ZWEITER TEIL Der Behüter

Allein die Liebe ist fähig, lebende Wesen so zu vereinen, daß sie vollkommen werden und erfüllt, denn sie allein ergreift und vereint sie durch das, was ihr Innerstes ist.

PIERRE TEILHARD DE CHARDIN


Niemand hat eine größere Liebe als die, daß er sein Leben gibt für seine Freunde.

EVANGELIUM NACH DEM HL. JOHANNES

ACHT

1

An dem Donnerstag, an dem Nora in Dr. Weingolds Praxis fuhr, machten Travis und Einstein einen Spaziergang über die grasbedeckten Hügel und durch den Wald hinter dem Haus, das sie in Big Sur, einem der herrlichsten Abschnitte der kalifornischen Küste, gekauft hatten.

Auf den baumlosen Hügeln erwärmte die Herbstsonne die Steine und warf verstreut Schatten der Wolken. Die Brise, die vom Pazifik hereinwehte, ließ das trockene, goldgelbe Gras rascheln. Die Luft war mild, weder heiß noch kühl. Travis fühlte sich in Jeans und einem langärmeligen Hemd wohl.

Er trug eine Schrotflinte mit Pistolengriff, eine Mossberg vom Kaliber 12 mit kurzem Lauf. Er hatte die Waffe auf seinen Spaziergängen immer bei sich. Sollte ihm jemals jemand begegnen und danach fragen, hatte er vor zu sagen, er sei auf der Jagd nach Klapperschlangen.

Wo die Bäume dichter standen, erschien der helle Morgen wie später Nachmittag, und die Luft war so kühl, daß Travis sich glücklich schätzte, daß sein Hemd aus Flanell war. Mächtige Fichten, ein paar kleine Gruppen riesiger Redwoods und eine Vielzahl von Hartholzgewächsen filterten das Sonnenlicht und beließen den größten Teil des Waldbodens in ewigem Zwielicht. Das Unterholz war an manchen Stellen dicht; es bestand zum großen Teil aus dem niedrigen, undurchdringlichen Dickicht aus immergrünen Eichen, die man manchmal als >Chaparral< bezeichnet, und einer Menge Farnen, die an diesem beständig feuchten Küstenstrich und wegen des häufigen Nebels besonders gut gediehen.

Einstein schnupperte einige Male an Pumaspuren und bestand darauf, Travis die Fußstapfen der großen Katzen im feuchten Waldboden zu zeigen. Zum Glück wußte er genau, wie gefährlich es war. Berglöwen zu beschleichcn, und konnte seinen natürlichen Drang, hinter ihnen herzuspüren, unterdrücken.

Der Hund begnügte sich damit, die lokale Fauna zu beobachten. Man konnte häufig scheue Hirsche sehen, wie sie auf ihren Wechseln auf- oder abstiegen. Dann gab es auch eine Menge Waschbären, die zu beobachten großen Spaß machte. Obwohl einige von ihnen recht freundlich waren, wußte Einstein, daß sie unangenehm werden konnten, wenn man sie absichtlich aufschreckte; deshalb zog er es vor, respektvolle Distanz zu ihnen zu halten.

Bei anderen Spaziergängen hatte der Retriever betrübt feststellen müssen, daß die Eichhörnchen, denen er sich gefahrlos nähern konnte, sich vor ihm fürchteten. Sie erstarrten vor Schreck, glotzten ihn aus angsterfüllten Augen an, und ihre kleinen Herzen schlugen sichtbar.

WARUM EICHHÖRNCHEN ANGST? hatte er Travis eines Abends gefragt.

»Instinkt«, hatte Travis erklärt. »Du bist ein Hund, und sie wissen instinktiv, daß Hunde sie angreifen und töten.«

NICHT ICH.

»Nein, nicht du«, pflichtete Travis ihm bei und zerzauste ihm das Fell. »Du würdest ihnen nichts zuleide tun. Aber die Eichhörnchen wissen nicht, daß du anders bist. Für sie siehst du aus wie ein Hund und riechst wie ein Hund, also muß man dich auch fürchten wie einen Hund.«

ICH MAG EICHHÖRNCHEN.

»Ich weiß. Leider sind sie nicht schlau genug, das zu begreifen.«

Danach hielt Einstein Abstand von den Eichhörnchen und gab sich große Mühe, sie nicht zu erschrecken, trabte häufig mit abgewandtem Kopf an ihnen vorbei, als würde er sie nicht wahrnehmen.

An diesem ganz speziellen Tag war ihr Interesse an Eichhörnchen, Hirschen, Vögeln, Waschbären und ungewöhnlicher Waldflora minimal. Selbst der Anblick des Pazifiks interessierte sie nicht. Heute machten sie im Gegensatz zu anderen Tagen ihren Spaziergang nur, um sich die Zeit zu vertreiben und ihre Gedanken von Nora abzulenken.

Travis schaute wiederholt auf die Uhr und wählte einen Weg, der sie bis ein Uhr im Bogen zum Haus zurückbringen sollte, weil sie Nora um diese Zeit zurückerwarteten.

Es war der einundzwanzigste Oktober, acht Wochen, nachdem sie sich in San Francisco eine neue Identität beschafft hatten. Nach einigem Überlegen hatten sie beschlossen, nach Süden zu ziehen und damit die Distanz wesentlich zu verringern, die der Outsider zurücklegen mußte, um an Einstein heranzukommen. Sie würden ihr neues Leben so lange nicht weiterführen können, bis die Bestie sie fand und sie sie töteten; deshalb wollten sie die Konfrontation eher vorverlegen als hinausschieben.

Andererseits wollten sie nicht das Risiko eingehen, zu weit nach Süden in Richtung Santa Barbara zurückzukehren, weil der Outsider den Abstand zwischen ihnen diesmal vielleicht schneller überbrückte als im letzten Sommer den zwischen Orange County und Santa Barbara. Sie konnten nicht sicher sein, daß er weiterhin nur fünf oder sechs Kilometer pro Tag zurücklegte. Wenn er sich diesmal schneller fortbewegte, war er über ihnen, ehe sie auf ihn vorbereitet waren. Die Gegend um Big Sur war wegen der spärlichen Besiedlung und der dreihundert Kilometer Luftlinie bis Santa Barbara als ideal anzusehen. Wenn das Ding Einstein anpeilte und sich so langsam wie zuvor heranpirschte, würde es erst in etwa fünf Monaten eintreffen. Wenn es sein Tempo irgendwie verdoppelte, das offene Farmland und die gebirgige Wildnis, die zwischen hier und dort lagen, schnell durchquerte und dabei besiedelten Gegenden auswich, würde es sie trotzdem erst in der zweiten Novemberwoche erreichen.

Der Zeitpunkt rückte näher, aber Travis war es zufrieden, weil er jede mögliche Vorkehrung getroffen hatte, und so begrüßte er die Ankunft des Outsiders beinahe. Bis jetzt allerdings, gab Einstein zu erkennen, sei der Widersacher noch nicht in gefährliche Nähe gerückt, war noch Zeit, sich in Geduld zu üben, ehe es zur entscheidenden Kraftprobe kam.

Um zehn Minuten vor eins erreichten sie das Ende des Kreisbogens durch die Hügel und Canyons und waren im Hof hinter ihrem neuen Haus angelangt. Es war ein zweistöckiger Bau mit Wänden aus gebleichtem Holz, einem mit Zedernschindeln gedeckten Dach und massiven gemauerten Schornsteinen am nördlichen und südlichen Ende. An der östlichen ebenso wie an der westlichen Seite gab es eine Veranda, und beide gewährten einen Blick auf bewaldete Hänge.

Weil hier nie Schnee fiel, war das Dach nur sanft geneigt, und man konnte es begehen; und dies war der Punkt, wo Travis eine seiner ersten der Verteidigung dienenden baulichen Veränderungen vorgenommen hatte. Als er jetzt zwischen den Bäumen hervortrat und hinaufblickte, sah er das grätenförmige Muster aus Balken, das er über das Dach gelegt hatte. Die Balken würden es ihm erleichtern, schnell über die schräge Fläche zu laufen. Wenn der Outsider sich nachts an das Haus heranschlich, konnte er sich nicht durch die Fenster im Erdgeschoß Zutritt verschaffen, weil diese bei Sonnenuntergang durch innen zu verriegelnde Läden abgeschlossen wurden, die Travis selbst installiert hatte und die jeden Eindringling, ausgenommen vielleicht einen mit einer Axt bewaffneten Mann, aussperrten. Also würde der Outsider höchstwahrscheinlich an den Verandapfosten auf das Dach der vorderen oder hinteren Veranda klettern, um sich die Fenster im Obergeschoß anzusehen, und dann feststellen müssen, daß auch diese mit Läden gesichert waren. Unterdessen würde Travis, durch ein vor drei Wochen rings um das Haus installiertes Infrarot-Alarmsystem gewarnt, durch eine Falltür im Dachgeschoß hinaussteigen, unter Ausnutzung der außen angebrachten Balken an den Rand des Daches kriechen, von dort das Terrassendach und

den Hof überblicken können und das Feuer auf den Outsider von einer für diesen unerreichbaren Stelle aus eröffnen. Zwanzig Meter hinter dem Hause, in östlicher Richtung, stand eine kleine, rostrote Scheune; dahinter begann der Wald. Da der Besitz kein Farmland beinhaltete, hatte der ursprüngliche Besitzer diese Scheune offenbar für ein paar Pferde und Hühner errichtet. Travis und Nora benutzten sie als Garage, weil die mit Kies bestreute Einfahrt von der Straße am Haus vorbei direkt zu den Doppeltoren der Scheune führte.

Travis vermutete, der Outsider werde bei seiner Ankunft das Haus zuerst vom Wald aus und dann im Schutz der Scheune ausspionieren. Vielleicht würde er sogar in der Scheune warten, in der Hoffnung, sie dort überraschen zu können, wenn sie den Dodge, den Pick-up oder den Toyota holen wollten. Deshalb hatte er in der Scheune ein paar Überraschungen vorbereitet.

Ihre nächsten Nachbarn - denen sie bisher erst einmal begegnet waren - lebten einen knappen halben Kilometer nördlich von ihnen außer Sichtweite, hinter Bäumen und Chaparral. Die Straße, die ein Stück näher vorbeiführte, war nachts, in der Zeit, wo der Outsider vermutlich zuschlagen würde, nicht sehr befahren. Kam es bei der Auseinandersetzung zu einer längeren Schießerei, dann hallten die Schüsse durch den Wald über die kahlen Hügel, und die wenigen Leute in der Gegend - Nachbarn oder Autofahrer auf der Straße - würden nur schwer feststellen können, woher der Lärm kam. Es sollte ihm daher möglich sein, die Kreatur zu töten und zu verscharren, ehe ein Neugieriger auftauchte.

Im Augenblick machte Travis sich mehr Sorgen um Nora als um den Outsider, als er die hintere Verandatreppe hinaufstieg, die zwei Schlösser an der hinteren Tür aufsperrte und, dicht gefolgt von Einstein, ins Haus ging. Die Küche war groß genug, um auch als Eßraum zu dienen, aber dennoch behaglich: mit Eiche getäfelte Wände, mexikanischer Kachelboden, beigefarben geflieste Unterschränke, Oberschränke ebenfalls aus Eiche, die Decke handverputzt, dazu die besten Küchengeräte, die es zu kaufen gab. Der große Bohlentisch mit vier behaglichen Polsterstühlen und ein gemauerter, offener Kamin trugen bei, diesen Raum zum Zentrum des Hauses zu machen.

Es gab vier weitere Räume - ein riesiges Wohnzimmer und ein Arbeitszimmer vorne im Erdgeschoß, drei Schlafzimmer im Obergeschoß sowie pro Stockwerk ein Bad. Eines der Schlafzimmer wurde von ihnen beiden benutzt, eines diente Nora als Atelier - sie hatte seit ihrem Einzug dort schon etwas gemalt -, und das dritte stand leer und harrte der weiteren Entwicklung.

Travis schaltete die Küchenbeleuchtung ein. Obwohl das Haus abgelegen zu sein schien, waren sie nur zweihundert Meter von der Hauptstraße entfernt, und Leitungsmasten standen entlang ihrer Zufahrt bis zum Haus.

»Ich trinke ein Bier«, sagte Travis, »willst du auch etwas?« Einstein trottete zu seiner leeren Wasserschüssel, die neben seiner Eßschüssel in der Ecke stand, und schob sie über den Boden zum Ausguß.

Sie hatten nicht damit gerechnet, sich so bald nach der Flucht aus Santa Barbara ein solches Haus leisten zu können - insbesondere dann nicht, als Garrison Dilworth, der Anwalt, ihnen schon bei ihrem ersten Telefonat mitteilte, daß man Travis' Bankkonten tatsächlich gesperrt habe. Sie hatten das Glück gehabt, den Zwanzigtausend-Dollar-Scheck durchzubekommen. Garrison hatte einen Teil von Travis' und Noras Geldbeständen wie geplant in Bankschecks umgewandelt und sie an Travis geschickt, indem er sie an Mr. Samuel Spencer Hyatt per Adresse des Motels in Marin County sandte, wo sie fast eine Woche gelegen hatten. Anschließend hatte er, mit der Behauptung, er habe Noras Haus für einen hübschen sechsstelligen Betrag verkauft, zwei Tage später ein weiteres Päckchen Bankschecks an dasselbe Motel geschickt.

Als Nora von einer Telefonzelle aus mit ihm telefonierte, sagte sie: »Aber selbst wenn Sie es tatsächlich verkauft haben, können die doch unmöglich so schnell abgeschlossen und bezahlt haben.«

»Nein«, gab Garrison zu. »Das wird mindestens noch einen Monat dauern. Aber Sie brauchen das Geld jetzt, also schieße ich es Ihnen vor.«

Sie hatten bei einer Bank in Carmel, etwa fünfzig Kilometer nördlich von dem Ort, wo sie jetzt wohnten, zwei Konten eröffnet. Sie hatten den neuen Pick-up gekauft, dann Garrisons Mercedes nach Norden zum Flughafen von San Francisco gebracht und ihn dort für ihn abgestellt. Dann waren sie wieder nach Süden gefahren, an Carmel vorbei und an der Küste entlang und hatten sich in der Gegend von Big Sur nach einem Haus umgesehen. Als sie dieses hier fanden, konnten sie bar dafür bezahlen. Es war klüger, ein Haus zu kaufen, als eines zu mieten, und es war klüger, es bar zu bezahlen, als es zu finanzieren, weil auf die Weise weniger Fragen beantwortet werden mußten.

Travis war sicher, daß niemand ihre Ausweispapiere anzweifeln würde, sah aber keinen Anlaß, die Qualität von Van Dynes Papieren auf die Probe zu stellen, solange dies nicht unumgänglich nötig war. Außerdem hatten sie durch den Kauf eines Hauses viel größeres Ansehen; der Erwerb gab ihren neuen Identitäten Rückhalt.

Während Travis sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank holte, den Verschluß abdrehte und einen langen Schluck nahm und anschließend Einsteins Schüssel mit Wasser füllte, ging der Retriever in die Speisekammer. Die Tür war wie stets nur angelehnt, und der Hund Öffnete sie ganz. Er legte eine seiner Pfoten auf ein Pedal, das Travis gleich hinter der Tür für ihn angebracht hatte, und die Deckenbeleuchtung ging an.

Neben Regalen mit Konservendosen und Flaschen enthielt die geräumige Speisekammer einen komplizierten Apparat, den Travis und Nora gebaut hatten, um die Verständigung mit dem Hund zu erleichtern. Das Gerät stand an der hinteren Wand: sechsundzwanzig Schächte aus durchsichtigem Plastik, zweieinhalb mal zweieinhalb Zentimeter im Querschnitt, waren nebeneinander in einem hölzernen Rahmen angebracht. Jeder der Schächte war etwa einen halben Meter hoch, oben offen und unten mit einer Klappe versehen, die mit einem Pedal betätigt wurde. In den Schächten waren Buchstabensteine aus sechs Scrabble-Spielen aufgestapelt, so daß Einstein über genügend Vorrat verfügte, um auch längere Botschaften zu formulieren. An der Vorderseite eines jeden Schachtes war von Hand ein Buchstabe aufgemalt, der den Inhalt anzeigte: A, B, C, D usw. Einstein konnte Buchstaben aus den Schächten holen, indem er auf die Pedale trat, und die Steine dann mit der Nase auf dem Boden der Speisekammer zu Worten zusammenschieben. Satzzeichen würden sie sich selbst dazudenken. Sie hatten sich dafür entschieden, den Apparat dort, außer Sichtweite, unterzubringen, um nicht etwa unerwartet ins Haus kommenden Nachbarn seinen Zweck erklären zu müssen.

Während Einstein sich geschäftig ans Werk machte, die Pedale zu betätigen und die Buchstabensteine aneinanderzuschieben, trug Travis sein Bier und die Wasserschüssel des Hundes auf die vordere Terrasse, wo sie Noras Ankunft erwarten wollten. Als er zurückkam, war Einstein gerade mit einer Botschaft fertig.

KÖNNTE ICH HAMBURGER HABEN? ODER WIENER? Travis meinte: »Ich werde mit Nora zu Mittag essen, wenn sie heimkommt. Willst du nicht warten und mit uns essen?« Der Retriever leckte sich die Lefzen und überlegte. Dann studierte er die Buchstaben, die er bereits benutzt hatte, schob einige davon beiseite und benutzte den Rest sowie ein B, ein L sowie ein V, die er aus den Schächten holen mußte.

OK. ABER ICH BIN HALB VERHUNGERT.

»Du wirst es schon überleben«, erklärte Travis. Er sammelte die Buchstabensteine ein und sortierte sie von oben wieder in die entsprechenden Schächte ein.

Dann holte er sich die Schrotflinte mit dem Pistolengriff, die er neben die Hintertür gestellt hatte, trug sie auf die Terrasse und lehnte sie dort neben seinen Schaukelstuhl. Er hörte, wie Einstein das Licht in der Speisekammer ausschaltete und ihm folgte.

Dann saßen sie in besorgtem Schweigen da - Travis in seinem Schaukelstuhl, Einstein auf den Redwoodbohlen des Bodens.

Singvögel trällerten in der milden Oktoberluft.

Travis nippte an seinem Bier, Einstein schlabberte gelegentlich von seinem Wasser, dann starrten sie wieder die Einfahrt hinunter zu den Bäumen und zur Landstraße hinüber, die sie von hier aus nicht sehen konnten.

Nora hatte im Handschuhfach ihres Toyota eine .38-Pistole, die mit Hohlspitzkugeln geladen war. In den Wochen, die verstrichen waren, seit sie Marin County verlassen hatten, hatte sie Fahren gelernt und sich mit Travis' Hilfe im Umgang mit der .38er geübt, ebenso mit einer vollautomatischen Uzi-Ma-schinenpistole und einer Schrotflinte. Heute hatte sie nur die .38er mit, aber für die Fahrt nach Carmel mußte die reichen.

Außerdem wollte der Outsider, selbst wenn er sich ohne Einsteins Wissen bereits in die nähere Umgebung eingeschlichen hatte, vor allem den Hund. Sie war also relativ sicher.

Aber wo blieb sie nur?

Travis wünschte sich jetzt, er wäre mit ihr gefahren. Aber nach dreißig Jahren eines Lebens in Abhängigkeit und Furcht gehörten Fahrten nach Carmel ohne Begleitung zu den Dingen, mit denen sie ihre neue Stärke, ihre Unabhängigkeit und ihr Selbstbewußtsein bestätigte - und auf die Probe stellte. Seine Gesellschaft wäre ihr nicht willkommen gewesen.

Um halb zwei, als Nora bereits eine halbe Stunde überfällig war, kam in Travis ein unangenehmes, bohrendes Gefühl auf. Einstein begann unruhig auf und ab zu laufen.

Fünf Minuten später war der Retriever der erste, der den Wagen von der Hauptstraße in den Zufahrtsweg einbiegen hörte. Er hetzte die Verandatreppe hinunter und wartete am Rand der Zufahrt.

Travis wollte Nora nicht merken lassen, daß er beunruhigt gewesen war, weil das mangelnde Vertrauen in sie bedeutet hätte, mangelndes Vertrauen in ihre Fähigkeit, selbst auf sich aufzupassen, eine Fähigkeit, die sie tatsächlich besaß und sehr hoch einschätzte. Also blieb er in seinem Schaukelstuhl sitzen, die Flasche Corona in der Hand.

Als der blaue Toyota auftauchte, seufzte er erleichtert. Als sie am Haus vorbeifuhr, hupte sie. Travis winkte, als hätte er nicht unter einer bleiernen Decke der Furcht dagesessen. Einstein lief zur Garage, um sie zu begrüßen, und eine Minute später tauchten sie beide wieder auf. Sie trug Blue-jeans und ein gelb-weiß-kariertes Hemd, aber für Travis war sie gut genug angezogen, um inmitten mit Schmuck behängter Prinzessinnen in Abendkleidern über eine Tanzfläche zu schweben.

Sie trat neben ihn, beugte sich zu ihm herunter und küßte ihn. Ihre Lippen waren warm.

»Hab' ich dir schrecklich gefehlt?« fragte sie.

»Ohne dich war keine Sonne, kein Trällern der Vögel, keine Freude.« Er sagte es scherzhaft, locker, und doch kam es fast ernst heraus.

Einstein rieb sich an ihr und winselte, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und dann blickte er mit schiefgelegtem Kopf zu ihr auf und wuffte leise, als wollte er sagen: NUN?

»Er hat recht«, sagte Travis. »Du bist nicht fair. Mach es nicht so spannend.«

»Ich bin«, sagte sie.

»Du bist?«

Sie grinste. »Schwanger.«

»Ach du liebe Güte!« sagte er.

»Guter Hoffnung. Gesegneten Leibes. In anderen Umständen. Eine künftige Mutter.«

Er stand auf und legte die Arme um sie, hielt sie an sich gedrückt und küßte sie und sagte: »Doktor Weingold irrt wohl nicht?«

Darauf sie: »Nein, er ist ein guter Arzt.«

Und Travis: »Er muß dir doch gesagt haben, wann es soweit ist.«

»Wir können das Baby in der dritten Juniwoche erwarten.« Travis darauf dümmlich: »Schon im nächsten Juni?«

Sie lachte und sagte: »Ich habe nicht vor, dieses Baby ein ganzes zusätzliches Jahr mit mir herumzutragen.«

Schließlich bestand Einstein darauf, auch eine Chance zu bekommen, sich an sie zu drücken und sein Entzücken zum Ausdruck zu bringen.

»Ich hab' uns eine eisgekühlte Flasche Schampus zum Feiern mitgebracht«, sagte sie und hielt ihm eine Tüte hin.

Als er in der Küche die Flasche aus der Tüte nahm, sah er, daß es moussierender Apfelmost war, alkoholfrei. »Ist das keine Feier, die den besten Champagner verdient?« fragte er. Während sie Gläser aus dem Schrank holte, meinte sie: »Wahrscheinlich benehme ich mich kindisch, die Weltmeisterin der Angst... Aber ich will nichts riskieren, Travis. Ich hatte nie gedacht, daß ich einmal ein Baby haben würde, nie gewagt, davon zu träumen. Und jetzt habe ich dieses dämliche Gefühl, daß es mir nie bestimmt war, es zu haben, und daß man es mir wegnehmen wird, wenn ich nicht jede denkbare Vorsichtsmaßregel treffe und nicht alles ganz genau richtig mache. Also werde ich keinen Schluck mehr trinken, bis es es geboren ist. Ich werde nicht zuviel rotes Fleisch essen, dafür mehr Gemüse. Geraucht hab' ich nie, also macht mir das keine Sorgen. Ich werde genausoviel zunehmen, wie Doktor Weingold mir gesagt hat, und ich werde meine gymnastischen Übungen machen und das perfekteste Baby zur Welt bringen, das die Welt je gesehen hat.«

»Natürlich wirst du das«, sagte er und füllte die Weingläser mit Apfelmost und schüttete etwas davon für Einstein in eine Schüssel.

»Nichts wird schiefgehen«, sagte sie.

»Nichts«, sagte er.

Sie brachten einen Toast auf das Baby aus - und auf Einstein, der Pate, Onkel, Großvater und pelzbedeckter Schutzengel in einer Person sein würde, und der beste, den man sich denken konnte.

Den Outsider erwähnte niemand.

Später, nachts im Bett, nachdem sie sich geliebt hatten und einander umfangen hielten und dem Gleichklang ihrer Herzen lauschten, wagte er schließlich zu sagen: »Vielleicht sollten wir wegen dem, was auf uns zukommt, nicht gerade jetzt ein Baby haben.«

»Psst!« machte sie.

»Aber...«

»Wir haben dieses Baby nicht geplant«, sagte sie. »Tatsächlich haben wir sogar Vorkehrungen dagegen getroffen. Aber es ist trotzdem so gekommen. Daß es trotz unserer Vorsichtsmaßnahmen passiert ist, daran ist etwas Besonderes. Findest du nicht auch? Das, was ich vorher gesagt habe, daß es mir vielleicht nicht bestimmt ist, es zu bekommen... nun, da spricht bloß die alte Nora. Die neue Nora meint, daß es uns sehr wohl bestimmt ist, daß es ein großes Geschenk für uns ist

- so wie Einstein eines war.«

»Aber wenn man bedenkt, was vielleicht... «

»Das hat nichts zu besagen«, meinte sie. »Damit werden wir fertig. Wir werden das alles gut überstehen. Wir sind bereit. Und dann werden wir das Baby haben und wirklich unser gemeinsames Leben anfangen. Ich liebe dich, Travis.«

»Ich liebe dich«, sagte er. »Herrgott, ich liebe dich.«

Und wieder wurde ihm bewußt, wie sehr sie sich doch verändert hatte und wie wenig von der unscheinbaren Frau übriggeblieben war, die er letztes Frühjahr in Santa Barbara kennengelernt hatte. Im Augenblick war sie die Starke, die Entschlossene; sie war es, die versuchte, ihm seine Angst zu nehmen.

Und es wirkte. Er fühlte sich besser. Er dachte an das Baby und lächelte im Dunkeln, das Gesicht an ihrem Hals geborgen. Obwohl das Schicksal jetzt drei Geiseln hatte - Nora, das ungeborene Baby und Einstein -, war er in besserer Stimmung, als das seit einer Ewigkeit der Fall gewesen war. Nora hatte ihn von der Angst befreit.

2

Vince Nasco sass auf einem kunstvoll geschnitzten italienischen Sessel mit spiegelblanker Politur, Ergebnis einiger Jahrhunderte regelmäßgen Polierens.

Rechts von ihm standen ein Sofa und zwei weitere Sessel sowie ein niedriger Tisch von gleicher Eleganz vor einem Hintergrund von Regalen mit ledergebundencn Folianten, die noch nie jemand gelesen hatte. Er wußte, daß sie noch nie gelesen worden waren, weil Mario Tetragna, dessen privates Arbeitszimmer das war, einmal voll Stolz auf sie gezeigt und dabei gesagt hatte: »Teure Bücher. So gut wie an dem Tag, an dem man sie gemacht hat, weil noch nie einer sie gelesen hat. Nicht eines.«

Vor ihm stand der riesige Schreibtisch, an dem Mario Tetragna die Kassenberichte seiner Manager las, Aktenvermerke über neue Vorhaben verfaßte und Befehle erteilte, Menschen zu töten. Der Don saß jetzt an jenem Schreibtisch, hatte die Augen geschlossen, und sein Fleisch quoll über den Ledersessel. Es sah aus, als hätten seine verengten Arterien und sein verfettetes Herz ihn getötet, aber er dachte nur über Vinces Bitte nach.

