. Clary erkannte ihn wieder: Es war der schmächtige Junge mit den blonden Haarwurzeln und dem Ohrring, den sie auf Magnus’ Party gesehen hatte. »Sie meint es ernst«, sagte er. »Das sind Schattenjäger.«
Ein weiblicher Vampir drängte sich durch die Menge und stellte sich neben ihn, ein hübsches asiatisches Mädchen mit blauen Haaren und einem Silberfolienrock. Clary fragte sich, ob es wohl auch hässliche Vampire gab oder dicke. Vielleicht machten sie ja keine hässlichen Leute zu Vampiren. Oder vielleicht wollten hässliche Leute auch nicht ewig leben. »Schattenjäger, die unbefugt in unser Territorium eindringen«, sagte das asiatische Mädchen. »Sie befinden sich außerhalb des Schutzes des Bündnisses. Ich schlage vor, wir töten sie – sie haben schließlich auch genug von uns getötet.«
»Wer von euch ist der Gebieter dieses Ortes?«, fragte Jace mit ausdrucksloser Stimme. »Er soll vortreten.«
Das Mädchen fletschte die spitzen Zähne. »Spar dir dein Rats-Getue, Schattenjäger. Ihr habt durch euer Eindringen euer ach so kostbares Bündnis gebrochen. Das Gesetz wird euch keinen Schutz bieten.«
»Das reicht, Lily«, sagte der blonde Junge scharf. »Unsere Gebieterin ist nicht hier. Sie ist in Idris.«
»Irgendjemand muss euch doch stellvertretend anführen«, bemerkte Jace.
Stille erfüllte den Ballsaal. Die Vampire auf den Baikonen hingen über der Brüstung, um zu verstehen, was unten gesprochen wurde. Schließlich ergriff der blonde Junge erneut das Wort: »Raphael ist unser Anführer.«
Das blauhaarige Mädchen, Lily, stieß ein missbilligendes Zischen aus. »Jacob …«
»Ich schlage einen Handel vor«, warf Clary rasch ein, um Lilys Tirade und Jacobs Antwort zuvorzukommen. »Inzwischen dürfte euch ja bekannt sein, dass ihr von der Party heute Abend zu viele Leute mit nach Hause genommen habt. Einer davon ist mein Freund Simon.«
Jacob hob fragend eine Augenbraue. »Du bist mit einem Vampir befreundet?«
»Er ist kein Vampir. Und auch kein Schattenjäger«, fügte sie hinzu, als sie sah, wie sich Lilys blasse Augen zu Schlitzen verengten. »Einfach nur ein gewöhnlicher Menschenjunge.«
»Wir haben keine Menschen von Magnus’ Party mitgenommen. Das wäre ein Verstoß gegen die Gesetze des Bündnisses.«
»Er ist in eine Ratte verwandelt worden. Eine kleine braune Ratte«, sagte Clary. »Jemand hat ihn vielleicht für ein Haustier gehalten oder …«
Sie verstummte. Die Vampire starrten sie an, als wäre sie geisteskrank. Kalte Verzweiflung kroch ihr das Rückgrat hinauf.
»Nur dass ich das richtig verstehe«, sagte Lily. »Du bietest uns Raphaels Leben im Tausch gegen das einer Ratte?«
Clary sah hilflos zu Jace hinüber, der jedoch die Achseln zuckte und ihr mit einem Blick zu verstehen gab: Das war deine Idee. Lass dir was einfallen.
»Ja«, wandte sie sich wieder an die Vampire. »Das ist der Deal, den wir euch anbieten.«
Die weißgesichtigen Gestalten starrten sie fast ausdruckslos an. In einem anderen Zusammenhang hätte Clary ihren Gesichtsausdruck als Verblüffung gedeutet.
Sie konnte spüren, dass Jace direkt hinter ihr stand, konnte seinen keuchenden Atem hören. Sie fragte sich, ob er sich das Hirn zermarterte, warum er sich von ihr hatte überreden lassen, überhaupt hierherzukommen. Sie fragte sich, ob er sie wohl allmählich zu hassen begann.
»Meinst du diese Ratte?«
Clary blinzelte. Ein weiterer Vampir, ein dünner schwarzer Junge mit Dreadlocks, schob sich nach vorne. Er hielt etwas zwischen den Fingern, etwas Braunes, das sich nur schwach bewegte. »Simon?«, flüsterte sie.
Die Ratte fiepste und zappelte wie wild in den Händen des Jungen. Mit einem angewiderten Ausdruck in den Augen blickte er auf das gefangene Nagetier herab. »Mann, ich dachte, das wär Zeke. Ich hab mich schon gewundert, warum er sich so anstellt.« Er schüttelte den Kopf und seine Dreadlocks wippten auf und ab. »Von mir aus kann sie ihn haben. Der hat mich sowieso schon fünf Mal gebissen.«
Clary streckte eine Hand nach Simon aus; sie sehnte sich danach, ihn zu berühren. Doch Lily stellte sich dazwischen, ehe Clary den Jungen mit den Dreadlocks erreichte. »Moment«, meinte sie. »Woher wissen wir, dass ihr euch nicht einfach die Ratte schnappt und Raphael trotzdem tötet?«
»Wir geben euch unser Wort«, erwiderte Clary wie aus der Pistole geschossen, erstarrte aber im nächsten Moment und wartete darauf, dass die Vampire in Gelächter ausbrechen würden.
Doch niemand lachte. Raphael fluchte leise auf Spanisch. Und Lily warf Jace einen neugierigen Blick zu.
»Clary«, murmelte er. In seiner Stimme schwang eine Mischung aus Ärger und Verzweiflung mit. »Ist das wirklich …«
»Kein Eid, kein Deal«, sagte Lily sofort, da sie seine Unsicherheit spürte. »Elliott, halt die Ratte fest.«
Der Junge mit den Dreadlocks verstärkte seinen Griff um Simon, der seine Zähne tief in Elliotts Finger schlug. »Mann«, stieß der Junge missgelaunt hervor. »Das tut echt weh.«
Clary nutzte die Gelegenheit, Jace etwas zuzuflüstern: »Leiste doch einfach diesen Eid! Wo liegt das Problem?«
»Ein Schwur ist für uns nicht das Gleiche wie für euch Irdische«, fuhr er sie wütend an. »Ich werde an jeden Eid, den ich ablege, bis in alle Ewigkeit gebunden sein.«
»Na und? Was passiert, wenn du ihn brechen würdest?«
»Ich würde ihn aber nicht brechen. Genau darum geht es ja …«
»Lily hat recht«, mischte Jacob sich ein. »Ohne Eid läuft nichts. Schwöre, dass du Raphael nicht verletzen wirst. Selbst wenn wir euch die Ratte zurückgeben.«
»Ich werde Raphael nicht verletzen«, erwiderte Clary sofort. »Unter keinen Umständen.«
Lily schenkte Clary ein nachsichtiges Lächeln. »Wegen dir machen wir uns keine Sorgen.« Sie warf Jace einen scharfen Blick zu, der Raphael derart festhielt, dass seine Knöchel weiß hervorstachen. Ein dunkler Schweißfleck zeichnete sich auf seinem Hemd ab, genau zwischen den Schulterblättern.
»Also gut, ich werde schwören«, sagte er schließlich.
»Sprich den Eid«, entgegnete Lily prompt. »Schwöre beim Erzengel. Sag die ganze Formel.«
Jace schüttelte den Kopf. »Ihr zuerst.«
Seine Worte durchbrachen die Stille wie Steine, schickten eine Woge erregten Gemurmels durch die Menge. Jacob zog ein bedenkliches Gesicht, während Lilys Augen vor Wut funkelten. »Kommt nicht infrage, Schattenjäger.«
»Wir haben euren Anführer.« Die Spitze von Jace’ Messer grub sich tiefer in Raphaels Kehle. »Und was habt ihr? Eine Ratte.«
Simon, der in Elliotts Händen gefangen saß, quiekte empört. Am liebsten hätte Clary sich ihn einfach geschnappt, doch sie hielt sich zurück. »Jace …«
Uly sah Raphael an. »Gebieter?«
Raphael hatte den Kopf gesenkt; seine dunklen Locken verdeckten sein Gesicht. Blut verfärbte den Kragen seines Hemdes, rann als dünnes Rinnsal über seine nackte braune Haut. »Eine ziemlich wichtige Ratte«, sagte er, »sonst wärt ihr wohl kaum den ganzen Weg hierhergekommen. Ich denke, dass du, Schattenjäger, als Erster den Eid sprichst.«
Unwillkürlich verstärkte Jace seinen Griff um Raphael. Clary sah, wie sich seine Muskeln anspannten, sah seine weißen Fingerknöchel und die zusammengepressten Lippen, als er seinen Zorn zu unterdrücken versuchte. »Die Ratte ist ein Irdischer«, erwiderte er in scharfem Ton. »Wenn ihr ihn tötet, müsst ihr euch vor dem Gesetz verantworten …«
»Er befindet sich auf unserem Territorium. Eindringlinge werden nicht durch das Bündnis geschützt, das weißt du genau …«
»Ihr habt ihn doch hierher gebracht«, warf Clary ein. »Er ist nicht eingedrungen.«
»Das sind nur Feinheiten«, sagte Raphael und grinste trotz des Messers an seiner Kehle. »Außerdem: Glaubt ihr denn, wir hätten die Gerüchte nicht gehört, die Nachricht, die sich so rasch durch die Schattenwelt verbreitet hat wie Blut durch Adern fließt? Valentin ist zurück. Es wird bald kein Abkommen mehr geben und auch kein Bündnis mehr.«
Jace riss seinen Kopf hoch. »Wo hast du das gehört?«
Raphael runzelte verächtlich die Stirn. »Die ganze Schattenwelt weiß das. Erst vor einer Woche hat er einen Hexenmeister dafür bezahlt, eine Horde Ravener zu beschwören. Valentin hat seine Forsaken auf die Suche nach dem Kelch der Engel geschickt. Wenn er ihn findet, wird es keinen Scheinfrieden mehr zwischen uns geben, nur noch Krieg. Kein Gesetz wird mich daran hindern, dir mitten auf der Straße das Herz rauszureißen, Schattenjäger …«
Clary reichte es: Sie rammte Lily mit der Schulter aus dem Weg, stürzte sich auf Elliot und riss ihm Simon aus der Hand. Blitzschnell rannte Simon ihren Ärmel hinauf, krallte sich verzweifelt an dem Stoff fest.
»Ist ja gut«, flüsterte sie, »ist ja gut.« Obwohl sie genau wusste, dass das nicht stimmte. Sie drehte sich um, wollte wegrennen und spürte, wie Hände nach ihr griffen, um sie festzuhalten. Sie zappelte und wand sich, konnte sich aber nicht mit aller Gewalt aus Lilys Umklammerung befreien, deren knochige Spinnenfinger mit den schwarzen Nägeln ihre Jacke festhielten, weil sie fürchtete, Simon dabei zu verlieren, der sich mit Zähnen und Klauen an ihrem Kleid festkrallte. »Lass mich los!«, schrie Clary, trat nach der Vampirin und traf sie mit voller Wucht. Lily heulte vor Wut und Schmerz auf und schlug Clary derart heftig ins Gesicht, dass ihr Kopf zurückflog.
Clary taumelte, fing den Sturz aber gerade noch ab. Sie hörte Jace ihren Namen rufen und drehte sich zu ihm um. Er hatte Raphael losgelassen und rannte auf sie zu. Clary versuchte, zu ihm zu gelangen, wurde aber an den Schultern von Jacob festgehalten, der seine Finger tief in ihre Haut grub.
Clary schrie auf … doch ihr Schrei wurde von einem noch lauteren Kreischen übertönt, als Jace eine der Glasphiolen aus seiner Jacke riss und den Inhalt über sie schüttete. Sie spürte, wie ihr Gesicht von der kühlen Flüssigkeit benetzt wurde, und hörte Jacob gellend schreien, als das Wasser seine Haut berührte. Rauch stieg von seinen Fingern auf, er ließ Clary los und stieß ein hohes tierisches Heulen aus. Lily stürzte zu ihm, rief seinen Namen und in dem allgemeinen Chaos spürte Clary, wie jemand ihr Handgelenk umklammerte. Sie versuchte, sich loszureißen.
»Lass das, ich bin’s«, stieß Jace keuchend hervor.
»Oh!« Einen kurzen Moment entspannte sie sich, erstarrte dann aber erneut, als sie eine vertraute Gestalt drohend hinter Jace aufragen sah. Sie schrie, woraufhin Jace sich duckte und genau in dem Moment umdrehte, als Raphael ihn mit gefletschten Zähnen und raubtierhaft wie eine Katze ansprang. Seine Eckzähne erfassten Jace’ Hemd an der Schulter und rissen den Stoff in Streifen, während Jace ins Wanken geriet. Raphael krallte sich an ihm fest wie eine Spinne an ihrer Beute. Seine spitzen Zähne zielten auf Jace’ Kehle. Fieberhaft tastete Clary in ihrem Rucksack nach dem Dolch, den Jace ihr gegeben hatte …
Im nächsten Moment flitzte eine kleine braune Gestalt über den Boden, schoss zwischen Clarys Füßen hindurch und stürzte sich auf Raphael.
Dieser kreischte auf. Simon hing an seinem Unterarm und hatte seine scharfen Rattenzähne tief in das Fleisch des Vampirs geschlagen. Raphael ließ Jace los und schlug wie wild um sich; das Blut spritzte aus seinem Arm, während er eine Flut spanischer Flüche ausstieß.
Jace starrte mit offenem Mund auf das Bild, das sich ihm bot. »Heiliger Strohsack …«
Doch plötzlich richtete Raphael sich auf, riss die Ratte von seinem Arm und schleuderte sie auf den Marmorboden. Vor Schmerz quiekte Simon einmal kurz auf und zischte dann zu Clary zurück. Sie bückte sich, nahm ihn hoch und drückte ihn behutsam an ihre Brust, um ihm nicht wehzutun. Sie konnte sein winziges Herz wie wild zwischen ihren Fingern pochen fühlen. »Simon«, flüsterte sie. »Simon …«
»Dafür ist jetzt keine Zeit. Steck ihn gut weg.« Jace hatte ihren rechten Arm gepackt und hielt ihn eisern fest. In der anderen Hand schwang er die leuchtende Seraphklinge. »Komm mit.«
Er bugsierte sie an den Rand der Menge, die ängstlich zischend auseinanderwich, als der Schein des Schwertes auf sie fiel.
»Jetzt reicht’s!«, donnerte Raphaels Stimme. Sein Arm war blutüberströmt. Er bleckte die nadelspitzen Schneidezähne und warf der verwirrt hin und her wogenden Vampirmenge einen scharfen Blick zu. »Ergreift die Eindringlinge!«, brüllte er. »Tötet sie beide – und die Ratte dazu!«
Die Vampire näherten sich Jace und Clary; einige gingen auf sie zu, andere schlitterten und wieder andere stürzten sich von den Baikonen herab wie riesige schwarze Fledermäuse. Jace sprintete mit Clary in Richtung des Saalendes. Clary löste sich ein wenig aus seinem Griff und sah ihn von unten herauf an. »Sollten wir uns jetzt nicht mit dem Rücken zueinanderstellen oder so was in der Art?«
»Was? Warum?«
»Ich weiß auch nicht. In Filmen machen sie das immer so … in gefährlichen Situationen.«
Sie spürte, wie er bebte. Hatte er Angst? Nein, er lachte. »Du«, stieß er atemlos hervor, »du bist wirklich die größte …«
»Die größte was?«, fragte sie entrüstet. Sie befanden sich noch immer auf dem Rückzug, wobei sie den zerbrochenen Möbelstücken, die über den Boden verstreut lagen, und den Löchern im geborstenen Marmorboden sorgfältig auswichen. Jace hielt das leuchtende Engelsschwert hoch über den Kopf. Clary konnte sehen, dass sich die Vampire entlang des schimmernden Lichtscheins bewegten, und fragte sich, wie lange das Schwert sie noch zurückhalten würde.
»Nichts«, sagte Jace. »Das hier ist keine gefährliche Situation, okay? Diese Bezeichnung spare ich mir für Momente auf, in denen es richtig übel wird.«
»Richtig übel? Das hier ist also nicht richtig übel? Was verstehst du denn dann darunter? Einen Atomkrieg …?«
Doch Clary konnte den Satz nicht beenden. Stattdessen schrie sie entsetzt auf, als Lily dem Lichtschein trotzte und sich mit gefletschten Zähnen und böse knurrend auf Jace stürzte. Jace riss das zweite Schwert aus seinem Gürtel und schleuderte es durch die Luft. Lily heulte gellend auf, eine klaffende Wunde im Arm. Während sie taumelte, drängten die anderen Vampire nach. Es sind so viele, dachte Clary, so unendlich viele …
Sie tastete nach ihrem Gürtel; ihre Finger schlossen sich um das Heft des Dolches. Es fühlte sich kalt und fremd an. Sie wusste nicht, wie man ein Messer schwang. Sie hatte noch nie jemanden geschlagen, geschweige denn jemanden erstochen. Und an dem Tag, an dem sie im Sportunterricht lernen sollten, wie man Straßenräuber und Vergewaltiger mit Alltagsgegenständen wie Autoschlüsseln und Stiften abwehrte, hatte sie geschwänzt. Sie zog den Dolch hervor, hielt ihn mit zittriger Hand hoch …
Im nächsten Moment explodierten die Fenster in einem Regen aus Glassplittern. Clary hörte sich selbst aufschreien und sah, wie die Vampire, die sich ihr und Jace bis auf Armeslänge genähert hatten, erstaunt herumwirbelten. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich eine Mischung aus Überraschung und blankem Entsetzen. Durch die geborstenen Fenster stürzten Dutzende hagerer Gestalten, die sich auf ihren vier Pfoten geduckt an den Boden kauerten. Glasscherben glitzerten im Mondlicht in ihrem Fell. Ihre Augen funkelten wie blaue Flammen und aus ihren Kehlen drang ein tiefes Knurren, das dem Tosen eines Wasserfalls glich.
Wölfe.
»Also das«, sagte Jace, »das nenne ich richtig übel.«
Bedrohlich knurrend schlichen die Wölfe auf die Vampire zu, die mit entsetzten Gesichtern zurückwichen. Nur Raphael blieb reglos stehen. Er umklammerte seinen verletzten Arm; sein Hemd hing in blutigen Fetzen an ihm herab. »Los Niños de la Luna«, zischte er. Selbst Clary, die kaum ein Wort Spanisch verstand, begriff sofort, was er gesagt hatte. Die Kinder des Mondes – Werwölfe. »Ich dachte, sie hassten einander«, flüsterte sie Jace zu, »Vampire und Werwölfe.«
»Das tun sie auch. Normalerweise würden sie das Versteck des jeweils anderen niemals aufsuchen. Unter keinen Umständen. Das Bündnis verbietet das.« Jace klang fast empört. »Es muss irgendetwas passiert sein. Das ist schlecht. Sehr schlecht.«
»Wie kann das noch schlimmer sein als die Situation, in der wir uns bereits befinden?«
»Das bedeutet, dass wir mitten in einem Krieg stecken«, erwiderte er.
»Wie könnt ihr es wagen, in unser Territorium einzudringen?«, brüllte Raphael mit puterrotem Gesicht.
Der größte der Wölfe, ein grau meliertes Monster mit Zähnen wie ein Hai, stieß ein hechelndes, kehliges Lachen aus. Während er einen Schritt näher kam, veränderte er seine Gestalt in einer fließenden, wogenden Bewegung zu einem riesigen, muskelbepackten Mann mit langen, strähnigen grauen Haaren. Er trug Jeans und eine schwere Lederjacke und sein hageres, wettergegerbtes Gesicht zeigte auch jetzt noch wölfische Züge. »Wir sind nicht hier, um ein Blutbad anzurichten«, sagte er. »Wir wollen das Mädchen.«
Raphael schaute wütend und überrascht zugleich. »Wen?«
»Das Menschenmädchen.« Der Werwolf deutete mit ausgestrecktem Arm auf Clary.
Clary war zu entsetzt, um auch nur einen Muskel zu rühren. Simon, der sich in ihren Händen hin und her gewunden hatte, verharrte reglos. Hinter ihr murmelte Jace etwas, das regelrecht blasphemisch klang. »Du hast mir gar nicht erzählt, dass du irgendwelche Werwölfe kennst«, fügte er hinzu. Sie hörte einen Hauch von Überraschung in seiner ansonsten tonlosen Stimme – anscheinend war er genauso verblüfft wie sie selbst.
»Tu ich auch nicht«, erwiderte sie.
»Das ist richtig übel«, murmelte Jace.
»Das hast du vorhin auch schon gesagt.«
»Es schien eine Wiederholung wert zu sein.«
»Nein, ist es nicht.« Clary wich zurück, bis sie dicht an ihn gedrängt stand. »Jace. Die starren mich alle an.«
Sämtliche Blicke waren auf sie gerichtet; die meisten Vampire schauten überrascht. Raphael musterte Clary mit zusammengekniffenen Augen. Dann wandte er sich wieder an den Werwolf. »Ihr könnt sie nicht haben«, sagte er. »Sie ist in unser Territorium eingedrungen, deswegen gehört sie uns.«
Der Werwolf lachte. »Freut mich, dass du das so siehst«, erwiderte er und machte einen riesigen Satz in Raphaels Richtung. Mitten im Sprung durchlief eine Welle seinen Körper und er wurde wieder ein Wolf, mit borstigem Fell und weit aufgerissenem Maul, bereit zuzuschlagen. Er schnappte nach Raphaels Kehle und die beiden gingen als kämpfendes, knurrendes Knäuel aus Zähnen und Klauen zu Boden. Im nächsten Moment stürzten sich die anderen Vampire mit wütendem Heulen auf die Werwölfe, die sie mit gefletschten Lefzen in der Mitte des Ballsaals empfingen.
Der Lärm war infernalisch – wenn es zu Boschs Darstellung der Hölle einen Soundtrack gegeben hätte, hätte er so geklungen, dachte Clary.
Jace pfiff leise durch die Zähne. »Raphael hat heute aber einen echt schlechten Tag erwischt.«
»Na und?« Clary empfand kein Mitleid mit dem Vampir. »Aber was machen wir jetzt?«
Jace blickte sich um. Sie waren von der kämpfenden Menge, die sich am Boden wälzte, in den hinteren Bereich des Ballsaals gedrängt worden, und obwohl man ihnen im Moment keine Beachtung schenkte, würde es nicht mehr lange dauern, bis sie wieder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stünden. Doch ehe Clary diesen Gedanken aussprechen konnte, befreite Simon sich plötzlich gewaltsam aus ihrer Umklammerung und sprang zu Boden. »Simon!«, schrie sie, während er in eine Ecke flitzte, wo schwere, stockfleckige Samtvorhänge von der Decke hingen. »Simon, bleib hier!«
Jace musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. »Was hat er vor …« Im nächsten Moment packte er Clarys Arm, um sie zurückzureißen. »Clary, hör auf, der Ratte hinterherzurennen. Sie versucht zu fliehen. Das tun Ratten nun mal.«
Clary funkelte ihn wütend an. »Das ist keine Ratte. Das ist Simon. Und er hat Raphael für dich gebissen, du undankbarer Mistkerl.« Sie riss sich los und rannte hinter Simon her, der sich zwischen die Falten des Vorhangs zwängte, aufgeregt fiepte und mit den Pfoten daran herumzerrte. Endlich verstand sie, was er ihr zu sagen versuchte. Mit einem Ruck riss sie die schimmligen Vorhänge, die sich schleimig anfühlten, beiseite. Dahinter befand sich …
»Eine Tür«, keuchte Clary. »Simon, du kleines Genie.« Simon quiekte bescheiden, als sie ihn hochhob und vorsichtig in ihre Jackentasche steckte. Jace stand bereits hinter ihr. »Eine Tür? Und, lässt sie sich öffnen?«
Sie griff nach dem Knauf, rüttelte daran und drehte sich niedergeschlagen zu Jace um. »Sie ist verschlossen. Oder klemmt.«
Jace warf sich gegen die Tür, die jedoch keinen Millimeter nachgab. Er fluchte. »Meine Schulter wird nie wieder so sein wie früher. Ich erwarte, dass du mich gesund pflegst.«
»Mach einfach die Tür auf, okay?«
Mit weit aufgerissenen Augen blickte er an ihr vorbei. »Clary …«
Sie drehte sich um. Ein mächtiger Wolf hatte sich aus dem Gewühl gelöst und hetzte mit flach angelegten Ohren auf sie zu. Er war grau-schwarz gestreift und eine rote Zunge hing aus seinem riesigen Maul. Clary schrie. Fluchend warf Jace sich erneut gegen die Tür, während Clary nach ihrem Gürtel tastete, den Dolch zu fassen bekam und ihn von sich schleuderte.
Nie zuvor hatte sie ein Messer geworfen, nicht einmal im Traum daran gedacht. Wenn sie überhaupt mit Waffen in Berührung gekommen war, dann nur, um ein Bild von ihnen zu malen. Deshalb war sie mehr als überrascht, als der Dolch zitternd, aber zielgenau durch die Luft sauste und sich in die Flanke des Wolfs bohrte.
Das Tier jaulte auf und wurde langsamer, doch drei seiner Gefährten spurteten bereits in seine Richtung. Einer verharrte an der Seite des verletzten Wolfes, aber die beiden anderen stürmten weiter auf die Tür zu. Clary schrie erneut auf, während Jace sich ein drittes Mal mit voller Wucht gegen die Tür warf. Mit einem tosenden Krachen aus knirschenden Scharnieren und splitterndem Holz gab sie nach. »Aller guten Dinge sind drei«, keuchte er und hielt sich die Schulter. Er tauchte in das dunkle Loch, das hinter der geborstenen Tür lag, drehte sich um und streckte ungeduldig eine Hand aus. »Komm schon, Clary!«
Clary schnappte nach Luft, schlüpfte durch den Spalt und drückte die Tür genau in dem Moment hinter sich ins Schloss, als die beiden schweren Wolfskörper dagegenprallten. Sie fingerte nach dem Türriegel, doch er war verschwunden – weggeflogen, als Jace die Tür aufgebrochen hatte.
»Duck dich!«, rief er. Im nächsten Moment fegte seine Stele über ihren Kopf hinweg, schlitzte dunkle Linien in das morsche Holz der Tür. Sie drehte den Hals, um zu sehen, was er geschnitzt hatte: einen sichelförmigen Bogen, drei parallele Linien, einen Stern mit Strahlen: Schutz gegen Verfolger.
»Ich habe deinen Dolch verloren«, gestand sie. »Tut mir leid.«
»Kann passieren.« Jace steckte die Stele wieder in die Tasche. Clary konnte ein dumpfes Dröhnen hören, als die Wölfe sich wieder und wieder gegen die Tür warfen, doch sie hielt stand. »Die Rune wird sie eine Weile aufhalten, aber nicht für immer. Wir müssen uns beeilen.«
Clary blickte hoch. Sie befanden sich in einem nasskalten Durchgang; eine schmale Holzstiege führte hinauf in die Dunkelheit. Die Stufen und das Geländer waren mit Staub bedeckt. Simon reckte seine Nase aus Clarys Jackentasche hervor; seine schwarzen Knopfaugen funkelten im Dämmerlicht. »Okay«, sagte Clary und nickte Jace zu. »Du gehst als Erster.«
Jace sah einen Moment so aus, als wollte er grinsen, war dann aber doch zu müde dazu. »Du weißt, wie sehr ich es genieße, Erster zu sein. Aber wir müssen langsam machen – ich bin mir nicht sicher, ob die Treppe unser Gewicht aushält.«
Auch Clary hatte ihre Zweifel. Die Stufen knacksten und ächzten bei jedem Schritt, wie eine alte Frau, die über ihre Wehwehchen klagt. Clary griff nach dem Handlauf, um sich abzustützen, als ein Stück des morschen Geländers abbrach und ihr einen leisen Schrei entlockte. Jace lachte unterdrückt und nahm ihre Hand. »Hier. Halt dich an mir fest.«
Simon machte ein Geräusch, das für eine Ratte nach einem verächtlichen Schnauben klang, doch Jace schien es nicht zu bemerken. Vorsichtig bewegten sie sich die Stufen hinauf. Die Treppe verlief in einer engen Spirale nach oben und zog sich durch das gesamte Gebäude. Sie passierten Treppenabsatz für Treppenabsatz, sahen jedoch keine einzige Tür. Als sie das vierte Geschoss erreicht hatten, ließ eine gedämpfte Explosion die Treppe erbeben und eine Wolke aufgewirbelten Staubs stieg an ihnen vorbei.
»Sie haben die Tür aufgebrochen«, sagte Jace finster. »Verdammt – ich dachte, der Bann würde länger halten.«
»Sollten wir jetzt nicht doch laufen?«, fragte Clary eindringlich.
»Und ob!«, rief er und sie donnerten die Stufen hinauf, die unter ihrem Gewicht knirschten und knarrten. Mehrere Nägel schossen wie Geschützfeuer aus dem Holz. Sie hatten jetzt den fünften Treppenabsatz erreicht und Clary glaubte, das dumpfe Tapp-Tapp der Wolfstatzen auf den Stufen weit unter ihnen zu hören. Vielleicht bildete sie sich das aber auch nur ein. Sie wusste, dass sie noch keinen heißen Atem in ihrem Nacken spüren konnte, doch das Knurren und Heulen, das jetzt immer näher kam, war echt und grauenerregend.
Vor ihnen zeichnete sich der sechste Absatz ab und sie stürzten die letzten Stufen hinauf. Clary schnappte keuchend nach Luft – ihre Lungen brannten, doch sie brachte einen schwachen Jubelschrei heraus, als sie die Tür entdeckte. Sie war aus dickem Stahl, mit Nieten übersät und wurde von einem Ziegelstein offen gehalten. Clary hatte kaum Zeit, sich darüber zu wundern, weil Jace die Tür aufstieß, sie hindurchschob und die Tür hinter sich zuschlug. Sie hörten ein deutliches Klicken, als sie ins Schloss fiel und zuschnappte. Gott sei Dank, dachte sie.
Dann drehte sie sich um.
Über ihr erhob sich ein Himmel voller Sterne, die funkelten wie eine Handvoll zufällig verstreuter Diamanten. Doch das Firmament schimmerte nicht mehr nachtschwarz, sondern leuchtete in einem klaren Dunkelblau, der Farbe der anbrechenden Morgendämmerung. Sie standen auf einem kahlen Schieferdach, aus dem ein paar vereinzelte Schornsteine herausragten. An einem Ende erhob sich ein alter, verfallener Wasserturm, während am anderen ein Haufen lose gestapelter Holzbretter unter einer schweren Plane lag. »Das hier muss der Zugang der Vampire sein«, sagte Jace und blickte in Richtung Tür. Im fahlen Licht der Morgendämmerung konnte Clary sein Gesicht jetzt deutlicher erkennen; die Anspannung zeichnete sich in feinen Linien rund um seine Augen ab. Das Blut auf seiner Kleidung – hauptsächlich von Raphael – schimmerte schwarz. »Sie fliegen hier hinauf. Allerdings bringt uns dieses Wissen im Moment auch nicht weiter.«
»Vielleicht gibt es ja eine Feuerleiter«, meinte Clary. Vorsichtig tasteten sie sich bis zum Rand des Dachs vor. Clary hatte Angst vor großen Höhen und der gähnende Abgrund drehte ihr den Magen um – genau wie der Anblick der Feuerleiter, die als verdrehter, unbrauchbarer Metallknoten von der Seite der Hotelfassade herabbaumelte. »Oder auch nicht«, sagte sie und warf einen Blick auf die Tür, durch die sie gekommen waren. Sie befand sich an einem kastenartigen Aufbau in der Dachmitte und vibrierte; der Knauf wurde wild hin und her gedreht. Das Schloss würde nur noch wenige Minuten standhalten, wenn überhaupt …
Jace presste die Hände gegen die Augen. Die schwüle Luft drückte wie Blei auf ihre Schultern und ließ Clarys Nackenhaare kribbeln. Ein dünnes Schweißrinnsal lief Jace am Hals entlang in den Kragen. Plötzlich wünschte sich Clary, dass es regnete. Der Regen würde diese Hitzeglocke wie tausend Nadelstiche treffen und platzen lassen.
