Cassandra Clare City of Bones

Für meinen Großvater

Seit Cassius mich spornte gegen Cäsar,

Schlief ich nicht mehr.

Bis zur Vollführung einer furchtbar’n Tat

Vom ersten Antrieb, ist die Zwischenzeit

Wie ein Phantom, ein grauenvoller Traum.

Der Genius und die sterblichen Organe

Sind dann im Rat vereint; und die Verfassung

Des Menschen, wie ein kleines Königreich,

Erleidet dann den Zustand der Empörung.

WILLIAM SHAKESPEARE, Julius Cäsar[1]

I Dunkler Abstieg

Als ich von Nacht und Chaos sang Mit anderer als Orpheus’ Leier: denn Des Himmels Muse hatte mich gelehrt, Hinab- und wieder aufzuschwingen mich …

JOHN MILTON, Das verlorene Paradies[2]

1 Pandemonium

»Du willst mich wohl verarschen«, sagte der Türsteher und verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust. Er schaute auf den Jungen in der roten Reißverschlussjacke hinab und schüttelte den kahl rasierten Schädel. »Du kannst das Ding da nicht mit reinnehmen.«

Die fünfzig Teenager, die vor dem Pandemonium Schlange standen, spitzten die Ohren. Die Wartezeit am Eingang des Clubs, der auch Jugendlichen Eintritt gewährte, war lang – vor allem sonntags – und normalerweise ziemlich öde. Die Türsteher waren gnadenlos und erteilten jedem, der auch nur entfernt so aussah, als könne er Ärger machen, eine Abfuhr. Die fünfzehnjährige Clary Fray, die zusammen mit ihrem besten Freund Simon in der Schlange wartete, beugte sich wie alle anderen in der Hoffnung auf etwas Abwechslung ein wenig vor.

»Ach, komm schon.« Der Junge hielt den Gegenstand hoch; er sah aus wie ein an einer Seite zugespitzter Holzbalken. »Das gehört zu meinem Kostüm.«

Der Türsteher zog fragend eine Augenbraue hoch. »Und das wäre?«

Der Junge grinste. Fürs Pandemonium sah er ziemlich normal aus, fand Clary. Seine stahlblau gefärbten Haare standen zwar vom Kopf ab wie die Tentakel eines aufgeschreckten Tintenfischs, aber er besaß weder kunstvolle Gesichtstattoos noch gepiercte Lippen oder Ohren. »Ich bin Vampirjäger.« Er stützte sich auf den Holzpfahl, der sich unter seinem Gewicht so widerstandslos durchbog wie ein Grashalm. »Das ist Schaumgummi, alles nur Fake. Okay?«

Die geweiteten Augen des Jungen leuchteten viel zu grün, dachte Clary – wie eine Mischung aus Frostschutzmittel und Frühlingsgras. Wahrscheinlich trug er getönte Kontaktlinsen.

Plötzlich gelangweilt, zuckte der Türsteher die Achseln. »Von mir aus. Geh schon.«

Der Junge glitt blitzschnell an ihm vorbei. Clary gefiel, wie er die Schultern schwang, wie er das dunkle Haar beim Gehen zurückwarf. Ihre Mutter hätte das sicher als provokante Lässigkeit bezeichnet.

»Du findest ihn süß«, bemerkte Simon resigniert, »stimmt’s?«

Clary verpasste ihm einen freundschaftlichen Knuff mit dem Ellbogen, blieb aber die Antwort schuldig.


Über dem gesamten Club hingen Schwaden von Trockeneisnebel. Das Spiel der Farbspots verwandelte die Tanzfläche in eine irisierende Märchenwelt aus Blau und Neongrün, sattem Pink und Gold.

Der Junge mit der roten Jacke streichelte die lange, rasiermesserscharfe Klinge in seiner Hand; ein hintergründiges Lächeln umspielte seine Lippen. Es war so einfach – ein bisschen Zauberglanz auf die Klinge und schon sah sie harmlos aus. Dann etwas Glanz in die Augen, und kaum dass der Türsteher ihn wahrgenommen hatte, war er auch schon drinnen. Natürlich hätte er auch ohne all diese Mühen hineinkommen können, aber das war schließlich Teil des Vergnügens – die Mundies, diese dummen Irdischen, unverhohlen zum Narren zu halten, direkt unter ihrer Nase, und die verdutzten Blicke auf ihren einfältigen Gesichtern auszukosten.

Dabei war es keineswegs so, als wären Menschen zu nichts zu gebrauchen, dachte er. Seine grünen Augen suchten die Tanzfläche ab; schlanke Gliedmaßen tanzender Mundies in Leder und Seide leuchteten in rotierenden Trockennebelsäulen auf und verschwanden wieder im Dämmerlicht. Mädchen schwangen ihr langes Haar hin und her, Jungs ließen die lederbekleideten Hüften kreisen, nackte, schweißglitzernde Haut. Ihre Körper versprühten pure Lebendigkeit – Wellen von Energie, die ihn mit einer trunkenen Vorfreude erfüllten. Er grinste hämisch. Sie wussten nicht, wie gut sie es hatten oder was es hieß, vor sich hin zu vegetieren in einer toten Welt, in der die Sonne matt wie ausgeglühte Kohle am Himmel hing. Ihr Lebenslicht flackerte so hell wie eine Kerzenflamme – und war genauso leicht auszulöschen.

Seine Finger schlossen sich um die Klinge. Gerade wollte er die Tanzfläche betreten, als sich ein Mädchen aus der pulsierenden Menge löste und auf ihn zukam. Er starrte sie an. Für ein menschliches Wesen war sie unglaublich schön – langes, fast rabenschwarzes Haar, die Augen mit schwarzem Kajal geschminkt, dazu ein bodenlanges weißes Kleid, wie es die Frauen getragen hatten, als diese Welt noch jünger gewesen war. Spitzenärmel umhüllten ihre schlanken Arme. Um den Hals trug sie eine dicke Silberkette mit einem dunkelroten Anhänger von der Größe einer Babyfaust. Er kniff die Augen zusammen – was er sah, war echt, echt und kostbar. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, während sie näher kam. Lebensenergie strömte aus ihr wie Blut aus einer Wunde. Als sie an ihm vorüberkam, lächelte sie ihn an und bedeutete ihm mit Blicken, ihr zu folgen. Schon während er sich umwandte, um ihr nachzugehen, kostete er den Geschmack ihres baldigen Todes auf seinen Lippen.

Es war so einfach. Er spürte bereits die Kraft ihres verlöschenden Lebens wie Feuer durch seine Adern pulsieren. Die Menschen waren so dumm. Sie besaßen ein solch kostbares Gut, doch sie schützten es fast gar nicht. Sie warfen ihr Leben für Geld fort, für ein Päckchen voll Pulver, für das berückende Lächeln eines Fremden. Wie ein bleicher Geist entfernte sich das Mädchen durch den bunten Nebel. An der gegenüberliegenden Wand angekommen, drehte sie sich um, raffte ihr Kleid mit den Händen und grinste ihn an. Die hohen Stiefel, die darunter zum Vorschein kamen, reichten ihr bis zu den Schenkeln.

Langsam schlenderte er zu ihr hinüber; ihre Gegenwart prickelte auf seiner Haut. Aus der Nähe wirkte sie weniger perfekt: Die Wimperntusche war leicht verwischt und das Haar klebte im verschwitzten Nacken. Er witterte ihre Sterblichkeit, den süßlichen Geruch der Verwesung. Bingo, schoss es ihm durch den Kopf.

Ein raffiniertes Lächeln umspielte ihre Lippen. Als sie einen Schritt zur Seite machte, sah er, dass sie an einer Tür lehnte. »Lager – Zutritt verboten« hatte jemand in Rot daraufgeschmiert. Sie griff nach dem Türknauf hinter sich, drehte ihn und schlüpfte durch die Tür. Sein Blick fiel auf Kistenstapel, Kabelgewirr. Ein ganz normaler Lagerraum. Er sah sich kurz um – niemand schaute zu ihnen herüber. Okay, wenn sie es gerne etwas intimer wollte, umso besser.

Dass ihm jemand folgte, als er den Raum betrat, fiel ihm gar nicht auf.


»Nicht schlecht, die Musik, oder?«, sagte Simon.

Clary antwortete nicht. Sie tanzten oder taten zumindest so – heftiges Hin- und Herschwanken mit gelegentlichen Hechtsprüngen Richtung Boden, als gälte es, verlorene Kontaktlinsen aufzufischen. Das Ganze zwischen einer Meute Teenagern in Metallkorsetts und einem heftig fummelnden asiatischen Pärchen, dessen bunte Haarextensions sich wie Ranken ineinander verschlungen hatten. Ein junger Kerl mit Teddyrucksack und Lippen-Piercing, dessen Fallschirmspringerhose im Luftzug der Windmaschine flatterte, verteilte gratis Ecstasy auf Kräuterbasis. Clary achtete allerdings weniger auf ihre unmittelbare Umgebung – ihre Augen folgten dem Blauhaarigen, der vorhin den Türsteher bequatscht hatte. Er schlich durch die Menge, als suche er etwas. Die Art und Weise, wie er sich bewegte, erinnerte sie an irgendetwas …

»Ich«, fuhr Simon fort, »amüsiere mich jedenfalls wahnsinnig.«

Besonders glaubwürdig klang das nicht. Simon wirkte hier im Club wie immer denkbar deplatziert, in seiner Jeans und dem alten T-Shirt mit dem Made-in-Brooklyn-Schriftzug auf der Brust. Seine frisch gewaschenen Haare schimmerten dunkelbraun statt grün oder pink und die Brille thronte schief auf seiner Nasenspitze. Er machte den Eindruck, als wäre er auf dem Weg zum Schachclub, statt sich von dunklen Mächten inspirieren zu lassen.

»Hm.« Clary wusste genau, dass er sie nur ins Pandemonium begleitete, weil es ihr hier gefiel, und dass ihn das Ganze eigentlich langweilte. Sie war sich nicht einmal sicher, was sie an dem Club mochte – vielleicht lag es an der Kleidung? Oder an der Musik, die alles wie einen Traum erscheinen ließ, wie ein anderes Leben, das sich radikal von ihrem eigenen Langweilerdasein unterschied? Aber sie war jedes Mal zu schüchtern, um mit jemand anderem als Simon ins Gespräch zu kommen.

Der Blauschopf verließ gerade die Tanzfläche. Er wirkte verloren, als habe er nicht gefunden, wonach er suchte. Clary fragte sich, was wohl passieren würde, wenn sie hinübergehen, sich vorstellen und ihm anbieten würde, ihn herumzuführen. Vielleicht würde er sie nur stumm anstarren. Vielleicht war er ja auch schüchtern. Vielleicht würde er sich einfach freuen, aber versuchen, es zu verbergen, wie Jungs es nun mal taten – doch sie würde es trotzdem merken. Vielleicht …

Plötzlich ging ein Ruck durch den Jungen. Er wirkte nun hellwach und aufmerksam, wie ein Jagdhund, der eine Fährte aufnimmt. Clary folgte seinem Blick und sah das Mädchen in dem weißen Kleid.


Okay, dachte sie und versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, das war’s dann wohl. Das Mädchen war umwerfend, der Typ, den Clary gern gezeichnet hätte – hochgewachsen, gertenschlank, mit langen schwarzen Haaren. Sogar aus dieser Entfernung konnte Clary die Kette mit dem roten Anhänger erkennen, den die Lichtreflexe der Tanzfläche pulsieren ließen wie ein lebendiges, körperloses Herz.

»DJ Bat liefert heute Abend aber echt ganze Arbeit, oder?«, versuchte Simon es erneut.

Clary verdrehte wortlos die Augen, denn Simon hasste Trance. Und Clary war mehr an dem Mädchen in dem weißen Kleid interessiert, deren helle Gestalt durch Dämmerlicht, Rauch und Trockennebel strahlte wie ein Leuchtfeuer. Kein Wunder, dass ihr der Blauhaarige wie gebannt nachlief und nichts mehr um sich herum wahrnahm – nicht einmal die beiden dunklen Schatten an seinen Fersen, die sich dicht hinter ihm durchs Gedränge schlängelten.

Clary tanzte langsamer, unfähig wegzuschauen. Sie konnte nicht viel erkennen, nur dass die Schatten zwei große, schwarz gekleidete Jungs waren. Woher sie wusste, dass sie dem Blauschopf folgten, vermochte sie nicht zu sagen, doch sie war sich sicher. Vielleicht erkannte sie es an der Art, wie sie sein Tempo hielten, an ihrer gespannten Wachsamkeit und der schlangengleichen Anmut ihrer Bewegungen. Eine dunkle Ahnung beschlich sie.

»Ach übrigens«, fuhr Simon unbeirrt fort, »ich trag neuerdings manchmal Frauenkleider – und ich schlaf mit deiner Mutter! Ich dachte, das solltest du wissen.«

Das Mädchen hatte die Wand erreicht und öffnete nun eine Tür, auf der »Zutritt verboten« stand. Sie bedeutete dem Blauhaarigen, ihr zu folgen, und dann schlüpften sie durch die Tür. Natürlich war es nicht das erste Mal, dass Clary ein Pärchen sah, das sich in eine dunkle Ecke zurückzog; aber das machte die Tatsache, dass die beiden verfolgt wurden, nur umso bizarrer.

Clary stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser über die Menge hinwegschauen zu können. Die beiden Jungs standen vor der Tür und berieten sich offenbar. Einer von ihnen war blond, der andere dunkelhaarig. Der Blonde griff in seine Jacke und holte etwas Langes, Spitzes hervor, das im Stroboskoplicht aufblitzte – ein Messer. »Simon!«, schrie Clary und packte ihn am Arm.

»Was ist?« Simon fuhr verschreckt herum. »Keine Sorge, Clary, ich schlaf gar nicht mit deiner Mutter. Ich wollte dich nur dazu bringen zuzuhören. Nicht dass sie nicht sehr attraktiv wäre für ihr Alter.«

»Siehst du die Typen da drüben?« Sie fuchtelte mit dem Arm herum und erwischte fast ein üppiges schwarzes Mädchen, das in der Nähe tanzte und ihr daraufhin einen finsteren Blick zuwarf, »’tschuldigung!«, rief Clary und wandte sich wieder Simon zu. »Siehst du die beiden? Bei der Tür da?«

Simon blinzelte und zuckte die Achseln. »Ich seh überhaupt nichts!«

»Zwei Kerle. Sie folgen dem Typ mit den blauen Haaren …«

»Den du so süß fandest?«

»Ja, aber darum geht’s nicht. Der Blonde hat ein Messer gezogen.«

»Bist du sicher?« Simon schaute nochmals hin und schüttelte den Kopf. »Ich seh niemanden.«

»Todsicher.«

Simon straffte die Schultern, dann meinte er nüchtern: »Ich geh mal die Security-Leute holen. Bleib du solange hier.« Im nächsten Moment bahnte er sich mit langen Schritten einen Weg durch die Menge.

Als Clary sich wieder umdrehte, sah sie gerade noch, wie der Blonde durch die »Zutritt verboten«-Tür glitt, dicht gefolgt von seinem Freund. Sie schaute sich um; Simon kämpfte sich immer noch durch die Tanzenden, kam aber kaum vorwärts. Selbst wenn sie jetzt laut schrie, würde niemand sie hören, und bis Simon zurück wäre, konnte längst etwas Schlimmes passiert sein. Clary biss sich auf die Lippe und begann, sich durch die Menge zu zwängen.


»Wie heißt du?«

Sie drehte sich um und lächelte ihn an. Durch die hohen, schmutzigen Gitterfenster drang nur wenig Licht. Der Boden des Lagerraums war übersät mit Kabelsträngen, Spiegelstückchen von Disco- Kugeln und leeren Farbdosen.

»Isabelle.«

»Hübscher Name.« Er ging auf sie zu, vorsichtig für den Fall, dass eines der Kabel noch Strom führte. Im Dämmerlicht wirkte sie durchsichtig, fast farblos, in Weiß gehüllt wie ein Engel. Sie zu Fall zu bringen, würde ein wahres Vergnügen sein … »Ich hab dich hier noch nie gesehen.«

»Du meinst, ob ich öfter hierherkomme?« Sie kicherte hinter vorgehaltener Hand. An ihrem Handgelenk, unter dem Ärmelaufschlag, schimmerte eine Art Armband – beim Näherkommen sah er jedoch, dass es eine Tätowierung war, ein kunstvolles Muster aus spiralförmigen Linien.

Er erstarrte. »Du …«

Doch er kam nicht dazu, den Satz zu beenden. Blitzschnell holte sie aus und schlug ihm mit der offenen Hand so kräftig vor die Brust, dass ein menschliches Wesen normalerweise nach Luft schnappend zu Boden gegangen wäre. Er stolperte rückwärts. Jetzt sah man etwas in ihrer Hand golden glänzen, eine zuckende Peitsche, die sie mit einer weit ausholenden Bewegung schwang und dann auf ihn herabsausen ließ. Der dünne Schwanz der Peitsche wand sich um seine Knöchel und riss ihn von den Füßen. Er schlug auf dem Boden auf und krümmte sich; das verhasste Metall fraß sich tief in seine Haut. Lachend stand sie über ihm und benommen dachte er, dass er es eigentlich hätte wissen müssen. Keine Irdische würde sich wie Isabelle kleiden. Sie hatte das lange Kleid angezogen, um ihre Haut zu bedecken – jeden Zentimeter ihrer Haut!

Mit einem energischen Zug der Peitsche sicherte Isabelle ihren Fang. Ein triumphierendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Er gehört euch, Jungs.«

Hinter sich hörte er leises Lachen. Dann wurde er gepackt, hochgerissen und gegen einen der Pfeiler gestoßen. Er spürte feuchtkalten Beton im Rücken, seine Hände wurden nach hinten gezogen und an den Gelenken mit Draht gefesselt. Während er dagegen ankämpfte, spazierte jemand um den Pfeiler herum in sein Gesichtsfeld – ein blonder Junge, kaum älter als Isabelle und genauso gut aussehend. Die goldbraunen Augen funkelten wie Bernsteinsplitter. »Soso«, stellte er fest. »Sind noch mehr von deiner Sorte hier?«

Der Blauhaarige spürte, wie unter dem zu straff gezogenen Metalldraht Blut hervorquoll und seine Handgelenke glitschig wurden. »Noch mehr wovon?«

»Jetzt tu nicht so.« Der Blonde hob die Hände, sodass die dunklen Ärmel seines Hemdes nach unten rutschten und runenbedeckte Handgelenke, Handrücken und Handflächen freigaben. »Du weißt genau, was ich bin.«

Der Gefesselte fühlte, wie weit hinten in seinem Schädel die zweite Zahnreihe zu knirschen begann.

»Ein Schattenjäger«, zischte er.

Der blonde Junge grinste übers ganze Gesicht. »Bingo.«


Clary stieß die Tür zum Lager auf und schlüpfte hinein. Zuerst dachte sie, der Raum sei leer. Es gab nur wenige Fenster, doch die befanden sich hoch unter der Decke und waren verschlossen; von draußen drangen gedämpfter Straßenlärm, Autohupen und quietschende Reifen an ihr Ohr. Es roch nach alter Farbe und eine dicke Staubschicht voll verwischter Schuhabdrücke bedeckte den Boden.

Es ist niemand hier, stellte Clary verwundert fest und schaute sich um. Trotz der Augusthitze war der Raum kühl. Ihr verschwitzter Rücken fühlte sich eiskalt an. Gleich beim ersten Schritt verfing sich ihr Fuß in einem Elektrokabel. Sie bückte sich, um den Schuh zu befreien, als sie plötzlich Stimmen hörte. Das Lachen eines Mädchens, dann eine scharf reagierende Jungenstimme. Als Clary sich aufrichtete, sah sie sie.

Es schien, als wären sie aus dem Nichts vor ihr aufgetaucht. Da war das Mädchen mit dem langen weißen Kleid; das schwarze Haar floss über ihre Schultern und ihren Rücken wie feuchter Seetang. Neben ihr sah sie die beiden Jungen – ein lang aufgeschossener Kerl mit ebenso dunklen Haaren wie das Mädchen und ein kaum kleinerer Blonder, dessen Haar im dämmrigen Zwielicht wie Messing glänzte. Der Blonde stand mit den Händen in den Taschen vor dem blauhaarigen Punker, dessen Arme und Füße offenbar mit Klavierdraht an den Pfeiler gefesselt waren. Angst und Schmerz hatten seine Züge zu einer Fratze verzogen.

Clarys Herz hämmerte wie wild. Sie duckte sich hinter den nächsten Betonpfeiler, spähte um die Ecke und beobachtete, wie der blonde Junge mit vor der Brust verschränkten Armen hin und her stolzierte. »Du hast mir noch immer nicht gesagt, ob noch mehr von deiner Sorte hier sind.«

Von deiner Sorte? Clary überlegte, was er damit meinen konnte. Vielleicht war sie ja in eine Art Bandenkrieg geraten.

»Ich weiß nicht, wovon du redest«, ächzte der Blauschopf unter Schmerzen, doch mit fester Stimme.

»Er meint andere Dämonen«, meldete sich jetzt der Dunkelhaarige zum ersten Mal zu Wort. »Was ein Dämon ist, brauch ich dir ja nicht zu erklären, oder?«

Der Gefesselte wandte das Gesicht ab; sein Kiefer zuckte.

»Dämonen«, dozierte der Blonde und malte das Wort mit dem Finger in die Luft. »Die Religion definiert sie als Höllenbewohner, als Diener Satans, aber hier, im Sinne des Rats, versteht man darunter jeden bösen Geist, der nicht unserer eigenen Dimension entstammt …«

»Komm, Jace, es reicht«, unterbrach das Mädchen.

»Isabelle hat recht«, erklärte der Dunkelhaarige. »Wir brauchen keine Lektionen in Bedeutungslehre und Dämonologie.«

Die sind verrückt, dachte Clary, völlig verrückt.

Jace hob lächelnd den Kopf. Diese Geste hatte etwas Entschlossenes an sich; sie erinnerte Clary an einen Dokumentarfilm über Löwen, den sie im Discovery Channel gesehen hatte. Genauso hoben die Großkatzen ihren Kopf, wenn sie Beute witterten. »Isabelle und Alec meinen, ich würde zu viel reden«, sagte er Vertraulichkeit vortäuschend. »Was meinst du?«

Der Blauhaarige antwortete zuerst nicht; seine Kiefer malmten noch immer. »Ich kann euch Informationen geben«, sagte er schließlich. »Ich weiß, wo Valentin ist.«

Jace blickte zu Alec hinüber, der die Achseln zuckte. »Valentin ist unter der Erde«, brummte Jace. »Der Typ da will uns bloß hochnehmen.«

Isabelle warf ihr Haar nach hinten. »Komm, Jace, schaff ihn aus der Welt. Er wird uns eh nichts Vernünftiges sagen.«

Jace hob den Arm und Clary sah das Messer im Zwielicht aufblitzen. Es wirkte merkwürdig transparent – die Klinge schimmerte kristallklar und scharf wie eine Glasscherbe. Das Heft war mit roten Steinen besetzt.

»Valentin ist zurück!«, stieß der Gefesselte atemlos hervor und zerrte an den Drähten, die seine Hände festhielten. »Das weiß die ganze Schattenwelt – und ich auch. Ich kann euch sagen, wo er steckt …«

Plötzliche Wut flackerte in Jace’ eiskalten Augen auf. »Beim Erzengel! Jedes Mal, wenn wir einen von euch Dreckskerlen schnappen, behauptet ihr, ihr wüsstet, wo Valentin steckt. Wir wissen es übrigens auch. In der Hölle. Und du …« Jace drehte das Messer in seiner Hand, sodass die Schneide blitzte wie eine Spur aus Feuer, »du wirst ihm gleich dorthin folgen.«

Clary konnte es nicht länger mit anhören und schoss hinter ihrem Pfeiler hervor. »Hört auf!«, brüllte sie. »Das könnt ihr nicht machen!«

Jace wirbelte herum, so verdutzt, dass ihm das Messer aus der Hand flog und über den Betonboden schlitterte. Auch Isabelle und Alec drehten sich zu ihr um, ähnlich verblüfft wie Jace. Der blauhaarige Junge hing in seinen Fesseln, den Mund ungläubig aufgesperrt.

Alec brachte als Erster ein Wort heraus. »Was ist das denn?« Fragend schaute er von Clary zu seinen Freunden, als müssten sie wissen, was Clary dort zu suchen hatte.

»Ein Mädchen«, sagte Jace, der sich rasch wieder gefasst hatte, »du weißt doch, was Mädchen sind, Alec. Deine Schwester Isabelle ist eins.« Er ging einen Schritt auf Clary zu und blinzelte, als könne er nicht ganz glauben, was er da sah. »Eine Irdische«, sagte er, mehr zu sich selbst, »aber sie kann uns sehen.«

»Natürlich kann ich euch sehen«, erwiderte Clary, »ich bin doch nicht blind.«

»Doch. Du weißt es nur nicht«, meinte Jace und bückte sich, um sein Messer aufzuheben. Er richtete sich wieder auf. »Aber jetzt verschwindest du besser – in deinem eigenen Interesse.«

»Ich werde auf keinen Fall gehen«, sagte Clary, »weil ihr ihn sonst umbringt.« Sie zeigte auf den Jungen mit den blauen Haaren.

»Wohl wahr«, räumte Jace ein, wobei er das Messer zwischen den Fingern herumwirbelte, »aber was kümmert es dich, ob ich ihn töte oder nicht?«

»W-w-weil …« Clary stotterte vor Entrüstung. »Weil ihr nicht einfach in der Gegend rumlaufen und Leute umbringen könnt.«

»Auch richtig«, stimmte Jace zu, »man darf nicht einfach herumlaufen und Menschen umbringen.« Er zeigte auf den Blauhaarigen, der die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen hatte. Clary fragte sich, ob er ohnmächtig war. »Aber das da ist kein Mensch, Kleine. Er sieht zwar so aus und redet auch so und möglicherweise blutet er sogar so. Aber er ist ein Monster.«

»Jace«, zischte Isabelle warnend, »es reicht.«

»Du bist verrückt«, sagte Clary und wich vor ihm zurück. »Ich hab die Polizei gerufen, damit du’s weißt. Die wird jeden Moment hier sein.«

»Sie lügt«, sagte Alec, allerdings mit Zweifel in der Stimme. »Jace, mach …«

Er konnte seinen Satz nicht beenden, denn in diesem Moment stieß der blauhaarige Junge ein schrilles Geheul aus, riss sich vom Pfeiler los und stürzte sich auf Jace.

Sie fielen und rollten über den Boden – fast schien es, als besäßen die Hände des Blauhaarigen, die an Jace’ Körper zerrten, metallene Klauen. Clary wich zurück und wollte wegrennen, doch ihre Füße verfingen sich erneut in einer Kabelschlaufe und sie ging so heftig zu Boden, dass ihr die Luft wegblieb. Sie hörte Isabelle schreien. Als sie sich herumrollte, sah sie, dass der Blauhaarige auf Jace’ Brust saß und Blut an den Spitzen seiner rasiermesserscharfen Klauen glitzerte.

Alec rannte auf die Kämpfenden zu, dicht gefolgt von Isabelle, die ihre Peitsche schwang. Der Blauschopf hieb seine ausgefahrenen Klauen in Jace’ Körper. Jace versuchte, sich mit dem Arm zu schützen, doch die Krallen durchfurchten seine Haut und seine Muskeln. Blut spritzte. Wieder holte der Blauhaarige aus – da traf ihn Isabelles Peitsche am Rücken. Er brüllte auf und fiel auf die Seite.

Im nächsten Moment war Jace wieder auf den Beinen. In seiner Hand blitzte eine Klinge auf, die er dem blauhaarigen Jungen tief in die Brust stieß. Um das Heft des Dolchs schoss schwarze Flüssigkeit in die Höhe. Der Junge wälzte sich windend und gurgelnd am Boden. Jace stand auf und verzog das Gesicht. Sein schwarzes Hemd war jetzt an den Stellen, wo das Blut es getränkt hatte, noch dunkler. Er schaute auf die zuckende Gestalt zu seinen Füßen und zerrte das Messer aus ihr heraus. Das Heft glänzte von der schwarzen Flüssigkeit.

Der Blauschopf starrte Jace mit glühenden Augen an. Zwischen zusammengebissenen Zähnen zischte er: »So sei es. Die Forsaken werden euch alle holen.«

Jace’ Antwort war ein Knurren. Der Blauschopf verdrehte die Augen. Dann begann sein Körper, wild zu zucken – und plötzlich schrumpfte er und fiel immer weiter in sich zusammen, bis er kleiner und kleiner wurde und schließlich ganz verschwand.

Clary rappelte sich auf und kickte das Kabel weg. Langsam machte sie ein paar Schritte rückwärts; niemand beachtete sie. Alec kümmerte sich um Jace und rollte dessen Hemdsärmel hoch, um die Verletzung genauer zu untersuchen. Clary drehte sich um, bereit wegzurennen – da stand plötzlich Isabelle vor ihr, die Peitsche in der Hand. Die goldene Schnur war auf ganzer Länge mit dunkler Flüssigkeit getränkt. Isabelle ließ die Peitsche schnalzen; das Ende wickelte sich um Clarys Handgelenk und zog sich fest zu. Vor Schmerz und Überraschung schnappte Clary keuchend nach Luft.

»Du dämliche Mundie«, zischte Isabelle wütend, »Jace hätte sterben können.«

»Er ist verrückt«, stieß Clary hervor und versuchte, ihr Handgelenk zurückzuziehen, doch die Schnur schnitt nur noch tiefer in ihre Haut. »Ihr seid alle vollkommen durchgeknallt. Für wen haltet ihr euch eigentlich? Für eine bewaffnete Bürgerwehr? Die Polizei …«

»Interessiert sich normalerweise nicht für Fälle ohne Leiche«, sagte Jace. Er hielt sich den Arm und bahnte sich zwischen den Kabelhaufen einen Weg zu Clary. Alec folgte mit finsterer Miene.

Clary schaute auf die Stelle, an der der Blauhaarige sich aufgelöst hatte, und schwieg. Nicht einmal ein Tropfen Blut war zu sehen – nichts deutete darauf hin, dass der Junge je existiert hatte.

»Falls du dich fragen solltest, wo er ist: Sie kehren in ihre eigene Dimension zurück, wenn sie sterben«, erklärte Jace.

»Jace«, zischte Alec und packte ihn am Arm, »halt dich zurück.«

Jace entzog ihm den Arm. Sein blutverschmiertes Gesicht sah gespenstisch aus. Mit den bernsteinfarbenen Augen und dem goldbraunen Haar erinnerte er Clary mehr denn je an einen Löwen. »Sie kann uns sehen, Alec«, sagte er. »Sie weiß sowieso schon zu viel.«

»Und was soll ich jetzt mit ihr machen?«, fragte Isabelle.

»Lass sie laufen«, erwiderte Jace ruhig. Isabelle warf ihm einen überraschten, fast wütenden Blick zu, sagte aber nichts. Die Peitschenschnur glitt zu Boden und gab Clarys Arm frei. Clary rieb sich das schmerzende Handgelenk und fragte sich, wie sie sich möglichst schnell aus dem Staub machen konnte.

»Vielleicht sollten wir sie besser mitnehmen«, überlegte Alec. »Hodge würde bestimmt gern mit ihr reden.«

»Wir können sie auf keinen Fall ins Institut bringen«, konterte Isabelle, »sie ist eine Mundie

»Ach, tatsächlich?«, fragte Jace leise; sein ruhiger Ton wirkte bedrohlicher als Isabelles bissige Art oder Alecs Wut. »Hast du dich mit Dämonen eingelassen, Kleine? Hast mit Hexenmeistern gemeinsame Sache gemacht, mit den Kindern der Nacht gewacht? Hast du …«

»Erstens heiß ich nicht ›Kleine‹«, unterbrach Clary ihn, »und zweitens weiß ich nicht, wovon du überhaupt redest.« Wirklich nicht?, dröhnte eine Stimme tief in ihrem Innern. Du hast doch gesehen, wie sich der Junge in Luft aufgelöst hat. Jace ist nicht verrückt – das hättest du nur gern. »Ich glaub nicht an … an Dämonen oder was du da …«

»Clary?« Das war Simons Stimme. Clary wirbelte herum. Dort stand er in der Tür des Lagerraums, einen der kräftigen Türsteher im Schlepptau. »Alles in Ordnung mit dir?« Er blinzelte, um seine Augen an das Dämmerlicht zu gewöhnen, und sah sich um. »Was treibst du hier eigentlich allein? Und was ist mit den Typen mit den Messern?«

Clary starrte ihn an und blickte dann über ihre Schulter zu Jace, Isabelle und Alec zurück. Jace stand noch immer mit blutverschmiertem Hemd und dem Messer in der Hand da. Grinsend zuckte er halb entschuldigend, halb amüsiert die Achseln. Es schien ihn nicht zu überraschen, dass weder Simon noch der Türsteher ihn sehen konnten.

Und Clary wunderte es irgendwie auch nicht. Langsam wandte sie sich wieder Simon zu. Ihr war bewusst, wie sie auf ihn wirken musste – allein in dem feuchtkalten Lagerraum, die Füße in bunten Stromkabeln verheddert. »Ich dachte, sie wären hier reingegangen«, murmelte sie, »aber ich hab mich wohl getäuscht. Tut mir leid.« Sie blickte von Simon, dessen besorgte Miene nun vor Verlegenheit rot anlief, zum Türsteher, der einen genervten Eindruck machte. »War wohl ein Irrtum.«

Hinter sich hörte sie Isabelle kichern.


»Ich kann’s einfach nicht glauben«, knurrte Simon ungläubig. Clary stand an der Bordsteinkante und versuchte vergebens, ein Taxi heranzuwinken. Während ihres Aufenthalts im Gub war die Orchard Street gereinigt worden und die Straße schimmerte nun schwarz vom ölverschmierten Wasser.

»Genau, man sollte doch annehmen, dass zumindest ein paar Taxen hier langfahren. Wo sind die um die Uhrzeit denn alle hin?« Clary drehte sich zu Simon um und fragte achselzuckend: »Meinst du, auf der Houston Street haben wir mehr Glück?«

»Ich rede nicht von irgendwelchen Taxen«, erwiderte Simon, »sondern von dir. Ich glaub dir nicht. Es kann doch nicht sein, dass deine Messerschwinger einfach verschwunden sind.«

Clary seufzte. »Vielleicht waren da ja gar keine Messerschwinger, Simon. Vielleicht hab ich mir das alles nur eingebildet.«

»Quatsch.« Simon hob mehrmals die Hand, doch die Taxen rasten an ihm vorbei, Schmutzwasser aufwirbelnd. »Ich hab dein Gesicht gesehen, als ich in das Lager kam. Du hast total entsetzt gewirkt, als wäre dir gerade ein Geist begegnet.«

Clary dachte an Jace und seine Löwenaugen. Dann schaute sie kurz auf ihr Handgelenk, an dem Isabelles Peitsche eine dünne rote Linie hinterlassen hatte. Nein, keine Geister, dachte sie, sondern etwas viel Unglaublicheres.

»Ich hab mich einfach geirrt«, erwiderte sie lahm und fragte sich, warum sie ihm nicht die Wahrheit sagte. Weil er sie für verrückt halten würde. Außerdem hatte dieser ganze Vorfall etwas an sich – das schwarze, hochspritzende Blut an Jace’ Messer und seine Stimme, als er fragte: Hast du mit den Kindern der Nacht gewacht? –, dass sie lieber nicht darüber reden wollte.

»Ein ziemlich peinlicher Irrtum«, brummte Simon und warf einen Blick zurück in Richtung des Clubs, vor dessen Eingang noch immer eine lange Schlange stand. »Ich bezweifle, dass sie uns noch mal ins Pandemonium reinlassen.«

»Na und? Das kann dir doch egal sein. Du findest den Laden ja sowieso blöd.« Clary hob erneut die Hand, als ein gelbes Fahrzeug auf sie zusauste. Glücklicherweise stoppte der Fahrer sein Taxi quietschend an der Ecke des Blocks. Er hupte sogar, als müsse er sie erst noch auf sich aufmerksam machen.

»Na endlich.« Simon riss die Wagentür auf und rutschte auf die kunststoffbezogene Rückbank. Clary folgte ihm und sog den vertrauten Geruch der New Yorker Taxis ein – eine Mischung aus kaltem Rauch, Leder und Haarspray. »Nach Brooklyn«, instruierte Simon den Fahrer. Dann wandte er sich Clary zu. »Du weißt doch, dass du mir alles erzählen kannst, oder?«

Clary zögerte einen Moment und nickte dann. »Das weiß ich, Simon.«

Sie schlug die Tür zu und das Taxi schoss in die Nacht.

2 Geheimnisse und Lügen

Rittlings saß der dunkle Prinz im Sattel seines schwarzen Streitrosses; ein dunkler Umhang umspielte seine Schultern. Ein goldener Reif bändigte die blonden Locken, sein attraktives Antlitz glühte vom Schlachtengetümmel …

»Und sein Arm sah aus wie eine Aubergine«, murmelte Clary entnervt. Die Zeichnung wollte ihr einfach nicht gelingen. Seufzend riss sie auch dieses Blatt vom Skizzenblock, knüllte es zusammen und pfefferte es gegen die orangefarbene Wand ihres Zimmers. Der Boden war bereits mit zerknüllten Papierbällchen übersät – ein deutliches Zeichen dafür, dass sie den Inspirationsfluss nicht so umsetzen konnte, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie wünschte sich zum tausendsten Mal, mehr wie ihre Mutter zu sein. Alles, was Jocelyn Fray zeichnete, skizzierte oder malte, ging ihr perfekt und scheinbar mühelos von der Hand.