Mario Tetragna, >der Schraubenzieher - hochangesehener Patriarch seiner engsten Sippe, gefürchteter Don der gesamten Tetragna-Familie, die den Drogenhandel, die Spielhöllen, die Prostitution, die Kredithaie, die Pornografie und andere organisierte kriminelle Aktivitäten in San Francisco kontrollierte -war einen Meter vierundfünfzig groß, einhundertfünfunddreißig Kilo schwer, ein Fleischberg mit einem Gesicht, das so formlos, fettig und glatt war wie eine zum Bersten gefüllte Wursthaut. Der Gedanke, daß dieses übergewichtige Exemplar eine so gefürchtete Verbrecherorganisation aufgebaut hatte, schien absurd. Tetragna war auch einmal jung gewesen, auch damals natürlich klein, und er sah aus wie jemand, der sein ganzes Leben lang fett gewesen war. Die feisten, wurstfingeri-gen Hände erinnerten Vince an die Hände eines Babys. Aber dies waren die Hände, die das Imperium der Familie lenkten. Bei einem Blick in Mario Tetragnas Augen war Vince sofort klar gewesen, daß die Statur des Don, sein nur zu augenfälliger körperlicher Verfall von keiner Bedeutung waren. Die Augen waren die eines Reptils: ausdruckslos, kalt, hart, wachsam. War man nicht vorsichtig, erregte man sein Mißfallen, würde er einen mit diesen Augen festbannen und nehmen, wie eine Schlange eine vor Angst erstarrte Maus nahm: in einem verschlingen und verdauen.

Vince bewunderte Tetragna. Er wußte, dies war ein großer Mann, und wünschte, er könnte dem Don sagen, auch er sei ein Mann mit einer großen Zukunft. Aber er hatte gelernt, nicht von seiner Unsterblichkeit zu sprechen, denn in der Vergangenheit hatten solche Reden ihm von Seiten eines Mannes, von dem er geglaubt hatte, er würde ihn verstehen, lediglich Spott eingetragen.

Jetzt öffnete Don Tetragna seine Reptilienaugen und sagte: »Damit ich Sie ja richtig verstehe - Sie sind auf der Suche nach einem Mann. Dies ist keine Angelegenheit der Familie. Das ist eine private Auseinandersetzung.«

»Ja, Sir«, sagte Vince.

»Sie glauben, dieser Mann könnte gefälschte Papiere gekauft haben und jetzt unter einem neuen Namen leben. Sie meinen, der Mann weiß, wie man sich solche Papiere beschafft, obwohl er nicht Mitglied einer der Familien ist, überhaupt nicht der Fratellama angehört?«

»Ja, Sir. Seine Herkunft ist so, daß ... er das weiß.«

»Und Sie glauben, daß er sich diese Papiere entweder in Los Angeles oder hier beschafft hat«, sagte Don Tetragna und deutete mit einer seiner rosafarbenen Hände auf das Fenster und die Stadt San Francisco, die dahinter lag.

Vince nickte. »Am fünfundzwanzigsten August hat er seine Flucht angetreten, er hat Santa Barbara mit dem Wagen verlassen, weil er aus verschiedenen Gründen kein Flugzeug nehmen konnte. Ich glaube, daß er so schnell wie möglich eine neue Identität haben wollte. Zuerst nahm ich an, er werde nach Süden gehen und sich in Los Angeles gefälschte Ausweise besorgen, weil das am nächsten lag. Aber ich habe die vergangenen zwei Monate fast nichts anderes getan, als mit den richtigen Leuten in L.A., Orange County und selbst in San Diego zu reden, mit allen, die dieser Mann aufgesucht haben könnte, um sich erstklassige falsche Papiere zu besorgen. Ich bekam auch einige Hinweise, aber nichts davon hat mich weitergebracht. Wenn er also von Santa Barbara nicht nach Süden gegangen ist, dann muß er nach Norden gegangen sein. Und der einzige Ort im Norden, wo er die Qualität bekommen konnte... «

»Ist unsere schöne Stadt«, sagte Don Tetragna und machte eine weit ausholende Handbewegung, die das Fenster und die dichtbevölkerten Hügel darunter einschloß. Er lächelte.

Vince nahm an, der Don lächle voll Zärtlichkeit auf sein geliebtes San Francisco hinab. Aber das Lächeln war nicht zärtlich - es wirkte habgierig.

»Und«, fuhr Don Tetragna fort, »Sie möchten, daß ich Ihnen die Namen der Leute nenne, die von mir bevollmächtigt sind, mit Papieren zu handeln, wie dieser Mann sie brauchte.« »Wenn Ihr Herz es Ihnen erlaubt, mir diese Gefälligkeit zu erweisen, wäre ich sehr dankbar.«

»Diese Leute führen keine Aufzeichnungen.«

»Ja. Aber sie könnten sich vielleicht an etwas erinnern.«

»Ihr Geschäft ist es, sich nicht zu erinnern.«

»Aber der Mensch vergißt nie, Don Tetragna. Ganz gleich, wie sehr er sich darum bemüht, in Wahrheit vergißt er nie.« »Wie wahr gesprochen. Und Sie schwören, daß der Mann, den Sie suchen, keiner Familie angehört?«

»Das schwöre ich.«

»Diese Exekution darf in keiner Weise Spuren hinterlassen, die zu meiner Familie zurückführen.«

»Ich schwöre es.«

Don Tetragna schloß wieder die Augen, aber nicht so lange wie vorhin. Als er sie wieder aufschlug, lächelte er breit, aber es war wie stets ein Lächeln ohne Humor. Er war der unvergnügteste fette Mann, den Vince je gesehen hatte. »Als Ihr Vater ein schwedisches Mädchen heiratete anstatt jemanden von unseren Leuten, war seine Familie verzweifelt und rechnete mit dem Schlimmsten. Aber Ihre Mutter war eine gute Frau, die keine Fragen stellte und stets gehorsam war. Und die beiden haben Sie hervorgebracht - einen sehr gutaussehenden Sohn. Aber Sie sind mehr als nur gutaussehend: Sie sind ein guter Soldat, Vincent. Sie haben gute, saubere Arbeit für die Familie getan, in New York und in New Jersey, für die Familien in Chicago und auch für uns hier an dieser Küste. Vor nicht allzulanger Zeit haben Sie mir den großen Dienst erwiesen, die Küchenschabe Pantangela zu zerdrücken.«

»Wofür Sie mich äußerst großzügig bezahlt haben, Don Tetragna.«

Der >Schraubenzieher< machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wir alle werden für unsere Dienste bezahlt. Aber hier reden wir nicht von Geld. Ihre Jahre der Loyalität und der guten Dienste sind mehr wert als Geld. Deshalb schuldet man Ihnen zumindest diese eine Gefälligkeit.«

»Ich danke Ihnen, Don Tetragna.«

»Man wird Ihnen die Namen jener geben, die in dieser Stadt solche Papiere liefern, und ich sorge dafür, daß man sie von Ihrem bevorstehenden Besuch verständigt. Alle werden Sie unterstützen.«

»Wenn Sie das sagen«, sagte Vince, erhob sich und beugte Kopf und Schultern, »dann weiß ich, daß es wahr ist.«

Der Don bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sich wieder zu setzen. »Aber ehe Sie diese Privatangelegenheit in Angriff nehmen, möchte ich, daß Sie einen weiteren Kontrakt übernehmen. Es gibt einen Mann in Oakland, der mir viel Kummer bereitet. Er glaubt, ich könnte nicht an ihn heran, weil er politisch über gute Verbindungen verfügt und gut bewacht wird. Sein Name ist Ramon Velazquez. Das wird ein schwieriger Auftrag, Vincent.«

Vince verbarg seine Enttäuschung und sein Mißvergnügen.

Im Augenblick war er nicht daran interessiert, einen schwierigen Hit zu übernehmen. Er wollte sich ganz darauf konzentrieren, Travis Cornell und den Hund aufzuspüren, aber er wußte, daß Tetragnas Kontrakt mehr eine Forderung war als ein Angebot. Um die Namen der Leute genannt zu bekommen, die falsche Papiere verkauften, mußte er zuerst Velazquez erledigen.

Also sagte er: »Es wäre mir eine Ehre, jedes Insekt zu zerquetschen, das Sie gestochen hat. Und diesmal ohne Honorar.«

»Oh, ich würde darauf bestehen. Sie zu bezahlen, Vincent.« Vince lächelte so gewinnend, wie er das konnte, und sagte: »Bitte, Don Tetragna, lassen Sie mich Ihnen diesen Gefallen erweisen. Es wäre mir ein außerordentliches Vergnügen.« Tetragna gab sich den Anschein, als müßte er überlegen, obwohl er genau das erwartet hatte - einen Gratishit als Gegenleistung dafür, daß er Vince half. Er legte beide Hände auf seinen mächtigen Bauch und betätschelte diesen. »Ich bin ein so glücklicher Mann. Wohin auch immer ich mich wende, überall wollen die Menschen mir Gefälligkeiten und Freundlichkeiten erweisen.«

»Nicht glücklich, Don Tetragna«, sagte Vince, dem die gekünstelte Konversation anfing auf die Nerven zu gehen. »Sie ernten, was Sie säen. Und wenn Sie Freundlichkeiten ernten, dann wegen der größeren Freundlichkeiten, die Sie vorher gesät haben.«

Strahlend akzeptierte Tetragna sein Angebot, Velazquez gratis zu erledigen. Die Nüstern seiner an ein Schwein erinnernden Nase blähten sich, als hätte er einen Leckerbissen gerochen, und er sagte: »Aber jetzt sagen Sie mir... nur, um meine Neugierde zu befriedigen: Was werden Sie mit diesem Mann tun, wenn Sie ihn fangen, diesem Mann, mit dem Sie eine persönliche Vendetta haben?«

Ihm das Hirn aus dem Schädel blasen und mir seinen Hund schnappen, dachte Vince.

Aber er wußte, was >der Schraubenzieher hören wollte: dieselben harten Sprüche, die alle diese Burschen von ihm hören wollten, ihm, dem von ihnen am meisten geschätzten bezahlten Killer, und so sagte er: »Don Tetragna, ich habe vor, ihm die Eier, die Ohren und die Zunge abzuschneiden - und erst dann werd' ich ihm einen Eispickel durchs Herz treiben und seine Uhr zum Stehen bringen.«

Die Augen des fetten Mannes glitzerten zustimmend. Seine Nüstern blähten sich.

3

Bis zum Thanksgivingtag hatte der Outsider das Haus in Big Sur noch nicht entdeckt.

Jede Nacht schlossen Travis und Nora die Läden an der Innenseite der Fenster. Sie verriegelten die Türen, und wenn sie sich im Obergeschoß schlafenlegten, dann hatten sie Schrotflinten neben dem Bett und Revolver auf den Nachttischen liegen.

Manchmal wurden sie in den ruhigen Stunden nach Mitternacht von seltsamen Geräuschen im Hof oder auf dem Terrassendach geweckt. Einstein tappte von Fenster zu Fenster, schnüffelte, zeigte aber dann stets an, daß sie nichts zu befürchten hätten. Bei weiterer Nachforschung fand Travis dann gewöhnlich einen herumstreunenden Waschbären oder ein anderes Tier aus dem Wald.

Travis genoß das Thanksgivingfest mehr, als er das angesichts der Umstände erwartet hatte. Er und Nora kochten für sie drei ein opulentes traditionelles Essen: Truthahnbraten mit Kastaniensoße, einen Muschelauflauf, glacierte Karotten, gebackenen Mais, Krautsalat mit viel Pfeffer, Croissants und Kürbispastete.

Einstein probierte von allem. Trotzdem war er immer noch ein Hund; der stark gepfefferte Krautsalat war das einzige, dem er totale Abneigung entgegenbrachte, und den Truthahn zog er allem anderen vor. An jenem Nachmittag verbrachte er viel Zeit damit, zufrieden an einer Keule zu nagen.

Im Laufe der Wochen hatte Travis bemerkt, daß Einstein wie die meisten Hunde gelegentlich in den Hof hinauslief und etwas Gras fraß, obwohl es manchmal so aussah, als widerstehe es ihm. Am Thanksgivingtag tat er das wieder, und als Travis ihn fragte, ob ihm das Gras eigentlich schmecke, verneinte Einstein das.

»Warum willst du es dann manchmal fressen?«

BRAUCHE ES.

»Warum?«

WEISS NICHT.

»Wenn du nicht weißt, wozu du es brauchst, woher weißt du dann überhaupt, daß du es brauchst? Instinkt?«

JA.

»Bloß Instinkt?«

HÖR AUF.

Am Abend saßen sie alle drei auf Kissen auf dem Wohnzimmerboden vor dem großen offenen Kamin und hörten Musik. Einsteins goldenes Fell glänzte im Feuerschein. Während Travis, einen Arm um Nora gelegt, dasaß und mit der anderen Hand den Hund streichelte, dachte er, daß Grasfressen gar keine so schlechte Idee sein konnte, denn Einstein sah gesund und robust aus. Einstein nieste ein paarmal, hustete auch hier und da, aber das schienen ganz natürliche Reaktionen zu sein auf das übermäßige Essen und die warme, trockene Luft vor dem Kamin. Travis machte sich keinen Augenblick Gedanken um die Gesundheit des Hundes.

4

Am Nachmittag der sechszundzwanzigsten November, dem Freitag, der dem Thanksgivingtag folgte, war mildes Wetter, und Garrison Dilworth befand sich an Bord seines Segelbootes >Amazing Grace< im Jachthafen von Santa Barbara. Er war damit beschäftigt, das Messingzeug zu polieren, und so in seine Arbeit versunken, daß er die zwei Männer in Straßenanzügen beinahe nicht bemerkt hätte, die über die Pier auf ihn zukamen. Er blickte auf, als sie gerade im Begriff waren, ihn anzusprechen, und wußte, wer sie waren - nicht ihre Namen, aber für wen sie tätig sein mußten -, und dies, noch, bevor sie ihm ihre Ausweispapiere zeigten.

Der eine hieß Johnson, der andere Soames.

Indem er Verblüffung und Interesse heuchelte, lud er sie ein, an Bord zu kommen.

Während der eine namens Johnson von der Pier auf das Bootsdeck herüberstieg, sagte er: »Wir würden Ihnen gern einige Fragen stellen, Mr. Dilworth.«

»Worüber?« erkundigte sich Garrison und wischte sich die Hände an einem weißen Lappen ab.

Johnson war ein Neger von mittlerer Körpergröße, fast ein wenig hager, fast ausgezehrt wirkend, und doch beeindrukkend.

»National Security Agency sagten Sie?« meinte Garrison.

»Sie nehmen doch sicherlich nicht an, daß ich im Dienst des KGB stehe?«

Johnson lächelte dünn. »Sie haben für Nora Devon gearbeitet?«

Er hob die Brauen. »Nora? Ist das Ihr Ernst? Nun, ich kann Ihnen versichern, daß Nora nicht die Frau ist, die ...«

»Dann sind Sie also ihr Anwalt?« fragte Johnson.

Garrison sah den jüngeren der beiden, den mit den Sommersprossen, Soames, an und hob erneut die Brauen, als wollte er fragen, ob Johnson immer so unnahbar sei. Soames starrte ausdruckslos durch ihn hindurch und wartete offenbar darauf, daß sein Boß ihm ein Stichwort liefere.

O Mann, mit den beiden wird es Ärger geben, dachte Garrison.

Nach der enttäuschenden und erfolglosen Befragung Dil-worths schickte Lem Cliff Soames mit ein paar Aufträgen aus: Er sollte die gerichtliche Erlaubnis einholen, den Privatapparat und die Bürotelefone des Anwalts anzuzapfen; die seinem Büro und die seinem Haus am nächsten gelegenen drei Telefonautomaten feststellen und veranlassen, daß auch diese sämtlich angezapft würden; die Aufzeichnungen der Telefongesellschaft über alle Ferngespräche beschaffen, die von Dilworths Haus- und Bürotelefonen aus geführt wurden; und schließlich zusätzliche Männer aus dem Büro in Los Angeles anfordern, um Dilworth rund um die Uhr zu beschatten. Und zwar sollte die Aktion binnen drei Stunden beginnen.

Während Cliff sich um alle diese Dinge kümmerte, schlen-derte Lem im Hafen herum und hoffte, die Geräusche der See und der beruhigende Anblick des bewegten Wassers würden ihm helfen, seinen Verstand wieder klarzumachen und seine Gedanken auf seine Probleme zu konzentrieren. Weiß Gott, er hatte es verzweifelt nötig, sich zu konzentrieren. Mehr als sechs Monate waren verstrichen, seit der Hund und der Outsider aus Banodyne entkommen waren, und Lem hatte bei ihrer Verfolgung inzwischen fast sieben Kilo verloren. Er hatte seit Monaten nicht mehr gut geschlafen, wenig Appetit, und selbst sein Sexualleben hatte gelitten.

Man kann sich auch zu sehr bemühen, sagte er sich. Was dann zu einer Art Verstopfung des Geistes führte.

Aber derlei Ermahnungen nützten ihm nichts. Er war immer noch blockiert wie ein Leitungsrohr voll Beton.

Seit drei Monaten, seit sie Cornells Airstream am Tag nach dem Mord an Hockney auf dem Schulparkplatz gefunden hatten; wußte Lem, daß Cornell und die Frau in jener Augustnacht von einer Reise nach Vegas, Tahoe und Monterey zurückgekehrt waren. Sie hatten in dem Wohnwagen und dem Pick-up Tischkarten von Las Vegas, Hotelbriefbogen, Streichholzbriefchen und Benzinquittungen gefunden, die jeden Haltepunkt auf ihrer Route auswiesen. Wer die Frau war, wußte er nicht, nahm aber an, sie sei eine Freundin, nicht mehr. Aber er hätte sich natürlich nicht mit einer solchen Annahme begnügen dürfen. Erst vor ein paar Tagen, als einer seiner Mitarbeiter nach Vegas gefahren war, um dort zu heiraten, war Lem schließlich der Gedanke gekommen, Cornell und die Frau könnten zu demselben Zweck nach Vegas gefahren sein. Plötzlich hatte ihre Reise wie eine Flitterwochenreise ausgesehen. Und dann hatte er binnen Stunden herausgebracht, daß Cornell tatsächlich am 11. August in Clark County, Nevada, mit Nora Devon aus Santa Barbara die Ehe eingegangen war.

Als er Nachforschungen nach der Frau betrieb, stellte sich heraus, daß ihr Haus vor sechs Wochen verkauft worden war, kurz nachdem sie mit Cornell verschwunden war. Und als er den Verkauf näher überprüfte, entdeckte er, daß ihr Anwalt, Garrison Dilworth, sie dabei vertreten hatte.

Lem hatte gedacht, er habe es Cornell erschwert, ein Leben auf der Flucht zu führen, indem er seine Konten sperrte; jetzt fand er heraus, daß Dilworth mitgeholfen hatte, zwanzigtausend aus Cornells Bank herauszuholen, und daß auch der gesamte Erlös aus dem Verkauf des Hauses irgendwie an die Frau überwiesen worden war. Außerdem hatte sie vor vier Wochen durch Dilworth ihre Konten bei der hiesigen Bank auflösen lassen, und auch dieses Geld befand sich in ihren Händen. Sie und ihr Mann und der Hund verfügten jetzt möglicherweise über hinreichende Mittel, um jahrelang versteckt zu bleiben.

Lem stand auf dem Pier und starrte auf die sonnenbeschienene See hinaus, die rhythmisch gegen die Poller klatschte.

Die Bewegung machte ihm übel.

Er blickte zu den kreisenden, krächzenden Möven empor.

Doch statt daß ihn ihr eleganter Flug beruhigte, wurde er eher noch gereizter.

Garrison Dilworth war intelligent, schlau, der geborene Kämpfer. Jetzt, da die Verbindung zwischen ihm und den Cornells aufgedeckt worden war, hatte der Anwalt versprochen, er werde die NSA gerichtlich dazu zwingen, Travis' Konten freizugeben. »Sie haben gegen den Mann keine Anklage erhoben«, hatte Dilworth gesagt. »Was für ein Jammerlappen von Richter hat Ihnen die Vollmacht gegeben, seine Konten zu sperren? Die Gesetz zu manipulieren und einem unschuldigen Bürger Schwierigkeiten zu machen, ist gewissenlos.«

Lem hätte Anklage gegen Travis und Nora Cornell erheben können - wegen Verletzung aller möglichen Gesetze, die zum Schutz der nationalen Sicherheit existieren, und es so Dil-worth unmöglich machen können, den Flüchtlingen weiterhin zu helfen. Aber eine solche Anklage hätte auch bedeutet, daß die Medien aufmerksam wurden. Und dann würde die hanebüchene Geschichte vom Panther, den Cornell sich als Haustier hielt - und vielleicht die ganze Tarnaktion der NSA - in sich zusammenbrechen wie ein Kartenhaus in einem Gewitter. Seine einzige Hoffnung bestand darin, daß Dilworth versuchen würde, mit den Cornells Verbindung aufzunehmen, um ihnen mitzuteilen, daß seine Beziehung zu ihnen jetzt aufgedeckt worden sei und etwaige Kontakte in Zukunft sehr viel vorsichtiger stattfinden müßten. Wenn Lem Glück hatte, würde er dann die Cornells über deren Telefonnummer ausfindig machen können. Aber große Hoffnung, daß es so leicht gehen würde, hatte er nicht. Dilworth war kein Narr.

Lem sah sich im Jachthafen von Santa Barbara um und versuchte sich zu entspannen, denn er wußte genau, daß er gelöst und frisch sein mußte, wenn er den alten Anwalt übertölpeln wollte. Hunderte von Booten an den Piers mit eingerollten oder verstauten Segeln tänzelten sanft in der Dünung, andere Boote mit gehißten Segeln schwebten ruhig auf die offene See hinaus, Menschen in Badeanzügen sonnten sich auf den Decks oder nahmen den ersten Cocktail zu sich. Die Möven huschten wie die Nadeln einer Stickerin über die blauweiße Decke des Himmels, und Männer standen am steinernen Wellenbrecher und fischten. Die Szene war so beschaulich, daß es einem beinahe weh tat, aber zugleich war es auch ein Bild der Muße, einer ungeheuren, geplanten Muße, mit der Lem Johnson sich nicht identifzieren konnte. Für Lem war zuviel Muße eine gefährliche Ablenkung von den kalten, harten Realitäten des Lebens, von der Welt des Wettbewerbs. Jede Muße, die länger als ein paar Stunden dauerte, machte ihn nervös und erzeugte in ihm den Drang, zur Arbeit zurückzukehren. Hier gab es Muße, die sich in Tagen, in Wochen messen ließ; hier, auf diesen teuren und liebevoll gepflegten Booten, herrschte Muße, meßbar an monatelangen Segelausflügen die Küste hinauf und hinunter, so viel Muße, daß Lem in Schweiß ausbrach und den Wunsch verspürte, laut aufzuschreien.

Und dann hatte er noch etwas, worüber er sich Sorge machen mußte: den Outsider. Seit dem Tag, an dem Travis Cornell in seinem gemieteten Haus auf ihn geschossen hatte, Ende August, war keine Spur mehr von ihm aufgetaucht. Drei Monate war das jetzt her. Was hatte das Ding in diesen drei Monaten getan? Wo hatte es sich versteckt? War es immer noch hinter dem Hund her? War es tot?

Vielleicht hatte irgendwo draußen in der Wildnis eine Klapperschlange es gebissen, oder vielleicht war es von einer Klippe gestürzt.

Herrgott, dachte Lem, laß es tot sein, tu mir den einen Gefallen: Laß es tot sein.

Aber er wußte, daß der Outsider nicht tot war, denn das wäre zu einfach gewesen. Nichts im Leben war so einfach. Das verdammte Ding war irgendwo dort draußen, immer noch hinter dem Hund her. Wahrscheinlich hatte es den Drang unterdrückt, die Menschen zu töten, denen es begegnete, weil es wußte, daß jeder Mord Lem und seine Leute näher herbeirief, und weil es nicht gefunden werden wollte, ehe es den Hund getötet hatte. Erst wenn die Bestie den Hund und die Cornells in blutige Fetzen gerissen hatte - aber erst dann -, würde es wieder anfangen, seine Wut an den Menschen im allgemeinen auszulassen, und jeder Tod würde schwer auf Lem Johnsons Gewissen lasten.

Unterdessen waren die Ermittlungen, die sich mit der Ermordung der Banodyne-Wissenschaftler befaßten, praktisch zum Stillstand gekommen. Jene zweite NSA-Einsatzgrupe war aufgelöst worden. Offensichtlich hatten die Sowjets Außenstehende für diese Morde angeheuert, und es gab keine Möglichkeit, herauszufinden, wen sie dafür eingesetzt hatten.

Ein von der Sonne tief gebräunter Mann in weißen Shorts und einem T-Shirt schlenderte an Lem vorbei und sagte: »Herrlicher Tag heute!«

»Da nehm' ich Gift drauf!« sagte Lem.

5

Am Tag nach Thanksgiving kam Travis in die Küche, um sich ein Glas Milch zu holen, und sah, daß Einstein ununterbrochen nieste. Aber er dachte sich nicht viel dabei. Auch Nora, die sich gewöhnlich viel schneller als Travis um das Wohlbefinden des Retrievers sorgte, fand nichts dabei. In Kalifornien ist der Pollenflug im Frühjahr und Herbst ziemlich heftig, aber da das Klima eine zwölfmonatige Blüte erlaubt, gibt es keine Jahreszeit, die ganz frei ist von Pollen. Und das Leben im Wald machte die Situation sogar noch schlimmer.

In jener Nacht weckte Travis ein Geräusch, das er nicht bestimmen konnte. Sofort war er hellwach, setzte sich in der Dunkelheit auf und griff nach der Schrotflinte, die neben dem Bett auf dem Boden lag. Mit der Mossberg in der Hand, lauschte er, und nach ein oder zwei Minuten kam es wieder. Aus dem oberen Flur.

Er glitt aus dem Bett, ohne Nora zu wecken, und ging vorsichtig zur Tür. Der Flur draußen war wie die meisten Räume im Haus mit einem schwachen Nachtlicht ausgestattet, und im fahlen Schein sah Travis, daß das Geräusch von dem Hund kam. Einstein stand am Treppenansatz, hustete und schüttelte dauernd den Kopf.

Travis ging zu ihm, und der Retriever blickte auf. »Bist du okay?«

Ein schnelles Schweifwedeln: JA.

Er beugte sich vor und zerzauste dem Hund das Fell. »Ganz bestimmt?«

JA.

Eine Minute lang drängte sich der Hund an ihn und genoß es, gestreichelt zu werden. Dann wandte er sich von Travis ab, hustete ein paarmal und ging die Treppe hinunter.

Travis folgte ihm. In der Küche fand er Einstein vor seiner Schüssel, Wasser schlürfend.

Nachdem er die Schüssel geleert hatte, ging der Retriever in die Kammer, schaltete das Licht ein und begann Steine aus den Kunststoffschächten zu befördern.

DURSTIG.

»Bist du auch ganz sicher, daß dir nichts fehlt?«

JA. DURSTIG. TRAUM HAT MICH GEWECKT.

Überrascht sagte Travis: »Du träumst?«

DU NICHT?

»Ja. Viel zuviel.«

Er füllte die Wasserschüssel des Retrievers wieder auf, und Einstein leerte sie erneut, worauf Travis sie zum zweitenmal füllte. Jetzt hatte der Hund genug. Travis rechnete damit, daß er hinauswollte, um zu pinkeln, aber der Hund ging statt dessen wieder hinauf und machte es sich vor der Schlafzimmertür bequem, wo Nora immer noch schlief.