Jace murmelte vor sich hin. »Denk nach, Wayland, denk nach …«
In den Tiefen von Clarys Bewusstsein begann eine Form Gestalt anzunehmen. Eine Rune tanzte vor ihrem inneren Auge: zwei nach unten gerichtete Dreiecke, durch eine einzelne Linie miteinander verbunden – eine Rune wie ein Paar Flügel …
»Das ist es!«, rief Jace und ließ die Hände sinken. Einen verblüfften Moment lang fragte Clary sich, ob er ihre Gedanken gelesen hatte. Jace schaute sie mit fiebrigem Blick an; seine goldgefleckten Augen leuchteten. »Ich kann nicht glauben, dass ich nicht schon eher daraufgekommen bin.« Er stürzte in Richtung des Holzstapels am anderen Ende des Dachs, blieb dann aber abrupt stehen und sah sich nach ihr um. Clary stand noch immer wie angewurzelt an der Dachkante; ihr schwirrte der Kopf vor lauter glitzernder Symbole und Formen. »Komm schon, Clary!«
Sie schob die Gedanken an die Runen beiseite und folgte ihm. Jace hatte inzwischen die Plane erreicht und zerrte daran. Sie gab mit einem Ruck nach; unter den Holzplanken kamen glänzendes Chrom, beschlagenes Leder und funkelnder Lack zum Vorschein. »Motorräder?«
Jace schnappte sich das erstbeste – eine riesige dunkelrote Harley mit goldenen Flammen auf dem Tank. Er schwang ein Bein über die Sitzbank und warf Clary über die Schulter einen Blick zu. »Steig auf.«
Clary starrte ihn an. »Machst du Witze? Weißt du denn, wie man so ein Ding fährt? Hast du überhaupt einen Schlüssel?«
»Ich brauch keinen Schlüssel«, erklärte er mit Engelsgeduld. »Die Maschine fährt mit Dämonenenergie. Also, was ist jetzt? Steigst du auf oder willst du dein eigenes Motorrad fahren?«
Wie betäubt kletterte Clary hinter ihm auf den Sitz. Irgendwo tief in ihrem Inneren schrie eine kleine Stimme, dass das keine gute Idee sei.
»Okay«, sagte Jace. »Jetzt leg deine Arme um mich.« Sie folgte seiner Aufforderung und spürte, wie sich seine harte Bauchmuskulatur anspannte, als er sich vorbeugte und die Spitze der Stele in das Zündschloss rammte. Zu ihrer großen Überraschung fühlte sie, wie das Motorrad unter ihr zum Leben erwachte. In ihrer Jackentasche quiekte Simon laut auf.
»Schon gut, alles okay«, sagte sie so besänftigend wie möglich. »Jace!«, rief sie über den Lärm der Maschine hinweg. »Was hast du vor?«
Er schrie irgendetwas zurück, das wie »Kickstart!« klang.
Clary blinzelte. »Na, dann beeil dich mal! Die Tür …«
Wie aufs Stichwort flog in diesem Moment die Dachtür krachend auf und wurde förmlich aus den Angeln gerissen. Wölfe strömten durch die Öffnung, hetzten über das Dach direkt auf sie zu. Über ihnen stiegen Vampire auf, zischend und kreischend wie eine Schar beutegieriger Raubvögel.
Sie spürte, wie Jace’ Arme sich anspannten und das Motorrad einen solchen Satz nach vorne machte, dass sie das Gefühl hatte, ihr Magen würde gegen ihre Wirbelsäule gepresst. Instinktiv klammerte sie sich an Jace’ Gürtel, während sie Vorwärtsschossen, mit quietschenden Reifen über den Schiefer schlitterten und die Wölfe auseinandertrieben, die sich jaulend aus dem Weg warfen. Clary hörte, dass Jace irgendetwas rief, doch seine Worte wurden vom Lärm der Räder und dem Heulen des Motors übertönt. Der Rand des Dachs kam immer näher, schneller und schneller. Clary hätte am liebsten die Augen geschlossen, aber irgendetwas zwang sie, sie offen zu halten, als die Harley über die Kante schoss und wie ein Stein nach unten sackte, sechs Geschosse in die Tiefe.
Clary wusste später nicht mehr, ob sie tatsächlich geschrien hatte oder nicht. Das Ganze war wie die Schussfahrt auf einer Achterbahn, wenn die Schienen nach dem ersten Anstieg plötzlich senkrecht abfallen und die Fahrgäste schwerelos durch die Luft zu schweben scheinen, mit nutzlos fuchtelnden Armen und dem Magen auf der Höhe der Ohren. Als sich das Motorrad mit einem Ruck aufrichtete, wunderte Clary sich kaum noch. Statt in Richtung Boden rasten sie nun hinauf in den sternenfunkelnden Himmel.
Sie warf einen Blick über ihre Schulter zurück und sah eine Gruppe Vampire am Rand des Daches stehen, umzingelt von Wölfen. Rasch schaute sie wieder nach vorne. Selbst wenn ich das Hotel erst nach einer Ewigkeit wiedersehe, wäre das noch zu früh, dachte sie.
Jace stieß vor lauter Erleichterung Freudenschreie aus. Clary beugte sich vor und klammerte sich fest an ihn. »Meine Mutter hat mir immer gesagt, wenn ich jemals zu einem Jungen auf ein Motorrad steige, bringt sie mich um«, rief sie ihm über das Pfeifen des Fahrtwinds und das ohrenbetäubende Dröhnen der Maschine hinweg zu.
Sie konnte ihn zwar nicht lachen hören, spürte aber, wie sein Körper bebte. »Das würde sie nicht sagen, wenn sie mich kennen würde«, rief er voller Überzeugung zurück. »Ich bin ein hervorragender Fahrer.«
Plötzlich kam Clary ein Gedanke. »Hattest du nicht gesagt, dass nur einige der Vampir-Motorräder fliegen können?«
Geschickt steuerte Jace die Maschine um eine Ampel herum, die gerade von Rot auf Grün sprang. Unter ihnen konnte Clary Autos hupen hören, die Sirenen von Krankenwagen, das laute Dröhnen der Omnibusse. Aber sie traute sich nicht, nach unten zu schauen. »Das stimmt. Nicht alle können fliegen!«, bestätigte er.
»Und woher wusstest du dann, dass dieses hier dazugehört?«
»Ich hab es nicht gewusst!«, rief er vergnügt zurück und zog die Maschine fast senkrecht nach oben. Clary kreischte auf und klammerte sich erneut an seinen Gürtel.
»Du solltest mal nach unten sehen!«, rief Jace. »Der helle Wahnsinn!«
Die Neugier gewann die Oberhand über ihre Höhenangst. Clary schluckte einmal kräftig und öffnete die Augen.
Sie flogen viel höher, als sie gedacht hatte, und einen Moment lang drehte sich die Erde unter ihr, eine verschwommene Landschaft aus Lichtern und Schatten. Inzwischen rasten sie in Richtung Osten, auf den Highway zu, der sich am rechten Flussufer entlangschlängelte.
Trotz des tauben Gefühls in ihren Händen und des Drucks in ihrer Brust musste sie zugeben, dass der Anblick atemberaubend war: die Stadt, die sich wie ein hoch aufragender Wald aus Glas und Silber vor ihnen erhob, das grau schimmernde Band des East River, der Manhattan und die benachbarten Stadtbezirke wie eine Narbe trennte. Der Wind blies durch Clarys Haare, umspielte ihre nackten Beine, köstlich kühl nach so vielen Tagen der Hitze und Schwüle. Aber da sie noch nie geflogen war, nicht einmal mit einem Flugzeug, jagte ihr der riesige Abgrund unter ihr Angst ein. Rasch kniff sie die Augen wieder zusammen und blinzelte erst dann erneut vorsichtig durch die halb geschlossenen Lider, als sie über den Fluss donnerten. Kurz unterhalb der Queensboro Bridge drehte Jace die Harley nach Süden und steuerte auf die Halbinsel zu. Der Himmel hatte nun eine mittelblaue Tönung angenommen, in der Ferne erkannte Clary den glitzernden Bogen der Brooklyn Bridge und – als dunklen Fleck am Horizont – die Freiheitsstatue.
»Ist alles in Ordnung?«, rief Jace.
Clary schwieg, klammerte sich nur noch fester an ihn. Er legte die Maschine in die Kurve und im nächsten Moment rasten sie auf die Brücke zu. Zwischen den Tragseilen konnte Clary die Sterne funkeln sehen. Ein Frühzug ratterte über die Brücke – die Linie Q, mit einer Gruppe schläfriger Pendler an Bord. Sie dachte daran, wie oft sie selbst diesen Zug genommen hatte. Auf einmal wurde sie von einer Woge der Höhenangst erfasst. Rasch schloss sie die Augen und kämpfte heftig schluckend gegen die Übelkeit an.
»Clary?«, rief Jace. »Clary, ist alles in Ordnung?«
Sie schüttelte den Kopf, die Augen noch immer fest geschlossen, allein in der Dunkelheit. Sie hörte nur das Rauschen des Fahrtwinds und ihr wild pochendes Herz. Plötzlich spürte sie ein Kratzen an ihrer Brust. Sie ignorierte das Gefühl, bis es erneut auftauchte, diesmal fester und intensiver. Vorsichtig öffnete sie ein Auge und erkannte Simon, der seinen Kopf aus ihrer Jackentasche gesteckt hatte und eindringlich an ihrem Kleid zerrte. »Schon gut, Simon«, brachte sie mühsam hervor, ohne nach unten zu sehen. »Es war nur die Brücke …«
Er kratzte sie erneut und deutete nachdrücklich auf das Ufergebiet von Brooklyn, das sich zu ihrer Linken erstreckte. Benommen vom Schwindel, sah sie in die angezeigte Richtung und entdeckte hinter der Silhouette der Lagerhäuser und Werkshallen eine kaum sichtbare Sonnensichel, leuchtend wie der Rand einer blassen Goldmünze. »Ja, sehr hübsch«, sagte Clary und schloss erneut die Augen. »Toller Sonnenaufgang.«
Jace erstarrte, als wäre er von einem Blitz getroffen worden. »Sonnenaufgang?«, brüllte er und riss die Maschine ruckartig nach rechts. Clary sperrte entsetzt die Augen auf, als sie auf die Wasseroberfläche zurasten, die im Morgenlicht blau schimmerte.
Clary drängte sich so dicht wie möglich an Jace, ohne Simon dabei zu zerquetschen. »Was ist denn so schlimm am Sonnenaufgang?«
»Das habe ich dir doch gesagt! Diese Harley fährt mit Dämonenenergie!« Er steuerte das Motorrad so aus der Kurve, dass sie auf gleicher Höhe mit dem Fluss waren. Die Räder streiften die Wasseroberfläche. Flusswasser spritzte Clary ins Gesicht. »Sobald die Sonne aufgeht …«
Die Maschine begann zu stottern. Jace fluchte bildgewaltig und gab Vollgas. Erneut schoss die Harley nach vorne, spuckte dann mehrfach und bäumte sich unter ihnen auf wie ein bockendes Pferd. Während Jace weiter vor sich hin fluchte, brach ein Sonnenstrahl hinter den Kaianlagen hervor und ließ die Welt in umwerfender Helligkeit erstrahlen. Clary konnte nun jeden Stein, jeden Kiesel unter dem Motorrad erkennen, während sie den Fluss hinter sich ließen und über das schmale Ufer schossen. Vor ihnen lag der bereits dicht befahrene Highway. Mit Mühe schafften sie es auf die andere Seite – die Räder der Harley streiften das Dach eines vorbeidonnernden Lasters. Dahinter lag der leere Parkplatz eines riesigen Supermarkts. »Halt dich fest!«, brüllte Jace, als das Motorrad bockte und stotterte. »Halt dich an mir fest, Clary, lass auf keinen Fall los …«
Die Maschine kippte zur Seite und schlug mit dem Vorderrad zuerst auf dem Parkplatz auf. Sie schoss vorwärts, schlingerte und prallte mehrmals auf dem unebenen Boden auf, wobei Clarys Kopf mit enormer Gewalt hin und her geschleudert wurde. Die Luft stank nach verbranntem Gummi. Endlich verlor die Maschine etwas an Geschwindigkeit, schlitterte über den Asphalt und prallte mit solcher Wucht gegen eine Parkbuchtbegrenzung aus Beton, dass Clary in die Luft geschleudert und zur Seite gerissen wurde. Ihre Hände lösten sich von Jace’ Gürtel. Sie hatte kaum Zeit, sich schützend zusammenzurollen, ihre Arme um den Körper zu legen und zu hoffen, dass Simon nicht zerquetscht würde, als sie auch schon mit voller Wucht auf dem Asphalt aufschlug. Ein brennender Schmerz schoss durch ihren Arm. Irgendetwas spritzte ihr ins Gesicht und sie hustete, während sie über den Boden rollte und schließlich auf dem Rücken liegen blieb. Vorsichtig tastete sie nach ihrer Jackentasche. Sie war leer. Clary versuchte, Simons Namen zu sagen, brachte aber keinen Ton heraus. Rasselnd schnappte sie nach Luft. Ihr Gesicht war feucht und irgendeine klebrige Flüssigkeit sickerte in ihren Kragen.
Ist das Blut? Benommen öffnete sie die Augen. Ihr Gesicht fühlte sich an wie eine einzige große Wunde und ihre Arme schmerzten und stachen. Sie rollte sich auf die Seite und stellte fest, dass sie zur Hälfte in einer dreckigen Wasserpfütze lag. Der Morgen war nun endgültig angebrochen – Clary konnte die Reste des Motorrads sehen, die zu einem unkenntlichen Haufen Asche zusammenfielen, als die Sonnenstrahlen es trafen.
Ein Stück entfernt kam Jace mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Beine. Er wollte auf sie zulaufen, brachte aber gerade mal ein langsames Humpeln zustande. Ein Ärmel seiner Jacke war abgerissen und eine lange blutige Wunde erstreckte sich über seinen linken Arm. Das Gesicht unter den dunkelblonden Locken, die von Schweiß, Dreck und Blut verklebt waren, wirkte kreidebleich. Sie fragte sich, warum er so geschockt aussah. Lag vielleicht eines ihrer Beine halb abgerissen in einer Blutlache?
Sie versuchte, sich aufzurichten, und spürte plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter. »Clary?«
»Simon!«
Er kniete neben ihr, blinzelte mehrmals, als könne er es selbst nicht glauben. Seine Kleidung war zerknittert und dreckig und er hatte seine Brille verloren, doch ansonsten schien er unverletzt. Ohne die Augengläser wirkte er jünger, schutzloser und ein wenig benommen. Er streckte eine Hand aus, um ihr Gesicht zu berühren, doch sie zuckte zurück. »Au!«
»Alles in Ordnung? Du siehst großartig aus«, sagte er mit einem leisen Stocken in der Stimme. »Der schönste Anblick meines Lebens …«
»Das liegt daran, dass du deine Brille nicht aufhast«, erwiderte sie matt und rechnete mit einer oberschlauen Antwort. Doch stattdessen schlang er die Arme um sie und presste sie fest an sich. Seine Kleidung roch nach Blut, Schweiß und Schmutz, sein Herz schlug rasend schnell und er drückte gegen ihre Wunden, aber sie empfand es trotzdem als ungeheure Erleichterung, von ihm gehalten zu werden und zu wissen, dass es ihm gut ging.
»Clary«, sagte er mit rauer Stimme. »Ich dachte … ich dachte, dass du …«
»Dass ich dich hängen lassen würde? So ein Quatsch! Natürlich hab ich nach dir gesucht«, sagte sie.
Sie schlang die Arme um ihn. Alles an ihm war so vertraut, vom ausgebleichten Stoff seines T-Shirts bis hin zu der scharfen Kante seines Schlüsselbeins, auf der ihr Kinn ruhte. Er sagte ihren Namen und beruhigend strich sie ihm über den Rücken. Als sie einen kurzen Blick über die Schulter warf, sah sie Jace, der sich abwandte, als würde das helle Licht der aufgehenden Sonne ihm in den Augen brennen.
Hodge war stocksauer. Er hatte sie in der Eingangshalle erwartet, in der sich auch Isabelle und Alec herumdrückten, als Clary und die Jungs durch die Tür gehumpelt kamen, dreckig und blutverschmiert. Sofort erhielten sie eine Standpauke, auf die Clarys Mutter stolz gewesen wäre: Nicht nur, dass sie ihn angelogen hatten – offenbar hatte Jace ihm nichts von der Party erzählt –, er würde Jace auch nie wieder vertrauen können. Zusätzlich garnierte er seine Predigt mit Bemerkungen wie »das Gesetz gebrochen«, »den Rat hintergangen« und »Schande über den stolzen und ehrwürdigen Namen der Waylands gebracht«. Nachdem Hodge seiner Wut Luft gemacht hatte, fixierte er Jace mit festem Blick. »Du hast mit deinem Starrsinn andere in Gefahr gebracht. Dies ist ein Vorfall, den du nicht einfach mit einem Schulterzucken abtun kannst. Dafür werde ich sorgen!«
»Das hatte ich auch gar nicht vor«, sagte Jace. »Ich kann eh nichts abschütteln. Meine Schulter ist ausgekugelt.«
»Wenn ich nur glauben könnte, dass körperliche Schmerzen eine Strafe für dich sind«, erwiderte Hodge finster. »Aber vermutlich wirst du die nächsten Tage entspannt auf der Krankenstation verbringen, während Alec und Isabelle dich von morgens bis abends bemuttern. Und wahrscheinlich wirst du das Ganze auch noch genießen.«
Hodge sollte in fast allen Punkten recht behalten: Jace und Simon landeten auf der Krankenstation. Allerdings bemutterte nur Isabelle die beiden – wie Clary feststellte, nachdem sie sich frisch gemacht hatte und einige Zeit später das Krankenzimmer betrat. Hodge hatte die Prellung an ihrem Arm behandelt und zwanzig Minuten unter der Dusche hatten einen Großteil der Asphaltsteinchen herausgespült, die sich in ihre Haut gegraben hatten. Doch Clary fühlte sich noch immer völlig zerschlagen.
Alec hockte wie eine düstere Gewitterwolke auf der Fensterbank und zog ein finsteres Gesicht, als er Clary hereinkommen sah. »Ach, du bist’s.«
Clary ignorierte ihn. »Hodge lässt ausrichten, er ist auf dem Weg hierher«, wandte sie sich an Simon und Jace. »Er hofft, dass ihr bis dahin an eurem schwach flackernden Lebenslicht festhalten könnt – oder so was Ähnliches.«
»Ich wünschte, er würde sich beeilen«, erwiderte Jace verärgert. Er saß aufrecht im Bett, gegen einen Stapel dicke weiße Kissen gelehnt, und trug noch immer seine schmutzigen Sachen.
»Warum? Tut es sehr weh?«, fragte Clary.
»Nein. Ich habe eine hohe Schmerzschwelle. Genau genommen ist es keine Schwelle, sondern ein großes, geschmackvoll eingerichtetes Foyer. Aber ich langweile mich schnell.« Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Weißt du noch, wie du mir im Hotel versprochen hast, wenn wir jemals lebend da rauskämen, würdest du eine Schwesterntracht anziehen und mich von Kopf bis Fuß abseifen?«
»Ich glaube, da hast du dich verhört«, erwiderte Clary. »Es war Simon, der dir das versprochen hat.«
Jace blickte unwillkürlich zu Simon hinüber, der ihm ein breites Grinsen schenkte und beteuerte: »Sobald ich wieder auf den Beinen bin, Süßer.«
»Ich wusste, wir hätten dafür sorgen sollen, dass du eine Ratte bleibst«, sagte Jace.
Clary lachte und ging zu Simon, der sich in einem Berg von Kissen und mit dicken Decken über den Beinen sichtlich unwohl fühlte. Vorsichtig setzte sie sich auf die Bettkante. »Wie geht’s dir?«
»Ich fühl mich wie jemand, der mit einer Käseraspel massiert wurde«, erwiderte Simon und verzog das Gesicht, als er die Beine anzog. »Ein Knochen in meinem Fuß ist gebrochen. Der Fuß war dermaßen angeschwollen, dass Isabelle meinen Schuh aufschneiden musste.«
»Freut mich, dass sie sich so aufopfernd um dich kümmert«, sagte Clary mit einem Hauch von Spott in der Stimme.
Simon beugte sich vor, ohne die Augen von ihr zu nehmen. »Ich muss mit dir reden, Clary.«
Clary nickte zögernd. »Ich geh gleich auf mein Zimmer. Komm einfach nach, wenn Hodge dich behandelt hat, okay?«
»Klar.« Zu ihrer großen Überraschung beugte er sich noch weiter vor und küsste sie auf die Wange. Es war ein Schmetterlingskuss, seine Lippen streiften sie nur zart, doch als sie sich aufrichtete, spürte sie, dass sie errötete. Wahrscheinlich, weil uns die anderen so seltsam anstarren, dachte sie und ging hinaus.
Als sie die Tür des Krankenzimmers hinter sich zugezogen hatte, berührte sie verwirrt ihr Gesicht. Ein flüchtiger Kuss auf die Wange hatte keine große Bedeutung, doch dieses Verhalten war sehr ungewöhnlich für Simon. Vielleicht wollte er Isabelle eifersüchtig machen? Männer, dachte Clary, sie wurde einfach nicht schlau aus ihnen. Und dann erst Jace, der seine Verwundeter-Prinz-Nummer abzog! Sie war gegangen, ehe er sich über die Anzahl der Webfäden in seiner Bettwäsche beschweren konnte.
»Clary!«
Überrascht drehte sie sich um. Alec rannte mit federnden Schritten hinter ihr her den Gang entlang und holte sie schließlich ein. »Ich muss mit dir reden.«
Erstaunt sah sie ihn an. »Worüber?«
Er zögerte. Mit seiner hellen Haut und den dunkelblauen Augen war er ebenso attraktiv wie seine Schwester, doch im Gegensatz zu Isabelle tat er alles, um sein Äußeres nicht noch zu betonen. Dazu zählten auch der ausgefranste Pullover und die gestutzten Haare, die aussahen, als hätte er sie im Dunkeln geschnitten. Er schien sich in seiner Haut nicht wohlzufühlen. »Ich denke, du solltest das Institut besser verlassen. Geh nach Hause«, sagte er.
Sie wusste, dass er sie nicht mochte, aber trotzdem traf diese Bemerkung sie wie eine Ohrfeige. »Alec, als ich das letzte Mal zu Hause war, wimmelte es dort von Forsaken. Und Ravenern. Mit Giftzähnen. Ich würde nichts lieber tun, als nach Hause zurückzukehren, aber …«
»Du musst doch irgendwelche Verwandte haben, bei denen du wohnen kannst.« In seiner Stimme schwang leichte Verzweiflung mit.
»Nein. Außerdem will Hodge, dass ich bleibe«, erwiderte sie kurz angebunden.
»Das kann er unmöglich wollen. Nicht nach dem, was du getan hast …«
»Was habe ich denn getan?«
Er schluckte. »Du hast dafür gesorgt, dass Jace fast getötet wurde.«
»Ich habe was? Wovon redest du überhaupt?«
»Einfach so deinem Freund hinterherzurennen. Weißt du eigentlich, in welche Gefahr du ihn gebracht hast? Weißt du …«
»Ihn? Meinst du Jace?«, unterbrach Clary ihn rüde. »Nur zu deiner Information: Das Ganze war seine Idee. Er hat Magnus gefragt, wo sich das Vampirversteck befindet. Er ist in die Kirche marschiert und hat die Waffen geholt. Und auch wenn ich ihn nicht begleitet hätte, wäre er trotzdem in das Hotel gestürmt.«
»Das verstehst du nicht«, sagte Alec. »Du kennst ihn nicht. Nicht so wie ich. Er glaubt, er müsse die Welt retten, und er hätte nichts dagegen, wenn er bei dem Versuch umkäme. Manchmal denke ich, dass er sogar sterben möchte, aber das bedeutet nicht, dass du ihn dazu ermutigen solltest.«
»Ich kapier’s nicht«, erwiderte sie. »Jace ist ein Nephilim. Das ist doch eure Aufgabe: Ihr rettet Leute, ihr tötet Dämonen, ihr bringt euch in Gefahr. Warum war die letzte Nacht denn etwas anderes?«
Alec verlor die Beherrschung. »Weil er mich zurückgelassen hat!«, brüllte er. »Normalerweise bin ich immer bei ihm, gebe ihm Deckung, halte ihm den Rücken frei, pass auf ihn auf. Aber du … du bist nur Ballast, eine Irdische.« Er stieß das Wort aus, als wäre es etwas Unanständiges.
»Nein«, erwiderte Clary. »Das bin ich nicht. Ich bin eine Nephilim – genau wie du.«
Er kräuselte verächtlich die Lippen. »Möglicherweise«, sagte er. »Aber ohne Training und ohne jede Erfahrung bist du von keinem großen Nutzen, oder? Deine Mutter hat dich in der irdischen Welt aufgezogen und genau da gehörst du hin. Nicht hierher, wo du Jace dazu bringst, sich so zu verhalten, als wäre er … als wäre er keiner von uns. Wo du ihn dazu verleitest, seinen Eid gegenüber dem Rat zu brechen, das Gesetz zu übertreten …«
»Achtung, Alec, wichtige Durchsage: Ich bringe Jace nicht dazu, irgendetwas zu tun«, fuhr Clary ihn an. »Er macht, was er will. Das solltest du eigentlich wissen.«
Alec musterte sie, als wäre sie eine besonders abscheuliche Art von Dämon, die er noch nie gesehen hatte. »Ihr Mundies seid total egoistisch! Hast du überhaupt eine Ahnung, was er für dich getan hat, welches Risiko er auf sich genommen hat? Und ich rede nicht nur von seiner Sicherheit. Für ihn steht viel mehr auf dem Spiel. Er hat bereits Vater und Mutter verloren; willst du, dass er jetzt auch noch die einzige Familie verliert, die ihm geblieben ist?«
Clary wich kurz zurück. Doch dann stieg wie eine schwarze Woge heiße Wut in ihr auf – Wut auf Alec, weil er teilweise recht hatte, Wut auf alles und jeden: auf die vereiste Straße, die ihr den Vater genommen hatte, noch ehe sie geboren war; auf Simon, weil er sich in diese lebensgefährliche Situation gebracht hatte; auf Jace, weil er den Märtyrer spielte und nichts auf sein Leben gab. Wut auf Luke, weil er so getan hatte, als würde sie ihm etwas bedeuten, obwohl das eine riesige Lüge gewesen war. Und Wut auf ihre Mutter, weil sie nicht die langweilige, normale, planlose Frau war, die sie immer zu sein vorgegeben hatte, sondern jemand vollkommen anderes: eine heldenhafte und atemberaubende und mutige Person, die Clary überhaupt nicht kannte. Eine Person, die nicht da war, jetzt, wo Clary sie dringend brauchte.
»Ausgerechnet du redest von Egoismus«, zischte Clary so giftig, dass Alec einen Schritt zurückwich. »Du interessierst dich doch nur für einen Menschen auf dieser Welt und das bist du selbst, Alec Lightwood. Kein Wunder, dass du noch keinen einzigen Dämon getötet hast, denn dafür hast du viel zu viel Angst.«
Alec starrte sie sprachlos an. »Wer hat dir das erzählt?« »Jace.«
Alec sah aus, als hätte sie ihn geschlagen. »Das würde er nie tun. So was würde er niemals sagen.«
»Das hat er aber.« Clary konnte erkennen, wie sehr sie ihn damit traf, und es bereitete ihr Freude. Zur Abwechslung durften ruhig mal die Gefühle eines anderen verletzt werden. »Von mir aus kannst du noch stundenlang von Ehre und Aufrichtigkeit schwafeln und davon, dass Mundies angeblich weder das eine noch das andere besitzen. Aber wenn du ehrlich bist, musst du zugeben, dass du nur deshalb einen Wutanfall bekommen hast, weil du in Jace verliebt bist. Das hat überhaupt nichts mit …«
Alec machte einen Satz nach vorn und im nächsten Moment dröhnte Clary der Schädel. Er hatte sie mit solcher Wucht an die Wand gestoßen, dass ihr Hinterkopf gegen die Holzvertäfelung geprallt war. Sein Gesicht schwebte nur wenige Zentimeter über ihrem; seine Augen wirkten riesig und dunkel. »Wenn du Jace gegenüber auch nur ein einziges Mal etwas Derartiges erwähnst, bring ich dich um«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Das schwöre ich beim Erzengel.«
Ein heftiger Schmerz durchfuhr ihre Arme, die er fest umklammert hielt. Unwillkürlich schnappte sie nach Luft. Alec blinzelte kurz, als würde er aus einer Trance erwachen, und ließ sie los, wobei er seine Hände wegriss, als hätte er sich an ihrer Haut verbrannt. Ohne ein weiteres Wort machte er auf dem Absatz kehrt und ging schwankend zur Krankenstation zurück, als wäre er betrunken oder benommen.
Clary rieb sich die gequetschten Arme und starrte ihm nach. Sie war entsetzt über das, was sie getan hatte. Großartige Leistung, Clary. Jetzt hasst er dich wirklich.
Am liebsten wäre sie sofort ins Bett gegangen und in einen tiefen Schlaf gefallen, aber trotz ihrer Müdigkeit fand sie keine Ruhe. Schließlich holte sie ihren Skizzenblock aus dem Rucksack und begann, mit angezogenen Knien zu zeichnen. Zunächst nur flüchtige Skizzen – ein Detail der zerfallenen Fassade des Vampirhotels, einen Wasserspeier mit Fangzähnen und hervorstehenden Augen, eine leere Straße, nur beleuchtet von einer einzigen Laterne, eine Schattengestalt am Rand des Lichtkegels. Sie skizzierte Raphael mit dem blutverschmierten weißen Hemd und der kruzifixartigen Narbe am Hals. Und dann zeichnete sie Jace, wie er auf dem Dach stand und in den Abgrund hinabblickte. Ohne jede Furcht, als empfände er den Sturz als eine Art Herausforderung – als gäbe es nichts, was er nicht mit dem Glauben an die eigene Unbesiegbarkeit überwinden könnte. Genau wie in ihrem Traum malte sie ihn mit Flügeln, die bogenförmig hinter seinen Schultern zum Vorschein kamen, wie die Schwingen eines Engels.