Clary setzte abrupt die Kopfhörer ab, mitten in einem Song von Stepping Razor, und rieb sich die pochenden Schläfen. Erst jetzt hörte sie das laute Schrillen des Telefons durch die Wohnung hallen. Sie warf den Zeichenblock aufs Bett, sprang auf und rannte ins Wohnzimmer, wo das rote RetrodesignTelefon auf dem Tischchen am Eingang thronte.

»Ist da Clarissa Fray?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung kam ihr irgendwie bekannt vor, doch sie konnte sie nicht direkt einordnen.

Clary wickelte das Kabel des Telefonhörers nervös um einen Finger. »Jaaa?«

»Hi, ich bin einer von den messerschwingenden Hooligans, die du gestern im Pandemonium getroffen hast. Ich fürchte, ich hab keinen besonders guten Eindruck bei dir hinterlassen, und wollte dich bitten, mir noch eine Chance zu geben und …«

»Simon!« Clary hielt den Hörer vom Ohr weg, als er in schallendes Gelächter ausbrach. »Ich finde das überhaupt nicht witzig!«

»Witzig ist es schon; du verstehst nur die Pointe nicht.« »Idiot.« Clary seufzte und lehnte sich an die Wand. »Du hättest sicher nicht gelacht, wenn du gestern Abend noch mit zu mir raufgekommen wärst.«

»Wieso?«

»Meine Mutter. Sie war nicht gerade begeistert, dass wir erst so spät aufgekreuzt sind. Sie ist regelrecht ausgeflippt. Es war echt übel.«

»Was? Der Stau war doch nicht deine Schuld!« Simon war empört; als jüngstes von drei Kindern hatte er ein feines Gespür für familiäre Ungerechtigkeiten.

»Na ja, sie sieht das anders. Ich habe sie enttäuscht, sie hängen lassen, ihr Sorgen bereitet, bla, bla, bla. Ich bin der Nagel zu ihrem Sarg«, imitierte sie ihre Mutter wortgetreu, nur von leichten Gewissensbissen geplagt.

»Und, hast du Hausarrest?«, fragte Simon irritierend laut.

Clary hörte halblaute Stimmen im Hintergrund; mehrere Leute redeten durcheinander.

»Ich weiß es noch nicht«, sagte sie. »Meine Mutter ist heute Morgen mit Luke weggefahren und sie sind noch nicht zurück. Wo steckst du überhaupt? Bei Eric?«

»Ja. Wir sind gerade mit der Probe fertig.« Ein Becken, das genau hinter Simon geschlagen wurde, ließ Clary zusammenzucken. »Eric hat heute Abend eine Lyriklesung drüben im Java Jones«, fuhr Simon fort. Das Java Jones war ein Café nicht weit von Clarys Wohnung, in dem an manchen Abenden Livekonzerte stattfanden. »Die ganze Band läuft zur Unterstützung auf. Kommst du mit?«

»Okay.« Clary hielt inne und zerrte nervös am Hörerkabel. »Warte mal, lieber doch nicht.«

»Seid kurz mal ruhig, Jungs, okay?«, schrie Simon. Clary merkte, dass er den Hörer weit vom Mund weghielt, da sein Gebrüll nur schwach bei ihr ankam. Sekunden später war er wieder am Apparat. »War das jetzt ein Ja oder ein Nein?«, fragte er leicht verunsichert.

»Ich bin nicht ganz sicher.« Clary biss sich auf die Lippe. »Meine Mutter ist noch sauer wegen gestern Abend. Und ich hab keine Lust, sie in ihrer Scheißlaune um etwas zu bitten und deswegen Ärger zu kriegen. Zumindest nicht wegen Erics poetischen Ergüssen.«

»Ach komm schon, so schlecht ist er nun auch wieder nicht.« Eric war Simons Nachbar; die beiden kannten sich schon fast ihr ganzes Leben lang. Mit Eric war Simon zwar nicht so eng befreundet wie mit Clary, aber sie hatten schon im zweiten Highschool-Jahr mit Erics Freunden Matt und Kirk eine Rockband gegründet. Gemeinsam probten sie jede Woche in der Garage von Erics Eltern. »Außerdem bittest du sie ja gar nicht um einen Gefallen«, fuhr Simon fort. »Das ist eine ganz gesittete Poetry-Slam-Veranstaltung gleich um die Ecke; ich schleife dich schließlich nicht zu einer Orgie in Hoboken. Außerdem kann deine Mutter mitkommen, wenn sie will.«

»Orgie in Hoboken!«, hörte Clary jemanden johlen, vermutlich Eric. Ein weiterer krachender Beckenschlag. Allein bei der Vorstellung, dass ihre Mutter gezwungen sein könnte, sich Erics Gedichte anzuhören, lief es ihr kalt den Rücken hinunter.

»Ich weiß nicht. Die flippt aus, wenn ihr alle hier aufkreuzt.«

»Gut, dann komm ich allein vorbei und wir gehen zu Fuß rüber und treffen die anderen dort. Deine Mutter ist bestimmt einverstanden. Sie mag mich.«

»Was nicht gerade für ihren Geschmack spricht, wenn du mich fragst«, prustete Clary.

»Dich fragt aber keiner.« Simon legte unter wildem Gejohle der Bandkollegen auf.

Clary legte den Hörer zurück auf die Gabel und sah sich im Wohnzimmer um. Es wimmelte nur so von Zeugnissen der künstlerischen Ader ihrer Mutter, angefangen bei den selbst genähten Samtkissen auf dem dunkelroten Sofa bis hin zu Jocelyns sorgsam gerahmten Bildern an den Wänden. Das Meiste waren Landschaften: die Straßen von Manhattan im goldenen Sonnenlicht, winterliche Szenen im Prospect Park, graue Teiche mit weißen Eisrändern, die an geklöppelte Spitze erinnerten.

Auf dem Kaminsims stand ein gerahmtes Foto von Clarys Vater. Kleine Lachfalten in den Augenwinkeln straften die ernste Miene des blonden Manns in Soldatenkleidung Lügen. Er hatte im Ausland gedient und war mehrfach geehrt worden; Jocelyn besaß noch ein paar seiner Militärabzeichen. Doch auch die Medaillen hatten ihm nicht geholfen, als Jonathan Clark mit seinem Wagen kurz vor Albany gegen einen Baum gerast und gestorben war – noch ehe seine Tochter zur Welt kam.

Jocelyn hatte nach seinem Tod wieder ihren Mädchennamen angenommen. Sie sprach nie von Clarys Vater, hatte aber ein Holzkästchen mit den Initialen J. C. neben ihrem Bett stehen, in der sie die Abzeichen aufbewahrte. Neben den Medaillen enthielt das Kästchen noch zwei Fotos, einen Ehering und eine blonde Haarlocke. Manchmal öffnete Jocelyn es, nahm die Locke heraus und streichelte sie sanft mit den Fingern, ehe sie sie wieder hineinlegte und das Kästchen verschloss.

Das Geräusch eines Schlüssels im Schloss der Eingangstür riss Clary aus ihren Gedanken. Rasch warf sie sich auf die Couch und tat so, als sei sie in eines der Taschenbücher aus dem Stapel vertieft, den ihre Mutter auf dem Couchtisch deponiert hatte. Für Jocelyn war Lesen eine heilige Tätigkeit; sie unterbrach Clary dabei normalerweise nicht einmal, um mit ihr zu schimpfen.

Polternd flog die Tür auf. Luke schwankte herein, völlig überladen mit etwas, das nach Pappkartons aussah. Als er den Stapel absetzte, erkannte Clary, dass es sich um zusammengefaltete Umzugskisten handelte. Luke richtete sich auf und grinste.

»Hey, On … ich meine, hi, Luke«, begrüßte Clary ihn. Vor etwa einem Jahr hatte er sie gebeten, ihn nicht mehr Onkel zu nennen, weil er sich dann so alt fühlte und immer an Onkel Toms Hütte denken musste. Außerdem hatte er sie sanft daran erinnert, dass er gar nicht ihr richtiger Onkel, sondern nur ein enger Freund ihrer Mutter war, den sie schon ein Leben lang kannte. »Wo ist Mom?«

»Sie parkt gerade den Wagen«, erwiderte er und dehnte ächzend seinen hoch aufgeschossenen, schlaksigen Körper. Er trug sein übliches Outfit: alte Jeans, dickes Holzfällerhemd und eine Brille mit Goldrand auf der Nase. »Kannst du mir noch mal sagen, warum dieses Haus keinen Lastenaufzug hat?«

»Weil es alt ist und Atmosphäre hat«, entgegnete Clary wie aus der Pistole geschossen. Luke musste grinsen. »Wofür sind diese Kartons?«

Sein Grinsen verflog. »Deine Mutter wollte ein paar Sachen zusammenpacken.« Er wich ihrem Blick aus.

»Was für Sachen?«, hakte Clary nach.

Er machte eine unbestimmte Handbewegung. »Irgendwelchen Krempel, der nur im Weg herumliegt. Sie kann ja nichts wegwerfen. Und was machst du da? Lernen?« Er nahm das Buch und las laut: »Noch immer wimmelt es in unserer Welt von all diesen seltsamen Wesen, die die moderne Philosophie verworfen hat. Noch immer treiben Feen und Kobolde, Geister und Dämonen …« Er ließ das Buch sinken und schaute sie über den Brillenrand hinweg an. »Ist das für die Schule?«

»Frazers Der goldene Zweig? Nein, die Schule geht erst in zwei Wochen los.« Clary nahm das Buch wieder an sich. »Das gehört Mom.«

»Ich hatte mir schon so was gedacht…«

Sie legte das Buch zurück auf den Tisch. »Luke?«

»Hm?« Luke hatte das Buch bereits vergessen und wühlte in einer Werkzeugkiste, die vor dem Kamin stand. »Ah, da ist er ja.« Er zog einen orangefarbenen Paketbandabroller heraus und betrachtete ihn zufrieden.

»Was würdest du tun, wenn du etwas siehst, das sonst niemand sehen kann?«

Der Abroller fiel Luke aus der Hand und krachte auf die Fliesen vor dem Kamin. Luke bückte sich und hob ihn auf, ohne Clary dabei anzuschauen. »Du meinst, wenn du als Einzige ein Verbrechen beobachtest oder so etwas?«

»Nein. Ich meine, wenn andere Leute dabei sind, aber du der Einzige bist, der es sehen kann. Als ob es für alle anderen unsichtbar wäre.«

Er hielt inne; seine Hand umklammerte den leicht lädierten Abroller.

»Ich weiß, dass es verrückt klingt«, bohrte Clary nervös weiter, »aber …«

Luke drehte sich zu ihr um. Seine tiefblauen Augen ruhten liebevoll auf ihr. »Clary, du bist eine Künstlernatur, genau wie deine Mutter. Deshalb kannst du diese Welt auf eine andere Weise sehen als andere Leute. Du hast die Gabe, Schönes und Schreckliches in alltäglichen Dingen zu erkennen. Deswegen bist du noch lange nicht verrückt, sondern einfach nur anders. Es ist absolut okay, anders zu sein.«

Clary zog die Beine an und stützte ihr Kinn auf die Knie. Vor ihrem geistigen Auge zogen noch einmal der Lagerraum, Isabelles goldene Peitsche, der sich in Todeskrämpfen windende blauhaarige Junge und Jace’ goldbraune Augen vorbei. Schönes und Schreckliches. »Glaubst du, dass mein Dad ein Künstler wäre, wenn er noch leben würde?«

Luke schaute verblüfft. Doch ehe er antworten konnte, öffnete sich die Tür und Clarys Mutter kam herein. Die Absätze ihrer Stiefel klapperten über das polierte Parkett. Sie reichte Luke den klirrenden Bund mit den Autoschlüsseln und drehte sich zu ihrer Tochter um.

Jocelyn Fray war eine schlanke, ranke Frau. Ihr langes Haar schimmerte ein paar Nuancen dunkler als Clarys und war zu einem dunkelroten Knoten hochgesteckt, den sie mit einem Bleistift fixiert hatte. Über ihrem lavendelblauen T-Shirt trug sie einen mit Farbe bekleckerten Overall und auch an den Sohlen ihrer braunen Stiefel klebte Farbe.

Alle sagten, Clary sähe aus wie ihre Mutter – nur sie selbst war anderer Meinung. Die einzige Gemeinsamkeit, die sie erkennen konnte, offenbarte sich in ihrer Figur: Sie waren beide schlank, mit schmächtiger Brust und schmalen Hüften. Doch Clary wusste, dass sie keine Schönheit war wie ihre Mutter; dazu fehlten ihr ein paar Zentimeter. Mit gerade mal ein Meter fünfzig war man süß. Nicht hübsch, auch nicht schön, einfach nur süß. Dazu noch das karottenrote Haar und die unzähligen Sommersprossen … Neben ihrer Mutter sah sie aus wie eine Lumpenpuppe neben einer Barbie.

Außerdem bewegte Jocelyn sich so anmutig, dass die Leute ihre Köpfe verdrehten, wenn sie vorbeiging. Clary dagegen stolperte ständig über die eigenen Füße. Ihr schaute nur jemand nach, wenn sie an ihm vorbei die Treppe hinunterfiel.

»Danke, dass du mir die Kartons hochgebracht hast.« Clarys Mutter schenkte Luke ein Lächeln, das er jedoch nicht erwiderte. Clary spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Irgendetwas ging hier vor. »Tut mir leid, dass ich so lange zum Parken gebraucht habe. Anscheinend war heute eine Million Leute unterwegs …«

»Mom«, unterbrach Clary sie, »wofür sind diese Kisten?«

Jocelyn biss sich auf die Lippe. Luke rollte die Augen in Clarys Richtung, als wolle er Jocelyn stumm zu etwas drängen. Mit einer nervösen Handbewegung schob sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr und setzte sich zu ihrer Tochter auf die Couch.

Aus der Nähe bemerkte Clary, wie müde ihre Mutter aussah. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und ihre Augenlider schimmerten durch den Schlafmangel perlmuttgrau.

»Hängt das irgendwie mit gestern Abend zusammen?«, fragte Clary.

»Nein«, erwiderte ihre Mutter rasch und zögerte dann. »Na ja, ein bisschen schon. Das gestern Abend hättest du nicht tun dürfen. Das weißt du ganz genau.«

»Dafür habe ich mich doch schon entschuldigt. Warum fängst du jetzt noch mal damit an? Wenn du mir Hausarrest verpassen willst, dann sag es einfach.«

»Ich will dich nicht einsperren«, sagte ihre Mutter mit angespannter Stimme. Dann schaute sie Luke an, der jedoch den Kopf schüttelte.

»Sag’s ihr einfach, Jocelyn«, meinte er.

»Könntet ihr bitte aufhören, über mich zu reden, als ob ich nicht da wäre?«, protestierte Clary verärgert. »Und was meint ihr mit ›mir sagen‹? Was soll sie mir sagen?«

Jocelyn seufzte schwer. »Wir fahren in Urlaub.«

Lukes Gesichtsausdruck wurde undurchdringlich wie ein Stück Leinwand ohne Farbe.

Clary schüttelte den Kopf. »Was soll das alles? Ihr fahrt in Urlaub?« Sie ließ sich in die Kissen zurückfallen. »Ich kapier es nicht. Wozu dann der ganze Aufstand?«

»Du hast mich nicht richtig verstanden. Ich meinte, dass wir alle in Urlaub fahren, wir drei – du, Luke und ich. Wir fahren ins Landhaus.«

»Oh.« Clary schaute zu Luke hinüber; er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und starrte mit verkrampftem Kiefer aus dem Fenster. Sie fragte sich, was ihn so wütend machte. Schließlich liebte er die alte Farm im Norden von New York – er hatte sie selbst vor zehn Jahren gekauft und renoviert und verbrachte so viel Zeit dort, wie er nur konnte. »Wie lange bleiben wir denn?«

»Den Rest des Sommers«, antwortete Jocelyn. »Ich hab diese Kartons gekauft, für den Fall, dass du irgendwas einpacken willst, Bücher, Malsachen …«

»Den ganzen Rest des Sommers?« Clary richtete sich empört auf. »Das geht nicht, Mom. Ich habe auch mein Pläne – Simon und ich wollen eine Party zum Schulbeginn machen, ich habe eine Menge Termine mit meiner Kunst-AG und noch zehn Stunden bei Trish …«

»Das mit Trish tut mir leid. Aber alles andere lässt sich absagen. Simon wird das schon verstehen und die Kunst-AG auch.«

Clary bemerkte die Unnachgiebigkeit im Ton ihrer Mutter; anscheinend war es ihr sehr ernst. »Aber ich habe für den Kunstunterricht bezahlt! Ich hab ein ganzes Jahr lang dafür gespart! Du hast es mir versprochen!« Sie fuhr herum und beschwor Luke: »Sag’s ihr! Sag ihr, dass das unfair ist!«

Luke starrte weiter aus dem Fenster; ein Muskel zuckte in seiner Wange. »Sie ist deine Mutter. Es ist ihre Entscheidung.«

»Ich glaub’s einfach nicht.« Clary wandte sich wieder an ihre Mutter. »Warum?«

»Ich muss hier weg, Clary«, sagte Jocelyn und ihre Mundwinkel zitterten. »Ich brauche Ruhe und Frieden, um malen zu können. Und wir sind gerade knapp bei Kasse …«

»Dann verkauf doch noch ein paar von Dads Aktien«, erwiderte Clary wütend. »Das machst du doch sonst auch immer, oder?«

Jocelyn fuhr hoch. »Werd jetzt bitte nicht unfair!«

»Mom, wenn du fahren willst, dann fahr doch. Es macht mir nichts aus, ohne dich hierzubleiben. Ich kann arbeiten und mir einen Job bei Starbucks oder so besorgen. Simon sagt, die suchen immer Leute. Ich bin alt genug, um selbst auf mich aufzupassen …«

»Nein!« Der schneidende Ton in Jocelyns Stimme ließ Clary zusammenzucken. »Ich geb dir das Geld für den Kunstunterricht zurück, Clary, aber du kommst mit uns. Das steht völlig außer Frage. Du bist zu jung, um allein hierzubleiben. Es könnte etwas passieren.«

»Was soll denn schon passieren?«, gab Clary zurück.

In dem Moment krachte es. Erstaunt schnellte Clary herum und sah, dass Luke eines der gerahmten Bilder umgestoßen hatte, die an der Wand lehnten. Sichtlich verärgert stellte er es wieder auf. Als er sich aufrichtete, bemerkte sie seinen verbissenen Gesichtsausdruck. »Ich werd dann mal gehen.«

Jocelyn biss sich auf die Lippe. »Warte.« Sie hastete ihm bis zur Wohnungstür nach, wo sie ihn einholte, als er den Türknauf schon in der Hand hatte. Clary, die vom Sofa aus spitze Ohren machte, konnte das eindringliche Flüstern ihrer Mutter nur halb verstehen. »… Bane«, wisperte sie, »ich versuche schon seit drei Wochen, ihn zu erreichen. Laut Anrufbeantworter ist er in Tansania. Was soll ich denn machen?«

»Jocelyn«, erwiderte Luke kopfschüttelnd, »du kannst doch nicht bis in alle Ewigkeit ständig zu ihm laufen.«

»Aber Clary …«

»… ist nicht Jonathan«, zischte Luke. »Du hast dich total verändert, seit das passiert ist, bist danach nie mehr dieselbe gewesen, aber Clary ist nun mal nicht Jonathan

Was hat mein Vater denn damit zu tun?, dachte Clary verblüfft.

»Ich kann sie nicht ständig im Haus behalten und nicht mehr vor die Tür lassen. Das macht sie nicht mit.«

»Natürlich nicht!« Luke klang nun wirklich aufgebracht. »Sie ist kein Haustier, sondern ein Teenager, fast schon erwachsen.«

»Aber wenn wir aus der Stadt raus wären …«

»Du musst mit ihr reden, Jocelyn.« Luke klang entschlossen. »Ich meine es ernst.« Er griff nach dem Türknauf.

In dem Moment flog die Tür auf. Jocelyn stieß vor Schreck einen kleinen Schrei aus.

»Großer Gott!«, entfuhr es Luke.

»Ich bin’s nur«, erklärte Simon unbekümmert, »obwohl ich oft zu hören bekomme, dass ich ihm verblüffend ähnlich sehe.« Er winkte Clary von der Tür aus zu. »Bist du so weit?«

Jocelyn holte tief Luft, dann fasste sie sich. »Simon, hast du etwa an der Tür gelauscht?«

Simon blinzelte überrascht. »Nein, ich bin gerade erst gekommen.« Er bemerkte Jocelyns bleiche Mine und Lukes angespannten Gesichtsausdruck. »Stimmt was nicht? Soll ich wieder gehen?«

»Keine Sorge, wir sind sowieso gerade fertig.« Luke quetschte sich an Simon vorbei und polterte geräuschvoll die Treppe hinunter. Unten hörte man die Haustür zuschlagen.

Simon drückte sich unsicher im Eingang herum. »Ich kann auch später noch mal wiederkommen. Wirklich. Das macht mir nichts aus.«

»Das wäre vielleicht …«, setzte Jocelyn an, aber Clary war schon aufgesprungen.

»Vergiss es, Simon, wir gehen«, sagte sie schnell, riss ihre Kuriertasche vom Garderobehaken im Flur und warf sie sich über die Schulter. Ihrer Mutter schenkte sie einen feindseligen Blick. »Bis später, Mom.«

Jocelyn biss sich auf die Unterlippe. »Clary, lass uns noch mal darüber reden.«

»Dafür haben wir im Urlaub ja mehr als genug Zeit«, konterte Clary giftig und sah mit Genugtuung, wie ihre Mutter zusammenzuckte. »Warte nicht auf mich«, fügte sie noch hinzu, dann packte sie Simon am Arm und zerrte ihn förmlich in Richtung Tür.

Er sträubte sich und warf Clarys Mutter, die allein und verloren in der Diele stand und die Hände verkrampft zusammenpresste, über die Schulter einen halb entschuldigenden Blick zu. »Ciao, Mrs Fray«, rief er. »Schönen Abend noch!«

»Ach, halt die Klappe, Simon …«, fauchte Clary und schlug die Tür hinter sich zu, sodass die Antwort ihrer Mutter ungehört verhallte.

»Mann, du reißt mir ja den Arm ab«, protestierte Simon, als Clary ihn hinter sich die Treppe hinunterzog. Ihre grünen Skechers dröhnten mit jedem wütenden Schritt auf den Holzstufen. Sie schaute zurück nach oben und rechnete fast damit, das Gesicht ihrer Mutter am Geländer zu sehen, doch die Wohnungstür blieb verschlossen.

»Tut mir leid«, murmelte Clary und ließ Simons Handgelenk los. Sie blieb kurz am Fuß der Treppe stehen, um ihre Tasche richtig umzuhängen.

Wie die meisten Sandsteinbauten in Park Slope hatte Clarys Haus früher einer reichen Familie gehört. Ein Abglanz seiner einstigen Pracht ließ sich noch an dem geschwungenen Treppenlauf und dem angeschlagenen Marmorboden der Eingangshalle erkennen, deren Oberlicht von einer einzigen Glasscheibe bedeckt wurde. Vor langer Zeit hatte man das Gebäude in mehrere Wohnungen unterteilt. Clary und ihre Mutter bewohnten das dreigeschossige Haus gemeinsam mit einer älteren Dame, die in ihrer Wohnung im Erdgeschoss als Hellseherin arbeitete. Sie verließ ihre Räumlichkeiten fast nie, obwohl sie nur selten Kundschaft empfing. Das goldene Schild an ihrer Tür wies sie als »MADAME DOROTHEA, SEHERIN UND WAHRSAGERIN« aus.

Der süße, schwere Duft nach Räucherstäbchen quoll aus der halb geöffneten Tür in die Eingangshalle. Clary hörte leises Gemurmel.

»Schön, dass ihr Geschäft floriert«, meinte Simon, »in unseren Zeiten findet sich für Seher viel zu selten regelmäßige Arbeit.« »Kannst du dir deine sarkastischen Sprüche mal sparen?«, fauchte Clary ihn an.

Simon schaute verdutzt, ehrlich betroffen. »Ich dachte, du magst es, wenn ich geistreich und ironisch bin.«

Clary wollte gerade etwas darauf erwidern, als sich Madame Dorotheas Tür ganz öffnete und ein Mann heraustrat. Er war hochgewachsen, hatte goldbraune Haut, katzengleiche goldgrüne Augen und wirres schwarzes Haar. Der Mann schenkte ihr ein blendendes Lächeln, das seine scharfen weißen Zähne zum Vorschein kommen ließ.

Ein Schwindelgefühl überkam sie, ganz so, als ob sie jeden Moment ohnmächtig werden könnte.

Simon starrte sie besorgt an. »Alles in Ordnung? Du siehst aus, als würdest du gleich umfallen.«

Clary blinzelte und setzte eine erstaunte Miene auf. »Äh, was? Nein, nein, mir geht’s gut.«

Doch anscheinend nahm Simon ihr das nicht ab. »Du siehst aus, als hättest du gerade einen Geist gesehen.«

Sie schüttelte den Kopf. Vor ihrem inneren Auge tauchte eine vage Erinnerung auf, die Erinnerung an etwas, das sie gesehen hatte. Aber als sie sich darauf konzentrierte, löste sie sich in Luft auf. »Nein, es ist nichts. Ich dachte, ich hätte Dorotheas Katze gesehen, aber es war wohl bloß eine Lichtspiegelung.« Simon musterte sie ernst. »Außerdem habe ich seit gestern nichts gegessen«, rechtfertigte sie sich. »Wahrscheinlich bin ich deswegen ein bisschen daneben.«

Beschützend legte er ihr den Arm um die Schultern.

»Komm, ich lad dich zum Essen ein.«


»Ich versteh einfach nicht, wie man so sein kann«, sagte Clary zum vierten Mal und versuchte, mit einem Nacho etwas Guacamole von ihrem Teller zu schaufeln. Sie saßen beim Mexikaner um die Ecke, einem winzigen Laden namens »Nacho Mama«. »Es ist schon schlimm genug, dass sie mir alle zwei Wochen Hausarrest verpasst. Aber jetzt werd ich auch noch für den Rest des Sommers ins Exil geschickt.« »Du kennst doch deine Mutter. Ab und zu ist sie nun mal so – etwa jede zweite Minute«, grinste Simon sie über seinen vegetarischen Burrito hin an.

»Du hast gut lachen«, erwiderte sie beleidigt. »Du wirst ja auch nicht Gott weiß wie lange in die hinterletzte Pampa verschleppt …«

»Clary.« Simon unterbrach ihre Tirade. »Erstens hab ich dir nichts getan und zweitens ist es nicht für immer.«

»Und woher willst du das wissen?«

»Weil ich deine Mutter kenne«, erwiderte Simon nach kurzem Zögern. »Ich meine, du und ich, wir sind jetzt schon seit … hm … seit zehn Jahren befreundet. Ich weiß eben, dass sie manchmal so ist. Sie wird sich schon wieder beruhigen.« Clary spießte eine Chilischote auf und knabberte geistesabwesend an der Spitze. »Ja, aber kennst du sie tatsächlich?

Manchmal frage ich mich nämlich, ob überhaupt jemand sie wirklich kennt.«

Simon machte ein ratloses Gesicht. »Was willst du damit sagen?«

Clary atmete tief durch, um das Brennen im Mund zu lindern. »Na ja sie erzählt nie etwas von sich. Ich weiß nichts über ihre Kindheit, ihre Familie und kaum etwas darüber, wie sie meinen Dad kennengelernt hat. Nicht mal Hochzeitsfotos hat sie. Als ob ihr Leben erst angefangen hätte, als sie mich bekam. Damit redet sie sich nämlich immer raus, wenn ich sie danach frage.«

»Ah, wie romantisch.« Simon zog ein Gesicht.

»Nein, das ist es nicht. Es ist merkwürdig. Es ist einfach seltsam, dass ich nichts über meine Großeltern weiß. Dass die Eltern meines Dads nicht sehr nett zu ihr waren, weiß ich, aber können sie wirklich so schlimm gewesen sein? Ich meine, dass sie nicht einmal ihr eigenes Enkelkind sehen wollten?« »Vielleicht hasst deine Mutter sie ja. Vielleicht haben sie sie misshandelt oder so«, grübelte Simon. »Sie hat schließlich diese Narben.«

Clary starrte ihn erstaunt an. »Sie hat was?«

Simon schluckte ein Stück Burrito herunter. »Diese kleinen, dünnen Narben – überall auf ihrem Rücken und den Armen.

Ich hab deine Mutter doch mal im Badeanzug gesehen.« »Ich hab nie irgendwelche Narben bemerkt«, erwiderte Clary im Brustton der Überzeugung. »Ich glaube, das bildest du dir nur ein.«

Er starrte sie an und wollte gerade etwas sagen, als tief in der Kuriertasche ihr Mobiltelefon zu schrillen begann. Clary holte es heraus, sah die Nummer im Display und rümpfte die Nase. »Meine Mom.«

»Das sieht man deinem Gesicht an. Willst du mit ihr reden?«

»Jetzt nicht.« Wie so oft verspürte Clary ein schuldbewusstes Nagen im Bauch, als das Klingeln verstummte und sich die Voicemail einschaltete. »Ich will mich jetzt nicht mit ihr streiten.«

»Du kannst auch bei mir übernachten«, bot Simon an, »solange du willst.«

»Erst mal schauen, ob sie sich vielleicht wieder abregt.«

Clary drückte die Voicemail-Taste. Die Stimme ihrer Mutter klang angespannt, aber um Unbefangenheit bemüht. »Clary, tut mir leid, dass ich dich mit den Urlaubsplänen überrumpelt habe. Komm nach Hause, dann reden wir drüber.« Clary unterbrach die Verbindung, ehe die Nachricht zu Ende war, wodurch sie sich noch schuldiger fühlte. Aber ihre Wut war noch nicht verraucht. »Sie will mit mir reden.«

»Und, willst du das auch?«

»Keine Ahnung.« Clary rieb sich die Augen. »Gehst du jetzt noch zu der Lesung?«

»Na ja, ich hab es schließlich versprochen.«

Clary stand auf und schob den Stuhl zurück. »Dann komm ich mit. Ich kann sie ja anrufen, wenn es vorbei ist.« Der Gurt der Kuriertasche rutschte von ihrem Arm. Simon schob ihn gedankenverloren zurück, wobei seine Finger einen Moment auf ihrer nackten Schulter verweilten.


Draußen war es schwül wie in einem Treibhaus. Die Feuchtigkeit sorgte dafür, dass Clarys Haar sich kräuselte und Simon das T-Shirt am Rücken klebte. »Und, wie geht’s der Band?«, fragte sie. »Gibt’s was Neues? Als wir vorhin telefoniert haben, war so ein Gejohle im Hintergrund.«

Simons Gesicht hellte sich auf. »Es läuft super. Matt sagt, er kennt jemanden, der uns einen Gig in der Scrap Bar besorgen könnte. Und wir überlegen uns gerade einen neuen Bandnamen.«

»Aha.« Clary musste sich ein Grinsen verkneifen. Simons Band hatte nie wirklich Musik gemacht; meist saßen die Jungs nur bei Simon im Wohnzimmer herum und stritten sich über Namen und Band-Logos. Manchmal fragte sie sich, ob überhaupt irgendeiner von ihnen ein Instrument spielen konnte. »Was steht denn zur Auswahl?«

»Wir überlegen, ob wir uns ›Sea Vegetable Conspiracy‹ nennen sollen oder ›Rock Solid Panda‹.«

»Das ist beides grauenhaft«, erwiderte Clary kopfschüttelnd.

»Eric hat ›Lawn Chair Crisis‹ vorgeschlagen.«

»Eric sollte lieber bei seinen Spielen bleiben.«

»Dann müssten wir uns aber einen neuen Schlagzeuger suchen.«

»Ach, Eric ist euer Drummer? Ich dachte, er schnorrt euch nur an und erzählt allen Mädels in der Schule, er spiele in einer Band, um Eindruck zu schinden.«

»Ach was«, meinte Simon leichthin, »Eric hat sich geändert. Er hat jetzt eine Freundin; sie sind schon seit drei Monaten zusammen.«

»Also so gut wie verheiratet«, sagte Clary und umrundete ein Paar, das einen Kinderwagen schob. Darin saß ein kleines Mädchen mit gelben Plastikspangen im Haar und umklammerte eine Elfenpuppe mit strahlend blauen, golddurchwirkten Flügeln. Aus den Augenwinkeln glaubte Clary zu erkennen, wie sie sich bewegten. Hastig wandte sie den Blick ab.

»Das heißt«, fuhr Simon fort, »dass ich jetzt der Einzige in der Band bin, der noch keine Freundin hat. Obwohl genau das der eigentliche Grund ist, überhaupt in einer Band zu spielen – um Mädchen kennenzulernen.«

»Ich dachte, es ginge nur um die Musik.« Ein Mann mit Gehstock kreuzte ihren Weg in Richtung Berkeley Street. Clary schaute zur Seite, besorgt, dass auch ihm Flügel, weitere Arme oder eine lange, gespaltene Zunge wachsen könnten, wenn sie ihn zu lange ansah. »Aber wen interessiert denn, ob du eine Freundin hast oder nicht?«

»Mich«, entgegnete Simon düster. »In der Schule bin ich bald der Einzige ohne Freundin – abgesehen von Wendell, dem Hausmeister. Und der stinkt nach Glasreiniger.«

»Na jedenfalls weißt du, dass er noch zu haben ist.«

Simon sah sie giftig an. »Sehr lustig, Fray.«

»Versuch’s doch mal mit Sheila Barbarino, der StringtangaTussi.« Clary hatte in der Neunten in Mathematik hinter ihr gesessen und jedes Mal, wenn Sheila einen Bleistift aufhob – also etwa alle zwei Minuten –, hatte sie den String unter der ultratief sitzenden Jeans begutachten dürfen.

»Das ist genau die, mit der Eric seit drei Monaten geht«, klärte Simon sie auf. »Sein Tipp war, ich sollte mir einfach die Braut mit dem geilsten Body aussuchen und sie am ersten Schultag zur Herbstfete einladen.«

»Eric ist ein sexistisches Schwein«, erwiderte Clary, die plötzlich gar nicht so genau wissen wollte, welches Mädchen der Schule in Simons Augen die geilste Figur hatte. »Nennt eure Band doch ›The Sexist Pigs‹.«

»Klingt nicht schlecht«, meinte Simon unbekümmert. Clary schnitt ihm eine Grimasse. In der Tasche plärrte erneut ihr Mobiltelefon. Sie fischte es heraus. »Noch mal deine Mom?«, fragte er.

Clary nickte. Sie stellte sich ihre Mutter vor, wie sie allein und verloren in der Diele stand. Schuldgefühle stiegen in ihr auf.

Sie blickte kurz zu Simon hoch, der sie sorgenvoll musterte. Sein Gesicht war ihr so vertraut, dass sie seine Züge im Schlaf hatte nachzeichnen können. Sie dachte an die Wochen der Einsamkeit, die ohne ihn vor ihr lagen, und schob das Handy wieder in die Tasche. »Los«, sagte sie. »Wir kommen zu spät zur Lesung.«

3 Schattenjäger

Als sie im Java Jones ankamen, stand Eric schon auf der Bühne und schwankte mit zusammengekniffenen Augen vor dem Mikrofon hin und her. Zur Feier des Tages hatte er sich die Haarspitzen pink gefärbt. Hinter ihm malträtierte Matt, der ziemlich stoned wirkte, eine Djembe.

»Das wird der Horror«, warnte Clary und zog Simon am Ärmel zurück in Richtung Ausgang. »Wenn wir jetzt gehen, haben wir noch eine Chance.«

Simon schüttelte entschlossen den Kopf. »Wenn ich eines bin, dann zuverlässig.« Er straffte die Schultern. »Such schon mal einen Platz für uns, ich hol in der Zwischenzeit was zu trinken. Was willst du?«

»Einen Kaffee. Schwarz – wie meine Seele

Simon verschwand in Richtung Theke, nachdem er noch gemurmelt hatte, Eric sei schon viel, viel besser geworden. Clary machte sich auf die Suche nach einem Sitzplatz.

Das Java Jones war für einen Montag ziemlich voll. Die meisten der abgenutzten Sofas und Sessel schienen mit Teenagern besetzt, die den freien Montagabend genossen. Das Aroma von Kaffee und Nelkenzigaretten raubte Clary fast den Atem. Endlich fand sie ein winziges Sofa in einer dunklen Ecke im hinteren Bereich des Cafés. Nur ein blondes Mädchen mit orangefarbenem Trägertop saß in der Nähe und fummelte konzentriert an ihrem iPod herum. Gut, dachte Clary, hier kann Eric uns nach der Show nicht finden und uns fragen, was wir von seinen Gedichten halten.

Als ihr plötzlich jemand auf die Schulter tippte, blickte sie überrascht auf. »Sag mal« – es war die Blonde mit dem Trägertop, die sich zu ihr hinüberlehnte – »ist das dein Freund?«

Clary folgte ihrem Blick und wollte schon Nein, den kenn ich nicht erwidern, als ihr aufging, dass die Blondine Simon meinte. Er steuerte mit hoch konzentriertem Gesichtsausdruck auf sie zu, bemüht, den Kaffee in den zwei Styroporbechern nicht überschwappen zu lassen. »Ach der …«, sagte Clary, »nein, das ist nur ein guter Freund von mir.«

Das Mädchen strahlte. »Der ist ja süß. Hat er eine Freundin?« Clary zögerte etwas länger als nötig. »Nein.«

Das Mädchen wirkte skeptisch. »Ist er schwul?«

Clary blieb die Antwort erspart, weil Simon in diesem Moment an den Tisch trat. Die Blonde lehnte sich schnell wieder zurück, als er die Becher absetzte und sich neben Clary auf das Sofa fallen ließ. »Ich hasse es, wenn sie keine richtigen Tassen mehr haben. An den Dingern verbrennt man sich dauernd die Finger.« Er blickte finster und pustete auf seine Hände. Clary versuchte, ihr Lächeln zu verbergen, während sie ihn musterte. Normalerweise fragte sie sich nie, ob Simon gut aussah oder nicht. Wenn sie ehrlich war, besaß er ziemlich attraktive dunkle Augen und er hatte sich in den vergangenen ein, zwei Jahren ganz gut gemacht. Mit einem vernünftigen Haarschnitt …

»Warum starrst du mich so an?«, fragte Simon. »Hab ich was im Gesicht?«

Ich muss es ihm sagen, dachte sie, obwohl sich irgendetwas in ihr dagegen sträubte. Ich wäre eine schlechte Freundin, wenn ich es nicht täte. »Sieh jetzt nicht hin, aber das blonde Mädchen da drüben findet dich süß«, flüsterte sie.