Im Flüsterton sagte Travis: »Hör zu, wenn du reinkommen und neben dem Bett schlafen willst, dann ist das schon in Ordnung.«

Genau das wollte Einstein. Er rollte sich auf Travis' Seite auf dem Boden ein.

In der Dunkelheit konnte Travis die Hand ausstrecken und sowohl die Schrotflinte als auch Einstein berühren. Die Anwesenheit des Hundes verschaffte ihm mehr Beruhigung als die Waffe.

6

Am Samstagnachmittag, genau zwei Tage nach Thanksgiving, stieg Garrison Dilworth in seinen Mercedes und fuhr langsam von seinem Haus weg. Zwei Straßen weiter wußte er, daß die NSA ihn noch immer beschattete. Es war ein grüner Ford, wahrscheinlich derselbe, der ihm letzten Abend gefolgt war.

Sie hielten reichlichen Abstand, und sie waren vorsichtig -aber er war schließlich nicht blind.

Er hatte Nora und Travis immer noch nicht angerufen. Weil man ihm überallhin folgte, argwöhnte er, daß man auch seine Telefone angezapft hatte. Er hätte zu einer öffentlichen Telefonzelle fahren können, aber er hatte Angst, die NSA könnte das Gespräch mit einem Richtmikrofon oder irgendeinem anderen Produkt der modernen Technik belauschen. Und wenn sie es fertigbrachten, die Wähltöne aufzuzeichnen, die er erzeugte, während er die Nummer der Cornells eintastete, dann konnten sie diese Töne leicht in Ziffern umsetzen und die Nummer in Big Sur ausfindig machen. Er würde sich irgendein Täuschungsmanöver einfallen lassen müssen, um ungefährdet Kontakt mit Travis und Nora aufnehmen zu können.

Er wußte, daß er sich beeilen mußte, damit nicht Travis oder Nora ihn vorher anriefen. Heutzutage konnte die NSA mit der ihr zur Verfügung stehenden Technik einen Anruf ebenso schnell zu seinem Ursprungsort zurückverfolgen, wie Garrison brauchte, um Travis zu sagen, daß die Leitung angezapft sei. Und so fuhr er am Samstagnachmittag um zwei Uhr, den grünen Ford im Geleit, zu Della Colbys Haus in Montecito, um sie zu einem faulen Nachmittag in der Sonne auf seinem Boot, der >Amazing Grace<, abzuholen. Zumindest hatte er ihr das am Telefon gesagt.

Della war die Witwe von Richter Jack Colby. Sie und Jack waren fünfundzwanzig Jahre lang seine und Francines besten Freunde gewesen, bis der Tod sie auseinandergerissen hatte. Jack war ein Jahr nach Francine gestorben. Della und Garrison hielten engen Kontakt; sie gingen häufig miteinander zu Abend essen, gingen tanzen, machten gemeinsame Spaziergänge und segelten miteinander. Zu Anfang war ihre Beziehung rein platonisch gewesen; sie waren einfach alte Freunde, die das Glück - oder das Unglück - hatten, die überdauert zu haben, die ihnen etwas bedeutet hatten. Und sie brauchten einander, weil sie so viele angenehme Erinnerungen teilten, die verblassen würden, wenn es niemanden mehr gab, mit dem man in ihnen schwelgen konnte. Vor einem Jahr, als sie sich plötzlich zusammen im Bett gefunden hatten, waren sie überrascht und von Schuldgefühlen überwältigt gewesen. Es war ihnen, als verrieten sie damit ihre Partner, obwohl Jack und Francine schon vor Jahren gestorben waren. Die Schuldgefühle vergingen natürlich, und jetzt waren sie einfach dankbar für die Gesellschaft und die sanft brennende Leidenschaft, die unerwarteterweise ihre spätherbstlichen Tage erhellte.

Als er in Dellas Einfahrt bog, kam sie aus dem Haus, versperrte die Haustür und eilte zu seinem Wagen. Sie trug Bootsschuhe, weiße Hosen, einen blau-weiß-gestreiften Sweater und eine blaue Windbluse. Sie war neunundsechzig und ihr kurzes Haar jetzt schneeweiß, aber sie sah um fünfzehn Jahre jünger aus.

Er stieg aus dem Mercedes, umarmte sie, gab ihr einen Kuß und sagte: »Können wir mit deinem Wagen fahren?«

Sie riß die Augen auf: »Hast du mit dem deinen Ärger?«

»Nein«, sagte er. »Ich würde nur lieber deinen nehmen.«

»Also gut.«

Sie fuhr ihren Caddy rückwärts aus der Garage, und er stieg auf der Beifahrerseite ein. Als sie in die Straße einbog, sagte er: »Ich fürchte, mein Wagen ist verwanzt, und ich möchte nicht, daß die hören, was ich dir zu sagen habe.«

Der Ausdruck, mit dem sie ihn ansah, war zum Malen.

Er lachte und meinte: »Nein, ich bin nicht über Nacht senil geworden. Wenn du beim Fahren in den Rückspiegel siehst, wirst du merken, daß man uns verfolgt. Die sind ziemlich gut und äußerst gerissen, aber unsichtbar sind sie nicht.«

Er ließ ihr Zeit, und nach ein paar Straßen sagte Della: »Der grüne Ford, nicht wahr?«

»Das sind sie.«

»Worauf hast du dich denn da eingelassen. Liebster?«

»Fahr nicht direkt zum Hafen. Fahr zum Farmer's Market, dort kaufen wir dann etwas frisches Obst. Anschließend fährst du zu einem Spirituosenladen, dort kaufen wir etwas Wein.

Bis dahin habe ich dir alles erzählt.«

»Du führst wohl ein Doppelleben, von dem ich nie etwas geahnt habe?« fragte sie und grinste ihn an. »Bist du eine Art greiser James Bond?«

Tags zuvor hatte Lem Johnson in einem beengend kleinen Büro im Gerichtsgebäude von Santa Barbara sein provisorisches Hauptquartier von neuem aufgeschlagen. Der Raum hatte ein einziges schmales Fenster. Die Wände waren dunkel, die Dek-kenleuchten so schwach, daß in den Ecken die Schatten hingen wie deplacierte Vogelscheuchen. Das ausgeliehene Mobiliar bestand aus Dingen, die andere Büros nicht mehr haben wollten. Er hatte nach dem Hockney-Mord von hier aus gearbeitet, aber eine Woche später, als es in der Gegend nichts mehr zu tun gab, hatten sie das Büro geschlossen. Jetzt eröff-nete Lem, in der Hoffnung, Dilworth werde sie zu den Cornells führen, das winzige Feldhauptquartier wieder, stöpselte die Telefone ein und wartete dann darauf, daß etwas passierte.

Er teilte das Büro mit einem Assistenten, Jim Vann, einem beinahe zu ernsten, zu diensteifrigen Fünfundzwanzigjährigen.

Im Augenblick leitete Cliff Soames das aus sechs Mann bestehende Team im Hafen, wobei er nicht nur als Vorgesetzter der in der Gegend verstreuten NSA-Agenten füngierte, sondern gleichzeitig auch die Überwachung Garrison Dilworths mit der Hafenstreife und der Küstenwache koordinierte. Offenbar wußte der schlaue alte Mann, daß man ihn beschattete, und deshalb rechnete Lem damit, daß er einen Ausbruchsversuch machen werde, daß er versuchen werde, seine Überwacher lange genug abzuschütteln, um die Cornells unbeobachtet anrufen zu können. Die logischste Methode, mit der Garrison seine Beschatter abschütteln konnte, war die, auf See hinauszufahren, hierauf entlang der Küste hinauf oder hinunter, dann mit einem Beiboot an Land zu gehen und Cornell anzurufen, ehe seine Verfolger ihn wieder entdecken konnten. Da stand ihm freilich eine Überraschung bevor: Die hiesige Hafenstreife würde ihn aus dem Hafen nach draußen begleiten; und auf See würde ihm ein Kutter der Küstenwache folgen, der sich für diesen Zweck bereithielt.

Um fünfzehn Uhr vierzig rief Cliff an, um zu berichten, Dilworth und seine Begleiterin säßen an Deck der >Amazing Gra-ce<, äßen dort Obst, sprächen dem Wein zu, schwelgten in alten Erinnerungen und lachten viel. »Nach allem, was wir mit Richtmikrofonen mithören können, und nach allem, was wir sehen können, glaube ich nicht, daß sie die Absicht haben, irgendwohin zu gehen. Höchstens vielleicht ins Bett. Ein richtig unternehmungslustiges altes Paar ist das.«

»Bleiben Sie dran«, sagte Lem. »Ich traue dem Burschen nicht.«

Ein weiterer Anruf kam von dem Team, das sich, nachdem Dilworth sein Haus verlassen hatte, in dieses eingeschlichen hatte. Sie hatten nichts gefunden, was in irgendeiner Weise auf die Cornells oder den Hund hindeutete.

Dilworths Büro war schon in der vergangenen Nacht sorgfältig durchsucht worden, und auch dort war nichts gefunden worden. Auch eine genaue Überprüfung seiner Telefonaufzeichnungen brachte die Nummer der Cornells nicht zutage; falls er sie in der Vergangenheit angerufen hatte, war das immer von einer Telefonzelle aus geschehen. Eine Überprüfung seiner AT&T-Kreditkartenaufzeichnungen förderte keine solchen Gespräche zutage. Falls er also wirklich ein öffentliches Telefon benutzt hatte, hatte er sich das Gespräch nicht berechnen lassen, sondern ein R-Gespräch mit den Cornells geführt oder bar bezahlt, so daß es jedenfalls keine Spuren gab. Was kein gutes Zeichen war. Offenbar war Dilworth schon vor dem Zeitpunkt, da er wußte, daß man ihn beobachtete, ausnehmend vorsichtig gewesen.

Am Samstag machte Travis sich Sorgen, der Hund könnte sich erkältet haben, und behielt ihn im Auge. Aber der Retriever nieste nur ein paarmal und hustete überhaupt nicht. Im übrigen schien er völlig fit.

Eine Spedition lieferte zehn große Kartons mit sämtlichen Gemälden Noras, die diese in Santa Barbara zurückgelassen hatte. Garrison Dilworth hatte vor ein paar Wochen die Gemälde auf den Weg gebracht und dazu als Absender die Adresse eines Freundes benutzt, um sicherzustellen, daß es keine Verbindung zwischen ihm und Nora >Aimes< gab.

Beim Auspacken der Gemälde, dabei im Wohnzimmer Unmengen von Seidenpapier auftürmend, schwebte Nora in höheren Sphären. Travis wußte, daß diese Arbeit viele Jahre lang ihr ganzer Lebensinhalt gewesen war, und konnte sehen, daß es ihr nicht nur große Freude bereitete, die Gemälde jetzt wieder bei sich zu haben, sondern daß es sie wahrscheinlich dazu anspornen würde, sich mit erneuter Begeisterung den neuen Bildern in ihrem Extra-Schlafzimmer zuzuwenden.

»Willst du Garrison anrufen und ihm danken?« fragte er.

»Ja, unbedingt!« sagte sie. »Aber zuerst wollen wir sie alle auspacken und uns vergewissern, daß keines davon beschädigt ist.«

Als Jachtbesitzer und Fischer verkleidet und überall im Hafen verteilt, beobachteten Cliff Soames und die anderen NSA-Leu-te Dilworth und Della Colby und belauschten sie elektronisch, während der Tag langsam verblaßte. Das Zwielicht senkte sich herab, und noch immer deutete nichts daraufhin, daß Dilworth vorhatte, aufs Meer hinauszufahren. Dann kam die Nacht, und immer noch machten der Anwalt und die Frau in seiner Begleitung keine Anstalten, irgend etwas zu unternehmen.

Eine halbe Stunde nach Einbruch der Dunkelheit war Cliff es leid, so zu tun, als würde er vom Heck einer Cheoy-Lee-Sportjacht von Sechsundsechzig Fuß Länge, die vier Schlippen von der Dilworths entfernt lag, fischen. Er ging die Treppe hinunter in die Steuerkabine und nahm Hank Gorner, dem Agenten, der das Gespräch der beiden alten Leute durch ein Richtmikrofon überwachte, die Kopfhörer ab. Er lauschte selbst.

»... Damals in Acapulco, als Jack das Fischerboot mietete ...« »... ja, die ganze Mannschaft hat ausgesehen wie Piraten!«

»... wir dachten schon, die würden uns die Hälse abschneiden und uns dann ins Meer werfen... «

»,.. und dann stellte sich raus, daß sie alle Theologiestudenten waren... «

»... die Missionare werden wollten ... und Jack sagte ...«

Cliff gab die Kopfhörer zurück und sagte: »Die quatschen ja immer noch!«

Der andere nickte. Die Kabinenbeleuchtung war ausgeschaltet, und Hanks Gesicht wurde nur von einer kleinen, mit Schirm versehenen Arbeitslampe über dem Kartentisch beleuchtet, so daß seine Gesichtszüge in die Länge gezogen und fremd wirkten. »So geht das jetzt schon den ganzen Tag. Zumindest haben sie 'ne Menge zu erzählen.«

»Ich geh' mal aufs Klo«, sagte Cliff müde. »Bin gleich zurück.«

»Meinetwegen können Sie sich zehn Stunden Zeit lassen.

Die laufen uns nicht weg.«

Als Cliff ein paar Minuten später zurückkam, nahm Hank Corner die Kopfhörer ab und sagte: »Die sind unter Deck gegangen.«

»Ist was?«

»Nicht das, was wir erwarten. Die geh'n jetzt ins Heu.«

»Oh.«

»Cliff, Mann, ich will mir das nicht anhör'n.«

»Doch«, beharrte Cliff.

Hank hielt sich einen der beiden Kopfhörer ans Ohr.

»Mann, jetzt zieh'n die einander aus, und dabei sind sie so alt wie meine Großeltern. Richtig peinlich ist das.«

Cliff seufzte.

»Jetzt sind sie still«, sagte Hank, und er runzelte die Stirn angewidert. »Jetzt fangen die jeden Augenblick zu stöhnen an, Cliff.«

»Sie sollen zuhören«, beharrte Cliff. Er schnappte sich sein Jackett vom Tisch und ging wieder hinaus, damit er nicht zuzuhören brauchte.

Er bezog Position am Heck und griff wieder nach seiner Angel.

Die Nacht war kühl genug, daß er das Jackett brauchte, aber ansonsten hätte sie nicht besser sein können. Die Luft war klar und süß, roch schwach nach Meer. Der mondlose Himmel war sternenübersät. Das Wasser klatschte einschläfernd gegen die Poller und die Rümpfe der vertäuten Boote. Irgendwo im Hafen auf einem anderen Boot spielte jemand Liebeslieder aus den vierziger Jahren. Eine Maschine arbeitete - wumm, wumm, wumm -, und an dem Geräusch war etwas Romantisches. Cliff dachte darüber nach, wie schön es doch wäre, ein Boot zu besitzen und eine lange Reise durch den südlichen Pazifik zu machen, zu Inseln, von Palmen beschattet...

Plötzlich brüllte diese vor sich hintuckernde Maschine auf, und Cliff begriff; daß es die >Amazing Grace< war. Während er sich aus seinem Stuhl erhob und die Angel fallen ließ, sah er, wie Dilworths Boot mit rücksichtslosem Tempo rückwärts aus seiner Schlippe schoß. Es war ein Segelboot, und Cliff hatte unbewußt nicht damit gerechnet, daß es sich mit eingerollten Segeln bewegen würde. Aber das Boot hatte einen Hilfsmotor; das wußten sie, darauf waren sie vorbereitet, und dennoch verblüffte es ihn. Er eilte in die Kabine zurück. »Hank, sehen Sie zu, daß Sie die Hafenstreife erreichen. Dilworth hat sich in Bewegung gesetzt.«

»Aber die sind doch in der Klappe.«

»Den Teufel sind sie!«

Cliff rannte auf das Vorderdeck hinaus und sah, daß Dil-worth die >Amazing Grace< bereits herumgedreht hatte und jetzt auf die Hafenmündung zustrebte. Keine Lichter achtern, am Ruder, nur ein kleines Licht ganz vorn. Herrgott, der wollte abhauen!

Als sie sämtliche hundert Leinwände ausgepackt, ein paar aufgehängt und den Rest in das unbenutzte Schlafzimmer getragen hatte, waren sie am Verhungern.

»Garrison ißt jetzt wahrscheinlich zu Abend«, sagte Nora.

»Ich will ihn nicht stören. Rufen wir ihn nach dem Essen an.« In der Kammer holte Einstein Buchstaben aus den Plastikschächten und buchstabierte ihnen eine Nachricht: ES IST DUNKEL.

Überrascht und über seine ganz untypische Sorglosigkeit beunruhigt, hastete Travis von Zimmer zu Zimmer, schloß die Läden und schob die Bolzen vor. Von Noras Gemälden fasziniert und von der Freude, die deren Ankunft bewirkte, mitgerissen, war ihm nicht einmal aufgefallen, daß die Nacht hereingebrochen war.

Auf halbem Weg zur Hafenmündung und überzeugt, die Distanz und das Dröhnen der Maschine schütze sie jetzt vor elektronischen Lauschern, sagte Garrison: »Bring mich dicht an die äußere Spitze des nördlichen Wellenbrechers am Rand des Hafenbeckens.«

»Bist du auch ganz sicher?« fragte Della besorgt. »Schließlich bist du kein Teenager mehr.«

Er tätschelte ihren Po und sagte: »Nein, ich bin besser.« »Träumer.«

Er küßte sie auf die Wange, schob sich an der Steuerbordreling nach vorne und machte sich sprungbereit. Er trug eine dunkelblaue Badehose. Eigentlich hätte er einen Taucheranzug anhaben sollen, weil das Wasser wahrscheinlich kalt sein würde; aber um den Wellenbrecher würde er wohl herumschwimmen können, und dann würde er sich an der Nordseite aus dem Wasser ziehen, wo man ihn vom Hafen aus nicht sehen konnte. Das alles würde in wenigen Minuten vorbei sein, lange bevor das kalte Wasser ihm zuviel Körperwärme entzogen hatte.

»Wir bekommen Gesellschaft!« rief Della vom Steuer aus.

Er blickte nach hinten und sah, daß ein Boot der Hafenstreife sich von der südlichen Pier löste und auf der Backbordseite auf sie zukam.

Die werden uns nicht aufhalten, dachte er, dazu haben sie kein Recht.

Aber er mußte von Bord gehen, ehe die Streife achtern Stellung bezog; von hinten würden sie es sehen, wenn er über die Reling sprang. Solange sie backbord waren, deckte die >Ama-zing Grace< sein Von-Bord-Gehen, und das phosphoreszierende Kielwasser des Bootes würde die ersten paar Sekunden auch nicht erkennen lassen, daß er um die Spitze des Wellenbrechers herumschwamm. So lange würde die Streife wohl ihre Aufmerksamkeit auf Dellas Weiterfahrt konzentrieren.

Sie fuhren mit der höchsten Geschwindigkeit, die Della sich zutraute, nach draußen. Das Boot arbeitete sich mit genügend Wucht durch die leicht kabbelige See, so daß Garrison sich an der Reling festhalten mußte. Trotzdem schien es, als bewegten sie sich enttäuschend langsam an der Steinmauer des Wellenbrechers entlang. Und die Hafenstreife rückte näher. Aber Garrison wartete. Er wartete, weil er nicht hundert Meter vor dem Ende des Hafenbeckens ins Wasser wollte. Wenn er zu bald sprang, konnte er nicht bis zur äußeren Spitze des Wellenbrechers schwimmen und ihn umrunden. Vielmehr mußte er dann geradenwegs auf den Wellenbrecher zuschwimmen und über ihn klettern, und die Beobachter würden ihn sehen können. Jetzt war die Streife auf hundert Meter herangekommen - er konnte sie sehen, wenn er sich aus seiner geduckten Stellung erhob und über das Kabinendach hinwegspähte. Jetzt schwang sie hinten herum, und Garrison konnte nicht länger warten ...

»Die Spitze!« rief Della vom Steuer aus.

Er warf sich über die Reling ins dunkle Wasser, weg vom Boot.

Die See war kalt, so kalt, daß sie ihm den Atem aus den Lungen preßte. Er sank, konnte die Oberfläche nicht finden, wurde von Panik erfaßt, schlug um sich und brach schließlich wieder zur Oberfläche durch, rang nach Luft.

Die >Amazing Grace< war noch überraschend nahe. Es kam ihm vor, als wäre er eine Minute oder länger unter der Wasseroberfläche gewesen, aber vermutlich hatte es nur ein oder zwei Sekunden gedauert, weil sein Boot noch nicht weit weg war. Auch die Hafenstreife war nahe, und er erkannte, daß selbst das aufgewühlte Kielwasser der >Amazing Grace< ihm nicht genügend Deckung bot; also holte er tief Luft und tauchte wieder, blieb unten, so lange er konnte. Als er wieder heraufkam, waren Della und ihre Verfolger an der Hafenmündung vorbei, schwenkten nach Süden, und er war vor Beobachtern sicher.

Die vom Land weggehende Gezeitenströmung trug ihn an der Spitze des Wellenbrechers vorbei, einer Mauer aus einzelnen Felsbrocken und Steinen, die sich mehr als sechs Meter über die Wasserlinie erhob und in der Nacht wie ein fleckiges, grauschwarzes Bollwerk wirkte. Er mußte nicht nur um das Ende der Barriere herumschwimmen, sondern dann gegen die Strömung auf das Land zu. Ohne weitere Verzögerung begann er zu schwimmen und fragte sich, warum in aller Welt er eigentlich gedacht hatte, dies wäre ein Kinderspiel.

Du bist fast einundsiebzig, sagte er sich, als er an der von einem Warnlicht für die Schiffahrt beleuchteten Felsspitze vorbeikraulte. Was ist eigentlich in dich gefahren, daß du den Helden spielst?

Aber er wußte, was es war: die feste Überzeugung, daß der Hund in Freiheit bleiben mußte, nicht als Eigentum der Regierung behandelt werden durfte. Wenn wir so weit gekommen sind, daß wir erschaffen können, so wie Gott erschafft, dann müssen wir auch lernen, mit der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit Gottes zu handeln. Das war es, was er Nora und Travis -und Einstein - gesagt hatte, in jener Nacht, als Ted Hockney ermordet worden war, und dabei war ihm jedes Wort bitterer Ernst gewesen.

Salzwasser brannte in seinen Augen, nahm ihm die Sicht.

Etwas davon war ihm in den Mund geraten und brannte an einer kleinen offenen Wunde an seiner Unterlippe.

Er kämpfte gegen die Strömung an, arbeitete sich an der Spitze des Wellenbrechers vorbei, war jetzt vom Hafen aus unsichtbar, kämpfte sich auf die Felsen zu. Als er sie endlich erreicht hatte, klammerte er sich am ersten Steinbrocken fest, den er greifen konnte, keuchte, hatte im Augenblick nicht die Kraft, sich aus dem Wasser zu ziehen.

In den Wochen, die verstrichen waren, seit Nora und Travis ihre Flucht angetreten hatten, hatte Garrison viel Zeit gehabt, über Einstein nachzudenken, und war jetzt noch überzeugter, daß es ein Akt höchster Ungerechtigkeit war, ein intelligentes Geschöpf einzusperren, das sich keines Verbrechens schuldig gemacht hatte, auch wenn der Gefangene nur ein Hund war. Garrison hatte sein Leben der Durchsetzung der Gerechtigkeit gewidmet, was die Gesetze einer Demokratie möglich machten, und damit hatte er auch für die Erhaltung jener Freiheit gekämpft, die aus dieser Gerechtigkeit erwuchs. Wenn ein Mann mit Idealen zu dem Schluß kommt, er sei zu alt, für das, woran er glaubt, alles zu riskieren, dann ist er nicht länger ein Mann der Ideale. Möglicherweise ist er dann nicht einmal mehr ein Mann. Diese harte Wahrheit hatte ihn trotz seiner Jahre dazu getrieben, die nächtliche Strapaze auf sich zu nehmen. Seltsam - daß ein langes, nach Idealen ausgerichtetes Leben nach sieben Jahrzehnten am Schicksal eines Hundes auf seine letzte Probe gestellt wurde.

Aber was für ein Hund das war!

Und was für eine wunderbare neue Welt, in der sie lebten!

Vielleicht würde man der Gentechnologie einen neuen Namen geben müssen, sie >Genkunst< nennen, denn jedes Kunstwerk war ein Akt der Schöpfung, und kein Akt der Schöpfung war größer oder schöner als die Erschaffung eines intelligenten Wesens.

Inzwischen ging sein Atem ruhiger, er stemmte sich aus dem Wasser, stand jetzt auf der leicht geneigten Nordflanke des Wellenbrechers. Die Barriere ragte zwischen ihm und dem Hafen auf, und er arbeitete sich landeinwärts an den Felsen entlang, während zu seiner Linken die See gegen die Steine krachte. Er hatte eine wasserdichte Taschenlampe bei sich, die er sich an die Badehose gesteckt hatte, und diese Lampe benutzte er jetzt, während er sich mit größter Vorsicht barfuß über die Felsen landeinwärts bewegte, aus Angst, er könnte auf den nassen Steinen ausgleiten und sich ein Bein oder einen Knöchel brechen.

Ein paar hundert Meter vor sich konnte er die Lichter der Stadt sehen und die undeutliche silberne Linie des Strandes.

Ihm war kalt, aber nicht mehr so kalt wie im Wasser. Sein Herz schlug rasch, aber nicht so rasch wie vorhin.

Er würde es schaffen.

Lem Johnson fuhr von seinem provisorischen Hauptquartier im Gerichtsgebäude hinunter zum Hafen, und Cliff erwartete ihn an der leeren Bootsschlippe, wo die >Amazing Grace< vertäut gewesen war. Ein leichter Wind war aufgekommen. Hunderte von Booten an den Docks schlingerten leicht an ihren Liegeplätzen; sie ächzten, die durchhängenden Leinen klirrten an den Masten. Die Lampen an der Pier und die Bootslaternen warfen Lichtmuster über das dunkle, ölige Wasser, wo vor kurzem Dilworths Zweiundvierzig-Fuß-Boot gelegen hatte. »Hafenstreife?« fragte Lem besorgt.

»Sie sind ihm auf die offene See hinaus gefolgt. Es sah aus, als wollte er nach Norden. Er fuhr dicht an die Spitze heran, schwenkte dann aber nach Süden.«

»Hat Dilworth sie bemerkt?«

»Mußte er ja. Sie sehen es ja selbst - kein Nebel, 'ne Menge Sterne, einwandfreie Sicht.«

»Gut. Ich möchte ja, daß er es weiß. Küstenwacht?«

»Ich habe mit dem Kutter gesprochen«, versicherte ihm Cliff. »Sie sind draußen, flankieren die >Amazing Grace< auf hundert Meter Distanz, auf Südkurs entlang der Küste.«

Lem fröstelte in der schnell kühler werdenden Nachtluft. Er meinte: »Die wissen, daß er versuchen könnte, in einem Gummiboot oder dergleichen an Land zu gehen?«

»Das wissen die«, sagte Cliff. »Vor ihrer Nase kann er das ja nicht.«

»Ist die Küstenwacht auch sicher, daß er sie sieht?«

»Die leuchten wie ein Christbaum.«

»Gut. Ich möchte, daß er weiß, daß er keine Chance hat.