Und schließlich versuchte sie, ihre Mutter zu zeichnen. Sie hatte Jace zwar gesagt, sie fühle sich nach der Lektüre des Grauen Buchs nicht anders als vorher, was im Grunde auch der Wahrheit entsprach. Doch jetzt, als sie versuchte, sich die Züge ihrer Mutter ins Gedächtnis zu rufen, erkannte sie, dass sich Jocelyns Bild in einem Detail geändert hatte: Sie konnte die Narben ihrer Mutter sehen, die winzigen weißen Male, die ihren Rücken und ihre Schultern bedeckten, als hätte sie in einem Schneetreiben gestanden.
Es tat weh – die Erkenntnis, dass die Art und Weise, wie sie ihre Mutter ihr Leben lang gesehen hatte, nicht der Realität entsprach, dass alles eine Lüge gewesen war. Die Tränen stiegen ihr in die Augen und sie schob den Skizzenblock unter ihr Kopfkissen. Plötzlich hörte sie ein Klopfen an der Tür – leise, zögernd. Hastig rieb sie sich die Augen. »Herein.«
Es war Simon. Sie hatte vollkommen vergessen, wie schrecklich er aussah: Er hatte noch nicht geduscht und seine Kleidung war zerrissen und schmutzig, seine Haare vollkommen verfilzt. Seltsam förmlich blieb er im Türrahmen stehen.
Sie rutschte beiseite und machte ihm Platz auf ihrem Bett. Es war nichts Ungewöhnliches daran, mit Simon auf einem Bett zu sitzen; seit sie kleine Kinder waren, hatten sie beim anderen übernachtet, mit Decken und Tüchern Zelte und Lager gebaut und später gemeinsam bis tief in die Nacht Comics gelesen.
»Du hast ja deine Brille wiedergefunden«, stellte Clary fest.
Ein Glas war zerbrochen.
»Ja, sie steckte in meiner Jackentasche. Die Brille hat das Ganze besser überstanden, als ich erwartet hätte. Ich werde wohl meinem Optiker ein Dankesschreiben schicken.«
Vorsichtig ließ er sich neben ihr auf das Bett sinken. »Hat Hodge deine Verletzungen kuriert?«
Er nickte. »Ja. Ich fühl mich zwar immer noch, als hätte mich ein Bus gestreift, aber wenigstens ist nichts mehr gebrochen.« Er drehte sich zur Seite und sah sie an. Seine Augen hinter den zerbrochenen Brillengläsern waren exakt so, wie sie sie in Erinnerung hatte: dunkel und ernsthaft, mit genau der Sorte dichter und langer Wimpern, für die Jungs sich nicht interessierten und für die Mädchen jederzeit einen Mord begehen würden. »Clary, dass du nach mir gesucht hast… dass du all das für mich riskiert hast …«
»Nicht.« Abwehrend hielt sie eine Hand hoch. »Du hättest für mich genau das Gleiche getan.«
»Natürlich«, sagte er, ohne jede Arroganz oder Prahlerei, »aber ich habe das immer für normal gehalten – eben so, wie das zwischen uns beiden sein sollte …«
Verwirrt rutschte Clary auf dem Bett ein Stück zur Seite, sodass sie ihn direkt ansehen konnte. »Was meinst du damit?« »Ich meine damit Folgendes«, setzte Simon geduldig an, als wäre er überrascht, dass er etwas erklären musste, das eigentlich auf der Hand lag. »Ich bin immer derjenige gewesen, der dich mehr gebraucht hat als du mich.« »Aber das stimmt doch gar nicht«, erwiderte Clary erschrokken.
»Doch, so ist es«, sagte Simon mit der gleichen irritierenden Ruhe. »Du hast auf mich immer den Eindruck gemacht, als würdest du niemanden brauchen, Clary. Du bist immer so … gefasst. Du brauchst nichts außer deinen Stiften und deiner Fantasiewelt. Wie oft habe ich etwas sechs oder sieben Mal wiederholen müssen, ehe du endlich reagiert hast. Du warst so meilenweit entfernt. Und dann hast du mich angesehen und mir dieses seltsame Lächeln geschenkt und da wusste ich, dass du mich vollkommen vergessen und dich erst in diesem Moment wieder an mich erinnert hattest. Aber ich war nie sauer auf dich. Die Hälfte deiner Aufmerksamkeit ist besser als die ganze Aufmerksamkeit von allen anderen zusammen.« Clary tastete nach seiner Hand, erwischte aber nur sein Handgelenk. Sie konnte den Herzschlag unter seiner Haut spüren. »Ich habe in meinem ganzen Leben nur drei Menschen geliebt«, sagte sie. »Meine Mutter, Luke und dich. Und bis auf dich habe ich sie alle verloren. Glaub ja nicht, du würdest mir nichts bedeuten – wage es nicht mal.«
»Meine Mutter meint, man braucht nur drei Menschen, denen man vertrauen kann, um sich selbst zu verwirklichen«, sagte Simon leichthin, doch seine Stimme brach bei dem Wort »verwirklichen«. »Sie meint, du hättest das anscheinend ziemlich gut im Griff.«
Clary lächelte ihn wehmütig an. »Hat deine Mutter sonst noch irgendwelche weisen Worte über mich gesagt?« »Ja.« Er erwiderte ihr schiefes Lächeln. »Aber die werde ich dir nicht verraten.«
»Das ist nicht fair!«
»Wer hat jemals behauptet, dass das Leben fair sei?«
Nach einer Weile legten sie sich so auf das Bett, wie sie es bereits als Kinder gemacht hatten: Schulter an Schulter, Clarys rechtes Bein über Simons linkem. Ihre Zehen reichten gerade mal bis zu seinem Knie. Flach auf dem Rücken liegend, starrten sie an die Decke und unterhielten sich – eine Angewohnheit, die noch aus der Zeit stammte, als Clarys Zimmerdecke mit fluoreszierenden Sternen beklebt gewesen war, die in der Nacht leuchteten. Während Jace nach Seife und Unionen duftete, roch Simon nach jemandem, der auf dem Parkplatz eines Supermarkts herumgerollt war. Aber das störte Clary nicht.
»Das Seltsame war …« – Simon wickelte eine von Clarys Haarsträhnen um seinen Finger – »dass ich, kurz bevor es passierte, noch mit Isabelle über Vampire gescherzt habe. Ich wollte sie nur zum Lachen bringen … ›Womit treibt man jüdische Vampire in die Flucht? Silberne Davidsterne? Gebratene Leber? Schecks über achtzehn Dollar?‹«
Clary lachte.
Simon wirkte zufrieden. »Isabelle hat nicht gelacht.« Clary dachte an eine Reihe von Dingen, die sie gerne darauf geantwortet hätte, hielt sich aber zurück. »Vielleicht ist das einfach nicht Isabelles Art von Humor«, sagte sie schließlich.
Simon warf ihr unter seinen langen Wimpern einen kurzen Blick zu. »Geht sie mit Jace ins Bett?«
Clary quietschte überrascht auf und versuchte, ihren Schrei mit einem Husten zu überdecken. Sie starrte ihn an. »Äh, nein. Sie sind praktisch miteinander verwandt. Das würden sie nicht machen.« Sie schwieg einen Moment. »Glaube ich jedenfalls.«
Simon zuckte die Achseln. »Nicht dass mich das interessieren würde«, sagte er mit fester Stimme.
»Natürlich nicht.«
»Nein. Ganz ehrlich!« Er drehte sich auf die Seite. »Anfangs dachte ich, Isabelle wäre … na ja, ich weiß auch nicht … cool eben. Aufregend. Anders. Aber auf der Party ist mir klar geworden, dass sie einfach nur verrückt ist.«
Clary musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Hat sie dir gesagt, du sollst den blauen Cocktail trinken?«
Simon schüttelte den Kopf. »Nein, das war allein meine Idee. Ich hab gesehen, wie du mit Jace und Alec verschwunden bist, und da dachte ich … ach, ich weiß auch nicht. Du sahst so anders aus als sonst. Du wirktest so verändert. Ich wurde den Gedanken einfach nicht los, dass du dich bereits weiterentwickelt hattest und dass für mich in deiner neuen Welt kein Platz sein würde. Ich wollte irgendetwas tun, um auch ein Teil davon zu werden. Und als dann dieser kleine grüne Kerl mit dem Tablett voller Getränke kam …«
Clary stöhnte. »Du Idiot.«
»Ich hab nie was anderes behauptet.«
»Tut mir leid. War es schlimm?«
»Eine Ratte zu sein? Nein. Anfangs war es etwas verwirrend. Ich befand mich plötzlich auf Knöchelhöhe mit den anderen. Erst dachte ich, ich hätte einen Schrumpf-Zaubertrank getrunken, aber ich konnte nicht verstehen, warum ich auf einmal so einen Hunger auf Kaugummipapier hatte.«
Clary kicherte. »Nein, ich meinte eigentlich das Vampirhotel. War das schrecklich?«
Irgendetwas flackerte in seinen Augen auf und er blickte rasch zur Seite. »Nein. Im Grunde kann ich mich zwischen der Party und der Landung auf dem Parkplatz an kaum etwas erinnern.«
»Ist wahrscheinlich auch besser so.«
Er wollte etwas darauf erwidern, musste dann aber furchtbar gähnen. Im Zimmer war es allmählich dunkel geworden. Clary schlug die Bettdecke beiseite, stand auf und schob die Vorhänge auseinander. Die Stadt vor ihrem Fenster war in das rotgoldene Licht des Sonnenuntergangs getaucht. Das silberne Dach des Chrysler Building glühte in der Ferne wie ein Schürhaken, der zu lange im Feuer gelegen hatte. »Die Sonne geht gleich unter. Vielleicht sollten wir uns was zu essen machen.«
Als sie keine Antwort bekam, drehte sie sich um und sah, dass Simon eingeschlafen war, die Arme unter dem Kopf verschränkt. Sie seufzte, ging zum Bett, nahm ihm die Brille von der Nase und legte sie auf das Nachttischchen. Sie konnte sich schon gar nicht mehr erinnern, wie oft er mit Brille eingeschlafen und vom Klirren der Gläser wieder aufgewacht war.
Und wo soll ich jetzt schlafen? Es machte ihr zwar nichts aus, mit Simon in einem Bett zu liegen, aber er hatte ihr kaum Platz gelassen. Einen Moment lang dachte sie daran, ihn zu wecken, doch erwirkte so friedlich. Außerdem war sie noch nicht müde. Sie wollte gerade den Skizzenblock unter ihrem Kissen hervorholen, als es an der Tür klopfte.
Barfuß lief sie durchs Zimmer und drehte leise den Türknauf. Es war Jace. Frisch geduscht stand er in Jeans und grauem T-Shirt vor ihr. Seine noch feuchten Locken umgaben sein Gesicht wie ein goldener Heiligenschein und die Verletzungen und blauen Flecken waren bereits zu einem hellen Grau verblasst. Er hielt beide Hände hinter dem Rücken versteckt.
»Hast du schon geschlafen?«, fragte er neugierig und kein bisschen zerknirscht.
»Nein.« Clary trat hinaus auf den Gang und zog die Tür hinter sich zu. »Wie kommst du darauf?«
Er musterte ihr hellblaues Trägertop und die dazu passenden Baumwollshorts. »Ach, nur so.«
»Ich hab fast den ganzen Tag im Bett verbracht«, sagte sie, was im Grunde ja auch der Wahrheit entsprach. Bei seinem Anblick stieg ihre Nervosität schlagartig um tausend Prozent, aber sie sah keinen Grund, ihn das wissen zu lassen. »Was ist mit dir? Bist du nicht müde?«
Er schüttelte den Kopf. »Genau wie die Post sind auch Dämonenjäger immer im Dienst. ›Weder Schnee noch Regen noch Hitze noch die Schatten der Nacht können diese Männer davon abhalten, hinauszugehen und …‹«
»Du hättest ein echtes Problem, wenn dich die Schatten der Nacht vom Hinausgehen abhielten«, bemerkte sie feinsinnig.
Jace grinste. Im Gegensatz zu seinen Haaren waren seine Zähne nicht vollkommen makellos. Einem der oberen Schneidezähne fehlte eine winzige Ecke, was sein Lächeln nur noch anziehender machte.
Clary schlang die Arme um ihren Körper. Es war kühl auf dem Flur und sie spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam. »Was machst du überhaupt hier?«
»Meinst du mit ›hier‹ vor deinem Zimmer oder ›hier‹ wie in der großen spirituellen Frage nach dem Zweck unseres Daseins auf Erden? Wenn du wissen willst, ob es sich nur um einen kosmischen Zufall handelt oder ob das Leben eine tiefere, meta-ethische Bedeutung hat … na ja, das beschäftigt die Gelehrten schon seit Jahrhunderten. Ich bin zwar der Ansicht, dass der schlichte, ontologische Reduktionismus eindeutig eine irreführende Annahme ist, aber …«
»Ich glaube, ich geh wieder ins Bett.« Clary drehte sich um.
Leichtfüßig schob er sich zwischen sie und die Tür. »Ich bin hier«, sagte er, »weil Hodge mich daran erinnert hat, dass du Geburtstag hast.«
Clary schnaubte genervt. »Mein Geburtstag ist erst morgen.«
»Aber das ist kein Grund, nicht schon jetzt mit dem Feiern anzufangen.«
Sie musterte ihn misstrauisch. »Du willst nur Alec und Isabelle aus dem Weg gehen.«
Er nickte. »Beide versuchen ständig, einen Streit mit mir vom Zaun zu brechen.«
»Aus dem gleichen Grund?«
»Keine Ahnung.« Verstohlen blickte er den Flur hinunter. »Auch Hodge nervt mich. Jeder will mit mir reden. Nur du nicht. Ich wette, du willst nicht mit mir reden.«
»Nein«, bestätigte Clary. »Ich möchte was essen. Ich hab nämlich einen Mordshunger.«
Jace streckte die Hände nach vorne, in denen er eine leicht zerknitterte Papiertüte hielt. »Ich hab ein paar Sachen aus der Küche mitgehen lassen, als Isabelle gerade nicht hingesehen hat.«
Clary grinste. »Ein Picknick? Ist es nicht ein bisschen spät für den Central Park? Der ist doch jetzt voller …«
Er winkte ab. »Feen. Ich weiß.«
»Ich wollte eigentlich ›Straßenräuber‹ sagen«, erwiderte Clary. »Obwohl ich den Straßenräuber bedaure, der es auf dich abgesehen hat.«
»Das ist eine weise Einstellung, zu der ich dir nur gratulieren kann«, sagte Jace und wirkte sehr zufrieden. »Aber ich wollte gar nicht den Central Park vorschlagen. Was hältst du vom Gewächshaus?«
»Was, jetzt? Bei Nacht? Ist es dort nicht zu … dunkel?« Er lächelte, als kenne er ein großes Geheimnis. »Komm, ich zeig’s dir.«
Im Zwielicht der hereinbrechenden Nacht wirkten die großen, leeren Räume, die sie auf ihrem Weg zum Dachgeschoss passierten, wie ausgestorbene Bühnenbilder. Mit weißen Tüchern drapierte Möbel ragten aus der Dämmerung hervor wie Eisberge im Nebel.
Als Jace die Tür zum Gewächshaus öffnete, schlug Clary ein warmer Duft entgegen, weich wie die Pfoten einer Katze: der feuchtwürzige Geruch von Erde, das kräftige Aroma nachtblühender Pflanzen – Mondwinden, Engelstrompeten, Wunderblumen und einige Gewächse, die sie nicht kannte, wie jene Blume mit einer einzelnen sternförmigen gelben Blüte, deren Blätter mit goldenem Blütenstaub bedeckt waren. Durch die Glaswände des Gewächshauses funkelten die Lichter Manhattans wie kalte Diamanten.
»Wow.« Langsam drehte sie sich im Kreis, ließ den Anblick auf sich wirken. »Es ist einfach fantastisch hier oben.«
Jace grinste. »Und wir haben das Gewächshaus ganz für uns allein. Alec und Isabelle kommen nicht gern hier hoch; sie haben irgendeine Allergie.«
Clary zitterte, obwohl ihr nicht kalt war. »Was für eine Pflanze ist das?«, fragte sie und zeigte auf einen Kübel.
Jace zuckte die Achseln und setzte sich vorsichtig neben den Strauch mit den glänzend grünen Blättern und den zahlreichen fest geschlossenen Blütenknospen. »Keine Ahnung. Meinst du etwa, ich würde im Pflanzenkundeunterricht zuhören? Ich will kein Archivar werden, ich brauche den ganzen Kram nicht zu wissen.«
»Du musst nur wissen, wie man tötet, was?«
Jace sah sie an und grinste. Er wirkte wie ein blonder Engel aus einem Gemälde von Rembrandt – wenn man einmal von seinem diabolischen Lächeln absah. »Stimmt genau.« Er holte ein in Servietten eingewickeltes Päckchen aus dem Papierbeutel und reichte es ihr. »Außerdem weiß ich, wie man ein höllisch gutes Käsesandwich macht«, fügte er hinzu. »Probier mal.«
Clary lächelte zögernd und setzte sich ihm gegenüber auf den Boden. Die Steinfliesen des Gewächshauses fühlten sich kalt an ihren nackten Beinen an, aber es war angenehm nach der unerträglichen Hitze der vorangegangenen Tage. Als Nächstes zog Jace ein paar Äpfel aus der Tüte, dazu einen Schokoriegel mit Früchten und Nüssen und eine Flasche Wasser. »Kein übler Fang«, sagte sie bewundernd.
Das Käsesandwich war warm und ein wenig weich, schmeckte aber wunderbar. Aus einer seiner unzähligen Jackentaschen zauberte Jace ein Jagdmesser hervor, das aussah, als könnte man damit einen Grizzly erlegen. Sorgfältig zerteilte er einen Apfel und schnitt ihn in gleichmäßige Schnitze. »Das ist zwar keine Geburtstagstorte«, meinte er und reichte ihr ein Stück, »aber hoffentlich besser als gar nichts.«
»Ich hatte mit gar nichts gerechnet … deshalb vielen Dank.« Sie biss in das Apfelstück, das grün und erfrischend schmeckte.
»Niemand sollte an seinem Geburtstag gar nichts bekommen.« Jace schälte den zweiten Apfel; die Schale löste sich in langen, welligen Streifen. »Geburtstage sollten etwas Besonderes sein. Mein Geburtstag war immer der Tag, an dem mein Vater sagte, ich könne alles tun oder haben, was ich wollte.« »Alles?« Clary lachte. »Und was hast du dir so alles gewünscht?«
»Als ich fünf war, habe ich mir ein Spaghetti-Bad gewünscht.«
»Aber damit war dein Vater natürlich nicht einverstanden, oder?«
»Doch, doch. Das ist es ja gerade. Er war einverstanden. Er meinte, es sei nicht teuer … also warum nicht, wo ich es mir doch so sehr wünschte? Er wies unsere Dienstboten an, eine Wanne mit kochendem Wasser und Nudeln zu füllen, und als die Mischung ein wenig abgekühlt war …«, er zuckte die Achseln, »… habe ich darin gebadet.«
Dienstboten?, dachte Clary und fragte laut: »Und, wie war’s?«
»Glitschig.«
»Glaube ich gerne.« Sie versuchte, ihn sich als kleinen Jungen vorzustellen, kichernd und bis zu den Ohren in warmen Nudeln. Doch das Bild wollte vor ihrem inneren Auge nicht entstehen. Jace hatte garantiert nie gekichert, nicht einmal als Fünfjähriger. »Und was hast du dir noch gewünscht?«
»Hauptsächlich Waffen«, sagte er, »was dich kaum verwundern dürfte. Und Bücher. Ich habe viel gelesen, meistens für mich allein.«
»Bist du denn nicht zur Schule gegangen?«
»Nein«, erwiderte er gedehnt, als nähere sich das Gespräch nun einem Thema, über das er nicht reden wollte.
»Aber deine Freunde …«
»Ich hatte keine Freunde«, sagte er. »Abgesehen von meinem Vater. Er war alles, was ich brauchte.«
Sie starrte ihn an. »Du hattest überhaupt keine Freunde?«
Er hielt ihrem Blick stand. »Als ich Alec begegnete, war ich zehn Jahre alt«, erklärte er. »Das war das erste Mal, dass ich ein anderes Kind in meinem Alter kennenlernte. Das erste Mal, dass ich einen Freund hatte.«
Sie blickte zu Boden. Vor ihrem inneren Auge nahm nun ein anderes, unangenehmes Bild Gestalt an: Sie dachte an Alec, daran, wie er sie angesehen hatte. So was würde er niemals sagen.
»Du musst mich nicht bemitleiden«, meinte Jace, als hätte er ihre Gedanken erraten. Dabei war gar nicht er derjenige, für den sie Mitleid empfand. »Mein Vater hat mir die beste Erziehung, die beste Kampfausbildung zuteil werden lassen, die man sich vorstellen kann. Er hat mir die ganze Welt gezeigt. London. Sankt Petersburg. Ägypten. Wir sind damals viel gereist.« Seine Augen verdüsterten sich. »Seit er gestorben ist, bin ich nirgendwo mehr gewesen. Abgesehen von New York.«
»Du kannst dich glücklich schätzen«, erwiderte Clary. »Ich bin in meinem Leben noch kein einziges Mal aus diesem Bundesstaat herausgekommen. Meine Mutter hat mich nicht mal auf Klassenfahrt nach Washington mitfahren lassen. Ich schätze, ich weiß jetzt, warum«, fügte sie wehmütig hinzu.
»Weil sie fürchtete, dass du ausflippen könntest? Dämonen im Weißen Haus sehen würdest?«
Clary knabberte an einem Stück Schokoriegel. »Im Weißen Haus gibt es Dämonen?«
»Das war nur ein Witz … denke ich zumindest.« Gelassen zuckte er die Achseln. »Eigentlich bin ich mir sicher – irgendjemand hätte es sonst erwähnt.«
»Vermutlich wollte sie mich einfach nicht zu weit von sich weglassen. Meine Mutter, meine ich. Nach dem Tod meines Vaters hat sie sich total verändert.« Lukes Stimme hallte in ihrem Kopf nach. Du bist danach nie mehr dieselbe gewesen, aber Clary ist nun mal nicht Jonathan.
Jace zog fragend eine Augenbraue hoch. »Erinnerst du dich an deinen Vater?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Er starb, bevor ich auf die Welt kam.«
»Da kannst du froh sein«, sagte er. »So vermisst du ihn auch nicht.«
Jedem anderen hätte sie diese Bemerkung übel genommen, doch zur Abwechslung schwang in seiner Stimme keinerlei Sarkasmus mit, nur eine tiefe Sehnsucht nach seinem eigenen Vater. »Geht das Gefühl irgendwann vorüber?«, fragte sie. »Dass man ihn vermisst, meine ich?«
Er sah sie von der Seite an, beantwortete ihre Frage aber nicht. »Denkst du viel an deine Mutter?«
Nein. Auf diese Weise dachte sie nicht an ihre Mutter. »Eher an Luke …«
»Auch wenn das nicht sein richtiger Name ist.« Sinnierend biss Jace in ein Apfelstück. »Ich hab eine Weile über ihn nachgedacht. Irgendetwas an seinem Verhalten passt nicht zusammen …«
»Er ist ein Feigling.« Clarys Stimme klang bitter. »Du hast ihn doch gehört. Er wird sich nicht gegen Valentin stellen. Nicht einmal für meine Mutter.«
»Aber das ist es ja gerade, was ich …« Lange, tiefe Glockentöne unterbrachen ihn. Irgendwo schlug eine Kirchturmuhr. »Mitternacht«, sagte Jace und legte das Messer beiseite. Er stand auf und streckte ihr eine Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen. An seinen Fingern klebte ein wenig Apfelsaft. »So, pass auf.«
Konzentriert blickte er auf den grünen Strauch mit den vielen geschlossenen Blütenknospen, neben dem sie gesessen hatten. Clary wollte ihn fragen, worauf genau sie denn achten sollte, doch er hielt eine Hand hoch, um sie zum Schweigen zu bringen. »Warte«, raunte er mit funkelnden Augen.
Die Blätter der Pflanze hingen schlaff und reglos herab. Doch plötzlich begann eine der fest geschlossenen Knospen zu beben und zu zittern, schwoll auf die doppelte Größe an und platzte auf. Das Ganze war wie ein Zeitrafferfilm einer aufgehenden Blüte: Zarte grüne Kelchblätter stülpten sich nach außen und gaben die zusammengedrängten Kronblätter im Inneren frei, die mit hellgelbem Blütenstaub bedeckt waren.
»Oh!«, stieß Clary hervor, blickte auf und bemerkte, dass Jace sie beobachtete. »Blüht sie jede Nacht?«
»Nur um Mitternacht«, erklärte er. »Herzlichen Glückwunsch, Clarissa Fray.«
Sie war seltsam gerührt. »Vielen Dank.«
»Ich hab noch was für dich.« Er wühlte in seiner Tasche, zog etwas hervor und drückte es ihr in die Hand. Es war ein grauer Stein mit leicht unebener Oberfläche, die an einigen Stellen abgenutzt aussah.
»Ha«, stieß Clary grinsend hervor, während sie den Stein in der Hand drehte. »Du weißt doch: Wenn Mädchen sagen, dass sie sich einen dicken Klunker wünschen, dann meinen sie damit keinen echten Felsbrocken.«
»Sehr amüsant, meine kleine, sarkastische Freundin. Aber das da ist genau genommen kein Felsbrocken. Alle Schattenjäger besitzen einen Elbenlichtstein.«
»Oh.« Sie betrachtete den Stein mit neuem Interesse und schloss die Hand darum – so wie sie es bei Jace im Keller des Vampirhotels beobachtet hatte. Sie war sich nicht ganz sicher, aber sie glaubte, einen winzigen Lichtschein zwischen ihren Fingern hindurchschimmern zu sehen.
»Er wird dir Licht bringen«, erläuterte Jace, »sogar in den tiefsten Schatten dieser und anderer Welten.«
Clary schob den Stein in ihre Hosentasche. »Vielen Dank. Es war sehr nett von dir, mir etwas zu schenken.« Die Spannung zwischen ihnen schien so greifbar wie die schwüle Luft, die sie umgab. »Jedenfalls besser als ein Spaghetti-Bad.«
»Falls du diese kleine persönliche Information mit irgendjemand teilen solltest, werde ich mich genötigt sehen, dich zu töten«, erwiderte er düster.
»Als ich fünf war, wünschte ich mir, dass meine Mutter mich in den Trockner steckte, damit ich mit den Kleidern darin herumwirbeln konnte«, sagte Clary. »Der Unterschied zu deinem Vater ist nur, dass sie mich nicht gelassen hat.«
»Wahrscheinlich, weil das Herumwirbeln im Trockner unschön enden kann«, bemerkte Jace, »während Nudeln nur selten zum Tode führen. Es sei denn, Isabelle bereitet sie zu.«
Die Mitternachtsblume verlor bereits ihre Blütenblätter. Sie schwebten zu Boden, schimmernd wie kleine Scheibchen Sternenlicht. »Und als ich zwölf war, hab ich mir eine Tätowierung gewünscht«, fuhr Clary fort. »Aber auch damit war meine Mutter nicht einverstanden.«
»Die meisten Schattenjäger erhalten mit zwölf ihr erstes Mal. Es muss dir im Blut gelegen haben«, erwiderte er ernst.
»Vielleicht. Allerdings bezweifle ich, dass die meisten Schattenjäger sich ein Tattoo mit Donatello von den Teenage Mutant Ninja Turtles auf der linken Schulter wünschen.«
Jace starrte sie verblüfft an. »Du wolltest dir eine Schildkröte auf die Schulter tätowieren lassen?«
»Ich wollte die Narbe meiner Pockenimpfung kaschieren.« Sie schob den Träger ihres Tops ein wenig zur Seite, sodass das sternförmige weiße Mal auf ihrem Oberarm sichtbar wurde. »Siehst du?«
Rasch schaute er zur Seite. »Es ist schon spät«, murmelte er. »Wir sollten wieder nach unten gehen.«
Verlegen zog Clary den Träger hoch. Als ob er sich für ihre blöde Narbe interessierte.
Doch dann sprudelten die nächsten Worte ohne ihr Dazutun förmlich aus ihr heraus. »Bist du und Isabelle … seid ihr schon mal miteinander gegangen?«
Nun sah er sie direkt an. Das Mondlicht ließ die Farbe seiner Augen blasser erscheinen; sie schimmerten eher silbern als golden. »Isabelle?«, fragte er erstaunt.
»Ich dachte …« Jetzt fühlte sie sich noch unbehaglicher. »Simon wollte das wissen.«
»Vielleicht sollte er sie selbst fragen.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob er das möchte«, erwiderte Clary. »Na ja, ist ja auch egal. Geht mich eh nichts an.«
Er musterte sie amüsiert. »Die Antwort lautet Nein. Natürlich hat es Momente gegeben, in denen einer von uns beiden vielleicht daran gedacht hat. Aber sie ist für mich wie eine Schwester. Es wäre irgendwie merkwürdig.«
»Das heißt also, dass Isabelle und du nie …«
»Nein. Nie«, sagte Jace.
»Sie hasst mich«, meinte Clary.
»Nein, tut sie nicht«, erwiderte er zu ihrer großen Überraschung. »Du machst sie einfach nur nervös, weil sie bisher das einzige Mädchen in einer Gruppe von Jungs war, die sie anhimmelten. Und das hat sich jetzt geändert.«
»Aber sie ist so wunderschön.«
»Das bist du auch«, sagte Jace, »und zwar auf eine ganz andere Art und Weise als sie. Diese Erkenntnis kann sie nicht leugnen. Sie wäre viel lieber klein und zierlich; sie hasst es, dass sie größer ist als die meisten Jungs.«
Clary schwieg, weil sie nicht wusste, was sie darauf antworten sollte. Wunderschön. Er hatte sie wunderschön genannt. Noch nie hatte jemand sie als schön bezeichnet, abgesehen von ihrer Mutter, und das zählte nicht. Mütter waren schließlich dazu verpflichtet, ihre Töchter schön zu finden. Clary sah Jace mit großen Augen an.
»Wir sollten jetzt besser nach unten gehen«, murmelte er erneut. Sie spürte, dass sie ihn mit ihrem unverwandten Blick verunsicherte, konnte aber nicht damit aufhören.
»Okay«, sagte sie schließlich; zu ihrer großen Erleichterung klang ihre Stimme normal. Und sie war noch erleichterter, dass es ihr gelang, den Blick von ihm abzuwenden. Der Mond schien nun direkt von oben auf sie herab und tauchte das gesamte Gewächshaus in fast taghelles Licht. Als sie einen Schritt nach vorne machen wollte, sah sie etwas Weißes auf dem Boden schimmern: Es war das Messer, das Jace zum Schneiden der Äpfel verwendet hatte. Hastig zuckte sie zurück, um nicht daraufzutreten, und stieß mit der Schulter gegen seine Brust. Als sie sich ihm zuwandte, um sich zu entschuldigen, streckte Jace eine Hand aus, um ihr Halt zu geben. Im nächsten Moment lag sie in seinen Armen und er küsste sie.