Simon schielte kurz zu der Blonden hinüber, die in eine Ausgabe von Shonen Jump vertieft war. »Die mit dem orangefarbenen Top?« Clary nickte. Simon schaute zweifelnd. »Wie kommst du darauf?«

Komm, sag es ihm, na los. Clary öffnete den Mund, um zu antworten, als eine schrille Rückkopplung sie unterbrach. Sie zuckte zusammen und hielt sich die Ohren zu, während Eric auf der Bühne mit seinem Mikrofon kämpfte.

»Sorry, Leute!«, brüllte er. »Okay. Ich bin Eric und am Schlagzeug sitzt mein Kumpel Matt. Mein erstes Gedicht heißt ›Ohne Titel‹.« Er verzog sein Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse und heulte ins Mikro: »Herbei, mein trügerischer Moloch, meine schändlichen Lenden / Bestreiche jede Erhebung mit freudloser Inbrunst!«

Simon rutschte ganz tief ins Sofa. »Sag bloß keinem, dass ich ihn kenne.«

Clary kicherte. »Wer benutzt denn noch Wörter wie ›Lenden‹?«

»Eric«, erwiderte Simon grimmig. »In all seinen Gedichten wimmelt es von Lenden.«

»Aufgedunsen ist meine Qual!«, jaulte Eric. »In ihr schwillt Todesangst!«

»Darauf kannst du Gift nehmen«, meinte Clary trocken und ließ sich tiefer neben Simon ins Sofa sinken. »Aber um auf das Mädchen zurückzukommen, das dich süß findet …«

»Ach, vergiss die mal für einen Moment«, sagte Simon. Clary blinzelte ihn verblüfft an. »Ich wollte was anderes mit dir besprechen.«

»Nein, ›Furious Mole‹ wär kein guter Name für eine Band«, erwiderte Clary wie aus der Pistole geschossen.

»Das mein ich doch gar nicht. Ich wollte mit dir über die Sache von vorhin reden. Du weißt schon – dass ich noch immer solo bin.«

»Ach so.« Clary zuckte ratlos die Achseln. »Tja, mal nachdenken. Verabrede dich doch mal mit Jaida Jones«, schlug sie vor – Jaida war eins der wenigen Mädchen an der St. Xavier School, die sie wirklich mochte. »Die ist nett und sie mag dich.«

»Ich will aber nicht mit Jaida Jones ausgehen.«

»Warum nicht?« Clary spürte plötzlich so etwas wie Ärger in sich aufsteigen. »Magst du keine intelligenten Mädchen? Suchst du immer noch geile Bodys

»Das nicht«, meinte Simon, irgendwie aufgewühlt. »Ich will nicht mit ihr ausgehen, weil es ihr gegenüber nicht ganz fair wäre, weil …«

Er verstummte. Clary beugte sich näher zu ihm. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, dass sich auch das blonde Mädchen hinüberlehnte und sichtlich die Ohren spitzte. »Weil …?«

»Weil ich jemand anderen mag«, sagte Simon schließlich.

»Ach so.« Simon sah etwas grün im Gesicht aus, so wie damals, als er sich beim Fußballspielen im Park den Knöchel gebrochen hatte und damit nach Hause humpeln musste. Ratlos fragte sie sich, was um alles in der Welt ihn zu so einer fassungslosen und verzweifelten Miene veranlasste. »Bist du vielleicht schwul?«

Simons Gesicht wurde noch grüner. »Wenn ich schwul wäre, würde ich mich definitiv besser anziehen.«

»Also, wer ist es?« Sie wollte noch hinzufügen, dass Eric ihm bestimmt die Hölle heiß machen würde, falls Simon in Sheila Barbarino verliebt wäre, als sie ein vernehmliches Räuspern hinter sich hörte – ein ironisches Hüsteln, so als fände jemand etwas ungemein komisch.

Sie drehte sich um.

Nur wenige Schritte von ihr entfernt saß Jace auf einem verblichenen grünen Sofa. Er war genauso dunkel gekleidet wie abends zuvor im Pandemonium. Seine nackten Arme waren mit feinen weißen Linien bedeckt, die alten Narben ähnelten. An den Handgelenken trug er breite Manschetten aus Metall; aus einer sah Clary den Horngriff eines Messers herausragen. Jace blickte sie direkt an und grinste amüsiert. Was Clary jedoch am meisten irritierte, war nicht die Tatsache, dass er sich über sie lustig machte, sondern dass er fünf Minuten zuvor noch nicht dort gesessen hatte. Das wusste sie ganz genau.

»Was ist los?« Simon folgte ihrem Blick, aber der fragende Ausdruck in seinem Gesicht zeigte, dass er Jace nicht sehen konnte.

Aber ich sehe dich, dachte sie und starrte Jace an, der ihr lässig mit links zuwinkte. An seinen schlanken Fingern glitzerte ein Ring. Er erhob sich und ging ohne Eile auf den Ausgang zu. Clary blickte ihm sprachlos hinterher. Er marschierte tatsächlich einfach so aus dem Café.

Sie spürte Simons Hand auf ihrem Arm. Er sprach sie an und fragte, ob mit ihr alles in Ordnung sei. Doch sie hörte ihn kaum. »Ich bin gleich wieder da«, stieß sie hervor, während sie mit einem Satz von der Couch aufsprang und dabei fast vergaß, den Becher abzustellen. Simon konnte ihr bloß noch hinterherschauen.


Clary stieß krachend die Tür des Cafés auf. Sie hatte panische Angst, dass Jace wie ein Phantom plötzlich wieder verschwunden sein könnte. Doch da stand er, gegen die Wand gelehnt. Er hatte etwas aus seiner Tasche geangelt und drückte nun an ein paar Knöpfen herum. Erstaunt blickte er auf, als die Cafétür hinter ihr ins Schloss fiel.

In der rasch einsetzenden Dämmerung schimmerte sein Haar wie kupferrotes Gold. »Die Gedichte deines Freundes sind grauenhaft«, sagte er.

Clary blinzelte ihn völlig entwaffnet an. »Bitte?«

»Seine Gedichte sind grauenhaft, habe ich gesagt. Als hätte er ein Wörterbuch geschluckt und würde jetzt irgendwelche xbeliebigen Wörter hervorwürgen.«

»Erics Gedichte interessieren mich nicht«, fauchte Clary. »Ich will wissen, warum du mir hinterherläufst.«

»Wer sagt denn, dass ich dir hinterherlaufe?«

»Versuch nicht, dich rauszureden. Und gelauscht hast du auch. Sagst du mir jetzt, worum es hier geht, oder soll ich die Polizei rufen?«

»Und was willst du der erzählen?«, fragte Jace sarkastisch. »Dass dich Unsichtbare belästigen? Kleine, glaub mir, die Polizei verhaftet niemanden, den sie nicht sehen kann.«

»Ich hab dir schon mal gesagt, dass ich nicht Kleine heiße«, zischte sie, »sondern Clary.«

»Ich weiß«, sagte er. »Hübscher Name. Genau wie das englische Wort für Scharlachsalbei – clary sage. Früher glaubten die Leute, man könne Feenwesen, Elfen und Kobolde sehen, wenn man die Samen dieser Pflanze aß. Wusstest du das?«

»Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst.«

»Du hast überhaupt von wenig ’ne Ahnung, was?« Er fixierte sie provokant und lasziv aus goldbraunen Augen. »Du wirkst wie eine ganz normale Irdische und kannst mich trotzdem sehen. Ein echtes Rätsel.«

»Was meinst du mit Irdische

»Na, jemand aus der Menschenwelt, jemand wie du.« »Aber du bist doch auch ein Mensch!«, entgegnete Clary.

»Schon«, räumte er ein, »aber nicht so wie du.« Seine Stimme klang nicht belehrend, sondern eher so, als wäre es ihm egal, ob sie ihm glaubte oder nicht.

»Du hältst dich für was Besseres. Und deshalb hast du uns belächelt.«

»Ich habe über euch gelacht, weil mich Liebesbezeugungen amüsieren, vor allem, wenn die Liebe nicht erwidert wird«, sagte er. »Und weil dein Simon einer der irdischsten Irdischen ist, den ich je gesehen habe. Und weil Hodge befürchtete, du könntest gefährlich sein. Aber falls das stimmt, dürfte es dir kaum bewusst sein.«

»Gefährlich? Ich?«, wiederholte Clary verblüfft. »Gestern Abend habe ich gesehen, wie du jemanden umgebracht hast. Wie du ihm ein Messer in die Rippen gestoßen hast, und …« Und wie er dich mit rasiermesserscharfen Klauen aufgeschlitzt hat. Ich habe deine Wunde bluten sehen und jetzt siehst du so aus, als sei nichts geschehen.

»Okay, an meinen Händen mag Blut kleben, aber zumindest weiß ich, wer ich bin. Kannst du das von dir auch behaupten?«

»Ich bin ein ganz normales menschliches Wesen, wie du schon gesagt hast. Wer ist Hodge?«

»Mein Tutor. Und an deiner Stelle würde ich mich nicht so schnell als normal bezeichnen.« Er beugte sich vor. »Zeig mir mal deine rechte Hand.«

»Meine rechte Hand?«, echote Clary, worauf er nickte. »Wenn ich dir meine Hand zeige, lässt du mich dann in Ruhe?«

»Natürlich«, sagte er leicht amüsiert.

Widerstrebend reichte sie ihm die rechte Hand. Im schwachen Licht, das durch die Fenster nach draußen fiel, wirkte sie bleich; die Fingerknöchel waren mit hellen Sommersprossen übersät. Irgendwie fühlte sie sich so entblößt, als hätte sie ihr Hemd hochgeschoben und ihm ihre nackte Brust gezeigt. Er nahm ihre Hand in seine und drehte sie. »Nichts.« Fast klang er enttäuscht. »Du bist nicht zufällig Linkshänderin?«

»Nein, warum?«

Er ließ sie achselzuckend los. »Die meisten Schattenjägerkinder werden schon sehr früh mit einem Mal auf der rechten Hand versehen – oder auf der linken, wenn sie Linkshänder sind wie ich. Eine unauslöschliche Rune, die besondere Geschicklichkeit im Umgang mit Waffen verleiht.« Er zeigte ihr den Rücken seiner linken Hand, der ihr völlig normal erschien.

»Ich seh nichts«, sagte sie.

»Entspann dich ein bisschen«, riet er, »warte, bis es von selbst vor deinen Augen erscheint. Wie etwas, das aus den Tiefen des Wassers an die Oberfläche steigt.«

»Du bist echt nicht ganz dicht.« Aber sie entspannte sich, während sie seine Hand betrachtete, die winzigen Linien um die Fingerknöchel, die schlanken Fingerglieder …

Und dann sprang es ihr förmlich ins Auge, blinkend wie ein Warnsignal. Ein schwarzes Muster, wie ein Auge, auf dem Rücken seiner Hand. Sie blinzelte und es verschwand. »Ein Tattoo?«

Er lächelte selbstzufrieden und senkte die Hand. »Ich wusste, dass du es kannst. Und es ist keine Tätowierung, sondern ein Mal. Eine in die Haut gebrannte Rune.«

»Und dadurch kannst du besser mit Waffen umgehen?« Clary fand das ziemlich unglaubwürdig – aber auch nicht unwahrscheinlicher als die Existenz von Zombies.

»Die Male haben unterschiedliche Wirkungen. Einige sind bleibend, aber die meisten verblassen, nachdem sie verwendet wurden.«

»Und deshalb sind deine Arme heute nicht total bemalt, selbst wenn ich konzentriert hinsehe?«, fragte Clary.

»Genau deswegen.« Er klang sehr zufrieden. »Ich wusste ja, dass du zumindest das Zweite Gesicht hast.« Er schaute zum Himmel auf. »Es ist schon fast vollkommen dunkel. Wir sollten los.«

»Was soll das heißen – wir? Ich dachte, du lässt mich in Ruhe.«

»Ich hab gelogen«, sagte Jace ohne jede Spur von Verlegenheit. »Hodge hat mich beauftragt, dich ins Institut zu bringen. Er möchte mit dir reden.«

»Und warum sollte er das wollen?«

»Weil du jetzt die Wahrheit kennst«, erwiderte Jace. »Seit über einhundert Jahren hat kein Irdischer mehr von uns erfahren.«

»Uns? Du meinst, Leute wie dich? Die an Dämonen glauben?«

»Die sie töten«, entgegnete Jace. »Schattenjäger heißen wir. Zumindest nennen wir uns selbst so. Die Schattenwesen haben nicht ganz so schmeichelhafte Namen für uns.«

»Schattenwesen?«

»Na, die Kinder der Nacht, die Hexenmeister und Feenwesen. Die magischen Wesen dieser Dimension.«

Clary schüttelte den Kopf. »Ja klar. Nicht zu vergessen Vampire, Werwölfe und Zombies.«

»Selbstverständlich«, erwiderte Jace seelenruhig. »Allerdings halten sich Zombies normalerweise weiter südlich auf, dort wo die Voodoo-Priester praktizieren.«

»Und was ist mit Mumien? Gibt’s die nur in Ägypten?« »Mach dich nicht lächerlich. Kein Kind glaubt an Mumien.«

»Nein?«

»Natürlich nicht«, sagte Jace. »Hör zu, Hodge wird dir alles erklären.«

Clary verschränkte die Arme vor der Brust. »Und wenn ich nicht mitkomme?«

»Das musst du selbst entscheiden: Entweder begleitest du mich freiwillig oder …«

Clary glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. »Du drohst damit, mich zu entführen?«

»Wenn du so willst, ja.«

Clary wollte den Mund zu einer wütenden Entgegnung öffnen, wurde aber von einem durchdringenden Klingeln unterbrochen. Ihr Mobiltelefon meldete sich wieder.

»Du kannst ruhig abnehmen, wenn du willst«, sagte Jace gönnerhaft.

Das Klingeln brach ab, nur um kurz darauf erneut und nachdrücklich einzusetzen. Clary runzelte die Stirn – offenbar flippte ihre Mutter gerade völlig aus. Sie drehte sich halb von Jace weg und grub in ihrer Tasche. Als sie das Handy endlich gefunden hatte, plärrte es bereits zum dritten Mal. Sie führte es ans Ohr. »Mom?«

»Oh Clary. Gott sei Dank.« In Clarys Kopf schrillten alle Alarmglocken. Ihre Mutter klang panisch. »Clary, hör mir jetzt gut zu …«

»Mom, es ist alles in Ordnung. Mir geht’s gut. Ich bin auf dem Weg nach Hause …«

»Nein!« Nackte Angst sprach aus Jocelyns heiserer Stimme. »Komm nicht nach Hause. Hast du verstanden, Clary? Komm auf keinen Fall nach Hause. Geh zu Simon. Geh sofort zu Simon und bleib bei ihm, bis ich dich …« Ein Hintergrundgeräusch unterbrach sie, irgendetwas Schweres fiel zu Boden, zersprang dort mit einem lauten Klirren …

»Mom!«, schrie Clary ins Telefon. »Mom, ist alles in Ordnung?«

Lautes Rauschen drang aus dem Handy. Dann hörte Clary die Stimme ihrer Mutter durch das statische Knistern: »Versprich mir, dass du nicht herkommst. Geh zu Simon und ruf Luke an – sag ihm, dass er mich gefunden hat …« Ein lautes Krachen nach splitterndem Holz übertönte ihre Worte.

»Wer hat dich gefunden, Mom? Hast du die Polizei gerufen? Hast du …«

Ihre verzweifelte Frage wurde von einem Geräusch abgeschnitten, das Clary nie vergessen würde – ein durchdringendes, schleifendes Geräusch, dann ein dumpfer Aufschlag. Clary hörte, wie ihre Mutter scharf Luft einzog, ehe sie mit tödlich ruhiger Stimme weitersprach: »Ich liebe dich, Clary.«

Dann brach die Verbindung ab.


»Mom!«, schrie Clary schrill ins Telefon. »Mom, bist du noch dran?« Verbindung beendet, erschien im Display. Aber warum hatte ihre Mutter aufgelegt?

»Clary«, setzte Jace an. Es war das erste Mal, dass er sie mit ihrem richtigen Namen ansprach. »Was ist los?«

Clary ignorierte ihn. Fieberhaft drückte sie die Kurzwahltaste für zu Hause. Aber als Antwort erhielt sie nur ein Besetztzeichen.

Clarys Hände begannen, unkontrolliert zu zittern. Als sie versuchte, ein weiteres Mal anzurufen, rutschte ihr das Telefon aus der bebenden Hand und schlug hart auf dem Gehsteig auf. Auf allen vieren suchte sie den Boden nach ihm ab, doch als sie es fand, musste sie feststellen, dass es nicht mehr funktionierte. Ein langer Riss zog sich über die Vorderseite. »Verdammt!« Den Tränen nahe, schleuderte sie das Telefon zu Boden.

»Lass das.«Jace zog sie am Handgelenk wieder hoch. »Ist was passiert?«

»Gib mir mal dein Handy«, sagte Clary und griff nach dem schwarzen metallischen Gerät, das aus seiner Hemdtasche ragte. »Ich muss …«

»Das ist kein Telefon«, erklärte Jace, machte aber keine Anstalten, es ihr wieder abzunehmen, »sondern ein Sensor. Du wirst nicht in der Lage sein, ihn zu bedienen.«

»Ich muss aber die Polizei anrufen!«

»Sag mir erst, was passiert ist.« Sie versuchte, ihm ihr Handgelenk zu entwinden, doch sein Griff war unglaublich fest. »Ich kann dir helfen.«

Brennende Wut loderte in Clary auf und rauschte durch ihre Adern wie ein Feuersturm. Ohne darüber nachzudenken, holte sie aus und fuhr Jace mit den Fingernägeln quer über die Wange. Überrascht zuckte er zurück. Clary riss sich los und rannte auf die Lichter der Seventh Avenue zu.

Als sie die Straße erreicht hatte, drehte sie sich um; fast rechnete sie damit, dass Jace ihr unmittelbar auf den Fersen sein würde. Doch die Straße war leer. Einen Moment lang starrte sie verunsichert ins Halbdunkel. Nichts bewegte sich dort. Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte in Richtung ihrer Wohnung.

4 Ravener

Im Laufe des Abends war es noch schwüler geworden, und während Clary nach Hause rannte, fühlte sie sich, als müsse sie durch eine dicke, brodelnde Suppe schwimmen. An der Ecke vor ihrer Häuserzeile wurde sie von einer roten Ampel gestoppt. Ungeduldig wippte sie auf den Fußballen vor und zurück, während der Verkehr in einem Strom blendender Lichter an ihr vorbeizog. Sie versuchte erneut, zu Hause anzurufen, doch Jace hatte nicht gelogen; sein Sensor war kein Mobiltelefon. Zumindest ähnelte er nicht den Telefonen, die Clary kannte. Die Knöpfe des Geräts waren nicht mit Zahlen beschriftet, sondern trugen bizarre Symbole und ein Display gab es auch nicht.

Während sie auf ihr Haus zulief, bemerkte sie, dass alle Fenster im zweiten Stock erleuchtet waren – normalerweise ein Zeichen dafür, dass ihre Mutter zu Hause war. Okay, redete sie sich selbst gut zu, alles ist in Ordnung. Doch als sie die Haustür aufstieß, krampfte sich ihr Magen zusammen.

Die Flurlampe war durchgebrannt und die Eingangshalle lag im Dunkeln. Hinter jedem Schatten schienen Bewegungen zu lauern. Schaudernd nahm sie die ersten Treppenstufen.

»Wo willst du hin, Kleine?«, fragte unvermittelt eine Stimme.

Clary wirbelte herum. »Was …?«

Sie verstummte. Ihre Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit und sie konnte die Umrisse eines großen Ohrensessels erahnen, der vor Madame Dorotheas verschlossene Tür gerückt worden war. Darin eingeklemmt, wie ein zu pralles Sofakissen, saß die alte Dame. Im Zwielicht konnte Clary nur die runden Umrisse ihres gepuderten Gesichts ausmachen, den weißen Spitzenfächer in ihrer Hand, und wenn sie redete, die dunkel klaffende Öffnung ihres Mundes. »Deine Mutter hat einen Mordslärm da oben veranstaltet«, setzte Dorothea an. »Was treibt sie denn? Möbelrücken?«

»Hören Sie, ich glaube nicht …«

»Und die Treppenhausbeleuchtung ist durchgebrannt.« Dorothea klopfte mit dem Fächer auf die Sessellehne. »Kann deine Mutter nicht mal ihren Freund bitten, die Birne zu wechseln?«

»Luke ist nicht …«

»Und das Oberlicht müsste mal geputzt werden. Kein Wunder, dass es hier so finster ist.«

Luke ist nicht der Vermieter, hätte Clary am liebsten erwidert, doch sie schwieg. Das war wieder typisch für die Alte. Sobald sie Luke so weit hatte, die Birne zu wechseln, würde sie ihm noch Hunderte anderer Jobs auftragen – ihre Einkäufe abholen, den Abfluss in ihrer Dusche reinigen und so weiter. Einmal hatte sie ihn ein altes Sofa mit der Axt zerkleinern lassen, damit sie es aus der Wohnung bekam, ohne die Türen auszuhängen.

Clary seufzte. »Ich werd ihn fragen.«

»Tu das.« Dorothea ließ den Fächer zuschnappen.

Clarys mulmiges Gefühl verstärkte sich, als sie die Wohnungstür erreichte. Sie stand einen Spaltbreit offen und ein keilförmiger Lichtkegel fiel auf den Treppenabsatz. Mit einem wachsenden Gefühl der Panik stieß Clary die Tür auf.

In der Wohnung brannten alle Lampen; alles strahlte so hell wie irgend möglich. Das grelle Licht schmerzte in den Augen.

Die Schlüssel und die rosafarbene Handtasche ihrer Mutter lagen wie immer auf dem schmiedeeisernen Regal neben der Tür. »Mom?«, rief Clary. »Mom, ich bin’s!«

Es kam keine Antwort. Sie ging weiter ins Wohnzimmer. Beide Fenster standen offen und die langen weißen Vorhänge bauschten sich wie rastlose Geister in der schwülen Brise. Erst als der Wind sich legte und die Vorhänge sich senkten, bemerkte Clary, dass die Sofakissen quer durchs Zimmer geschleudert worden waren. Einige hatte man der Länge nach aufgeschlitzt und ihr Inneres quoll auf den Boden. Die Bücherregale waren umgekippt und ihr Inhalt verstreut. Auch der Klavierhocker lag umgestürzt da. Jocelyns geliebte Notenhefte schienen über den gesamten Boden verteilt zu sein.

Am schlimmsten traf Clary der Anblick der Bilder. Jedes einzelne war aus dem Rahmen getrennt und in Streifen zerfetzt worden, die verstreut auf dem Teppich lagen. Das musste jemand mit einem Messer bewerkstelligt haben, denn mit bloßen Händen ließ sich Leinwand kaum zerreißen. Die leeren Rahmen wirkten wie abgenagte Knochen. Ein Schrei stieg in Clary auf. »Mom!«, schrie sie. »Wo bist du? Mommy!«

Sie hatte Jocelyn seit ihrem achten Lebensjahr nicht mehr »Mommy« genannt.

Mit pochendem Herzen rannte sie in die Küche. Sie war leer und alle Schränke standen offen; aus einer Tabasco-Flasche hatte sich scharfe rote Flüssigkeit quer über das Linoleum ergossen. Clarys Knie wurden butterweich. Sie wusste genau, dass sie eigentlich aus der Wohnung rennen, ein Telefon suchen und die Polizei verständigen sollte. Aber all das schien so fern – zuerst musste sie ihre Mutter finden und sich davon überzeugen, dass es ihr gut ging. Was, wenn Einbrecher da gewesen waren und ihre Mutter sich mit ihnen angelegt hatte …?

Aber welche Sorte Einbrecher ließ eine Brieflasche liegen – ganz abgesehen vom Fernseher, dem DVD-Player und dem teuren Notebook?

Inzwischen hatte sie die Tür zum Schlafzimmer ihrer Mutter erreicht. Einen Moment lang sah es so aus, als sei wenigstens dieser Raum verschont geblieben: Jocelyns handgenähte Tagesdecke lag ordentlich über dem Bett. Clarys eigenes Gesicht lächelte ihr vom Nachttischchen entgegen – das zaghafte Lächeln einer Fünfjährigen mit Zahnlücke, das Gesicht umrahmt von rotblonden Locken. Ein Schluchzen stieg in ihr auf. Mom, weinte sie stumm in sich hinein, wo bist du?

Doch alles blieb still… nein, nicht ganz, denn plötzlich hörte sie ein Geräusch in der Wohnung, das ihr die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Es klang, als würde etwas umgeworfen – ein dumpfer, schwerer Aufprall auf den Boden, gefolgt von einem Schleifen. Das Geräusch näherte sich dem Schlafzimmer. Clary spürte, wie die Panik ihren Magen in einen Eisklumpen verwandelte. Zitternd stand sie auf und drehte sich langsam um.

Einen Moment lang sah sie nichts in der Tür und ihr Körper entspannte sich etwas. Doch dann schaute sie nach unten.

Eng an den Boden geschmiegt lauerte dort eine lange, schuppige Gestalt mit einer Reihe flacher schwarzer Augen, die weit vorn in der Mitte des gewölbten Schädels saßen. Mit der dicken, abgeflachten Schnauze und dem drohend hin und her peitschenden, stachligen Schwanz wirkte sie wie eine Kreuzung aus Alligator und Tausendfüßler. Ihre zahlreichen Beine waren zum Sprung leicht angezogen.

Ein Schrei brach aus Clary hervor. Sie taumelte rückwärts, stolperte und fiel genau in dem Moment zu Boden, als sich das Wesen auf sie stürzte. Sie rollte zur Seite; es verfehlte sie nur um wenige Zentimeter und schlitterte über den Boden, der von seinen spitzen Klauen aufgerissen wurde. Ein tiefes Knurren drang aus seiner Kehle.

Clary rappelte sich auf und rannte in Richtung Flur, doch das Ding war zu schnell für sie. Mit einem Satz hechtete es an die Wand oberhalb der Schlafzimmertür, klebte dort wie eine bedrohliche Riesenspinne und starrte sie mit seinen vielen Augen an. Langsam öffneten sich die Kiefer, wobei eine Reihe Fangzähne sichtbar wurde und grünlicher Schleim herabtropfte. Dazwischen bahnte sich eine lange schwarze Zunge schlängelnd und zischend ihren Weg. Erschrocken erkannte Clary im Gurgeln und Zischen des Untiers menschliche Worte.

»Mädchen«, zischte es. »Fleisch, Blut. Fressen, aah, Fressssen.«

In Zeitlupe schlängelte es sich die Wand hinab. Statt Panik überkam Clary jetzt eine fast eisige Ruhe. Das Geschöpf war auf den Füßen gelandet und kroch auf sie zu. Während Clary zurückwich, schnappte sie sich ein schweres, gerahmtes Foto von der Kommode – ihre Mutter, Luke und sie auf Coney Island, vor dem Autoscooter – und schleuderte es auf das Wesen.

Das Foto traf die Kreatur in der Mitte, prallte ab und schlug klirrend auf dem Boden auf, doch das Monster schien es gar nicht zu merken. Es kam näher; die Glasscherben zersplitterten unter seinen Krallen. »Knochen zerbrechen, das Mark aussaugen. Adern ausschlürfen …«

Clarys Rücken stieß an die Wand. Weiter konnte sie nicht zurückweichen. Sie fühlte eine Bewegung an ihrer Hüfte und wäre vor Schreck fast zur Salzsäure erstarrt. Ihre Tasche! Sie durchwühlte sie mit der Hand und riss das Ding heraus, das sie Jace abgenommen hatte. Der Sensor bebte wie ein Handy mit Vibrationsalarm. Sein hartes Material fühlte sich brennend heiß an. Sie umklammerte ihn mit aller Kraft, als das Wesen zum Sprung ansetzte.

Es prallte gegen Clary und riss sie zu Boden; ihr Kopf und ihre Schultern krachten auf das Parkett. Sie versuchte, sich zur Seite zu drehen, doch das Monster war erdrückend schwer. Bleiern und sabbernd hockte es auf ihr und ließ sie würgen. »Fressen, fressssen«, stöhnte es, »aber es ist verboten, zu verschlingen, zu genießen.«

Sein heißer, nach Blut stinkender Atem wehte ihr ins Gesicht. Clary bekam kaum noch Luft und ihre Rippen fühlten sich an, als müssten sie bersten. Ihr Arm war zwischen ihrem Körper und dem Monster eingeklemmt; der Sensor presste sich in ihre Handfläche. Sie wand sich hin und her, um die Hand freizubekommen. »Valentin wird es nie erfahren. Hat nicht von Mädchen gesprochen. Valentin wird nicht böse sein.« Die Kreatur verzog das lippenlose Maul, sperrte langsam den Kiefer auf und erneut schlug Clary eine stinkende Wolke entgegen.

Endlich bekam sie die Hand frei. Mit einem Schrei holte sie aus, um das Ding in tausend Stücke zu schlagen oder ihm zumindest das Augenlicht zu nehmen. Als das Wesen mit weit aufgesperrtem Maul nach ihrem Gesicht schnappte, stieß sie ihm den Sensor zwischen die Zähne. Heißer, ätzender Speichel floss über ihr Handgelenk und rann brennend an ihrem Gesicht und Hals entlang. Wie von Weitem hörte sie sich selbst schreien.

Als sei es überrascht, fuhr das Monster zurück, den Sensor fest zwischen den Zähnen. Es stieß ein verärgertes, lautes Gurgeln aus und warf den Kopf nach hinten. Clary sah es schlucken, sah den Sensor die Kehle hinabgleiten. Gleich bin ich dran, durchfuhr es sie, das ist mein …

Plötzlich begann das Wesen zu zucken. In unkontrollierten Krämpfen rollte es von Clary herunter und landete auf dem Rücken; seine zahlreichen Beine zappelten in der Luft. Schwarze Flüssigkeit rann ihm aus dem Maul.

Clary schnappte keuchend nach Luft, drehte sich zur Seite und begann davonzukriechen. Sie hatte die Tür schon fast erreicht, als sie etwas durch die Luft zischen hörte. Sie versuchte noch, sich zu ducken, aber es war bereits zu spät: Mit großer Wucht prallte etwas von hinten gegen ihren Schädel. Clary sank vornüber zusammen, dann wurde ihr schwarz vor Augen.


Licht drang durch ihre Augenlider – blau, weiß, rot. Ein hohes, heulendes Geräusch wurde immer durchdringender, wie die Schreie eines zu Tode erschreckten Kindes. Clary würgte und öffnete die Augen.

Sie lag im kalten, feuchten Gras. Über ihr schimmerte der Nachthimmel: Der stumpfe Glanz von Sternen, blass gegen die Lichter der Stadt. Neben ihr kniete Jace, dessen silberne Manschetten im Licht funkelten, während er ein Stück Stoff zerriss. »Halt still.«

Das Geheul zerriss ihr fast das Trommelfell. Trotz Jace’ Warnung drehte sie den Kopf seitwärts und handelte sich dafür einen messerscharfen, stechenden Schmerz ein, der ihr bis tief in den Rücken fuhr. Sie lag auf einem Rasenstück hinter Jocelyns liebevoll gepflegten, dicht blühenden Rosenbüschen. Das Blattwerk verdeckte den Blick zur Straße, wo ein Polizeiwagen mit blau-weiß blinkendem Blaulicht und heulender Sirene halb auf dem Gehweg stand. Es hatte sich bereits eine kleine Gruppe von Nachbarn versammelt, die den Wagen anstarrten. Die Türen öffneten sich und zwei blau uniformierte Beamte stiegen aus.

Polizei! Clary versuchte, sich aufzusetzen, und würgte erneut; ihre Finger krampften sich in die feuchte Erde.

»Ich hab doch ›Stillhalten‹ gesagt«, zischte Jace. »Der Ravener-Dämon hat dich am Nacken erwischt. Das Vieh war zwar halb tot, daher war der Stich nicht besonders stark, aber wir müssen dich trotzdem ins Institut bringen. Halt jetzt still.«

»Das Ding – das Monster – hat gesprochen.« Clary zitterte am ganzen Körper.

»Du hast doch schon mal einen Dämon sprechen gehört.« Jace zog sanft einen Stofffetzen unter ihrem Nacken durch und band ihn vorn zusammen. Er war mit einer wachsartigen Substanz bestrichen, ähnlich dem Handbalsam, den Clarys Mutter verwendete, um ihre von Farbe und Terpentin malträtierten Hände zu pflegen.

»Ja, diesen Dämon im Pandemonium, aber der sah aus wie ein Mensch.«

»Das war ein Eidolon-Dämon, ein Gestaltwandler. Aber Ravener sehen exakt so aus, wie sie sind. Nicht besonders attraktiv, aber sie sind zu dumm, ums besser hinzukriegen.«

»Das Ding hat gesagt, es würde mich fressen.«

»Klar, aber du hast es ja getötet.« Jace zog den Knoten fest und richtete sich auf.

Erleichtert stellte Clary fest, dass die Schmerzen im Nacken nachließen. Sie versuchte, sich aufzusetzen. »Die Polizei ist da.« Sie brachte nur ein heiseres Krächzen heraus. »Komm, wir …«

»Die wird uns auch nicht helfen. Wahrscheinlich hat jemand dich schreien gehört und die Polizei gerufen. Aber ich gehe jede Wette ein, dass das keine echten Polizisten sind. Dämonen wissen genau, wie sie ihre Spuren verwischen.«

»Meine Mutter«, brachte Clary durch ihre geschwollene Kehle heraus.

»He, du hast Ravener-Gift in den Adern! Wenn du jetzt nicht mitkommst, bist du in einer Stunde tot.« Er stand auf und reichte ihr die Hand. Sie ließ sich von ihm aufhelfen. »Komm jetzt, na los.«

Die Welt drehte sich um sie. Jace legte ihr den Arm um die Schultern und hielt sie fest. Er roch nach Dreck, Blut und Metall. »Kannst du gehen?«

»Glaub schon.« Sie spähte durch die dichten Rosenbüsche. Die Polizisten kamen über den Gartenweg auf sie zu. Eine schlanke blonde Beamtin ging mit einer Taschenlampe voran. Als sie die Hand hob, erkannte Clary eine fleischlose Skeletthand mit vorn zugespitzten Fingerknochen. »Ihre Hand …«

»Ich hab ja gesagt, es könnten Dämonen sein.« Jace sah zur Rückseite des Hauses. »Wir müssen hier weg. Kommt man hinten durch die Gasse raus?«

Clary schüttelte den Kopf. »Die ist zugemauert. Der einzige Weg …« Ihre Worte gingen in einem Hustenanfall unter. Sie hob die Hand vor den Mund. Als sie sie wieder senkte, war sie rot. Clary wimmerte leise auf.

Jace nahm ihr Handgelenk und drehte den Arm, sodass Mondlicht auf die blasse Haut der verletzlichen Arminnenseite fiel. Unter der Haut zeichnete sich ein Netz blauer Adern ab, das vergiftetes Blut zu ihrem Hirn und Herzen trug. Clary knickten die Knie weg. Irgendetwas Spitzes leuchtete silbern in Jace’ Hand auf. Sie wollte ihre Hand zurückziehen, doch sein Griff war zu stark. Dann fühlte sie einen stechenden Kuss auf ihrer Haut. Als er losließ, erkannte sie ein schwarzes Symbol, ähnlich denen auf seiner Haut, knapp unterhalb ihres Handgelenks. Es sah aus wie eine Reihe einander überschneidender Kreise.

»Was soll das bewirken?«

»Das Mal wird dich unsichtbar machen. Vorübergehend.« Er steckte den Gegenstand, den Clary für ein Messer gehalten hatte, wieder ein. Es war ein länglicher leuchtender Zylinder, dick wie ein Zeigefinger und vorn spitz zulaufend. »Meine Stele«, erklärte er.

Clary fragte nicht nach, was das denn sein könnte. Sie war zu sehr damit beschäftigt, nicht umzukippen. Der Boden schwankte unter ihren Füßen. »Jace …«, sagte sie, dann sackte sie in seinen Armen zusammen. Er fing sie auf, als sei es für ihn völlig normal, in Ohnmacht fallende Mädchen aufzufangen. Vielleicht war es ja auch so. Schwungvoll hob er sie hoch und flüsterte ihr etwas ins Ohr, das wie Bündnis klang. Clary versuchte, den Kopf zurückzulegen, um ihn anzuschauen, sah aber nur die Sterne am dunklen Himmel über sich kreisen. Dann wurde alles bodenlos und selbst Jace’ Arme hielten sie nicht fest genug, um ihren tiefen Fall zu verhindern.

5 Rat und Bündnis

»Glaubst du, sie wacht jemals wieder auf? Das dauert jetzt schon drei Tage.«

»Lass ihr Zeit. Dämonengift hat es in sich und sie ist eine Irdische. Sie hat keine Runen wie wir, die ihr Kraft verleihen.« »Mundies sterben verdammt schnell, was?«

»Isabelle, es bringt Unglück, in Krankenzimmern vom Sterben zu sprechen!«


Drei Tage, dachte Clary träge. Ihre Gedanken flossen langsam und zähflüssig dahin wie Blut oder Honig.