Wenn wir es bloß schaffen, ihn davon abzuhalten, die Cornells zu warnen, dann werden die ihn über kurz oder lang anrufen - und dann haben wir sie. Selbst wenn sie ihn von einer Telefonzelle aus anrufen, wissen wir ungefähr, wo sie sind.«

Die NSA hatte nicht nur Dilworths Telefone bei ihm zu Hause und im Büro angezapft, sondern auch Geräte installiert, die eine Leitung sofort fixierten, sobald eine Verbindung hergestellt war, und diese Leitung auch dann noch freihielten, wenn beide Teilnehmer aufgelegt hatten, so lange, bis die Nummer des Anrufers und seine Adresse festgestellt und bestätigt waren. Selbst wenn Dilworth eine Warnung ausstieß, weil er die Stimme der Cornells erkannte, und im gleichen Augenblick auflegte, würde das bereits zu spät sein. Nur wenn er überhaupt den Hörer nicht mehr abnahm, konnte er versuchen, die Pläne der NSA zu durchkreuzen. Aber selbst das würde ihm nichts nützen, weil jedes eingehende Gespräch nach dem sechsten Klingeln automatisch von der NSA-Anlage >abgenommen< wurde, und dann war die Leitung frei, und die Peilprozedur wurde eingeleitet.

»Erledigt sind wir bloß«, meinte Lem, »wenn Dilworth an ein Telefon kommt, das wir nicht überwachen, und die Cornells warnt, ihn nicht anzurufen.«

»Dazu wird es nicht kommen«, sagte Cliff. »Wir sind dicht hinter ihm.«

»Sagen Sie das nicht!« meinte Lem beunruhigt. Der Wind erfaßte eine Haspe aus Metall und schleuderte sie gegen ein Tau. Das Geräusch ließ Lem zusammenzucken. »Mein alter Herr hat immer gesagt, das Schlimmste passiert dann, wenn man am wenigsten damit rechnet.«

Cliff schüttelte den Kopf. »Bei allem Respekt, Sir - je mehr ich Sie Ihren Vater zitieren höre, desto mehr glaube ich, daß er so ziemlich der größte Pessimist gewesen sein muß, der je gelebt hat.«

Lem sah sich um und betrachtete die schlingernden Boote und das vom Wind gepeitschte Wasser und hatte das Gefühl, als würde er sich bewegen, anstatt in einer sich bewegenden Welt stillzustehen. Dann sagte er leicht gekränkt: »Ja... auf seine Art war mein alter Herr ein großartiger Bursche, aber... unmöglich war er auch.«

Hank Corner rief: »Hallo!« Er kam von der Cheoy Lee, wo er und Cliff den ganzen Tag stationiert gewesen waren, die Pier heruntergerannt. »Ich habe gerade mit dem Kutter der Küstenwacht gesprochen. Die lassen ihren Scheinwerfer über die >Amazing Grace< wandern, damit die ein wenig unruhig werden, und sagen, daß sie Dilworth nicht sehen, bloß die Frau.«

»Aber, Herrgott, er lenkt doch das Boot!« sagte Lem.

»Nein«, widersprach Gorner. »Die >Amazing Grace< hat keine Lichter an, aber der Scheinwerfer der Küstenwacht beleuchtet das Ding, und die sagen, die Frau ist am Steuer.«

»Das ist schon in Ordnung. Er ist eben unter Deck«, sagte Cliff.

»Nein«, sagte Lem, und sein Herz fing an schneller zu schlagen. »In einem solchen Augenblick wäre der bestimmt nicht unter Deck. Der würde den Kutter beobachten und sich überlegen, ob er weiterfahren oder kehrtmachen soll. Er ist nicht auf der >Amazing Grace<.«

»Aber er muß doch! Er ist doch nicht von Bord gegangen, ehe sie die Pier verlassen hat.«

Lem starrte über den kristallklaren Hafen hinaus auf das Licht nahe am Ende des nördlichen Wellenbrechers. »Sie sagten, das verdammte Boot sei dicht an die Nordspitze herangefahren, und es habe so ausgesehen, als wollte er weiter nach Norden. Dann aber hat er plötzlich kehrtgemacht und ist auf Südkurs gegangen.«

»Scheiße!« sagte Cliff.

»Und dort ist er abgesprungen«, sagte Lem. »Draußen an der Spitze des Wellenbrechers. Ohne Gummiboot. Geschwommen ist er, bei Gott.«

»Dafür ist er zu alt«, protestierte Cliff.

»Offenbar nicht. Er ist um die Spitze herum auf die andere Seite geschwommen und jetzt zu einer Telefonzelle an einem der öffentlichen Strande im Norden unterwegs. Wir müssen ihn aufhalten, und zwar schnell.«

Cliff schrie durch seine zum Trichter geformten Hände die Vornamen der vier Agenten, die auf anderen Booten entlang der Piers verteilt waren. Seine Stimme trug trotz des Windes weit und hallte flach vom Wasser wider. Männer kamen gerannt, und noch während Cliffs Schreie über dem Hafen verhallten, sprintete Lem zu seinem Wagen auf dem Parkplatz. Das Schlimmste passiert dann, wenn man am wenigsten damit rechnet.

Travis war damit beschäftigt das Geschirr zu spülen, als Nora sagte: »Sieh dir das an.«

Er drehte sich um und sah, daß sie bei Einsteins Schüsseln stand. Das Wasser war weg, aber das halbe Abendessen hatte er stehenlassen.

»Hast du je erlebt, daß er auch nur ein Stück übrigläßt?« fragte sie.

»Nein.« Travis runzelte die Stirn und trocknete sich die Hände an einem Küchenhandtuch ab. »Die letzten paar Tage... Ich dachte immer, er hätte sich vielleicht erkältet, aber er sagt, es geht ihm gut. Und heute hat er nicht mehr so geniest oder gehustet wie die letzten Tage.«

Sie gingen ins Wohnzimmer, wo der Retriever mit Hilfe seiner Umblättermaschine ein Buch las.

Sie knieten neben ihm nieder, er blickte auf, und Nora sagte: »Bist du krank, Einstein?«

Der Retriever bellte einmal, leise: NEIN.

»Bist du auch sicher?«

Ein schnelles Schweifwedeln: JA.

»Du hast dein Abendessen nicht aufgegessen«, sagte Travis. Der Hund gähnte ausgiebig.

»Willst du damit sagen, daß du etwas müde bist?« fragte Nora.

JA.

»Wenn du dich krankfühlst«, sagte Travis, »dann sagst du uns das doch gleich, nicht wahr. Pelzgesicht?«

JA.

Nora bestand darauf, Einsteins Augen, Maul und Ohren nach Spuren einer Infektion zu inspizieren, sagte aber zu guter Letzt: »Nichts. Er scheint in Ordnung zu sein. Ich schätze, selbst Superhund hat das Recht, hin und wieder müde zu sein.«

Der Wind war schnell aufgekommen. Er war kalt und peitschte die Wellen höher auf als am Tag.

Vor Kälte scheppernd, erreichte Garrison das Ende des Wellenbrechers. Er war erleichtert, endlich die harten und manchmal scharfkantigen Steine verlassen und wieder sandigen Strand betreten zu können. Er war sicher, daß er sich beide Füße zerschunden hatte; sie fühlten sich heiß an, und sein linker Fuß tat bei jedem Schritt weh, so daß er hinkte.

Zuerst hielt er sich dicht an der Brandung, abseits von dem von Bäumen gesäumten Park, der hinter dem Strand begann. Drüben, wo die Wege von Parklampen beleuchtet waren und einzelne Scheinwerfer Palmen anstrahlten, wäre er von der Straße aus leichter zu sehen gewesen. Er rechnete nicht damit,

daß jemand ihn suchte; er war sicher, daß sein Trick funktioniert hatte. Aber falls doch jemand nach ihm Ausschau hielt, wollte er jetzt nicht auf sich aufmerksam machen.

Der böige Wind fetzte Schaum von den hereinrollenden Brechern und warf ihn Garrison ins Gesicht, so daß er das Gefühl hatte, dauernd durch Spinnennetze zu laufen. Das Zeug brannte in den Augen, die jetzt endlich aufgehört hatten, vom Salzwasser zu brennen, und er sah sich schließlich gezwungen, die Brandungsfront zu verlassen und weiter den Strand hinaufzugehen, wo der weichere Sand langsam in Rasen überging, aber immer noch außerhalb der Reichweite der Lichter war.

Junge Leute waren am dunklen Strand, für die Kühle der Nacht gekleidet: Paare auf Decken, aneinandergeschmiegt, kleine Gruppen, die haschten und Musik hörten. Acht oder zehn Halbwüchsige hatten sich um zwei Geländefahrzeuge mit Ballonreifen versammelt, die tagsüber am Strand nicht erlaubt waren und wahrscheinlich nachts auch nicht. Sie tranken Bier neben einer Grube, die sie in den Sand gebuddelt hatten, um ihre Flaschen zu verstecken, falls ein Polizist herannahen sollte; sie führten laute, prahlerische Reden über Mädchen und alberten herum. Niemand würdigte Garrison mehr als eines Blickes, während er vorbeieilte. In Kalifornien waren Gesundheitsfanatiker ein etwa ebenso vertrauter Anblick wie Straßenräuber in New York, und wenn ein alter Mann im kalten Meer schwimmen und in der Dunkelheit am Strand entlanglaufen wollte, dann war das nicht auffälliger als ein Priester in der Kirche.

Während er in nördliche Richtung ging, suchte Garrison den Park zu seiner Rechten nach Telefonzellen ab; sie würden wahrscheinlich in Paaren stehen, auffällig beleuchtet, auf Betoninseln neben einem der Wege oder vielleicht nahe bei den öffentlichen Toiletten.

Er begann zu verzweifeln. Ganz bestimmt hatte er bereits mindestens ein solches Paar übersehen, weil seine alten Augen ihn im Stich ließen. Aber dann sah er, was er suchte: zwei Telefonzellen mit seitlichen Abdeckungen, die an Flügel erinnerten und Geräusche abschirmen sollten. Hell beleuchtet. Sie standen etwa dreißig Meter strandeinwärts, auf halbem Wege zwischen dem Sand und der Straße, die die andere Seite des Parks begrenzte.

Er wandte der aufgewühlten See den Rücken, wurde langsamer, damit seine Atemzüge ruhiger werden sollten, und schritt über das Gras bis unter die windzerzausten Wedel von drei stattlichen Königspalmen. Er war immer noch gute zehn Meter von den Telefonen entfernt, als er sah, wie ein mit hoher Geschwindigkeit fahrender Wagen plötzlich bremste, mit quietschenden Reifen an den Randstein kurvte und direkt vor den Telefonen hielt. Garrison wußte nicht, wer in dem Wagen saß, beschloß aber, kein Risiko einzugehen. Er duckte sich hinter eine alte, doppelstämmige Dattelpalme, die glücklicherweise nicht wie so viele andere mit dekorativen Scheinwerfern ausgestattet war. Zwischen den beiden Stämmen hindurch konnte er auf die Telefone und einen Teil des Weges an den Randsteinen sehen.

Zwei Männer stiegen aus dem Wagen. Einer rannte in nördlicher Richtung am Park entlang, blickte dabei immer wieder auf den Strand hinaus, suchte etwas.

Der andere eilte geradenwegs in den Park hinein. Als er die beleuchtete Fläche um die Telefone erreicht hatte, war seine Identität klar - und ein Schock.

Lemuel Johnson.

Hinter den Stämmen der siamesischen Dattelpalmen legte Garrison die Arme an. Er war zwar sicher, daß die zwei Stämme ihm genügend Deckung gaben, versuchte aber trotzdem, sich schmaler zu machen.

Johnson ging an das erste Telefon, nahm den Hörer ab -und versuchte ihn aus dem Apparat zu reißen. Es war eine jener flexiblen Metallschnüre, und er riß ein paarmal heftig daran, aber ohne Erfolg. Schließlich riß er den Hörer mit einem Fluch heraus und warf ihn in den Park. Dann zerstörte er das zweite Telefon.

Als Johnson sich von den Telefonen abwandte und geradenwegs auf Garrison zuging, dachte der Anwalt einen Augenblick lang, er habe ihn gesehen. Aber Johnson blieb nach nur wenigen Schritten stehen und suchte das der See zugewandte Parkstück und den Strand dahinter ab. Sein Blick schien nicht einmal einen Augenblick lang an den Dattelpalmen hängenzubleiben, hinter denen Garrison sich verborgen hielt.

»Du verdammter, verrückter alter Schweinehund«, sagte Johnson, dann eilte er zu seinem Wagen zurück.

Im Schatten hinter den Palmen kauerte Garrison und grinste, weil er wußte, wen der NSA-Mann gemeint hatte. Plötzlich machte dem Anwalt der kalte Wind nichts mehr aus, der von der nächtlichen See hereinwehte.

Verdammter, verrückter alte Schweinehund oder greiser James Bond - kannst dir's aussuchen. Doch wie auch immer -er war immer noch ein Mann, mit dem man rechnen mußte.

In der im Keller befindlichen Schaltzentrale der Telefongesellschaft überwachten die Agenten Rick Olbier und Denny Jones am elektronischen Peilgerät der NSA Garrison Dilworths Telefonleitungen aus seinem Büro und seinem Haus. Es war ein höchst langweiliger Dienst, und sie spielten Karten, um sich die Zeit zu vertreiben: Binokel und Romme, beides keine besonders spannenden Spiele; aber schon der Gedanke an ein Poker zu zweit war ihnen zuwider.

Als um zwanzig Uhr vierzehn ein Anruf bei Dilworths Privatnummer durchkam, reagierten Olbier und Jones viel hektischer darauf, als es die Situation rechtfertigte, weil sie geradezu nach Abwechslung gierten. Olbier ließ seine Karten auf den Boden fallen, Jones warf die seinen auf den Tisch, und sie griffen nach den zwei Kopfhörern, als wäre dies der Zweite Weltkrieg und sie rechneten damit, gleich ein streng geheimes Gespräch zwischen Hitler und Göring abzuhören.

Ihre Anlage war so eingestellt, daß die Leitung frei wurde und einen Teilimpuls absetzte, wenn Dilworth beim nächsten Klingeln nicht abhob. Da Olbier wußte, daß der Anwalt nicht zu Hause war und deshalb niemand an den Apparat gehen würde, griff Olbier in das Programm ein und machte die Leitung nach dem zweiten Klingeln frei.

Auf dem Bildschirm des Computers verkündeten grüne Buchstaben: PEILUNG LÄUFT.

Und über die offene Leitung sagte eine Männerstimme: »Hallo?«

»Hallo«, sagte Jones in das an seinem Kopfhörer befestigte Mikrofon.

Die Nummer des Anrufers und die Adresse in Santa Barbara erschienen auf dem Bildschirm. Dieses System arbeitete ähnlich wie der 911-Polizeicomputer und lieferte eine sofortige Identifikation der anrufenden Stelle. Aber jetzt erschien über der Adresse auf dem Bildschirm der Name einer Firma und nicht etwa der einer Einzelperson: TELEFON MARKETING, INC.

Der Anrufer sagte jetzt zu Danny Jones: »Es freut mich. Ihnen mitteilen zu können, daß Sie gezogen worden sind und eine Gratisvergrößerung sechzehn mal achtzehn und zehn Gratis Vergrößerungen im Kleinformat... «

»Wer spricht denn da? » fragte Jones.

Der Computer war inzwischen bereits dabei, die Datenbanken der Adressen von Santa Barbara abzusuchen, um den Anrufer zu überprüfen.

Die Stimme am Telefon sagte: »Ich rufe im Auftrag von Olin Mills an, dem Fotostudio, wo die beste Qualität...«

»Augenblick!« sagte Jones.

Der Computer bestätigte die Identität des Teilnehmers, der den Anruf getätigt hatte; Dilworth erhielt ein Angebot, das war alles.

»Ich brauche keine Fotos!« sagte Jones scharf und trennte die Verbindung.

»Scheiße!« sagte Olbier.

»Binokel?« fragte Jones.

Lem forderte zusätzlich zu den sechs Mann, die im Hafen eingesetzt waren, weitere vier an.

Fünf postierte er in Abständen von ein paar hundert Metern am Rand des Parks. Ihre Aufgabe bestand darin, die breite Avenue zu beobachten, die den Park von einem Geschäftsviertel mit einer Menge Motels, Restaurants, Eisbuden, Andenkenläden und anderen Verkaufsgeschäften trennte. Alle diese Geschäfte hatten natürlich Telefon, und in einigen der Motels gab es möglicherweise auch Telefonautomaten an der Rezeption. Wenn der Anwalt einen dieser Apparate benutzte, würde er Travis und Nora Cornell ohne Mühe alarmieren können. Einige der Geschäfte waren um diese Zeit am Samstagabend geschlossen, einige andere - darunter sämtliche Restaurants -waren geöffnet. Dilworth durfte die Straße nicht überqueren.

Der Wind von der See herein wurde steifer und kälter. Die Männer standen mit den Händen in den Jackettaschen und mit eingezogenem Kopf da und fröstelten.

Plötzliche Windstöße ließen die Palmwedel rascheln. In den Bäumen nistende Vögel stießen erschreckt schrille Schreie aus, beruhigten sich dann wieder.

Lem schickte einen weiteren Mann in die Südwestecke des Parks, wo der Wellenbrecher, der den öffentlichen Strand vom Hafen auf der anderen Seite trennte, begann. Seine Aufgabe war es, Dilworth daran zu hindern, zum Wellenbrecher zurückzukehren, ihn zu übersteigen und sich quer durch den Hafen zu Telefonen in einem anderen Teil der Stadt durchzuschlagen.

Ein siebenter Mann wurde zur Nordwestecke des Parks geschickt, unten am Wasser, um sicherzustellen, daß Dilworth nicht nordwärts in ein Wohngebiet ging, wo er vielleicht jemanden dazu überreden könnte, ihn seinen Apparat benutzen zu lassen.

Blieben Lem, Cliff und Hank, um den Park und den daran anschließenden Strand durchzukämmen. Lem, wußte, daß er für diese Aufgabe zuwenig Leute hatte, aber diese zehn -plus Olbier und Jones in der Telefongesellschaft - waren die einzigen, die ihm in der Stadt zur Verfügung standen. Es hatte wenig Sinn, weitere Agenten aus Los Angeles kommen zu lassen; bis sie eintrafen, hatte man Dilworth entweder gefunden und aufgehalten - oder es war ihm gelungen, die Cornells anzurufen.

Der Geländewagen war mit einem Planenbügel ausgestattet.

Er hatte vorne zwei Einzelsitze und dahinter eine eineinviertel Meter lange Ladefläche, die zur Aufnahme zusätzlicher Passagiere oder beträchtlicher Ladung geeignet war.

Garrison lag ausgestreckt auf der Ladefläche unter einer Decke. Zwei Halbwüchsige saßen vorne auf den Sitzen, zwei hatten sich auf der Ladefläche über Garrison verteilt, so als säßen sie auf einem Deckenstapel. Sie gaben sich Mühe, sich so leicht wie möglich zu machen, daß Garrison es möglichst wenig spürte, aber er hatte trotzdem das Gefühl, zerdrückt zu werden.

Der Motor klang wie zornige Wespen: ein hohes, hartes Surren. Garrison machte es halb taub, weil sein rechtes Ohr auf dem Boden auflag, der jede Schwingung verstärkt weitergab.

Zum Glück bot der Strand weichen Untergrund.

Das Fahrzeug verlangsamte seine Fahrt, das Motorengeräusch wurde wesentlich leiser.

»Scheiße!« flüsterte einer der jungen Leute Garrison zu.

»Dort vorne ist ein Typ mit einer Taschenlampe und gibt Zeichen, daß wir anhalten sollen.«

Sie hielten, und Garrison hörte über dem wispernden Leerlaufgeräusch der Maschine einen Mann sagen: »Wo fahrt ihr denn hin, Jungs?«

»Den Strand hinauf.«

»Das ist Privatbesitz. Habt ihr dort etwas zu suchen?«

»Dort wohnen wir«, antwortete Tommy, der Fahrer. »Wirklich?«

»Sehen wir nicht wie verzogene Kinder reicher Eltern aus?« fragte einer von ihnen und spielte den Schlaumeier.

»Was habt ihr denn gemacht?« fragte der Mann argwöhnisch.

»Am Strand auf und ab gefahren, rumgelungert. Aber dann ist's kalt geworden.«

»Habt ihr getrunken?«

Schwachkopf, dachte Garrison. Du redest mit Halbwüchsigen, armen Geschöpfen, deren Hormonhaushalt sie die nächsten paar Jahre zur Rebellion gegen jede Autorität zwingt. Ich habe ihr Mitgefühl, weil ich auf der Flucht vor den Bullen bin, und sie haben meine Partei ergriffen, ohne auch nur zu wissen, was ich getan habe. Wenn du willst, daß sie dich unterstützen, dann schaffst du das nie, wenn du sie unter Druck setzt.

»Getrunken? Verdammt, nein«, sagte ein anderer Junge. »Schauen Sie doch in der Kühlbox hinten nach, wenn Sie Lust haben. Da ist bloß Cola drin.«

Garrison, der an die Eisbox gepreßt lag, hoffte, der Mann werde nicht nachsehen. Wenn der Bursche so nahe rankam, würde er fast sicher sehen, daß unter der Decke, auf der die Jungs saßen, etwas war, das menschliche Umrisse hatte.

»Cola, wie? Was für Bier habt ihr denn mitgehabt, ehe .ihr es alles getrunken habt?«

»He, Mann«, sagte Tommy, »was soll der Scheiß? Sind Sie vielleicht ein Bulle?«

»Ja, bin ich.«

»Wo ist dann Ihre Uniform?« fragte einer der Jungs.

»Das ist ein Zivileinsatz. Hört zu, ich hab' nichts dagegen, euch weiterfahren zu lassen, und will nicht einmal nachsehen, ob ihr nach Alkohol riecht oder so. Aber ich muß was wissen - habt ihr heute nacht am Strand einen weißhaarigen Kerl gesehen?« »Wer interessiert sich schon für weißhaarige Typen?« fragte einer der Halbwüchsigen. »Wir haben bloß nach Mädchen gesucht.«

»Den alten Typen hättet ihr bemerkt, wenn ihr ihn gesehen hättet. Wahrscheinlich hatte er eine Badehose an.«

»In dieser Nacht?« sagte Tommy. »Ist doch fast Dezember, Mann. Spüren Sie den Wind?«

»Vielleicht hat er drüber was angehabt.«

»Ich hab' ihn nicht gesehen«, erklärte Tommy. »Keinen alten Knaben mit weißem Haar. Hat von euch einer ihn gesehen?« Die anderen drei sagten, sie hätten keinen alten Furzer gesehen, auf den diese Beschreibung passe, und dann durften sie weiterfahren, nach Norden, in ein Wohngebiet mit Strandhäusern und Privatstränden.

Als sie eine kleine Hügelkuppe umrundet hatten und außer Sichtweite des Mannes waren, der sie aufgehalten hatte, zogen sie die Decke von Garrison, und er setzte sich - beträchtlich erleichtert - auf.

Tommy ließ die drei anderen Halbwüchsigen bei ihren Häusern aussteigen und nahm Garrison mit sich nach Hause, weil seine Eltern den Abend ausgegangen waren. Er wohnte in einem Haus, das wie ein Schiff mit mehreren Decks aussah und über eine Felsklippe gebaut war. Das Haus bestand fast nur aus Glas und Ecken.

Garrison folgte Tommy in die Eingangshalle und konnte in einem Spiegel einen Blick auf sich selbst erhaschen. Von dem würdevollen silberhaarigen Rechtsanwalt, den in den Gerichtssälen der Stadt jeder kannte, war nicht viel übriggeblieben. Sein Haar war naß und verklebt, sein Gesicht schmutzig. Sand, Grashalme und Seetang klebten ihm an der Haut. Er grinste.

»Hier drin ist ein Telefon«, rief Tommy aus einem der Zimmer.

Nachdem sie das Abendessen zubereitet, gegessen und saubergemacht hatten, unterhielten sie sich wieder besorgt über Einsteins Appetitlosigkeit und vergaßen Garrison Dilworth

anzurufen und ihm für die Mühe zu danken, die er sich mit ihren Gemälden gemacht hatte. Sie saßen vor dem offenen Kamin, als es Nora wieder einfiel.

Wenn sie in der Vergangenheit Garrison angerufen hatten, hatten sie das von öffentlichen Telefonzellen in Carmel aus getan. Das hatte sich als überflüssige Vorsichtsmaßregel erwiesen. Jetzt, an diesem Abend, war keiner von beiden in der Stimmung, in den Wagen zu steigen und in die Stadt zu fahren. »Wir könnten warten und ihn morgen von Carmel aus anrufen«, sagte Travis.

»Es ist völlig ungefährlich, ihn von hier aus anzurufen«, sagte sie. »Wenn die eine Verbindung zwischen dir und Garrison herausgefunden hätten, hätte er angerufen und uns gewarnt.«

»Vielleicht weiß er gar nicht, daß sie die Verbindung herausgefunden haben«, sagte Travis. »Vielleicht weiß er nicht, daß sie ihn beobachten.«

»Garrison würde das ganz bestimmt wissen«, sagte sie entschieden.

Travis nickte. »Ja, ganz sicher würde er das.«

»Also ist es ungefährlich, ihn anzurufen.«

Sie war auf halbem Wege zum Telefon, als es klingelte.

Die Vermittlung war in der Leitung. »Ich habe hier ein R-Gespräch von einem Mr. Garrison Dilworth in Santa Barbara. Nehmen Sie das Gespräch an?«

Ein paar Minuten vor zehn, nach einer gründlichen, aber erfolglosen Durchsuchung des Parks und der Strandzone, mußte Lem sich widerstrebend eingestehen, daß Garrison Dilworth ihm irgendwie entwischt war. Er schickte seine Leute zum Gerichtsgebäude und in den Hafen zurück.

Er und Cliff fuhren ebenfalls zum Hafen und der Sportjacht, von der aus sie Dilworth überwacht hatten: Als sie den Küstenwachtkutter anriefen, der die >Amazing Grace< verfolgte, erfuhren sie, daß die Begleiterin des Anwalts kurz vor Ventura umgekehrt war und jetzt in nördlicher Richtung die Küste herauffuhr, zurück nach Santa Barbara.

Sie erreichte den Hafen um zweiundzwanzig Uhr sechsunddreißig.

An der leeren Schlippe, die Garrison gehörte, standen Lem und Cliff mit hochgezogenen Schultern im kalten Wind und

sahen zu, wie die Frau den Anlegeplatz elegant ansteuerte. Es war ein wunderschönes Boot, und sie manövrierte es äußerst geschickt.

Sie hatte tatsächlich die Frechheit, sie anzurufen: »Stehen Sie doch nicht so da! Nehmen Sie die Leinen und helfen Sie mit, das Boot festzubinden!«

Sie taten ihr den Gefallen, hauptsächlich, weil sie darauf erpicht waren, mit ihr zu reden, und das nicht tun konnten, solange die >Amazing Grace< nicht vertäut war.

Nachdem sie Hilfe geleistet hatten, traten sie durch die Öffnung in der Reling. Cliff trug Segelschuhe, als Teil seiner Verkleidung, Lem aber hatte Straßenschuhe an und bewegte sich auf dem nassen Deck ganz und gar nicht sicher, vor allem weil das Boot etwas schwankte.