Erst schien es, als wolle er sie gar nicht küssen: Sein Mund presste sich hart und unnachgiebig auf ihre Lippen. Doch dann zog er sie fest an sich und seine Lippen wurden weicher. Sie konnte sein wild schlagendes Herz spüren, die Süße der Äpfel in seinem Mund schmecken. Behutsam strich sie ihm durch das Haar, so wie sie es seit ihrer ersten Begegnung hatte tun wollen. Seine Locken wickelten sich um ihre Finger, seidig und weich. Ihr Herz raste und in ihren Ohren rauschte es – es klang fast wie Flügelschläge …
Mit einem leisen Fluch löste Jace sich ein wenig von ihr, hielt sie jedoch noch immer fest im Arm. »Krieg jetzt keine Panik, aber wir haben Besuch.«
Clary drehte den Kopf. Nur wenige Meter entfernt hockte Hugo auf einem Ast und beobachtete sie mit schimmernden schwarzen Knopfaugen. Dann war das, was sie für wahnsinnige Leidenschaft gehalten hatte, also tatsächlich das Geräusch von Flügelschlägen gewesen – irgendwie enttäuschend, dachte sie.
»Wenn Hugo hier ist, ist Hodge nicht mehr weit«, sagte Jace leise. »Wir sollten gehen.«
»Spioniert er dir etwa hinterher?«, flüsterte Clary empört. »Hodge, meine ich.«
»Nein. Er kommt nur gern zum Nachdenken hier hoch. Zu schade, wo wir doch gerade eine solch prickelnde Unterhaltung geführt haben.« Er lachte leise.
Vorsichtig stiegen sie dieselben Stufen wieder hinunter, die sie kurz zuvor hinaufgeklettert waren – doch für Clary fühlte es sich vollkommen anders an. Jace hielt ihre Hand in seiner und schickte überall, wo seine Haut sie berührte, winzige elektrische Stöße durch ihre Finger, ihre Handfläche, ihr Handgelenk, ihre Adern. Tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf, aber sie fürchtete sich davor, diese besondere Stimmung zu zerstören, indem sie sie aussprach. Er hatte »zu schade« gesagt, daher nahm sie an, dass der gemeinsame Abend vorbei war – zumindest der Teil, in dem geküsst wurde.
Vor ihrer Zimmertür blieben sie stehen. Clary lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und schaute zu Jace hoch. »Danke für das Geburtstagspicknick«, sagte sie und versuchte, ihre Stimme möglichst neutral klingen zu lassen.
Er schien ihre Hand nicht loslassen zu wollen. »Willst du jetzt schlafen gehen?«
Er ist nur höflich, ermahnte sie sich. Andererseits: Vor ihr stand Jace und der war niemals höflich. Sie beschloss, seine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten: »Bist du denn nicht müde?«
Seine Stimme klang tief und dunkel. »Ich habe mich nie wacher gefühlt.«
Er beugte sich zu ihr hinab. Mit der freien Hand umfasste er behutsam ihr Gesicht und küsste sie. Ihre Lippen berührten einander, erst vorsichtig und leicht, dann drängender und fordernder. Genau in diesem Moment riss Simon die Zimmertür auf und trat auf den Flur hinaus.
Seine Haare waren verwuschelt und er blinzelte, da er seine Brille nicht trug. Doch er sah auch so genug. »Was zum Teufel …?«, rief er so laut, dass Clary sich mit einem Ruck von Jace löste, als habe seine Berührung ihre Haut verbrannt.
»Simon! Was machst du … ich meine … ich dachte, du würdest …«
»Schlafen? Ja, das hab ich auch«, erwiderte er. Seine Wangenknochen schimmerten dunkelrot durch seine leicht gebräunte Haut hindurch – wie jedes Mal, wenn er verlegen oder wütend war. »Aber dann bin ich aufgewacht und du warst nicht da. Daher dachte ich …«
Clary überlegte fieberhaft, was sie sagen sollte. Warum hatte sie nicht daran gedacht, dass so etwas passieren konnte? Warum hatte sie nicht vorgeschlagen, in Jace’ Zimmer zu gehen? Die Antwort war so einfach wie erschreckend: Sie hatte Simon vollkommen vergessen.
»Tut mir leid«, murmelte sie schließlich, wobei sie nicht genau wusste, wen sie eigentlich damit meinte. Aus den Augenwinkeln glaubte sie zu sehen, wie Jace ihr einen zornigen Blick zuwarf; doch als sie ihn anschaute, wirkte er wie immer – lässig, selbstsicher, leicht gelangweilt.
»Um solch ermüdende Situationen zu vermeiden, Clarissa, solltest du in Zukunft vielleicht erwähnen, dass du bereits einen Mann in deinem Bett hast«, sagte er.
»Du hast ihn in dein Bett gebeten?«, rief Simon entsetzt.
»Lächerlich, nicht wahr?«, meinte Jace. »Wir hätten nie und nimmer alle drei hineingepasst.«
»Ich habe ihn nicht in mein Bett gebeten«, fauchte Clary. »Wir haben uns nur geküsst.«
»Nur geküsst?«, spottete Jace mit gespieltem Schmerz in der Stimme. »Oh, wie schnell verleugnest du doch unsere Liebe.«
»Jace …«
Sie sah das maliziöse Leuchten in seinen Augen und verstummte. Es hatte keinen Zweck. Plötzlich wurde ihr das Herz schwer. »Simon, es ist spät«, sagte sie müde. »Tut mir leid, dass wir dich geweckt haben.«
»Und mir erst.« Er marschierte in ihr Zimmer und warf die Tür hinter sich zu.
Jace’ Lächeln war ironisch und unverbindlich. »Na los, geh ihm nach. Tätschle ihm das Köpfchen und sag ihm, dass er noch immer dein allerbester kleiner Freund ist. Oder hattest du das nicht vor?«
»Hör auf damit«, sagte sie. »Hör auf damit, dich so zu benehmen.«
Sein Lächeln wurde noch breiter. »Wie zu benehmen?«
»Wenn du sauer auf mich bist, dann sag es einfach. Tu nicht so, als könnte dich nichts berühren. Es scheint fast, als würdest du nie irgendwas empfinden.«
»Vielleicht hättest du darüber nachdenken sollen, bevor du mich geküsst hast«, erwiderte er.
Ungläubig starrte sie ihn an. »Ich habe dich geküsst?«
Das Funkeln in seinen Augen wurde noch stärker. »Keine Sorge«, meinte er, »für mich war es auch kein besonders denkwürdiger Moment.«
Clary sah ihm nach, wie er den Flur entlangging, und verspürte gleichermaßen den unwiderstehlichen Drang, in Tränen auszubrechen und hinter ihm herzulaufen und ihm einen Tritt vors Schienbein zu verpassen. Doch da sie wusste, dass sowohl die eine wie auch die andere Reaktion ihn mit Genugtuung erfüllen würde, hielt sie sich zurück und ging stattdessen niedergeschlagen in ihr Zimmer.
Simon stand in der Mitte des Raums und wirkte vollkommen verloren. Er hatte seine Brille aufgesetzt. Clary hörte Jace’ gehässige Stimme in ihrem Kopf: Tätschle ihm das Köpfchen und sag ihm, dass er noch immer dein allerbester kleiner Freund ist.
Sie ging auf ihn zu, doch als sie sah, was er in der Hand hielt, blieb sie abrupt stehen. Ihren Skizzenblock – aufgeschlagen auf der Seite mit der Zeichnung, an der sie zuletzt gearbeitet hatte, die Skizze von Jace mit den Engelsschwingen. »Gut getroffen«, höhnte er. »Dann haben sich die ganzen Zeichenstunden ja doch noch gelohnt.«
Normalerweise hatte Clary ihm eine Standpauke gehalten, weil er in ihren Skizzenblock geschaut hatte, doch jetzt war nicht der richtige Moment dafür. »Simon, hör zu …«
»Ich gebe zu, dass es kein besonders eleganter Abgang war, in dein Zimmer zurückzukehren und beleidigt die Tür zuzuknallen«, unterbrach er sie steif und warf den Skizzenblock auf ihr Bett. »Aber ich musste ja schließlich meine Sachen holen …«
»Wo willst du denn jetzt hin?«, fragte sie.
»Nach Hause. Ich denke, ich bin schon viel zu lange hier gewesen. Irdische wie ich gehören nicht an einen Ort wie diesen.«
Sie seufzte. »Hör zu, es tut mir leid, okay? Ich hatte nicht vor, ihn zu küssen; es ist einfach passiert. Ich weiß, dass du ihn nicht magst.«
»Nein«, erwiderte Simon noch förmlicher. »Ich mag keine abgestandene Cola. Ich mag keine dämliche BoygroupPopmusik. Ich mag es nicht, im Stau festzustecken. Ich mag keine Mathehausaufgaben. Aber ich hasse Jace. Erkennst du den Unterschied?«
»Er hat dir das Leben gerettet«, bemerkte Clary, wobei sie sich wie eine Lügnerin vorkam – schließlich war Jace nur ins Hotel Dumort mitgekommen, weil er fürchtete, Ärger zu bekommen, falls ihr irgendetwas zustieß.
»Das sind nur Details«, erwiderte Simon abschätzig. »Er ist ein Arschloch. Ich hätte nicht gedacht, dass du so tief sinken kannst.«
Clary spürte heiße Wut auflodern. »Ach, und jetzt glaubst ausgerechnet du, aufs hohe Ross steigen zu müssen?«, fauchte sie. »Du bist doch derjenige, der die ›Braut mit dem geilsten Body‹ zur Herbstfete einladen wollte.« Sie imitierte Erics träge, schleppende Stimme. Simon presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. »Also was kümmert es dich, wenn Jace sich manchmal wie ein Blödmann benimmt? Du bist weder mein Bruder noch mein Vater – du musst ihn nicht mögen. Ich habe noch keine einzige deiner Freundinnen leiden können, aber ich hatte immer den Anstand, das für mich zu behalten.«
»Das ist was anderes«, stieß Simon zwischen zusammengebissenen Zahnen hervor.
»Ach ja? Und wieso?«
»Weil ich mitbekommen habe, wie du ihn ansiehst!«, rief er wütend. »Und ich habe keines dieser Mädchen je auf diese Weise angesehen! Das war nur ein Zeitvertreib, eine Art Übung, bis …«
»Bis was?« Clary spürte dunkel, dass sie schrecklich zu ihm war. Die ganze Geschichte war schrecklich. Bis zu diesem Moment hatten sie sich höchstens mal darüber gestritten, wer den letzten Schokokuss aus der Schachtel im Baumhaus essen durfte. Doch sie schien einfach nicht aufhören zu können. »Bis du Isabelle kennengelernt hast? Ich kann nicht fassen, dass du mir wegen Jace Vorträge hältst, während du einen kompletten Idioten aus dir gemacht hast, und zwar wegen ihr!« Ihre Stimme überschlug sich nun fast.
»Ich hab versucht, dich eifersüchtig zu machen!«, brüllte Simon zurück. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. »Du bist so blöd, Clary. So blöd! Kapierst du denn gar nichts?«
Verblüfft starrte sie ihn an. Wovon zum Teufel redete er? »Du hast versucht, mich eifersüchtig zu machen? Warum um alles in der Welt?«
Sie erkannte sofort, dass es das Schlimmste war, was sie hätte fragen können.
»Weil«, setzte er so bitter an, dass sie erschrak, »weil ich seit zehn Jahren in dich verliebt bin. Deshalb dachte ich, es wäre an der Zeit herauszufinden, ob du das Gleiche für mich empfindest. Was aber anscheinend nicht der Fall ist.« Genauso gut hätte er ihr einen Tritt in den Magen verpassen können. Clary brachte keinen Ton hervor; die Luft schien aus ihren Lungen gewichen zu sein. Sie starrte ihn an, suchte fieberhaft nach einer Antwort, irgendeiner Antwort.
»Nein. Lass das. Es gibt nichts, was du sagen könntest«, unterbrach er sie rüde, als sie gerade ansetzen wollte.
Wie gelähmt sah sie ihm nach, wie er zur Tür ging. Sie konnte sich nicht dazu bringen, ihn zurückzuhalten – sosehr sie es auch wollte. Aber was hätte sie sagen sollen? Ich liebe dich auch? Nein, denn sie liebte ihn nicht – oder doch?
Simon blieb an der Tür stehen, eine Hand auf dem Türknauf, und drehte sich noch einmal zu ihr um. Seine Augen hinter den Brillengläsern wirkten nun eher müde als wütend. »Willst du wirklich wissen, was meine Mutter sonst noch über dich gesagt hat?«, fragte er.
Clary schüttelte den Kopf.
Er schien es nicht zu bemerken. »Sie meinte, du würdest mir das Herz brechen«, sagte er und ging. Die Tür fiel mit einem deutlichen Klicken hinter ihm ins Schloss und Clary war allein.
Nachdem er weg war, ließ sie sich auf ihr Bett sinken und griff nach ihrem Skizzenblock. Sie drückte ihn gegen die Brust, wollte nicht darin zeichnen, sondern nur den Geruch vertrauter Dinge wahrnehmen – Tinte, Papier, Kreide.
Sie dachte daran, Simon nachzulaufen, ihn einzuholen. Aber was hätte sie ihm sagen sollen? Was konnte sie überhaupt sagen? Du bist so blöd, Clary, hatte er gebrüllt. Kapierst du denn gar nichts?
Sie dachte an Hunderte von Dingen, die er gesagt oder getan hatte, an die Witze, die Eric und die anderen über sie beide gerissen hatten, an die Gespräche, die plötzlich verstummten, wenn sie den Raum betrat. Jace hatte es von Anfang an gewusst. Ich habe über euch gelacht, weil mich Liebesbezeugungen amüsieren, vor allem, wenn die Liebe nicht erwidert wird. Sie hatte sich damals nicht gefragt, was er damit meinte, doch jetzt wusste sie es.
Sie hatte Simon vor wenigen Stunden gesagt, dass sie in ihrem Leben nur drei Menschen geliebt hatte: ihre Mutter, Luke und ihn. Sie fragte sich, ob es wirklich möglich war, innerhalb einer Woche alle Menschen zu verlieren, die man liebte. Sie fragte sich, ob dies zu den Erlebnissen zählte, über die man jemals hinwegkommen konnte. Und dennoch … für einen kurzen Moment mit Jace oben auf dem Dach hatte sie ihre Mutter vergessen. Sie hatte Luke vergessen. Sie hatte Simon vergessen. Und sie war glücklich gewesen. Das war das Schlimmste daran – dass sie glücklich gewesen war.
Vielleicht, dachte sie, vielleicht war der Verlust von Simons Freundschaft ja die Strafe dafür, dass sie so egoistisch gewesen war, einen winzigen Moment lang glücklich zu sein, während ihre Mutter noch immer verschwunden war. Das Ganze war sowieso nicht echt gewesen. Jace mochte zwar fantastisch küssen können, aber er empfand nicht das Geringste für sie. Das hatte er selbst gesagt.
Langsam ließ sie den Skizzenblock sinken. Simon hatte recht gehabt; es war ein gutes Porträt von Jace. Sie hatte die harte Linie seines Mundes gut getroffen, die nicht dazu passenden, verletzlichen Augen. Die Schwingen wirkten so echt, dass sie sich vorstellte, wie weich sie sich anfühlen mussten, wenn sie mit dem Finger darüberstrich. Sie ließ ihre Hand auf das Papier sinken, ihre Gedanken abschweifen …
Und riss ihre Hand ruckartig zurück. Starrte auf das Blatt. Ihre Finger hatten kein trockenes Papier berührt, sondern weiche Federn. Ihr Blick wanderte zu den Runen, die sie gedankenverloren in eine Ecke des Blatts gekritzelt hatte. Sie schimmerten – genau wie die Runen, die Jace mit seiner Stele zeichnete.
Plötzlich begann ihr Herz, schneller zu schlagen, in einem kräftigen, pulsierenden Rhythmus. Wenn eine Rune eine Zeichnung zum Leben erwecken konnte, dann …
Ohne den Blick von der Zeichnung zu wenden, tastete sie nach ihren Stiften. Atemlos schlug sie eine neue, leere Seite auf und zeichnete das Erstbeste, was ihr durch den Kopf ging. Es war der Kaffeebecher, der auf ihrem Nachttisch stand. Dank der Techniken, die sie im Zeichenunterricht gelernt hatte, konnte sie ihn detailliert wiedergeben: den kaffeeverschmierten Rand, den Riss in der Glasur des Henkels. Als sie den Stift nach einer Weile beiseitelegte, hatte sie den Becher so wirklichkeitsgetreu wie möglich gezeichnet. Von einem Instinkt angetrieben, den sie selbst nicht ganz verstand, griff sie nach dem Becher und stellte ihn auf den oberen Rand des Papiers. Und dann begann sie sehr sorgfältig, die Runen neben die Zeichnung zu setzen.
Jace lag auf dem Bett und gab vor zu schlafen, als das Klopfen an der Tür ihm schließlich doch zu viel wurde. Er hievte sich von der Bettdecke und stöhnte auf. Auch wenn er im Gewächshaus so getan hatte, als ginge es ihm glänzend, fühlte er noch immer jeden einzelnen schmerzenden Knochen in seinem Körper.
Schon bevor er die Tür öffnete, wusste er bereits, wer davorstehen würde. Wahrscheinlich hatte Simon es geschafft, sich erneut in eine Ratte verwandeln zu lassen. Aber dieses Mal würde er das verdammt noch mal auch bleiben. Denn er, Jace Wayland, war nicht bereit, auch nur einen Finger für ihn zu rühren.
Clary hielt den Skizzenblock fest an die Brust gedrückt; ein paar Haarsträhnen hatten sich aus ihren leuchtend roten Zöpfen gelöst. Jace lehnte sich gegen den Türrahmen, ignorierte den Adrenalinstoß, der ihm bei ihrem Anblick durch die Adern schoss. Und nicht zum ersten Mal fragte er sich, warum sie diese Wirkung auf ihn hatte. Isabelle setzte ihre Schönheit gezielt ein wie ihre Peitsche, aber Clary wusste nicht einmal, dass sie schön war. Vielleicht war das die Erklärung.
Er konnte sich nur einen Grund für ihr Kommen vorstellen, obwohl das eigentlich keinen Sinn ergab – nach dem, was er zu ihr gesagt hatte. Worte waren wie Waffen; das hatte ihm sein Vater beigebracht, und er hatte Clary verletzen wollen, stärker als je ein Mädchen zuvor. Im Grunde hatte er vor ihr noch nie ein Mädchen verletzen wollen. Normalerweise wollte er sie nur und danach wollte er meist, dass sie möglichst bald wieder verschwanden.
»Lass mich raten«, sagte er, wobei er die Worte auf eine Weise dehnte, von der er wusste, dass Clary sie hasste. »Simon hat sich in einen Ozelot verwandelt und du willst, dass ich was dagegen unternehme, ehe Isabelle aus ihm eine Stola macht. Tja, da wirst du bis morgen warten müssen. Ich bin jetzt nicht im Dienst.« Er zeigte an sich herab; er trug einen blauen Pyjama mit einem Loch im Ärmel. »Siehst du? Schlafanzug.«
Clary schien ihn kaum zu hören. Er erkannte, dass sie irgendetwas krampfhaft umklammerte – ihren Skizzenblock. »Jace«, murmelte sie, »es ist wichtig.«
»Nein, nein, sag nichts«, erwiderte er. »Du hast eine Zeichenkrise und brauchst dringend ein Aktmodell. Tja, leider bin ich nicht in der Stimmung dafür. Aber frag doch mal Hodge«, fügte er hinzu. »Ich hab gehört, er tut alles für ein …«
»Jace!«, brüllte sie ihn mit sich fast überschlagender Stimme an. »Halt mal eine Sekunde die Klappe und hör mir zu!«
Er blinzelte.
Clary holte tief Luft und sah ihn unsicher an. Plötzlich verspürte er einen ungewohnten Impuls – den Drang, sie in die Arme zu nehmen und ihr zu sagen, dass alles gut werden würde. Doch er widerstand diesem Gefühl. Seiner Erfahrung nach wurde nur selten alles wieder gut.
»Jace«, sagte sie so leise, dass er sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen. »Ich glaube, ich weiß, wo meine Mutter den Kelch der Engel versteckt hat. Er befindet sich in einem Gemälde.«
»Was?« Jace starrte sie an, als hätte sie ihm erzählt, einer der Stillen Brüder würde in der Eingangshalle nackt Rad schlagen. »Du meinst, sie hat ihn hinter einem Gemälde versteckt? Sämtliche Bilder in eurer Wohnung waren aus ihren Rahmen gerissen.«
»Ich weiß.« Clary schaute an ihm vorbei in sein Zimmer. Es sah nicht so aus, als wäre sonst noch jemand da, dachte sie erleichtert. »Hör zu, kann ich nicht kurz reinkommen? Ich möchte dir was zeigen.«
Er gab die Tür frei. »Wenn’s unbedingt sein muss.« Sie setzte sich auf sein Bett, das Skizzenbuch auf den Knien. Die Kleidungsstücke, die er am Abend getragen hatte, lagen auf der Bettdecke, doch der Rest des Raums war so sauber aufgeräumt wie eine Mönchszelle. Nicht ein einziges Bild hing an den Wänden, keine Poster, keine Fotos von Verwandten oder Freunden. Das weiße Bettlaken war sauber und ordentlich unter die Matratze geschlagen. Nicht gerade ein typisches Jungenzimmer. »Hier«, sagte sie und blätterte die Seiten um, bis sie die Zeichnung mit dem Kaffeebecher fand. »Sieh dir das mal an.«
Jace schob sein getragenes T-Shirt beiseite und setzte sich neben sie. »Das ist ein Kaffeebecher.«
»Ich weiß, dass das ein Kaffeebecher ist«, erwiderte sie und hörte, wie gereizt sie klang.
»Ich kann es kaum erwarten, dass du mal was wirklich Kompliziertes zeichnest, zum Beispiel die Brooklyn Bridge oder einen Hummer. Wahrscheinlich schickst du mir dann einen Boten, der mir die frohe Nachricht persönlich übermittelt.«
Clary ignorierte ihn. »Sieh mal – das wollte ich dir zeigen.« Sie legte eine Hand auf die Zeichnung und griff dann mit einer raschen Bewegung in das Papier hinein. Als sie ihre Hand eine Sekunde später wieder zurückzog, baumelte der Kaffeebecher an ihren Fingern. Sie hatte sich vorgestellt, dass Jace überrascht vom Bett aufspringen und irgendetwas rufen würde, wie »Donnerlittchen!«. Doch das geschah nicht. Vermutlich weil Jace schon ganz andere Dinge in seinem Leben mitgemacht hatte und weil niemand mehr solche Ausdrücke wie »Donnerlittchen!« verwendete, dachte Clary. Immerhin starrte er sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Hast du das gemacht?«
Sie nickte.
»Wann?«
»Gerade eben, in meinem Zimmer, nachdem … nachdem Simon gegangen ist.«
Er musterte sie scharf, drang aber nicht weiter in sie. »Hast du Runen verwendet? Welche?«
Sie schüttelte den Kopf und nestelte an dem nun leeren Papierblatt herum. »Ich weiß es nicht. Sie sind mir einfach durch den Kopf geschossen und ich hab sie genauso gezeichnet, wie ich sie gesehen habe.«
»Waren das Runen, die du aus dem Grauen Buch kanntest?«
»Keine Ahnung.« Sie schüttelte noch immer den Kopf. »Ich kann es dir beim besten Willen nicht sagen.«
»Und dir hat wirklich niemand gezeigt, wie das geht? Beispielsweise deine Mutter?«
»Nein. Ich hab dir ja schon gesagt, dass meine Mutter mir ständig gepredigt hat, so was wie Magie gäbe es nicht …«
»Ich wette, sie hat es dir beigebracht«, fiel er Clary ins Wort, »und es dich dann anschließend vergessen lassen. Magnus hat ja gesagt, dass deine Erinnerung langsam zurückkommen würde.«
»Könnte sein.«
»Natürlich.« Jace sprang auf und lief unruhig im Zimmer auf und ab. »Wahrscheinlich verstößt es gegen das Gesetz, Runen auf diese Art anzuwenden, solange man noch nicht die entsprechende Genehmigung besitzt. Aber das spielt im Moment keine Rolle. Du glaubst also, deine Mutter hat den Kelch in einem Gemälde versteckt? Auf die gleiche Weise, wie du es gerade mit dem Kaffeebecher gemacht hast?«
Clary nickte. »Ja, aber in keinem der Gemälde, die in der Wohnung hingen.«
»Und wo dann? In einer Galerie? Das Bild könnte sonst wo sein …«
»Nein, kein Bild«, erwiderte Clary, »sondern eine Karte.«
Jace blieb abrupt stehen und drehte sich zu ihr um. »Eine Karte?«
»Erinnerst du dich an das Tarotspiel bei Madame Dorothea? Die Karten, die meine Mutter für sie gemalt hat?«
Er nickte.
»Und weißt du noch, wie ich das Ass der Kelche gezogen habe? Als ich später die Statue des Erzengels sah, kam mir der Kelch irgendwie bekannt vor. Das lag daran, dass ich ihn schon mal gesehen hatte, auf jener Ass-Karte. Meine Mutter hat den Kelch der Engel in Madame Dorotheas Tarotkarten hineingemalt.«
Jace stand jetzt dicht vor ihr. »Weil sie wusste, dass er bei einer Hüterin in Sicherheit war. Außerdem konnte sie ihn auf diese Weise Dorothea geben, ohne ihr zu sagen, worum es sich handelte und wieso sie ihn verstecken musste.«
»Oder dass sie ihn überhaupt verstecken musste. Madame Dorothea geht nie aus und sie würde die Karten niemals aus der Hand geben …«
»Und deine Mutter war von eurer Wohnung aus wunderbar in der Lage, sowohl den Kelch als auch Dorothea im Auge zu behalten.« Jace klang fast beeindruckt. »Kein schlechter Schachzug.«
»Ja, vermutlich.« Clary kämpfte gegen das Zittern in ihrer Stimme an. »Ich wünschte, sie hätte ihn nicht so gut versteckt.«
»Wie meinst du das?«
»Ich meine, wenn die Männer den Kelch gefunden hätten, dann hätten sie sie vielleicht in Ruhe gelassen. Schließlich waren sie nur hinter dem Kelch her …«
»Sie hätten sie so oder so getötet, Clary«, sagte Jace. Sie wusste, dass er recht hatte. »Das sind genau dieselben Männer, die meinen Vater getötet haben. Der einzige Grund dafür, dass deine Mutter vielleicht noch lebt, ist die Tatsache, dass sie den Kelch nicht finden konnten. Sei lieber froh, dass Jocelyn ihn so gut versteckt hat.«
»Ich wüsste nicht, was das alles mit uns zu tun hat«, murrte Alec und blinzelte mit trüben Augen durch seine zerzausten Haare. Jace hatte die restlichen Bewohner des Instituts im Morgengrauen geweckt und in die Bibliothek geschleift, um ihre »Kampftaktik zu besprechen«, wie er es formulierte. Alec hockte noch im Schlafanzug in einem Sessel, Isabelle war in ein rosafarbenes Neglige gehüllt und Hodge trug seinen üblichen Tweedanzug und trank Kaffee aus einem angeschlagenen blauen Keramikbecher. Nur Jace wirkte hellwach und sah sie mit funkelnden Augen an. »Ich dachte, die Suche nach dem Kelch wäre jetzt Aufgabe des Rats«, fuhr Alec fort.
»Es ist vernünftiger, wenn wir das selbst in die Hand nehmen«, erwiderte Jace ungeduldig. »Hodge und ich haben schon alles besprochen und diesen Beschluss gefasst.« »Okay.« Isabelle schob eine mit einem rosa Band umwickelte Haarsträhne hinters Ohr. »Ich bin dabei.«
»Ich nicht«, sagte Alec. »Genau in diesem Moment befinden sich bereits Beauftragte des Rats in der Stadt und suchen nach dem Kelch. Gib ihnen doch die Information; dann können sie ihn holen.«
»So einfach ist das nicht«, meinte Jace.
»Doch, so einfach ist das.« Alec beugte sich vor und runzelte die Stirn. »Das alles hat nichts mit uns zu tun. Hierbei geht es nur um deine … deine Begeisterung für Gefahren.«
Jace schüttelte aufgebracht den Kopf. »Ich verstehe nicht, warum du dich in dieser Sache gegen mich stellst.«
Weil er nicht will, dass dir etwas zustößt, dachte Clary und wunderte sich, dass Jace offenbar nicht in der Lage war zu erkennen, was in Alec vor sich ging. Aber andererseits hatte sie die gleichen Gefühle bei Simon übersehen …
»Hör zu: Dorothea, die Hüterin der Zufluchtsstätte, vertraut dem Rat nicht. Genau genommen hasst sie ihn sogar. Aber uns vertraut sie«, erläuterte Jace.
»Mir vertraut sie«, warf Clary ein. »Keine Ahnung, wie sie zu dir steht. Ich bin mir noch nicht mal sicher, ob sie dich überhaupt mag.«
Jace ignorierte sie. »Komm schon, Alec. Das wird bestimmt lustig. Und denk doch mal an den Ruhm, wenn wir den Kelch der Engel nach Idris zurückbringen! Unsere Namen werden in die Geschichte eingehen…«
»Ich pfeif auf den Ruhm«, erwiderte Alec und heftete seinen Blick fest auf Jace’ Gesicht. »Ich hab keine Lust, irgendeine Riesendummheit zu begehen.«
»In diesem Fall hat Jace allerdings recht«, sagte Hodge. »Wenn die Ratsbeauftragten die Zufluchtsstätte in Dorotheas Wohnung aufsuchen würden, wäre das eine Katastrophe. Dorothea würde mit dem Kelch fliehen und wahrscheinlich auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Nein, Jocelyn wollte ganz eindeutig, dass nur eine Person den Kelch finden kann, und das ist Clary – und sonst niemand.«
»Dann soll sie ihn doch alleine holen«, entgegnete Alec.
Selbst Isabelle schnappte bei diesen Worten nach Luft. Jace, der sich mit den Händen flach auf den Tisch aufgestützt hatte, richtete sich auf und musterte Alec mit einem eisigen Blick. Nur Jace konnte in Pyjamahosen und einem alten T-Shirt dermaßen cool wirken, dachte Clary – und es gelang ihm mühelos. »Wenn du vor ein paar Forsaken Angst hast, dann bleib in Gottesnamen hier«, sagte er sanft.
Alec wurde kreidebleich. »Ich hab keine Angst«, stieß er hervor.
»Gut«, meinte Jace. »Dann wäre das Problem ja gelöst, oder?« Er warf einen Blick in die Runde. »Das heißt, wir gehen alle gemeinsam.«
Alec murmelte ein Ja, während Isabelle eifrig nickte. »Na klar«, rief sie. »Das wird bestimmt ein Riesenspaß.«
»Ich weiß zwar nicht, ob es wirklich spaßig werden wird, aber ich bin selbstverständlich dabei«, sagte Clary.
»Clary, wenn du dir Sorgen wegen der Gefahr machst«, warf Hodge rasch ein, »brauchst du das natürlich nicht auf dich zu nehmen. Wir können immer noch den Rat verständigen …«
»Nein«, erwiderte Clary zu ihrer eigenen Überraschung. »Meine Mutter wollte, dass ich den Kelch finde. Nicht Valentin und auch sonst niemand anderes.« Sie hat sich nicht vor den Monstern versteckt, hatte Magnus gesagt. »Wenn sie wirklich ihr ganzes Leben versucht hat, Valentin von dem Kelch fernzuhalten, ist es das Mindeste, was ich tun kann.«
Hodge lächelte. »Ich glaube, sie wusste, dass du das sagen würdest.«
»Mach dir keine Sorgen«, meinte Isabelle. »Dir wird bestimmt nichts passieren. Wir kommen schon mit ein paar Forsaken klar. Sie mögen zwar verrückt sein, aber sie sind nicht sehr clever.«
»Und wesentlich leichter in Schach zu halten als Dämonen … nicht so durchtrieben«, ergänzte Jace. »Ach ja, wir brauchen noch einen Wagen, vorzugsweise einen großen«, fügte er hinzu.