Ich muss aufwachen.

Doch es wollte ihr nicht gelingen.

Träume umfingen sie und rissen sie in ihrem Bilderstrom mit sich wie Wildwasser ein Blatt. Sie sah ihre Mutter in einem Krankenhausbett, die Augen tief in den Höhlen des bleichen Gesichts. Sie sah Luke, der auf einem Haufen Knochen stand. Jace mit gefiederten Schwingen, Isabelle, die Peitsche wie ein Netz goldener Ringe um den nackten Körper gewunden, und Simon, in dessen Handflächen Kreuze eingebrannt waren. Fallende, brennende Engel, die vom Himmel stürzten.


»Ich hab dir doch gesagt, dass sie das Mädchen aus dem Pandemonium ist.«

»Ich weiß. Sie ist ganz schön klein, was? Jace sagt, sie hätte einen Ravener getötet.«

»Hm. Als wir sie das erste Mal gesehen haben, hab ich sie für eine Elfe gehalten. Aber für eine Elfe ist sie nicht hübsch genug.«

»Na ja, mit Dämonengift in den Adern sieht niemand besonders prickelnd aus. Will Hodge die Bruderschaft einschalten?«

»Hoffentlich nicht. Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich nur an sie denke. Wer sich selbst so verstümmelt …«

»Wir verstümmeln uns doch auch.«

»Ich weiß, Alec, aber das sind keine bleibenden Schäden. Und es tut auch nicht jedes Mal weh …«

»… sofern man alt genug ist. Wo steckt eigentlich Jace? Er hat sie doch gerettet. Man sollte meinen, er würde sich dafür interessieren, ob es ihr besser geht.«

»Hodge sagt, er sei nicht mehr bei ihr gewesen, seit er sie hergebracht hat. Wahrscheinlich ist es ihm egal.«

»Manchmal fragt man sich bei ihm … Sieh mal! Sie hat sich bewegt!«

»Ich schätze, dann lebt sie wohl doch noch.« Jemand seufzte. »Ich sag Hodge Bescheid.«


Clarys Augenlider fühlten sich an wie zugenäht. Fast glaubte sie zu fühlen, wie die Haut riss, als sie mühsam die Augen öffnete und das erste Mal seit drei Tagen blinzelte.

Über sich sah sie einen klaren blauen Himmel, weiße Wölkchen und pausbäckige Engel, von deren Handgelenken lange goldene Schleifen herabbaumelten. Bin ich tot?, fragte sie sich. Konnte das der Himmel sein? Sie kniff kurz die Augen zusammen und schaute dann erneut nach oben. Dieses Mal erkannte sie, dass sie auf eine gewölbte Decke blickte, die mit Wolken und Putten im Rokoko-Stil bemalt war.

Unter Schmerzen setzte sie sich auf. Ihr gesamter Körper tat weh, besonders der Nacken. Sie sah sich um. Sie lag in einem leinenbezogenen Bett, das in einer langen Reihe ähnlicher Betten mit Metallrahmen stand. Neben dem Bett befand sich ein Nachttischchen, auf dem ein weißer Krug und eine Tasse thronten. Die Spitzenvorhänge an den Fenstern waren zugezogen, sodass nur gedämpftes Licht einfiel. Von draußen drang schwach das allgegenwärtige Rauschen des New Yorker Großstadtverkehrs in den Raum.

»Na, endlich aufgewacht?«, fragte eine Stimme. »Das wird Hodge freuen. Wir dachten schon, du wachst gar nicht mehr auf und stirbst.«

Clary drehte sich um. Isabelle saß auf dem Nachbarbett; das lange rabenschwarze Haar war zu zwei dicken Zöpfen geflochten, die ihr bis zur Taille reichten. Statt des weißen Kleides trug sie Jeans und ein enges blaues Trägertop, doch der rote Anhänger baumelte noch an ihrem Hals. Das dunkle, kunstvolle Spirallinienmuster an ihrem Handgelenk war verschwunden, ihre Haut wirkte rein und weiß wie unberührter Schnee.

»Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen.« Clarys Stimme klang rau wie Sandpapier. »Ist das hier das Institut?«

Isabelle verdrehte die Augen. »Gibt’s eigentlich irgendwas, das Jace dir noch nicht verraten hat?«

Clary hustete. »Dann ist das hier also das Institut?«

»Ja. Du bist auf der Krankenstation, aber das hast du ja wahrscheinlich längst mitbekommen.«

Unvermittelt spürte Clary einen stechenden Schmerz. Sie schnappte nach Luft und hielt sich den Bauch.

Isabelle musterte sie besorgt. »Alles in Ordnung?«

Der Schmerz ebbte ab, aber Clary fühlte Säure im Hals und einen seltsamen Schwindel. »Mein Magen.«

»Ach ja, richtig. Das hätte ich fast vergessen: Hodge hat gesagt, ich soll dir das hier geben, wenn du aufwachst.« Isabelle griff nach dem Porzellankrug und goss etwas Flüssigkeit in die Tasse, die sie Clary reichte. Die dunkle, leicht dampfende Brühe war trüb und roch nach Kräutern und einer weiteren, aromatischen Zutat. »Du hast seit drei Tagen nichts gegessen«, erklärte Isabelle, »deshalb fühlst du dich wahrscheinlich so schlecht.«

Clary nippte vorsichtig an der Tasse. Das Elixier schmeckte köstlich, es sättigte und besaß einen sahnigen Nachgeschmack. »Was ist das?«

Isabelle zuckte die Achseln. »Einer von Hodges Kräuteraufgüssen – die wirken immer.« Sie rutschte vom Bett und dehnte katzengleich den Rücken. »Ich heiße übrigens Isabelle Lightwood. Ich wohne hier.«

»Ich weiß und ich bin Clary, Clary Fray. Hat Jace mich hierhergebracht?«

Isabelle nickte. »Hodge war stocksauer. Der ganze Teppich im Eingang war voller Blut und Eiter. Wenn meine Eltern da gewesen wären, hätte Jace sicher Hausarrest bekommen.« Sie musterte Clary interessiert. »Jace behauptet, du hättest diesen Ravener-Dämon ganz allein getötet.«

Das Bild des Skorpionwesens mit dem boshaften, abstoßenden Antlitz schoss Clary durch den Kopf; schaudernd umklammerte sie die Tasse. »Sieht ganz so aus.«

»Aber du bist eine Mundie

»Ja, verblüffend, was?«, meinte Clary und genoss Isabelles schlecht verhohlene Verwunderung. »Wo ist Jace? Ist er auch hier?«

Isabelle zuckte die Achseln. »Vermutlich ist er nicht weit. Ich sag mal den anderen Bescheid, dass du wach bist. Hodge will bestimmt mit dir reden.«

»Hodge ist Jace’ Tutor, richtig?«

»Hodge betreut uns alle.« Sie wies auf eine Tür. »Da ist das Bad; ich hab dir schon ein paar alte Klamotten von mir über die Handtuchstange gehängt, damit du was Sauberes zum Anziehen hast.«

Clary wollte noch einen Schluck aus der Tasse nehmen, stellte jedoch fest, dass sie bereits leer war. Zum Glück fühlte sie sich nicht länger schwindlig oder hungrig. Sie setzte die Tasse ab und zog die Bettdecke bis zur Nasenspitze. »Was ist mit meinen Sachen?«

»Die waren voller Blut und Gift. Jace hat sie verbrannt.«

»Ach, tatsächlich?«, fragte Clary. »Ist er eigentlich immer so unverschämt oder spart er sich das für uns Mundies auf?«

»Ach, der ist zu jedem so«, erwiderte Isabelle leichthin. »Das macht ihn ja so verdammt sexy – das und die Tatsache, dass er schon mehr Dämonen getötet hat als jeder andere in seinem Alter.«

Clary sah sie verdutzt an. »Ist er nicht dein Bruder …?«

Isabelle lachte amüsiert und setzte sich auf Clarys Bett. »Jace mein Bruder? Nein. Wie kommst du denn darauf?«

»Na, ihr wohnt doch hier zusammen«, erklärte Clary, »oder?«

Isabelle nickte. »Ja, schon, aber …«

»Und warum lebt er nicht bei seinen Eltern?«

Für den Bruchteil einer Sekunde schwieg Isabelle betreten. »Weil sie tot sind«, sagte sie schließlich.

Clary öffnete überrascht den Mund. »Sind sie bei einem Unfall gestorben?«

»Nein.« Nervös nestelte Isabelle an ihren dunklen Haaren. »Seine Mutter ist bei der Geburt gestorben. Und sein Vater wurde ermordet, als er zehn war. Jace hat alles mit angesehen.«

»Oh«, flüsterte Clary bestürzt. »Waren das … Dämonen?«

Isabelle stand auf. »Ich sollte jetzt wirklich gehen und den anderen Bescheid sagen. Sie haben drei Tage lang darauf gewartet, dass du die Augen aufmachst. Ach, übrigens: Im Bad findest du auch Seife«, fügte sie hinzu. »Vielleicht willst du dich ein bisschen frisch machen – du stinkst nämlich.«

Clary schenkte ihr einen finsteren Blick. »Besten Dank.«

»Keine Ursache.«


Isabelles Kleidung wirkte an Clary einfach lächerlich. Sie musste die Beine der Jeans mehrfach umkrempeln, um nicht darüber zu stolpern, und das tief ausgeschnittene rote Trägertop betonte nur, dass ihr fehlte, was Eric als »Holz vor der Hütte« bezeichnet hätte.

Sie wusch sich in dem kleinen Bad mit einem Stück harter Lavendelseife und trocknete sich mit einem weißen Handtuch ab. Das feuchte Haar hing ihr in duftenden Strähnen ums Gesicht und ein kurzer Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass sie eine tiefviolette Beule auf der rechten Wange hatte und ihre Lippen trocken und geschwollen waren.

Ich muss Luke anrufen , dachte sie. Sicher gab es hier irgendwo ein Telefon. Vielleicht ließ man sie ja telefonieren, wenn sie mit Hodge gesprochen hatte.

Ihre Skechers hatte jemand fein säuberlich ans Fußende des Krankenbetts gestellt; die Hausschlüssel waren mit dem Schnürsenkel verknotet. Sie zog sie an, holte tief Luft und machte sich auf die Suche nach Isabelle.

Der Korridor vor dem Krankenzimmer war leer. Verblüfft stellte Clary fest, dass er den düsteren, endlosen Fluren ähnelte, durch die sie manchmal in ihren Albträumen rannte. Rosenförmige Glaslampen zierten seine Längsseiten und es roch nach Staub und Bienenwachs.

Entfernt hörte sie leise, zarte Töne, wie von einem Windspiel in der Brise. Vorsichtig setzte sie sich in Bewegung, tastete sich mit einer Hand an der Wand entlang. Die Tapete, wohl noch aus viktorianischen Zeiten, war zu einem blassen Burgunderrot und Hellgrau verblichen. Geschlossene Türen säumten beide Korridorseiten.

Der Klang wurde lauter. Sie erkannte, dass jemand halbherzig, wenn auch sehr talentiert Klavier spielte, konnte die Melodie aber nicht einordnen.

Als sie um die Ecke bog, stieß sie auf eine sperrangelweit geöffnete Tür. Das Zimmer war auf den ersten Blick als Musiksalon zu erkennen. In einer Ecke stand ein Flügel und an der ihm gegenüberliegenden Wand waren Stühle aufgereiht. Mitten im Raum ragte eine verhüllte Harfe auf.

Am Flügel saß Jace, dessen schlanke Hände über die Tasten flogen. Er war barfuß, in Jeans und grauem T-Shirt; das goldbraune Haar stand ihm wirr um den Kopf, als sei er gerade erst aufgestanden. Als Clary beobachtete, wie sicher seine Hände über die Tasten huschten, erinnerte sie sich an das Gefühl, von diesen Händen hochgehoben zu werden, in seinen Armen zu liegen und die Sterne wie einen Silberregen um ihren Kopf wirbeln zu sehen.

Sie musste irgendein Geräusch gemacht haben, denn er drehte sich auf dem Schemel um und blinzelte ins Dunkel. »Alec«, fragte er, »bist du das?«

»Nein, ich bin’s, Clary.« Sie ging ein paar Schritte auf ihn zu.

Mehrere Klaviertasten ertönten, als er sich erhob. »Unser Schneewittchen. Und, wer hat dich wach geküsst?«

»Niemand. Ich bin von selbst aufgewacht.«

»War denn irgendwer bei dir?«

»Isabelle, aber sie ist jemanden holen gegangen, ich glaube, Hodge. Sie meinte, ich solle warten, aber …«

»Ich hätte ihr sagen sollen, dass du nie tust, was man dir sagt.« Jace musterte sie kurz. »Sind das Isabelles Sachen? Du siehst einfach lächerlich darin aus.«

»Darf ich dich darauf aufmerksam machen, dass du meine Sachen verbrannt hast?«

»Eine reine Vorsichtsmaßnahme.« Lautlos schloss er den schwarz glänzenden Deckel des Flügels. »Komm, ich bring dich zu Hodge.«


Das Institut war riesig – eine endlose Folge höhlenähnlicher Räume, die eher so aussahen, als seien sie im Laufe der Zeit von Wasserströmen aus Fels herausgewaschen statt plangemäß gebaut worden. Durch halb geöffnete Türen konnte Clary in unzählige identische kleine Zellen schauen, die alle mit einem schlichten Bett, einem Nachttischchen und einem großen, offen stehenden Kleiderschrank ausgestattet waren. Die hohen Decken wurden von hellen Steingewölben getragen, von denen viele mit kunstvollen kleinen Skulpturen verziert waren. Clary stellte fest, dass bestimmte Motive sich wiederholten – Engel, Schwerter, Sonnen und Rosen.

»Warum habt ihr so viele Schlafräume?«, fragte Clary. »Ich dachte, das hier wäre ein Forschungsinstitut.«

»Das ist der Wohntrakt. Wir haben uns verpflichtet, allen Schattenjägern, die es wünschen, eine sichere Zufluchtsstätte zu bieten. Wir können bis zu zweihundert Personen unterbringen.«

»Aber die meisten Zimmer stehen leer.«

»Niemand bleibt lange. Die Leute kommen und gehen und normalerweise sind nur wir hier: Alec, Isabelle, Max, ihre Eltern – und Hodge und ich.«

»Max?«

»Die schöne Isabelle kennst du ja bereits. Alec ist ihr älterer Bruder und Max der jüngere. Allerdings befindet er sich mit seinen Eltern im Ausland.«

»Im Urlaub?«

»Nicht ganz«, erwiderte Jace zögernd, »die Lightwoods sind eine Art Auslandsvertreter, Diplomaten, und dieses Haus hier könnte man mit einer Botschaft vergleichen. Zurzeit sind sie im Heimatland der Schattenjäger, um sehr schwierige Friedensverhandlungen vorzubereiten. Max haben sie mitgenommen, weil er noch so klein ist.«

»Heimatland der Schattenjäger?« Clary fühlte einen leichten Schwindel. »Wie heißt es denn?«

»Idris.«

»Hab ich noch nie gehört.«

»Natürlich nicht.« Da war wieder diese nervige Überheblichkeit in seiner Stimme. »Irdische wissen nichts von Idris. Sämtliche Grenzen sind von einem Wall aus Schutzzaubern umgeben. Wenn du versuchen würdest, die Grenze nach Idris zu passieren, würdest du sofort von einer Landesgrenze zur nächsten teleportiert – ohne es überhaupt zu bemerken.«

»Also findet man es auf keiner Landkarte?«

»Jedenfalls nicht auf Mundie-Karten. Aber du kannst es dir als ein kleines Land zwischen Deutschland und Frankreich vorstellen.«

»Aber zwischen Deutschland und Frankreich befindet sich wenn überhaupt die Schweiz.«

»Genau«, meinte Jace.

»Ich nehme an, du warst schon mal da, in Idris?«

»Ja, ich bin dort aufgewachsen.« Jace’ Stimme klang zwar neutral, aber irgendetwas an ihrem Ton signalisierte ihr, dass weitere Fragen in diese Richtung unerwünscht waren. »Wie fast alle Schattenjäger. Natürlich gibt es uns auf der ganzen Welt, denn wir müssen schließlich überall sein, da auch die Dämonen überall ihr Unwesen treiben. Aber für einen Schattenjäger bleibt Idris immer die ›Heimat‹.«

»Wie Mekka oder Jerusalem«, meinte Clary nachdenklich. »Die meisten von euch sind also in Idris aufgewachsen. Und was passiert, wenn ihr erwachsen seid?«

»Dann werden wir dahin geschickt, wo man uns braucht«, ergänzte Jace knapp. »Es gibt auch ein paar, wie Isabelle und Alec, die weit von der Heimat entfernt aufwachsen, weil ihre Eltern außerhalb des Landes wohnen. Aber mit all den Mitteln, die dieses Institut bietet, und mit Hodges Unterricht …« Er unterbrach sich. »So, da wären wir: Das hier ist die Bibliothek.«

Sie standen vor einer spitzbogigen Doppelflügeltür. Ein blauer Perserkater mit gelben Augen lag zusammengerollt davor. Er hob den Kopf und maunzte. »Hi, Church«, begrüßte Jace den Kater und streichelte ihn mit dem nackten Fuß. Genüsslich kniff Church die Augen zu Schlitzen zusammen.

»Warte mal einen Moment«, sagte Clary. »Alec, Isabelle und Max sind also die einzigen dir bekannten Schattenjäger deines Alters – die einzigen, zu denen du Kontakt hast?« Jace hörte auf, den Kater zu streicheln. »Ja.«

»Fühlt man sich da nicht manchmal ein wenig einsam?«

»Ich habe alles, was ich brauche.« Er stieß die Türflügel auf. Nach kurzem Zögern folgte Clary ihm.


Die Bibliothek war ein kreisförmiger Saal, dessen Decke sich nach oben hin verjüngte, als wäre der Raum innerhalb eines Turms errichtet. Die Wände wurden von hohen Bücherregalen gesäumt; in regelmäßigen Abständen boten lange Leitern auf Laufrollen Zugang zu den obersten Regalböden. Bei den Büchern handelte es sich nicht um herkömmliche Exemplare, sondern um schwere Folianten, in Leder und Samt gebunden und mit robusten Schlössern und Scharnieren aus Messing und Silber versehen. Die Buchrücken waren mit sanft schimmernden Edelsteinen besetzt und trugen illuminierte Goldlettern. Sie wirkten alt und abgegriffen, wie Bücher, die oft und gerne in die Hand genommen wurden.

Der Boden bestand aus poliertem Parkett mit Intarsien aus Glas, Marmor und Halbedelstein. Die Einlegearbeiten bildeten ein Muster, das Clary nicht ganz zu deuten vermochte – möglicherweise handelte es sich um Sternbilder oder eine Weltkarte. Sie hätte in die Spitze des Turms hinaufsteigen müssen, um es richtig zu erkennen.

In der Mitte des Raums stand ein prächtiger Schreibtisch. Er war aus einem einzigen großen Holzblock gefertigt, massives, schweres Eichenholz, dessen matter Glanz sein Alter verriet. Die Platte ruhte auf den Rücken zweier Engel, aus demselben Holz geschnitzt und mit vergoldeten Flügeln und so leidvollen Gesichtszügen versehen, als laste die Platte schwer auf ihnen. Hinter dem Schreibtisch saß ein dünner Mann mit grau meliertem Haar und langer Adlernase.

»Eine Bücherfreundin, wie ich sehe«, sagte er und lächelte Clary freundlich an. »Davon hast du mir gar nichts erzählt, Jace.«

Jace musste leise lachen. Clary war sich sicher, dass er dicht hinter ihr stand, die Hände in den Taschen und einmal mehr dieses aufreizende Grinsen im Gesicht. »Im Laufe unserer kurzen Bekanntschaft haben wir noch nicht viele Worte gewechselt«, erklärte er. »Ich fürchte, unsere Lesegewohnheiten sind bisher nicht zur Sprache gekommen.«

Clary drehte sich um und funkelte ihn wütend an. Dann wandte sie sich an den Mann am Schreibtisch: »Woran haben Sie das erkannt? Ich meine, dass ich Bücher liebe.«

»Das konnte man deiner Miene ansehen, als du hereinkamst«, erklärte er, stand auf und ging um den Schreibtisch herum auf sie zu. »Irgendwie hatte ich meine Zweifel, dass mein Anblick dich derartig beeindruckt hat.«

Als er sich erhob, hätte Clary fast nach Luft geschnappt. Einen Moment lang erschien er ihr seltsam missgestaltet, als sei die linke Schulter bucklig und höher als die andere. Doch als er näher kam, sah sie, dass es sich bei dem »Buckel« um einen Vogel handelte, der ruhig auf seiner linken Schulter thronte – ein schillernd schwarz gefiedertes Geschöpf mit glänzend schwarzen Augen.

»Darf ich dir Hugo vorstellen?«, fragte der Mann und streichelte den Vogel auf seiner Schulter. »Hugo ist ein Rabe und weiß als solcher von vielen Dingen. Und ich bin Hodge Starkweather, Geschichtsprofessor, und weiß als solcher nicht annähernd genug.«

Clary musste unwillkürlich kichern und ergriff seine ausgestreckte Hand. »Clary Fray.«

»Es ist mir eine Ehre, deine Bekanntschaft zu machen«, erwiderte er. »Schließlich gibt es nur ganz wenige, die einen Ravener mit bloßen Händen erwürgen können.«

»Das waren gar nicht meine Hände.« Es erschien ihr immer noch merkwürdig, für das Töten eines Wesens gelobt zu werden. »Es war dieses Ding von Jace – ich weiß nicht mehr, wie es hieß, aber …«

»Sie meint meinen Sensor«, erklärte Jace. »Sie hat ihn dem Ravener in die Kehle gerammt. Wahrscheinlich ist er an den Runen erstickt. Ich schätze, ich brauche jetzt wohl einen neuen«, fügte er fast nachdenklich hinzu.

»In der Waffenkammer liegen noch ein paar«, versicherte ihm Hodge. Wenn er lächelte, erschienen in seinen Augenwinkeln Tausende kleiner Linien, wie Risse in einem alten Gemälde. »Das war wirklich geistesgegenwärtig. Wie bist darauf gekommen, den Sensor als Waffe zu benutzen?«

Noch ehe sie antworten konnte, lachte jemand im Raum kurz auf. Clary war so fasziniert von den Büchern gewesen, dass sie Alec, der in einem dick gepolsterten roten Lehnsessel am Kamin herumlungerte, übersehen hatte. »Die Geschichte wirst du ihr ja wohl nicht abkaufen, Hodge«, sagte er.

Im ersten Moment drangen seine Worte nicht zu Clary durch. Sie war zu sehr damit beschäftigt, ihn genau zu mustern. Wie viele Einzelkinder war auch Clary von der Ähnlichkeit zwischen Geschwistern fasziniert; nun, bei Tageslicht, konnte sie die große äußerliche Übereinstimmung zwischen Alec und seiner Schwester noch deutlicher erkennen. Sie hatten beide rabenschwarzes Haar, schmale, geschwungene Augenbrauen und dieselbe blasse Haut. Aber während Isabelle eine arrogante Haltung an den Tag legte, hing Alec tief im Sessel, als wolle er von niemandem bemerkt werden. Er hatte lange dunkle Wimpern wie seine Schwester, doch im Gegensatz zu ihren schwarzen Augen leuchteten seine dunkelblau. Sie starrten Clary mit unverhohlener, konzentrierter Feindseligkeit an.

»Was willst du damit sagen, Alec?« Hodge zog skeptisch eine Augenbraue hoch. Clary fragte sich, wie alt er sein mochte; trotz seiner grauen Strähnen hatte er etwas Altersloses an sich. Er trug einen eleganten, tadellos gebügelten grauen Tweedanzug. Ohne die breite Narbe, die sich über seine rechte Gesichtshälfte erstreckte, hätte er sicher wie ein freundlicher Collegeprofessor gewirkt. Sie fragte sich, wie er sie sich wohl zugezogen hatte. »Willst du behaupten, sie hat den Dämonen gar nicht getötet?«, hakte Hodge nach.

»Natürlich hat sie das nicht. Man muss sie sich doch nur mal ansehen – sie ist eine Mundie, Hodge, und dazu noch eine halbe Portion, ein Kind. Gegen einen Ravener hätte sie gar keine Chance.«

»Ich bin kein Kind«, unterbrach Clary ihn, »sondern fast sechzehn – nächsten Sonntag ist mein Geburtstag.«

»Also genauso alt wie Isabelle«, sinnierte Hodge. »Würdest du Isabelle als Kind bezeichnen, Alec?«

»Isabelle entstammt einer der größten Schattenjägerdynastien aller Zeiten«, konterte Alec, »aber dieses Mädchen hier ist aus New Jersey.«

»Aus Brooklyn«, protestierte Clary wütend. »Na und? Ich habe einen Dämon in meinen eigenen vier Wänden getötet und jetzt kommst du und plusterst dich auf, nur weil ich kein verwöhntes reiches Balg bin wie du und deine Schwester?«

Alec schaute verblüfft. »Wie hast du mich genannt?«

Jace lachte. »Clary liegt gar nicht mal so falsch«, sagte er, »gerade bei diesen Vorstadt-Dämonen muss man höllisch aufpassen …«

»Sehr witzig, Jace!« Alec sprang wütend auf. »Du findest es anscheinend okay, dass sie mich beleidigt?«

»Ja«, erwiderte Jace liebenswürdig. »Das tut dir nämlich gut. Betrachte es einfach als Trainingsmaßnahme.«

»Jace, wir mögen zwar Parabatai sein«, stieß Alec zwischen zusammengepressten Lippen hervor, »aber deine leichtfertige Art strapaziert wirklich meine Geduld.«

»Und deine Dickköpfigkeit geht mir auf die Nerven. Als ich sie fand, lag sie in einer Blutlache am Boden, mit dem verendenden Dämon halb auf ihr. Ich habe zugesehen, wie er sich aufgelöst hat. Wenn sie ihn nicht umgebracht hat, wer dann?«

»Ravener sind dämlich; vielleicht hat er sich mit dem Stachel in den eigenen Nacken gestochen. Das wäre ja nicht das erste Mal …«

»Willst du uns jetzt erzählen, er habe Selbstmord begangen?«

»Es ist jedenfalls nicht richtig, dass sie hier ist«, konterte Alec verbissen. »Mundies dürfen nicht ins Institut, aus gutem Grund. Wenn jemand davon erfährt, könnte er uns beim Rat anzeigen.«

»Wobei man nicht vergessen darf, dass wir laut Gesetz in bestimmten Fällen auch Irdischen Schutz bieten dürfen«, stellte Hodge richtig. »Ein Ravener hatte bereits Clarys Mutter angefallen – folglich hätte sie die Nächste sein können.«

Angefallen. Clary fragte sich, ob das eine wohlwollende Umschreibung für »ermordet« war. Der Rabe auf Hodges Schulter krächzte leise.

»Ravener sind Killermaschinen«, sagte Alec, »sie handeln auf Befehl von Hexenmeistern oder mächtigen Dämonenfürsten. Aber warum sollte sich ein Hexenmeister oder Dämonenfürst für eine stinknormale Irdische interessieren?« Er starrte Clary unverhohlen feindselig an. »Kannst du mir das mal verraten?«

»Vielleicht war es einfach ein Versehen.«

»Dämonen machen keine solchen Fehler. Wenn sie hinter deiner Mutter her waren, muss es dafür einen Grund gegeben haben. Denn wenn sie unschuldig gewesen wäre …«

»Was soll das heißen, ›unschuldig‹?«, fragte Clary mit eisiger Stimme.

Alec schaute betroffen. »Ich …«

»Er will damit nur sagen«, warf Hodge ein, »dass es sehr ungewöhnlich ist, dass ein mächtiger Dämon, einer, der möglicherweise eine ganze Schar niederer Dämonen befehligt, sich für Angelegenheiten der Menschen interessiert. Kein Irdischer kann einen Dämon heraufbeschwören, dazu fehlt den Menschen die Macht. Aber es hat schon einige gegeben, die verwegen und dumm genug waren, eine Hexe oder einen Hexenmeister damit zu beauftragen.«

»Meine Mutter kennt weder Hexenmeister, noch glaubt sie an Magie«, erwiderte Clary. Dann fiel ihr etwas ein: »Madame Dorothea aus dem Erdgeschoss ist eine Hexe. Vielleicht hatten es die Dämonen auf sie abgesehen und haben zufällig meine Mutter erwischt?«

Überrascht zog Hodge die Augenbrauen hoch. »Bei euch im Erdgeschoss wohnt eine Hexe?«

»Nur so eine Stümperin, keine echte Hexe«, sagte Jace. »Ich hab das schon überprüft. Bei ihr gibt’s für Hexenmeister nichts zu holen, es sei denn, sie interessieren sich für defekte Kristallkugeln.«

»Womit wir wieder am Anfang stehen.« Hodge streichelte den Vogel auf seiner Schulter. »Es ist wohl das Beste, den Rat zu benachrichtigen.«

»Nein!«, rief Jace. »Wir können nicht …«

»Solange wir nicht wussten, ob Clary genesen würde, war es sinnvoll, ihre Anwesenheit geheim zu halten«, erklärte Hodge. »Aber jetzt ist sie gesund und damit die erste Irdische seit über einhundert Jahren, die das Institut betritt. Du weißt ja, was für Irdische gilt, die von Schattenjägern erfahren, Jace. Der Rat muss benachrichtigt werden.«

»Auf jeden Fall«, stimmte Alec zu. »Ich könnte meinem Vater eine Nachricht zukommen lassen …«

»Sie ist aber keine Irdische«, sagte Jace leise.

Hodges Augenbrauen schnellten bis zum Haaransatz empor. Alec unterbrach seinen Satz und schnappte verblüfft nach Luft. In der plötzlichen Stille konnte Clary hören, wie Hugo sein Gefieder schüttelte. »Doch, doch, ich bin eine Irdische«, sagte sie schließlich.

»Nein.« Jace wandte sich zu Hodge und Clary beobachtete, wie er schluckte. Seltsamerweise übte dieses kleine Anzeichen von Nervosität eine beruhigende Wirkung auf sie aus. »An jenem Abend tauchten plötzlich Du’sien-Dämonen auf, als Polizisten verkleidet. Wir mussten an ihnen vorbei. Clary war zu schwach, um zu laufen, und verstecken konnten wir uns auch nicht, weil jeder Zeitverlust ihren Tod bedeutet hätte. Also nahm ich meine Stele … und brannte ihr eine Medelin- Rune in den Arm. Ich dachte …«

»Hast du denn den Verstand verloren?« Hodges Hand schlug so hart auf den Tisch, dass Clary fürchtete, die Platte würde zerbersten. »Du weißt doch, dass das Gesetz es verbietet, Irdische mit einem Mal zu versehen! Gerade du müsstest das wissen!«

»Aber es hat funktioniert«, wandte Jace ein. »Clary, zeig ihnen deinen Arm.«

Clary starrte ihn verblüfft an und streckte dann den Arm aus. Sie erinnerte sich daran, wie verletzlich er ihr erschienen war, als sie ihn in jener Nacht hinter den Rosensträuchern betrachtet hatte. Genau oberhalb des Handgelenks sah sie jetzt drei einander überschneidende Kreise, dünn und verblasst wie eine längst vergessene, uralte Narbe. »Seht ihr, fast schon weg«, stellte Jace fest, »es hat ihr überhaupt nicht geschadet.«

»Darum geht es nicht.« Hodge beherrschte sich nur mit Mühe. »Du hättest sie in eine Forsaken verwandeln können!«

Alecs Wangen glühten rot vor Erregung. »Jace, das glaube ich einfach nicht. Nur Schattenjäger können Bündnis-Male tragen – Irdische sterben daran …«

»Hör mir doch mal richtig zu: Sie ist keine Irdische. Deshalb konnte sie uns auch sehen. Sie hat mit Sicherheit Schattenjägerblut in ihren Adern.«

Clary senkte den Arm; plötzlich fror sie. »Aber das … nein, unmöglich.«

»Doch, bestimmt«, sagte Jace, ohne sie anzusehen. »Sonst hätte das Mal, das ich auf deinen Arm …«

»Es reicht, Jace«, unterbrach Hodge ihn zornig. »Du brauchst ihr nicht noch mehr Angst einzujagen.«

»Aber ich hatte recht, oder? Das würde auch erklären, was mit ihrer Mutter passiert ist. Wenn sie eine Schattenjägerin im Exil war, hatte sie vielleicht Feinde in der Schattenwelt.«

»Meine Mutter war keine Schattenjägerin!«

»Aber vielleicht dein Vater«, erwiderte Jace. »Was weißt du über ihn?«

Clary erwiderte seinen Blick mit verschlossener Miene. »Er ist gestorben, ehe ich zur Welt kam.«

Jace zuckte fast unmerklich zusammen.

Nun meldete Alec sich wieder zu Wort. »Es wäre möglich«, sinnierte er. »Wenn ihr Vater Schattenjäger war und ihre Mutter weltlich – okay, es verstößt bekanntermaßen gegen das Gesetz, Mundies zu heiraten. Aber vielleicht haben sie sich versteckt.«

»Das hätte meine Mutter mir aber gesagt«, entgegnete Clary. Doch dann dachte sie daran, dass es nur ein Foto von ihrem Vater gab und ihre Mutter nie von ihm sprach, und begann, an ihren eigenen Worten zu zweifeln.

»Nicht unbedingt«, meinte Jace, »wir haben alle unsere Geheimnisse.«

»Luke, unser Freund«, fiel Clary ein, »der könnte es wissen.« Beim Gedanken an Luke erschrak sie; ihr schlechtes Gewissen meldete sich siedend heiß. »Das Ganze ist schon drei Tage her – er ist bestimmt verrückt vor Sorge. Kann ich ihn anrufen, habt ihr ein Telefon?« Sie blickte Jace an. »Bitte.«

Jace zögerte und schaute zu Hodge hinüber; der nickte und räumte seinen Platz am Schreibtisch. Hinter ihm stand ein aus Kupfer getriebener Globus, der allerdings nicht ganz so aussah wie die Weltkugeln, die Clary kannte; die Umrisse der Länder und Kontinente waren irgendwie anders. Daneben thronte ein altmodisches schwarzes Telefon mit silberner Wählscheibe. Clary nahm den Hörer in die Hand; das vertraute Freizeichen war für sie wie Balsam.

Nach dem dritten Klingeln nahm Luke ab. »Hallo?«

»Luke!« Sie ließ sich gegen den Schreibtisch sinken. »Ich bin’s, Clary.«

»Clary.« Sie hörte Erleichterung aus seiner Stimme heraus, aber noch etwas anderes, das sie nicht einordnen konnte. »Ist alles in Ordnung mit dir, Clary?«

»Es geht mir gut. Tut mir leid, dass ich mich nicht früher gemeldet habe. Luke, meine Mom …«

»Ich weiß. Die Polizei war hier.«

»Also hat sie sich nicht bei dir gemeldet.« Damit schwand auch die letzte Hoffnung, ihre Mutter könnte aus der Wohnung entkommen sein und sich irgendwo versteckt halten. Denn dann hätte sie sich auf jeden Fall bei Luke gemeldet. »Was sagt die Polizei?«

»Nur, dass sie vermisst wird.« Schaudernd dachte Clary an die Polizistin mit der Skeletthand. »Wo steckst du?«, fragte Luke.

»In der Stadt«, sagte Clary, »aber ich weiß nicht genau, wo. Bei ein paar Freunden. Mein Portemonnaie ist weg. Falls du noch Geld hast, könnte ich ein Taxi zu dir nehmen …«

»Nein«, sagte Luke kurz angebunden.

Der Hörer rutschte ihr aus der verschwitzten Hand; sie fing ihn wieder auf. »Was?«

»Nein«, sagte er, »das ist zu gefährlich. Du kannst nicht hierherkommen.«

»Warum rufen wir nicht …«

»Hör zu.« Seine Stimme klang hart. »Ich weiß nicht, in welch dunkle Geschäfte deine Mutter da hineingeraten ist, aber das Ganze hat nichts mit mir zu tun. Du bleibst am besten dort, wo du jetzt bist.«

»Ich will aber nicht hierbleiben.« Sie bemerkte, dass ihre Stimme weinerlich klang wie die eines Kindes. »Ich kenn diese Leute hier gar nicht. Du …«

»Clary, ich bin nicht dein Vater. Das habe ich dir schon mal gesagt.«

Brennende Tränen stiegen ihr in die Augen. »Tut mir leid. Ich wollte nur …«

»Ruf mich nicht noch mal an. Ich hab genug eigene Probleme und kann mich nicht auch noch mit deinen beschäftigen«, erwiderte er und legte auf.


Mutlos starrte sie den Hörer an; das Freizeichen summte an ihrem Ohr wie eine wütende Wespe. Sie wählte Lukes Nummer erneut und wartete. Diesmal sprang der Anrufbeantworter an. Sie knallte den Hörer auf die Gabel; ihre Hände zitterten.

Jace lehnte gegen Alecs Sessel und beobachtete sie. »Ich gehe mal davon aus, dass er über deinen Anruf nicht gerade begeistert war, oder?«

Clary hatte das Gefühl, dass sich ihr Herz bis auf die Größe einer Walnuss zusammenzog, sich zu einem kleinen Stein in ihrer Brust verhärtete. Ich werde nicht heulen, dachte sie, nicht vor diesen Leuten.

»Ich glaube, ich muss mich mal mit Clary unterhalten«, sagte Hodge. »Unter vier Augen«, fügte er bestimmt hinzu, als er Jace’ Gesichtsausdruck bemerkte.

Alec erhob sich. »Okay, wir gehen dann mal.«

»Das ist nicht fair«, protestierte Jace. »Ich war es, der sie gefunden hat. Ich habe ihr das Leben gerettet! Du willst doch, dass ich hierbleibe, oder?«, wandte er sich eindringlich an Clary.