Ehe sie zu der Frau ein Wort sagen konnten, ertönte hinter ihnen eine Stimme: »Erlauben Sie, Gentlemen ...«

Lem drehte sich um und sah, wie Garrison Dilworth im Schein einer Docklampe gerade hinter ihnen an Bord ging. Er trug fremde Kleider. Seine Hosen waren ihm in der Taille viel zu weit und mit einem Gürtel zusammengerafft. An den Beinen waren sie zu kurz, so daß seine nackten Knöchel sichtbar waren. Er trug ein ausladendes Hemd.

»Bitte, entschuldigen Sie mich, aber ich muß mir meine eigenen warmen Kleider anziehen und eine Tasse Kaffee trinken ... «

Lem sagte: »Gottverdammt noch mal!«

»... um meine alten Knochen etwas aufzutauen.«

Nach einem erstaunten Aufstöhnen lachte Cliff Soames bellend, warf dann Lem einen Blick zu und sagte: »Tut mir leid.«

Lems Magen verkrampfte sich, es brannte, als begänne sich ein Geschwür zu entwickeln. Er zuckte aber nicht im Schmerz, krümmte sich nicht zusammen, legte nicht einmal die Hand an den Leib, ließ keinerlei Anzeichen von Unbehagen erkennen, weil jedes solches Zeichen Dilworths Triumphgefühl noch gesteigert hätte. Lem starrte den Anwalt bloß an, dann die Frau und ging, ohne ein Wort zu sagen.

»Dieser verdammte Retriever«, sagte Cliff, während er sich Lems Schrittempo auf der Pier anpaßte, »hat sich verdammt viele treue Freunde geschaffen.«

Als Lem Johnson sich dann später in einem Motel schlafenlegte, weil er zu müde war, um das provisorische Büro noch in dieser Nacht zu schließen und nach Orange County heimzufahren, dachte er über das nach, was Cliff gesagt hatte: Treue Freunde. Verdammt viele treue Freunde.

Lem fragte sich, ob er je gegenüber irgend jemandem solch starke Bande der Treue empfunden hatte wie die Cornells und Garrison Dilworth offenbar in bezug auf den Retriever. Er wälzte sich im Bett herum, konnte nicht einschlafen und erkannte schließlich, daß es keinen Sinn hatte, weiter zu versuchen, abzuschalten, bevor er nicht zu der beruhigenden Erkenntnis gelangt war, daß auch er zu dem Maß an Treue und Ergebenheit fähig sei wie die Cornells und ihr Anwalt.

Er setzte sich in der Dunkelheit auf und lehnte sich gegen das Kopfteil des Bettes.

Nun, sicher, er war seinem Land gegenüber verdammt loyal, er liebte und ehrte es. Und der Agency gegenüber ebenfalls. Aber einem anderen Menschen gegenüber? Also gut: Karen, seine Frau. Karen war er in jeder Beziehung treu - im Herzen, in seinem Bewußtsein und in seinen Keimdrüsen. Er liebte Karen. Seit fast zwanzig Jahren liebte er sie innig.

»Ja«, sagte er laut in dem Motelzimmer um zwei Uhr morgens, »ja, und wenn du Karen so treu bist, warum bist du dann jetzt nicht bei ihr?«

Aber da war er jetzt sich selbst gegenüber unfair; schließlich hatte er einen Auftrag zu erledigen, einen wichtigen Auftrag. »Das ist ja das Problem«, murmelte er, »da ist immer - immer - irgend etwas zu erledigen. »

Er verbrachte mehr als hundert Nächte im Jahr außer Haus, eine von dreien. Und wenn er zu Hause war, dann hatte er die Hälfte der Zeit anderes im Kopf, war auf den neuesten Fall konzentriert. Karen hatte sich einmal Kinder gewünscht, aber Lern hatte es immer wieder hinausgeschoben, eine Familie zu gründen, mit dem Hinweis, er könne die Verantwortung für Kinder nicht auf sich nehmen, solange er nicht seine Laufbahn gesichert sehe.

»Gesichert?« sagte er. »Mann, du hast das Geld von deinem alten Herrn geerbt. Du hast mit einem besseren Sicherheitspolster angefangen als die meisten Leute.«

Wenn er Karen so treu war wie jene Leute diesem Köter, dann müßte das auch bedeuten, daß Karens Wünsche Vorrang hatten. Wenn Karen eine Familie wollte, dann müßte die Familie Vorrang vor der Karriere haben. Stimmt's? Zumindest hätte er einen Kompromiß schließen und mit der Familie anfangen sollen, als sie Anfang Dreißig waren. Seine Zwanziger hätten der Laufbahn gewidmet sein können, seine Dreißiger den Kindern. Jetzt war er fünfundvierzig, fast sechsundvierzig, und Karen war dreiundvierzig, und die Zeit, eine Familie zu gründen, war vorbei.

Lem überkam große Einsamkeit.

Er stieg aus dem Bett, ging in Unterhosen ins Bad, schaltete das Licht ein und musterte sein Spiegelbild. Seine Augen waren blutunterlaufen und lagen tief in den Höhlen. Er hatte bei diesem Fall so viel Gewicht verloren, daß sein Gesicht anfing, wie ein Totenschädel auszusehen.

Magenkrämpfe packten ihn, er beugte sich vor, hielt sich am Waschbecken fest. Das ging erst einen Monat so, aber sein Zustand schien sich in erschreckendem Tempo zu verschlimmern.

Es dauerte endlos, bis der Schmerz aufhörte.

Als er sich wieder seinem Abbild im Spiegel gegenübersah, sagte er: »Nicht einmal dir selbst bist du treu, du Arschloch.

Du bringst dich um, arbeitest dich zu Tode und kannst einfach nicht aufhören. Karen bist du nicht treu, dir selbst bist du nicht treu. Nicht einmal deinem Land oder der Agency bist du richtig treu, wenn es darauf ankommt. Verdammt, das einzige, dem du völlig und unerschütterlich ergeben bist - ist diese Spinnervision deines alten Herrn, daß das Leben ein Hochseilakt ist.«

Spinner.

Das Wort schien noch lange, nachdem er es ausgesprochen hatte, im Badezimmer nachzuhallen. Er hatte seinen Vater geliebt und respektiert, ihm nie mit einem Wort widersprochen.

Und doch hatte er heute Cliff gegenüber zugegeben, daß sein Vater >unmöglich< gewesen war. Und jetzt: >Spinnervision<. Er liebte seinen Vater immer noch, würde das immer tun. Aber er begann sich zu fragen, ob ein Sohn seinen Vater lieben und gleichzeitig das, was dieser ihn gelehrt hatte, völlig verwerfen konnte.

Vor einem Jahr, vor einem Monat, ja noch vor ein paar Tagen hätte er gesagt, es sei unmöglich, jene Liebe festzuhalten und doch Herr seines Handelns zu sein. Aber jetzt, bei Gott, schien es nicht nur möglich, sondern wesentlich, die Liebe zum Vater zu trennen von dessen Lehre von der alles überragenden Wichtigkeit der Arbeit.

Was geschieht mit mir? fragte er.

Freiheit? Endlich die Freiheit mit fünfundvierzig?

Er schaute mit zusammengekniffenen Augen in den Spiegel und sagte: »Fast sechsund vierzig.«

NEUN

1

Am Sonntag fiel Travis auf, daß Einstein noch weniger Appetit hatte, aber am Montag, dem 29. November, schien der Retriever wieder ganz in Ordnung zu sein. Am Montag und Dienstag leerte Einstein seine Schüssel bis auf den Boden und las neue Bücher. Er nieste nur einmal, hustete überhaupt nicht. Er trank mehr Wasser als sonst, doch auch nicht in ungewöhnlicher Menge. Wenn es den Anschein hatte, als verbringe er mehr Zeit vor dem Kamin, trotte weniger munter durchs Haus ... nun, der Winter zog schnell herauf, und das Verhalten der Tiere änderte sich schließlich mit den Jahreszeiten.

In einer Buchhandlung in Carmel kaufte Nora eine Ausgabe von Veterinärmedizin für Hundebesitzer<. Sie verbrachte ein paar Stunden am Küchentisch mit Lesen und setzte sich mit Einsteins Symptomen auseinander und dem, was sie möglicherweise zu bedeuten hatten. Sie fand heraus, daß Lustlosigkeit. Niesen, Husten, Appetitlosigkeit und ungewöhnlicher Durst hundert unterschiedliche Gebrechen bedeuten konnten - oder überhaupt nichts. »So ziemlich das einzige, was es nicht sein kann, ist eine Erkältung«, sagte sie. »Hunde erkälten sich nicht wie wir.« Aber als sie das Buch anschaffte, hatten sich Einsteins Symptome ohnehin so weit gelegt, daß sie daraus den Schluß zog, er sei wahrscheinlich völlig gesund.

In der Speisekammer neben der Küche benutzte Einstein die Scrabble-Steine, um ihnen mitzuteilen:

FIT WIE EINE FIEDEL.

Travis kauerte neben dem Hund nieder und streichelte ihn, und dabei sagte er: »Nun, du mußt es ja wissen«, und fragte sich, wo der Hund wohl diese Redewendung aufgepickt habe.

WARUM SAGT MAN: FIT WIE EINE FIEDEL?

Travis legte die Steine in die Plastikschächte zurück und sagte: »Nun, das bedeutet genausoviel wie ... gesund.«

ABER WARUM BEDEUTET ES GESUND?

Travis dachte über die Redewendung - fit wie eine Fiedel - nach und mußte erkennen, daß er einfach nicht wußte, weshalb sie eben das bedeutete. Er fragte Nora, die gerade ins Zimmer kam, aber auch sie konnte den Satz nicht erklären.

Der Retriever holte sich weitere Buchstaben, schob sie mit der Nase herum und fragte:

WARUM SAGEN: GESUND WIE EIN DOLLAR?

»Gesund wie ein Dollar - das heißt verläßlich, eben auch gesund«, sagte Travis.

Nora kauerte sich neben ihnen nieder und meinte zu dem Hund gewandt: »Die Redewendung ist einfach. Früher einmal war der amerikanische Dollar die gesündeste, stabilste Währung auf der ganzen Welt. Wahrscheinlich ist er das immer noch. Jahrzehntelang gab es beim Dollar bei weitem keinen so schrecklichen Kursverfall wie bei einigen anderen Währungen; man hatte keinen Anlaß, den Glauben an den Dollar zu verlieren. Also sagten die Leute: >Ich bin so gesund wie ein Dollar.< Natürlich ist der Dollar nicht mehr das, was er einmal war, und der Satz paßt nicht mehr so gut, aber wir benutzen ihn immer noch.«

WARUM IMMER NOCH BENUTZEN?

»Weil... wir ihn immer benutzt haben«, sagte Nora und zuckte die Achseln.

WARUM SAGEN GESUND WIE EIN PFERD? PFERDE NIE KRANK?

Travis sammelte die Steine ein und sortierte sie wieder ein. »Nein. Tatsächlich sind Pferde trotz ihrer Größe ziemlich empfindliche Tiere. Sie werden recht leicht krank.«

Einstein blickte erwartungsvoll von Travis zu Nora.

Nora sagte: »Wahrscheinlich sagen wir, daß wir so gesund sind wie ein Pferd, weil Pferde so stark aussehen, so, als würden sie nie krank, obwohl sie dauernd krank sind.«

»Du mußt dich damit abfinden«, sagte Travis zu dem Hund. »Wir Menschen sagen die ganze Zeit Dinge, die keinen Sinn ergeben.«

Indem er das Pedal, das die Buchstaben lieferte, mit der Pfote betätigte, erklärte der Retriever:

IHR SEID EIN SELTSAMES VOLK.

Travis schaute Nora an, und dann lachten beide.

Darunter setzte der Retriever:

ABER ICH MAG EUCH TROTZDEM.

Einsteins Wißbegierde und sein Sinn für Humor schienen darauf hinzudeuten, daß er, falls er wirklich ein wenig unpäßlich gewesen sein sollte, jetzt wieder in Ordnung war.

Das war Dienstag.

Am Mittwoch, den l. Dezember, malte Nora in ihrem Atelier im Obergeschoß, und Travis verbrachte den Tag mit der Inspizierung seines Sicherheitssystems und mit routinemäßiger Waffenpflege.

In jedem Raum war eine Feuerwaffe versteckt, sei es unter einem Möbelstück, hinter einem Vorhang oder in einem Schrank, stets aber so, daß sie leicht erreichbar war. Sie besaßen zwei Mossberg-Schrotflinten mit Pistolenkolben, vier Smith & Wesson vom Modell 19 Combat Magnum, die mit .357-Kaliber geladen waren, zwei .38er-Pistolen, die sie im Pick-up und im Toyota verstaut hatten, einen Uzi-Karabiner und zwei Uzi-Maschinenpistolen. Sie hätten ihr ganzes Arsenal legal in einem Waffengeschäft erwerben können, sobald sie ein Haus gekauft und damit einen regulären Wohnsitz im County errichtet hatten. Aber Travis war nicht bereit gewesen, so lange zu warten. Er hatte die Waffen in der ersten Nacht haben wollen, in der sie ihr neues Haus bezogen. Deshalb hatten er und Nora über Vermittlung Van Dynes in San Francisco einen illegalen Waffenhändler ausfindig gemacht und sich bei ihm besorgt, was sie brauchten. Natürlich hätten sie bei einem lizensierten Waffenhändler keine Umbausätze für die Uzis kaufen können, was in San Francisco sehr wohl möglich war; deshalb waren der Uzi-Karabiner und die Pistolen jetzt vollautomatisch.

Travis ging von Zimmer zu Zimmer und vergewisserte sich, daß die Waffen sich jeweils am richtigen Platz befanden, frei von Staub waren, nicht geölt werden mußten und volle Magazine hatten. Er wußte, alles war in Ordnung, aber er fühlte sich einfach sicherer, wenn er diese Inspektion einmal die Woche durchführte. Obwohl er seit vielen Jahren keine Uniform mehr trug, waren das militärische Training und der Drill immer noch Teil seiner selbst und traten unter Druck schneller wieder an die Oberfläche, als erwartet.

Er nahm sich eine Mossberg, ging mit Einstein um das Haus herum und machte an jedem der kleinen Infrarotsensoren Halt, die so unauffällig wie möglich vor Felsbrocken oder Pflanzen angebracht waren, an Baumstämmen, an den Hausecken und neben einem alten, verfaulten Föhrenstumpf am Rand der Einfahrt. Er hatte die Bauteile legal bei einem Elektronikhändler in San Francisco erworben. Das Zeug war etwas überholt, entsprach nicht dem letzten Stand der Sicherheitstechnik; aber er hatte sich dennoch dafür entschieden, weil er aus seiner Zeit bei Delta Force mit den Dingen vertraut war und sie für seine Zwecke ausreichten. Drähte führten unter der Erde von den Sensoren zu einer Alarmzentrale in einem der Küchenschränke. Wenn das System nachts eingeschaltet wurde, konnte nichts, das größer als ein Waschbär war, sich dem Haus auf mehr als zehn Meter nähern - oder die Scheune am hinteren Ende seines Grundstücks betreten -, ohne den Alarm auszulösen. Dann schlugen freilich keine Glocken an, heulten auch keine Sirenen, weil das den Outsider alarmieren und dazu führen würde, daß er wegrannte. Sie wollten ihn nicht verjagen - sie wollten ihn töten. Deshalb schaltete das System im Alarmfall in jedem Zimmer des Hauses Uhrenradios ein, die alle auf geringe Lautstärke eingestellt waren, um einen Eindringling nicht zu verscheuchen, aber laut genug, um Travis und Nora zu warnen.

Sämtliche Sensoren waren, wie gewöhnlich, an Ort und Stelle. Er brauchte nur die dünne Staubschicht abzuwischen, die die Linsen bedeckte.

»Der Burggraben ist in gutem Zustand, Mylord«, sagte Travis.

Einstein wuffte zustimmend.

In der rostroten Scheune überprüfte Travis die Anlage, von der er hoffte, daß sie dem Outsider eine unangenehme Überraschung bereiten würde.

In der Nordwestecke des düsteren Raumes, links von der großen auf Rollen laufenden Schiebetür, war an einem Wandgestell ein unter Druck stehender Stahltank befestigt. In der diagonal gegenüberliegenden Südostecke, an der Hinterwand der Scheune, hinter dem Pick-up und dem Toyota, war ein identischer Behälter an einer identischen Halterung verschraubt. Sie sahen wie große Propantanks aus, wie man sie häufig in Berghütten einsetzte, um mit Gas kochen zu können, aber sie enthielten kein Propan; sie waren mit Distickstoffmonoxyd gefüllt, das manchmal nicht ganz korrekt als >Lach-gas< bezeichnet wurde. Der erste Hauch, den man davon einatmete, erheiterte einen tatsächlich, aber der zweite schlug einen k.o., ehe einem das Lachen über die Lippen kam. Zahnärzte und Chirurgen benutzten Lachgas häufig für die Anästhesie. Travis hatte es von einem Spezialhaus für Krankenhausbedarf in San Francisco gekauft.

Nachdem er die Beleuchtung in der Scheune eingeschaltet hatte, überprüfte Travis die Ventile beider Tanks. Voll unter Druck.

Außer der großen Schiebetür an der Vorderseite gab es an der Hinterseite noch eine kleinere, etwa mannshohe Tür; diese beiden waren die einzigen Zugänge. Die zwei Fenster oben auf dem Heuboden hatte Travis mit Brettern zugenagelt. Wenn nachts das Alarmsystem eingeschaltet wurde, blieb die kleine Hintertür unversperrt, denn sie hofften, der Outsider werde in der Absicht, das Haus aus dem Schutz der Scheune auszuspähen, in die Falle gehen. Wenn er die Tür öffnete und sich in die Scheune schlich, löste das einen Mechanismus aus, der die Tür hinter ihm zuschlug und versperrte. Die von außen verschlossene vordere Tür würde verhindern, daß er dort entkam. Gleichzeitig mit dem Zuschnappen der Falle würden die großen Tanks mit Distickstoffmonoxyd ihren Inhalt in weniger als einer Minute abgeben, weil Travis sie mit Hochdruckventilen ausgestattet hatte, die in das Alarmsystem eingebunden waren. Er hatte sämtliche Ritzen in den Scheunenwänden abgedichtet und den ganzen Bau so gründlich wie möglich isoliert, um sicherzustellen, daß das Distickstoffmonoxid in dem Bau blieb, bis eine der Türen von außen geöffnet wurde, um das Gas entweichen zu lassen.

Im Pick-up oder im Toyota konnte der Outsider keine Zuflucht finden. Beide würden versperrt sein. Kein Winkel der Scheune würde frei sein von dem Gas. Die Kreatur würde in weniger als einer Minute zusammenbrechen. Travis hatte erwogen, irgendein giftiges Gas einzusetzen, das er sich wahrscheinlich über seine Verbindungen in San Francisco ebenfalls hätte besorgen können, hatte sich aber am Ende dagegen entschieden, weil die Gefahr für ihn, Nora und Einstein zu groß war, falls irgend etwas schiefging.

Sobald das Gas ausgeströmt und der Outsider ihm zum Opfer gefallen war, konnte Travis einfach eine der Türen öffnen, die Scheune lüften, sie mit dem Uzi-Karabiner betreten und die besinnungslose Bestie dort, wo sie hingefallen war, töten. Im schlimmsten Fall, selbst wenn die Zeit, die zum Lüften der Scheune benötigt wurde, dem Outsider eine Chance gab, wieder zu sich zu kommen, würde er immer noch benommen und desorientiert sein und somit ein leichter Gegner.

Als sie sich vergewissert hatten, daß alles in der Scheune so war, wie es sein sollte, kehrten Travis und Einstein zum Hof hinter dem Haus zurück. Der Dezembertag war kühl, aber es wehte kein Wind. Der Wald, der ihr Anwesen umgab, war von unnatürlicher Stille. Die Bäume standen reglos unter einem von tiefhängenden schieferfarbener Wolken bedeckten Himmel.

»Ist der Outsider immer noch zu uns unterwegs?« fragte Travis.

Mit einem schnellen Schweifwedeln erklärte Einstein: JA.

»Ist er nahe?«

Einstein hob schnüffelnd die Nase in die klare Winterluft. Er trottete über den Hof an den nördlichen Waldrand und schnüffelte wieder, legte den Kopf schief und spähte aufmerksam in das Dunkel zwischen den Bäumen. Dann wiederholte er sein Ritual am südlichen Ende des Grundstücks.

Travis hatte das Gefühl, daß Einstein nicht wirklich seine Augen, Ohren und Nase für die Suche nach dem Outsider einsetzte. Er hatte irgendeine Methode, den Outsider wahrzunehmen, die von völlig anderer Art war als die einen Puma oder ein Eichhörnchen aufzuspüren. Travis wurde klar, daß der Hund einen unerklärlichen sechsten Sinn besaß - ob nun psychisch oder zumindest quasi-psychisch -, und wenn er seine gewöhnlichen Sinne benutzte, war das wahrscheinlich entweder der Auslöser für diese psychische Fähigkeit - oder bloße Gewohnheit.

Schließlich kehrte Einstein zu ihm zurück und winselte eigenartig.

»Ist er nahe?« fragte Travis.

Einstein schnüffelte und schaute dann wieder in das Dunkel des sie umgebenden Waldes, als könnte er sich nicht zu einer Antwort entscheiden.

»Einstein - stimmt was nicht?«

Schließlich bellte der Retriever einmal: NEIN.

»Rückt der Outsider uns näher?«

Ein Zögern. Dann: NEIN.

»Bist du sicher?«

JA.

»Wirklich sicher?«

JA.

Als Travis, beim Haus angekommen, die Tür öffnete, wandte Einstein sich von ihm ab, trottete über die hintere Terrasse, blieb bei den Holzstufen stehen, blickte ein letztes Mal über den Hof und auf den friedlichen, lautlos im Schatten daliegenden Wald. Dann folgte er Travis leicht fröstelnd ins Haus. Während der Inspektion ihrer Verteidigungseinrichtungen war Einstein zutraulicher als gewöhnlich gewesen, hatte sich immer wieder an Travis' Beinen gerieben, sich an ihn gedrückt und ihn auf die eine oder andere Art aufgefordert, ihn zu streicheln oder hinter den Ohren zu kraulen. Als sie dann am Abend vor dem Fernseher saßen und später auf dem Wohnzimmerboden Scrabble spielten, fuhr der Hund fort, ihre Aufmerksamkeit zu suchen. Er legte immer wieder Nora oder Travis den Kopf in den Schoß, und es schien gerade so, als wäre er es zufrieden, bis zum nächsten Sommer gestreichelt und hinter den Ohren gekrault zu werden.

Nora und Travis entschieden, den Abend mit etwas Lektüre ausklingen zu lassen - Detektivgeschichten -, aber Einstein verzichtete darauf, daß sie ein Buch in seine Umblättermaschine legten. Statt dessen lag er vor Noras Sessel auf dem Boden und schlief sofort ein.

»Er scheint mir immer noch ein wenig träge«, sagte sie.

»Aber er hat alles aufgegessen. Und heute war ein langer Tag.«

Der Atem des schlafenden Hundes war normal, und Travis war nicht beunruhigt. Tatsächlich hatte er in bezug auf ihre Zukunft ein besseres Gefühl als seit langem. Die Inspektion ihrer Verteidigungseinrichtungen hatten ihm neues Vertrauen und neue Zuversicht gegeben, und er glaubte, daß sie mit dem Outsider, wenn er einmal ankam, zurechtkommen würden. Dank Garrison Dilworth waren bis jetzt - vielleicht sogar für immer - alle Versuche der Behörden gescheitert, sie aufzuspüren. Nora hatte sich wieder mit großer Begeisterung ihrer Malerei zugewendet, und Travis hatte beschlossen, nach der Eliminierung des Outsiders seine Maklerlizenz unter dem Namen Samuel Hyatt wieder zu nutzen. Wenn Einstein noch ein wenig träge war... nun, er war jedenfalls viel lebhafter, als er das eine Weile gewesen war, und morgen oder allerspätestens übermorgen würde er wieder ganz der alte sein.

In dieser Nacht schlief Travis, ohne zu träumen.

Am Morgen war er vor Nora wach. Bis er geduscht und sich angezogen hatte, war auch sie aufgestanden. Als sie in die Dusche ging, küßte sie ihn, knabberte an seiner Unterlippe und murmelte ihm verschlafen Liebesgeständnisse ins Ohr. Ihre Augen waren etwas geschwollen, ihr Haar zerzaust, sie hatte etwas Mundgeruch, aber trotzdem hätte er sie sofort ins Bett zurückgedrängt, wenn sie nicht gesagt hätte: »Probier's heute nachmittag, Romeo. Im Augenblick ist mein einziges Verlangen ein paar Eier, Schinken, Toast und Kaffee.«

Er ging die Treppe hinunter und begann im Wohnzimmer damit, die Läden zu öffnen und das Morgenlicht ins Haus zu lassen. Der Himmel war verhangen und grau wie tags zuvor, also würde es ihn nicht überraschen, wenn es am Nachmittag regnete.

In der Küche bemerkte er, daß die Tür zur Speisekammer offenstand und das Licht brannte. Er schaute hinein, ob Einstein da sei, aber das einzige Zeichen seiner Gegenwart war die Nachricht, die er irgendwann im Laufe der Nacht dort hinterlassen hatte:

FIEDEL GEBROCHEN. KEIN ARZT. BITTE. WILL NICHT INS LABOR ZURÜCK. ANGST.

Oh, Scheiße! Oh, Jesus!

Travis trat aus der Speisekammer und rief: »Einstein!«

Kein Bellen. Kein Tappen von Pfoten.

Die Läden vor den Küchenfcnstern waren noch geschlossen, und der größte Teil des Raumes, den der schwache Lichtschein aus der Speisekammer nicht erreichte, lag im Halbdunkel. Travis schaltete das Licht ein.

Einstein war nicht da.

Er rannte in sein Arbeitszimmer. Auch dort war der Hund nicht.

Mit fast schmerzhaft schnell schlagendem Herzen hetzte Travis die Treppe hinauf, bei jedem Schritt zwei Stufen neh-mend, schaute in das dritte Schlafzimmer, das eines Tages das Kinderzimmer sein würde, und schließlich in den Raum, den Nora als Atelier benutzte. Aber auch da war Einstein nicht, und ebenso nicht in ihrem Schlafzimmer, auch nicht unter dem Bett, unter das Travis in seiner Verzweiflung schaute. Einen Augenblick lang konnte er sich wirklich nicht vorstellen, wo der Hund sein könnte. Und so stand er da, lauschte auf Noras Gesang unter der Dusche - sie wußte nicht, was geschehen war - und wollte schon ins Badezimmer laufen, um ihr zu sagen, daß etwas passiert sei, etwas Schreckliches, da fiel ihm das Bad im Erdgeschoß ein. Also rannte er aus dem Schlafzimmer, den Korridor entlang die Treppe so schnell hinunter, daß er fast das Gleichgewicht verloren und gestürzt wäre. Und in dem Bad zwischen Küche und Arbeitszimmer im Erdgeschoß fand er, was zu finden er so sehr gefürchtet hatte.

Das Bad stank. Der Hund hatte sich in seiner Rücksichtnahme in die Toilette erbrochen, aber nicht die Kraft - vielleicht auch nicht die Klarheit des Verstandes - besessen, die Spülung zu ziehen. Einstein lag auf dem Boden auf der Seite. Travis kniete neben ihm nieder. Einstein rührte sich nicht, war aber nicht tot - nicht tot, denn er atmete. Er atmete mit einem rasselnden Geräusch. Als Travis ihn anredete, versuchte er den Kopf zu heben, hatte aber nicht die Kraft, sich zu bewegen.

Seine Augen. Herr im Himmel, seine Augen!