»Wozu?«, fragte Isabelle. »Bisher haben wir doch auch keinen Wagen benötigt.«
»Bisher mussten wir uns auch noch nie Gedanken darüber machen, einen Gegenstand von unermesslichem Wert zu transportieren. Ich möchte den Kelch jedenfalls nicht in der U-Bahn mit mir herumschleppen«, sagte Jace.
»Wir könnten ein Taxi nehmen«, meinte Isabelle. »Oder einen Transporter mieten.«
Jace schüttelte den Kopf. »Ich will die Begleitumstände selbst bestimmen können. Ich habe keine Lust, mich mit einem muffligen Taxifahrer oder einem Autoverleiher herumzuschlagen, während wir eine so wichtige Aufgabe erledigen.«
»Hast du denn keinen Führerschein oder Wagen?«, wandte Alec sich an Clary und musterte sie mit kaum verhohlener Abneigung. »Ich dachte, alle Irdischen hätten so was.«
»Erst ab sechzehn«, erwiderte Clary verärgert. »Ich sollte in diesem Jahr den Führerschein machen, aber so weit ist es nicht mehr gekommen.«
»Du bist ja ’ne tolle Hilfe.«
»Wenigstens können meine Freunde fahren«, konterte sie. »Simon hat einen Führerschein.«
Augenblicklich bereute Clary ihre Worte.
»Tatsächlich?«, fragte Jace in enervierend nachdenklichem Ton.
»Aber er hat kein Auto«, fügte sie rasch hinzu.
»Dann fährt er also den Wagen seiner Eltern?«, fragte Jace.
Clary seufzte und lehnte sich gegen den Schreibtisch. »Nein. Normalerweise fährt er Erics Bus, wenn die Band zu Auftritten muss. Manchmal leiht Eric ihm den Wagen auch zu anderen Gelegenheiten. Wenn Simon ein Date hat oder so.«
Jace schnaubte. »Er holt seine Verabredung in einem Bus ab? Kein Wunder, dass er so einen Erfolg bei den Damen hat …«
»Der Bus ist schließlich auch ein Auto«, erwiderte Clary. »Du bist doch nur sauer auf Simon, weil er etwas hat, was du nicht hast.«
»Er hat viele Dinge, die ich nicht habe«, sagte Jace. »Kurzsichtigkeit, einen Haltungsfehler und eine beängstigende Koordinationsstörung.«
»Wusstest du eigentlich, dass die meisten Psychologen sich darin einig sind, dass Feindseligkeit in Wirklichkeit eine Form sublimierter sexueller Anziehungskraft ist?«, fragte Clary.
»Ah, das erklärt vielleicht, wieso ich so oft auf Leute stoße, die mich zu hassen scheinen«, erwiderte Jace unbekümmert.
»Ich hasse dich nicht«, warf Alec rasch ein.
»Weil wir eine brüderliche Zuneigung füreinander empfinden«, erklärte Jace und ging zum Schreibtisch. Er nahm den Hörer des schwarzen Telefons ab und hielt ihn Clary hin. »Ruf ihn an.«
»Wen?«, fragte Clary, um Zeit zu schinden. »Eric? Der würde mir nie seinen Wagen leihen.«
»Simon«, entgegnete Jace. »Ruf ihn an und frage ihn, ob er uns zu deinem Haus fahren kann.«
Clary unternahm einen letzten Versuch. »Kennt ihr denn gar keine Schattenjäger mit einem fahrbaren Untersatz?«
»In New York?« Jace’ Lächeln verblasste. »Im Augenblick sind fast alle Schattenjäger wegen des Abkommens in Idris. Außerdem würden sie darauf bestehen, uns zu begleiten. Es läuft also auf Simon oder gar nichts hinaus.«
Einen kurzen Moment lang trafen sich ihre Blicke. In seinen Augen lag etwas Provozierendes und noch etwas anderes … als wollte er sie herausfordern, ihr Zögern zu erklären. Mit einem finsteren Gesicht ging sie um den Schreibtisch herum und riss ihm den Hörer aus der Hand.
Clary musste nicht lange nachdenken: Simons Telefonnummer war ihr fast so vertraut wie ihre eigene. Sie machte sich darauf gefasst, dass seine Mutter oder eine seiner Schwestern abnehmen würde, aber glücklicherweise ging er nach dem zweiten Klingeln selbst an den Apparat. »Hallo?«
»Simon?«
Schweigen.
Jace betrachtete Clary. Sie kniff die Augen zu und versuchte, so zu tun, als sei er nicht da. »Ich bin’s«, murmelte sie. »Clary.«
»Ich weiß, wer dran ist.« Er klang verärgert. »Ich hatte fest geschlafen.«
»Ich weiß, es ist ziemlich früh. Tut mir leid.« Sie wickelte die Telefonschnur um ihren Zeigefinger. »Ich muss dich um einen Gefallen bitten.«
Erneut herrschte am anderen Ende der Leitung Schweigen, bis Simon schließlich ein freudloses Lachen ausstieß. »Das soll wohl ein Witz sein.«
»Nein, mir ist nicht nach Witzen zumute«, erwiderte Clary. »Wir wissen, wo sich der Kelch der Engel befindet, und wir sind entschlossen, ihn zu holen. Das Problem ist nur: Wir brauchen einen Wagen.«
Simon lachte erneut. »Entschuldige mal, willst du mir etwa erzählen, dass deine dämonenschlachtenden Freunde zu ihrem nächsten Rendezvous mit den Mächten der Finsternis kutschiert werden müssen – und zwar von meiner Mutter?«
»Ich hatte eigentlich gedacht, du könntest Eric fragen, ob er dir den Bus leiht.«
»Clary, wenn du glaubst, dass ich …«
»Wenn wir den Kelch der Engel finden, habe ich etwas in der Hand, um meine Mutter zurückzubekommen. Der Kelch ist der einzige Grund dafür, dass Valentin sie noch nicht getötet oder freigelassen hat.«
Simon stieß einen langen, gequälten Seufzer aus. »Glaubst du wirklich, dass du so einfach einen Handel mit ihm vereinbaren kannst, Clary? Ich weiß nicht recht.«
»Ich weiß es auch nicht. Aber ich weiß, dass zumindest eine Chance besteht.«
»Dieser Kelch ist ziemlich mächtig, oder? In ›Dungeons and Dragons‹ empfiehlt es sich normalerweise, nicht mit solch mächtigen Gegenständen herumzuspielen, bis man genau weiß, welche Eigenschaften sie besitzen.«
»Ich habe nicht vor, damit herumzuspielen. Ich will den Kelch nur dazu verwenden, meine Mom zu befreien.«
»Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn, Clary.«
»Das hier ist kein verdammtes Rollenspiel, Simon!«, schrie sie beinahe in den Hörer. »Kein lustiges Spielchen, bei dem das schlimmste Szenario darin besteht, dass du schlecht würfelst. Hier geht es um meine Mutter und darum, dass Valentin sie vielleicht gerade in diesem Moment foltert … oder tötet. Ich muss einfach alles versuchen, um sie zu befreien – genau wie ich es für dich getan habe.«
Pause. »Vielleicht hast du ja recht. Ich weiß auch nicht, aber das ist irgendwie nicht meine Welt. Wo genau soll es denn hingehen? Damit ich Eric Bescheid geben kann.«
»Bring ihn bloß nicht mit«, rief sie rasch.
»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte er mit übertriebener Geduld. »Ich bin ja nicht blöd.«
»Wir wollen zu mir nach Hause. Der Kelch ist bei uns im Haus.«
Sie konnte hören, wie er einen Moment verblüfft schwieg. »Bei euch im Haus? Ich dachte, da liefen Hunderte Zombies rum«, sagte er schließlich.
»Forsaken, keine Zombies. Jace und die anderen werden sich um sie kümmern, während ich den Kelch hole.«
»Warum musst ausgerechnet du den Kelch holen?« Er klang besorgt.
»Weil ich die Einzige bin, die dazu in der Lage ist«, erklärte Clary. »Bitte hol uns so schnell wie möglich ab; wir warten an der Straßenecke auf dich.«
Simon murmelte etwas Unverständliches, bevor er »Okay« sagte.
Clary öffnete die Augen. Die Bibliothek schien hinter einem Schleier von Tränen zu verschwimmen. »Danke, Simon«, sagte sie. »Du bist ein …«
Doch Simon hatte bereits aufgelegt.
»Ich habe den Eindruck, dass das Dilemma des Kräftegleichgewichts erstaunlich beständig ist«, meinte Hodge.
Clary warf ihm einen kurzen Blick zu. »Was meinen Sie denn damit?«
Sie hockte auf der Fensterbank in der Bibliothek, gegenüber von Hodge, der in seinem Sessel saß, mit Hugo auf der Armlehne. Auf einem Stapel schmutziger Teller, für die sich offenbar niemand zuständig fühlte, erkannte man die Reste des Frühstücks – klebrige Marmelade, Toastkrümel und Butterstückchen. Nach dem Frühstück waren alle auf ihre Zimmer gegangen, um sich vorzubereiten, und Clary war als Erste wieder in die Bibliothek zurückgekehrt – was nicht weiter überraschte, weil sie lediglich Jeans und T-Shirt überstreifen und kurz ihre Haare kämmen musste, während die anderen gezwungen waren, sich mit Waffen und Rüstungen auszustatten. Da Clary Jace’ Dolch im Hotel Dumort verloren hatte, besaß sie nur einen einzigen Gegenstand, der ansatzweise »übernatürliche Kräfte« besaß, den Elbenlichtstein in ihrer Tasche.
»Ich musste eben an deinen Simon denken«, meinte Hodge, »und an Alec und Jace.«
Clary schaute aus dem Fenster. Es regnete und dicke, fette Tropfen klatschten gegen die Scheibe. Der Himmel wirkte undurchdringlich und grau. »Was haben Alec und Jace mit Simon zu tun?«
»Überall dort, wo Gefühle nicht erwidert werden, herrscht ein Ungleichgewicht der Kräfte«, erklärte Hodge. »Ein Ungleichgewicht, dass sehr schnell ausgenutzt werden kann – doch das wäre nicht sehr weise. Wo Liebe ist, da ist häufig auch Hass. Beide Gefühle können durchaus nebeneinander existieren.«
»Simon hasst mich nicht.«
»Er könnte aber im Laufe der Zeit Hass gegen dich entwickeln, falls er den Eindruck bekommt, dass du ihn nur ausnutzt.« Hodge hielt abwehrend eine Hand hoch. »Ich weiß, dass das nicht deine Absicht ist, und manchmal kennt Not kein Gebot. Aber diese Situation erinnert mich an andere, vergleichbare Umstände. Hast du noch das Foto, das ich dir gegeben habe?«
Clary schüttelte den Kopf. »Nein, nicht hier. Es liegt in meinem Zimmer. Soll ich es holen?«
»Nein.« Hodge streichelte Hugos rabenschwarze Federn. »Als deine Mutter ein junges Mädchen war, hatte auch sie einen guten Freund – genau wie du Simon. Die beiden standen einander so nahe wie Geschwister; tatsächlich wurden sie häufig für Bruder und Schwester gehalten. Doch als sie heranwuchsen, erkannten sämtliche Freunde um sie herum, dass er sich in sie verliebt hatte. Aber sie bemerkte seine Gefühle nie und bezeichnete ihn in all den Jahren immer nur als ›Freund‹.«
Clary starrte Hodge an. »Meinen Sie etwa Luke?«
»Ja«, sagte Hodge. »Lucian war immer davon ausgegangen, dass er und Jocelyn füreinander bestimmt seien. Und als sie dann Valentin kennen- und lieben lernte, war es für ihn unerträglich. Nach ihrer Hochzeit verließ Lucian den Kreis und verschwand – und ließ uns alle in dem Glauben, er sei gestorben.«
»Das hat er nie erzählt … nie auch nur irgendetwas in der Art angedeutet«, meinte Clary. »In all den Jahren hätte er sie doch fragen können …«
»Er kannte die Antwort bereits«, erwiderte Hodge und blickte hinauf zum regennassen Dachfenster. »Lucian hat noch nie zu der Sorte von Männern gehört, die sich selbst etwas vormachen. Nein, er gab sich damit zufrieden, in ihrer Nähe zu sein – vielleicht in der Hoffnung, dass sich ihre Gefühle im Laufe der Zeit ändern könnten.«
»Aber wenn er sie liebt, warum hat er diesen Männern dann erzählt, dass es ihm egal sei, was mit ihr passiert? Warum hat er sie daran gehindert, ihm zu sagen, wo sie sich befindet?«
»Wie ich schon sagte: Wo Liebe ist, da ist auch Hass«, erklärte Hodge. »Sie hat ihn damals furchtbar verletzt; sie hat ihm den Rücken zugekehrt. Und trotzdem hat er in all diesen Jahren immer das treue Schoßhündchen gespielt, ohne Klagen, ohne Vorwürfe und ohne ihr seine Gefühle zu offenbaren. Vielleicht hat er dies für eine günstige Gelegenheit gehalten, den Spieß umzudrehen – sie so zu verletzen, wie sie ihn verletzt hat.«
»Das würde Luke niemals tun.« Doch Clary erinnerte sich auch an den eisigen Ton in seiner Stimme, als er ihr geraten hatte, ihn nicht mehr anzurufen. Erneut sah sie den harten Ausdruck in seinen Augen, als er mit Valentins Männern gesprochen hatte. Das war nicht der Luke, den sie kannte, mit dem sie aufgewachsen war. Der alte Luke hätte ihre Mutter niemals dafür bestrafen wollen, dass sie ihn nicht ausreichend oder auf die richtige Art und Weise liebte. »Aber sie hat ihn geliebt«, dachte Clary laut, ohne es zu bemerken. »Nur auf eine andere Weise als er sie. Reicht das denn nicht?«
»Vielleicht war er anderer Ansicht.«
»Was passiert eigentlich, wenn wir den Kelch gefunden haben?«, fragte Clary. »Wie nehmen wir Kontakt zu Valentin auf, um ihm mitzuteilen, dass wir ihn haben?«
»Hugo wird ihn zu finden wissen.«
Der Regen klatschte gegen die Scheiben. Clary zitterte. »Ich hol nur schnell meine Jacke«, sagte sie und rutschte von der Fensterbank.
Sie fand ihre grün-rosa Kapuzenjacke auf dem Boden ihres Rucksacks. Als sie sie herauszog, hörte sie etwas knistern. Es war das Foto, auf dem der Kreis, ihre Mutter und Valentin abgelichtet waren. Clary betrachtete die Aufnahme eine Weile und steckte sie dann wieder in ihren Rucksack.
Als sie in die Bibliothek zurückkehrte, hatten die anderen sich bereits um Hodge versammelt, der mit Hugo auf der Schulter an seinem Schreibtisch saß: Jace ganz in Schwarz, Isabelle mit ihren dämonentötenden Stiefeln und der goldenen Peitsche und Alec, der sich einen Köcher mit Pfeilen über die Schulter gehängt hatte und eine lederne Armschiene trug, die seinen rechten Arm vom Handgelenk bis zum Ellbogen schützte. Bis auf Hodge hatten alle frische Male aufgetragen – jeder Zentimeter nackter Haut war mit tintenschwarzen, verschlungenen Mustern versehen. Jace hatte seinen linken Ärmel aufgerollt und versuchte mit gerunzelter Stirn, das Kinn auf die Schulter gedrückt, ein achteckiges Mal in die Haut seines Oberarms zu ritzen.
Alec beobachtete ihn. »Du versaust es noch«, sagte er. »Lass mich mal.«
»Ich bin Linkshänder«, entgegnete Jace, aber seine Stimme klang mild und er gab Alec seine Stele. Alec wirkte erleichtert, als er sie entgegennahm – so als wäre er sich bis zu diesem Moment nicht sicher gewesen, dass Jace ihm sein Verhalten vom Morgen bereits verziehen hatte. »Das ist eine der grundlegenden Iratzen«, erläuterte Jace, während Alec seinen dunklen Schopf über Jace’ Arm beugte und die Linien der Heilrune sorgfältig nachzog. Jace zuckte zusammen, als die Stele über seine Haut glitt; er kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und ballte seine Hand zu einer Faust, bis die Muskeln seines linken Arms wie dicke Taue hervorstanden. »Beim Erzengel, Alec …«
»Ich versuche ja, vorsichtig zu sein«, erwiderte Alec. Er gab Jace’ Arm frei und trat einen Schritt zurück, um sein Werk zu bewundern. »Fertig.«
Jace öffnete die Faust und senkte den Arm. »Danke.« Plötzlich schien er sich Clarys Nähe bewusst zu werden und musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Clary.«
»Du siehst aus, als wärst du bereit«, meinte sie, während Alec errötete, ein Stück von Jace abrückte und beschäftigt mit seinen Pfeilen hantierte.
»Stimmt. Hast du noch den Dolch, den ich dir gegeben habe?«, fragte Jace.
»Nein. Den hab ich doch im Hotel Dumort verloren, weißt du nicht mehr?«
»Ach ja, richtig.« Jace betrachtete sie zufrieden. »Damit hast du beinahe einen Werwolf getötet … ich erinnere mich.«
Isabelle, die am Fenster gestanden hatte, rollte mit den Augen. »Ich hätte fast vergessen, dass genau das zu den Dingen zählt, die dich richtig in Fahrt bringen, Jace: Mädchen, die böse Schattenwesen töten.«
»Ich mag jeden, der böse Schattenwesen tötet«, erwiderte er gleichmütig. »Besonders mich.«
Clary warf einen Blick auf die Uhr auf dem Schreibtisch. »Wir sollten runtergehen. Simon kann jeden Moment hier sein.«
Hodge erhob sich. Er wirkte sehr müde, dachte Clary, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen.
»Möge der Erzengel euch alle beschützen«, sagte er und Hugo stieß sich mit einem lauten Krächzen von seiner Schulter ab, während die Uhr zwölf schlug.
Es regnete noch immer, als Simon den Transporter um die Straßenecke lenkte und zweimal hupte. Clarys Herz machte einen Sprung – tief in ihrem Inneren hatte sie befürchtet, er würde vielleicht nicht auftauchen.
Jace blinzelte durch den Regenvorhang. Die vier hatten sich unter einem steinernen Gesims untergestellt. »Das soll der Bus sein? Der sieht aus wie eine vergammelte Banane.«
Das ließ sich schwer leugnen: Eric hatte den Wagen neongelb lackiert und inzwischen war er mit Beulen und dunklen Rostflecken übersät. Simon hupte wieder. Clary konnte seine verschwommene Gestalt durch die nassen Scheiben erkennen. Sie seufzte und zog die Kapuze über den Kopf. »Also dann mal los.«
Sie stapften durch die schmutzigen Regenpfützen, die sich auf dem Bürgersteig gebildet hatten, wobei Isabelles riesige Stiefel bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch machten. Simon ließ den Motor im Leerlauf laufen und kletterte nach hinten. Als er die Schiebetür an der Seite öffnete, kamen die Sitzbänke zum Vorschein, deren Polster ziemlich verschlissen waren. Bedrohlich spitze Sprungfedern bohrten sich durch die Löcher. Isabelle rümpfte die Nase. »Kann man sich da gefahrlos draufsetzen?«
»Das ist jedenfalls gefahrloser, als aufs Dach geschnallt zu werden, was deine Alternative wäre«, erwiderte Simon zuckersüß. Er ignorierte Clary und nickte Jace und Alec zu. »Hi.«
»Hi«, erwiderte Jace und hob die schwere Segeltasche hoch, in der sich ihre Waffen befanden. »Wo kann ich die verstauen?«
Simon deutete auf das Heck des Transporters, wo die Jungs normalerweise ihre Instrumente unterbrachten, während Alec und Isabelle einstiegen und sich auf die hintere Sitzbank hockten. »Erster vorne!«, rief Clary, als Jace die Tasche verstaut hatte und wieder an der Schiebetür vorbeikam.
Clary hatte so laut gerufen, dass Alec erschrocken zu seinem Bogen griff. »Was? Wer?«
»Sie meint, dass sie auf dem Beifahrersitz sitzen möchte«, erklärte Jace und schob sich eine feuchte Locke aus den Augen.
»Kein schlechter Bogen«, bemerkte Simon und nickte Alec mit dem Kopf zu.
Alec blinzelte. Regentropfen glitzerten auf seinen Wimpern. »Hast du Ahnung vom Bogenschießen?«, fragte er in einem Ton, der seine Zweifel kaum verbarg.
»Ich hatte im Ferienlager Kurse im Bogenschießen«, erwiderte Simon. »Und zwar sechs Jahre hintereinander.«
Drei seiner Fahrgäste starrten ihn ratlos an, während Clary Simon ein aufmunterndes Lächeln schenkte, das er jedoch ignorierte. Er blickte zu den tief hängenden Wolken hoch. »Wir sollten los, ehe es wieder zu gießen anfängt.«
Die vordere Sitzbank war mit leeren Chipstüten und Plätzchenresten übersät. Clary versuchte, die Krümel wegzufegen. Doch Simon legte den Gang ein und fuhr los, ehe sie fertig war, wodurch sie in ihren Sitz geschleudert wurde. »Au«, stieß sie missbilligend hervor.
»’tschuldigung«, murmelte er, schaute sie aber nicht an.
Clary hörte, wie die anderen sich auf der Rückbank leise unterhielten – vermutlich über Kampfstrategien und wie man einen Dämon enthauptet, ohne dabei Blut oder giftige Sekrete auf die neuen Lederstiefel zu spritzen. Obwohl der vordere Bereich des Transporters durch keine Glasscheibe vom Fond getrennt war, spürte Clary die unangenehme Stille zwischen ihr und Simon so deutlich, als wären sie allein im Wagen.
»Was hat es eigentlich mit dieser ›Hi‹-Geschichte auf sich?«, fragte sie, während Simon den Transporter auf den FDR Parkway steuerte, den Highway, der sich entlang des East River erstreckte.
»Was für eine ›Hi‹-Geschichte?«, erwiderte er und überholte haarscharf einen schwarzen Geländewagen, dessen Fahrer – ein elegant gekleideter Mann mit Mobiltelefon am Ohr – hinter den getönten Scheiben eine obszöne Geste machte.
»Na ja, dieses ›Hi‹, mit dem Jungs sich immer begrüßen. Als du eben Jace und Alec gesehen hast, hast du ›Hi‹ gesagt und sie haben dir das Gleiche geantwortet. Was ist verkehrt an ›Hallo‹?«
Clary glaubte, einen Muskel in seiner Wange zucken zu sehen. »›Hallo‹ ist mädchenhaft«, erklärte er. »Echte Männer sind kurz angebunden. Wortkarg.«
»Also je männlicher ein Mann ist, desto weniger sagt er?«
»Genau.« Simon nickte. Durch das Fenster auf seiner Seite konnte Clary den feuchten Nebel erkennen, der über dem East River lag und das Hafenviertel in einen grauen Schleier hüllte. Die Fluten schimmerten in der Farbe von dunklem Blei und besaßen weiße Schaumkronen. »Das ist auch der Grund, warum die ganz harten Typen in Filmen sich gegenseitig nicht begrüßen, sondern einander nur zunicken. Das Nicken bedeutet: ›Ich bin ein knallharter Typ und ich sehe, dass du auch einer bist.‹ Aber sie sagen nichts, weil sie Wolverine und Magneto sind und weil es ihren Auftritt versauen würde.«
»Ich hab keine Ahnung, wovon ihr redet«, rief Jace von der Rückbank.
»Gut«, sagte Clary und erhielt von Simon dafür den Hauch eines Lächelns, während er den Wagen über die Manhattan Bridge steuerte, in Richtung Brooklyn und Clarys Zuhause.
Als sie vor Clarys Haus eintrafen, hatte der Regen endlich aufgehört. Im Schein der Sonnenstrahlen lösten sich die letzten Nebelschwaden auf und die Pfützen auf dem Bürgersteig trockneten. Jace, Alec und Isabelle ließen Simon und Clary beim Transporter zurück, um die Umgebung nach – wie Jace sich ausdrückte – »Anzeichen für dämonische Aktivität« zu überprüfen.
Simon sah den drei Schattenjägern nach, die den von Rosenbüschen gesäumten Weg zum Haus entlanggingen. »Anzeichen für dämonische Aktivität? Haben die etwa ein Gerät, mit dem sich messen lässt, ob die Dämonen im Haus Power-Yoga betreiben?«
»Nein«, sagte Clary und schob ihre feuchte Kapuze so weit zurück, dass sie die Wärme des Sonnenlichts auf ihrem Haar spüren konnte. »Der Sensor zeigt ihnen, wie mächtig die Dämonen sind – falls überhaupt welche da sind.«
Simon sah beeindruckt aus. »Das ist mal wirklich praktisch.«
Sie wandte sich ihm zu. »Simon, wegen gestern Nacht …«
Er hob eine Hand. »Wir brauchen nicht darüber zu reden. Ehrlich gesagt wär mir das sogar lieber.«
»Dann lass mich dir nur eins sagen«, meinte sie schnell. »Als du sagtest, dass du mich liebst, habe ich dir nicht die Antwort gegeben, die du hören wolltest. Das weiß ich.«
»Stimmt. Ich hatte immer gehofft, wenn ich eines Tages ›Ich liebe dich‹ zu einem Mädchen sage, würde sie mit ›Ich weiß‹ antworten, so wie Prinzessin Leia zu Han Solo in Rückkehr der Jedi-Ritter.«
»Das ist so kitschig«, konnte Clary sich einfach nicht verkneifen.
Er starrte sie wütend an.
»Tut mir leid«, murmelte sie. »Schau mal, Simon, ich …«
»Nein«, unterbrach er sie. »Schau du mal, Clary. Schau mich an und versuche, mich wirklich zu sehen. Kriegst du das hin?«
Sie sah ihn an. Betrachtete seine dunklen Augen, die zum äußeren Rand der Iris hin heller wurden, die vertrauten, etwas ungleichen Augenbrauen, die langen Wimpern, das dunkle Haar, das zögernde Lächeln und die feingliedrigen, musikalischen Hände, die so zu Simon gehörten, wie er zu ihr gehörte. Hatte sie tatsächlich nicht gewusst, dass er sie liebte? Oder hatte sie einfach nicht gewusst, was sie hätte antworten sollen, wenn er ihr seine Liebe gestand?
Sie seufzte. »Zauberglanz lässt sich leicht durchschauen. Das kann man von Leuten nicht gerade behaupten.«
»Wir alle sehen, was wir sehen wollen«, sagte er leise.
»Jace nicht«, erwiderte sie unwillkürlich und musste an seinen klaren, unbestechlichen Blick denken.
»Für den gilt das mehr als für jeden anderen.«
Sie runzelte die Stirn. »Was willst du …«
»Alles okay«, unterbrach Jace’ Stimme ihren Satz. Clary drehte sich hastig um. »Wir haben uns das ganze Haus angesehen – nichts. Niedrige Aktivität. Wahrscheinlich nur die Forsaken und selbst die dürften uns in Ruhe lassen, solange wir nicht versuchen, die obere Wohnung zu betreten.«
»Und wenn sie uns doch nicht in Ruhe lassen sollten«, sagte Isabelle mit einem Grinsen, so gefährlich wie ihre Peitsche, »werden wir ihnen einen höllischen Empfang bereiten.«
Alec zerrte die schwere Segeltasche von der Ladefläche des Transporters und ließ sie auf den Bürgersteig fallen. »Alles klar«, verkündete er. »Lasst uns ein paar Dämonen fertigmachen!«
Jace schaute ihn ein wenig irritiert an. »Alles okay mit dir?«
»Bestens.« Ohne Jace’ Blick zu erwidern, legte Alec Bogen und Pfeile beiseite und griff nach einem Stab aus poliertem Holz, aus dem auf einen leichten Druck seiner Finger zwei funkelnde Klingen hervorschossen. »Der ist besser.«
Isabelle warf ihrem Bruder einen besorgten Blick zu. »Aber der Bogen …«
»Ich weiß, was ich tue, Isabelle«, schnitt Alec ihr das Wort ab.
Der Bogen lag auf dem Rücksitz, glänzte im Sonnenlicht. Simon griff danach, zog jedoch sofort seine Hand weg, als eine Gruppe junger Frauen mit Kinderwagen vorbeikam und lachend in Richtung des Parks ging. Sie schienen die drei schwer bewaffneten Teenager neben dem gelben Transporter überhaupt nicht zu bemerken. »Wieso kann ich euch alle sehen?«, fragte Simon. »Was ist mit eurem Unsichtbarkeitszauber passiert?«
»Du kannst uns sehen«, antwortete Jace, »weil du nun die Wahrheit dessen kennst, was du ansiehst.«
»Stimmt«, sagte Simon. »Ich schätze, das tue ich.«
Er sträubte sich ein wenig, als sie ihn aufforderten, beim Bus zu bleiben, aber Jace überzeugte ihn schließlich mit der Bemerkung, wie wichtig ein Fluchtfahrzeug sei, das abfahrbereit vor dem Haus auf sie wartete. »Sonnenlicht kann für Dämonen tödlich sein, macht aber den Forsaken nichts aus. Was ist, wenn sie uns jagen? Und was passiert, wenn man unser Auto dann abgeschleppt hat?«
Das Letzte, was Clary von Simon sah, als sie sich auf der Veranda noch einmal umdrehte, um ihm zuzuwinken, waren seine langen Beine – sie lagen auf dem Armaturenbrett, während er in aller Ruhe Erics CD-Sammlung durchsah. Sie seufzte erleichtert; wenigstens war Simon in Sicherheit.
Als sie das Haus betraten, traf der Gestank sie wie ein Schlag. Er war kaum zu beschreiben, wie eine Mischung aus verfaulten Eiern, madigem Fleisch und Algen, die an einem warmen Strand verrotten.
Isabelle rümpfte angeekelt die Nase und Alec wurde grün im Gesicht, doch Jace sah so aus, als schnupperte er ein kostbares Parfüm. »Hier sind Dämonen gewesen«, verkündete er mit einem kalten Funkeln in den Augen. »Und zwar vor kurzer Zeit.«
Clary schaute ihn ängstlich an. »Aber sie sind nicht mehr da, oder?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Der Sensor hätte es angezeigt. Trotzdem ist Vorsicht geboten.« Er deutete mit dem Kinn in Richtung von Madame Dorotheas Wohnungstür, die so sorgfältig verschlossen war, dass kein Lichtschimmer durch den Türspalt drang. »Sie dürfte einige unangenehme Fragen zu beantworten haben, wenn der Rat erfährt, dass sie Dämonen Unterschlupf gewährt hat.«
»Der Rat wird von der ganzen Aktion ohnehin nicht sehr erfreut sein«, meinte Isabelle. »Gut möglich, dass sie am Ende sogar weniger Ärger kriegt als wir.«
»Das alles wird den Rat nicht weiter interessieren, wenn wir ihm den Kelch zurückbringen.« Alec schaute sich um; seine blauen Augen streiften prüfend über das imposante Treppenhaus, die gewundene Treppe hinauf ins Obergeschoss, die Flecken an den Wänden. »Und wenn wir dabei auch gleich noch ein paar Forsaken töten.«
Jace schüttelte den Kopf. »Die sind in der oberen Wohnung. Ich schätze, dass sie uns in Ruhe lassen, solange wir nicht versuchen, da oben einen Fuß durch die Tür zu setzen.«
Isabelle blies sich eine klebrige Haarsträhne aus dem Gesicht und warf Clary einen düsteren Blick zu. »Worauf wartest du noch?«
Clary schaute unwillkürlich Jace an, der ihr kurz zulächelte. Nur keine Angst, sagten seine Augen.