Clary schaute zur Seite; hätte sie auch nur den Mund geöffnet, wäre sie sofort in Tränen ausgebrochen. Wie durch dichten Nebel hörte sie Alec lachen.

»Komm schon, Jace, nicht jeder will dich ständig und überall um sich haben.«

»Mach dich nicht lächerlich«, hörte sie Jace sagen, doch er klang enttäuscht. »Okay. Wir sind in der Waffenkammer.«

Der Klang der Tür, die ins Schloss fiel, hatte etwas Endgültiges. Clarys Augen brannten, wie jedes Mal, wenn sie ihre Tränen zu lange zurückzuhalten versuchte. Verschwommen zeichnete sich Hodges Gestalt turmhoch und grau vor ihr ab. »Komm, setz dich«, sagte er. »Hier, auf das Sofa.«

Erleichtert sank sie in die weichen Kissen. Ihre Wangen waren feucht und sie wischte sich blinzelnd die Tränen ab. »Normalerweise weine ich nicht«, hörte sie sich sagen. »Das hat auch nicht viel zu bedeuten. Ich bin gleich wieder okay.«

»Die wenigsten Menschen weinen, weil sie aufgebracht sind oder Angst haben. Meistens weinen sie aus Enttäuschung. Und deine Enttäuschung ist verständlich. Du hast ziemlich viel durchgemacht – das muss sehr schwer gewesen sein.« »Schwer?« Clary fuhr sich mit dem Saum von Isabelles TShirt über die Augen. »Ja, das kann man wohl sagen.«

Hodge zog den Schreibtischstuhl zum Sofa und setzte sich ihr gegenüber. Sie sah, dass seine Augen so grau waren wie sein Haar und sein Tweedanzug, sie aber freundlich musterten. »Kann ich dir irgendetwas anbieten?«, fragte er. »Etwas zu trinken vielleicht? Einen Tee?«

»Ich will keinen Tee«, sagte Clary mit erstickter Stimme. »Ich will meine Mutter finden. Und danach suche ich denjenigen, der ihr das angetan hat, und bringe ihn um.«

»Bedauerlicherweise haben wir bittere Rache gerade nicht im Angebot. Daher wird es wohl bei Tee oder gar nichts bleiben müssen.«

Clary ließ den Saum des T-Shirts, der inzwischen mit nassen Flecken übersät war, sinken. »Und was soll ich jetzt tun?«

»Zuallererst könntest du mir erzählen, was genau passiert ist.« Hodge kramte in seiner Tasche herum. Er zog ein perfekt gebügeltes Taschentuch hervor und reichte es ihr. Sie nahm es wortlos staunend an sich. Nie zuvor hatte sie jemanden kennengelernt, der Stofftaschentücher bei sich trug. »Dieser Dämon in der Wohnung … war er das erste Wesen dieser Art, das du gesehen hast? Und du hattest vorher keine Ahnung, dass so etwas existiert?«, fragte er. Clary verneinte kopfschüttelnd und zögerte dann. »Doch, davor habe ich schon mal einen gesehen, wusste aber nicht, dass er ein Dämon war. Als ich die anderen in dem Club …«

»Ach richtig, wie konnte ich das vergessen. Im Pandemonium. Das war das erste Mal?«

»Ja.«

»Und deine Mutter hat dir gegenüber nie irgendwelche Andeutungen gemacht – über andere Welten, welche die meisten Menschen nicht sehen können? Oder hat sie sich vielleicht besonders für Mythen interessiert, Märchen, Legenden …«

»Nein, das alles hat sie abgelehnt. Sie mochte noch nicht mal Disney-Filme. Und es gefiel ihr auch nicht, dass ich Mangas las, das fand sie kindisch.«

Hodge kratzte sich am Kopf, ohne dass sich sein Haar bewegte. »Sehr merkwürdig«, murmelte er.

»Eigentlich nicht«, meinte Clary, »meine Mutter war nicht merkwürdig, sondern die normalste Frau der Welt.«

»In der Regel werden Wohnungen normaler Menschen nicht von Dämonen durchwühlt«, entgegnete Hodge, nicht einmal unfreundlich.

»Ja, aber wenn es ein Versehen war?«

»Wenn es ein Versehen gewesen wäre und du ein normales Mädchen, hättest du den Dämon, der dich angriff, nicht sehen können – und wenn doch, hätte ihn dein Bewusstsein als etwas völlig anderes eingeordnet, als bösartigen Hund oder brutalen Verbrecher vielleicht. Da du ihn aber gesehen hast und er mit dir gesprochen hat …«

»Woher wissen Sie, dass er mit mir gesprochen hat?«

»Jace hat mir erzählt, du hättest gesagt, er habe ›gesprochen‹.«

»Das Wesen hat gezischt.« Clary erinnerte sich schaudernd. »Es sagte so etwas wie, dass es mich fressen wolle, obwohl es das, glaube ich, nicht durfte.«

»Ravener werden normalerweise von mächtigeren Dämonen befehligt. Sie selbst sind nicht sehr intelligent«, erklärte Hodge. »Hat er gesagt, wonach sein Gebieter suchte?«

Clary überlegte. »Er hat von einem Valentin gesprochen, aber …«

Hodge sprang auf – so abrupt, dass Hugo, der es sich auf seiner Schulter bequem gemacht hatte, verärgert krächzend aufflog. »Valentin?«

»Ja«, sagte Clary, »den Namen habe ich auch von dem Jungen – ich meine dem Dämon – im Pandemonium gehört.«

»Wir alle kennen diesen Namen«, sagte Hodge kurz und sachlich. Allerdings sah Clary, dass seine Hände zitterten. Hugo, der sich wieder auf seiner Schulter niedergelassen hatte, schüttelte unruhig sein Gefieder.

»Ist er ein Dämon?«

»Nein. Valentin ist – oder war – ein Schattenjäger.«

»Ein Schattenjäger? Warum war

»Weil er tot ist«, sagte Hodge mit ausdrucksloser Stimme, »und zwar seit fünfzehn Jahren.«

Clary sank in die Couchkissen zurück. Ihr pochte der Schädel. Vielleicht hätte sie doch den Tee annehmen sollen. »Und wenn es jemand anderes war? Jemand mit gleichem Namen?«

Hodge lachte, doch es klang bitter. »Nein. Aber jemand könnte seinen Namen benutzt haben, um eine Botschaft zu übermitteln.« Er stand auf und ging zu seinem Schreibtisch, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Und jetzt wäre genau der richtige Zeitpunkt dafür.«

»Warum gerade jetzt?«

»Wegen des Abkommens.«

»Wegen der Friedensverhandlungen? Jace hat sie erwähnt, aber Frieden mit wem denn?«

»Mit den Schattenwesen«, murmelte Hodge. Er musterte Clary besorgt. »Entschuldige, das ist sicher verwirrend für dich.«

»Meinen Sie?«

Er lehnte sich gegen den Schreibtisch und streichelte abwesend Hugos Federkleid.

»Die Schattenwesen sind die, mit denen wir uns die Verborgene Welt teilen. Seit Menschengedenken haben wir in einem zweifelhaften Frieden mit ihnen gelebt.«

»Sie meinen Vampire, Werwölfe und …«

»Das Lichte Volk«, erläuterte Hodge, »Feenwesen. Und als Halbdämonen zählen auch Liliths Kinder dazu, die Hexenmeister.«

»Und was sind die Schattenjäger?«

»Wir werden manchmal auch Nephilim genannt«, erklärte Hodge. »Der Bibel zufolge entspringen wir der Verbindung von Menschen und Engeln. Angeblich entstanden die Schattenjäger vor vielen Tausend Jahren, als die Menschheit von Dämoneninvasionen aus anderen Welten überrannt wurde. Ein Hexenmeister beschwor den Erzengel Raziel herauf; dieser vermengte sein eigenes Blut mit dem Blut von Menschen in einem Kelch und ließ die Menschen davon trinken. Diejenigen, die von dem Engelsblut getrunken hatten, wurden zu Schattenjägern, genau wie ihre Kinder und Kindeskinder. Das Gefäß, in dem Raziel das Blut mischte, wurde später als der ›Kelch der Engel‹ bekannt. Die Legende mag vielleicht nicht den Tatsachen entsprechen, aber seither konnten – wenn es an Schattenjägern fehlte – unsere Reihen stets mithilfe des Kelchs wieder geschlossen werden.«

»Konnten – und jetzt geht das nicht mehr?«

»Der Kelch existiert nicht länger. Valentin hat ihn kurz vor seinem Tod vernichtet. Er hat sein Haus angezündet und sich und seine Familie verbrannt, seine Frau und sein Kind. Sein Land ist verkohlt. Noch immer will niemand dort wohnen. Es heißt, es sei verflucht.«

»Stimmt das denn?«

»Möglicherweise. Der Rat bestraft Gesetzesübertretungen manchmal mit Verwünschungen. Valentin hat gegen das wichtigste Gebot verstoßen: Er hat das Schwert gegen seine eigenen Brüder, die Schattenjäger, erhoben und sie umgebracht. Er und seine Verbündeten, der Kreis, haben zu der Zeit des letzten Abkommens Dutzende ihrer eigenen Brüder und Hunderte von Schattenwesen getötet. Sie konnten nur knapp besiegt werden.«

»Aber warum hat er die anderen Schattenjäger angegriffen?«

»Er lehnte das Abkommen ab. Er verachtete die Schattenwesen und fand, sie müssten alle abgeschlachtet werden, um die Welt für die Menschen zu reinigen. Obwohl Schattenwesen keine Dämonen oder Invasoren sind, fand er, sie seien vom Ursprung her dämonisch, und das reichte ihm. Der Rat war anderer Meinung – er glaubte, man bräuchte die Hilfe der Schattenwesen, um die Dämonen ein für alle Mal besiegen zu können. Und da das Lichte Volk schon länger auf dieser Welt weilt als wir, kann man auch kaum behaupten, sie gehörten nicht hierher.«

»Ist denn das Abkommen geschlossen worden?«

»Ja, es wurde unterzeichnet. Als die Schattenwesen sahen, wie der Rat sie verteidigte und sich gegen Valentin und seinen Kreis stellte, erkannten sie, dass die Schattenjäger nicht ihre Feinde waren. So hat Valentin durch seine Rebellion ungewollt das Abkommen erst ermöglicht.« Hodge setzte sich wieder auf den Stuhl. »Entschuldige, das ist für dich wahrscheinlich nur trockener Geschichtsstoff. Tja, so war Valentin. Ein Unruhestifter, ein Visionär, ein Mann mit viel Charme und Charisma. Und ein Killer. Nun bedient sich jemand seines Namens …«

»Aber wer?«, fragte Clary. »Und was hat meine Mutter damit zu tun?«

Hodge erhob sich erneut. »Ich weiß es nicht. Aber ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um das herauszufinden. Ich muss gleich eine Nachricht an den Rat und die Bruderschaft schicken. Die Stillen Brüder werden wahrscheinlich mit dir reden wollen.«

Clary fragte nicht, um was für Stille Brüder es sich handelte. Sie war es leid, eine Frage nach der anderen zu stellen, deren Antwort sie nur noch mehr verwirrte. Sie stand auf. »Darf ich denn jetzt nach Hause?«

Hodge schaute besorgt drein. »Nein, ich … ich denke, das wäre nicht sehr klug.«

»Aber dort sind all meine Sachen. Dinge, die ich brauche, auch wenn ich hierbleibe. Kleidung …«

»Wir können dir Geld geben, um neue zu kaufen.«

»Bitte«, beharrte Clary. »Ich muss sehen, ob … ob irgendetwas übrig geblieben ist.«

Hodge zögerte und nickte dann kurz. »Wenn Jace dich begleitet, kannst du hingehen.« Er beugte sich über den Schreibtisch und wühlte in seinen Papieren. Dann schaute er sich um, als bemerke er erst jetzt, dass sie noch im Raum stand. »Er ist in der Waffenkammer.«

»Ich weiß nicht, wo das ist.«

Hodge lächelte verschmitzt. »Church wird dich hinbringen.«

Clary schaute zur Tür, wo der dicke blaue Perserkater sich zu einem kleinen Diwan zusammengerollt hatte. Er erhob sich, als Clary näher kam, sein Fell erzitterte, als durchliefe eine Welle sein Haarkleid. Mit einem gebieterischen Miau lotste er Clary in den Korridor. Als diese sich nach Hodge umsah, schrieb er bereits etwas auf einen Papierbogen. Wohl eine Nachricht an den rätselhaften Rat, dachte sie. Es klang nicht so, als handelte es sich dabei um nette Leute. Clary fragte sich, wie der Rat wohl reagieren würde.

Die rote Tinte wirkte auf dem weißen Papier wie Blut. Stirnrunzelnd rollte Hodge Starkweather den Brief sorgfältig zusammen und pfiff nach Hugo. Der Rabe ließ sich leise krächzend auf seinem Handgelenk nieder. Hodge zuckte zusammen. Vor Jahren, während des Aufstands, war er an der Schulter verwundet worden und selbst ein so geringes Gewicht wie das von Hugo – ebenso wie Wetterwechsel oder plötzliche Armbewegungen – erinnerte ihn an alte Schmerzen und Qualen, die längst vergessen sein sollten.

Manche Erinnerungen verblassten einfach nie. Wie ein Wetterleuchten tauchten die Bilder hinter seinen Lidern auf, wenn er die Augen schloss. Blut, Leichen, zertrampelte Erde, ein weißes Podium, jetzt rot vor Blut. Die Schreie der Sterbenden. Die grünen, hügeligen Weiten von Idris und ihr endlos blauer Himmel, in den sich die Türme der Gläsernen Stadt erhoben. Der Schmerz des Verlusts brandete in ihm hoch wie eine Woge; seine Hand ballte sich zur Faust, sodass Hugo panisch die Flügel schlug. Wütend hackte er nach den Fingern, bis sie bluteten. Hodge öffnete die Hand und gab den Vogel frei, der einmal seinen Kopf umkreiste, dann zum Oberlicht hinaufflog und verschwand.

Seine bösen Vorahnungen abschüttelnd, griff Hodge nach einem neuen Bogen; er merkte nicht einmal, dass er beim Schreiben die tiefroten Tropfen auf dem Papier verschmierte.

6 Forsaken

Die Waffenkammer sah genauso aus, wie Clary sich einen Raum vorstellte, der als »Waffenkammer« bezeichnet wurde. An den Wänden aus poliertem Metall hingen alle erdenklichen Arten von Schwertern, Dolchen, Speeren, Lanzen, Klingenstäben, Bajonetten, Peitschen, Keulen, Sensen und Bogen. Weiche, mit Pfeilen gefüllte Lederköcher baumelten von Haken an der Decke herab und in einer Ecke lagen haufenweise Stiefel, Beinschoner, Armschienen und Panzerhandschuhe. Der ganze Raum roch nach Metall und Leder und Stahlpolitur. Alec und Jace, der inzwischen festes Schuhwerk angezogen hatte, saßen an einem langen Tisch in der Mitte des Saals und beugten die Köpfe über mehrere Gegenstände, die zwischen ihnen lagen. Als die Tür hinter Clary ins Schloss fiel, schaute Jace auf. »Wo ist Hodge?«, fragte er.

»Schreibt einen Brief an die Stillen Brüder.«

Alec unterdrückte ein Schaudern. »Aargh.«

Clary ging langsam auf die beiden zu, wobei sie Alecs feindselige Augen deutlich auf sich spürte. »Was macht ihr da?«

»Wir legen letzte Hand an diese Waffen.« Jace trat beiseite, damit Clary einen Blick auf den Tisch werfen konnte. Vor ihr lagen drei lange, schlanke, röhrenförmige Stäbe aus matt glänzendem Silber, die aber nicht scharf oder besonders gefährlich wirkten. »Sanvi, Sansavi und Semangelaf. Das sind Seraphklingen, auch ›Engelsschwerter‹ genannt.«

»Sie sehen gar nicht wie Schwerter aus. Wie habt ihr sie gemacht? Mithilfe von Magie?«

Alec schaute sie so entsetzt an, als hätte sie ihn aufgefordert, ein Ballettröckchen anzuziehen und eine perfekte Pirouette zu drehen.

»Das Merkwürdige an den Irdischen ist, dass sie besessen sind von Magie«, sagte Jace, ohne irgendjemanden direkt anzuschauen. »Und zwar ziemlich besessen für einen Haufen von Leuten, die nicht einmal wissen, was das Wort bedeutet.«

»Ich weiß, was das Wort bedeutet«, fauchte Clary. »Nein, tust du nicht, du denkst es bloß. Die Magie ist eine dunkle, elementare Naturgewalt, nicht nur ein Haufen

funkelnder Zauberstäbe, glitzernder Kristallkugeln oder sprechender Goldfische.«

»Ich habe nie behauptet, dass sprechende Goldfische …«

Jace unterbrach sie mit einer abschätzigen Handbewegung. »Wenn man einen Zitteraal als Gummiente bezeichnet, macht ihn das noch lange nicht zur Gummiente. Und möge Gott dem armen Kerl beistehen, der beschließt, so ein Entchen mit in die Wanne zu nehmen.«

»Du redest dummes Zeug«, bemerkte Clary.

»Das tue ich nicht«, erwiderte Jace würdevoll.

»Doch, tust du«, sagte Alec ziemlich unerwartet. »Hör zu, wir betreiben keine Magie, okay?«, fügte er hinzu, ohne Clary anzusehen. »Mehr brauchst du nicht zu wissen.«

Clary hätte ihn am liebsten angefahren, hielt sich aber zurück. Alec schien sie so schon nicht besonders zu mögen; es brachte nichts, ihn zu provozieren und damit seine feindselige Haltung noch zu verstärken. Stattdessen wandte sie sich an Jace: »Hodge sagt, ich könne nach Hause gehen.«

Jace ließ fast die Seraphklinge fallen, die er in der Hand hielt. »Er hat was gesagt?«

»Ich könne nach Hause, um die Sachen meiner Mutter durchzuschauen«, erklärte sie. »Falls du mich begleitest.«

»Jace«, stieß Alec hervor, doch Jace ignorierte ihn.

»Wenn du wirklich beweisen willst, dass meine Mutter oder mein Vater Schattenjäger waren, sollten wir die Sachen meiner Mutter durchsehen. Oder zumindest das, was noch davon übrig ist.«

»Ins Kaninchenloch.« Jace grinste schräg. »Gute Idee. Wenn wir uns jetzt gleich auf den Weg machen, haben wir noch drei, vier Stunden Tageslicht.«

»Willst du, dass ich mitkomme?«, fragte Alec, als Clary und Jace zur Tür gingen. Clary drehte sich kurz um. Alec hatte sich halb von seinem Stuhl erhoben; seine Augen glänzten erwartungsvoll.

»Nein«, erwiderte Jace, ohne sich umzusehen. »Ist schon okay. Clary und ich schaffen das alleine.«


Der Blick, den Alec Clary zuwarf, brodelte vor Gift. Sie war froh, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.

Jace eilte den Korridor entlang; Clary musste beinahe joggen, um mit seinen großen Schritten mitzuhalten. »Hast du deine Hausschlüssel?«, fragte er.

Clary blickte auf ihre Schuhe. »Ja.«

»Gut. Wir könnten zwar mühelos einbrechen, aber die Chance, irgendwelche Wächter auf den Plan zu rufen, ist viel kleiner, wenn wir so ins Haus kommen.«

»Wenn du es sagst.« Der Korridor endete in einem großen Foyer mit Marmorboden. In eine der Wände war ein schwarzes Metallgitter eingelassen. Erst als Jace einen Knopf neben dem Gitter drückte und dieser aufleuchtete, erkannte Clary, dass es sich um einen Aufzug handelte. Das Ding ächzte und stöhnte, während die Kabine zu ihnen hochrukkelte.

»Jace?«

»Ja?«

»Woher wusstest du, dass ich Schattenjägerblut in mir hab? Hast du das an irgendetwas erkannt?«

Die Aufzugskabine erschien mit einem letzten, lauten Ächzen. Jace entriegelte das Gitter und schob es beiseite. Das Innere des Aufzugs erinnerte Clary an einen Vogelkäfig – viel schwarzes Metall und ein paar vergoldete Verzierungen. »Ich habe geraten«, sagte er und schloss die Tür hinter ihnen. »Es schien mir die logischste Erklärung zu sein.«

»Du hast geraten? Du musst dir ziemlich sicher gewesen sein, wenn man bedenkt, dass du mich hättest töten können.«

Er drückte auf einen Knopf an der Wand und der Aufzug setzte sich derart ruckelnd in Bewegung, dass Clary die Vibrationen förmlich unter ihren Füßen spüren konnte. »Ich war mir zu neunzig Prozent sicher.«

»Verstehe«, sagte Clary.

Irgendetwas musste in ihrer Stimme mitgeschwungen haben, denn er drehte sich zu ihr um und sah sie an. Ihre Ohrfeige traf ihn mitten ins Gesicht. Eher überrascht als schmerzlich getroffen, führte er eine Hand an seine rote Wange. »Wofür zum Teufel war das jetzt wieder?«

»Für die restlichen zehn Prozent«, sagte sie. Danach legten sie die verbleibenden Meter zum Erdgeschoss schweigend zurück.


Auch während der U-Bahn-Fahrt nach Brooklyn hüllte Jace sich in verärgertes Schweigen. Clary setzte sich trotzdem dicht neben ihn, da sie ein schlechtes Gewissen hatte – vor allem, wenn sie den roten Fleck sah, den ihre Ohrfeige auf seiner Wange hinterlassen hatte.

Doch ansonsten machte ihr die eisige Stille zwischen ihnen nichts aus; auf diese Weise hatte sie Gelegenheit zum Nachdenken. Wieder und wieder rief sie sich das Gespräch mit Luke ins Gedächtnis. Es tat weh, darüber nachzudenken, so als würde sie auf einem morschen Zahn herumkauen. Aber sie konnte einfach nicht damit aufhören.

Am anderen Ende des Zugabteils saßen zwei Mädchen im Teenageralter auf einer orangefarbenen Bank und kicherten – genau die Sorte von Mädchen, die Clary auch an der St. Xavier School nicht ausstehen konnte, mit pinkfarbenen Schühchen und Selbstbräunertönung im Gesicht. Clary fragte sich einen kurzen Moment lang, ob sie vielleicht über sie lachten, erkannte dann aber überrascht, dass sie Jace ansahen.

Sie erinnerte sich an das Mädchen in dem Café, das Simon angestarrt hatte. Mädchen hatten immer diesen seltsamen Ausdruck in den Augen, wenn sie einen Jungen süß fanden. Nach allem, was passiert war, hatte Clary ganz vergessen, dass Jace tatsächlich süß war. Er besaß zwar nicht Alecs feingliedrige Züge, aber sein Gesicht war viel interessanter. Bei Tageslicht schimmerten seine Augen in der Farbe von goldenem Honig und sahen … sie direkt an.

Fragend zog er eine Augenbraue hoch. »Kann ich dir irgendwie helfen?«

Clary wurde sofort zur Verräterin an ihrem eigenen Geschlecht. »Die Mädchen da drüben starren dich die ganze Zeit an.«

Jace setzte eine selbstzufriedene Miene auf und lächelte milde. »Natürlich tun sie das«, sagte er. »Schließlich bin ich unglaublich attraktiv.«

»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass Bescheidenheit eine attraktive Eigenschaft ist?«

»Ja«, räumte Jace ein, »aber nur hässliche Leute. Die Sanftmütigen mögen die Erde erben, aber in der Zwischenzeit gehört sie den Eitlen. Und damit mir.« Er zwinkerte den beiden Mädchen zu, die daraufhin kicherten und sich hinter ihren Haaren versteckten.

Clary seufzte. »Wie kommt es, dass sie dich sehen können?«

»Die Anwendung von Zauberglanz ist ziemlich anstrengend. Manchmal haben wir einfach keine Lust, uns die Mühe zu machen.«

Der Vorfall mit den Mädchen in der U-Bahn schien seine Laune deutlich gebessert zu haben. Als sie den Bahnhof verließen und den Hügel zu Clarys Haus hinaufmarschierten, zog er eine der Seraphklingen aus seiner Jacke, wirbelte sie wie einen Schlagzeugstock in den Fingern und summte dazu.

»Muss das sein?«, fragte Clary. »Das nervt.«

Jace summte noch lauter, irgendeine seltsame Mischung aus »Happy Birthday« und »Glory, Glory, Hallelujah«.

»Tut mir leid wegen der Ohrfeige«, sagte sie.

Er unterbrach sein Summen. »Sei froh, dass du mich und nicht Alec geohrfeigt hast. Er hätte zurückgeschlagen.«

»Er scheint ganz versessen darauf zu sein«, murmelte Clary und kickte eine leere Coladose aus dem Weg. »Wie hat Alec dich noch mal genannt? Para-was?«

»Parabatai«, erwiderte Jace. »Dieser Ausdruck bezeichnet zwei Krieger, die gemeinsam kämpfen – und die einander näher stehen als Brüder. Alec ist mehr als nur mein bester Freund. Bereits unsere Väter waren in ihrer Jugend Parabatai. Alecs Vater ist mein Patenonkel, deswegen lebe ich bei ihnen. Sie sind quasi meine Adoptivfamilie.«

»Aber dein Nachname ist nicht Lightwood.«

»Nein«, sagte Jace und Clary hätte ihn gerne gefragt, wie sein voller Name lautete. Aber sie näherten sich dem Haus und ihr Herz schlug inzwischen derart laut, dass man es sicher meilenweit hören konnte. In ihren Ohren dröhnte es und ihre Handflächen fühlten sich feucht an. Clary blieb vor der Buchsbaumhecke stehen und schaute langsam nach oben. Sie erwartete gelbes Absperrband vor der Haustür, Glassplitter auf dem Rasen und ein vollkommen zerstörtes Gebäude.

Doch das Haus zeigte keinerlei Anzeichen eines Kampfes: Der braune Sandstein schien in der warmen Nachmittagssonne förmlich zu glühen und Bienen summten träge in den Rosensträuchern unter Madame Dorotheas Fenstern.

»Es sieht völlig unverändert aus«, sagte Clary.

»Von außen.« Jace griff in seine Jeanstasche und holte ein weiteres dieser Geräte aus Metall und Kunststoff hervor, die Clary für ein Mobiltelefon gehalten hatte.

»Ist das ein Sensor? Wie funktioniert er?«, fragte sie.

»Er empfängt Frequenzen, genau wie ein Radio, nur mit dem Unterschied, dass diese Schwingungen dämonischen Ursprungs sind.«

»Dämonenkurzwelle?«

»So was in der Art.« Jace hielt den Sensor mit gestrecktem Arm vor sich, während sie sich der Haustür näherten. Das Gerät tickte leise, als sie die Stufen hinaufstiegen, und verstummte dann. Jace runzelte die Stirn. »Der Sensor registriert Spuren von Aktivität, aber das könnten auch noch die Überbleibsel von vor drei Tagen sein. Die Impulse sind jedenfalls nicht so stark, dass sie auf eine derzeitige Anwesenheit von Dämonen hinweisen.«

Clary stieß einen erleichterten Seufzer aus; ihr war gar nicht aufgefallen, dass sie die Luft angehalten hatte. »Gut.« Sie bückte sich, um ihre Hausschlüssel hervorzuholen. Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie die Kratzer an der Haustür. Beim letzten Mal musste es bereits so dunkel gewesen sein, dass sie sie nicht bemerkt hatte. Die Kratzer sahen aus wie von langen Krallen – tiefe, parallele Gräben im Holz.

Jace berührte sie am Arm. »Ich geh vor«, sagte er. Clary wollte ihm sagen, dass sie es nicht nötig habe, sich hinter ihm zu verstecken, brachte aber keinen Ton heraus. Auf einmal schmeckte sie wieder die Angst, die sie beim Anblick des Ravener verspürt hatte – ein scharfer, kupferartiger Geschmack, wie von alten Centstücken.

Jace drückte mit einer Hand die Tür auf und bedeutete Clary mit der anderen, ihm zu folgen. Dann standen sie im Treppenhaus. Clary blinzelte, um ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Die Flurlampe war noch immer defekt und das Oberlicht viel zu schmutzig, um auch nur einen Sonnenstrahl hereinzulassen. Madame Dorotheas Tür schien fest verschlossen; unter dem Türblatt schimmerte kein Licht hindurch. Clary fragte sich beklommen, ob ihr irgendetwas zugestoßen war.

Jace strich mit der Hand über das Treppengeländer. Als er seine Finger betrachtete, schimmerte etwas feucht und dunkelrot. »Blut.«

»Vielleicht noch von mir.« Ihre Stimme klang dünn. »Von vor drei Tagen.«

»Das müsste längst getrocknet sein«, erwiderte Jace. »Komm.«

Er eilte die Treppe hinauf, Clary immer dicht hinter sich. Auf dem Treppenabsatz vor der Wohnung war es noch dunkler und sie fummelte mit drei verschiedenen Schlüsseln, bis sie endlich den richtigen ins Schloss geschoben hatte. Jace beugte sich über sie und beobachtete sie ungeduldig. »Puste mir nicht in den Nacken«, zischte Clary. Ihre Hand zitterte. Endlich griffen die Arretierstifte des Türzylinders und das Schloss sprang mit einem Klicken auf.

Jace zog sie zurück. »Ich gehe vor.«

Sie zögerte einen Moment, trat dann aber beiseite, um ihn durchzulassen. Ihre Handflächen fühlten sich feucht an, allerdings nicht von der Hitze. Tatsächlich war es recht kühl in der Wohnung, fast schon kalt – eisige Luft zog vom Treppenhaus herein, prickelte auf ihrer Haut. Sie spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam, als sie Jace durch den kurzen Flur ins Wohnzimmer folgte.

Es war leer. Vollkommen leer, so wie bei ihrem Einzug – mit nackten Wänden und Böden, ohne irgendwelche Möbel, selbst die Vorhänge waren aus den Schienen gerissen. Lediglich an den etwas helleren Flecken an den Wänden konnte man noch erkennen, wo die Bilder ihrer Mutter gehangen hatten. Wie in Trance machte Clary auf dem Absatz kehrt und ging in die Küche, Jace war dicht hinter ihr. Seine hellen Augen hatte er zu Schlitzen zusammengekniffen.

Auch in der Küche herrschte gähnende Leere. Stühle, Tische, alles weg – selbst der Kühlschrank war verschwunden. Sämtliche Türen der Einbauschränke standen offen und gaben den Blick auf nackte Regalböden frei. Clary räusperte sich. »Was wollen Dämonen denn mit unserer Mikrowelle anfangen?«, fragte sie verwundert.

Jace schüttelte den Kopf, aber seine Mundwinkel zuckten amüsiert. »Keine Ahnung. Momentan zeigt der Sensor jedenfalls keine Dämonen in der näheren Umgebung an. Ich denke, sie sind schon lange weg.«

Clary sah sich weiter um. Irgendjemand hatte sogar die verschüttete Tabascosoße weggewischt, bemerkte sie seltsam unbeteiligt.

»Bist du fertig?«, fragte Jace. »Hier ist nichts mehr zu finden.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte noch kurz in mein Zimmer.«

Er warf ihr einen Blick zu und schien etwas erwidern zu wollen, besann sich dann aber eines Besseren. »Von mir aus«, sagte er und steckte die Seraphklinge in die Tasche.

Die Lampe im Flur war defekt, aber Clary brauchte nicht viel Licht, um sich in der Wohnung zurechtzufinden. Mit Jace im Schlepptau steuerte sie auf ihr Zimmer zu und griff nach dem Türknauf. Er fühlte sich kalt an in ihrer Hand – so kalt, dass es fast schmerzte, als würde sie einen Eiszapfen mit bloßen Fingern berühren. Sie sah, dass Jace ihr einen raschen Blick zuwarf, aber sie drehte bereits den Türknauf, versuchte es zumindest. Er ließ sich nur schwer bewegen, so als wäre er auf der anderen Seite in eine dickflüssige, klebrige Masse eingebettet …

Plötzlich flog die Tür mit einem Ruck auf und traf Clary mit voller Wucht. Sie schlitterte durch den Wohnungsflur, prallte gegen die Wand und blieb auf dem Bauch liegen. In ihren Ohren dröhnte ein dumpfes Gebrüll, während sie auf die Knie zu kommen versuchte.

Jace presste sich flach gegen die Wand und griff hastig in seine Jackentasche; sein Gesicht war ein einziges überraschtes Fragezeichen. Wie ein Riese aus einem Märchen ragte über ihm ein hünenhafter Mann auf, mit Beinen wie Baumstämme, und schwang drohend eine Breitaxt. Dreckige Lumpen hingen von seinem Körper herab und seine langen Haare waren zu einer dreckstarrenden Matte verfilzt. Er stank nach giftig saurem Schweiß und fauligem Fleisch. Clary war froh, dass sie sein Gesicht nicht sehen konnte – der Anblick seiner Rückseite genügte ihr völlig.

Jace hatte plötzlich den Seraphstab in der Hand, streckte den Arm aus und rief: »Sansavi!«

Wie von Zauberhand schoss eine Klinge aus dem Stab hervor. Clary musste an alte Spielfilme denken, wo Bajonette im Inneren von Spazierstöcken versteckt waren und auf Knopfdruck zum Vorschein kamen. Aber eine derartige Klinge hatte sie noch nie gesehen: klar wie Glas, mit einem leuchtenden Heft, ungemein scharf und fast so lang wie Jace’ Unterarm. Jace stieß zu und schlitzte den Riesen auf, der mit einem Brüllen zurücktaumelte.

Jace wirbelte herum und rannte auf Clary zu. Er packte sie am Arm, zog sie auf die Füße und schob sie vor sich den Flur entlang. Sie konnte den Koloss hinter sich hören; er folgte ihnen. Seine Schritte klangen, als würden schwere Bleigewichte auf den Boden fallen, und er holte rasch auf.

Sie rasten durch die Wohnungstür, hinaus ins Treppenhaus. Jace wirbelte herum, um die Tür hinter sich zuzuschlagen. Clary hörte das Klicken des automatischen Sicherheitsschlosses und hielt den Atem an. Die Tür erzitterte in den Scharnieren, als ein gewaltiger Axthieb aus dem Inneren der Wohnung dagegendonnerte. Clary rannte zur Treppe. Jace warf ihr einen Blick zu. Seine Augen funkelten vor fieberhafter Begeisterung. »Lauf nach unten! Bring dich in Sicherheit …«

Ein weiterer Schlag traf das Türblatt und dieses Mal gaben die Scharniere nach und die Tür flog aus dem Rahmen. Sie hätte Jace mit voller Wucht getroffen, wenn er nicht blitzschnell zur Seite gesprungen wäre – so schnell, dass Clary es kaum mitbekam. Plötzlich stand er auf der obersten Stufe; die Klinge in seiner Hand strahlte hell wie ein Komet. Clary sah, dass Jace ihr etwas zurief, konnte ihn aber wegen des Gebrülls des Kolosses nicht verstehen, der nun durch die zertrümmerte Tür brach und sich auf Jace stürzte. Sie presste sich flach gegen die Wand, als die Kreatur in einer Woge aus Hitze und Gestank an ihr vorbeistampfte. Im nächsten Moment flog die mächtige Breitaxt wie von einem Katapult abgefeuert durch die Luft auf Jace’ Kopf zu. Er duckte sich und die Schneide der Axt grub sich in das Treppengeländer, drang tief in das Holz ein.

Jace lachte. Das Gelächter schien den Koloss in noch größere Wut zu versetzen; er ließ die Axt stecken und torkelte mit erhobenen Fäusten auf Jace zu. Jace parierte den Angriff mit einer fließenden Bewegung und bohrte der Kreatur die Seraphklinge bis zum Heft in die Schulter. Einen Moment lang stand der Riese schwankend da. Dann taumelte er nach vorne, mit ausgestreckten Händen, die nach Jace griffen. Hastig sprang Jace zur Seite, doch er war nicht schnell genug: Die gewaltigen Fäuste bekamen ihn in dem Augenblick zu fassen, als der Koloss wankte und die Treppe hinunterstürzte. Er riss Jace mit sich. Jace schrie auf; dann ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen und Splittern, gefolgt von Totenstille.

Clary rappelte sich auf und rannte die Stufen hinunter. Jace lag ausgestreckt am Fuß der Treppe; sein linker Arm ragte in einem unnatürlichen Winkel unter ihm hervor. Seine Beine waren unter dem Riesen eingeklemmt, in dessen Schulter die Seraphklinge bis zum Heft eingedrungen war. Der Koloss lebte zwar, zuckte aber nur noch schwach; blutiger Schaum lief ihm aus dem Mundwinkel. Clary konnte sein Gesicht nun deutlicher sehen: die totenbleiche, papierdünne Haut war mit einem schwarzen Gitterwerk schrecklicher Narben überzogen, das seine Züge fast vollkommen entstellte. Seine Augenhöhlen waren rot und vereitert. Clary unterdrückte das Gefühl aufsteigender Übelkeit. Sie stolperte die letzten Stufen hinunter, stieg über den zuckenden Koloss und kniete sich neben Jace auf den Boden. Er war so still. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, fühlte sein blutdurchtränktes, feuchtklebriges Hemd – ob es sein Blut war oder das des Riesen, konnte sie nicht sagen.

»Jace?«

Er schlug die Augen auf. »Ist er tot?«

»Fast«, sagte Clary grimmig.