Ganz sachte hob Travis den Kopf des Retrievers und sah, daß seine sonst so wundervoll ausdrucksvollen braunen Augen von einem milchigen Schleier überzogen waren. Ein wäßriger gelber Ausfluß quoll daraus hervor, hatte sich im goldgelben Pelz verkrustet. In Einsteins Nasenlöchern hing eine ähnlich klebrige Masse und zog leichte Blasen.

Travis legte dem Retriever die Hand auf den Hals und spürte einen mühsamen, unregelmäßigen Herzschlag.

»Nein!« sagte Travis. »O nein, nein! So darf das nicht sein, Junge. Ich werde einfach nicht zulassen, daß das passiert.«

Er ließ den Kopf des Retrievers auf den Boden sinken, stand auf, wandte sich zur Tür - und Einstein wimmerte fast unhörbar, als wollte er sagen, daß er nicht alleingelassen werden wolle.

»Ich bin gleich zurück. Gleich zurück.« versprach Travis. »Nur einen Augenblick, Junge. Ich bin gleich wieder da.«

Er rannte zur Treppe, hetzte noch schneller hinauf als beim letzten Mal. Jetzt schlug sein Herz mit solch wütender Kraft, daß er das Gefühl hatte, es wollte sich von ihm losreißen. Sein Atem ging zu schnell.

Im Schlafzimmer trat Nora soeben nackt und triefend aus der Dusche.

Travis redete in seiner Panik so schnell, daß die einzelnen Worte ineinander verschmolzen. »Zieh dich schnell an, wir müssen zum Tierarzt. Um Himmels willen, beeil dich!«

Erschreckt sagte sie: »Was ist passiert?«

»Einstein! Schnell! Ich glaube, er stirbt!«

Er riß ein Laken vom Bett, ließ Nora stehen und rannte wieder hinunter ins Bad. Der unregelmäßige Atem des Retrievers schien in der einen Minute, die Travis weggewesen war, noch unregelmäßiger geworden zu sein. Er faltete das Laken zweimal zusammen, auf ein Viertel seiner Größe, und schob dann vorsichtig den Hund darauf.

Einstein gab einen gequälten Laut von sich, so als hätte ihm die Bewegung weh getan.

»Ganz ruhig, ruhig!« sagte Travis. »Das wird alles wieder gut.«

Jetzt tauchte Nora in der Tür auf, noch damit beschäftigt, sich die Bluse zuzuknöpfen, die feucht war, weil sie sich nicht die Zeit genommen hatte, sich vor dem Anziehen abzutrocknen. Ihr feuchtes Haar hing strähnig herunter.

Mit erstickter Stimme sagte sie: »O Pelzgesicht, nein, nein!«

Sie wollte sich hinunterbeugen und den Retriever berühren, aber jetzt war keine Zeit zu verlieren. Travis sagte: »Bring den Pick-up vors Haus.«

Während Nora zur Scheune rannte, hüllte Travis Einstein, so gut er konnte, in die Decke, so daß nur der Kopf des Retrievers, sein Schwanz und die Hinterbeine zu sehen waren. Vergeblich bemühte er sich, ihm nicht noch einmal ein schmerzerfülltes Wimmern abzufordern, nahm den Hund auf die Arme und trug ihn aus dem Badezimmer, durch die Küche und aus dem Haus, zog die Tür hinter sich zu, ließ sie aber unver-sperrt. In diesem Augenblick war das Thema Sicherheit für ihn ohne jede Bedeutung.

Die Luft war kalt. Die Stille des gestrigen Tages war dahin.

Die Bäume schwankten fröstelnd. In der Art und Weise, wie

ihre dicht mit Nadeln besetzten Zweige nach dem Wind schlugen, lag etwas Drohendes. Andere, blattlose Bäume hoben die schwarzen, knochigen Arme gegen den düsteren Himmel.

In der Scheune ließ Nora den Motor des Pick-up an. Er brüllte auf.

Travis ging vorsichtig die Treppe zur Einfahrt hinunter, bewegte sich, als trüge er eine Ladung zerbrechlichen alten Porzellans. Der ungebärdige Wind wirbelte Travis die Haare zu Berge, zerrte an den herunterhängenden Enden der Decke, zerzauste den Pelz auf Einsteins Kopf, als wäre er ein bösartiges Wesen, das ihm den Hund entreißen wollte.

Nora fuhr einen Kreisbogen, setzte die Nase des Wagens in Richtung Ausfahrt und hielt an der Stelle, wo Travis wartete. Sie würde den Pick-up steuern.

Es stimmte, was man sagte: Manchmal, in besonderen Augenblicken der Krise, in Zeiten gefühlsmäßiger Widrigkeiten sind Frauen besser imstande, die Zähne zusammenzubeißen und zu tun, was getan werden muß, als Männer. Travis saß auf dem Beifahrersitz, hielt den in die Decke eingehüllten Hund in den Armen und wäre außerstande gewesen zu fahren. Er zitterte am ganzen Körper und bemerkte erst jetzt, daß er seit dem Augenblick, da er Einstein auf dem Badezimmerboden gefunden hatte, weinte. Er hatte harten Militärdienst geleistet, war nie auf gefährlichen Einsätzen der Delta Force in Panik geraten oder von Furcht gelähmt gewesen. Aber das hier war anders, dies war Einstein, sein Kind. Hätte er lenken müssen, er wäre wahrscheinlich geradewegs gegen einen Baum gefahren oder in einen Graben. Auch in Noras Augen standen Tränen, aber sie gab ihnen nicht nach. Sie biß sich auf die Unterlippe und fuhr, als wäre sie für Stunts beim Film ausgebildet worden. Am Ende des Feldwegs bog sie nach rechts in den kurvigen Pacific Coast Highway ein und strebte in nördlicher Richtung auf Carmel zu, wo es zumindest einen Tierarzt geben mußte.

Während der Fahrt redete Travis mit Einstein, versuchte ihn zu beruhigen und ihm Mut zu machen. »Alles wird gut, ganz bestimmt. Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Du kommst schon wieder in Ordnung.«

Einstein wimmerte, kämpfte schwach einen Augenb lick lang gegen Travis' Arme an, und Travis wußte, was der Hund jetzt dachte. Er hatte Angst, der Tierarzt würde die Tätowierung in seinem Ohr sehen, wissen, was sie bedeutete, und ihn zu Ba-nodyne zurückschicken.

»Mach dir deswegen keine Sorgen, Pelzgesicht. Niemand darf dich uns wegnehmen. Weiß Gott, niemand darf das. Zuerst müssen die mich niedertrampeln, und das werden sie nicht können. Das geht nicht.«

»Das geht nicht«, pflichtete Nora ihm grimmig bei.

Aber Einstein zitterte trotzdem heftig in der Decke an Travis' Brust.

Travis erinnerte sich an die Steine mit den Buchstaben auf dem Boden der Speisekammer: FIEDEL ZERBROCHEN... ANGST...

»Hab keine Angst«, redete er auf den Hund ein. »Hab keine Angst. Es gibt wirklich keinen Grund zur Angst.«

Doch trotz Travis' ehrlicher Beteuerungen zitterte Einstein und hatte Angst. Und auch Travis hatte Angst.

2

Nora machte an einer Arco-Tankstelle am Rande von Carmel Halt und fand die Adresse des Tierarztes in einem Telefonbuch. Sie rief an, um sicherzugehen, daß er zu Hause war.

Dr. James Keenes Praxis befand sich an der Dolores Avenue am südlichen Stadtrand. Ein paar Minuten vor neun hielten sie vor seinem Haus.

Nora hatte die typisch steril wirkende Tierarztpraxis erwartet und stellte mit einiger Überraschung fest, daß Dr. Keene seine Praxis in seinem Privathaus untergebracht hatte, einem originellen zweistöckigen Bau, das im Stil eines englischen Landhauses erbaut war, mit viel Stein, Verputz, freiliegenden Balken und einem leicht gewölbtem Dach.

Als sie mit Einstein auf dem mit Steinplatten belegten Weg auf das Haus zueilten, öffnete Dr. Keene die Tür, ehe sie sie erreichten, als hätte er nach ihnen Ausschau gehalten. Eine Tafel wies darauf hin, der Eingang zur Praxis befinde sich auf der anderen Hausseite, aber der Arzt ließ sie durch die Haustür ein. Er war ein großer Mann mit bekümmerter Miene, fahler Haut und traurigen braunen Augen, dafür aber einem warmen Lächeln und einer freundlichen Art.

Dr. Keene schloß die Tür hinter ihnen und sagte: »Bringen Sie ihn bitte hier herüber.«

Er führte sie rasch durch einen Korridor mit einem Eichenparkettboden, den ein langer, schmaler Orientteppich bedeckte. Auf der linken Seite konnte man durch einen Bogen ein wohnlich möbliertes Wohnzimmer sehen, das so aussah, als wäre es tatsächlich bewohnt: mit Fußhockern vor den Sesseln, Leselampen, vollen Bücherregalen und bestickten Wolldecken, die für kühle Abende auf ein paar Sessellehnen säuberlich gefaltet bereitlagen. Ein Hund stand hinter dem Bogen: ein schwarzer Labrador. Er beobachtete sie ernst, als begriffe er die Schwere von Einsteins Erkrankung, und folgte ihnen nicht. Am hinteren Ende des großen Hauses führte der Tierarzt sie auf der linken Seite des Korridors durch eine Tür in eine saubere weiße Praxis. An den Wänden standen aufgereiht weißemaillierte Schränke mit Glastüren, voll mit Medikamenten, Fläschchen, Tabletten, Kapseln und den vielen Ingredienzen in Pulverform, die man brauchte, um ausgefallene Medikamente zu mixen.

Travis ließ Einstein vorsichtig auf einen Untersuchungstisch nieder und schlug die Decke zurück.

Nora war bewußt, daß sie und Travis ebenso verzweifelt wirkten, als hätten sie ihr sterbendes Kind zum Arzt gebracht. Travis' Augen waren gerötet, und wenn er auch im Augenblick nicht weinte, schneuzte er sich doch unentwegt. Als sie den Pick-up vor dem Haus parkte und die Handbremse zog, hatte Nora ihre eigenen Tränen nicht mehr unterdrücken können. Jetzt stand sie auf der anderen Seite des Untersuchungstisches, einen Arm um Travis gelegt, und weinte leise.

Der Tierarzt war allem Anschein nach starke Gefühlsregungen gewohnt, denn er warf Nora oder Travis keinen einzigen neugierigen Blick zu und gab durch nichts zu erkennen, daß er ihre Angst und Sorge als übertrieben empfände.

Dr. Keene hörte sich die Herz- und Lungentöne des Retrievers mit einem Stethoskop an, tastete seinen Unterleib ab und untersuchte seine verklebten Augen mit einem Ophthalmoskop. Einstein blieb während der ganzen Prozedur schlaff und reglos, als wäre er gelähmt. Die einzigen Anzeichen dafür, daß der Hund sich noch am Leben festklammerte, waren sein schwaches Wimmern und sein unregelmäßiger Atem.

Es ist nicht so ernst, wie es scheint, sagte sich Nora, während sie sich die Augen mit einem Kleenex-Tuch betupfte.

Jetzt blickte Dr. Keene von dem Hund auf und sagte: »Wie heißt er denn?«

»Einstein«, sagte Travis.

»Wie lange haben Sie ihn schon?«

»Erst ein paar Monate.«

»Ist er geimpft?«

»Nein«, sagte Travis. »Verdammt, nein.«

»Warum nicht?«

»Das ist... kompliziert«, sagte Travis. »Aber es gibt gute Gründe, weshalb wir ihn nicht impfen lassen konnten.«

»Dafür ist kein Grund gut genug«, sagte Keene mißbilligend. »Er hat keine Hundemarke, ist nicht geimpft. Es ist unverantwortlich, nicht dafür zu sorgen, daß ein Hund die erforderlichen Impfungen bekommt.«

»Ich weiß«, sagte Travis gequält. »Ich weiß.«

»Was fehlt ihm denn?« fragte Nora.

Und dabei dachte - hoffte - betete sie: Es ist nicht so ernst, wie es aussieht.

Keene streichelte den Retriever am Kopf und sagte: »Er hat Staupe.«

Einstein lag jetzt in einer Ecke der Praxis auf einer dicken Schaumstoffmatratze, deren Plastiküberzug mit einem Reißverschluß versehen war. Um zu verhindern, daß er sich bewegte - falls er je die Kraft haben sollte, sich zu bewegen -, war er mit einer kurzen Leine an einem in der Wand befestigten Ring angebunden.

Dr. Keene hatte dem Retriever eine Injektion gegeben. »Antibiotika«, erklärte er. »Es gibt keine Antibiotika, die gegen die Staupe helfen, aber sie sind angezeigt, um Sekundärinfektionen zu vermeiden.«

Außerdem hatte er eine Nadel in eine der Beinvenen des Hundes eingeführt und ihn an ein Infusionsgerät angeschlossen, um dem Wasserentzug entgegenzuwirken.

Als der Tierarzt versuchte, Einstein einen Maulkorb anzulegen, widersetzten sich Nora und Travis entschieden.

»Es ist nicht deshalb, weil ich Angst habe, daß er mich beißt«, erklärte Dr. Keene. »Es ist zu seinem eigenen Schutz, um ihn davon abzuhalten, an der Nadel zu kauen. Wenn er die Kraft dazu hat, wird er tun, was Hunde an einer Wunde immer machen - er wird daran lecken und beißen.«

»Nicht dieser Hund«, sagte Travis. »Dieser Hund ist ganz anders.« Er schob sich an Keene vorbei und entfernte den Maulkorb wieder.

Der Tierarzt wollte protestieren, ließ es dann aber bleiben. »Also schön. Für den Augenblick wenigstens. Jetzt ist er ohnehin zu schwach.«

Nora, die immer noch bemüht war, die schreckliche Wahrheit von sich zu schieben, sagte: »Aber wieso kann es denn so ernst sein? Er hatte doch nur ganz schwache Symptome, und selbst die waren nach ein paar Tagen wieder weg.«

»Die Hälfte der Hunde, die die Staupe bekommen, zeigt überhaupt keine Symptome«, sagte der Tierarzt, stellte eine Flasche Antibiotika in einen der Glasschränke zurück und warf die Plastikspritze in den Abfalleimer. »Andere zeigen nur schwache Übelkeit, Symptome treten auf und verschwinden von einem Tag auf den anderen. Wieder andere, wie Einstein, werden sehr krank. Das kann eine sich langsam verschlimmernde Krankheit sein, oder sie kann plötzlich von ganz schwachen Symptomen in ... das hier umschlagen. Aber einen Lichtblick haben wir.«

Travis kauerte sich so neben Einstein nieder, daß der Hund ihn sehen konnte, ohne den Kopf heben oder die Augen verdrehen zu müssen. Das sollte ihm das Gefühl vermitteln, daß man sich um ihn kümmerte, über ihn wachte, ihn liebte. Als er hörte, wie Keene von einem Lichtblick redete, blickte er hoffnungsvoll auf. »Was für ein Lichtblick? Was meinen Sie?« »Der Verlauf der Erkrankung wird häufig durch den Zustand des Hundes vor dem Einsetzen der Staupe bestimmt.

Die Krankheit ist am akutesten ausgeprägt bei Tieren, die ungepflegt und schlecht ernährt sind. Man kann deutlich sehen, daß Sie sehr gut für Einstein gesorgt haben.«

Travis sagte: »Wir haben versucht, ihn gut zu füttern und dafür zu sorgen, daß er viel Bewegung machte.«

»Er ist beinahe zu oft gebadet und gekämmt worden«, fügte Nora hinzu.

Dr. Keene nickte lächelnd und meinte: »Dann haben wir einen kleinen Vorteil. Wir haben gute Chancen.«

Nora sah Travis an, und er begegnete ihrem Blick nur kurz. ehe er ihren Augen wieder ausweichen und auf Einstein hin-unterblickcn mußte. Es war ihr überlassen, die gefürchtete Frage zu stellen: »Doktor, er wird doch wieder gesund werden, nicht war? Er wird doch nicht - er wird doch nicht sterben oder?«

Offenbar war James Keene bewußt, daß sein von Haus aus bedrückt wirkendes Gesicht mit den müde blickenden Augen schon an sich wenig dazu beitrug, Zuversicht zu erwecken. Deshalb hatte er sich ein warmes Lächeln angeeignet, einen weichen und doch zuversichtlichen Tonfall und eine fast großväterliche Art, die, wenn auch vielleicht mit Absicht zugelegt doch echt schienen und mithalfen, der ewigen Düsternis entgegenzuwirken, die Gott als passend für sein Antlitz angesehen hatte.

Er trat vor Nora und legte ihr die Hände auf die Schultern »Meine Liebe, Sie lieben diesen Hund wie ein Baby, nicht wahr?«

Sie biß sich auf die Lippe und nickte.

»Dann sollten Sie zuversichtlich sein. Haben Sie Vertrauen zu Gott, ohne dessen Wissen, wie es heißt, kein Sperling vom Himmel fällt, und haben Sie auch ein wenig Vertrauen zu mir Ob Sie es nun glauben oder nicht, ich verstehe mich auf das was ich tue, recht gut und verdiene Ihr Vertrauen.«

»Ich glaube, daß Sie gut sind«, sagte sie zu ihm.

Travis, der immer noch neben Einstein auf dem Boden kauerte, fragte mit belegter Stimme: »Aber die Chancen - wie groß sind die Chancen? Sagen Sie es uns doch einmal ganz ehrlich.«

Keene ließ Nora los und wandte sich zu Travis um. »Nun der Ausfluß aus seinen Augen und der Nase ist nicht ganz so dickflüssig, wie er manchmal sein kann. Bei weitem nicht. Und auch keine Eiterbeulen am Leib. Sie sagen, er hätte sich übergeben, aber Durchfall haben Sie keinen gesehen?«

»Nein, nur erbrochen hat er«, sagte Travis.

»Er hat hohes Fieber, aber nicht in gefährlichem Maße. Hat er ungewöhnlich viel gegeifert?«

»Nein«, sagte Nora.

»Immer wieder den Kopf geschüttelt und herumgekaut, so als hätte er einen schlechten Geschmack im Maul?«

»Nein«, sagten Travis und Nora gleichzeitig.

»Haben Sie ihn im Kreis herumlaufen oder grundlos umfallen sehen? Auf der Seite liegen und wild mit den Beinen herumstrampeln, als würde er laufen? Ziellos im Zimmer herumrennen, gegen Wände stoßen, immer wieder zucken - etwas dergleichen?«

»Nein, nein«, sagte Travis.

Und Nora: »Mein Gott, könnte er so werden ?«

»Wenn Staupe im zweiten Stadium daraus wird - ja«, meinte Keene. »Dann wird sein Gehirn mit beeinträchtigt. Epileptische Anfälle. Encephalitis.«

Travis sprang mit einem plötzlichen Satz auf. Er taumelte auf Keene zu und blieb schwankend vor ihm stehen. Sein Gesicht war bleich, in seinen Augen stand schreckliche Angst. »Das Gehirn beeinträchtigt? Wenn er sich erholt, blieben ... dann Gehirnschäden zurück?«

Nora überkam Übelkeit. Sie stellte sich Einstein mit einem Gehirnschadcn vor - so intelligent wie ein Mensch, intelligent genug, um sich daran zu erinnern, daß er einmal etwas Besonderes gewesen war, zu wissen, daß etwas verlorengegangen war und er jetzt in blöder Stumpfheit lebte, in einem Grau, daß sein Leben irgendwie weniger war als das, was es einmal gewesen war... Von Angst und Übelkeit benommen, mußte sie sich an den Untersuchungstisch lehnen.

Keene beantwortete Travis' Frage: »Die meisten Hunde, die Staupe im zweiten Stadium haben, überleben nicht. Aber wenn er es schafft, wird es natürlich eine gewisse Gehirnschädigung geben; nichts, das es notwendig machen würde, ihn einzuschläfern. Er könnte beispielsweise sein Leben lang Chorea haben, ein unwillkürliches Zucken - man nennt das auch den Veitstanz - ähnlich wie Schüttellähmung, das häufig auf den Kopf beschränkt bleibt. Aber er könnte damit relativ zufrieden leben, ein schmerzfreies Dasein führen und immer noch ein schönes Haustier sein.«

Travis war so erregt, daß er den Tierarzt fast anbrüllte:

»Zum Teufel damit, ob er ein schönes Haustier bleibt oder nicht. Die physischen Auswirkungen einer Gehirnschädigung sind mir gleichgültig. Was ist mit seinem Verstand?« »Nun, Sie und Ihre Frau würde er weiterhin erkennen«, sagte der Arzt. »Er würde Ihnen gegenüber auch freundlich bleiben. In der Beziehung gäbe es keine Probleme. Er könnte vielleicht ziemlich viel schlafen und Perioden der Lustlosigkeit durchmachen. Aber stubenrein würde er fast mit Sicherheit bleiben. Das würde er nicht vergessen ...«

Zitternd sagte Travis: »Mir ist völlig egal, ob er das ganze Haus verpinkelt, solange er nur denken kann.«

»Denken?« sagte Dr. Keene sichtlich perplex. »Nun... was genau meinen Sie? Er ist schließlich ein Hund.«

Der Tierarzt hatte ihr besorgtes, leidgequältes Verhalten als die normale Reaktion eines Tierhalters in einem solchen Fall akzeptiert. Aber jetzt fing er an, sie mit etwas argwöhnischen Blicken zu mustern.

Zum Teil, um das Thema zu wechseln und den Argwohn des Tierarztes zu zerstreuen, zum Teil auch, weil sie einfach die Antwort kennen wollte, sagte Nora: »Also schön. Aber hat Einstein nun Staupe zweiten Grades?«

»Nach allem, was ich bis jetzt gesehen habe, befindet er sich noch im ersten Stadium«, erklärte Keene. »Und wenn in den nächsten vierundzwanzig Stunden keine ernsteren Symptome auftreten, haben wir gute Chancen, daß die Krankheit nicht über das erste Stadium hinausgeht und wir sie sogar heilen können.«

»Und im ersten Stadium gibt es keine Gehirnschäden?« fragte Travis mit einer Eindringlichkeit, die Keene neuerlich dazu veranlaßte, die Stirn zu runzeln.

»Nein. Im ersten Stadium nicht.«

»Und wenn er im ersten Stadium bleibt«, sagte Nora, »wird er nicht sterben?«

Mit seiner weichsten Stimme und bemüht, sie zu beruhigen, sagte James Keene: »Nun, die Chancen sind jetzt sehr groß, daß er Staupe des ersten Stadiums überlebt - ohne Nachwirkungen: Sie sollen wissen, daß seine Genesungschancen tatsächlich recht gut sind. Aber ich will Ihnen auch keine falschen Hoffnungen machen. Das wäre grausam. Selbst wenn die Krankheit nicht über das erste Stadium hinausgeht... könnte Einstein sterben. Die Chancen sprechen fürs Überleben, aber der Tod ist möglich.«

Nora weinte jetzt wieder. Sie hatte gedacht, sie hätte sich im

Griff, könne stark sein. Und doch weinte sie jetzt. Sie ging zu Einstein, setzte sich neben ihn auf den Boden und legte ihm eine Hand auf die Schulter, einfach um ihn wissen zu lassen, daß sie da war.

Keene wurde jetzt angesichts ihres Gefühlsausbruchs ungeduldig und zugleich verwirrt. In seine Stimme schlich sich jetzt etwas Strenge, als er sagte: »Hören Sie, wir können nicht mehr tun, als ihn erstklassig versorgen und auf das Beste hoffen. Er wird natürlich hierbleiben müssen, die Staupe-Behandlung ist kompliziert und muß unter ständiger tierärztlicher Überwachung erfolgen. Ich muß ihn intravenös ernähren und mit Antibiotika versorgen ... Und falls er anfängt, Krämpfe zu bekommen, kommen Sedativa hinzu.«

Einstein zitterte unter Noras Hand, als hätte er diese schlimme Aussicht gehört und begriffen.

»Schön. In Ordnung. Ja«, sagte Travis. »Es ist offensichtlich so, daß er hier in Ihrer Praxis bleiben muß. Wir werden bei ihm bleiben.«

»Das ist nicht nötig ...«, begann Keene.

»Richtig, ja - nötig ist es nicht«, sagte Travis schnell. »Aber wir wollen bleiben, das geht schon. Wir können hier auf dem Boden schlafen«

»Oh, ich fürchte, das wird nicht gehen«, sagte Keene.

»O doch, ganz sicher geht das«, sagte Travis in seinem Eifer, den Tierarzt zu überzeugen. »Machen Sie sich unseretwegen keine Sorgen, Doktor. Wir kommen schon klar. Einstein braucht uns hier, also werden wir bleiben, und wir bezahlen Sie natürlich für die Ungelegenheiten.«

»Aber ich führe kein Hotel!«

»Wir müssen bleiben!« sagte Nora entschieden.

»Jetzt hören Sie mal«, meinte Keene. »Ich bin ja ein vernünftiger Mann, aber...«

Travis packte mit beiden Händen die Rechte des Tierarztes und hielt sie zur Verblüffung Keenes fest. »Hören Sie, Dr. Keene, bitte, lassen Sie mich versuchen, es Ihnen zu erklären. Ich weiß, es ist eine ungewöhnliche Bitte. Ich weiß, wir müssen auf Sie wie zwei Verrückte wirken, aber wir haben unsere Gründe. Und es sind gute Gründe. Das ist kein gewöhnlicher Hund, Dr. Keene. Er hat mir das Leben gerettet...«

»Und meines ebenfalls«, sagte Nora.

»Und er hat uns zusammengebracht«, sagte Travis. »Ohne Einstein wären wir einander nie begegnet, hätten nie geheiratet und wären beide tot.«

Erstaunt sah Keene zuerst Travis, dann Nora an. »Sie meinen, er hat Ihnen das Leben gerettet - buchstäblich?« »Buchstäblich«, sagte Nora.

»Und dann hat er Sie zusammengebracht?«

»Ja«, sagte Travis. »Er hat unser Leben mehr verändert, als wir sagen oder erklären können.«

Der Tierarzt, immer noch von Travis festgehalten, sah Nora an, blickte dann auf den keuchenden Retriever hinab, schüttelte den Kopf und sagte: »Ich bin ganz wild auf Geschichten über Heldentaten von Hunden. Die möchte ich ganz sicher auch hören.«

»Wir erzählen Ihnen alles«, versprach Nora. Aber, dachte sie dabei, es wird eine sorgfältig redigierte Version der Wahrheit sein.

»Als ich fünf Jahre alt war«, meinte James Keene, »hat mich ein schwarzer Labrador vor dem Ertrinken gerettet.«

Nora erinnerte sich an den schönen schwarzen Labrador irr: Wohnzimmer und fragte sich, ob er wohl ein Nachkomme des Tieres sei, das Keene gerettet hatte - oder nur eine Erinnerung daran, in wie tiefer Schuld er bei Hunden stand.