Mit leisen, vorsichtigen Schritten ging sie durch das Treppenhaus auf Madame Dorotheas Wohnungstür zu. Durch das verschmutzte Oberlicht drang kein Licht, und da auch die Birne im Treppenhaus noch nicht ausgewechselt worden war, leuchtete nur Jace’ Elbenlicht ihr den Weg. Die Luft war warm und stickig und vor ihr schienen die Schatten an den Wänden emporzuwuchern wie Nachtschattengewächse in einem Zauberwald. Sie hob die Hand und klopfte an – zunächst zögernd und leise und dann noch einmal und mit mehr Kraft. Als die Tür aufschwang, ergoss sich eine Woge von goldenem Licht ins Treppenhaus. Vor ihr stand Madame Dorothea, wuchtig und imposant in grünen und orangefarbenen Gewändern. Dieses Mal trug sie einen leuchtend gelben Turban, bestickt mit Zackenlitze, auf dem ein ausgestopfter Kanarienvogel thronte. Lüsterförmige Ohrringe baumelten zu beiden Seiten ihres Gesichts herab und ihre großen Füße waren nackt. Das überraschte Clary – sie hatte Madame Dorothea zuvor noch nie barfuß gesehen oder mit anderem Schuhwerk als ihren ausgeblichenen Pantoffeln.
Ihre Zehennägel waren in einem hellen, überraschend geschmackvollen Muschelrosa lackiert.
»Clary!«, rief sie und zog Clary in einer alles überwältigenden Umarmung an sich. Einen Augenblick kämpfte Clary dagegen an, weil sie in der Fülle von parfümiertem Fleisch, Samtgewändern und den Quasten von Madame Dorotheas Schal zu ersticken drohte. »Liebe Güte, Mädchen«, sagte die Hexe und schüttelte den Kopf, wobei ihre Ohrringe hin und her flogen wie Windspiele in einem Sturm. »Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, bist du durch mein Portal verschwunden. Wo seid ihr damals gelandet?«
»In Williamsburg«, antwortete Clary, deren Atmung sich langsam wieder beruhigte.
Madame Dorothea zog die Augenbrauen hoch. »Und da sage noch einer, es gäbe keine brauchbaren öffentlichen Verkehrsmittel in Brooklyn.« Damit öffnete sie die Tür ganz und winkte auch die anderen herein.
Madame Dorotheas Wohnung schien sich seit Clarys letztem Besuch nicht verändert zu haben: Die Kristallkugel stand noch an ihrem Platz und auch die Tarotkarten lagen auf dem Tisch. Es juckte Clary in den Fingern, sie sich einfach zu greifen und nachzusehen, was unter ihren so sorgsam bemalten Oberflächen verborgen lag.
Madame Dorothea ließ sich seufzend in einen Sessel sinken und studierte die Schattenjäger mit einem Blick, der so glänzend und leblos wirkte wie die Perlenaugen des ausgestopften Vogels auf ihrem Turban. Duftkerzen brannten in kleinen Schalen auf beiden Seiten des Tisches, doch sie konnten den überwältigenden Gestank, der jeden Zentimeter des Hauses zu durchdringen schien, nicht vertreiben. »Ich nehme einmal an, dass du deine Mutter noch nicht gefunden hast?«, fragte sie.
Clary schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich weiß, wer sie entführt hat.«
Madame Dorotheas Augen zuckten von Clary zu Alec und Isabelle hinüber, die das Plakat mit der Erläuterung der Handlinien betrachteten. Jace, der seine Rolle als Bodyguard äußerst sorglos aufzufassen schien, lehnte lässig an einem Sessel. Offensichtlich beruhigt, dass keine ihrer Besitztümer zerstört wurden, richtete Madame Dorothea ihren Blick wieder auf Clary. »Und wer war es?«
»Valentin«, sagte Clary.
Madame Dorothea seufzte. »So etwas hatte ich befürchtet.« Sie ließ sich wieder in die Kissen zurückfallen. »Weißt du, was er mit ihr vorhat?«
»Ich weiß, dass sie mit ihm verheiratet war …«
»Enttäuschte Liebe«, brummte die Hexe. »Es gibt nichts Schlimmeres.«
Von Jace kam ein leises, fast unhörbares Geräusch – ein Lachen. Madame Dorothea spitzte die Ohren wie eine Katze. »Was ist daran so komisch, mein Junge?«
»Was verstehen Sie schon davon?«, fragte er. »Von Liebe, meine ich.«
Sanft faltete Madame Dorothea ihre weichen blassen Hände im Schoß. »Mehr, als du ahnst«, erwiderte sie. »Ich habe dir doch deine Teeblätter gelesen, Schattenjäger. Hast du dich schon in die falsche Person verliebt?«
»Unglücklicherweise, Hüterin der Zuflucht«, sagte Jace, »gilt meine einzige und wahre Liebe nur mir selbst.«
Madame Dorothea brüllte vor Lachen. »Dann musst du dir zumindest keine Sorgen machen, zurückgewiesen zu werden, Jace Wayland.«
»Nicht unbedingt. Ab und zu gebe ich mir selbst einen Korb, um das Ganze interessanter zu machen.«
Madame Dorothea begann, erneut zu lachen, doch Clary unterbrach sie. »Sicher fragen Sie sich, warum wir hier sind, Madame Dorothea.«
Das Lachen der Hexe ebbte ab und sie wischte sich die Tranen aus den Augen. »Bitte«, sagte sie, »tu dir keinen Zwang an und sprich mich ruhig mit meinem richtigen Titel an, so wie dein Freund. Du darfst mich Hüterin nennen. Bisher hatte ich angenommen«, fuhr sie fort, »dass du mir einen kleinen Höflichkeitsbesuch abstatten wolltest. Habe ich mich da etwa geirrt?«
»Ich habe leider nicht die Zeit für Höflichkeitsbesuche. Ich muss meiner Mutter helfen und dafür brauche ich etwas ganz Bestimmtes.«
»Und worum handelt es sich dabei?«
»Um etwas, das man den Kelch der Engel nennt«, sagte Clary, »und von dem Valentin annimmt, dass meine Mutter ihn versteckt hat. Darum hat er sie auch entführt.«
Madame Dorothea wirkte jetzt vollkommen verblüfft. »Der Engelskelch?«, fragte sie ungläubig. »Der Kelch des Raziel, in dem dieser das Blut der Engel mit dem Blut der Menschen mischte, diese Mixtur einem Mann zu trinken gab und so den ersten Schattenjäger erschuf?«
»Genau um den geht’s«, meinte Jace trocken.
»Warum in aller Welt sollte Valentin glauben, dass sie ihn hat?«, fragte Madame Dorothea. »Ausgerechnet Jocelyn?« Noch ehe Clary antworten konnte, schien ihr eine Erkenntnis zu dämmern. »Natürlich – weil sie gar nicht Jocelyn Fray war«, fuhr sie fort. »Sondern Jocelyn Fairchild, seine Frau. Die Frau, die alle für tot gehalten haben. Sie nahm sich den Kelch und floh, richtig?«
Irgendetwas schien in den Augen der Hexe aufzuflackern, doch sie senkte ihre Lider so schnell, dass Clary glaubte, sich das Ganze nur eingebildet zu haben. »Und«, fragte Madame Dorothea, »weißt du, wie du weiter vorgehen willst? Wo immer sie den Kelch auch versteckt hat, er dürfte nicht leicht zu finden sein … falls du ihn überhaupt finden willst. Schließlich könnte Valentin schreckliche Dinge tun, wenn er den Kelch in die Hände bekommt.«
»Ich muss ihn finden«, sagte Clary. »Wir wollen …«
»Wir wissen, wo er ist«, schnitt Jace ihr schnell das Wort ab. »Nun geht es nur noch darum, ihn zurückzuholen.«
Madame Dorotheas Augen weiteten sich. »Und, wo steckt er?«
»Hier«, erwiderte Jace in einem so selbstgefälligen Ton, dass Isabelle und Alec ihre sorgfältige Durchsicht des Bücherregals unterbrachen und zu ihnen hinüberkamen.
»Hier? Willst du damit sagen, dass du ihn bei dir trägst?«
»Nicht ganz, edle Hüterin«, antwortete Jace, der die Situation auf fast schon abstoßende Art zu genießen schien. »Ich will damit sagen, dass Sie ihn haben.«
Madame Dorothea fiel der Mund zu. »Das ist nicht komisch«, sagte sie so spitz, dass Clary sich besorgt fragte, ob hier nicht irgendetwas furchtbar falsch lief. Warum musste Jace immer alles und jeden vor den Kopf stoßen?
»Sie haben ihn tatsächlich«, unterbrach Clary hastig, »aber nicht …«
Madame Dorothea erhob sich aus ihrem Sessel zu ihrer vollen, beeindruckenden Größe und schaute sie finster an. »Du machst einen großen Fehler«, sagte sie eisig. »Sowohl mit der Behauptung, dass ich den Kelch haben könnte, als auch mit der Dreistigkeit, mit der du mich eine Lügnerin nennst.«
Alecs Hand fuhr zu seinem Klingenstab. »Oh Mann«, murmelte er gepresst.
Verwirrt schüttelte Clary den Kopf. »Nein«, erwiderte sie schnell, »ich würde Sie nie eine Lügnerin nennen, ganz bestimmt nicht. Ich will damit nur sagen, dass der Kelch hier ist, aber ohne dass Sie davon wussten.«
Madame Dorothea starrte sie an. Ihre Augen, tief in den Falten ihres Gesichts verborgen, wirkten jetzt wie zwei harte Murmeln. »Das musst du mir erklären«, sagte sie.
»Meine Mutter muss den Kelch hier versteckt haben«, erläuterte Clary. »Und zwar schon vor Jahren. Sie hat es Ihnen nur nie erzählt, weil sie Sie nicht mit hineinziehen wollte.«
»Also gab sie Ihnen den Kelch«, ergänzte Jace, »getarnt in Form eines Geschenks.«
Madame Dorothea schaute ihn verständnislos an.
Erinnert sie sich denn nicht mehr?, dachte Clary verblüfft. »Das Tarotspiel«, sagte sie. »Die Karten, die sie für Sie gemalt hat.«
Der Blick der Hexe wanderte zu dem Kartenstapel, der in Seidenbänder eingeschlagen auf dem Tisch lag. »Die Karten?« Ihre Augen weiteten sich noch mehr, als Clary an den Tisch trat und den Stapel an sich nahm. In ihren Händen fühlten sich die Karten warm an, fast schon rutschig. Und zum ersten Mal spürte sie auch, wie die Kraft der Runen, die auf den Kartenrücken aufgemalt waren, durch ihre Fingerspitzen strömte. Sie fand das Ass der Kelche allein durch die Berührung ihrer Finger und zog es aus dem Stapel heraus. Die übrigen Karten legte sie wieder auf den Tisch.
»Hier ist er«, sagte sie.
Alle im Raum sahen sie an, erwartungsvoll, völlig regungslos. Langsam drehte sie die Karte um und betrachtete die künstlerische Arbeit ihrer Mutter: die schlanke gemalte Hand, deren Finger den goldenen Stiel des Engelskelchs hielten.
»Jace«, sagte Clary, »gib mir deine Stele.«
Er legte sie in ihre Hand, warm und beinahe lebendig. Sie drehte die Karte um und fuhr mit der Stele über die Runen, die auf ihrem Rücken aufgemalt waren – ein Schnörkel hier, eine Linie dort, und plötzlich bedeuteten sie etwas völlig anderes. Als Clary die Karte erneut umdrehte, hatte das Bild sich kaum merklich verändert: Die Finger hatten ihren Griff vom Stiel des Kelchs gelöst und schienen ihr den Kelch förmlich anzubieten, als ob sie sagen wollten: Hier, nimm ihn.
Sie ließ die Stele in ihre Tasche gleiten. Dann schob sie die Hand durch das kleine bemalte Rechteck der Karte, so mühelos, als handelte es sich um ein breites Fenster. Ihre Hand erfasste den Stiel des Kelchs und sie schloss ihre Finger darum. Als sie ihre Hand wieder zurückzog, den Kelch fest im Griff, war es ihr, als hörte sie einen winzigen Seufzer. Dann zerfiel die Karte, hohl und leer, zu Asche, die zwischen ihren Fingern auf den Teppich rieselte.
Clary war sich nicht sicher, was sie erwartet hatte – Freudenschreie vielleicht oder zumindest ein wenig Applaus. Stattdessen herrschte absolutes Schweigen, das erst gebrochen wurde, als Jace sagte: »Irgendwie hatte ich angenommen, er wäre eindrucksvoller.«
Clary schaute auf den Kelch in ihrer Hand. Er wirkte kaum größer als ein ganz gewöhnliches Weinglas, war aber viel schwerer. Sie konnte spüren, dass eine Kraft in ihm pulsierte wie Blut, das durch Adern strömt. »Er ist absolut perfekt«, erwiderte sie entrüstet.
»Ja, ja, er ist schon ganz okay«, meinte Jace gönnerhaft, »aber irgendwie hatte ich gedacht, er würde … du weißt schon.« Mit den Händen beschrieb er eine Form von der Größe einer Hauskatze.
»Es ist der Kelch der Engel, nicht die Toilettenschüssel der Engel«, sagte Isabelle. »Sind wir hier fertig? Dann lasst uns abhauen.«
Madame Dorothea hatte den Kopf auf die Seite gelegt; ihre kleinen Augen glänzten fasziniert. »Er ist ja beschädigt!«, rief sie. »Wie konnte das passieren?«
»Beschädigt?« Verblüfft schaute Clary den Kelch an. Ihres Erachtens war er völlig in Ordnung.
»Hier«, sagte die Hexe, »ich zeige es dir.« Sie machte einen Schritt auf Clary zu und streckte ihre langen Finger mit den rot lackierten Nägeln nach dem Kelch aus. Unwillkürlich wich Clary zurück. Plötzlich stand Jace zwischen ihnen, die Hand am Griff seines Schwerts.
»Nichts für ungut«, sagte er ruhig, »aber außer uns fasst niemand den Kelch an.«
Dorothea schaute ihn einen Moment lang an und wieder wirkten ihre Augen seltsam leer. »Nur nichts überstürzen«,
erwiderte sie. »Es würde Valentin gar nicht gefallen, wenn dem Kelch etwas zustieße.«
Mit einem leisen Sirren zuckte Jace’ Schwert in die Höhe, bis seine Spitze genau unter Dorotheas Kinn schwebte. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte Jace mit festem Blick.
»Aber wir werden jetzt gehen.«
Die Augen der alten Frau schimmerten. »Natürlich, Schattenjäger«, murmelte sie und wich in Richtung der Wand mit den Vorhängen zurück. »Möchtet ihr vielleicht das Portal benutzen?«
Die Spitze von Jace’ Schwert schwankte leicht hin und her und verriet seine Verblüffung. Dann bemerkte Clary, wie sich seine Kiefer anspannten. »Nicht anfassen …«
Mit einem leisen Lachen riss Madame Dorothea blitzschnell die Vorhänge von der Wand. Sie fielen fast lautlos zu Boden.
Das Portal, das sie verdeckt hatten, war offen.
Clary hörte, wie Alec hinter ihr überrascht die Luft einsog.
»Was ist das?« Clary konnte nur einen kurzen Blick auf das werfen, was hinter der Tür lag – blutrote, dichte Wolken, aus denen schwarze Blitze zuckten, und eine grauenerregende dunkle Gestalt, die auf sie zustürmte –, als Jace auch schon brüllte: »Alle runter!« Damit ließ er sich auf den Boden fallen und riss Clary mit sich. Mit dem Bauch auf dem Teppich liegend, hob sie gerade rechtzeitig den Kopf, um mitzuerleben, wie das heranbrausende dunkle Etwas gegen Madame Dorothea prallte, die aufschrie und die Arme in die Höhe warf. Doch anstatt sie umzureißen, umhüllte das dunkle Ding die alte Hexe wie eine Wolke und durchdrang ihren Körper wie Tinte einen Bogen Löschpapier. Aus ihrem Rücken wuchs ein gigantischer Buckel und ihre ganze Gestalt wurde länger und länger, dehnte und reckte und verformte sich. Ein lautes Rasseln wie von fallenden Gegenständen ließ Clary zu Boden schauen: Dort lagen Dorotheas Armreifen, verbogen und zerbrochen. Dazwischen verstreut erblickte sie etwas, das an kleine weiße Steinchen erinnerte. Clary brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es sich in Wahrheit um Zähne handelte.
Neben ihr flüsterte Jace irgendetwas; es klang wie ein Ausruf des Unglaubens. Direkt neben ihm meinte Alec gepresst:
»Aber du hattest doch gesagt, es gäbe kaum Anzeichen für dämonische Aktivität – angeblich waren die Spuren doch gering!«
»Waren sie auch«, knurrte Jace.
»Du musst unter gering etwas anderes verstehen als ich!«, rief Alec, während das Wesen, das einmal Madame Dorothea gewesen war, sich hin und her wand und aufheulte. Es schien immer weiter zu wachsen, bucklig und krumm und grotesk missgebildet …
Clary riss sich von diesem Anblick los, als Jace aufstand und sie mit sich zog. Auch Isabelle und Alec kamen schwankend auf die Füße und griffen nach ihren Waffen. Die Peitsche in Isabelles Hand zitterte leicht.
»Raus hier!« Jace schob Clary in Richtung der Wohnungstür. Als sie über die Schulter einen Blick zurückwarf, sah sie nur ein wirbelndes, dichtes Grau, wie eine Unwetterfront, mit einer dunklen Gestalt im Zentrum …
Die vier rannten hinaus ins Treppenhaus, Isabelle vorneweg. Sie stürzte auf die Eingangstür zu, zerrte daran und drehte sich mit angsterfülltem Gesicht um: »Sie lässt sich nicht öffnen. Muss ein Bann sein …«
Jace fluchte und suchte fieberhaft in seinen Taschen. »Wo zum Teufel ist meine Stele …?«
»Ich hab sie«, erinnerte sich Clary. Während sie in ihre Tasche griff, erfüllte ein Donnerschlag den Raum. Der Boden erbebte unter ihren Füßen und sie stolperte und wäre fast hingefallen, konnte sich jedoch gerade noch am Treppengeländer festhalten. Als sie aufschaute, klaffte ein riesiges Loch in der Wand, die das Treppenhaus von Madame Dorotheas Wohnung trennte. An den ausgefransten Rändern des Lochs hingen Holzsplitter und Stückchen von Gips und mitten hindurch kletterte, sickerte irgendetwas …
»Alec!«, brüllte Jace. Alec stand genau vor dem Loch, leichenblass und wie versteinert vor Angst. Fluchend rannte Jace auf ihn zu, packte ihn und zerrte ihn genau in dem Moment weg, als das Wesen sich von den Resten der Wand löste und in das Treppenhaus vordrang.
Clary hörte, wie ihr Atem rasselte. Die gräuliche Haut der Kreatur war tropfnass und von Narben übersät. Überall stachen Knochen daraus hervor – keine lebendigen weißen Knochen, sondern Knochen, die so aussahen, als hätten sie tausend Jahre lang in der Erde gelegen, schwarz und geborsten und scheußlich. Statt Händen hatte die Kreatur Klauen aus Skelettknochen und ihre dürren Arme waren mit eitrigen schwarzen Geschwüren übersät, durch die man weitere vergilbte Knochen erkennen konnte. Auf dem Rumpf saß ein Totenkopf, mit tiefen Höhlen anstelle von Nase und Augen, und an den Gelenken und Schultern baumelten bunte Stofffetzen – die Reste von Madame Dorotheas Seidentüchern und Turban. Inzwischen war das Wesen gut drei Meter groß. Aus leeren Augenhöhlen starrte es auf die vier Teenager hinab. »Gebt mir den Kelch der Engel«, forderte es mit einer Stimme wie eine heulende Windbö. »Gebt ihn mir und ich werde euch am Leben lassen.«
Voller Panik starrte Clary die anderen an. Isabelle sah aus, als hätte sie der Anblick der Kreatur wie ein Schlag in den Magen getroffen. Alec war vollkommen erstarrt. Nur Jace hatte sich – wie immer – bereits wieder gefangen: »Was bist du?«, fragte er mit fester Stimme, auch wenn er bestürzter wirkte, als Clary ihn je zuvorgesehen hatte.
Das Wesen neigte den Kopf. »Ich bin Abbadon. Ich bin der Herrscher des Abgrunds. Mein ist die ewige Leere zwischen den Welten. Mein ist der Wind und die unendliche Dunkelheit. Ich bin keines jener jämmerlichen Wesen, die ihr Dämonen nennt – so wenig, wie man einen Adler eine Fliege nennen könnte. Lasset alle Hoffnung fahren, mich besiegen zu können. Gebt mir den Kelch oder sterbt.«
Isabelles Peitsche zitterte. »Ein Dämonenfürst«, flüsterte sie.
»Jace, wenn wir …«
»Was ist mit Madame Dorothea?«, fragte Clary mit schriller Stimme, noch ehe sie sich zurückhalten konnte. »Was ist mit ihr passiert?«
Der Dämon heftete seine leeren Augen auf sie. »Sie war nichts als eine Hülle«, dröhnte er. »Sie öffnete das Portal und ich ergriff Besitz von ihr. Ihr Tod kam schnell und schmerzlos.« Sein Blick wanderte zu dem Kelch in ihrer Hand. »Deiner wird es nicht sein.«
Im nächsten Moment bewegte er sich auf sie zu. Jace stellte sich ihm in den Weg, das glänzende Schwert in einer Hand, eine Seraphklinge in der anderen. Alec beobachtete ihn mit panischem Entsetzen in den Augen.
»Beim Erzengel«, sagte Jace und musterte den Dämon. »Ich wusste ja, dass Dämonenfürsten hässlich sind, aber niemand hat mich gewarnt, dass sie auch so stinken.«
Abbadon öffnete den Mund und fauchte. Im Inneren seiner Mundöffnung funkelten zwei Reihen gezackter, rasiermesserscharfer Zähne.
»Ich verstehe ja nicht viel von diesem ganzen HeulenderWindund-dräuende-Dunkelheit-Tamtam«, fuhr Jace fort, »aber für mich riecht das hier mehr nach Mülldeponie. Bist du sicher, dass du nicht von der auf Staten Island stammst?« Der Dämon warf sich auf ihn. Blitzschnell riss Jace seine Klingen hoch und stieß sie dem Dämon tief in den fleischigsten Teil seines Körpers, kurz unterhalb der Brust. Die Kreatur heulte auf, schlug nach ihm und schleuderte ihn beiseite wie eine Katze eine Maus. Jace überschlug sich und kam wieder auf die Füße, doch an der Art, wie er sich seinen Arm hielt, sah Clary, dass er verletzt war.
Das war zu viel für Isabelle. Sie schnellte vorwärts und schlug mit ihrer Peitsche nach dem Dämon. Die gräuliche Haut riss auf und ein roter Striemen erschien, aus dem Blut tropfte. Doch Abbadon ignorierte sie und stampfte auf Jace zu.
Mit seiner unverletzten Hand zog Jace eine zweite Seraphklinge hervor. Er flüsterte etwas und die Klinge erwachte zum Leben, schimmernd und funkelnd. Er hob die Klinge genau in dem Moment, als der Dämon über ihm stand – verglichen mit ihm wirkte er fast schon lächerlich klein, wie ein Kind vor einem Riesen. Doch Jace grinste, selbst als der Dämon nach ihm griff. Mit einem Schrei schlug Isabelle erneut mit der Peitsche auf die Kreatur ein und ein Strahl von Blut ergoss sich auf den Boden …
Dann griff der Dämon an; seine rasiermesserscharfe Klaue schlug nach Jace. Jace stolperte rückwärts, blieb jedoch unverletzt. Irgendetwas hatte sich zwischen ihn und Abbadon geworfen, ein schlanker schwarzer Schatten mit einer schimmernden Klinge in der Hand. Alec. Der Dämon kreischte auf – Alecs Klingenstab hatte seine Haut durchbohrt. Schnaubend schlug er zurück; seine Knochenhand traf Alec mit solcher Wucht, dass dieser von den Füßen gehoben und gegen die gegenüberliegende Wand geschleudert wurde. Mit einem entsetzlichen Knirschen prallte er gegen das Mauerwerk und sank zu Boden.
Isabelle schrie den Namen ihres Bruders, doch der bewegte sich nicht. Sie ließ die Peitsche sinken und rannte auf ihn zu.
Der Dämon drehte sich und traf sie mit einem Rückhandschlag, der sie zu Boden gehen ließ. Blut spuckend versuchte sie, wieder auf die Füße zu kommen, doch Abbadon traf sie erneut und dieses Mal blieb sie liegen.
Der Dämon bewegte sich nun auf Clary zu.
Jace blickte wie erstarrt hinüber zu Alecs zusammengesacktem Körper; er wirkte wie jemand, der nicht aus einem Albtraum erwachen kann. Clary schrie auf, als Abbadon immer näher kam. Bleich vor Entsetzen wich sie rückwärts die Treppe hinauf und stolperte fast über eine zerbrochene Treppenstufe. Die Stele brannte in ihrer Hand. Wenn sie nur eine Waffe hätte, irgendetwas … Isabelle hatte sich mühsam wieder aufgesetzt, schob sich das blutige Haar aus dem Gesicht und schrie Jace irgendetwas zu. Clary hörte ihren eigenen Namen in Isabelles Schrei und sah, wie Jace sich plötzlich schüttelte, als ob er aus einem Traum erwachte. Dann drehte er sich blitzschnell um und lief auf sie zu. Inzwischen war der Dämon Clary so nahe, dass sie die schwarzen Geschwüre auf seiner Haut sehen konnte – irgendwelche Dinge krochen darin herum. Er griff nach ihr …
Aber Jace war zur Stelle und schlug Abbadons Klaue zur Seite. Dann schleuderte er die Seraphklinge auf den Dämon; sie blieb in seiner Brust stecken, nahe der Stelle, an der bereits die beiden anderen Klingen saßen. Doch der Dämon schnaubte nur kurz, als ob die Waffen ihm schlicht lästig wären. »Schattenjäger«, knurrte er. »Es wird mir ein Vergnügen sein, dich zu töten. Ich will deine Knochen so bersten hören wie die deines Freundes …«
Jace sprang auf das Treppengeländer und warf sich von dort aus auf Abbadon. Die Wucht des Aufpralls ließ den Dämon rückwärtsstolpern; er taumelte, doch Jace klammerte sich an seinem Rücken fest, zog eine der Seraphklingen aus Abbadons Brust, wobei eine Fontäne von Eiter aufspritzte, und jagte die Klinge wieder und wieder in den Rücken des Dämons, bis dessen Schultern vor schwarzer Flüssigkeit glänzten. Schnaubend wich Abbadon rückwärts zur Wand zurück:
Jace musste abspringen oder er wäre zerquetscht worden. Er ließ sich zu Boden fallen, kam leichtfüßig auf die Beine und hob erneut die Klinge. Aber Abbadon war zu schnell für ihn; seine Klaue schoss nach vorn und presste Jace gegen die Treppe, wo er zu Boden sackte. Die Krallen des Dämons waren nur Millimeter von seiner Kehle entfernt.
»Sag ihr, sie soll mir den Kelch geben«, knurrte Abbadon.
»Sag ihr, sie soll ihn mir geben, und ich werde sie am Leben lassen.«
Jace schluckte. »Clary …«
Doch Clary sollte nie erfahren, was er hatte sagen wollen, denn im selben Augenblick flog die Haustür auf. Einen Moment lang sah sie nur blendende Helligkeit und musste mehrmals blinzeln, um durch das feurige Nachglühen auf ihrer Netzhaut Simon erkennen zu können, der in der offenen Tür stand. Simon. Sie hatte ganz vergessen, dass er noch draußen war, hatte beinahe vergessen, dass er überhaupt existierte.
Er sah sie zusammengekrümmt auf der Treppe hocken; dann schoss sein Blick zu Abbadon und Jace. Blitzschnell griff er mit einer Hand rückwärts über seine Schulter. Sie erkannte, dass er in der anderen Hand Alecs Bogen hielt und dessen Köcher umgeschnallt hatte. Er zog einen Pfeil daraus hervor, legte ihn auf die Sehne und hob den Bogen mit gekonntem Schwung, so als ob er das schon Hunderte von Malen getan hätte.
Der Pfeil schnellte von der Sehne. Mit einem wütenden Brummen, wie dem einer gewaltigen Hummel, schoss er über Abbadons Kopf hinweg in Richtung Dach …
Und durchschlug das Oberlicht. Schmutzige Glassplitter regneten zu Boden und durch die zerbrochene Scheibe strömte Sonnenlicht hinein – breite goldene Lichtstrahlen, die wie Dolche hinabstießen und das Treppenhaus mit Licht durchfluteten.
Abbadon schrie auf, stolperte rückwärts und versuchte, seinen missgebildeten Kopf mit den Händen zu schützen. Jace legte eine Hand um seine unverletzte Kehle und starrte ungläubig auf den Dämon, der sich heulend auf dem Boden zusammenkrümmte. Einen Moment lang kam Clary der Gedanke, dass er eigentlich in Flammen aufgehen müsste, doch stattdessen begann er, immer stärker in sich zusammenzufallen. Seine Beine klappten in Richtung Rumpf, sein Totenschädel schrumpelte wie verkokelndes Papier und kaum eine Minute später war er vollkommen verschwunden und hinterließ nur ein paar Brandflecken.
Simon senkte den Bogen. Er blinzelte ein paar Mal und starrte mit offenem Mund auf die Flecken. Er sah genauso verblüfft aus, wie Clary sich fühlte.