»Verdammt.« Er zuckte zusammen. »Meine Beine …«

»Halt still.« Clary krabbelte hinter seinen Kopf, schob ihre Hände unter seine Achseln und zog. Er stöhnte vor Schmerz, als seine Beine unter dem krampfartig zuckenden Körper des Riesen zum Vorschein kamen. Clary ließ ihn los und er rappelte sich mühsam auf, den linken Arm vor die Brust geklemmt. Sie richtete sich ebenfalls auf. »Ist mit deinem Arm alles in Ordnung?«

»Nein. Ist gebrochen«, sagte er. »Kannst du mal bitte in meine Tasche greifen?«

Sie zögerte eine Sekunde, nickte dann aber. »In welche?«

»Innere Jackentasche, rechte Seite. Hol eine der Seraphklingen heraus und gib sie mir.« Er verharrte regungslos, während sie nervös ihre Finger in seine Tasche schob. Sie stand nun so dicht vor ihm, dass sie seinen Geruch wahrnehmen konnte – eine Mischung aus Schweiß, Seife und Blut. Sein Atem streifte ihren Nacken. Ihre Finger schlossen sich um einen röhrenförmigen Stab und sie zog ihn hervor, ohne Jace anzusehen.

»Danke«, sagte er. Seine Finger strichen kurz über den Stab, dann sprach er den Namen der Waffe aus: »Sanvi.« Genau wie ihr Vorgänger verwandelte sich auch diese Röhre in eine gefährliche Klinge, deren Licht Jace’ Gesicht beleuchtete. »Guck nicht hin«, sagte er und postierte sich über dem Körper der narbenübersäten Kreatur. Er hob die Klinge über den Kopf und stieß dann zu. Blut schoss aus der Kehle des Riesen und spritzte über Jace’ Stiefel.

Clary hatte erwartet, dass der Koloss sich in Luft auflösen würde, so wie der Junge im Pandemonium in sich zusammengefallen und dann verschwunden war. Doch das geschah nicht. Die Luft war schwer vom Geruch des Blutes, süß und metallisch. Jace stieß einen kehligen Laut aus. Er war kreidebleich, aber sie konnte nicht sagen, ob vor Schmerz oder Ekel. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht hingucken«, knurrte er.

»Ich dachte, er würde verschwinden«, murmelte sie. »In seine eigene Dimension zurückkehren, so wie du es gesagt hast.«

»Ich hab gesagt, das passiert mit Dämonen, wenn sie sterben.« Er stöhnte vor Schmerz, während er seine Jacke von den Schultern streifte und den linken Oberarm freilegte. »Aber das war kein Dämon.« Mit der rechten Hand zog er etwas aus seinem Gürtel. Es war der glatte, stabförmige Gegenstand, mit dem er die einander überschneidenden Kreise in Clarys Haut geritzt hatte. Beim bloßen Anblick des Stabs spürte Clary bereits, wie ihr Unterarm zu brennen begann.

Jace fing ihren Blick auf und grinste leicht. »Das«, sagte er, »ist eine Stele.« Er führte den Stab an das dunkle Mal auf seiner Schulter, das eine merkwürdige, fast sternförmige Gestalt besaß. Zwei Zacken des Sterns ragten über den Rest des Mals hinaus. »Und das«, fuhr er fort, »passiert, wenn ein Schattenjäger verwundet ist.«

Mit der Spitze der Stele zog er eine Linie, welche die beiden Zacken des Sterns miteinander verband. Als er die Hand sinken ließ, leuchtete das Mal auf, als wäre es mit phosphoreszierender Tinte geritzt. Während Clary zusah, versank es in der Haut wie ein beschwerter Gegenstand im Wasser. Zurück blieb nur ein gespenstisches Andenken: eine helle, dünne, fast unsichtbare Narbe.

Ein Bild tauchte vor Clarys innerem Auge auf. Der Rücken ihrer Mutter, nicht vollständig durch den Badeanzug bedeckt; ihre Schulterblätter und die Wölbung der Wirbelsäule, von dünnen weißen Malen überzogen. Es schien ihr, als hätte sie das in einem Traum gesehen – der Rücken ihrer Mutter war schließlich makellos. Das wusste sie ganz genau. Doch das Bild ließ sie nicht mehr los.

Jace stieß einen Seufzer aus; sein schmerzverzerrtes Gesicht entspannte sich. Er bewegte den Arm, zunächst nur vorsichtig, doch dann müheloser. Schließlich hob und senkte er ihn, ballte die Hand zu einer Faust. Der Knochen war ganz eindeutig nicht länger gebrochen.

»Das ist ja toll«, sagte Clary. »Wie hast du das gemacht?«

»Mit einer Iratze – einer Heilrune«, erklärte Jace. »Wenn man die Rune mit der Stele vervollständigt, wird sie aktiviert.« Er schob den schlanken Stab in seinen Gürtel und zog die Jacke wieder über die Schultern. Dann stieß er mit der Stiefelspitze gegen den Leichnam des Riesen. »Wir müssen Hodge darüber informieren«, sagte er. »Der wird ausflippen«, fügte er hinzu, als erfülle ihn der Gedanke an Hodges Reaktion mit Genugtuung. Jace gehörte zu der Sorte von Leuten, denen es gefiel, wenn etwas passierte, dachte Clary – auch wenn das, was passierte, ziemlich übel war.

»Warum sollte er ausflippen?«, fragte Clary. »Und wenn ich es richtig verstehe, dann war das da kein Dämon. Deswegen hat der Sensor ihn auch nicht registriert, richtig?«

Jace nickte. »Siehst du die vielen Narben auf seinem Gesicht?«

»Ja.«

»Die wurden von einer Stele hervorgerufen, genau der gleichen Sorte wie dieser hier.« Er klopfte auf den Stab an seinem Gürtel. »Du hast mich doch gefragt, was passiert, wenn man jemanden, der kein Schattenjägerblut in sich trägt, mit einem Mal versieht. Eine einzige dieser Runen würde lediglich die Haut desjenigen verbrennen, aber viele mächtige Male … in das Fleisch eines ganz normalen Menschen geritzt, der nicht eine Spur von Schattenjägervorfahren besitzt … dann erhältst du so was.« Er deutete mit dem Kinn auf den Riesen. »Die Runen sind qualvoll. Und die Gezeichneten verlieren den Verstand – die Schmerzen treiben sie förmlich in den Wahnsinn. Sie verwandeln sich dann in grimmige, hirnlose Tötungsmaschinen, die weder essen noch schlafen, sofern man sie nicht dazu zwingt. Normalerweise sterben sie recht bald. Runen besitzen eine große Macht und können für sehr gute Zwecke eingesetzt werden – aber sie können auch dem Bösen dienen. Und die Forsaken sind böse.«

Clary starrte ihn entsetzt an. »Aber warum sollte sich jemand so etwas antun wollen?«

»Niemand würde das freiwillig auf sich nehmen – es wird ihnen von Dritten zugefügt. Vielleicht von einem Hexenmeister oder irgendeinem Schattenwesen, das sich dem Bösen verschrieben hat. Die Forsaken sind demjenigen treu, der sie mit einem Mal gezeichnet hat. Außerdem sind sie wie gesagt rücksichtslose Killer und können einfache Befehle ausführen. Im Grunde ist das so, als hätte man eine Armee von Sklaven zur Verfügung.« Jace stieg über den toten Forsaken und warf Clary einen Blick zu. »Ich geh noch mal rauf.«

»Aber die Wohnung ist doch leer.«

»Vielleicht lungern da oben ja noch weitere Untote herum«, erwiderte er, so als freue er sich fast schon darauf. »Du bleibst besser hier.« Damit stieg er die Stufen hinauf.

»Das würde ich nicht machen, wenn ich du wäre«, sagte eine schrille, vertraute Stimme wie aus dem Nichts. »Da, wo der erste herkam, warten noch weitere.«

Jace, der fast schon den oberen Treppenabsatz erreicht hatte, wirbelte herum und starrte in die Dunkelheit. Auch Clary wandte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war; allerdings wusste sie sofort, wem sie gehörte. Der schwere Akzent war nicht zu verkennen.

»Madame Dorothea?«

Die alte Frau nickte huldvoll. Sie stand im Türrahmen ihrer Wohnung, in ein zeltartiges Gewand aus roher purpurroter Seide gehüllt. Goldketten glitzerten an ihren Handgelenken und um ihren Hals. Mehrere Strähnen hatten sich aus dem Knoten gelöst, zu dem sie ihr langes silbergrau meliertes Haar hochgesteckt hatte.

Jace starrte sie unverwandt an. »Aber …«

»Warten noch weitere was?«, fragte Clary.

»Weitere Forsaken«, erwiderte Madame Dorothea mit einer Heiterkeit in der Stimme, die nach Clarys Gefühl nicht zu den Umständen passte. Die alte Frau sah an ihr vorbei in den Flur. »Da habt ihr ja eine schöne Sauerei veranstaltet. Ich wette, keiner von euch beiden denkt auch nur im Traum daran, das wieder sauber zu machen. Typisch.«

»Aber Sie sind eine Irdische«, brachte Jace schließlich hervor.

»Messerscharf beobachtet«, bestätigte Madame Dorothea mit glänzenden Augen. »Mit dir hat der Rat ja wirklich einen Volltreffer gelandet.«

Jace’ Verwirrung wich einem Ausdruck wachsender Wut. »Sie wissen also vom Rat?«, fragte er herausfordernd. »Sie kennen den Rat, Sie wussten, dass sich Forsaken in diesem Haus aufhielten, und haben den Rat nicht informiert? Die bloße Existenz von Forsaken ist bereits ein Verstoß gegen das Bündnis …«

»Weder der Rat noch das Bündnis haben jemals etwas für mich getan«, entgegnete Madame Dorothea aufgebracht und ihre Augen funkelten wütend. »Ich schulde denen gar nichts.« Einen kurzen Moment lang wurde ihr schwerer New Yorker Akzent von einem heiseren, tieferen Tonfall verdrängt, den Clary nicht einordnen konnte.

»Jace, hör auf«, sagte Clary und wandte sich wieder an Madame Dorothea. »Wenn Sie vom Rat wissen und den Forsaken, wissen Sie dann vielleicht auch, was mit meiner Mutter passiert ist?«

Die alte Frau schüttelte den Kopf und ihre Ohrringe klimperten. Ein Hauch von Bedauern breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Wenn du meinen Rat hören willst: Ich würde dir empfehlen, deine Mutter zu vergessen«, sagte sie. »Sie ist fort.«

Der Boden schien unter Clarys Füßen zu schwanken. »Sie meinen, sie ist tot?«

»Nein«, erwiderte Dorothea gedehnt, fast zögerlich. »Ich bin mir sicher, sie ist noch am Leben. Noch.«

»Dann muss ich sie finden«, rief Clary. Die Welt drehte sich nicht länger. Jace stand dicht hinter ihr, eine Hand unter ihrem Ellbogen, als wolle er sie stützen. Doch Clary spürte es kaum. »Verstehen Sie? Ich muss sie finden, ehe …«

Madame Dorothea hielt eine Hand hoch. »Ich möchte nichts mit Schattenjägern zu tun haben.«

»Aber Sie haben meine Mutter gekannt. Sie war Ihre Nachbarin …«

»Dies ist eine offizielle Untersuchung des Rats«, unterbrach Jace sie. »Ich kann auch mit den Stillen Brüdern wiederkommen, wenn Ihnen das lieber ist.«

»Um Himmels willen, bloß nicht …« Madame Dorothea warf einen Blick auf ihre Tür und sah dann wieder zu Jace und Clary. »Na, meinetwegen kommt rein«, murmelte sie schließlich, »ich erzähle euch, was ich weiß.« Sie drehte sich um und ging ein paar Schritte in Richtung ihrer Wohnung, blieb dann aber abrupt stehen. »Wenn du irgendjemandem erzählst, dass ich dir geholfen habe, Schattenjäger«, zischte sie und funkelte Jace an, »dann wachst du morgen mit Schlangen statt Haaren auf und einem weiteren Paar Arme.«

»Könnte ganz nützlich sein, so ein weiteres Paar Arme«, sinnierte Jace, »vor allem im Kampf.«

»Nicht, wenn sie dir aus dem …« Madame Dorothea schwieg eine Sekunde und fügte dann mit einem maliziösen Lächeln hinzu: »… Hals wachsen.«

»Igitt«, erwiderte Jace leichthin.

»Igitt ist richtig, Jace Wayland.« Sie marschierte in ihre Wohnung; das purpurrote Zelt flatterte wie eine bunte Fahne hinter ihr her.

Clary sah Jace an. »Wayland?«

»Das ist mein Nachname.« Jace wirkte bestürzt. »Ich kann nicht behaupten, dass es mir gefällt, dass sie meinen Namen kennt.«

Clary sah Madame Dorothea hinterher. In ihrer Wohnung brannten mehrere Lampen und der schwere Duft von Weihrauch wehte durch den Hauseingang und vermischte sich auf unangenehme Weise mit dem Gestank des Blutes.

»Trotzdem sollten wir versuchen, mit ihr zu reden. Was haben wir schon zu verlieren?«

»Wenn du erst einmal etwas Zeit in unserer Welt verbracht hast«, entgegnete Jace, »wirst du mich das nicht mehr fragen.«

7 Die fünfdimensionale Tür

Madame Dorotheas Apartment hatte in etwa den gleichen Grundriss wie die Wohnung von Clary und ihrer Mutter, doch ihre Räume waren völlig anders eingerichtet. In der Diele duftete es nach Weihrauch und überall hingen Perlenvorhänge und Astrologie-Poster. Eines davon zeigte die Sternbilder der Tierkreiszeichen, ein anderes erklärte die chinesischen Magiesymbole und auf einem dritten war eine Hand mit ausgestreckten Fingern abgebildet, mit genauen Erläuterungen zu jeder Linie der Handfläche. Darüber standen die lateinischen Worte »In Manibus Fortuna«. Auf einem schmalen Regal entlang der Wand neben der Tür stapelten sich unzählige Bücher.

Einer der Vorhänge rasselte leise, dann tauchte Madame Dorotheas Kopf zwischen den Perlen auf. »Interesse an Chiromantie?«, fragte sie, als sie Clarys Blick bemerkte. »Oder einfach nur neugierig?«

»Keins von beiden«, erwiderte Clary. »Können Sie wirklich wahrsagen?«

»Meine Mutter hatte eine große Gabe. Sie konnte die Zukunft eines Menschen in seiner Hand lesen oder in den Blättern auf dem Boden seiner Teetasse. Einige ihrer Tricks hat sie mir beigebracht.« Dann wandte sie sich Jace zu und musterte ihn eingehend. »Wo wir gerade von Tee sprechen, junger Mann – Lust auf eine Tasse?«

»Was?«, fragte Jace verwirrt.

»Tee. Ich habe festgestellt, dass er nicht nur den Magen beruhigt, sondern auch den Geist schärft. Ein wunderbares Getränk.«

»Ich hätte gern eine Tasse«, sagte Clary, der plötzlich bewusst wurde, wie lange sie nichts mehr gegessen oder getrunken hatte. Sie fühlte sich, als sei seit dem Aufstehen pures Adrenalin durch ihre Adern pulsiert.

Jace gab nach. »Okay. Solange es kein Earl Grey ist«, meinte er und rümpfte seine schlanke Nase. »Ich hasse Bergamotte.«

Madame Dorothea lachte gackernd und verschwand wieder hinter dem Perlenvorhang, der sich durch ihre Berührung sanft bewegte.

Clary sah Jace an und zog eine Augenbraue hoch. »Du hasst Bergamotte?«

Jace stand inzwischen vor dem Bücherregal und sah sich die Titel an. »Hast du damit ein Problem?«

»Ich glaube, du bist der einzige Junge in meinem Alter, der überhaupt weiß, was Bergamotte ist – ganz zu schweigen davon, dass man Earl-Grey-Tee damit aromatisiert.«

»Tja«, meinte Jace gönnerhaft, »ich bin auch nicht wie andere Jungs in meinem Alter. Abgesehen davon«, fügte er hinzu, während er sich ein Buch aus dem Regal nahm, »besuchen wir im Institut Kurse über die wichtigsten Anwendungszwecke von Heilpflanzen. Die Teilnahme ist obligatorisch.«

»Und ich dachte immer, ihr hättet nur solche Kurse wie Abschlachten für Anfänger oder Einführung ins Enthaupten.«

Jace blätterte eine Seite um. »Sehr witzig, Fray.«

Clary, die bis dahin das Handleseposter betrachtet hatte, wirbelte herum. »Nenn mich nicht so.«

Überrascht schaute er auf. »Warum nicht? Das ist doch dein Nachname, oder?«

Simons Bild erschien vor ihrem inneren Auge. Simon – das letzte Mal hatte sie ihn gesehen, wie er ihr nachstarrte, während sie fluchtartig das Java Jones verließ. Sie wandte sich wieder dem Poster zu und schloss kurz die Augen. »Nur so.«

»Verstehe«, meinte Jace und seiner Stimme konnte sie entnehmen, dass er sie besser verstand, als ihr lieb war. Dann hörte sie, wie er das Buch zurück ins Regal stellte. »Das hier muss der Mist sein, mit dem sie Mundies beeindruckt«, sagte er angewidert. »Kein einziges ernst zu nehmendes Buch dabei.«

»Nur weil das nicht deine Art von Magie ist …«, setzte Clary aufgebracht an.

Wütend unterbrach er sie: »Ich betreibe keine Magie! Schreib dir das hinter die Ohren: Menschliche Wesen sind keine Magienutzer. Das ist Teil ihrer menschlichen Existenz. Hexen und Hexenmeister können nur deshalb Magie bewirken, weil sie Dämonenblut in sich haben.«

Clary brauchte einen Moment, um diese Information zu verarbeiten. »Aber ich habe doch gesehen, wie du Magie benutzt hast. Du trägst verzauberte Waffen …«

»Ich verwende magische Gegenstände – doch um dazu in der Lage zu sein, muss ich regelmäßig hart trainieren. Außerdem schützen mich die Runenmale auf meiner Haut. Wenn du zum Beispiel versuchen wolltest, eine meiner Seraphklingen zu benutzen, würde sie deine Haut verbrennen oder dich möglicherweise sogar töten.«

»Und was, wenn ich auch solche Male tragen würde?«, fragte Clary. »Könnte ich sie dann benutzen?«

»Nein«, sagte Jace knapp. »Die Male sind nur ein Teil des Ganzen. Dazu kommen Tests, schwere Prüfungen, Training aller Art … vergiss es einfach, okay? Lass meine Klingen in Ruhe. Am besten fasst du ohne meine Erlaubnis überhaupt keine meiner Waffen an.«

»Tja, so viel zu meinem Plan, sie alle bei eBay zu verkaufen«, murmelte Clary.

»Sie wo zu verkaufen?«

Clary schenkte ihm ein mildes Lächeln. »Ein mythischer Ort von großer magischer Kraft.«

Jace schaute verwirrt, zuckte dann aber die Achseln. »Die meisten Mythen sind wahr, zumindest im Kern.«

»Das wird mir langsam auch klar.«

Der Perlenvorhang rasselte wieder und Madame Dorotheas Kopf tauchte zwischen den Schnüren auf. »Der Tee steht auf dem Tisch«, sagte sie. »Ihr beiden braucht hier nicht herumzustehen wie zwei Esel. Kommt in den Salon.«

»Sie haben einen Salon?«, fragte Clary.

»Natürlich«, sagte Madame Dorothea. »Wo sollte ich sonst meine Gäste bewirten?«

»Ich gebe nur eben dem Lakaien meinen Hut«, meinte Jace.

Madame Dorothea warf ihm einen finsteren Blick zu. »Wenn du nur halb so witzig wärst, wie du glaubst, wärst du doppelt so witzig, wie du bist, mein Junge.« Sie verschwand wieder hinter dem Vorhang, wobei ihr lautes »Pff!« beinahe das Rasseln der Perlen übertönte.

Jace runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher, was sie damit sagen wollte.«

»Ach nein?«, fragte Clary. »Also für mich war das völlig einleuchtend.« Ehe er antworten konnte, war sie schon durch den Perlenvorhang geschlüpft.

Im Salon war es so dunkel, dass Clary mehrmals blinzeln musste, um ihre Augen an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Schwaches Licht fiel auf zugezogene schwarze Samtvorhänge, welche die gesamte linke Wand bedeckten; ausgestopfte Vögel und Fledermäuse baumelten an dünnen Fäden von der Decke, glänzende schwarze Perlen saßen an den Stellen, wo einst ihre Augen gewesen waren. Auf dem Boden lagen fadenscheinige Perserteppiche, aus denen bei jedem Schritt eine Staubwolke stieg. Eine Gruppe wuchtiger rosafarbener Sessel umringte einen niedrigen Tisch, an dessen einem Ende Clary einen Stapel Tarotkarten erkannte, zusammengehalten von einem Seidenband. Auf der anderen Tischseite thronte eine Kristallkugel auf einem goldenen Ständer und in der Tischmitte stand ein silbernes Teeservice, das die Gäste zu erwarten schien: Auf einem hübschen Tablett stapelten sich Sandwichs, aus einer blauen Teekanne stieg langsam weißer Dampf auf und zwei Teetassen mit passenden Untertassen waren sorgfältig vor zwei der Sessel platziert worden.

»Wow«, sagte Clary matt. »Das sieht toll aus.« Sie ließ sich in einen der Sessel sinken. Es tat gut, endlich wieder einmal zu sitzen.

Dorothea lächelte und in ihren Augen glitzerte hintergründiger Humor. »Wer möchte Tee?«, fragte sie und hob die Kanne an. »Milch? Zucker?«

Clary schaute hinüber zu Jace, der neben ihr saß. Er hatte sich das Tablett mit den Sandwichs genommen und betrachtete es eingehend. »Zucker«, sagte sie.

Jace zuckte die Achseln, nahm sich ein Sandwich und stellte das Tablett wieder ab. Clary beobachtete ihn misstrauisch, während er hineinbiss. Er zuckte erneut die Achseln. »Gurke«, sagte er und erwiderte ihren Blick.

»Ich war immer schon der Meinung, dass Gurkensandwichs das einzig Wahre zum Tee sind«, sagte Madame Dorothea.

»Ich hasse Gurken«, erwiderte Jace und reichte Clary den Rest seines Sandwichs. Sie biss hinein – es war perfekt, mit genau der richtigen Menge Mayonnaise und Pfeffer.

Ihr Magen gab ein dankbares Knurren von sich und machte sich gierig über die erste feste Nahrung her, die er seit den Nachos mit Simon geboten bekam.

»Gurken und Bergamotte«, sagte Clary. »Was hasst du sonst noch, von dem ich unbedingt wissen sollte?«

Jace schaute über den Rand seiner Teetasse hinweg Madame Dorothea an. »Lügen«, sagte er.

Ruhig stellte die alte Dame ihre Teekanne ab. »Du kannst mich ruhig eine Lügnerin nennen. Es stimmt, ich bin keine Hexe. Aber meine Mutter war eine.«

Jace verschluckte sich fast an seinem Tee. »Das ist unmöglich.«

»Warum unmöglich?«, fragte Clary neugierig und nahm einen Schluck Tee. Er war bitter und stark aromatisiert und hatte einen rauchigen Nachgeschmack.

Jace seufzte. »Weil Hexen halb Mensch, halb Dämon sind. Alle Hexen und Hexenmeister sind Mischlinge. Und weil sie Mischlinge sind, können sie keine Kinder bekommen. Sie sind unfruchtbar.«

»Wie Maultiere«, meinte Clary nachdenklich, da sie sich an etwas erinnerte, das sie im Biologieunterricht gehört hatte. »Mulis sind unfruchtbare Mischlinge.«

»Deine Kenntnisse über Nutzvieh sind erstaunlich«, sagte Jace. »Alle Schattenwesen tragen einen Teil Dämonenblut in sich, aber nur Hexenmeister sind direkte Nachfahren von Dämoneneltern. Darum verfügen sie auch über die stärksten Kräfte.«

»Und Vampire und Werwölfe – sind die auch zum Teil Dämonen? Und was ist mit Elben?«

»Vampire und Werwölfe sind das Resultat von Krankheiten, die Dämonen aus ihren Heimatwelten eingeschleppt haben. Die meisten Dämonenkrankheiten sind für Menschen tödlich, doch in manchen Fällen verändern sie die Erkrankten auf seltsame Weise, ohne sie zu töten. Und Elben …«

»Elben sind gefallene Engel«, sagte Madame Dorothea, »die aus dem Himmel verbannt wurden, weil sie zu stolz waren.«

»So sagt die Legende«, meinte Jace. »Andere behaupten, dass es sich bei ihnen um die Nachkommen von Dämonen und Engeln handelt, was ich für wahrscheinlicher halte. Gut und Böse, miteinander vermischt. Elben sind so wunderschön, wie Engel es angeblich sind, doch sie tragen viel Mutwillen und Grausamkeit in sich. Und wie du feststellen wirst, meiden die meisten von ihnen die Mittagssonne …«

»Denn das Böse hat keine Macht«, ergänzte Madame Dorothea leise, als zitiere sie ein altes Gedicht, »außer in der Dunkelheit.«

Jace warf ihr einen finsteren Blick zu.

»Wie Engel es angeblich sind?«, wiederholte Clary. »Willst du damit sagen, dass Engel …«

»Genug über Engel«, sagte Madame Dorothea plötzlich grob. »Es stimmt, dass Hexen keine Kinder bekommen können. Meine Mutter hat mich adoptiert, weil sie sicherstellen wollte, dass sich jemand nach ihrem Tod um diesen Ort hier kümmert. Ich selbst muss keine magischen Künste beherrschen; meine Aufgabe ist es, zu beobachten und zu hüten.«

»Hüten? Was denn?«, fragte Clary.

»Tja, was eigentlich?« Die alte Dame griff nach dem Tablett, um sich ein Sandwich zu nehmen, doch es war leer – Clary hatte alles aufgegessen. Madame Dorothea lachte leise. »Es tut gut, eine junge Frau zu sehen, die sich mal ordentlich satt isst. Zu meiner Zeit waren alle Mädchen robuste, stämmige Wesen und nicht solche Bohnenstangen wie heute.«

»Vielen Dank«, sagte Clary. Sie musste an Isabelles schmale Taille denken und kam sich plötzlich unförmig vor. Etwas zu heftig stellte sie die Teetasse ab.

Wie ein Raubvogel stürzte Madame Dorothea sich auf die Tasse und starrte aufmerksam hinein. Zwischen ihren bleistiftdünnen Augenbrauen erschien eine tiefe Falte.

»Was ist?«, fragte Clary nervös. »Habe ich die Tasse zerbrochen oder so was?«

»Sie liest deine Teeblätter«, sagte Jace. Es klang gelangweilt, doch auch er beugte sich zusammen mit Clary vor, während Madame Dorothea die Tasse zwischen ihren dicken Fingern hielt und mit finsterer Miene hin und her drehte.

»Ist es etwas Schlechtes?«, fragte Clary.

»Es ist weder gut noch schlecht. Es ist verwirrend.« Madame Dorothea schaute Jace an. »Gib mir deine Tasse«, befahl sie.

Jace wirkte beleidigt. »Aber ich bin noch nicht fertig mit …«

Die alte Dame pflückte ihm die Tasse aus der Hand und goss den überschüssigen Tee in die Kanne zurück. Dann starrte sie mit gerunzelter Stirn auf den Bodensatz. »Ich sehe Gewalt in deiner Zukunft; viel Blut wird vergossen werden, durch dich und andere. Du verliebst dich in die falsche Person. Und außerdem hast du einen Feind.«

»Nur einen? Das ist mal eine gute Nachricht.« Jace lehnte sich im Sessel zurück, während Madame Dorothea seine Teetasse abstellte und erneut nach Clarys Tasse griff. Sie schüttelte den Kopf.

»Ich kann darin nichts erkennen. Die Bilder sind durcheinandergewürfelt, bedeutungslos.« Sie sah Clary an. »Hat man deinen Geist mit einer Blockade versehen?«

Clary war verwirrt. »Mit einer was?«

»Einer Blockade – einem Zauber, der eine deiner Erinnerungen verbirgt oder der dein Zweites Gesicht blockiert haben könnte.«

Clary schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht.«

Plötzlich hellhörig geworden, lehnte Jace sich vor. »Nicht so hastig«, sagte er. »Es stimmt – sie hat behauptet, dass sie sich nicht daran erinnern könnte, bis vor ein paar Tagen jemals das Zweite Gesicht gehabt zu haben. Vielleicht …«

»Vielleicht bin ich einfach nur ein Spätentwickler«, fauchte Clary. »Und hör auf, so anzüglich zu grinsen, nur weil ich das gesagt habe.«

Jace gab sich unschuldig. »War nicht meine Absicht.«

»Ich hab’s aber deutlich gesehen.«

»Mag sein«, gab Jace zu, »aber das bedeutet nicht, dass ich unrecht habe. Irgendwas blockiert deine Erinnerungen, da bin ich mir ziemlich sicher.«

»Also gut, lasst uns etwas anderes versuchen.« Madame Dorothea stellte die Tasse ab und griff nach den mit dem Seidenband umwickelten Tarotkarten. Sie fächerte die Karten auf und hielt sie Clary hin. »Lass deine Hand langsam darübergleiten, bis du eine Karte berührst, die sich heiß oder kalt anfühlt oder die an deinen Fingern zu kleben scheint. Dann zieh sie heraus und zeig sie mir.«

Gehorsam fuhr Clary mit der ausgestreckten Hand über die Karten. Sie fühlten sich kühl an und ein wenig glatt, aber keine von ihnen kam ihr besonders heiß oder kalt vor und keine blieb an ihren Fingern kleben. Schließlich pickte sie aufs Geratewohl eine heraus und hielt sie hoch.

»Das Ass der Kelche«, sagte Madame Dorothea. Sie klang verwirrt. »Die Karte der Liebe.«

Clary drehte die Karte um und betrachtete sie. Sie lag schwer in ihrer Hand, denn das Bild auf der Vorderseite war mit echter Ölfarbe gemalt worden. Es zeigte eine Hand, die einen Kelch in die Höhe hielt; im Hintergrund erkannte man eine strahlenförmige Sonne, in Goldfarbe gemalt. Auch der Kelch leuchtete golden; er war mit einem Muster aus kleineren Sonnen verziert und mit Rubinen besetzt. Der Malstil des Bildes war ihr so vertraut wie ihr eigener Atem. »Das ist eine gute Karte, richtig?«

»Nicht unbedingt. Die schrecklichsten Dinge, zu denen Menschen fähig sind, tun sie im Namen der Liebe«, sagte Madame Dorothea mit leuchtenden Augen. »Aber es ist eine sehr mächtige Karte. Was sagt sie dir?«

»Dass meine Mutter sie gemalt hat«, erwiderte Clary und legte die Karte auf den Tisch. »Das stimmt doch, oder?«

Madame Dorothea nickte zufrieden. »Sie hat das ganze Spiel gemalt. Ein Geschenk für mich.«

»Das behaupten Sie.« Mit kaltem Blick stand Jace auf. »Wie gut kannten Sie Clarys Mutter?«

Clary verdrehte ihren Hals, um zu ihm aufschauen zu können. »Jace, du musst nicht …«

Dorothea lehnte sich in ihrem Sessel zurück und ließ die Karten ausgebreitet auf ihrer Brust ruhen. »Jocelyn wusste, was ich bin, und ich wusste, was sie war. Wir haben nicht viel darüber gesprochen. Manchmal hat sie mir einen Gefallen getan – zum Beispiel dieses Kartenspiel für mich gemalt – und im Gegenzug habe ich sie mit dem neuesten Klatsch aus der Schattenwelt beliefert. Es gab da einen Namen, nach dem ich mich für sie umhören sollte, und das habe ich auch getan.«

Jace’ Gesicht blieb ausdruckslos. »Und welcher Name war das?«

»Valentin.«

Clary setzte sich ruckartig in ihrem Sessel auf. »Aber das …«

»Sie sagen, Sie wussten, was Jocelyn war – aber was meinen Sie damit? Was war sie?«, fragte Jace.

»Jocelyn war, was sie war«, antwortete Madame Dorothea. »Aber in ihrer Vergangenheit war sie so wie du. Eine Schattenjägerin. Ein Mitglied des Rats.«

»Nein«, flüsterte Clary.

Madame Dorothea betrachtete sie mit traurigen, fast schon gütigen Augen. »Aber es ist die Wahrheit. Sie entschloss sich ganz bewusst, in diesem Haus zu leben, weil …«

»Weil es eine Zufluchtsstätte ist«, sagte Jace zu Madame Dorothea. »Nicht wahr? Ihre Mutter, die Hexe, war eine Hüterin. Sie schuf diesen Raum, versteckt, geschützt – ein perfekter Platz für Schattenwesen auf der Flucht, die sich verbergen müssen. Und genau das tun Sie auch, richtig? Sie verstecken Verbrecher hier.«

»So würdest du sie nennen«, sagte Madame Dorothea. »Du kennst das Motto des Bündnisses?«

»Dura lex sed lex«, erwiderte Jace automatisch. »Das Gesetz ist hart, aber es ist das Gesetz.«

»Manchmal ist das Gesetz zu hart. Ich weiß, dass der Rat mich meiner Mutter weggenommen hätte, wenn es ihm möglich gewesen wäre. Deiner Meinung nach soll ich also zulassen, dass sie das auch anderen antun?«

»Oh, eine Philantropin.« Jace verzog verächtlich das Gesicht. »Und wahrscheinlich soll ich Ihnen jetzt auch noch glauben, dass Sie Schattenwesen hier Zuflucht gewähren, ohne sich dafür fürstlich bezahlen zu lassen?«

Madame Dorothea grinste so breit, dass ihre goldenen Backenzähne aufblitzten. »Nicht jeder kann so wie du auf sein blendendes Aussehen vertrauen.«

Jace schien die Schmeichelei kaltzulassen. »Ich sollte dem Rat erzählen, dass Sie …«

»Das darfst du nicht!« Clary war aufgesprungen. »Du hast es versprochen.«

»Ich habe nie irgendetwas versprochen«, erwiderte Jace aufsässig. Er erhob sich, schlenderte hinüber zur Wand und zog einen der Samtvorhänge beiseite. »Können Sie mir sagen, was das ist?«, fragte er gebieterisch.

»Das ist eine Tür, Jace«, sagte Clary. Es war tatsächlich eine Tür, seltsamerweise genau in der Wand zwischen den beiden Erkerfenstern. Ganz offensichtlich führte diese Tür nirgendwohin, sonst hätte sie von der Außenseite des Hauses aus zu sehen sein müssen. Anscheinend bestand sie aus einem matt schimmernden Metall, weicher als Messing, aber schwer wie Eisen. Der Türknauf hatte die Form eines Auges.

»Sei still«, sagte Jace wütend. »Das ist ein Portal. Oder etwa nicht?«

»Es ist eine fünfdimensionale Tür«, erwiderte Madame Dorothea und legte die Tarotkarten zurück auf den Tisch. »Wie du vielleicht weißt, verlaufen Dimensionen nicht immer in einer geraden Linie«, fügte sie hinzu, als sie Clarys verständnislosen Blick bemerkte. »Es gibt überall versteckte Senken und Falten und Winkel und Ecken. Wenn man sich nie mit Dimensionstheorie beschäftigt hat, ist das Ganze nur schwer zu verstehen, aber im Grunde läuft es darauf hinaus, dass diese Tür dich in dieser Dimension an jeden Ort bringen kann, wohin du willst. Es ist …«

»Ein Schlupfloch«, sagte Jace. »Darum wollte deine Mom auch unbedingt hier leben. Auf diese Weise hatte sie immer eine schnelle Fluchtmöglichkeit.«

»Warum ist sie dann nicht …«, setzte Clary an und unterbrach sich, plötzlich entsetzt. »Meinetwegen«, fuhr sie fort. »Sie wollte in jener Nacht nicht ohne mich fliehen. Also ist sie geblieben.«

Jace schüttelte den Kopf. »Das ist nicht deine Schuld.«

Während ihr die Tränen in die Augen stiegen, drängte Clary sich an Jace vorbei in Richtung der Tür. »Ich will sehen, wohin sie hätte gehen können«, sagte sie und umfasste den Türknauf. »Ich will sehen, wohin sie fliehen wollte …«

»Clary, nicht!« Jace griff nach ihr, doch ihre Finger hatten sich bereits fest um den Knauf geschlossen. Er drehte sich plötzlich unter ihrer Hand und die Tür flog auf, als ob sie sie aufgestoßen hätte. Mit einem Schrei schnellte Madame Dorothea aus dem Sessel, doch es war bereits zu spät. Noch ehe sie ihren Satz beenden konnte, spürte Clary, wie sie nach vorn geschleudert wurde, hinein in einen endlosen, leeren Raum.

8 Die Waffe seines Vertrauens

Sie war zu überrascht, um zu schreien. Am schlimmsten war das Gefühl, ins Nichts zu stürzen; das Herz schoss ihr hinauf in die Kehle und ihr Magen begann, sich aufzulösen. Sie streckte die Hände aus und versuchte, sich an irgendetwas festzuhalten, was ihren Fall verlangsamen würde.

Ihre Finger schlossen sich um Äste und rissen dabei Blätter ab. Dann traf sie so hart auf dem Boden auf, dass sie mit Hüfte und Schulter über die Erde schrammte. Sie rollte zur Seite und schnappte atemlos nach Luft. Gerade als sie sich aufsetzen wollte, landete jemand auf ihr.

Sie wurde auf den Rücken zurückgeworfen. Eine Stirn knallte gegen ihre und ihre Knie berührten die von jemand anderem. Verstrickt in Arme und Beine, spuckte Clary ein paar wildfremde Haare aus und versuchte, sich von dem Gewicht zu befreien, das sie flach auf den Boden drückte.