»Also gut«, sagte Keene, »Sie können bleiben.«

»Danke.« Travis' Stimme klang brüchig. »Ich danke Ihnen.» Keene befreite seine Hand aus Travis' Griff und sagte »Aber bis wir sicher sein können, daß Einstein überlebt, werden wenigstens achtundvierzig Stunden vergehen. Das wird eine lange Zeit.«

»Achtundvierzig Stunden ist gar nichts«, sagte Travis »Zwei Nächte, die wir auf dem Boden schlafen müssen. Das schaffen wir.«

»Ich habe das Gefühl, daß für Sie beide achtundvierzig Stunden eine Ewigkeit dauern werden«, meinte Keene, »so wie die Umstände liegen.« Er schaute auf die Armbanduhr und meinte dann: »In zehn Minuten kommt meine Assistentin, dann öffnen wir die Praxis für den Vormittag. Ich kann Sie nicht hier um mich haben, während ich mich um andere Patienten kümmere. Und Sie werden auch ganz bestimmt nicht im Wartezimmer unter besorgten Tierhaltern und kranken Tieren warten wollen, das würde Sie nur deprimieren. Sie können im Wohnzimmer warten. Wenn ich dann am späten Nachmittag die Praxis schließe, können Sie ja hierher zurückkommen, um bei Einstein zu sein.«

»Dürfen wir untertags mal reinsehen?« fragte Travis.

Keene lächelte. »Also schön. Aber nur ganz kurz.«

Unter Noras Hand hörte Einstein schließlich zu zittern auf. Etwas von dem Druck löste sich, er entspannte sich, als hätte er gehört, daß sie in seiner Nähe bleiben würden, und wäre deswegen sehr beruhigt.

Der Vormittag verstrich qualvoll langsam. In Dr. Keenes Wohnzimmer gab es einen Fernseher, Bücher und Zeitschriften, aber weder Nora noch Travis brachten es fertig, für Fernsehen oder Lesen auch nur das geringste Interesse aufzubringen.

Etwa jede halbe Stunde huschte einer von ihnen den Korridor hinunter und spähte zu Einstein hinein. Sein Zustand schien sich nicht zu verschlechtern, besserte sich aber auch nicht.

Einmal kam Keene herein und sagte: »Übrigens, benützen Sie ruhig das Bad. Und im Kühlschrank sind kalte Getränke. Wenn Sie wollen, können Sie sich auch Kaffee machen.« Er sah lächelnd auf den schwarzen Labrador, der neben ihm stand. »Und dieser Bursche hier ist Pooka. Wenn Sie es zulassen, liebt er Sie zu Tode.«

Pooka war tatsächlich einer der freundlichsten Hunde, die Nora je gesehen hatte. Er rollte sich auf den Rücken, ohne daß man ihn dazu aufzufordern brauchte, spielte tot, setzte sich auf die Hinterbeine und schnüffelte dann schweifwedelnd herum, um sich mit ein paar Streicheleinheiten belohnen zu lassen.

Den ganzen Vormittag lang ignorierte Travis das Werben des Hundes um Zuneigung, als wäre es ein Verrat an Einstein, wenn er Pooka streichelte, und würde Einsteins Tod an der Staupe bedeuten.

Nora hingegen ließ dem Hund die Aufmerksamkeit zuteil werden, die er sich wünschte. Sie sagte sich, wenn sie Pooka gut behandelte, werde es die Götter freuen und sie würden dann Einstein gewogen sein. Ihre Verzweiflung erzeugte in ihr einen Aberglauben, der ebenso heftig war wie der ihres Mannes - wenn auch von völlig anderer Art.

Travis ging auf und ab, saß auf der Sesselkante, den Kopf gesenkt, das Gesicht auf die Hände gestützt, dann wiederum stand er lange Zeit an einem der Fenster und starrte hinaus aber ohne die Straße zu sehen, sondern ganz auf irgendwelche dunklen Visionen konzentriert. Er gab sich die Schuld für das was geschehen war. Und wenn Nora ihm den wahren Sachverhalt klarzumachen versuchte, trug das nicht dazu bei, sein irrationales Schuldgefühl zu verringern.

Den Blick starr auf ein Fenster gerichtet und die Arme an den Leib gepreßt, als fröre er, sagte Travis leise: »Meinst du Keene hat die Tätowierung gesehen?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht nicht.«

»Glaubst du, daß man wirklich eine Beschreibung Einsteins an die Tierärzte verteilt hat? Wird Keene wissen, was die Tätowierung bedeutet?«

»Vielleicht nicht«, sagte sie. »Vielleicht haben wir Verfolgungswahn.«

Aber nach dem, was sie von Garrison gehört hatten, nach all der Mühe, die die Behörden sich gegeben hatten, um ihr davon abzuhalten, eine Warnung an sie weiterzuleiten, wußten sie, daß die Suche nach dem Hund immer noch in vollen-Gange war. Also gab es keinen Grund, von Verfolgungswahn zu reden.

Von zwölf bis zwei schloß Dr. Keene seine Praxis, um zu Mittag zu essen. Er lud Nora und Travis ein, mit ihm in der großen Küche zu essen. Er war Junggeselle und konnte sich selbst versorgen. Seine Kühltruhe enthielt tiefgefrorene Mahlzeiten die er selbst zubereitet und verpackt hatte. Er taute eine Portion Lasagne auf und machte mit ihrer Hilfe drei Portionen Salat zurecht. Das Essen war ausgezeichnet, aber weder Nora noch Travis brachten viel davon hinunter.

Je besser Nora James Keene kennenlernte, desto mehr mochte sie ihn. Trotz seines mürrischen Aussehens war er ein äußerst lockerer Mensch und besaß die Gabe, sich über sich selbst lustig zu machen. Die Liebe, die er für Tiere empfand. war wie ein Licht in ihm. Hunde waren seine größte Liebe und wenn er über sie sprach, dann verwandelte die Begeiste-rung seine unattraktiven Züge und machte einen äußerst sympathischen Mann aus ihm.

Der Arzt erzählte ihnen von dem schwarzen Labrador King, der ihn als Kind vor dem Ertrinken gerettet hatte, und ermunterte sie, ihm zu erzählen, wie Einstein ihnen das Leben gerettet habe. Travis erzählte ein farbige Geschichte von einer Bergwanderung, bei der er auf einen verletzten und zornigen Bären gestoßen war. Er schilderte, wie Einstein ihn zuerst gewarnt und dann, als der halb wahnsinnige Bär anfing, ihn zu verfolgen, das Tier herausgefordert und einige Male in die Flucht geschlagen hätte. Nora konnte eine Geschichte erzählen, die der Wahrheit näherkam: Belästigung durch einen Sexualpsychopathen, dessen Angriff Einstein unterbrach, der den Eindringling dann so lange festhielt, bis die Polizei eintraf.

»Er ist ja wirklich ein Held!« sagte Keene beeindruckt.

Nora fühlte, daß die Geschichten über Einstein den Tierarzt so völlig auf ihre Seite gezogen hatten, daß er, falls er die Tätowierung entdeckte und wußte, was sie bedeutete, das möglicherweise verdrängen und sie in Frieden gehen lassen würde, sobald Einstein wieder genesen war. Falls Einstein genas.

Aber als sie dann damit beschäftigt waren, die Teller einzusammeln, fragte Keene: »Sam, ich frage mich schon die ganze Zeit, warum Ihre Frau Sie eigentlich >Travis< nennt.«

Darauf waren sie vorbereitet. Seit sie eine neue Identität angenommen hatten, hatten sie beschlossen, daß es für Nora einfacher und sicherer wäre, ihn weiterhin Travis zu rufen, anstatt zu versuchen, die ganze Zeit Sam zu gebrauchen und dann in irgendeinem entscheidenden Augenblick doch einen Fehler zu machen. Sie konnten sagen, Travis sei ein Spitzname, den sie ihm einmal gegeben habe und dessen Ursprung sehr privater Natur sei; indem sie einander zuzwinkerten und albern grinsten, könnten sie andeuten, das Ganze habe intime Hintergründe und sei zu peinlich, um näher erklärt zu werden. Also beantworteten sie auch Keenes Frage in dieser Weise, aber sie waren nicht in der Stimmung, überzeugend zu zwinkern und albem zu grinsen, deshalb war Nora nicht sicher, ob sie ihn wirklich überzeugt hatten. Tatsächlich dachte sie, ihr nervöses und etwas ungeschicktes Gehabe könnte Keenes Argwohn, falls er solchen hegte, eher noch steigern.

Kurz bevor er am Nachmittag seine Praxis wieder öffnen wollte, erhielt Keene einen Anruf seiner Assistentin, die, als sie zum Mittagessen ging, Kopfschmerzen gehabt hatte und ihm jetzt mitteilte, daß noch eine Magenverstimmung dazugekommen sei. Dies bedeutete, daß der Tierarzt sich allein um seine Patienten kümmern mußte, und so bot Travis ihm seine und Noras Unterstützung an.

»Wir haben natürlich keine tierärztliche Ausbildung. Aber Sie können uns ja irgendwelche Hilfsarbeiten zuteilen.« »Sicher«, pflichtete Nora ihm bei. »Und außerdem haben wir beide zusammengenommen ein ganz gut funktionierendes Gehirn. Wenn Sie uns also zeigen, wie wir es anpacken sollen, könnten wir alles mögliche erledigen.«

Sie verbrachten den Nachmittag damit, widerspenstige Katzen, Hunde, Papageien und alle möglichen anderen Tiere festzuhalten, während Jim Keene sie behandelte. Es gab Verbande aufzubreiten, Arzneimittel aus den Schränken zu holen, Instrumente zu säubern und zu sterilisieren, Honorare entgegenzunehmen und Quittungen auszuschreiben. Einige Patienten hinterließen auch Spuren von Durchfall und Erbrechen, die beseitigt werden mußten. Aber Travis und Nora unterzogen sich auch solch unangenehmer Pflichten ebenso klaglos, wie sie die anderen Aufgaben erledigten. .

Dafür hatten sie zwei Gründe. Der erste war natürlich der, daß sie, indem sie Keene assistierten, den ganzen Nachmittag Gelegenheit hatten, mit Einstein in der Praxis zusammen zu sein. Wenn sie zwischendurch nicht beschäftigt waren, stahlen sie sich ein paar Augenblicke davon, um den Retriever zu streicheln, ihm ein paar aufmunternde Worte zu sagen und sich davon zu überzeugen, daß sein Zustand sich nicht verschlechterte. Andererseits konnten sie, indem sie dauernd mit Einstein zusammen waren, zu ihrer Betrübnis sehen, daß sein Zustand sich auch keineswegs besserte.

Zweitens gab ihnen ihre Mitarbeit die Möglichkeit, sich bei dem Tierarzt beliebt zu machen und ihn damit dazu zu bewegen, seine Entscheidung nicht noch einmal zu überdenken, sie die Nacht über bei sich bleiben zu lassen.

Der Andrang an Patienten war wesentlich größer als üblich - wie Keene sagte -, und daher konnten sie die Praxis erst nach sechs Uhr schließen. Die Müdigkeit - und die gemeinsam verrichtete Arbeit - erzeugten ein warmes Gefühl der Zusammengehörigkeit. Während sie das Abendessen zubereiteten und dann auch gemeinsam einnahmen, unterhielt Jim Keene sie mit zahlreichen Tiergeschichten aus seiner reichen Erfahrung, und sie fühlten sich fast so behaglich und wohl, als das der Fall gewesen wäre, wenn sie den Tierarzt schon seit Monaten anstatt nur weniger als einen Tag lang gekannt hätten.

Keene richtete ihnen das Gästeschlafzimmer her und gab ihnen ein paar Decken, mit denen sie sich auf dem Boden der Praxis eine primitive Liegestatt bereiten konnten. Travis und Nora hatten vor, abwechselnd im richtigen Bett zu schlafen und jeweils die andere Hälfte der Nacht auf dem Boden in Einsteins Gesellschaft zu verbringen.

Travis hatte die erste Schicht von zehn Uhr bis drei Uhr morgens. Nur eine einzige Lampe in einer Ecke der Praxis brannte, und Travis saß entweder auf den übereinandergelegten Decken neben Einstein oder er streckte sich auf den Decken aus.

Gelegentlich schlief Einstein. Sein Atem klang dann normaler, nicht so beängstigend. Dann wiederum war er wach, seine Atemzüge hörten sich schrecklich gequält an, und er winselte vor Schmerzen und - das spürte Travis - vor Angst. Travis redete auf ihn ein, erinnerte ihn an gemeinsame Erlebnisse, an die vielen schönen Augenblicke und die guten Zeiten in den letzten sechs Monaten, und der Klang von Travis' Stimme schien den Retriever wenigstens etwas zu beruhigen.

Da der Hund sich überhaupt nicht bewegen konnte, war er notwendigerweise inkontinent und urinierte zweimal auf die mit Plastik überzogene Matratze. Travis machte ohne jeden Ekel und mit dem gleichen Mitgefühl sauber, wie ein Vater es für ein schwerkrankes Kind getan haben würde. In gewisser Weise war Travis sogar froh, denn jedesmal, wenn Einstein pinkelte, war das ein Beweis dafür, daß er noch lebte und sein Körper in einer Hinsicht noch so normal funktionierte wie eh und je.

Im Laufe der Nacht regnete es ein paarmal. Das Trommeln der Regentropfen auf das Dach stimmte traurig.

Während dieser ersten Schicht tauchte Jim Keene zweimal in Pyjama und Morgenrock auf. Das erstemal untersuchte er Einstein gründlich und wechselte die Infusionsflasche aus. Beim zweitenmal verpaßte er ihm nach der Untersuchung eine Injektion. Beide Male versicherte er Travis, daß im Augenblick keine Besserung zu erwarten sei; im Augenblick reiche es, daß es im Zustand des Hundes keine Anzeichen von Verschlechterung gäbe.

Während der Nacht ging Travis mehrere Male ans andere Ende des Raumes, um zu lesen, was auf einer gerahmten Schrifttafel über dem Ausguß zu lesen stand:

LOBLIED AUF EINEN HUND Der einzige absolut selbstlose Freund, den der Mensch in dieser selbstsüchtigen Welt haben kann, der einzige Freund, der ihn nie verläßt und sich ihm gegenüber nie undankbar oder treulos erweist, ist sein Hund. Eines Menschen Hund steht in Wohlstand und Armut an seiner Seite, in gesunden und in kranken Tagen. Er wird auf der kalten Erde schlafen, im eisigen Wind und Schnee des Winters, nur um an der Seite seines Herrn und Meisters zu sein. Er wird die Hand küssen, die ihm keine Nahrung anbieten kann; er wird die Wunden und Schrammen lecken, die die rauhe Welt schlägt. Er behütet den Schlaf seines armen Herrn, als wäre dieser ein Fürst. Und wenn alle anderen Freunde ihn verlassen: Er bleibt zurück. Und wenn der Reichtum vergeht, der Ruf zuschanden wird, seine Liebe bleibt so beständig wie die Sonne auf ihrer Reise über das Himmelszelt.

Senator George Vest, 1870 Jedesmal, wenn Travis diesen Lobgesang las, erfüllte ihn aufs neue Staunen über Einsteins Existenz. Gab es eine weiter verbreitete Fantasievorstellung der Kinder als die, daß ihre Hunde so klug und so weise wären wie jeder Erwachsene? Und welches Geschenk Gottes würde einen jungen Menschen mehr entzücken als dieses, daß der Hund der Familie imstande war, sich wie ein Mensch mit ihm zu verständigen und Triumphe und Tragödien mit vollem Verständnis ihrer Bedeutung und ihrer Wichtigkeit mit ihm zu teilen? Welches Wunder könnte mehr Freude, mehr Respekt für die Geheimnisse der Natur, größeres Entzücken über die Wunder des Lebens hervorrufen? Irgendwie erzeugte die Vorstellung, daß sich die Persönlichkeit eines Hundes und die Intelligenz des Menschen in einem ein-zigen Geschöpf vereinigten, die Hoffnung auf eine Gattung, so begabt wie die Menschheit, aber edler und wertvoller. Und gab es eine weiter verbreitete Fantasievorstellung der Erwachsenen als die, daß sich eines Tages eine andere intelligente Gattung finden werde, die das weite, kalte Universum mit der Menschheit teilte und damit endlich die unsägliche Einsamkeit und das Gefühl leiser Verzweiflung unserer Rasse linderte? Und konnte irgendein Verlust niederschmetternder sein als der Einsteins, jenes ersten, hoffnungsvollen Hinweises darauf, daß die Menschheit in sich nicht nur den Samen der Größe, sondern der Gottheit trug?

Diese Gedanken, die Travis einfach nicht unterdrücken konnte, erschütterten ihn und ließen ihn qualvoll aufschluchzen. Dann machte er sich Vorwürfe ob seiner Gefühlsduselei und ging in den Korridor hinaus, um Einstein seine Tränen -und die Furcht, die sie vielleicht in ihm hervorrufen würden -zu ersparen.

Nora löste ihn um drei Uhr morgens ab. Sie mußte darauf bestehen, daß er nach oben ging, denn er wollte eigentlich die Praxisräume nicht verlassen.

Erschöpft und dennoch unter Protest ließ Travis sich mit der Behauptung, er würde ohnehin nicht schlafen, ins Bett fallen und schlief ein.

Er träumte davon, daß ihn ein gelbäugiges Ding mit bösartig aussehenden Krallen und einem Alligatormaul verfolgte. Er versuchte Einstein und Nora zu schützen, schob sie vor sich her, drängte sie, wegzulaufen, zu fliehen. Aber irgendwie schaffte es das Ungeheuer, an Travis vorbeizukommen, und dann riß es Einstein in Stücke und ging danach auf Nora los.

Es war der Fluch der Cornells, dem man nicht einfach aus dem Wege gehen konnte, indem man seinen Namen in Samuel Hyatt änderte. Schließlich hörte Travis zu rennen auf, fiel auf die Knie und senkte den Kopf, weil er jetzt, da er Nora und dem Hund Unglück gebracht hatte und ihnen nicht hatte helfen können, sterben wollte. Und dann hörte er, wie das Ding näher kam - klick, klick, klick -, hatte Angst und begrüßte doch den Tod, den das Geräusch ihm verhieß ...

Nora weckte ihn kurz vor fünf Uhr morgens. »Einstein«, sagte sie drängend. »Er hat Zuckungen.«

Als Nora mit Travis in die Praxis kam, fanden sie dort Jim Keene über Einstein gebeugt und mit ihm beschäftigt. Es gab für sie nichts zu tun, außer dem Tierarzt nicht im Wege zu stehen und ihm Platz zum Arbeiten zu lassen.

Sie hielten einander umfangen.

Nach ein paar Minuten richtete sich der Tierarzt auf. Sein Blick verriet Sorge, und diesmal war da nicht sein üblicher Versuch zu lächeln oder ihnen Hoffnung zu machen. »Ich habe ihm zusätzliche Mittel gegen die Zuckungen gegeben. Ich glaube ... ich glaube, jetzt ist er in Ordnung.«

»Ist das jetzt das zweite Stadium?« fragte Travis.

»Vielleicht nicht«, sagte Keene.

»Könnte es sein, daß er Zuckungen hat und trotzdem noch im ersten Stadium ist?«

»Möglich wäre es«, sagte Keene.

»Aber nicht wahrscheinlich.«

»Nicht wahrscheinlich«, nickte Keene. »Aber... nicht unmöglich.«

Staupe im zweiten Stadium, dachte Nora verzagt.

Ihre Arme drückten Travis noch fester an sich.

Zweites Stadium. Gehirnschäden. Encephalitis, Chorea. Hirnschäden.

Travis wollte nicht ins Bett zurück. Er blieb den Rest der Nacht bei Nora und Einstein in der Praxis.

Sie schalteten eine weitere Lampe ein, machten den Raum dadurch etwas heller, aber nicht so hell, daß es Einstein stören konnte, und beobachteten ihn scharf nach Anzeichen darauf, daß die Staupe ins zweite Stadium übergegangen sei: ruckartige Bewegungen, Zucken und die Kaubewegungen, von denen Jim Keene gesprochen hatte.

Travis konnte daraus, daß bis jetzt keine derartigen Symptome aufgetreten waren, keine Hoffnung schöpfen. Selbst wenn Einstein sich im ersten Stadium der Krankheit befinden und sich nichts daran ändern sollte, sah es doch so aus, als würde er sterben.

Am nächsten Tag, am Freitag, dem 3. Dezember, ging es Jim Keenes Helferin noch immer nicht gut genug, um zur Arbeit zu kommen, also halfen Nora und Travis wieder aus.

Bis zum Mittag war Einsteins Fieber noch nicht gefallen.

Aus seinen Augenwinkeln und der Nase trat immer noch eine durchsichtige, gelbliche Flüssigkeit aus. Sein Atem ging nicht mehr ganz so schwer, aber Nora stellte sich in ihrer Verzweiflung die Frage, ob der Atem des Hundes vielleicht nur deshalb leichter klang, weil er sich keine Mühe mehr gab, zu atmen, und dabei war, aufzugeben.

Sie brachte vormittags keinen Bissen hinunter. Sie wusch und bügelte Travis' Kleider und ihre eigenen. Sie hatten zwei von Jim Keenes Bademänteln an, die ihnen zu groß waren. Am Nachmittag herrschte in der Praxis wieder reger Betrieb. Nora und Travis waren die ganze Zeit über in Bewegung, und Nora war froh darüber.

Um dreiviertel fünf - den Augenblick würden sie, solange sie lebten, nie vergessen -, kurz nachdem sie Jim bei der Behandlung eines schwierigen Irish Setter beigestanden hatten, jaulte Einstein zweimal auf seiner Liegestatt in der Ecke auf. Nora und Travis fuhren herum, stöhnten und rechneten mit dem Schlimmsten. Dies war der erste Laut, den Einstein - abgesehen von Winseln - seit seinem Eintreffen in der Praxis von sich gab. Aber der Retriever hatte den Kopf gehoben -das erstemal, daß er die Kraft hatte, ihn zu heben - und sah sie blinzelnd an. Er blickte neugierig in die Runde, als wollte er fragen, wo in aller Welt er sich befinde.

Jim kniete neben dem Hund nieder, und während Travis und Nora sich erwartungsvoll hinten an ihn drängten, untersuchte er Einstein gründlich. »Sehen Sie sich seine Augen an. Sie sind etwas trüb, aber überhaupt nicht mit vorher zu vergleichen. Und der Ausfluß hat auf gehört.« Mit einem feuchten Tuch säuberte Jim das verklebte Fell unter Einsteins Augen und wischte ihm die Nase sauber; auch aus den Nasenlöchern trat kein Ausfluß mehr. Dann maß er mit einem Rektalthermometer Einsteins Temperatur und meinte: »Fällt. Ein ganzes Grad.«

»Gott sei Dank«, sagte Travis.

Und Nora merkte, daß ihre Augen sich wieder mit Tränen füllten.

»Er ist noch nicht überm Berg«, sagte Jim. »Sein Herzschlag ist regelmäßiger, nicht mehr ganz so schnell, aber immer noch nicht gut. Nora, holen Sie eine von den Schüsseln dort drüben und füllen Sie sie mit etwas Wasser.«

Nora ging an den Ausguß und stellte die Schüssel kurz darauf neben dem Tierarzt auf den Boden.

Jim schob sie Einstein hin. »Was meinst du, Bursche?« Einstein hob wieder den Kopf von der Matratze und starrte die Schüssel an. Seine heraushängende Zunge sah trocken aus und war mit einer klebrigen Substanz bedeckt. Er winselte und leckte sich die Lefzen.

»Vielleicht«, sagte Travis, »wenn wir ihm helfen ...«

»Nein«, widersprach Jim Keene. »Er soll es sich überlegen. Wenn ihm danach ist, wird er das schon wissen. Wir wollen ihn nicht zwingen, Wasser zu trinken, das er anschließend wieder erbricht. Er wird instinktiv wissen, ob das der richtige Zeitpunkt ist.«

Mit einigem Ächzen und Stöhnen verlagerte Einstein sein Gewicht auf der Schaumstoffmatratze, rollte sich auf den Bauch. Er legte die Nase an die Schüssel, beschnüffelte das Wasser, leckte prüfend daran, fand Geschmack daran, leckte noch einmal und trank dann die Schüssel zu einem Drittel leer, ehe er sich seufzend wieder hinlegte.

Jim Keene streichelte ihn und meinte: »Jetzt wäre ich sehr überrascht, wenn er sich nicht erholen würde, völlig erholen würde. Aber eine Weile wird es noch dauern.«

Eine Weile wird es noch dauern.

Der Satz beunruhigte Travis.

Wieviel Zeit würde Einstein brauchen, um sich völlig zu erholen? Wenn der Outsider schließlich eintraf, würde es für sie alle besser sein, wenn Einstein gesund war und alle seine Sinne funktionierten. Trotz ihrer Infrarotanlage war Einstein ihr wichtigstes Frühwarnsystem.

Nachdem der letzte Patient um halb sechs die Praxis verlassen hatte, verschwand Jim Keene auf eine halbe Stunde ohne Angabe eines Grundes und brachte, als er zurückkehrte, eine Flasche Champagner mit. »Ich trinke gewöhnlich nicht viel. Aber es gibt Anlässe, die einen Schluck oder zwei einfach verlangen.«

Nora hatte sich gelobt, während der Schwangerschaft nichts zu trinken; aber unter Umständen wie diesen konnte man selbst das feierlichste Gelöbnis etwas großzügig auslegen.

Sie holten Gläser und tranken in der Praxis, wobei sie Einstein zuprosteten, der sie ein paar Minuten lang beobachtete, aber dann erschöpft wieder einschlief.

»Diesmal ist das natürlicher Schlaf«, stellte Jim fest. »Nicht mittels Sedativa erzeugter.«

»Wie lange wird er brauchen, um sich zu erholen?« fragte Travis.

»Um die Staupe loszuwerden? Ein paar Tage noch. Eine Woche. Ich möchte ihn jedenfalls noch gern zwei Tage hierbehalten. Sie könnten jetzt, wenn Sie wollen, nach Hause gehen, aber Sie dürfen auch gerne bleiben. Sie haben mir sehr geholfen.«

»Wir bleiben«, erklärte Nora sofort.

»Aber nachdem die Staupe besiegt ist«, sagte Travis, »wird er doch noch schwach sein, nicht wahr?«

»Zunächst sehr schwach«, sagte Jim. »Aber mit der Zeit wird er wieder zu Kräften kommen. Ich bin jetzt sicher, daß er nie in das zweite Stadium eingetreten ist, trotz der Zuckungen. Also wird er vielleicht bis zum Jahresende wieder ganz der alte sein. Und es sollte auch keine bleibenden Schäden geben, kein Zittern oder dergleichen.«

Bis zum Jahresende.

Travis hoffte, es würde reichen.

Wieder teilten Nora und Travis sich die Nacht in zwei Schichten auf. Travis übernahm die erste, und sie löste ihn um drei Uhr morgens in der Praxis ab.

Der Nebel hatte sich von der See nach Carmel hereingewälzt. Jetzt wallte er beharrlich vor den Fenstern.

Einstein schlief, als Nora kam, und sie fragte: »Ist er viel wach gewesen?«

»Mhm«, meinte Travis. »Hier und da.«

»Hast du ... mit ihm gesprochen?«

»Ja.'

»Und?«

Travis' Gesicht war zerfurcht, schmal, sein Ausdruck ernst. »Ich habe ihm Fragen gestellt, die man mit Ja oder Nein beantworten kann.«

»Und?«

»Er beantwortet sie nicht. Er blinzelt nur oder gähnt oder schläft wieder ein.«

»Er ist noch sehr müde«, sagte sie und hoffte fest, dies sei die Erklärung für das unkommunikative Verhalten des Retrievers. »Er hat nicht einmal die Kraft für Fragen und Antworten.«

Bleich und sichtlich deprimiert meinte Travis: »Vielleicht.

Ich weiß es nicht... Aber ich glaube ... er kommt mir... irgendwie verwirrt vor.«

»Er hat die Krankheit noch nicht überwunden«, sagte sie.

»Er kämpft dagegen an, aber noch ist sie stärker. Er wird noch eine Weile benommen sein.«

»Verwirrt«, wiederholte Travis.