Jace lag neben der Treppe, dort wo der Dämon ihn zu Boden geschleudert hatte. Mühsam setzte er sich auf, während Clary die Stufen hinuntereilte und neben ihm niederkniete. »Jace …«
»Mir geht es gut.« Er wischte sich Blut aus dem Mundwinkel, musste husten und spuckte roten Schleim aus. »Alec …«
»Deine Stele«, unterbrach sie ihn und griff in ihre Tasche. »Brauchst du sie, um dich selbst zu heilen?«
Er schaute sie an. Durch das zerbrochene Oberlicht fiel Sonnenlicht auf sein Gesicht und es hatte den Anschein, als versuchte er mit aller Kraft, irgendetwas zu unterdrücken. »Mir geht es gut«, wiederholte er und schob sie fast schon grob zur Seite. Dann stand er auf, taumelte und wäre beinahe gestürzt – das erste Mal, dass Clary an ihm eine unbeholfene Bewegung sah. »Alec?«
Clary schaute ihm nach, wie er durch das Treppenhaus auf seinen bewusstlosen Freund zuhumpelte. Sie ließ den Kelch der Engel in die Tasche ihrer Kapuzenjacke gleiten, zog den Reißverschluss zu und erhob sich ebenfalls. Isabelle war zu ihrem Bruder gekrochen, wiegte seinen Kopf in ihrem Schoß und strich ihm über das Haar. Alecs Brust hob und senkte sich – langsam zwar, doch er atmete. Simon lehnte an einer Wand, beobachtete die ganze Szene und wirkte völlig erschöpft. Im Vorbeigehen drückte Clary seine Hand. »Vielen Dank«, flüsterte sie. »Das war einfach unglaublich.«
»Dank nicht mir«, sagte er, »dank lieber dem Bogenschützen-Programm im B’nai-B’rith-Ferienlager.«
»Simon, ich wollte nicht …«
»Clary!«, rief Jace. »Ich brauch die Stele.«
Simon ließ sie widerstrebend gehen. Als sie neben den Schattenjägern niederkniete, spürte sie, wie der Kelch der Engel gegen ihre Hüfte schlug. Alecs Gesicht war leichenblass und blutbespritzt, die Augen unnatürlich blau. Seine Hände hinterließen eine blutige Spur auf Jace’ Handgelenken. »Habe ich …«, setzte er an und schien dann Clary zum ersten Mal richtig wahrzunehmen. In seinem Blick lag etwas, das sie nicht erwartet hatte – Triumph. »Habe ich ihn umgebracht?«
Jace verzog gequält das Gesicht. »Du …«
»Ja«, antwortete Clary. »Er ist tot.«
Alec schaute sie an und lachte. Blutiger Schaum bildete sich in seinem Mundwinkel. Jace befreite seine Handgelenke aus Alecs Griff und berührte mit den Fingern sein Gesicht. »Nicht«, sagte er. »Halt still, halt einfach still, okay?«
Alec schloss die Augen. »Tu, was du tun musst«, flüsterte er.
Isabelle hielt Jace ihre Stele hin. »Hier.«
Er nickte und führte die Spitze der Stele von oben nach unten über Alecs Hemdbrust. Der Stoff fiel auseinander, als ob er ihn mit einem Messer zerschnitten hätte. Isabelle beobachtete mit verzweifeltem Blick, wie er das Hemd gänzlich aufriss und Alecs Brust freilegte. Seine Haut war sehr blass und an einigen Stellen mit alten, schimmernden Narben bedeckt. Daneben konnte man noch andere Verletzungen erkennen: ein rasch dunkler werdendes Netz von Klauenspuren, aus denen rotes Blut sickerte. Konzentriert fuhr Jace mit der Stele über Alecs Haut, bewegte sie mit geschmeidigen, hundertfach geübten Bewegungen hin und her. Doch irgendetwas war anders als sonst: Noch während er die Heilrunen zeichnete, verschwanden sie so schnell, als hätte er sie auf eine Wasseroberfläche gekritzelt.
Jace schleuderte die Stele zur Seite. »Verdammt!«
»Was ist los?«, fragte Isabelle mit schriller Stimme.
»Er hat ihn mit seinen Klauen erwischt«, sagte Jace. »Alec hat Dämonengift in den Adern. Die Male helfen nicht.« Erneut berührte er sanft Alecs Gesicht. »Alec«, sagte er, »hörst du mich?«
Alec bewegte sich nicht; die Schatten unter seinen Augen waren so dunkel, dass sie wie Blutergüsse aussahen. Wenn er nicht geatmet hätte, hätte Clary ihn für tot gehalten. Isabelle ließ den Kopf sinken; ihre Haare bedeckten Alecs Gesicht. »Vielleicht«, flüsterte sie, »können wir …«
»Ihn ins Krankenhaus bringen.« Simon stand über ihnen, den Bogen locker in einer Hand. »Ich helfe euch, ihn in den Transporter zu tragen. Unten auf der Seventh Avenue ist das Methodist …«
»Kein Krankenhaus«, sagte Isabelle. »Wir müssen ihn ins Institut schaffen.«
»Aber …«
»Die Leute im Krankenhaus werden nicht wissen, wie sie ihn behandeln sollen«, erklärte Jace. »Er ist von einem Dämonenfürsten verwundet worden. Kein irdischer Arzt könnte diese Wunden heilen.«
Simon nickte. »Verstehe. Wir bringen ihn zum Auto.«
Sie hatten Glück – der Bus war nicht abgeschleppt worden. Isabelle drapierte eine schmutzige Decke über den Rücksitz; dann legten sie Alec so darauf, dass sein Kopf in Isabelles Schoß ruhte. Jace hockte sich auf den Boden neben seinen Freund. Sein Hemd war an den Ärmeln und auf der Brust dunkel vor Blut, das teils von dem Dämon, teils von ihm selbst stammte. Als er Simon anschaute, sah Clary, dass der goldene Schimmer aus seinen Augen verschwunden war und etwas anderem Platz gemacht hatte – Panik.
»Fahr schnell, Irdischer«, stieß er hervor. »Fahr, als ob der Teufel dir auf den Fersen wäre.«
Und Simon raste los.
Sie jagten schwankend durch Fiatbush und rasten über die Brücke, so schnell wie der Zug, der neben ihnen über das blaue Wasser donnerte.
Das helle Sonnenlicht ließ Lichtreflexe auf der Wasseroberfläche aufblitzen und schmerzte Clary in den Augen. Sie klammerte sich am Sitz fest, während Simon mit fünfundsiebzig Stundenkilometern die Kurve der Brückenabfahrt nahm. Sie musste an die schrecklichen Dinge denken, die sie zu Alec gesagt hatte, daran, wie er sich auf Abbadon gestürzt hatte, und an den triumphalen Ausdruck auf seinem Gesicht. Dann drehte sie den Kopf und schaute sich zu Jace um, der neben seinem Freund kniete, während Blut durch die Decke unter Alec sickerte. Sie dachte an den kleinen Jungen mit dem toten Falken. Lieben heißt zerstören.
Als Clary sich wieder umwandte, spürte sie einen Kloß tief in der Kehle. Im Rückspiegel, der in einem seltsamen Winkel herabhing, konnte sie Isabelle sehen, die die Decke über Alec zurechtzog. Sie schaute auf und bemerkte Clarys Blick. »Wie lange noch?«
»Vielleicht zehn Minuten. Simon fährt, so schnell er kann.« »Ich weiß«, sagte Isabelle. »Simon, was du da eben getan hast, war unglaublich. Du hast blitzschnell reagiert. Ich hätte nie gedacht, ein Irdischer könnte auf so eine Idee kommen.«
Simon schien das Lob aus dieser für ihn unerwarteten Richtung kaltzulassen; seine Augen blieben auf die Straße gerichtet. »Das Oberlicht zu zerschießen, meinst du? Der Gedanke kam mir schon, als ihr ins Haus gegangen seid. Ich musste an das Oberlicht denken und daran, dass du gesagt hattest, Dämonen könnten kein direktes Sonnenlicht ertragen. Im Grunde habe ich also eine ganze Weile gebraucht, um auf die Idee zu kommen. Und mach dir keine Vorwürfe«, fügte er hinzu, »ohne von der Existenz des Oberlichts zu wissen, hätte man es niemals entdecken können.«
Ich wusste, dass es da war, dachte Clary. Ich hätte reagieren müssen. Obwohl ich keinen Pfeil und Bogen hatte wie Simon, hätte ich etwas dagegenwerfen oder Jace davon erzählen können. Sie kam sich dumm, nutzlos und unfähig vor, als hätte sie lauter Watte im Kopf. Tatsächlich war sie verängstigt gewesen – zu verängstigt, um einen klaren Gedanken zu fassen. Eine Woge der Scham durchflutete sie und brandete heiß gegen ihre geschlossenen Augenlider.
»Das war richtig gut«, mischte Jace sich ein.
Simon kniff die Augen leicht zusammen. »Falls es dir nichts ausmacht, beantworte mir eine Frage: Wo kam das Ding, der Dämon, her?«
»Es war Madame Dorothea«, sagte Clary. »Ich meine, irgendwie war sie es.«
»Die Gute war ja nie ein Supermodel, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie je dermaßen mies ausgesehen hätte.«
»Ich glaube, sie war besessen«, erwiderte Clary langsam, im Versuch, eine Erklärung für die Ereignisse zu finden. »Sie wollte, dass ich ihr den Kelch gebe. Und dann hat sie das Portal geöffnet …«
»Das war ziemlich clever«, meinte Jace. »Der Dämon ergriff von ihr Besitz und verbarg dann den Großteil seiner ätherischen Form kurz hinter dem Portal, wo ihn der Sensor nicht aufspüren konnte. Also gingen wir rein, erwarteten bestenfalls ein paar Forsaken und stießen stattdessen auf einen Dämonenfürst. Abbadon – einer der Alten. Der Herrscher des Abgrundes.«
»Sieht so aus, als müsste der Abgrund von jetzt an ohne ihn auskommen«, meinte Simon und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Straße zu.
»Abbadon ist nicht tot«, erklärte Isabelle. »Kaum jemandem ist es je gelungen, einen Dämonenfürsten zu töten. Man muss sie in ihrer irdischen und ihrer ätherischen Form töten, damit sie wirklich sterben. Wir haben ihn nur verjagt.«
»Ach so.« Simon wirkte enttäuscht. »Und was ist mit Madame Dorothea? Wird sie wieder in Ordnung kommen, jetzt wo …«
Er unterbrach sich, weil Alec zu husten begonnen hatte; bei jedem Atemzug kam ein Pfeifen aus seiner Brust. Jace fluchte leise, von tödlichem Ernst erfüllt. »Warum sind wir noch nicht da?«
»Wir sind gerade angekommen. Ich will nur nicht gegen die Wand knallen.« Während Simon den Bus vorsichtig an der Ecke ausrollen ließ, sah Clary, dass die Tür des Instituts offen stand und Hodge sie im Eingang erwartete.
Sobald der Wagen stand, sprang Jace hinaus und hob Alec so mühelos vom Rücksitz, als ob er ein kleines Kind auf den Arm nehmen würde. Isabelle folgte ihm den Weg zum Institut hinauf, den blutigen Klingenstab ihres Bruders in den Händen. Dann schlug die Tür des Instituts hinter ihnen zu.
Von einer Welle der Müdigkeit erfasst, schaute Clary Simon an. »Tut mir leid, aber ich hab keine Ahnung, wie wir Eric das ganze Blut erklären sollen.«
»Scheiß auf Eric«, sagte er mit Inbrunst. »Geht es dir gut?«
»Ich hab nicht mal ’nen Kratzer. Alle anderen wurden verletzt, nur ich hab nichts abbekommen.«
»Das ist ihre Aufgabe, Clary«, meinte Simon sanft. »Sie wurden dazu ausgebildet, Dämonen zu bekämpfen – du nicht.«
»Aber was ist dann meine Aufgabe, Simon?«, fragte sie und suchte in seinem Gesicht nach einer Antwort.
»Tja … du hast den Kelch gefunden«, sagte er. »Oder etwa nicht?«
Sie nickte und klopfte auf ihre Tasche. »Doch.«
Er wirkte erleichtert. »Ich habe mich beinahe nicht zu fragen getraut. Das ist doch gut, oder?«
»Und ob«, sagte sie. Sie musste an ihre Mutter denken und ihre Hand schloss sich um den Kelch. »Und ob es das ist.«
Church erwartete sie am Ende der Treppe, maunzend wie ein Nebelhorn, und führte sie zur Krankenstation. Durch die geöffneten Doppeltüren sah sie Alecs Körper reglos auf einem der weißen Betten liegen. Hodge stand über ihn gebeugt; neben ihm hielt Isabelle ein silbernes Tablett in den Händen.
Jace war nicht bei ihnen. Er lehnte vor der Krankenstation an der Wand, die blutigen Hände zu Fäusten geballt. Als Clary zu ihm trat, öffneten sich seine Lider ruckartig und sie sah, dass alles Gold aus seinen großen Pupillen verschwunden war; stattdessen wirkten sie nun tiefschwarz. »Wie geht es ihm?«, fragte sie, so sanft wie möglich.
»Er hat viel Blut verloren. Vergiftungen durch Dämonen sind nichts Ungewöhnliches, aber da es ein Dämonenfürst war, ist Hodge sich nicht sicher, ob seine üblichen Gegenmittel auch wirken werden.«
Sie streckte ihre Hand aus, um seinen Arm zu berühren. »Jace …«
Er zuckte zurück. »Nicht.«
»Ich habe nie gewollt, dass Alec irgendwas passiert. Es tut mir so leid«, murmelte sie leise.
Er schaute sie an, als sähe er sie zum ersten Mal. »Es ist nicht deine Schuld«, erwiderte er. »Es ist meine.«
»Deine? Nein, Jace, das stimmt nicht …«
»Oh doch«, sagte er mit einer Stimme, so dünn und zerbrechlich wie ein Eissplitter. »Mea culpa, mea maxima culpa.«
»Was bedeutet das?«
»Meine Schuld, meine übergroße Schuld. Es ist Latein.« Geistesabwesend strich er ihr eine Haarlocke aus der Stirn. »Ein Teil der Liturgie.«
»Ich dachte, du glaubst nicht an Religion.«
»Ich glaube zwar nicht an die Sünde«, sagte er, »aber ich empfinde Schuld. Wir Schattenjäger leben nach einem Verhaltenskodex und dieser Kodex ist eindeutig. Begriffe wie Ehre, Schuld und Buße sind für uns keine hohlen Phrasen; allerdings haben sie nichts mit Religion zu tun, sondern ausschließlich damit, wer und was wir sind. So bin ich nun mal, Clary«, fuhr er verzweifelt fort. »Ich gehöre dem Rat an. Es steckt in meinen Genen, in meinem Blut. Wenn du dir also so sicher bist, dass es nicht mein Fehler war, dann sag mir eines: Woher kommt es, dass ich im ersten Moment, als ich Abbadon sah, nicht an meine Mitkämpfer gedacht habe, sondern an dich?« Er hob die andere Hand und hielt ihr Gesicht zwischen seinen Handflächen fest. »Ich weiß … ich wusste … dass Alec nicht wie er selbst handelte. Ich wusste, dass etwas nicht in Ordnung war. Doch stattdessen habe ich nur an dich gedacht …«
Er ließ den Kopf sinken, bis seine Stirn die ihre berührte. Clary konnte spüren, wie sein Atem ihre Wimpern erbeben ließ. Sie schloss die Augen, gab sich ganz dem Gefühl seiner Nähs hin. »Wenn Alec stirbt, wird es so sein, als ob ich ihn getötet hätte«, murmelte Jace. »Ich habe meinen Vater sterben lassen und jetzt habe ich den einzigen Bruder umgebracht, den ich je hatte.«
»Das stimmt nicht«, flüsterte sie.
»Doch.« Sie standen so dicht beieinander, dass er sie hätte küssen können. Und noch immer hielt er sie so fest, als ob nichts ihn davon überzeugen könnte, dass sie real war. »Clary«, sagte er, »was passiert mit mir?«
Sie suchte verzweifelt nach einer Antwort – und hörte plötzlich, wie jemand sich räusperte. Als sie die Augen öffnete, stand Hodge in der Tür der Krankenstation; sein ehemals makelloser Tweedanzug war mit Flecken übersät. »Ich habe getan, was ich konnte. Er hat Beruhigungsmittel bekommen und ist schmerzfrei, aber …« Er schüttelte den Kopf. »Ich muss die Stillen Brüder informieren. Das hier geht über meine Fähigkeiten hinaus.«
Jace ließ Clary langsam los. »Wie lange wird es dauern, bis sie hier sind?«
»Keine Ahnung.« Kopfschüttelnd ging Hodge den Korridor entlang. »Ich werde Hugo sofort losschicken, aber letztlich entscheiden die Brüder selbst, wann sie sich der Sache annehmen.«
»Aber in einem Fall wie diesem …« Selbst Jace hatte Mühe, mit Hodges langen Schritten mitzuhalten; Clary war inzwischen einige Meter hinter den beiden zurückgeblieben und verstand ihre Worte nur noch bruchstückhaft. »Er könnte sonst sterben.«
»Das wäre möglich«, erwiderte Hodge knapp.
Die Bibliothek war dunkel und roch nach Regen: Eines der Fenster stand offen und unter den Vorhängen hatte sich eine Wasserpfütze gebildet. Hugo krächzte und hüpfte auf seiner Stange auf und ab, während Hodge zu ihm hinüberging und auf dem Weg die Lampe auf seinem Schreibtisch einschaltete. »Ein Jammer«, sagte Hodge und griff nach Papier und Füllfederhalter, »dass ihr den Kelch nicht gefunden habt. Ich bin mir sicher, für Alec und gewiss auch für seine Familie wäre es ein großer Trost gewesen, wenn …«
»Aber wir haben den Kelch«, rief Clary verwirrt. »Hast du es ihm denn nicht erzählt, Jace?«
Jace blinzelte, wobei Clary nicht sagen konnte, ob das an seiner eigenen Verblüffung oder der plötzlichen Helligkeit im Raum lag. »Dafür war noch gar keine Zeit … ich habe erst Alec nach oben gebracht …«
Hodge stand plötzlich stocksteif da; die Spitze des Füllers verharrte bewegungslos auf dem Papier. »Ihr habt den Kelch?«
»Ja.« Clary holte den Kelch aus ihrer Tasche: Er fühlte sich immer noch kalt an, als ob der Kontakt mit ihrer Haut das Metall nicht erwärmen konnte. Die Rubine glitzerten wie rote Augen. »Hier ist er.«
Der Füller glitt Hodge aus den Fingern, rollte über den Tisch und fiel neben seinen Füßen zu Boden. Das aufwärtsscheinende Licht der Lampe ließ sein zerfurchtes Gesicht plötzlich noch härter, sorgenvoller und verzweifelter wirken als je zuvor. »Das da ist der Engelskelch?«
»Genau der«, sagte Jace. »Er war …«
»Das spielt jetzt keine Rolle«, unterbrach Hodge ihn. Er kam hinter dem Schreibtisch hervor, ging hinüber zu Jace und fasste seinen Schüler bei den Schultern. »Jace Wayland, weißt du, was du getan hast?«
Überrascht blickte Jace zu Hodge auf. Clary fiel auf, wie unterschiedlich beide aussahen: hier das zerfurchte, narbige Antlitz des älteren Mannes, dort das faltenlose Gesicht des Jungen – wobei die hellen Haarsträhnen, die Jace in die Augen fielen, ihn noch jünger aussehen ließen, als er tatsächlich war. »Ich weiß nicht, was du meinst«, erwiderte Jace.
Hodges Atem kam zischend durch seine zusammengebissenen Zähne. »Du erinnerst mich so an ihn.«
»An wen?«, fragte Jace erstaunt. Ganz offensichtlich hatte Hodge noch nie zuvor so mit ihm gesprochen.
»An deinen Vater«, sagte Hodge und richtete seinen Blick nach oben, wo Hugo mit trägen Flügelschlägen über ihnen schwebte.
Hodges Augen verengten sich zu Schlitzen. »Hugin«, rief er und mit einem unheimlichen Krächzen stürzte sich der Vogel, die Krallen vorgereckt, auf Clarys Gesicht.
Clary hörte Jace rufen und im nächsten Moment war sie umgeben von flatternden Flügeln, spitzen Krallen und einem Schnabel, der unbarmherzig zustieß. Ein brennender Schmerz breitete sich auf ihrer Wange aus und sie schrie und schlug instinktiv die Hände vors Gesicht.
Sie spürte, wie der Kelch der Engel ihren Fingern entrissen wurde. »Nein!«, schrie sie und versuchte, danach zu greifen. Doch ein quälender Stich fuhr ihr durch den Arm. Ihre Beine schienen unter ihr weggezogen zu werden, sie verlor das Gleichgewicht und fiel mit den Knien hart auf den Holzboden. Spitze Klauen krallten sich in ihrer Stirn fest.
»Das reicht, Hugo«, befahl Hodge ruhig.
Gehorsam gab der Vogel Clary frei. Würgend blinzelte sie durch einen Schleier von Blutstropfen. Ihr Gesicht fühlte sich an, als sei es zerfetzt.
Hodge hatte sich nicht von der Stelle bewegt und hielt den Kelch der Engel in der Hand. Hugo umkreiste ihn aufgeregt und krächzte leise. Und Jace …Jace lag vor Hodge auf dem Boden, vollkommen reglos, als sei er plötzlich eingeschlafen.
»Jace!«, schrie Clary. Jeder andere Gedanke war wie weggefegt. Sprechen tat weh; der Schmerz in ihrer Wange traf sie wie ein Peitschenhieb und sie schmeckte Blut in ihrem Mund. Jace bewegte sich nicht.
»Er ist nicht verletzt«, sagte Hodge. Clary rappelte sich auf und wollte sich auf ihn stürzen, wurde jedoch von einer verborgenen Barriere, so hart und stark wie Glas, daran gehindert. Rasend vor Wut, schlug sie mit der Faust gegen die unsichtbare Mauer.
»Hodge!«, schrie sie und trat mit voller Wucht zu, wobei sie sich fast den Fuß verstauchte. »Machen Sie keinen Quatsch. Wenn der Rat herausfindet, was Sie getan haben …«
»Bin ich längst über alle Berge«, erwiderte er und beugte sich über Jace.
»Aber …« Die Erkenntnis durchzuckte sie wie ein Stromschlag. »Sie haben dem Rat überhaupt nicht geschrieben, richtig? Deswegen haben Sie auch so merkwürdig reagiert, als ich Sie danach gefragt hab. Sie wollten den Kelch für sich.«
»Nein«, entgegnete Hodge, »nicht für mich.«
Clarys Kehle war staubtrocken. »Sie arbeiten für Valentin«, flüsterte sie.
»Nein, ich arbeite nicht für Valentin«, sagte Hodge. Er hob Jace’ Hand und zog etwas von seinem Finger. Es war der Ring mit der Gravur, den Jace immer trug. Hodge schob ihn sich auf einen seiner Finger. »Aber es stimmt – ich bin einer von Valentins Gefolgsleuten.«
Mit einer raschen Bewegung drehte er den Ring dreimal um seinen Finger. Einen kurzen Moment lang geschah gar nichts, doch dann hörte Clary das Geräusch einer sich öffnenden Tür und wirbelte instinktiv herum, um nachzusehen, wer die Bibliothek betrat. Als sie sich wieder umdrehte, erkannte sie, dass die Luft neben Hodge flimmerte wie die Oberfläche eines weit entfernten Sees. Im nächsten Moment teilte sich die schimmernde Luftsäule wie ein silberner Vorhang und plötzlich stand ein groß gewachsener Mann neben Hodge, als hätte er sich aus der feuchten Luft materialisiert.
»Starkweather«, sagte er. »Hast du den Kelch?«
Hodge hob den Kelch hoch, schwieg allerdings. Er schien wie gelähmt – ob aus Furcht oder Verwunderung, vermochte Clary nicht zu sagen. Er war ihr stets als ein großer Mann erschienen, doch im Vergleich zu seinem Besucher wirkte er klein und gebückt. »Valentin«, stammelte er schließlich. »Ich hatte dich nicht so schnell erwartet.«
Valentin. Trotz seiner dunklen Augen besaß er nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem gut aussehenden Jungen auf dem Foto, dachte Clary. Sein Gesicht sah völlig anders aus, als sie erwartet hatte: Er wirkte beherrscht, verschlossen, in sich gekehrt – die Züge eines Priesters, mit sorgenvollen Augen. Unter den schwarzen Ärmeln seines maßgeschneiderten Anzugs ragten tiefe weiße Narben hervor, die vom jahrelangen Gebrauch der Stele zeugten. »Ich hatte dir doch gesagt, dass ich durch ein Portal zu dir kommen würde«, erwiderte er. Seine volltönende Stimme klang seltsam vertraut. »Hast du mir etwa nicht geglaubt?«
»Doch. Ich dachte nur … du würdest Pangborn oder Blackwell schicken, statt selbst zu kommen.«
»Glaubst du ernsthaft, ich würde sie entsenden, um den Kelch zu holen? Ich bin kein Narr. Ich weiß, was für eine Verlockung er darstellt.« Valentin streckte eine Hand aus und Clary sah, dass an seinem Finger ein Ring glänzte – das Gegenstück zu Jace’ Ring. »Gib mir den Kelch.«
Doch Hodge rührte sich nicht. »Zuerst gib mir das, was du mir versprochen hast.«
»Du traust mir nicht, Starkweather?« Valentin lächelte amüsiert. »Ich werde meinen Teil der Abmachung halten. Geschäft ist schließlich Geschäft. Obwohl ich allerdings sagen muss, dass ich überrascht war, als ich deine Nachricht erhielt. Ich hätte nicht gedacht, dass dir ein Leben in innerer Einkehr – um es mal so zu formulieren – missfallen würde. Du warst schließlich nie ein Freund von Krieg und Schlachtengetümmel.«
»Du weißt nicht, wie das ist«, erwiderte Hodge zischend. »Ständig in Angst und Schrecken leben zu müssen …«
»Das ist wohl wahr – das weiß ich nicht.« Valentins Stimme war so betrübt wie der Ausdruck in seinen Augen, als hätte er Mitleid mit Hodge. Doch in seinem Blick lag auch Verachtung. »Wenn du nicht vorhast, mir den Kelch zu geben, hättest du mich nicht rufen sollen«, tadelte er.
Hodges Kiefer zuckte. »Es ist nicht einfach, das zu verraten, woran man glaubt – diejenigen zu hintergehen, die einem vertrauen.«
»Meinst du die Lightwoods oder ihre Kinder?«
»Beide«, sagte Hodge.
»Ah, die Lightwoods.« Valentin streckte die Hand aus und strich über den Messingglobus auf dem Schreibtisch; seine langen Finger zeichneten die Umrisse von Kontinenten und Ozeanen nach. »Aber was schuldest du ihnen eigentlich? Dir wurde die Strafe zuteil, welche die Lightwoods verdient hatten. Hätten sie nicht Beziehungen in die höchsten Kreise des Rats gehabt, wären sie mit dir zusammen verflucht worden. Doch sie kommen und gehen, wie es ihnen gefällt; sie spazieren unter der Sonne wie alle anderen. Und sie können jederzeit nach Hause.« Er betonte den Ausdruck »nach Hause«, legte sämtliche Gefühle hinein, die diese Worte weckten. Sein Finger verharrte reglos auf dem Globus. Clary war sich sicher, dass er die Stelle berührte, an der Idris lag.
Hodge schaute betreten zur Seite. »Sie haben nur das getan, was jeder andere auch getan hätte.«
»Einen Freund an seiner statt leiden zu lassen? Du hättest so was nicht getan. Und ich hätte es auch nicht getan. Es muss dich doch mit Bitterkeit erfüllen, Starkweather, dass sie dich so einfach deinem Schicksal überließen …«
Hodges Schultern bebten. »Aber die Kinder tragen keine Schuld. Sie haben nichts getan …«
»Ich wusste gar nicht, dass du so ein großer Freund von Kindern bist, Starkweather«, bemerkte Valentin, als amüsiere ihn der Gedanke.
Hodges Atem ging rasselnd. »Jace …«
»Kein Wort über Jace.« Zum ersten Mal klang Valentin wütend. Er betrachtete die reglose Gestalt auf dem Boden. »Er blutet«, stellte er fest. »Warum?«
Hodge presste den Kelch an seine Brust; seine Fingerknöchel standen weiß hervor. »Das ist nicht sein Blut. Er ist zwar bewusstlos, aber unverletzt.«
Valentin hob den Kopf und lächelte zuckersüß. »Ich frage mich, was er wohl von dir halten wird, wenn er erfährt, was du getan hast«, sagte er. »Betrug ist nie schön, aber ein Kind zu hintergehen – das ist doppelter Betrug, findest du nicht auch?«
»Du wirst ihm nicht wehtun«, flüsterte Hodge. »Du hast geschworen, dass du ihn nicht verletzen wirst.«
»Ich habe nichts dergleichen geschworen«, erwiderte Valentin. »Und jetzt gib mir endlich den Kelch.« Er ging ein paar Schritte auf Hodge zu, der wie ein kleines, gefangenes Tier zurückwich. Clary konnte seine Verzweiflung erkennen. »Außerdem: Was würdest du machen, wenn ich sagte, ich hätte vor, ihn zu verletzen? Würdest du dich gegen mich stellen? Mir den Kelch vorenthalten? Selbst wenn es dir gelänge, mich zu töten, würde der Rat niemals den Fluch aufheben, mit dem er dich gestraft hat. Du würdest dich bis ans Ende deiner Tage verstecken müssen, würdest dich nicht einmal trauen, auch nur ein Fenster zu weit zu öffnen. Was würdest du dafür geben, nicht länger mit dieser Furcht leben zu müssen? Was würdest du nicht alles dafür geben, nach Hause zurückkehren zu können?«
Clary blickte zur Seite; sie konnte den Ausdruck auf Hodges Gesicht nicht länger ertragen.
»Sag mir, dass du ihm nicht wehtun wirst, und ich gebe dir den Kelch«, murmelte Hodge mit erstickter Stimme.
»Nein. Du wirst ihn mir so oder so geben«, erwiderte Valentin noch leiser und streckte seine Hand aus.
Hodge schloss die Augen. Einen Moment lang erinnerte sein Gesicht an das Antlitz der Marmorengel unter dem Schreibtisch – gepeinigt, ernst und von einer schweren Last niedergedrückt. Dann stieß er einen leisen Fluch aus und hielt Valentin den Kelch der Engel entgegen. Seine Hand zitterte wie Espenlaub.
»Vielen Dank«, sagte Valentin, nahm den Kelch und betrachtete ihn nachdenklich. »Ich glaube, du hast den Rand ein wenig beschädigt.«
Hodge schwieg. Sein Gesicht war grau. Valentin bückte sich zu Jace hinunter. Als er ihn mühelos hochhob, sah Clary, wie sich der Stoff seines tadellosen Anzugs an Armen und Rücken spannte, und sie erkannte, dass Valentin ein überraschend kräftiger Mann war, dessen Rumpf an einen Eichenstamm erinnerte. Im Vergleich dazu wirkte der bewusstlose Jace in seinen Armen wie ein Kind.
»Er wird bald bei seinem Vater sein«, verkündete Valentin und betrachtete Jace’ weißes Gesicht. »Dort, wo er hingehört.«
Hodge zuckte zusammen. Valentin drehte sich um und ging auf die flimmernde Luftsäule zu, durch die er gekommen war. Offenbar hat er das Portal offen gelassen, dachte Clary und versuchte, einen Blick hindurchzuwerfen. Doch das Licht blendete sie wie ein Sonnenstrahl, der von einem Spiegel reflektiert wird.
Hodge streckte eine Hand aus. »Warte!«, rief er flehentlich. »Was ist mit deinem Versprechen? Du hast geschworen, meinen Fluch aufzuheben.«
»Das ist wahr«, sagte Valentin. Er blieb stehen und starrte Hodge konzentriert in die Augen, der daraufhin nach Luft schnappte, zurücktaumelte und mit der Hand in Richtung Brust fuhr, als hätte ihn etwas mitten ins Herz getroffen. Ein schwarzes Sekret sickerte zwischen seinen gespreizten Fingern hindurch und tropfte zu Boden. Hodge hob das von Narben gezeichnete Gesicht und sah Valentin an. »Ist es vollbracht?«, fragte er fiebrig. »Der Fluch … ist er aufgehoben?«
»Ja«, bestätigte Valentin. »Möge dir deine erkaufte Freiheit Freude bereiten.« Mit diesen Worten trat er durch die flimmernde Luftsäule. Einen Moment lang schien er selbst zu schimmern, als befände er sich unter Wasser. Dann war er verschwunden – und Jace mit ihm.