»Autsch!«, sagte Jace dicht an ihrem Ohr und mit indignierter Stimme. »Du hast mir den Ellbogen in die Seite gerammt.«

»Du bist ja auch auf mir gelandet.«

Er drückte sich mit den Armen hoch und schaute gelassen auf sie hinab. Clary konnte den blauen Himmel über seinem Kopf sehen, ein Stück von einem Ast und ein Hausdach mit grauen Schindeln. »Du hast mir kaum eine Wahl gelassen, oder? Nicht, nachdem du beschlossen hattest, fröhlich durch das Portal zu hüpfen, als würdest du in die nächste U-Bahn springen. Du kannst von Glück reden, dass es uns nicht in den East River verschlagen hat.«

»Du hättest mir ja nicht zu folgen brauchen.«

»Doch, das musste ich«, entgegnete er. »Du bist viel zu unerfahren, um dich alleine in so einer gefährlichen Situation zu behaupten.«

»Das ist süß. Vielleicht verzeihe ich dir.«

»Mir verzeihen? Was verzeihen?«

»Dass du gesagt hast, ich solle still sein.«

Er kniff die Augen zusammen. »Das hab ich doch gar nicht … Okay, ich hab’s gesagt, aber du warst …«

»Vergiss es.« Der Arm, auf dem sie lag, schlief langsam ein. Als sie sich auf die Seite rollte, um ihn zu befreien, sah sie das braune Gras eines von der Sonne verbrannten Rasens, einen Maschendrahtzaun und ein größeres Stück des Schindelhauses, das ihr plötzlich erschreckend vertraut vorkam. Sie erstarrte. »Ich weiß, wo wir sind.«

Jace hörte auf, herumzustottern. »Was?«

»Das ist Lukes Haus.« Sie setzte sich auf und schubste Jace zur Seite. Er rollte elegant auf die Füße und streckte eine Hand aus, um ihr aufzuhelfen. Aber sie ignorierte ihn, rappelte sich allein auf und schüttelte ihren tauben Arm.

Sie standen vor einem kleinen grauen Reihenhaus inmitten anderer Reihenhäuser, die das Ufer in Williamsburg säumten. Vom East River wehte eine Brise heran und brachte das kleine Schild zum Schwingen, das über der Backsteintreppe vor dem Haus angebracht war. Clary beobachtete Jace, als er die in Blockbuchstaben geschriebenen Worte vorlas. »Garroway Books. Erstklassige gebrauchte, neue und vergriffene Bücher. Samstags geschlossen.« Er schaute zu der dunklen Haustür, um deren Knauf ein schweres Vorhängeschloss gewickelt war. Die Post von ein paar Tagen lag auf der Fußmatte. Jace sah Clary an. »Luke wohnt in einer Buchhandlung?«

»Er wohnt hinter dem Laden.« Clary schaute die leere Straße auf und ab, die an einem Ende von der bogenförmigen Williamsburg Bridge und am anderen von einer verlassenen Zuckerfabrik begrenzt wurde. Am gegenüberliegenden Ufer des langsam dahinfließenden Stroms ging die Sonne hinter den Wolkenkratzern von Manhattan unter und ließ ihre Umrisse golden hervortreten. »Jace, wie sind wir hierhergekommen?«

»Durch das Portal«, erwiderte er und untersuchte das Vorhängeschloss. »Es bringt dich immer an den Ort, an den du gerade denkst.«

»Aber ich habe nicht an dieses Haus hier gedacht«, warf Clary ein. »Ich habe an gar keinen bestimmten Ort gedacht.«

»Das musst du aber.« Er ließ das Thema fallen, da es ihn scheinbar nicht interessierte. »Aber wo wir schon mal hier sind …«

»Ja?«

»Was hast du jetzt vor?«

»Wieder gehen, denke ich«, sagte Clary verbittert. »Luke sagte mir, ich solle nicht herkommen.«

Jace schüttelte den Kopf. »Und das nimmst du einfach so hin?«

Clary schlang die Arme um ihren Körper. Obwohl der Abend noch sehr warm war, fröstelte sie plötzlich. »Habe ich denn eine Wahl?«

»Wir haben immer eine Wahl«, sagte Jace. »An deiner Stelle wäre ich ganz schön neugierig, was Luke betrifft. Hast du einen Schlüssel für das Haus?«

Clary schüttelte den Kopf. »Nein, aber manchmal schließt er die Hintertür nicht ab.« Sie zeigte auf die schmale Gasse zwischen Lukes Reihenhaus und dem nächsten. Plastikmülleimer standen in einer ordentlichen Reihe neben Stapeln gefalteter Zeitungen und einer Wanne mit leeren Getränkeflaschen. Zumindest trennte Luke immer noch verantwortungsbewusst den Müll.

»Bist du sicher, dass er nicht zu Hause ist?«, fragte Jace.

Sie schaute auf den leeren Gehweg. »Sein Wagen ist jedenfalls nicht da, der Laden ist geschlossen und es brennt kein Licht. Ich würde sagen, er ist mit großer Wahrscheinlichkeit nicht im Haus.«

»Dann geh vor.«

Die schmale Gasse zwischen den Reihenhäusern endete an einem hohen Maschendrahtzaun. Er umschloss Lukes kleinen Garten hinter dem Haus, in dem außer dem Unkraut, das durch die Bodenplatten gewachsen war und sie in krümelige Scherben verwandelt hatte, nicht viel zu gedeihen schien.

»Drauf und drüber«, sagte Jace und rammte die Spitze seines Stiefels in ein Zaunloch. Der Maschendraht rasselte so laut, dass Clary sich nervös umschaute, aber in den Häusern der Nachbarn brannte kein Licht. Jace schwang sich über die Zaunkrone und sprang auf der anderen Seite wieder hinunter, wo er, gefolgt von einem lauten Jaulen, in den Büschen landete.

Einen Moment lang dachte Clary, er sei auf eine streunende Katze gesprungen. Sie hörte, wie Jace überrascht aufschrie, als er zurückfiel. Ein dunkler Schatten – viel zu groß für eine Katze – schoss aus dem Gebüsch und sauste gebückt über den Hof. Jace sprang auf die Füße und rannte ihm entschlossen hinterher.

Clary begann zu klettern. Als sie ein Bein über den Zaun schwang, verfing sich Isabelles Jeans in einem Stück Draht und riss an der Seite auf. Sie sprang auf den Boden und rutschte mit den Schuhen über die weiche Erde, als Jace triumphierend ausrief: »Ich hab ihn!« Clary drehte sich um und sah Jace rittlings auf dem Eindringling sitzen, der mit über den Kopf gestreckten Armen auf dem Boden lag. Jace hielt ihn an den Handgelenken fest. »Na los, wir wollen dein Gesicht sehen …«

»Geh von mir runter, du dämliches Arschloch«, knurrte der Eindringling, stemmte sich gegen Jace und kämpfte sich in eine halbsitzende Position, die ramponierte Brille schief auf der Nase.

Clary blieb verblüfft stehen. »Simon?«

»Oh Gott«, murmelte Jace resigniert. »Und ich hatte gehofft, hier auf etwas wirklich Interessantes zu stoßen.«

»Aber warum hast du dich in Lukes Büschen versteckt?«, fragte Clary und pflückte Blätter aus Simons Haaren. Er ertrug es mit unverhohlenem Widerwillen. Als sie sich in ihrer Fantasie das Wiedersehen mit Simon ausgemalt hatte – zu einem Zeitpunkt, an dem all das hinter ihnen gelegen hätte –, war er irgendwie besserer Laune gewesen. »Das versteh ich einfach nicht.«

»Okay, das reicht. Ich kann meine Haare selbst in Ordnung bringen, Fray«, sagte Simon und wich ihrer Berührung ruckartig aus. Sie saßen hinter dem Haus auf den Stufen von Lukes Veranda. Jace hatte sich auf das Geländer geschwungen und war eifrig bemüht, so zu tun, als ignoriere er die beiden, während er sich mit seiner Stele die Fingernägel feilte. Clary fragte sich, ob dieses Verhalten wohl die Zustimmung des Rats finden würde.

»Ich meine, weiß Luke, dass du hier bist?«, fragte sie.

»Natürlich nicht«, erwiderte Simon gereizt. »Ich habe ihn zwar nicht danach gefragt, aber ich bin mir sicher, dass er es nur bedingt begrüßen würde, wenn irgendwelche Teenager in seinen Büschen rumlungerten.«

»Du bist nicht irgendwer; er kennt dich.« Sie wollte die Hand ausstrecken und seine Wange berühren, die an der Stelle, wo ein Zweig sie gestreift hatte, noch immer leicht blutete. »Aber die Hauptsache ist, dass dir nichts fehlt.«

»Dass mir nichts fehlt?« Simon lachte und es klang nicht erfreut. »Clary, hast du überhaupt eine Ahnung, was ich in den letzten Tagen durchgemacht habe? Das letzte Mal, als ich dich sah, bist du wie von der Tarantel gestochen aus dem Java Jones gerannt, und dann bist du einfach … verschwunden. Du bist die ganze Zeit nicht an dein Handy gegangen … dann war dein Telefon zu Hause abgestellt … und dann erzählt mir Luke, du seist bei Verwandten im Norden. Aber ich weiß schließlich, dass du keine Verwandten hast. Ich dachte, ich hätte dich durch irgendwas verärgert.«

»Was hätte das denn sein sollen?« Clary wollte seine Hand nehmen, aber er zog sie weg, ohne sie anzusehen.

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Irgendwas.«

Jace, der noch immer mit seiner Stele beschäftigt war, lachte leise in sich hinein.

»Du bist mein bester Freund. Ich war nicht sauer auf dich.«

»Na prima, aber du hast es auch nicht für nötig gehalten, mich anzurufen und mir zu sagen, dass du jetzt mit einem blond gefärbten Möchtegern-Grufti rumhängst, den du wahrscheinlich im Pandemonium kennengelernt hast«, entgegnete Simon wütend. »Und das, nachdem ich mich die letzten drei Tage gefragt habe, ob du überhaupt noch am Leben bist.«

»Ich hänge mit niemand rum«, protestierte Clary und war froh über die Dunkelheit, da sie rot anlief.

»Und ich bin naturblond«, sagte Jace, »nur um das mal festzuhalten.«

»Was hast du denn dann die letzten drei Tage gemacht?« Simon musterte Clary argwöhnisch. »Hast du wirklich eine Großtante Matilda mit Vogelgrippe, die du gesund pflegen musst?«

»Das hat Luke dir erzählt?«

»Nein. Er sagte nur, dass du eine kranke Verwandte besuchst und dein Telefon auf dem Land wahrscheinlich keinen Empfang hat. Nicht dass ich ihm geglaubt hätte. Nachdem er mich von seiner Vordertür verscheucht hatte, bin ich um das Haus herumgegangen und hab hinten durchs Fenster geschaut. Dabei konnte ich beobachten, wie er eine grüne Reisetasche packte, als würde er übers Wochenende verreisen. In dem Moment beschloss ich, in der Nähe zu bleiben und zu sehen, was passiert.«

»Warum? Weil er eine Tasche gepackt hat?«

»Er hat sie mit Waffen vollgestopft«, sagte Simon und rieb sich mit dem Ärmel seines T-Shirts das Blut von der Wange. »Messer, ein paar Dolche, sogar ein Schwert. Das Merkwürdige ist, einige der Waffen sahen aus, als würden sie leuchten.« Er schaute von Clary zu Jace und wieder zurück. Sein Ton war so scharf wie die Klinge von Lukes Messern. »Willst du mir jetzt sagen, dass ich mir das nur eingebildet habe?«

»Nein«, murmelte Clary, »das hab ich nicht vor.« Sie warf Jace einen Blick zu. Das letzte Licht des Sonnenuntergangs ließ seine Augen golden funkeln. »Ich werde ihm die Wahrheit sagen.«

»Ich weiß.«

»Wirst du versuchen, mich davon abzuhalten?«

Er schaute auf die Stele in seiner Hand. »Ich bin durch den Eid gebunden, den ich dem Bündnis geleistet habe«, sagte er. »Aber das gilt nicht für dich.«

Sie wandte sich wieder an Simon und holte tief Luft. »Also gut. Ich werde dir sagen, was du wissen musst.«


Als Clary geendet hatte, war die Sonne vollständig hinter dem Horizont verschwunden und die Veranda lag im Dunkeln. Simon hatte ihren ausführlichen Erklärungen mit einem fast teilnahmslosen Gesichtsausdruck zugehört und war nur leicht zusammengezuckt, als sie von dem Ravener erzählt hatte. Sie räusperte sich; ihr Mund war so trocken, dass sie für ein Glas Wasser gestorben wäre. »Und? Noch irgendwelche Fragen?«, sagte sie.

Simon hob eine Hand. »Oh ja, ich habe so einige Fragen.« Clary seufzte resigniert. »Okay. Schieß los.«

Ihr Freund zeigte auf Jace. »Also er ist ein … wie nennst du Leute wie ihn noch gleich?«

»Er ist ein Schattenjäger«, antwortete Clary.

»Ein Damönenjäger«, präzisierte Jace. »Ich töte Dämonen.

Eigentlich ist es gar nicht so kompliziert.«

Simon schaute wieder zu Clary. »Im Ernst?« Seine Augen waren zusammengekniffen, als erwarte er, sie würde ihm gleich sagen, dass nichts von alldem stimme und Jace in Wahrheit ein gefährlicher entlaufener Irrer sei, dem sie aus humanitären Gründen helfen wollte.

»Im Ernst.«

Simon musterte Clary mit einem forschenden Blick. »Und es gibt auch Vampire? Werwölfe, Hexenmeister und all das Zeug?«

Clary kaute auf ihrer Unterlippe. »Soweit ich weiß, ja.« »Und du tötest sie?«, wandte Simon sich an Jace, der die Stele wieder in die Tasche gesteckt hatte und nun seine makellosen Fingernägel betrachtete.

»Nur, wenn sie ungezogen sind.«

Einen Moment saß Simon einfach nur da und starrte auf seine Füße. Clary fragte sich, ob es richtig gewesen war, ihn mit diesen Informationen zu belasten. Er war nüchterner als fast jeder andere, den sie kannte; vielleicht würde es ihm nicht gefallen, etwas zu wissen, für das es keine logische Erklärung gab. Als Simon den Kopf hob, beugte sie sich besorgt nach vorne. »Das ist so cool«, sagte er.

Jace schaute genauso verwirrt wie Clary. »Cool?«

Simon nickte begeistert und seine dunklen Locken hüpften auf und ab. »Total. Es ist wie in ›Dungeons and Dragons‹, nur echt

Jace musterte Simon, als sei er irgendeine bizarre Insektenart. »Es ist wie in was

»Das ist ein Spiel«, erklärte Clary. Es war ihr ein bisschen peinlich. »Die Leute tun so, als seien sie Zauberer und Elfen, und sie töten Monster und so.«

Jace starrte sie völlig verblüfft an.

Simon grinste. »Du hast noch nie von ›Dungeons and Dragons‹ gehört?«

»Ich hab schon mal von Donjons gehört, dem befestigten Teil einer Burganlage«, sagte Jace. »Und auch von Drachen. Aber die meisten sind ausgestorben.«

Simon schaute enttäuscht. »Du hast noch nie einen Drachen getötet?«

»Und er ist wahrscheinlich auch noch nie einer ein Meter achtzig großen, heißen Koboldfrau im Fellbikini begegnet«, sagte Clary gereizt. »Lass gut sein, Simon.«

»Echte Kobolde sind ungefähr zwanzig Zentimeter groß«, bemerkte Jace. »Und sie beißen.«

»Aber Vampire sind heiß, oder?«, hakte Simon nach. »Ich meine, einige von ihnen sehen echt scharf aus.«

Clary befürchtete einen Moment, Jace könne auf Simon losgehen und ihn bis zur Bewusstlosigkeit würgen. Stattdessen dachte er jedoch über die Frage nach. »Manche schon.«

»Cool!«, stieß Simon hervor.

Clary kam zu dem Schluss, dass es ihr besser gefiel, wenn die beiden sich stritten.

Jace rutschte vom Geländer der Veranda herunter. »Also durchsuchen wir jetzt das Haus, oder nicht?«

Simon stand auf. »Ich bin dabei. Wonach suchen wir?«

»Wir?«, fragte Jace mit drohendem Unterton. »Ich kann mich nicht erinnern, dich eingeladen zu haben.«

»Jace«, sagte Clary wütend.

Verächtlich zog er den linken Mundwinkel hoch. »Sollte ein Scherz sein.« Er trat zur Seite, um ihr den Weg zur Tür frei zu machen. »Wollen wir?«

Clary tastete in der Dunkelheit nach dem Türknauf. Als sie die Tür öffnete, ging das Licht auf der Veranda an und beleuchtete den dahinterliegenden Flur. Die Tür, die an seinem anderen Ende in den Buchladen führte, war fest verschlossen; Clary rüttelte an ihrem Knauf. »Sie ist abgeschlossen.«

»Darf ich mal, Irdische?«, sagte Jace und schob sie sanft beiseite. Er nahm seine Stele aus der Tasche und steckte sie in die Tür. Simon schaute mürrisch zu. Nicht für alle Vampirluder der Welt würde er Jace je mögen, dachte Clary.

»Er ist ein echt schräger Typ«, murmelte Simon. »Wie hältst du es bloß mit ihm aus?«

»Er hat mir das Leben gerettet.«

Simon schaute sie an. »Wie …«

Die Tür schwang mit einem Klicken auf. »Bitte sehr«, sagte Jace und ließ die Stele wieder in seine Tasche gleiten.

Clary sah, wie das Mal auf der Tür – direkt oberhalb von Jace’ Kopf – verblasste, als sie hindurchgingen. Die Hintertür führte in einen kleinen Lagerraum, von dessen nackten Wänden die Farbe blätterte. Überall waren Pappkartons gestapelt, auf denen mit Filzstift stand, was sie enthielten: »Romane«, »Gedichte«, »Kochbücher«, »Heimatkunde«, »Liebesromane«.

»Die Wohnung ist da drüben.« Clary ging auf die Tür am anderen Ende des Raums zu, aber Jace packte sie am Arm. »Warte.«

Sie schaute ihn nervös an. »Stimmt was nicht?«

»Ich weiß nicht.« Er zwängte sich zwischen zwei Stapel Pappkartons hindurch und pfiff. »Clary, komm mal her und sieh dir das an.«

Sie schaute sich um. Es war schummrig in dem Lagerraum; nur das Licht der Verandalampe fiel durch das Fenster. »Es ist so dunkel …«

Plötzlich flackerte Licht auf und tauchte den Raum in einen blendenden Schein. Simon wandte den Kopf ab. »Autsch.«

Jace lachte in sich hinein. Er stand mit erhobener Hand auf einem zugeklebten Karton. Etwas leuchtete in seiner Hand und das Licht strahlte durch seine angewinkelten Finger. »Elbenlicht«, sagte er.

Simon murmelte etwas in sich hinein, während Clary bereits über die Kartons kletterte und sich einen Weg zu Jace bahnte. Er stand hinter einem wackligen Stapel von Krimis; das Elbenlicht warf einen unheimlichen Schein auf sein Gesicht. »Sieh dir das mal an«, sagte er und zeigte auf eine Stelle hoch oben an der Wand. Zuerst dachte sie, er deute auf etwas, das aussah wie ein verzierter Wandleuchter. Aber als sie genauer hinschaute, erkannte sie, dass es sich um Metallschlaufen handelte, die an kurzen, in der Wand verankerten Ketten befestigt waren. »Sind das …«

»Handfesseln«, sagte Simon, der ihr gefolgt war. »Das ist, äh …«

»Sag jetzt nicht ›pervers‹.« Clary warf ihm einen warnenden Blick zu. »Wir sprechen hier über Luke.«

Jace fuhr mit der Hand über die Innenseite einer der Metallschlaufen. Als er seine Finger betrachtete, schimmerten sie rotbraun. »Getrocknetes Blut. Und hier, sieh mal.« Er zeigte auf die Stelle an der Wand, wo die Ketten verankert waren; der Putz schien sich nach außen zu wölben. »Jemand hat versucht, diese Dinger aus der Wand zu reißen. Mit ziemlich großer Kraft, wie es aussieht.«

Clarys Herz schlug schneller. »Glaubst du, mit Luke ist alles in Ordnung?«

Jace senkte das Elbenlicht. »Ich denke, das sollten wir besser herausfinden.«

Die Tür zur Wohnung war nicht verschlossen. Sie führte in Lukes Wohnzimmer. Trotz der unzähligen Bücher im Ladenund Lagerbereich befanden sich hier noch Hunderte weitere Bände. In den Bücherregalen, die bis zur Decke reichten, standen die Bücher in Zweierreihen hintereinander. Das Meiste waren Gedichtbände und Romane, dazwischen etliche Fantasybände und Krimis. Clary erinnerte sich, wie sie hier tagelang auf dem Polster der breiten Fensterbank gesessen und sich durch die gesammelten Chroniken von Prydain gelesen hatte, bis die Sonne über dem East River untergegangen war.

»Ich glaube, er ist nur kurz weg«, rief Simon, der in der Tür zu Lukes kleiner Küche stand. »Die Kaffeemaschine ist eingeschaltet und der Kaffee in der Kanne fühlt sich noch heiß an.«

Clary schaute in die Küche. In der Spüle stapelte sich schmutziges Geschirr. Lukes Jacken hingen ordentlich an ihren Haken im Wandschrank. Sie ging den Flur entlang und öffnete die Tür zu dem kleinen Schlafzimmer. Alles sah so aus wie immer; das Bett mit der grauen Tagesdecke und den flachen Kissen war nicht gemacht und auf der Kommode lag Kleingeld. Sie wandte sich ab. Als sie das Haus betreten hatten, war sie sich tief in ihrem Inneren sicher gewesen, dass sie die Wohnung vollkommen verwüstet vorfinden würden und Luke gefesselt, verletzt oder noch schlimmer zugerichtet sein würde. Doch jetzt wusste sie nicht mehr, was sie denken sollte.

Benommen ging sie über den Flur in das kleine Gästezimmer, in dem sie so oft geschlafen hatte, wenn ihre Mutter beruflich unterwegs gewesen war. Sie und Luke waren lange aufgeblieben und hatten alte Horrorfilme in dem flimmernden Schwarz-Weiß-Fernseher geschaut. Sie hatte sogar einen Rucksack mit Kleidung hier, damit sie ihre Sachen nicht immer hin und her tragen musste.

Sie kniete sich auf den Boden und zog ihn an seinem olivgrünen Träger unter dem Bett hervor. Er war mit Buttons übersät, die Simon ihr geschenkt hatte: »Gamers do it better«, »Otaku Wench«,

»Still not King«. In dem Rucksack befanden sich zusammengefaltete Kleidungsstücke, ein paar Ersatzslips, eine Haarbürste und sogar Shampoo. Gott sei Dank, dachte sie und warf die Tür hinter sich zu. Rasch zog sie Isabelles zu große, inzwischen mit Grasflecken bedeckte und verschwitzte Sachen aus, schlüpfte in ihre eigene sandgestrahlte Cordhose, die so weich war wie abgegriffenes Papier, und streifte sich ein blaues Trägertop über, auf dem vorne chinesische Schriftzeichen zu sehen waren. Dann stopfte sie Isabelles Sachen in ihren Rucksack, zog die Kordel zu und verließ das Gästezimmer, wobei der Rucksack an seiner vertrauten Stelle zwischen ihren Schulterblättern baumelte. Es war schön, wieder eigene Kleidung zu tragen.

Sie fand Jace in Lukes mit Büchern vollgestopftem Büro, wo er eine grüne Reisetasche untersuchte, die geöffnet auf dem Schreibtisch lag. Wie Simon gesagt hatte, war sie bis zum Rand mit Waffen gefüllt – Messer in Scheiden, eine zusammengerollte Peitsche und etwas, das aussah wie ein Metallring mit rasiermesserscharfer Kante.

»Das ist ein Chakram«, sagte Jace und schaute auf, als Clary ins Zimmer kam. »Eine Waffe der Sikhs. Man wirbelt sie um den Zeigefinger, ehe man sie loslässt. Chakrams sind selten und schwer zu benutzen. Seltsam, dass Luke eins hat. Hodge hat damals damit gekämpft – das Chakram war die Waffe seines Vertrauens. Das hat er mir jedenfalls erzählt.«

»Luke sammelt alle möglichen Sachen, Kunstobjekte und so«, meinte Clary und zeigte auf das Regal hinter dem Schreibtisch, in dem indische Bronzestatuen und russische Ikonen standen. Ihr Lieblingsstück war eine kleine Statue von Kali, der indischen Göttin der Zerstörung, die ein Schwert und ein abgetrenntes Haupt schwang, während sie mit zurückgeworfenem Kopf und geschlossenen Augen tanzte. Neben dem Schreibtisch stand ein antiker geschnitzter chinesischer Wandschirm aus glänzendem Rosenholz. »Schöne Dinge.«

Jace legte das Chakram vorsichtig beiseite. Eine Handvoll Kleidungsstücke hing aus Lukes Reisetasche heraus, als seien sie nachträglich hineingeworfen worden. »Ich glaube, das gehört dir.« Er zog etwas Rechteckiges hervor, das zwischen den Sachen versteckt war: eine Fotografie in einem Holzrahmen mit einem langen, senkrechten Riss im Glas. Der Riss zog ein Netz aus dünnen Linien über die lächelnden Gesichter von Luke, Clary und ihrer Mutter.

»Das gehört tatsächlich mir«, sagte Clary und nahm es ihm aus der Hand.

»Das Glas ist zerbrochen«, bemerkte Jace.

»Ich weiß. Das war ich – ich habe es kaputt gemacht, als ich damit nach dem Ravener geworfen habe.« Sie schaute ihm ins Gesicht und sah, dass ihm etwas dämmerte. »Das bedeutet, dass Luke nach dem Angriff noch einmal in der Wohnung gewesen sein muss. Vielleicht sogar heute …«

»Er muss der Letzte gewesen sein, der das Portal benutzt hat«, sagte Jace. »Deshalb hat es uns hierher teleportiert. Du hast an gar nichts gedacht, also wurden wir an den zuletzt aufgerufenen Ort gebracht.«

»Nett von Madame Dorothea, uns zu erzählen, dass Luke bei ihr war«, sagte Clary sarkastisch.

»Wahrscheinlich hat er sie dafür bezahlt, nichts zu sagen. Entweder das oder sie vertraut ihm mehr als uns. Was bedeutet, dass er vielleicht nicht …«

»Achtung!« Simon kam panisch ins Büro gerannt. »Wir kriegen Besuch.«

Clary ließ das Foto sinken. »Luke?«

Simon schaute über die Schulter in den Flur und nickte. »Ja. Aber er ist nicht allein – zwei Männer sind bei ihm.«

»Männer?« Jace durchmaß mit wenigen großen Schritten den Raum, blickte durch die Tür und fluchte leise. »Hexenmeister.«

Clary starrte ihn entsetzt an. »Hexenmeister? Aber …«

Jace legte einen Finger gegen die Lippen und zog sich von der Tür zurück. »Sch. Gibt es hier noch einen anderen Ausgang?«, fragte er leise.

Clary schüttelte den Kopf. Als vom Eingang her Schritte zu hören waren, wurde sie von einer Welle der Angst gepackt.

Jace schaute sich hektisch um, bis seine Augen an dem Wandschirm aus Rosenholz hängen blieben. »Versteckt euch dahinter«, flüsterte er. »Na los.«

Clary warf die zerbrochene Fotografie auf den Schreibtisch, sprintete hinter den Wandschirm und zog Simon mit sich. Jace war dicht hinter ihnen, die Stele in der Hand. Er hatte sich kaum versteckt, als auch schon die Tür aufflog, Leute in Lukes Büro kamen und die Stimmen von drei Männern zu hören waren. Clary schaute nervös zu Simon, der sehr blass war, und dann zu Jace, der die Stele in der Hand hielt und mit der Spitze ein Quadrat auf die Rückseite des Wandschirms zeichnete. Clary starrte verblüfft, als das Quadrat durchsichtig wurde wie eine Glasscheibe. Sie hörte, dass Simon scharf die Luft einzog – ein kaum wahrnehmbares Geräusch. Jace schaute sie beide an, schüttelte den Kopf und formte unhörbar mit den Lippen: Sie können uns nicht sehen, aber wir sie.

Clary biss sich auf die Lippe, beugte sich zu dem Quadrat vor und schaute hindurch, wobei sie Simons Atem im Nacken spürte. Sie konnte das Zimmer genau erkennen: die Bücherregale, den Schreibtisch mit der Reisetasche darauf und Luke, der mitgenommen aussah und leicht gebückt bei der Tür stand, die Brille auf die Stirn geschoben. Es war beängstigend, auch wenn sie wusste, dass er sie nicht sehen konnte – das Fenster, das Jace geschaffen hatte, war wie eine dieser Glasscheiben in einem Polizeiverhörzimmer, durch die man nur von einer Seite hindurchsehen konnte.

Luke drehte sich um und schaute zur Tür. »Ja, seht euch nur in Ruhe um«, sagte er mit deutlichem Sarkasmus in der Stimme. »Wirklich nett von euch, dass ihr euch so für mich interessiert.«

Ein leises Lachen ertönte aus der Ecke des Büros. Mit einer raschen Drehung des Handgelenks berührte Jace den Rahmen seines »Fensters«, das sich daraufhin weiter öffnete und einen größeren Ausschnitt des Zimmers zeigte. Zwei Männer standen bei Luke, beide in lange rote Roben gekleidet, die Kapuzen zurückgeschoben. Der eine war dünn und trug einen eleganten grauen Schnurrbart und ein spitzes Bärtchen. Wenn er lächelte, zeigte er blendend weiße Zähne. Der andere war kräftig und untersetzt wie ein Ringer und hatte kurz geschorene rote Haare. Seine Haut war dunkelviolett und glänzte über den Wangenknochen, als sei sie zu straff gespannt.

»Das sind Hexenmeister?«, fragte Clary ganz leise.

Jace antwortete nicht. Er stand stocksteif da, wie eine Eisenstange. Wahrscheinlich fürchtet er, ich könnte losrennen und versuchen, zu Luke zu gelangen, dachte Clary. Sie wünschte, sie hätte ihm versichern können, dass sie das nicht vorhatte. Etwas an diesen Männern, in ihren dicken Gewändern von der Farbe hellroten Bluts, jagte ihr Angstschauer über den Rücken.

»Betrachte es als einen freundschaftlichen Kontrollbesuch, Graymark«, sagte der Mann mit dem grauen Schnurrbart. Sein Lächeln legte Zähne bloß, die so spitz waren, als seien sie gefeilt worden.

»Uns verbindet keine Freundschaft, Pangborn.« Luke setzte sich so auf die Schreibtischkante, dass er dem Mann die Sicht auf die Reisetasche und deren Inhalt versperrte. Jetzt, da er näher gekommen war, konnte Clary sehen, dass sein Gesicht und seine Hände schwer verletzt waren, seine Finger aufgekratzt und blutig. Ein langer Schnitt am Hals erstreckte sich bis unter seinen Kragen. Was um alles in der Welt war mit ihm passiert?, fragte sie sich.

»Blackwell, fass das nicht an – es ist wertvoll«, sagte Luke streng.

Der korpulente rothaarige Mann, der die Kali-Statue vom Regal genommen hatte, fuhr nachdenklich mit seinen Wurstfingern darüber. »Hübsch«, knurrte er.

»Ah«, sagte Pangborn und nahm seinem Gefährten die Statue aus der Hand. »Sie, die geschaffen wurde, einen Dämonen zu bekämpfen, den kein anderer Gott und kein Mensch töten konnte. ›Oh Kali, meine Mutter voller Glückseligkeit, die du den Schiwa bezaubert hast. In deiner rasenden Freude tanzest du und klatschst in die Hände. Du bist die Triebkraft all dessen, das sich bewegt, und wir sind nur deine wehrlosen Spielzeuge.‹«

»Sehr schön«, sagte Luke. »Ich wusste nicht, dass du die indischen Mythen studierst.«

»Alle Mythen sind wahr«, sagte Pangborn und Clary lief ein kalter Schauer über den Rücken. »Oder hast du selbst das vergessen?«

»Ich habe nichts vergessen«, erwiderte Luke. Er sah zwar gelassen aus, aber an seinen Schultern und an den Linien um seinen Mund konnte Clary die Anspannung erkennen. »Ich nehme an, Valentin hat euch geschickt?«

»Ja«, sagte Pangborn. »Er dachte, du hättest vielleicht deine Meinung geändert.«

»Ich wüsste nicht, warum ich meine Meinung ändern sollte. Außerdem habe ich euch bereits gesagt, dass ich nichts weiß. Hübsche Roben übrigens.«

»Danke«, sagte Blackwell mit einem verschlagenen Grinsen. »Wir haben sie zwei toten Hexenmeistern abgeknöpft.«

»Es sind die offiziellen Roben des Abkommens, nicht wahr?«, fragte Luke. »Stammen sie vom Aufstand?«

Pangborn lachte leise in sich hinein. »Kriegsbeute.«

»Habt ihr keine Angst, jemand könnte euch für echt halten?«

»Nur, bis sie nah genug an uns herankommen«, erwiderte Blackwell.

Pangborn streichelte über den Ärmel seiner Robe. »Erinnerst du dich an den Aufstand, Lucian?«, fragte er leise. »Das war ein großer und ein schrecklicher Tag. Erinnerst du dich, wie wir zusammen für die Schlacht trainiert haben?«

Luke verzog das Gesicht. »Das ist Vergangenheit. Ich weiß nicht, was ich euch sagen soll, Gentlemen. Ich kann euch nicht helfen. Ich weiß nichts.«

›»Nichts‹ ist so ein allgemeines Wort, so ungenau«, sagte Pangborn mit melancholischer Stimme. »Jemand, der so viele Bücher besitzt, muss doch etwas wissen.«

»Wenn ihr wissen wollt, wo man eine Kurzzehenschwalbe im Frühling findet, kann ich euch das entsprechende Nachschlagewerk nennen. Aber wenn ihr wissen wollt, wohin der Kelch der Engel verschwunden ist …«

»Verschwunden ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort«, schnurrte Pangborn. »Ich würde eher ›versteckt‹ sagen. Versteckt von Jocelyn.«

»Das kann sein«, räumte Luke ein. »Sie hat euch also noch nicht gesagt, wo er ist?«

»Sie hat noch nicht das Bewusstsein wiedererlangt«, entgegnete Pangborn und zerschnitt mit einer langfingrigen Hand die Luft. »Valentin ist enttäuscht. Er hatte sich so sehr auf ihre Wiedervereinigung gefreut.«

»Ich bin sicher, dass sie dieses Gefühl nicht teilt«, murmelte Luke.

Pangborn gackerte. »Eifersüchtig, Graymark? Oder empfindest du nicht mehr dasselbe für sie wie früher?«

Clarys Finger hatten so stark zu zittern begonnen, dass sie ihre Hände fest miteinander verschränkte, um das Beben zu unterdrücken. Jocelyn? Konnte es sein, dass sie von ihrer Mutter sprachen?

»Ich habe nie etwas Besonderes für sie empfunden«, sagte Luke. »Zwei Schattenjäger, von ihrer eigenen Art verbannt – es ist klar, warum wir uns zusammengetan haben. Aber ich werde mich nicht in das einmischen, was Valentin mit ihr vorhat, falls er sich deswegen Sorgen machen sollte.«

»Ich würde nicht sagen, dass er besorgt ist«, meinte Pangborn. »Eher neugierig. Wir haben uns alle gefragt, ob du noch am Leben bist. Noch immer als Mensch zu erkennen.«

Luke zog die Augenbrauen hoch. »Und?«

»Du siehst ganz passabel aus«, erwiderte Pangborn missmutig. Er stellte die Kali-Statue ins Regal zurück. »Da war doch noch ein Kind, nicht wahr? Ein Mädchen.«

Luke schaute verblüfft. »Was?«

»Stell dich nicht dumm«, knurrte Blackwell. »Wir wissen, dass das Miststück eine Tochter hatte. Wir haben Fotos in der Wohnung gefunden, ein Mädchenzimmer …«

»Ich dachte, du fragst nach meinen Kindern«, unterbrach Luke ihn. »Ja, Jocelyn hat eine Tochter. Clarissa. Ich nehme an, sie ist abgehauen. Hat Valentin euch geschickt, um nach ihr zu suchen?«

»Nicht uns«, antwortete Pangborn. »Aber er sucht nach ihr.«

»Wir könnten deine Wohnung durchsuchen«, meinte Blackwell.

»Das würde ich euch nicht empfehlen«, erwiderte Luke und rutschte von seinem Schreibtisch herunter. Sein Blick hatte etwas Kaltes und Bedrohliches, als er die beiden Männer musterte, auch wenn sein Gesichtsausdruck sich nicht verändert hatte. »Wieso glaubt ihr überhaupt, dass sie noch lebt? Ich dachte, Valentin hätte mehrere Ravener geschickt, um ihre Wohnung zu durchforsten. Eine ausreichende Menge Ravener-Gift und die meisten Leute zerfallen zu Asche, ohne eine Spur zu hinterlassen.«

»Wir haben Spuren eines toten Ravener gefunden«, sagte Pangborn. »Das hat Valentin misstrauisch gemacht.«

»Valentin macht alles misstrauisch«, meinte Luke. »Vielleicht hat Jocelyn ihn getötet. Sie wäre auf jeden Fall dazu in der Lage gewesen.«

»Vielleicht«, grunzte Blackwell.

Luke zuckte die Achseln. »Hört zu, ich habe keine Ahnung, wo das Mädchen ist, aber wenn ihr mich fragt, ist sie wahrscheinlich tot. Sonst wäre sie inzwischen längst wieder aufgetaucht. Sie stellt ohnehin keine große Gefahr dar. Sie ist fünfzehn Jahre alt, sie hat noch nie von Valentin gehört und sie glaubt nicht an Dämonen.«

Pangborn lachte. »Ein glückliches Kind.«

»Nicht mehr«, sagte Luke.

Blackwell zog die Augenbrauen hoch. »Du klingst wütend, Lucian.«

»Ich bin nicht wütend, ich bin genervt. Ich habe nicht vor, mich in Valentins Pläne einzumischen, kapiert ihr das? Ich bin kein Narr.«

»Wirklich?«, fragte Blackwell. »Wie schön, dass du im Laufe der Jahre einen gesunden Respekt gegenüber deiner eigenen Haut entwickelt hast, Lucian. Du warst nicht immer so pragmatisch.«

»Du weißt doch«, sagte Pangborn im Plauderton, »dass wir Jocelyn gegen den Kelch eintauschen würden? Sie sicher abliefern, direkt vor deiner Tür. Das ist ein Versprechen von Valentin persönlich.«

»Ich weiß«, entgegnete Luke, »aber ich bin nicht interessiert. Ich habe keine Ahnung, wo euer kostbarer Kelch ist, und ich will mit euren Machenschaften nichts zu tun haben. Ich hasse Valentin«, fügte er hinzu, »aber ich respektiere ihn. Ich weiß, dass er jeden vernichten wird, der sich ihm in den Weg stellt. Und ich habe nicht vor, noch da zu sein, wenn es dazu kommt. Er ist ein Monster – eine Tötungsmaschine.«

»Das sagt genau der Richtige«, knurrte Blackwell.

»Ich nehme an, das sind deine Vorbereitungen, um Valentin aus dem Weg zu gehen?«, sagte Pangborn und zeigte mit einem seiner langen Finger auf die halb verdeckte Reisetasche auf dem Schreibtisch. »Du verlässt die Stadt, Lucian?«

Luke nickte langsam. »Ich fahre aufs Land. Ich habe vor, eine Weile unterzutauchen.«

»Wir könnten dich aufhalten, dafür sorgen, dass du bleibst«, sagte Blackwell.

Luke lächelte und das Lächeln veränderte sein Gesicht. Plötzlich war er nicht mehr der nette, gebildete Mann, der Clary auf der Schaukel im Park angeschubst und ihr beigebracht hatte, mit einem Dreirad zu fahren. Plötzlich war etwas Wildes in seinen Augen, etwas Böses und Kaltes. »Ihr könnt es ja versuchen.«

Pangborn schaute zu Blackwell, der langsam den Kopf schüttelte. Dann wandte er sich wieder an Luke. »Du lässt es uns wissen, wenn dein Gedächtnis plötzlich wieder funktioniert, okay?«

Luke lächelte immer noch. »Ihr seid die Ersten auf meiner Liste, die ich anrufen werde.«

Pangborn nickte kurz. »Ich denke, wir verabschieden uns jetzt. Möge der Erzengel dich schützen, Lucian.«

»Der Erzengel schützt solche wie mich nicht«, erwiderte Luke. Er nahm die Reisetasche vom Schreibtisch und verschloss sie. »Wollen wir dann mal, Gentlemen?«

Die beiden Männer zogen sich die Kapuzen über den Kopf, um ihre Gesichter zu verbergen, und verließen den Raum; Luke folgte ihnen einen Augenblick später. Er blieb kurz an der Tür stehen und schaute sich um, als fragte er sich, ob er etwas vergessen hatte. Dann zog er die Tür hinter sich zu.

Clary blieb wie erstarrt hinter dem Wandschirm stehen. Sie hörte, wie die Haustür zugeschlagen wurde und eine Kette rasselte, als Luke das Vorhängeschloss wieder befestigte. Und sie erinnerte sich an den Ausdruck auf seinem Gesicht, als er gemeint hatte, es interessiere ihn nicht, was mit ihrer Mutter passierte.

Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter. »Clary?« Es war Simon, der sie zögerlich, fast sanft ansprach. »Alles in Ordnung?«

Stumm schüttelte sie den Kopf. Sie fühlte sich alles andere als in Ordnung, im Gegenteil, eher so, als würde nie wieder etwas in Ordnung sein.

»Natürlich nicht«, sagte Jace mit einer Stimme, die so scharf und kalt wie zerborstenes Eis klang. Energisch schob er den Wandschirm beiseite. »Zumindest wissen wir jetzt, wer deiner Mutter einen Dämon auf den Hals gehetzt hat. Diese Männer glauben, dass sie den Kelch der Engel hat.«

Clary presste die Lippen zu einer dünnen, geraden Linie zusammen. »Das ist lächerlich und vollkommen unmöglich«, stieß sie hervor.

»Vielleicht«, sagte Jace und lehnte sich an Lukes Schreibtisch. Er fixierte sie mit Augen, die so undurchsichtig waren wie getöntes Glas. »Hast du diese Männer schon einmal gesehen?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Noch nie.«

»Lucian schien sie zu kennen. Er schien mit ihnen befreundet zu sein.«

»Befreundet würde ich nicht gerade sagen«, meinte Simon. »Mir kam es eher so vor, als würden sie ihre Feindseligkeit nur mühsam unterdrücken.«

»Sie haben ihn jedenfalls nicht sofort umgebracht«, entgegnete Jace. »Sie glauben, dass er mehr weiß, als er ihnen sagt.«

»Vielleicht«, räumte Clary ein, »oder vielleicht schrecken sie auch davor zurück, einen anderen Schattenjäger zu töten.«

Jace lachte – ein raues, fast bösartiges Lachen, bei dem Clary eine Gänsehaut bekam. »Das bezweifle ich.«

Sie schaute ihn eindringlich an. »Was macht dich so sicher? Kennst du sie etwa?«

Das Lachen war vollkommen aus seiner Stimme verschwunden, als er antwortete: »Ob ich sie kenne? Das könnte man so sagen. Es sind die Männer, die meinen Vater umgebracht haben.«

9 Der Kreis und die Bruderschaft

Clary machte einen Schritt nach vorne, um Jace’ Arm zu berühren und etwas zu sagen, irgendetwas – aber was sagte man jemandem, der gerade die Mörder seines Vaters wiedererkannt hatte? Allerdings zeigte sich sofort, dass ihr Zögern nicht von Bedeutung war; Jace schüttelte ihre Berührung ab, als verursache sie ihm einen stechenden Schmerz. »Wir sollten gehen«, sagte er und stolzierte vom Büro ins Wohnzimmer. Clary und Simon liefen ihm hinterher. »Luke könnte jeden Augenblick zurückkommen.«

Sie verließen das Haus durch den Hintereingang. Jace benutzte seine Stele, um hinter ihnen abzuschließen; dann machten sie sich auf den Weg zur Straße, die vollkommen still dalag. Der Mond hing wie ein Medaillon über der Stadt und spiegelte sich schillernd im Wasser des East River. Das entfernte Dröhnen der Autos, die über die Williamsburg Bridge fuhren, erfüllte die schwüle Luft mit einem Geräusch wie von schlagenden Flügeln.

»Würde mir vielleicht mal jemand sagen, wo wir hingehen?«, fragte Simon.

»Zur U-Bahn«, erwiderte Jace gelassen.

»Das soll wohl ein Witz sein«, meinte Simon blinzelnd. »Dämonenjäger nehmen die U-Bahn?«

»Es geht schneller als mit dem Auto.«

»Ich dachte, du hättest ein cooleres Transportmittel, etwa einen Lieferwagen mit der Aufschrift ›Tod den Dämonen‹ oder …«

Jace machte sich gar nicht erst die Mühe, ihn zu unterbrechen. Clary musterte Jace von der Seite. Manchmal, wenn Jocelyn wegen etwas wirklich sauer war oder mal wieder eine ihrer Launen hatte, wurde sie »beängstigend ruhig«, wie Clary es nannte. Diese Ruhe ließ Clary an den trügerischen Glanz von Eis denken, kurz bevor es unter den Füßen bricht. Jace war beängstigend ruhig. Sein Gesicht schien ausdruckslos, aber in seinen goldbraunen Augen funkelte etwas.

»Simon«, sagte sie. »Es reicht.«

Simon warf ihr einen Blick zu, als wolle er sagen: Auf wessen Seite stehst du eigentlich? Aber Clary ignorierte ihn. Ihre Augen waren noch immer auf Jace gerichtet, als sie in die Kent Avenue einbogen. Die Lichter der Brücke hinter ihnen fielen auf seine Haare und verliehen ihnen einen unwirklichen Heiligenschein. Sie fragte sich, ob es falsch war, sich darüber zu freuen, dass die Männer, die ihre Mutter verschleppt hatten, dieselben waren, die Jace’ Vater vor all den Jahren getötet hatten. Zumindest für den Augenblick musste Jace ihr helfen, Jocelyn zu finden, ob er wollte oder nicht. Zumindest für den Augenblick konnte er sie nicht allein lassen.

»Hier wohnst du?« Simon schaute an der alten Kathedrale empor, deren Fenster zerbrochen und deren Türen mit gelbem Absperrband versiegelt waren. »Aber das ist doch eine Kirche.«

Jace griff unter sein T-Shirt und holte einen Messingschlüssel an einer Kette hervor, der aussah wie einer dieser Schlüssel, mit denen man eine alte Truhe auf dem Dachboden aufschließen würde. Clary schaute verwundert – Jace hatte die Tür nicht abgeschlossen, sondern lediglich zugezogen, als sie das Institut verlassen hatten. »Für uns ist es praktisch, auf geweihtem Boden zu wohnen.«

»Okay, das versteh ich ja. Aber das hier ist, bei allem Respekt, eine Müllhalde«, erwiderte Simon und schaute zweifelnd auf den verbogenen Eisenzaun, der das alte Gebäude umgab, und auf den Müll, der sich neben der Treppe türmte.

Clary entspannte sich. Sie stellte sich vor, wie sie einen der Terpentinlappen ihrer Mutter nahm und damit das Bild, das sich ihr bot, abtupfte, um den Zauberglanz wegzuwischen wie alte Farbe.

Da war er, der wirkliche Anblick, der durch den falschen Glanz hindurchschimmerte wie Licht durch dunkles Glas. Sie sah die aufragenden Türme der Kathedrale, den matten Schimmer der bleiverglasten Fenster und die Messingplatte an der Steinmauer neben der Tür, in die der Name des Instituts eingraviert war. Sie bewahrte diesen Anblick einen Moment lang, ehe sie ihn fast mit einem Seufzen losließ.

»Das kommt durch den Zauberglanz – eine Art Schleier, Simon«, sagte sie. »Das Gebäude sieht nicht wirklich so aus.« »Wenn das deine Vorstellung von Glanz ist, dann überlege ich es mir lieber noch mal, ob ich mich von dir neu stylen lassen würde.«

Jace steckte den Schlüssel ins Schloss und schaute über die Schulter zu Simon. »Ich glaube, du weißt gar nicht, was für eine Ehre das ist«, sagte er. »Du bist der erste Irdische, der das Institut seit über einhundert Jahren betreten hat.«

»Wahrscheinlich hält der Geruch die anderen davon ab.«

»Ignorier ihn einfach«, wandte Clary sich an Jace und versetzte Simon mit dem Ellbogen einen Stoß in die Rippen.

»Er sagt immer das, was ihm gerade einfällt. Vollkommen ungefiltert.«

»Filter sind für Zigaretten und Kaffee da«, murmelte Simon, als sie das Gebäude betraten. »Zwei Dinge, die ich zufälliger weise gerade sehr gut vertragen könnte.«

Clary dachte ebenfalls sehnsüchtig an Kaffee, während sie die gewundene Steintreppe hinaufstiegen, deren Stufen mit eingemeißelten Zeichen versehen waren. Nach und nach erkannte sie einige davon – sie zogen ihre Augen magisch an, so wie schwach wahrgenommene Worte in einer fremden Sprache manchmal ihre Ohren fesselten, als könne sie ihnen eine Bedeutung entlocken, wenn sie sich nur stark genug auf sie konzentrierte.

Nachdem sie den Aufzug erreicht hatten, fuhren sie schweigend nach oben. Clary dachte noch immer an Kaffee, große Becher, die zur Hälfte mit Kaffee und zur Hälfte mit Milch gefüllt waren, so wie ihre Mutter ihn morgens zubereitete.

Manchmal brachte Luke eine Tüte mit süßen Brötchen aus der Golden Carriage Bakery in Chinatown mit. Bei dem Gedanken an Luke krampfte sich Clarys Magen zusammen und ihr Appetit verschwand.

Der Aufzug kam mit einem Zischen zum Stehen und sie befanden sich wieder in dem Foyer, von dem aus sie aufgebrochen waren. Jace zog seine Jacke aus, warf sie über die Rückenlehne eines Stuhls, der in der Nähe stand, und pfiff durch die Zähne. Nach ein paar Sekunden tauchte Church auf. Er schlich dicht über den Boden und seine gelben Augen funkelten in der staubigen Luft. »Church«, sagte Jace und kniete sich hin, um den blauen Kopf des Katers zu streicheln.

»Wo ist Alec, Church? Wo ist Hodge?«

Church machte einen Buckel und miaute. Jace rümpfte die Nase, was Clary unter anderen Umständen vielleicht süß gefunden hätte. »Sind sie in der Bibliothek?« Er stand auf und Church schüttelte sich, trottete ein Stück den Korridor entlang und schaute dann über die Schulter zurück. Jace ging dem Kater nach, als sei es das Natürlichste der Welt, und bedeutete Clary und Simon mit der Hand, ihm zu folgen.

»Ich mag keine Katzen«, sagte Simon und stieß gegen Clarys Schulter, als sie sich ihren Weg durch den engen Korridor bahnten.

»Wie ich Church kenne«, meinte Jace, »mag er dich höchstwahrscheinlich auch nicht.«

Sie befanden sich in einem der Flure, von denen die Gästezimmer abgingen. Simon zog die Augenbrauen hoch. »Wie viele Leute wohnen hier eigentlich?«

»Es ist ein Institut«, entgegnete Clary. »Ein Ort, an dem Schattenjäger wohnen können, wenn sie in der Stadt sind. Eine Art Kombination aus Zufluchtsort und Forschungseinrichtung.« »Ich dachte, es sei eine Kirche.«

»Es ist in einer Kirche.«

»Klar, das ist ja auch überhaupt nicht verwirrend.« Trotz Simons lässigen Tonfalls konnte sie hören, wie angespannt er war. Statt ihn zum Schweigen zu bringen, griff sie nach seiner Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen, die sich kalt und feucht anfühlten. Er erwiderte die Geste, indem er ihre Hand dankbar drückte.

»Ich weiß, dass es seltsam klingt«, sagte sie leise, »aber du musst dich einfach darauf einlassen. Vertrau mir.«

Simons dunkle Augen schauten ernst. »Dir vertraue ich ja«, sagte er, »aber ich vertraue ihm nicht.« Er blickte zu Jace, der ein paar Meter vor den beiden ging und sich offenbar mit dem Kater unterhielt. Clary fragte sich, worüber sie wohl sprachen.

Über Politik? Die Oper? Die hohen Thunfischpreise? »Versuch es bitte«, sagte sie. »Er ist im Augenblick meine einzige Chance, Mom zu finden.«

Ein kalter Schauer lief Simon über den Rücken. »Dieser Ort ist mir unheimlich«, flüsterte er.

Clary erinnerte sich, wie sie sich gefühlt hatte, als sie an diesem Morgen hier entlanggegangen war – als sei alles gleichzeitig fremd und vertraut. Simon empfand natürlich nichts von dieser Vertrautheit, nur das Seltsame, Fremde und Feindselige. »Du brauchst nicht bei mir zu bleiben«, sagte sie, obwohl sie während der U-Bahn-Fahrt bei Jace durchgesetzt hatte, dass Simon mitkommen konnte. Sie hatte Jace darauf hingewiesen, dass Simon Luke schließlich drei Tage lang beobachtet hatte und vielleicht etwas wusste, das ihnen weiterhelfen könnte.

»Doch«, sagte Simon, »das muss ich.« Er ließ ihre Hand los, als sie durch eine Tür gingen und plötzlich in einer Küche standen. Es war eine riesige Küche und im Gegensatz zum Rest des Instituts sehr modern, mit Anrichten aus Stahl und verglasten Regalen, in denen sich jede Menge Geschirr befand. Vor einem roten, gusseisernen Herd stand Isabelle, in der Hand einen Kochlöffel, das dunkle Haar auf dem Kopf zusammengesteckt. Aus dem Topf stieg Dampf auf und überall lagen Zutaten herum – Tomaten, gehackter Knoblauch und Zwiebeln, dunkelgrüne Kräuterstängel, geriebener Käse, ein Paar geschälte Erdnüsse, eine Handvoll Oliven und ein ganzer Fisch, dessen glasige Augen an die Decke starrten.

»Ich mache Suppe«, sagte Isabelle und winkte mit dem Kochlöffel. »Hast du Hunger?« Sie schaute an Jace vorbei und entdeckte Simon und Clary. »Oh mein Gott«, sagte sie gedehnt und verzog das Gesicht. »Du hast noch einen Irdischen mitgebracht? Hodge wird dich umbringen.« Simon räusperte sich. »Ich bin Simon.«

Isabelle ignorierte ihn. »Jace Wayland! Ich verlange eine Erklärung.«

Zornig musterte Jace den Kater. »Ich habe dir gesagt, du sollst mich zu Alec bringen! Hinterhältiger Judas.«

»Du brauchst nicht Church die Schuld zu geben«, meinte Isabelle. »Er kann nichts dafür, wenn Hodge dich umbringt.«

Sie steckte den Löffel in den Topf und rührte wütend darin herum. Clary fragte sich, wie Erdnuss-Fisch-Oliven-TomatenSuppe wohl schmecken mochte.

»Ich musste ihn mitnehmen«, entgegnete Jace. »Isabelle, ich habe heute zwei der Männer gesehen, die meinen Vater getötet haben.«

Isabelles Schultern strafften sich, aber als sie sich umdrehte, schaute sie eher bestürzt als überrascht. »Ich nehme nicht an, dass er einer von ihnen ist«, sagte sie und zeigte mit dem Kochlöffel auf Simon.

Zu Clarys Überraschung sagte Simon nichts. Er war zu sehr damit beschäftigt, Isabelle verzückt und mit offenem Mund anzustarren. Natürlich, ich hätte es wissen müssen, dachte Clary plötzlich verärgert. Isabelle war genau Simons Typ – groß, glamourös und wunderschön. Aber wenn man darüber nachdachte, war das vielleicht jedermanns Frauentyp. Clary wunderte sich nicht länger über die Erdnuss-Fisch-OlivenTomaten-Suppe, sondern fragte sich, was wohl passieren würde, wenn sie den Inhalt des Topfs Isabelle über den Kopf goss.

»Natürlich nicht«, erwiderte Jace. »Oder glaubst du, er wäre sonst noch am Leben?«

Isabelle warf Simon einen gleichgültigen Blick zu. »Vermutlich nicht«, meinte sie und ließ geistesabwesend ein Stück Fisch auf den Boden fallen. Church stürzte sich sofort gierig darauf. »Kein Wunder, dass er uns hierher geführt hat«, knurrte Jace angewidert. »Ich kann nicht glauben, dass du ihn schon wieder mit Fisch vollstopfst. Er sieht ganz schön pummelig aus.«

»Er sieht überhaupt nicht pummelig aus. Außerdem isst von euch ja nie einer was. Ich hab das Rezept von einem Wassergeist vom Chelsea Market. Er sagte, es sei köstlich …« »Wenn du kochen könntest, dann würde ich vielleicht tatsächlich etwas essen«, brummelte Jace.

Isabelle erstarrte und hob drohend den Kochlöffel. »Was hast du gesagt?«

Jace eilte zum Kühlschrank. »Ich habe gesagt, ich hole mir etwas zu essen.«

»Dann hab ich dich wohl doch richtig verstanden.« Isabelle wandte sich wieder der Suppe zu. Simon starrte Isabelle noch immer an. Von einer plötzlichen, unerklärlichen Wut erfasst, ließ Clary ihren Rucksack auf den Boden fallen und folgte Jace zum Kühlschrank.

»Ich kann nicht glauben, dass du jetzt etwas essen willst«, zischte sie.

»Was sollte ich sonst tun?«, fragte er mit aufreizender Gelassenheit. Der Kühlschrank war mit Milchtüten gefüllt, deren Haltbarkeitsdatum schon seit mehreren Wochen überschritten war. Außerdem sah Clary viele Frischhaltedosen, auf denen mit roter Tinte beschriftetes Krepppapier klebte: Hodge. Nicht essen.

»Wow, der verhält sich ja wie ein durchgeknallter WGBewohner«, bemerkte sie, einen Moment lang abgelenkt. »Wer? Hodge? Er mag es einfach, wenn Ordnung herrscht.«

Jace nahm eine der Dosen heraus und öffnete sie. »Mmmh.

Spaghetti.«

»Verdirb dir nicht den Appetit«, rief Isabelle.

»Genau das«, sagte Jace, trat die Kühlschranktür zu und nahm sich eine Gabel aus der Schublade, »habe ich vor.« Er schaute zu Clary. »Möchtest du auch was?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Natürlich nicht«, sagte er mit vollem Mund. »Du hast ja die ganzen Sandwichs gegessen.«

»So viele waren es nun auch wieder nicht.« Sie sah zu Simon hinüber, dem es offenbar gelungen war, Isabelle in ein Gespräch zu verwickeln. »Können wir jetzt Hodge suchen?« »Du scheinst es ja ziemlich eilig zu haben, von hier fortzukommen.«

»Willst du ihm denn nicht erzählen, was wir gesehen haben?«

»Das weiß ich noch nicht.« Jace stellte die Dose ab und leckte gedankenverloren Spaghettisoße von seinen Fingern.

»Aber wenn du unbedingt gehen willst …«

»Ja.«

»Gut.« Er wirkte furchtbar ruhig, dachte sie, nicht beängstigend ruhig wie zuvor, sondern gefasster, als er hätte sein sollen. Sie fragte sich, wie oft er anderen einen Blick auf sein wahres Selbst durch die Fassade gewährte, die so hart und glänzend war wie die Lackschicht der japanischen Schmuckkästchen ihrer Mutter.

»Wo gehst du hin?« Simon blickte auf. Fransige dunkle Haarsträhnen fielen ihm in die Augen. Er schaut dümmlich und benommen drein, dachte Clary unfreundlich, so als habe ihm jemand mit einem Stück Holz auf den Hinterkopf geschlagen.

»Hodge suchen«, sagte sie. »Ich muss ihm erzählen, was in Lukes Haus passiert ist.«

Isabelle blickte auf. »Wirst du ihm sagen, dass du diese Männer gesehen hast, Jace? Diejenigen, die …«

»Ich weiß es nicht«, unterbrach er sie. »Also behalte es vorerst für dich.«

Sie zuckte die Achseln. »Okay. Kommst du nachher noch mal her? Möchtest du etwas Suppe?«

»Nein«, sagte Jace.

»Glaubst du, Hodge will etwas Suppe?«

»Niemand will Suppe.«

»Doch, ich will Suppe«, sagte Simon.

»Nein, willst du nicht«, erwiderte Jace. »Du willst nur mit Isabelle schlafen.«

Simon war entsetzt. »Das ist nicht wahr!«

»Wie schmeichelhaft«, murmelte Isabelle in ihre Suppe, grinste aber süffisant.

»Oh doch, das ist es«, sagte Jace. »Na los, frag sie – dann kann sie dir einen Korb geben und wir anderen können unser Leben weiterleben, während du dir gedemütigt und unglücklich die Wunden leckst.« Er schnippte mit den Fingern. »Beeil dich, Irdischer, wir haben zu arbeiten.«

Simon wandte das vor Scham gerötete Gesicht ab. Clary, die sich kurz zuvor noch diebisch gefreut hätte, war plötzlich wütend auf Jace. »Lass ihn in Ruhe«, fauchte sie. »Es gibt keinen Grund, so sadistisch zu sein, nur weil er nicht einer

von euch ist.«

»Einer von uns«, sagte Jace, aber der unbarmherzige Ausdruck war aus seinen Augen verschwunden. »Ich werde jetzt Hodge suchen. Entweder kommst du mit oder du lässt es bleiben. Es ist deine Entscheidung.« Die Küchentür fiel hinter ihm zu und Clary war mit Simon und Isabelle allein. Isabelle schöpfte etwas Suppe in eine Schale und schob sie Simon über die Anrichte zu, ohne ihn dabei anzusehen. Allerdings grinste sie noch immer, das konnte Clary spüren. In der dunkelgrünen Suppe schwammen seltsame braune Stücke.

»Ich werde Jace begleiten«, sagte Clary. »Simon …?« »Schbleibhier«, murmelte er und schaute auf seine Füße. »Was?«

»Ich bleibe hier.« Simon pflanzte sich auf einen Hocker.

»Ich habe Hunger.«

»Auch gut.« Clarys Kehle war wie zugeschnürt, als habe sie etwas sehr Heißes oder sehr Kaltes hinuntergeschluckt.

Während sie aus der Küche stapfte, schlich Church wie ein düsterer grauer Schatten neben ihren Füßen her.

Draußen auf dem Korridor wirbelte Jace eine der Seraphklingen zwischen den Fingern. Als er Clary sah, steckte er sie in die Tasche. »Nett von dir, die Turteltäubchen allein zu lassen.«

Clary musterte ihn missmutig. »Warum bist du bloß immer so ein Widerling?«

»Ein Widerling?« Jace sah aus, als würde er jeden Moment loslachen.

»Was du da eben zu Simon gesagt hast …«

»Ich habe nur versucht, ihm Leid zu ersparen. Isabelle wird ihm das Herz herausreißen und mit hochhackigen Stiefeln darauf herumtrampeln. Das macht sie mit allen Jungs wie ihm.«

»Hat sie es auch mit dir gemacht?«, fragte Clary, aber Jace schüttelte nur den Kopf und wandte sich an Church. »Hodge«, sagte er. »Und dieses Mal wirklich zu Hodge.

Wenn du uns woanders hinbringst, mache ich einen Tennisschläger aus dir.«

Der Kater schnaubte und schlich vor ihnen den Korridor entlang. Clary, die in einigem Abstand hinter Jace hertrottete, erkannte an seiner Schulterhaltung die Anspannung und Erschöpfung. Sie fragte sich, ob diese Anspannung ihn je verließ. »Jace.«

Er schaute sie an. »Was ist?«

»Es tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe.« Er lachte in sich hinein. »Welches Mal meinst du?« »Du bist auch nicht viel besser, weißt du.«

»Ich weiß«, sagte er zu ihrer Überraschung. »Du hast etwas an dir, so etwas …«

»Irritierendes?«

»Verwirrendes.«

Sie hätte ihn gerne gefragt, ob das gut oder schlecht sei, schwieg aber, weil sie fürchtete, er würde sich wieder über sie lustig machen. Stattdessen wechselte sie das Thema: »Kocht Isabelle immer für euch?«

»Nein, Gott sei Dank nicht. Die meiste Zeit sind die Lightwoods hier und dann kocht Isabelles Mutter Maryse für uns. Sie ist eine tolle Köchin.« Er schaute verträumt, genauso wie Simon Isabelle über seine Suppenschale hinweg angesehen hatte. »Wieso hat sie es Isabelle dann nie beigebracht?« Inzwischen standen sie vor dem Musikzimmer, wo Jace an diesem Morgen auf dem Flügel gespielt hatte. In den Ecken hatten sich dunkle Schatten gebildet.

»Weil es erst seit Kurzem weibliche Schattenjäger gibt. Ich meine, es hat immer Frauen im Rat gegeben, die die Runen beherrscht, Waffen entworfen und Kampfkunst gelehrt haben, aber nur ein paar von ihnen waren Kriegerinnen mit außerordentlichen Fähigkeiten. Die Frauen mussten darum kämpfen, zum Training zugelassen zu werden. Maryse gehörte zur ersten Generation von Ratsfrauen, die ganz selbstverständlich ausgebildet wurden – und ich glaube, sie hat Isabelle nie das Kochen beigebracht, weil sie fürchtete, ihre Tochter würde dann für immer in die Küche verbannt.«

»Und wäre das so gewesen?«, fragte Clary neugierig. Sie dachte an Isabelle im Pandemonium, wie selbstbewusst sie gewesen war und mit welcher Sicherheit sie ihre lange Peitsche benutzt hatte.

Jace lachte leise. »Nein, nicht Isabelle. Sie ist eine der besten Schattenjägerinnen, die ich kenne.«

»Besser als Alec?«

Church, der lautlos vor ihnen durch den düsteren Raum schlich, blieb plötzlich stehen und miaute. Er hockte am Fuß einer eisernen Wendeltreppe, die sich in ein diesiges Zwielicht hinaufwand. »Er ist also im Gewächshaus«, sagte Jace. Clary brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass er mit dem Kater sprach. »Das überrascht mich nicht.«

»Das Gewächshaus?«, fragte Clary.

Jace nahm schwungvoll die erste Stufe. »Hodge ist gerne da oben. Er züchtet Heilpflanzen, Kräuter, die wir gebrauchen können. Die meisten von ihnen wachsen nur in Idris. Ich glaube, es erinnert ihn an zu Hause.«

Clary folgte ihm. Ihre Schuhe klapperten auf den Metallstufen, während Jace sich vollkommen geräuschlos bewegte. »Ist er besser als Isabelle?«, fragte sie wieder. »Alec, meine ich.« Jace hielt inne und schaute zu ihr hinab, wobei er sich so über die Stufen beugte, dass der Eindruck entstand, als könne er jeden Moment hinunterfallen. Sie erinnerte sich an ihren Traum: fallende, brennende Engel. »Besser? Im Töten von Dämonen? Nein, eigentlich nicht. Er hat noch nie einen Dämon umgebracht.«

»Tatsächlich?«

»Ich weiß nicht, warum. Vielleicht, weil er Izzy und mich immer beschützt.« Sie hatten das Ende der Treppe erreicht und standen vor einer Doppeltür, die mit geschnitzten Blättern und Ranken verziert war. Jace stieß sie mit der Schulter auf.

In dem Moment, als sie durch die Tür traten, stieg Clary der Geruch in die Nase: ein frischer, herber Duft nach lebenden und gedeihenden Dingen, nach Erde und den Wurzeln, die in ihr wachsen. Sie hatte ein viel kleineres Gewächshaus erwartet, etwas in der Größe des winzigen Glashauses hinter der St. Xavier School, wo die Schüler des Biologiekurses Erbsen klonten oder was immer sie dort trieben. Doch dies war eine große Anlage, von Glaswänden umgeben und von Bäumen umsäumt, deren dicht belaubte Äste kühle, frisch duftende Luft verströmten. An den zahlreichen Sträuchern hingen leuchtend rote, violette und schwarze Beeren und mehrere kleine Bäume trugen seltsam geformte Früchte, die sie noch nie gesehen hatte.

Clary atmete aus. »Es riecht wie …« Frühling, dachte sie, ehe die Hitze kommt und die Blätter herunterhängen und die Blüten verwelken lässt.

»Für mich riecht es wie zu Hause«, meinte Jace. Er schob einen herabhängenden Farnwedel beiseite und ging gebückt darunter hindurch. Clary folgte ihm.

Das Gewächshaus war für Clarys ungeübtes Auge nach keinem bestimmten Muster angelegt. Aber wohin sie auch schaute, sah sie eine Explosion von Farben: blauviolette Blüten, die sich über die Seite einer leuchtend grünen Hecke ergossen, eine Rankpflanze, übersät mit orangeroten Knospen, die wie Juwelen funkelten. Schließlich erreichten sie einen offenen Bereich, wo eine Bank aus Granit vor einem Baum mit herabhängenden silbergrünen Zweigen stand. In einem Teich, der von Steinen eingefasst war, schimmerte dunkles Wasser. Auf der Bank saß Hodge; der schwarze Vogel thronte auf seiner Schulter. Er hatte gedankenverloren ins Wasser gestarrt, doch als sie näher kamen, sah er zum Himmel hinauf. Clary folgte seinem Blick und entdeckte, dass das Glasdach des Gewächshauses über ihnen glitzerte wie ein Spiegelbild des Sees.

»Du siehst aus, als würdest du auf etwas warten«, bemerkte Jace, während er ein Blatt von einem Zweig abbrach und es zwischen den Fingern drehte. Für jemanden, der so beherrscht wirkte, hatte er eine ganze Menge nervöse Angewohnheiten, dachte Clary. Aber vielleicht gefiel es ihm einfach nur, ständig in Bewegung zu sein.

»Ich war in Gedanken versunken.« Hodge erhob sich von der Bank und streckte den Arm für Hugo aus. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, als er die beiden ansah. »Was ist passiert? Ihr seht aus, als …«

»Wir wurden angegriffen«, sagte Jace knapp. »Forsaken.« »Forsaken-Krieger? Hier?«

»Nur einer«, erwiderte Jace. »Jedenfalls haben wir nur einen gesehen.«

»Aber Madame Dorothea hat gesagt, es seien mehrere«, fügte Clary hinzu.

»Madame Dorothea?« Hodge hob die Hand. »Vielleicht wäre es sinnvoller, wenn ihr der Reihe nach erzählt.«

»Stimmt.« Jace warf Clary einen eindringlichen Blick zu, der sie verstummen ließ. Dann berichtete er von den Ereignissen des Nachmittags, wobei er nur ein Detail verschwieg – dass die Männer in Lukes Wohnung dieselben gewesen waren, die vor sieben Jahren seinen Vater getötet hatten. »Der Freund von Clarys Mutter, oder was immer er tatsächlich ist, nennt sich Luke Garroway«, schloss Jace. »Aber als wir bei ihm in der Wohnung waren, nannten ihn die beiden Männer, die sich als Abgesandte Valentins ausgaben, Lucian Graymark.«

»Und ihre Namen lauteten …«

»Pangborn und Blackwell«, sagte Jace.

Hodge war blass geworden. Die lange, deutlich hervortretende Narbe auf seiner grauen Wange erinnerte an einen gezackten roten Draht. »Wie ich es befürchtet hatte«, sagte er halb zu sich selbst. »Der Kreis erneuert sich.«

Clary schaute Jace fragend an, aber dieser schien ebenso verwirrt wie sie selbst. »Der Kreis?«, fragte er.

Hodge schüttelte den Kopf, als wolle er sein Hirn von Spinnweben befreien. »Kommt mit. Es ist an der Zeit, dass ich euch etwas zeige.«


Die Gaslampen in der Bibliothek brannten und die polierten Oberflächen der Eichenmöbel schimmerten wie dunkle Edelsteine. Die starren Gesichter der Engel, die den riesigen Schreibtisch stützten, wirkten im Halbschatten noch schmerzverzerrter. Clary setzte sich auf das rote Sofa und zog die Beine an, während Jace sich gegen die Armlehne auf ihrer Seite lehnte. »Hodge, wenn du Hilfe brauchst …«

»Nein, nein.« Hodge tauchte wieder hinter seinem Schreibtisch auf und wischte sich den Staub von den Knien. »Ich habe es schon gefunden.«

Er hielt ein großes Buch in einem braunen Ledereinband in den Händen, blätterte eifrig die Seiten um und blinzelte wie eine Eule hinter seiner Brille. »Wo … wo ist es bloß … ah, hier ist es ja!« Er räusperte sich und las dann laut vor: »Hiermit gelobe ich dem Kreis und seinen Statuten bedingungslosen Gehorsam … Ich bin bereit, jederzeit mein Leben für den Kreis zu opfern, um die Reinheit der Abstammungslinie von Idris zu bewahren und die Welt der Irdischen zu beschützen, mit deren Sicherheit wir betraut sind.«

Jace verzog das Gesicht. »Was ist das?«

»Der Treueschwur, den der Kreis von Raziel vor zwanzig Jahren leistete«, erwiderte Hodge mit seltsam müder Stimme. »Klingt unheimlich«, sagte Clary. »Wie eine faschistische Organisation oder so etwas.«

Hodge legte das Buch auf den Tisch. Er wirkte so ernst und gequält wie die Engelsstatuen unter der Tischplatte. »Der Kreis war eine Gruppe von Schattenjägern«, erklärte er langsam, »angeführt von Valentin, die alle Bewohner der Schattenwelt vernichten und die Welt wieder zu einem ›reineren‹ Ort machen wollten. Sie wollten warten, bis die Schattenwesen zur Unterzeichnung des Abkommens in Idris eintreffen würden.

Das Abkommen muss alle fünfzehn Jahre erneut unterzeichnet werden, damit seine magische Kraft erhalten bleibt«, fügte er zum besseren Verständnis für Clary hinzu. »Dann wollten sie all die Unbewaffneten und Wehrlosen abschlachten. Sie glaubten, durch diese schreckliche Tat würde ein Krieg zwischen Menschen und Schattenwesen ausbrechen – den sie gewinnen wollten.«

»Der Aufstand!«, sagte Jace, als er in Hodges Geschichte endlich etwas erkannte, das ihm bereits vertraut war. »Ich wusste nicht, dass Valentin und seine Anhänger einen Namen hatten.«

»Der Name fällt heute nicht mehr oft«, erläuterte Hodge.

»Die Existenz dieser Gruppe ist für den Rat noch immer beschämend und die meisten Dokumente, die den Kreis betreffen, wurden inzwischen vernichtet.«

»Warum besitzt du dann eine Abschrift des Treueschwurs?«, fragte Jace.

Hodge zögerte – nur einen kurzen Moment, aber Clary sah es und wurde von einer unerklärlichen dunklen Vorahnung ergriffen. »Weil ich daran mitgearbeitet habe, diesen Schwur zu verfassen«, erklärte er schließlich.

Jace schaute auf. »Du hast dem Kreis angehört?«

»Ja. Viele von uns haben dem Kreis angehört.« Hodge blickte starr geradeaus. »Clarys Mutter auch.«

Clary wich zurück, als habe er ihr eine Ohrfeige verpasst.

»Was?«

»Ich sagte …«

»Ich weiß, was Sie gesagt haben! Meine Mutter hätte so einem Kreis niemals angehört. So einer … einer Hassgruppierung.«

»Es war keine …«, setzte Jace an, doch Hodge unterbrach ihn.

»Ich bezweifle«, sagte er leise, als schmerzten ihn die Worte, »dass sie eine Wahl hatte.«

Clary sprang auf. »Wovon reden Sie? Warum sollte sie die nicht gehabt haben?«

»Sie hatte keine Wahl, weil sie Valentins Frau war.«

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