Keuchend und mit zusammengeballten Fäusten starrte Hodge ihm hinterher. Seine linke Hand war von der schwarzen Flüssigkeit bedeckt, die aus seiner Brust gesickert war. Auf seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Freude und Selbstverachtung.
»Hodge!« Clary hämmerte mit der Hand gegen die unsichtbare Mauer zwischen ihnen. Ein heftiger Schmerz schoss ihr durch den Arm, aber das war nichts im Vergleich zu dem brennenden Schmerz in ihrer Brust. Sie hatte das Gefühl, als wäre ihr das Herz herausgerissen worden.Jace,Jace, Jace – sein Name hallte in ihrem Inneren; am liebsten hätte sie ihn laut herausgeschrien. Doch sie hielt sich zurück. »Hodge, lassen Sie mich raus!«
Hodge drehte sich zu ihr um und schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht«, sagte er, während er sich die Hand mit seinem perfekt gebügelten Taschentuch säuberte. Sein Bedauern klang aufrichtig. »Du würdest nur versuchen, mich zu töten.«
»Das würde ich nicht«, rief sie. »Ich verspreche es.« »Du bist nicht als Schattenjägerin aufgewachsen, daher haben deine Versprechen keinerlei Bedeutung«, erwiderte er. Vom Rand seines Taschentuchs stieg eine dünne Rauchsäule auf, als hätte er es in Säure getaucht. Dann schimmerte seine Hand wieder weiß. Mit gerunzelter Stirn beendete er seine Reinigungsprozedur.
»Aber Hodge«, rief Clary verzweifelt, »haben Sie denn nicht gehört, was Valentin gesagt hat? Er wird Jace umbringen.«
»Das hat er nicht gesagt.« Hodge stand nun vor seinem Schreibtisch, zog eine Schublade auf und holte ein Blatt Papier hervor. Dann nahm er einen Füllfederhalter aus seiner Sakkotasche und klopfte ihn mehrmals auf die Schreibtischkante, um die Tinte zum Fließen zu bringen. Clary starrte ihn an. Was hatte er vor? Wollte er einen Brief schreiben?
»Hodge«, setzte sie an, »Valentin hat gesagt, Jace würde bald bei seinem Vater sein. Jace’ Vater ist tot. Was könnte er also anderes gemeint haben, als ihn umzubringen?«
Hodge blickte nicht auf, sondern kritzelte etwas auf das Papier. »Das Ganze ist kompliziert. Du würdest es nicht verstehen.«
»Dafür verstehe ich aber etwas anderes.« Die Bitterkeit in ihrer Stimme fühlte sich an, als würde sie ihr die Zunge verätzen. »Ich verstehe zum Beispiel, dass Jace Ihnen vertraut hat und Sie ihn an einen Mann verkauft haben, der seinen Vater gehasst hat und wahrscheinlich auch Jace hasst – und zwar nur deshalb, weil Sie zu feige sind, mit der Strafe zu leben, die Sie verdient haben.«
Hodge hob ruckartig den Kopf. »Das glaubst du also?«
»Das weiß ich.«
Er legte den Federhalter beiseite und schüttelte den Kopf. Er wirkte müde und so alt, so viel älter als Valentin, obwohl sie ungefähr der gleiche Jahrgang sein mussten. »Du kennst nur winzige Teile der ganzen Geschichte. Und das ist auch besser so.« Er faltete den Brief zu einem exakten Quadrat und warf ihn ins Feuer, wo er mit einer leuchtend grünen Stichflamme aufloderte und dann zerfiel.
»Was machen Sie da?«, fragte Clary in forderndem Ton.
»Eine Nachricht verschicken.« Hodge drehte sich vom Feuer weg und stellte sich direkt vor sie, nur getrennt durch die unsichtbare Mauer. Clary presste ihre Hände dagegen und wünschte, sie könnte ihm die Fingernägel in die Augen graben – auch wenn diese sie traurig musterten. »Du bist noch jung«, sagte er. »Für dich hat die Vergangenheit keinerlei Bedeutung; du empfindest sie weder als ein anderes Land, so wie die Alten sie sehen, noch als Albtraum, wie die Schuldigen sie sehen. Der Rat hat mich mit diesem Fluch belegt, weil ich Valentin geholfen habe. Aber ich war keineswegs das einzige Mitglied des Kreises, das ihm gedient hat. Sind die Lightwoods nicht genauso schuldig wie ich? Und was ist mit den Waylands? Trotzdem bin ich der Einzige, der zu einem Leben fern jeden Sonnenstrahls verurteilt wurde. Ich kann keinen Fuß vor die Tür setzen, nicht mal eine Hand aus dem Fenster strecken.«
»Das ist nicht meine Schuld«, erwiderte Clary. »Und auch nicht die von Jace. Warum bestrafen Sie ihn für das, was der Rat Ihnen angetan hat? Ich kann ja verstehen, dass Sie Valentin den Kelch gegeben haben, aber Jace? Valentin wird Jace töten, genau wie er seinen Vater getötet hat …«
»Valentin hat Jace’ Vater nicht getötet«, entgegnete Hodge.
»Das glaube ich Ihnen nicht!«, schluchzte Clary nun. »Sie erzählen doch nur Lügen! Alles, was Sie jemals gesagt haben, war eine Lüge!«
»Ah«, meinte Hodge, »der moralische Absolutismus der Jugend, der keinerlei Konzessionen erlaubt. Kannst du denn nicht erkennen, Clary, dass ich auf meine Art und Weise versuche, ein guter Mensch zu sein?«
Sie schüttelte den Kopf. »So funktioniert das nicht. Ihre guten Taten machen Ihre schlechten nicht ungeschehen. Aber …« Sie biss sich auf die Lippe. »Aber wenn Sie mir verraten würden, wo ich Valentin finde …«
»Nein«, stieß er leise hervor. »Es heißt, dass die Nephilim die Kinder von Menschen und Engeln sind. Aber dieses himmlische Erbe hat nur dazu beigetragen, dass wir aus größerer Höhe fallen.« Er berührte die unsichtbare Mauer mit den Fingerspitzen. »Du bist nicht als eine der Unsrigen aufgewachsen. Du hast keinen Anteil an diesem Leben voller Narben und Töten. Du kannst immer noch fortgehen. Verlasse das Institut, Clary, so schnell wie möglich. Gehe fort und komm nie mehr zurück.«
Clary schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht«, erwiderte sie.
»Ja dann: mein herzliches Beileid.« Er drehte sich um und verließ die Bibliothek.
Als die Tür hinter Hodge ins Schloss fiel, blieb Clary in der Stille allein zurück. Außer ihrem rasselnden Atem und dem Kratzen ihrer Fingernägel an der unsichtbaren Mauer war nichts zu hören. Sie tat genau das, wovon sie wusste, dass sie es nicht tun sollte: Wieder und wieder warf sie sich gegen die unnachgiebige Barriere, bis sie erschöpft war und ihre Schulter schmerzte. Dann sank sie zu Boden und versuchte, nicht in Tränen auszubrechen.
Irgendwo jenseits dieses transparenten Hindernisses lag Alec im Sterben, während Isabelle darauf wartete, dass Hodge kam und ihm das Leben rettete. Irgendwo jenseits dieses Raums wurde Jace von Valentin unsanft aus dem Schlaf gerissen. Irgendwo jenseits dieses Instituts schwanden die Überlebenschancen ihrer Mutter mit jeder Sekunde. Und sie saß hier gefangen, so nutzlos und hilflos wie ein kleines Kind.
Plötzlich richtete Clary sich auf: Sie erinnerte sich, dass Jace ihr bei Madame Dorothea seine Stele in die Hand gedrückt hatte. Hatte sie sie ihm überhaupt zurückgegeben? Atemlos griff sie in ihre linke Jackentasche; sie war leer. Langsam schob sie ihre Hand in die rechte Tasche. Ihre klammen Finger ertasteten ein paar Fussel und dann etwas Hartes, glatt und rund – die Stele.
Mit klopfendem Herzen sprang Clary auf; dann tastete sie mit der linken Hand nach der unsichtbaren Mauer. Als sie sie gefunden hatte, atmete sie tief durch und schob die Stele vorsichtig vorwärts, bis ihre Spitze die Barriere berührte. Tief in ihrem Inneren bildete sich bereits ein Symbol – wie ein Fisch, der im trüben Wasser auftaucht und dessen Schuppen immer deutlicher hervortreten, je näher er der Oberfläche kommt. Langsam bewegte sie die Stele über die Mauer, zunächst zögernd, doch dann immer sicherer, bis die grell strahlenden Linien vor ihr in der Luft schwebten.
Sie konnte förmlich spüren, dass die Rune vollendet war, und ließ die Hand sinken; ihr Atem ging schnell. Einen Moment lang blieb alles reglos und still und die Rune hing wie eine leuchtende Neonschrift in der Luft, brannte ihr in den Augen. Doch dann ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen, als stünde sie unter einem tosenden Wasserfall aus Steinen. Die Rune verfärbte sich schwarz und zerfiel zu Asche; der Boden unter ihren Füßen bebte, dann war es plötzlich wieder still. Aber Clary wusste, dass sie frei war.
Mit der Stele in der Hand rannte sie zum Fenster und schob den Vorhang beiseite. Die Dämmerung war angebrochen und die Straßen unter ihr schimmerten rötlich im warmen Abendlicht. Plötzlich entdeckte sie Hodge, der eine Seitenstraße überquerte; sein grauer Schopf ragte aus der Menschenmenge heraus.
Clary stürzte aus der Bibliothek, den Korridor entlang und die Treppe hinunter. Sie blieb nur kurz stehen, um die Stele wieder in ihre Jackentasche zu stecken. So schnell sie konnte, rannte sie auf die Straße, und als sie auf dem Gehweg stand, hatte sie bereits Seitenstiche. Die Leute, die im schwülen Dämmerlicht ihre Hunde ausführten, sprangen beiseite, als Clary sich einen Weg über den Bürgersteig bahnte, der parallel zum East River verlief. Als sie um eine Ecke bog, sah sie kurz ihr Spiegelbild im Fenster eines Mietshauses. Ihre Haare klebten schweißfeucht an ihrer Stirn und ihr Gesicht war mit getrockneten Blutspritzern übersät.
Endlich erreichte sie die Straßenkreuzung, an der sie Hodge gesehen hatte. Einen Moment lang dachte sie, sie hätte ihn verloren. Sie stürzte sich in die Menge, die aus dem U-BahnSchacht herausdrängte, stieß die Passanten beiseite, indem sie ihre Knie und Ellbogen wie Waffen einsetzte. Als sie die Menschenmassen endlich hinter sich gelassen hatte, entdeckte sie gerade noch rechtzeitig einen Zipfel von Hodges Tweedanzug, der in eine schmale Lieferantengasse zwischen zwei Gebäuden einbog.
Vorsichtig drückte sie sich an dem Müllcontainer am Eingang der Gasse vorbei, ihre Kehle brannte bei jedem Atemzug. Obwohl die Hauptstraßen noch im Dämmerlicht gelegen hatten, herrschte in der Gasse bereits nachtschwarze Dunkelheit. An ihrem anderen Ende, das von der Rückseite eines Schnellimbisses begrenzt wurde, konnte sie Hodge gerade so noch erkennen. Vor der Hintertür des Imbisses stapelten sich Restaurantabfälle: Müllsäcke mit Essensresten, schmutzige Papierteller und benutztes Plastikbesteck, das unangenehm unter Hodges Schuhen knirschte, als er sich zu ihr umdrehte. Clary erinnerte sich an ein Gedicht, das sie in der Schule gelesen hatten: Ich denke, wir sind in der Sackgasse / Wo die Toten ihre Gebeine verloren haben.
»Du bist mir gefolgt«, sagte er. »Das hättest du nicht tun sollen.«
»Ich lasse Sie in Ruhe, wenn Sie mir verraten, wo Valentin ist.«
»Das kann ich nicht«, erwiderte er. »Er würde sofort wissen, dass ich es dir erzählt habe, und dann wäre es mit meiner Freiheit und meinem Leben vorbei.«
»Das ist es sowieso, wenn der Rat herausfindet, dass Sie Valentin den Kelch der Engel gegeben haben«, konterte Clary. »Nachdem Sie uns mit einem Trick dazu gebracht haben, ihn für Sie zu finden. Wie können Sie nur damit leben? Sie wissen doch, was Valentin mit dem Kelch vorhat.«
Er unterbrach sie mit einem kurzen Lachen. »Ich fürchte Valentin mehr als den Rat und das solltest du auch, wenn du schlau bist«, höhnte er. »Er hätte den Kelch gefunden, mit oder ohne meine Hilfe.«
»Und es ist Ihnen egal, dass er mit dem Kelch kleine Kinder töten wird?«
In seinem Gesicht zuckte ein Muskel; dann kam er schnell auf sie zu. Clary sah, dass er etwas Glänzendes in der Hand hielt. »Macht dir das wirklich so viel aus?«
»Ich habe es Ihnen ja schon gesagt«, erwiderte sie. »Ich kann nicht einfach fortgehen.«
»Jammerschade«, meinte er. Clary sah, dass er den Arm hob, und erinnerte sich plötzlich an Jace’ Worte: Das Chakram sei Hodges bevorzugte Waffe gewesen. Sie duckte sich, noch ehe sie die leuchtende, rasiermesserscharfe Metallscheibe auf sich zufliegen sah. Sirrend zischte sie an ihrem Kopf vorbei und bohrte sich in die metallene Feuerleiter zu ihrer Linken, nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt.
Clary blickte auf. Hodge musterte sie; das zweite Chakram lag bereits in seiner rechten Hand. »Du kannst immer noch weglaufen«, rief er.
Instinktiv hob sie die Hände, obwohl ihr Verstand ihr sagte, dass die Metallscheibe sie zerfetzen würde. »Hodge …«
Plötzlich raste etwas an Clary vorbei, etwas Großes, Grauschwarzes und sehr Lebendiges. Sie hörte Hodge entsetzt aufschreien. Während sie strauchelnd zurückwich, konnte sie die Kreatur besser erkennen, die auf Hodge zulief. Es war ein schwerer, zwei Meter großer Wolf mit nachtschwarzem Fell, das einen einzelnen grauen Streifen aufwies.
Hodge hielt das Chakram wurfbereit; er war kreidebleich. »Du bist es«, stieß er hervor. Überrascht erkannte Clary, dass er mit dem Wolf redete. »Ich dachte, du wärst geflohen …«
Der Wolf zog die Lefzen zurück, sodass seine scharfen Zähne und die lange rote Zunge zum Vorschein kamen. Als er Hodge musterte, funkelte Hass in seinen Augen – abgrundtiefer, menschlicher Hass.
»Bist du meinetwegen hier oder wegen des Mädchens?«, fragte Hodge. Schweißperlen liefen seine Schläfen hinab, doch seine Hand war ruhig.
Mit einem tiefen Knurren schlich der Wolf auf Hodge zu.
»Es ist noch nicht zu spät«, stammelte Hodge. »Valentin würde dich wieder bei sich aufnehmen …«
Heulend setzte der Wolf zum Sprung an. Hodge schrie erneut, dann blitzte etwas Silbermetallisches auf und das Chakram bohrte sich mit einem entsetzlichen Geräusch in die Flanke des Tiers. Der Wolf bäumte sich auf und Clary sah die Metallscheibe in seinem blutenden Pelz aufleuchten, als er sich auf Hodge stürzte.
Mit einem Schrei ging Hodge zu Boden, die Zähne des Wolfs bohrten sich in seine Kehle. Blut spritzte wie aus einer explodierenden Sprühdose, klatschte gegen die Mauer und färbte sie rot. Der Wolf hob den Kopf, wandte sich von dem leblosen Körper ab und richtete seine grauen, wölfischen Augen auf Clary, während scharlachrote Tropfen von seinen Zähnen trieften.
Clary wollte schreien, hatte aber nicht genug Luft in den Lungen, um auch nur irgendein Geräusch zu erzeugen. Stattdessen rappelte sie sich auf und rannte los, in Richtung der Gassenmündung, der vertrauten Neonlichter der Hauptstraße, in Richtung von Sicherheit und Realität. Hinter sich konnte sie den Wolf knurren hören, seinen heißen Atem an ihren nackten Waden spüren. Unter Aufbietung all ihrer Kräfte warf sie sich in Richtung Straße …
Das Maul des Wolfs schloss sich um ihr Bein und riss sie zurück. Kurz bevor ihr Kopf auf dem harten Steinboden auftraf und Dunkelheit ihren Geist umhüllte, stellte sie fest, dass sie doch noch genug Luft zum Schreien besaß.
Sie erwachte vom Geräusch tropfenden Wassers. Langsam öffnete sie die Augen, allerdings gab es um sie herum nicht viel zu sehen: Sie lag auf einer breiten Pritsche, die auf dem Boden eines kleinen, schmuddeligen Raums stand. An einer Wand lehnte ein wackliger Tisch, auf dem ein billiger Messingkerzenständer eine dicke rote Kerze hielt. Ihr Licht warf flackernde Schatten an die unebene, feuchte Decke; eine dunkle Flüssigkeit sickerte durch ihre Risse. Clary hatte das unbestimmte Gefühl, dass irgendetwas an dem Raum nicht stimmte, dass etwas fehlte, doch jeder Gedanke daran wurde von einem überwältigenden Geruch nach nassem Hundefell verdrängt.
Sie setzte sich auf und wünschte sofort, sie hätte sich nicht von der Stelle gerührt. Bohrende Kopfschmerzen pochten in ihrem Schädel, gefolgt von einem quälenden Anflug von Übelkeit. Wenn sie irgendetwas im Magen gehabt hätte, hätte sie sich jetzt übergeben.
Über der Pritsche baumelte ein Spiegel an einem Nagel, den jemand zwischen zwei Mauersteine geschlagen hatte. Sie warf einen Blick hinein und schrak entsetzt zurück. Kein Wunder, dass ihr Gesicht derart schmerzte – von ihrem rechten Auge erstreckten sich mehrere lange, tiefe Kratzer bis zu ihrem Mundwinkel. Ihre rechte Wange war blutverkrustet und auch ihr Hals und der vordere Bereich ihres T-Shirts und ihrer Jacke starrten vor Blut. In einem plötzlichen Anfall von Panik griff sie in ihre Tasche und entspannte sich wieder. Die Stele war noch da.
In diesem Moment erkannte sie auch, was an dem Raum so merkwürdig war. Eine der Wände bestand nicht aus Steinen, sondern aus einem Gitter – dicke Eisenstäbe, die von der Decke bis zum Boden reichten. Sie befand sich in einer Gefängniszelle.
Adrenalin schoss durch ihre Adern und Clary versuchte, schwankend aufzustehen. Ein starker Schwindelanfall erfasste sie wie eine Woge und sie klammerte sich am Tisch fest. Ich werde nicht in Ohnmacht fallen, ermahnte sie sich eisern. Und dann hörte sie Schritte.
Irgendjemand kam den Flur vor der Zelle entlang. Clary wich zurück und lehnte sich gegen den Tisch.
Es war ein Mann. Er trug eine Laterne, deren Licht viel heller strahlte als der matte Schein der roten Kerze und Clary blendete. Sie musste blinzeln und konnte nur eine schattenartige, große Gestalt ausmachen, mit breiten Schultern und wirrem Haar. Erst als sie die Zellentür öffnete und den Raum betrat, erkannte sie, wer es war.
Er sah aus wie immer: alte Jeans, dickes Holzfällerhemd, Arbeitsstiefel, strubblige Haare, hochgeschobene Brille. Die Narben an seiner Kehle, die sie bei ihrem letzten Besuch in seiner Wohnung bemerkt hatte, waren größtenteils verheilt und schimmerten hell.
Luke.
Plötzlich wurde es Clary einfach zu viel. Erschöpfung, der Mangel an Schlaf und Nahrung, das Gefühl der Angst und der Blutverlust schlugen über ihr zusammen wie eine tosende Welle. Sie spürte, wie ihre Knie nachgaben und ihr die Beine wegsackten.
Im Bruchteil einer Sekunde war Luke bei ihr. Er durchquerte den Raum derart schnell, dass sie nicht einmal den Boden berührt hatte, als er sie auch schon auffing und hochhob – so wie er sie als kleines Kind in die Luft gewirbelt hatte. Er legte sie auf die Pritsche, trat einen Schritt zurück und musterte sie besorgt. »Clary? Alles in Ordnung?«, fragte er und streckte eine Hand nach ihr aus.
Clary zuckte zurück und riss abwehrend die Hände hoch. »Fass mich nicht an.«
Auf seinem Gesicht spiegelten sich Kränkung und tief empfundener Schmerz. Müde fuhr er sich mit der Hand durchs Haar. »Ich schätze, das habe ich wohl verdient.«
»Ja, das hast du.«
»Ich gehe besser nicht davon aus, dass du mir vertraust …«, sagte er betrübt.
»Gut so. Denn das tue ich nicht.«
»Clary …« Er wanderte in der Zelle auf und ab. »Was ich getan habe … ich erwarte nicht, dass du das verstehst. Ich weiß, du fühlst dich von mir im Stich gelassen …«
»Genau das hast du ja auch getan«, erwiderte sie. »Du hast mir gesagt, ich solle dich nicht mehr anrufen. Ich habe dir nie etwas bedeutet und meine Mutter auch nicht. Das waren alles nur Lügen.«
»Nein, nicht alles«, widersprach er.
»Dann ist Luke Garroway also dein richtiger Name?«
Schuldbewusst ließ er die Schultern hängen. »Nein«, sagte er und blickte an sich herab. Ein dunkelroter Fleck breitete sich auf seinem blauen Holzfällerhemd aus.
Clary richtete sich kerzengerade auf. »Ist das Blut?«, fragte sie entschlossen. Einen Moment lang vergaß sie ihre Wut.
»Ja«, bestätigte Luke, eine Hand gegen seine Seite gedrückt. »Die Wunde muss wieder aufgegangen sein, als ich dich hochgehoben habe.«
»Welche Wunde?«, hakte Clary nach.
Er seufzte und wählte seine Worte bedachtsam: »Hodges Metallscheiben sind noch immer messerscharf, auch wenn sein Wurfarm nicht mehr das ist, was er früher mal war. Ich denke, er hat mir eine Rippe angeritzt.«
»Hodge?«, fragte Clary. »Wann hast du ihn denn …?«
Schweigend sah er sie an. Plötzlich erinnerte sie sich an den Wolf in der Gasse, mit der einzelnen grauen Strähne in seinem schwarzen Fell, und daran, wie das Wurfgeschoss ihn in der Flanke getroffen hatte. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag.
»Du bist ein Werwolf.«
Luke nahm die Hand von seinem Hemd; seine Finger waren blutverschmiert. »Ja«, erwiderte er lakonisch, ging zu einer der Mauern und klopfte fest dagegen: einmal, zweimal, dreimal. Dann wandte er sich ihr wieder zu. »Ich bin ein Werwolf.«
»Du hast Hodge getötet«, sagte sie, als sie sich wieder an die Szene in der Gasse erinnerte.
»Nein.« Luke schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn schwer verletzt, aber als ich später zurückging, um den Leichnam zu beseitigen, war er verschwunden. Er muss sich irgendwie aus der Gasse geschleppt haben.«
»Du hast ihn in die Kehle gebissen. Das habe ich gesehen.«
»Ja. Allerdings möchte ich darauf hinweisen, dass er dich gerade umbringen wollte. Hat er sonst noch jemanden verletzt?«
Clary biss sich auf die Lippe. Sie schmeckte Blut, doch es handelte sich um altes Blut, von der Verletzung, die Hugo ihr beigebracht hatte. »Jace«, stieß sie flüsternd hervor. »Hodge hat ihm irgendetwas verabreicht und dann … Valentin übergeben.«
»Valentin?« Luke blickte erstaunt auf. »Ich wusste, dass Hodge Valentin den Kelch der Engel gegeben hat, aber mir war nicht klar …«
»Woher weißt du das?«, unterbrach Clary ihn, doch dann fiel es ihr wieder ein. »Du hast mich mit Hodge in der Gasse reden hören. Ehe du ihn angefallen hast.«
»Ich habe ihn angefallen, wenn du es so nennen willst, weil er im Begriff war, dir den Kopf abzutrennen«, entgegnete Luke und drehte sich um, als die Zellentür erneut aufging. Ein großer Mann kam herein, gefolgt von einer winzigen Frau, die so klein war, dass sie fast wie ein Kind wirkte. Beide trugen schlichte Freizeitkleidung: Jeans und Baumwollhemden. Und beide besaßen die gleichen wirren Haare – auch wenn die Frau blond war und der Mann grau meliert – und die gleichen alterslosen Gesichter, ohne jede Falte, aber mit müden Augen. »Clary«, sagte Luke, »darf ich dir Nummer Eins und Nummer Zwei vorstellen: Gretel und Alaric.«
Alaric senkte seinen massiven Kopf und nickte Clary zu. »Wir sind uns schon mal begegnet.«
Clary starrte ihn beunruhigt an. »Tatsächlich?«
»Ja, im Hotel Dumort«, erklärte er. »Du hast mir einen Dolch zwischen die Rippen gejagt.«
Sie kauerte sich an die Wand. »Ich, äh … es tut mir leid …«
»Das muss es nicht. Schließlich war es ein exzellenter Wurf.« Er griff in seine Brusttasche, holte Jace’ Dolch mit dem rot schimmernden Knauf hervor und hielt ihn ihr entgegen. »Ich glaube, der gehört dir, oder?«
»Aber …«, stammelte Clary.
»Keine Sorge«, beruhigte er sie. »Ich habe die Klinge gesäubert.«
Wortlos nahm sie den Dolch entgegen. Luke lachte leise in sich hinein. »Aus heutiger Sicht war der Überfall auf das Hotel Dumort vielleicht doch nicht so gut organisiert, wie er hätte sein sollen«, meinte er. »Ich hatte eine Gruppe meiner Wölfe beauftragt, auf dich aufzupassen und dir zu folgen, falls du in Gefahr schweben solltest. Und als du dann in das Dumort hineinmarschiert bist …«
»Jace und ich wären auch ohne Hilfe klargekommen.« Clary schob den Dolch in ihren Gürtel.
Gretel betrachtete sie mit einem milden Lächeln. »Hatten Sie uns aus diesem Grund gerufen, Sir?«
»Nein«, erwiderte Luke und berührte seine Seite. »Meine Wunde ist wieder aufgegangen und Clary hat auch ein paar Verletzungen, die behandelt werden müssten. Wenn du dich darum kümmern könntest …«
Gretel nickte. »Ich komme gleich mit dem Verbandszeug zurück«, sagte sie und verließ die Zelle, wobei Alaric ihr wie ein überdimensionierter Schatten folgte.
»Sie hat dich ›Sir‹ genannt«, stellte Clary in dem Moment fest, als die Zellentür sich hinter ihnen schloss. »Und was meinst du mit ›Nummer Eins‹ und ›Nummer Zwei‹?«
»Mein Erster und Zweiter Offizier«, erwiderte Luke gedehnt. »Ich bin der Anführer dieses Wolfsrudels. Deshalb hat Gretel mich auch mit ›Sir‹ angesprochen. Glaub mir, es hat ziemlich viel Mühe gekostet, ihr abzugewöhnen, mich ›Gebieter‹ zu nennen …«
»Hat meine Mutter davon gewusst?«
»Wovon gewusst?«
»Dass du ein Werwolf bist.«
»Ja. Sie wusste es seit dem Moment, in dem es geschah.«
»Aber natürlich hat keiner von euch beiden es für nötig gehalten, mir davon zu erzählen.«
»Ich wollte es dir sagen«, erwiderte Luke. »Aber deine Mutter war fest entschlossen, dass du nichts von der Verborgenen Welt und den Schattenjägern erfahren solltest. Und ich hätte dir meine Existenz als Werwolf nicht als einzelnen, unabhängigen Vorfall auftischen können, Clary. Das alles ist Teil eines größeren Ganzen, das deine Mutter aber vor dir verbergen wollte. Ich weiß nicht, was du inzwischen alles herausgefunden hast …«
»Eine Menge«, sagte Clary tonlos. »Ich weiß, dass meine Mutter eine Schattenjägerin war. Ich weiß, dass sie mit Valentin verheiratet war und dass sie ihm den Kelch der Engel entwendet und sich vor ihm versteckt hat. Ich weiß, dass sie mich seit meiner Geburt alle zwei Jahre zu Magnus Bane gebracht hat, damit er mir mein Zweites Gesicht nahm. Ich weiß, dass Valentin von dir den Aufenthaltsort des Kelchs erfahren wollte, im Tausch gegen das Leben meiner Mutter, und dass du ihm daraufhin geantwortet hast, sie wäre dir egal.«
Luke blickte zur Seite. »Ich wusste nicht, wo sich der Kelch befand. Jocelyn hat es mir nie gesagt«, murmelte er.
»Du hättest versuchen können, einen Handel mit Valentin zu vereinbaren …«
»Valentin verhandelt nicht. Das hat er noch nie. Wenn er nicht ganz klar im Vorteil ist, kommt er noch nicht einmal zu einem Verhandlungsgespräch. Er ist vollkommen auf sein Ziel fixiert und kennt kein Erbarmen. Und obwohl er deine Mutter einst geliebt haben mag, würde er keine Sekunde zögern, sie zu töten. Nein, ich hatte nicht vor, mit Valentin zu feilschen.«
»Und deshalb hast du beschlossen, sie einfach im Stich zu lassen?«, erwiderte Clary wütend. »Du bist der Anführer eines ganzen Rudels von Werwölfen und bist einfach zu dem Schluss gekommen, dass sie deine Hilfe nicht benötigt? Es war schon schlimm genug, als ich dachte, du wärst ein Schattenjäger und hättest dich wegen irgendeines blöden Schattenjägerschwurs von ihr abgewendet. Aber jetzt weiß ich, dass du nur ein mieses Schattenwesen bist, dem es nicht die Bohne bedeutet, dass sie dich all die Jahre wie einen Freund, wie einen der ihren behandelt hat. Und so dankst du es ihr!«
»Du solltest dich mal hören«, sagte Luke ruhig. »Du klingst wie eine Lightwood.«
Clary kniff die Augen zusammen. »Rede nicht von Alec und Isabelle, als ob du sie kennen würdest.«
»Ich meinte ihre Eltern«, entgegnete Luke. »Die ich übrigens sehr gut kannte – damals, als wir alle noch Schattenjäger waren.«
Clary öffnete überrascht den Mund. »Ich weiß ja, dass du dem Kreis angehört hast, aber wie hast du es vor ihnen verbergen können, dass du ein Werwolf bist? Haben sie es nicht gewusst?«
»Nein«, sagte Luke. »Denn ich bin nicht als Werwolf geboren worden – ich wurde zu einem gemacht. Und eines ist mir klar: Wenn ich dich davon überzeugen will, mir zu vertrauen, dann solltest du meine ganze Vergangenheit kennen. Es ist eine lange Geschichte, aber ich denke, wir haben genügend Zeit.«