»Das wird sich geben.«

»Jaaa«, sagte er. »Jaaa, das wird sich geben.«

Aber es klang, als glaubte er, Einstein würde nie wieder werden wie früher.

Nora wußte, was Travis jetzt dachte: Wieder der Fluch der Cornells, an den er nicht zu glauben vorgab, aber den er tief im Herzen dennoch fürchtete. Jedem, den er liebte, war es bestimmt, zu leiden und jung zu sterben. Jeder, der ihm etwas bedeutete, wurde ihm entrissen.

Das war natürlich alles Unsinn, und Nora glaubte keinen Augenblick daran. Aber sie wußte, wie schwer es war, die Vergangenheit abzuschütteln, nur nach vorn zu blicken, und konnte es ihm nachfühlen, daß er jetzt einfach nicht optimistisch sein konnte. Und sie wußte auch, daß sie nichts für ihn tun konnte, um ihn aus diesem Abgrund persönlicher Pein zu holen - außer ihn zu küssen, die Arme um ihn zu legen und ihn dann ins Bett zu schicken, damit er etwas Schlaf bekäme.

Als Travis gegangen war, setzte Nora sich neben Einstein auf den Boden und sagte: »Es gibt da ein paar Dinge, die ich dir sagen muß. Pelzgesicht. Du schläfst und kannst mich nicht hören, glaube ich, und vielleicht würdest du, selbst wenn du wach wärst, nicht verstehen, was ich jetzt sage. Vielleicht wirst du nie wieder etwas verstehen, und deshalb sage ich es jetzt, wo es zumindest noch Hoffnung gibt, daß dein Verstand intakt ist.«

Sie hielt inne, atmete tief ein und sah sich in der Praxis um, in der, abgesehen von ihren Worten, völlige Stille herrschte. Das schwache Licht spiegelte sich in den Instrumenten und den Scheiben der Schränke.

Einsteins Atem ging regelmäßig, nur hier und da war ein leises Rasseln zu hören. Er regte sich nicht. Nicht einmal sein Schweif bewegte sich.

»Für mich bist du ein Behüter gewesen, Einstein. So habe ich dich einmal genannt, als du mich vor Arthur Streck gerettet hast. Mein Behüter. Du hast mich nicht nur vor diesem schrecklichen Mann gerettet - du hast mich auch aus der Einsamkeit und der furchtbaren Verzweiflung geholt. Und Travis hast du vor der Finsternis gerettet, die in ihm war. Und du hast uns zusammengebracht. Auch auf andere Weise warst du so perfekt, wie sich das ein Schutzengel nur wünschen kann.

In deinem guten, reinen Herzen hast du für alles, was du getan hast, nie etwas verlangt oder gewollt. Hier und da ein paar Hundekuchen, manchmal ein Stück Schokolade. Aber du würdest das alles auch dann getan haben, wenn man dir außer Hundefraß nichts gegeben hätte. Du hast es getan, weil du liebst, und es war dir genügend Lohn, wiedergeliebt zu werden. Indem du bist, was du bist. Pelzgesicht, hast du mich etwas sehr Wichtiges gelehrt, etwas, das in Worte zu kleiden mir schwerfällt... «

Eine Weile saß sie stumm da und unfähig, weiterzusprechen, im Schatten neben ihrem Freund, ihrem Kind, ihrem Lehrer, ihrem Behüter.

»Aber verdammt noch mal«, sagte sie schließlich, »ich muß die Worte finden, weil es vielleicht das letzte Mal ist, daß ich wenigstens so tun kann, als würdest du sie verstehen. Es ist einfach so ... Du hast mich gelehrt, daß ich auch deine Behüterin bin, daß ich Travis' Behüterin bin und daß er mein und dein Behüter ist. Wir tragen eine Verantwortung und müssen einander bewachen. Wir alle sind Behüter, bewahren einander vor der Finsternis. Du hast mich gelehrt, daß wir alle gebraucht werden, jeder, auch die, die manchmal denken, sie wären wertlos, unscheinbar und langweilig. Wenn wir lieben und zulassen, daß man uns liebt... nun, ein Mensch, der liebt, ist das Wertvollste, das es auf der Welt gibt - wertvoller als alle Schätze der Welt. Und das hast du mich gelehrt, Pelzgesicht, und deshalb werde ich nie wieder sein, was ich einmal war.«

Den Rest der langen Nacht lag Einstein reglos auf seiner Matratze, in tiefem Schlaf.

Am Samstag hatte Jim Keene seine Praxis nur vormittags geöffnet. Als es Mittag wurde, schloß er den Eingang zur Praxis an der Schmalseite seines großen, behaglichen Hauses ab.

Am Vormittag hatte Einstein ermutigende Anzeichen seiner Genesung gezeigt. Er trank mehr Wasser und verbrachte einige Zeit auf dem Bauch, anstatt schlaff auf der Seite zu liegen. Mit erhobenem Kopf sah er sich interessiert um und nahm das Geschehen in der Praxis in sich auf. Sogar eine Mischung aus rohem Ei und Fleischsoße, die Jim ihm hinstellte, schlabberte er, leerte die Schüssel zur Hälfte und erbrach nachher nicht.

Die intravenösen Infusionen hatte der Arzt völlig abgesetzt. Aber Einstein döste immer noch die meiste Zeit. Und seine Reaktionen auf Travis und Nora waren die eines ganz gewöhnlichen Hundes.

Als sie nach dem Mittagessen mit Jim am Küchentisch saßen und eine Tasse Kaffee tranken, seufzte der Tierarzt und sagte: »Nun, ich glaube, jetzt kann man das nicht weiter hinausschieben.« Er holte ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Innentasche seiner alten, abgetragenen Cordjacke und legte es vor Travis auf den Tisch.

Einen Augenblick dachte Nora, es wäre die Rechnung für seine Dienste. Aber als Travis das Papier auseinanderfaltete, sah sie, daß es ein Flugblatt war, das die Leute ausgeschickt hatten, die Einstein suchten.

Travis ließ die Schultern hängen.

Mit dem Gefühl, ihr Herz falle in einen Abgrund, rutschte Nora näher zu Travis hin, damit sie beide das Blatt lesen konnten. Es trug das Datum der letzten Woche und enthielt eine Beschreibung Einsteins, einschließlich der aus drei Ziffern bestehenden Tätowierung in seinem Ohr, und führte aus, daß der Hund sich wahrscheinlich im Besitz eines Mannes namens Travis Cornell und seiner Frau Nora befinde, die möglicherweise unter einem anderen Namen lebten. Unten auf dem Blatt fanden sich Beschreibung von Nora und Travis sowie ihre Fotos.

»Seit wann wissen Sie es?« fragte Travis.

»Innerhalb einer Stunde, nachdem ich ihn das erste Mal sah, am Donnerstagmorgen. Dieses Flugblatt wird seit sechs Monaten jede Woche mit auf den neuesten Stand gebrachtem Text ausgeschickt und die staatliche Krebsforschungsbehörde hat mich dreimal angerufen, um mich immer wieder daran zu erinnern, daß ich jeden Golden Retriever nach Labortätowierungen untersuchen und einen eventuellen Fund sofort melden soll.«

»Und haben Sie ihn gemeldet?« fragte Nora.

»Bis jetzt nicht. Ich hielt es nicht für notwendig, darüber zu reden, bis wir wüßten, ob er durchkommen würde.«

»Und werden sie ihn jetzt melden?« fragte Travis.

Jim Keenes Hundegesicht nahm einen noch bedrückteren Ausdruck an als sonst, und er sagte: »Nach dem, was das Krebsinstitut mir gesagt hat, war dieser Hund der Mittelpunkt ausnehmend wichtiger Experimente, die möglicherweise zu einem Heilmittel gegen Krebs führen könnten. Die Leute sagen, daß Millionen von Dollar Forschungsmittel umsonst ausgegeben wären, wenn man den Hund nicht findet und in das Labor zurückbringt, um die Forschungen abzuschließen.«

»Das ist alles Lüge«, sagte Travis.

»Lassen Sie mich eines ganz klar sagen«, sagte Jim, beugte sich in seinem Stuhl vor und legte die beiden großen Hände um die Kaffeetasse. »Ich liebe Tiere, mein ganzes Leben ist den Tieren gewidmet. Und Hunde liebe ich mehr als alles andere. Aber ich fürchte, daß ich nicht viel Sympathie für Leute habe, die der Meinung sind, wir sollten alle Tierversuche einstellen, Leute, die glauben, medizinischer Fortschritt, der mithilft, menschliches Leben zu retten, sei es nicht wert, einem Meerschweinchen, einer Katze oder einem Hund etwas anzutun, Leute, die in Labors einbrechen, Tiere stehlen und jahrelange Forschungsarbeiten zunichte machen. Wenn ich an solche Leute denke, dann wird mir übel. Es ist gut und richtig, das Leben zu lieben, es auch in seiner bescheidensten Form zu lieben. Aber solche Leute lieben das Leben nicht - sie verehren es, und das ist heidnisch, ignorant, vielleicht sogar primitiv.« »So ist es gar nicht«, sagte Nora. »Einstein war nie in der Krebsforschung eingesetzt. Das haben die nur verbreitet, um die Wahrheit zu verheimlichen. Das Krebsinstitut ist auch nicht auf der Suche nach Einstein. In Wahrheit will ihn die nationale Sicherheitsbehörde haben.« Sie schaute Travis an und sagte; »Also, was machen wir jetzt?«

Travis lächelte grimmig und sagte: »Nun, ich kann doch Jim hier nicht einfach umbringen, um ihn am Reden zu hindern ... «

Der Tierarzt sah ihn verblüfft an.

»... also denke ich, werden wir ihn überzeugen müssen«, schloß Travis.

»Die Wahrheit?« fragte Nora.

Travis starrte Jim Keene einige Augenblicke lang an und sagte schließlich: »Ja. Sie ist das einzige, was ihn vielleicht davon überzeugt, daß er diesen verdammten Wisch in den Abfall wirft.«

Nora atmete tief ein und sagte dann: »Jim, Einstein ist ebenso klug wie Sie oder ich oder Travis.«

»Klüger, denke ich mitunter«, sagte Travis.

Der Tierarzt starrte sie verständnislos an.

»Machen wir noch eine Kanne Kaffee«, sagte Nora. »Das wird ein langer, langer Nachmittag werden.«

Stunden später, um zehn Minuten nach fünf am Samstagnachmittag, waren Nora, Travis und Jim Keene vor der Matratze, auf der Einstein lag, versammelt.

Der Hund hatte noch einmal etwas Wasser getrunken. Auch er betrachtete sie interessiert.

Travis versuchte sich darüber klarzuwerden, ob seine großen braunen Augen immer noch von jener seltsamen Tiefe und unheimlichen Wachsamkeit waren und so völlig unhündisch wissend blickten wie früher. Verdammt. Er war nicht sicher - und seine Unsicherheit machte ihm Angst.

Jim untersuchte Einstein und stellte fest, daß seine Augen klarer waren, fast normal, und daß seine Temperatur immer noch sank. »Auch die Herztöne hören sich etwas besser an. «

Von der zehnminütigen Untersuchung erschöpft, ließ Einstein sich auf die Seite fallen und gab ein langes, müdes Seufzen von sich. Im nächsten Augenblick war er wieder cinge-schlafen.

»Besonders genial wirkt er nicht gerade auf mich«, sagte der Tierarzt.

»Er ist immer noch krank«, erklärte Nora. »Er braucht noch etwas Zeit, um sich zu erholen, dann wird er Ihnen zeigen, daß alles, was wir Ihnen gesagt haben, stimmt.« »Wann, glauben Sie, wird er wieder auf den Beinen sein?« fragte Travis.

Jim dachte nach und meinte dann: »Morgen vielleicht. Zunächst wird er ziemlich zitterig sein. Aber vielleicht morgen. Wir müssen eben sehen.«

»Wenn er wieder auf den Beinen stehen kann«, sagte Travis, »wenn er seinen Gleichgewichtssinn zurückgewonnen hat und Interesse zeigt, sich herumzubewegen, sollte das auch darauf hindeuten, daß er im Kopf wieder klarer ist. Und dann werden wir einen Test mit ihm machen, um Ihnen zu beweisen, wie klug er ist.«

»Soll mir recht sein«, sagte Jim.

»Und wenn er es beweist«, meinte Nora, »dann werden Sie ihn nicht ausliefern?«

»Ihn an Leute ausliefern, die so etwas wie diesen Outsider geschaffen haben, von dem Sie mir erzählt haben? Ihn an die Lügner ausliefern, die sich diesen Fahndungszettel ausgedacht haben? Nora, für was für einen Menschen halten Sie mich?« »Für einen guten«, sagte Nora.

Vierundzwanzig Stunden später, am Sonntagabend, bewegte Einstein sich torkelnd in Jim Keenes Praxis hierhin und dorthin, als wäre er ein kleiner, alter Mann auf vier Beinen.

Nora rutschte auf den Knien neben ihm auf dem Boden mit und versicherte ihm immer wieder, er sei ein tüchtiger und braver Bursche, ermunterte ihn solcherart, in Bewegung zu bleiben. Jeder Schritt, den er machte, entzückte sie, als wäre er ihr Baby, das das Gehen erlernte. Aber was sie noch weit mehr entzückte, war der Blick, den er ihr ein paarmal zuwarf: ein Blick, der Ärger über seine Schwäche auszudrücken schien, aber zugleich so etwas wie Belustigung, als wollte er sagen:

He, Nora, bin ich denn ein Schaustück - oder was ? Ist das nicht lächerlich ?

Am Samstagabend hatte er etwas feste Nahrung zu sich genommen und den ganzen Sonntag über an leichtverdaulichen Leckerbissen herumgeknabbert, die der Tierarzt ihm anbot. Er trank auch regelmäßig. Aber das ermutigendste an seiner Besserung war, daß er darauf bestand, hinauszugehen, um sein Geschäft zu machen. Er konnte noch nicht lange auf den Beinen stehen, von Zeit zu Zeit schwankte er, sackte ein, aber er stieß nicht gegen Wände und lief auch nicht im Kreis.

Gestern war Nora einkaufen gegangen und hatte drei Scrabble-Spiele mitgebracht. Jetzt hatte Travis an einem Ende der Praxis die Steine auf dem Boden in sechsundzwanzig Häufchen aufgeteilt.

»Wir sind soweit«, sagte Jim Keene. Er saß mit Travis im Türkensitz auf dem Boden. Pooka lag neben seinem Herrchen und schaute mit erstaunten Augen zu.

Nora führte Einstein zu den Scrabble-Steinen. Sie nahm seinen Kopf in die Hände, schaute ihm gerade in die Augen und sagte leise:

»Okay, Pelzgesicht. Jetzt wollen wir Dr. Jim beweisen, daß du nicht bloß ein armseliges Labortier bist, das für die Krebsforschung eingesetzt war. Jetzt wollen wir ihm zeigen, was du wirklich bist und weshalb diese bösen Menschen dich wirklich zurückhaben wollen.«

Sie versuchte daran zu glauben, im Blick des Retrievers die alte Wachsamkeit wiederzuerkennen.

Sichtlich nervös und beunruhigt sagte Travis: »Wer stellt die erste Frage?«

»Ich«, sagte Nora, ohne zu zögern, und fragte, zu Einstein gewendet: »Wie geht's der Fiedel?«

Sie hatten Jim Keene von der Nachricht erzählt, die Travis an dem Morgen vorgefunden hatte, an dem Einstein krank wurde - FIEDEL ZERBROCHEN -, und daher verstand der Arzt, was Nora fragte.

Einstein blinzelte die Buchstaben an, blinzelte wieder, zu ihr gewendet, beschnüffelte die Buchstaben, und gerade als sie anfing, eisige Angst zu verspüren, begann er Steine auszuwählen und sie mit der Nase herumzuschieben.

FIEDEL BESSER.

Travis erschauerte, als hätte seine Angst gleichsam als eine mächtige elektrische Ladung sich in diesem Augenblick entladen. Er sagte: »Gott sei Dank, Gott sei Dank!« und lachte vor Begeisterung.

»Jetzt soll mich doch der Teufel holen!« sagte Jim Keene. Pooka hob den Kopf und spitzte die Ohren, spürte, daß sich etwas sehr Wichtiges ereignete, wußte aber nicht, was.

Nora schwoll das Herz, sie legte die Steine auf die einzelnen Häufchen zurück und sagte: »Einstein, wer ist dein Herrchen? Sag uns seinen Namen.«

Der Retriever schaute zuerst sie, dann Travis an und gab dann die wohlüberlegte Antwort.

KEIN HERRCHEN. FREUNDE.

Travis lachte. »Bei Gott, das ist richtig! Niemand kann sein Herrchen sein, aber jeder sollte verdammt stolz sein, sein Freund sein zu dürfen.«

Es war das erste Lachen von Travis seit Tagen, während Nora vor Erleichterung weinen mußte.

Jim Keene sah mit großen Augen staunend zu und grinste dümmlich. Er sagte: »Ich komme mir wie ein Kind vor, das sich am Weihnachtsabend hinuntergeschlichen und tatsächlich den Weihnachtsmann dabei entdeckt hat, wie er Geschenke unter den Baum legt.«

»Jetzt bin ich dran«, sagte Travis, rutschte nach vorn und legte Einstein die Hand auf den Kopf und tätschelte ihn. »Jim hat gerade Weihnachten erwähnt, und bis dahin ist es nicht mehr weit. Noch zwanzig Tage. Sag mir also, Einstein: Was soll dir der Weihnachtsmann bringen, was wäre dir am liebsten?«

Zweimal setzte Einstein an, die Buchstaben aufzureihen, aber beide Male überlegte er es sich noch einmal. Dann torkelte er, fiel auf den Bauch, sah sich etwas dümmlich um, merkte, daß sie alle auf etwas warteten, stemmte sich wieder hoch und produzierte seine Bitte an den Weihnachtsmann.

MICKYMAUS.

Sie gingen erst um zwei Uhr früh zu Bett, weil Jim Keene berauscht war, nicht von Bier, Wein oder Whisky, sondern von schierer Freude über Einsteins Intelligenz. »Ja, wie ein Mensch, aber trotzdem ein Hund, ein Hund, auf wunderbare Art dem Denken eines Menschen ähnlich und doch auch wunderbar anders, wenn man von dem Wenigen ausgeht, das ich gesehen habe.« Aber Jim drängte nicht mehr auf mehr als einem Dutzend Beweisen seines Verstands. Er war der erste, der sagte, daß sie ihren Patienten nicht ermüden dürften. Trotzdem war er so erregt, daß er kaum an sich halten konnte. Travis wäre nicht zu sehr überrascht gewesen, hätte der Tierarzt plötzlich durchgedreht.

In der Küche drängte sie Jim, ihm einige der Geschichten über Einstein zu erzählen: die Sache mit der >Modernen Braut< in Solvang; wie er es angestellt hatte, dem ersten heißen Bad, das Travis ihm verordnete, kaltes Wasser hinzuzufügen, und vieles andere mehr. Jim selbst erzählte einige der Geschichten ein zweites Mal, als würden Travis und Nora sie noch nicht kennen. Aber die beiden freuten sich und ließen ihn gewähren.

Dann schnappte er sich mit großer Geste das Flugblatt vom Tisch, riß ein Streichholz an und verbrannte das Blatt im Ausguß. Er spülte die Asche hinunter. »Zur Hölle mit den mickrigen Geistern, die ein solches Geschöpf einsperren möchten, um an ihm herumzustochern und ihre Studien zu treiben. Mag sein, daß sie genial genug waren, Einstein zu machen, aber sie begreifen nicht, was sie getan haben. Begreifen nicht, welche Größe es hat, denn wenn sie es begriffen, würden sie ihn nicht in einen Käfig sperren wollen.«

Als Jim Keene am Ende widerstrebend zugab, daß sie alle Schlaf brauchten, trug Travis Einstein - der bereits schlief -ins Gästezimmer hinauf. Sie richteten ihm auf dem Boden neben dem Bett eine Liegestatt aus Decken.

Und dann, in der Dunkelheit, mit Einsteins leisem Schnarchen im Hintergrund, hielten Travis und Nora einander unter der Decke umfangen.

»Jetzt wird alles gut werden«, sagte sie.

»Einiger Ärger steht uns noch bevor«, sagte er. Dem Fluch frühen Todes war durch Einsteins Genesung Halt geboten worden. Aber daß der Fluch völlig von ihm genommen sei, wagte Travis noch nicht zu glauben. Irgendwo dort draußen war immer noch der Outsider... rückte näher.

ZEHN

1

Als sie am Dienstag, dem 7. Dezember, am Nachmittag mit Einstein den Heimweg antraten, wollte Jim Keene sie nicht gehen lassen. Er folgte ihnen nach draußen zu ihrem Pick-up und schärfte ihnen, neben dem Wagen auf der Fahrerseite stehend, noch einmal ein, daß sie die Behandlung die nächsten paar Wochen fortsetzen müßten, erinnerte sie daran, daß er Einstein bis zum Monatsende einmal die Woche sehen wolle, und drängte sie, ihn nicht nur wegen der Behandlung des Hundes aufzusuchen, sondern auch auf einen Drink, zum Abendessen oder einfach, um zu plaudern.

Travis wußte, daß der Tierarzt damit meinte, er wolle ein Teil von Einsteins Leben bleiben, wolle an dem Zauber teilhaben. »Jim, glauben Sie mir, wir kommen wieder. Und noch vor Weihnachten müssen Sie uns besuchen und einen Tag bei uns verbringen.«

»Das würde mich sehr freuen.«

»Uns auch«, sagte Travis aufrichtig.

Auf der Fahrt nach Hause hielt Nora den in eine Decke gehüllten Einstein im Schoß. Er hatte immer noch nicht seinen alten Appetit zurückgewonnen, und er war schwach. Sein Immunsystem hatte schwer gelitten, er würde eine Weile für alle Arten von Krankheiten sehr anfällig sein. Jim Keene hatte gesagt, daß sie ihn so viel wie möglich im Haus festhalten und gut betreuen müßten, bis seine alte Lebenskraft wiederhergestellt wäre - und das werde wahrscheinlich bis ins neue Jahr dauern.

Auf dem verschrammten, zerbeulten Himmel blähten sich regenschwangere dunkle Wolken. Der Pazifische Ozean war so hart und grau, daß er nicht aussah wie Wasser, sondern wie Milliarden von Scherben und Brocken aus Schiefer, die ununterbrochen von unterirdischen Beben durcheinandergewirbelt wurden.

Aber das rauhe Wetter konnte ihrer Stimmung keinen Abbruch tun. Nora strahlte, und Travis ertappte sich beim Pfeifen. Einstein studierte die Szenerie mit großem Interesse, offenkundig bereitete selbst die düstere Schönheit dieses beinahe farblosen Wintertages ihm Freude. Vielleicht hatte er nicht damit gerechnet, die Welt außerhalb von Jim Keenes Praxis jemals wiederzusehen, und in diesem Fall war selbst eine See aus Schieferplatten und ein von Wunden entstellter Himmel ein kostbarer Anblick.

Als sie zu Hause angekommen waren, ließ Travis Nora mit dem Retriever im Wagen sitzen und betrat das Haus zuerst allein durch die Hintertür, wobei er die .38er-Pistole aus dem Handschuhfach in der Hand hielt.

In der Küche, wo seit ihrer überhasteten Abreise letzte Woche immer noch das Licht brannte, holte er eine Uzi-Schnell-feuerwaffe au5 ihrem Versteck in einem Küchenschrank und legte die leichtere Pistole beiseite. Dann ging er vorsichtig von Zimmer zu Zimmer und blickte hinter jedes größere Möbelstück und in jeden Verschlag.

Er entdeckte keine Spuren eines Einbruchs und hatte auch keine erwartet. In dieser ländlichen Gegend gab es praktisch keine Kriminalität, und man konnte ohne weiteres ein paar Tage die Tür unversperrt lassen, ohne zu riskieren, daß irgendwelche Diebe alles bis auf die Tapeten herausholten.

Ihm machte der Outsider Sorge, nicht etwa Einbrecher.

Das Haus war verlassen.

Auch die Scheune überprüfte Travis, ehe er den Pick-up hineinfuhr. Aber auch hier war alles unversehrt.

Im Haus legte Nora Einstein auf den Boden und entfernte die Decke von ihm. Er ging schwankend durch die Küche und beschnüffelte die Gegenstände, an denen er vorbeikam. Im Wohnzimmer warf er einen Blick auf den kalten Kamin und inspizierte seine Umblättermaschine.

Dann kehrte er in die Speisekammer zurück, knipste mit seinem Pedal das Licht an und holte Buchstaben aus den Kunststoffschächten.

ZU HAUSE.

Travis kauerte sich neben dem Hund nieder und sagte:

»Schön, wieder hier zu sein, nicht wahr?«

Einstein drängte sich an Travis und leckte ihm den Hals.

Sein goldenes Fell war wieder flaumig und roch sauber, weil Jim Keene den Hund gebadet hatte. Aber so flaumig und frisch er war - Einstein war noch nicht der alte; er wirkte müde und war auch dünner geworden, hatte in weniger als einer Woche ein paar Pfund verloren.

Einstein holte sich weitere Buchstaben und schrieb dasselbe Wort noch einmal, wie um seine Freude zu betonen.

ZU HAUSE.

Nora, die an der Tür zur Speisekammer stand, sagte: »Zuhause ist, wo das Herz ist, und in diesem Haus gibt es eine Menge Herz. He, laß uns ein frühes Abendessen machen und im Wohnzimmer essen, dann können wir das Mickymaus-Videoband abspielen. Würde dir das gefallen?«

Einstein wedelte heftig mit dem Schweif.

Und Travis fragte: »Glaubst du, du könntest dein Lieblingsessen schaffen - ein paar Wiener Würstchen zum Abendessen?«

Einstein leckte sich die Lefzen.

Als Travis mitten in der Nacht aufwachte, stand Einstein am Schlafzimmerfenster, die Vorderpfoten auf dem Fenstersims. Man konnte ihn im schwachen Schein des Nachtlichts im angrenzenden Badezimmer kaum erkennen. Der Innenladen war am Fenster verriegelt, so daß der Hund nicht in den Hof sehen konnte. Aber vielleicht brauchte er seinen Gesichtssinn gar nicht, um den Outsider anzupeilen.

»Ist da draußen etwas. Junge?« fragte Travis leise, um Nora nicht unnötig zu wecken.

Einstein ließ sich vom Fenstersims fallen, trottete auf Travis' Bettseite und legte seinen Kopf auf die Matratze.

Travis streichelte den Hund und flüsterte: »Kommt er?«

Einstein antwortete darauf nur mit einem geheimnisvollen Winseln, ließ sich auf den Boden neben dem Bett nieder und schlief wieder ein.

Ein paar Minuten später war Travis ebenfalls wieder eingeschlafen.

Vor Morgenanbruch wachte Travis noch einmal auf und merkte, daß Nora auf der Bettkante saß und Einstein streichelte. »Schlaf weiter«, sagte sie zu Travis.

»Was ist denn?«

»Nichts«, flüsterte sie benommen. »Ich bin aufgewacht und hab' ihn am Fenster gesehen. Aber es ist nichts. Schlaf wieder.«

Er schaffte es ein drittes Mal, einzuschlafen, träumte aber, der Outsider sei so klug gewesen, während seiner sechs Monate dauernden Verfolgung Einsteins den Gebrauch von Werkzeugen zu erlernen und jetzt. Flammen in den gelben Augen, dabei, sich mit einer Axt Zugang durch die Schlafzimmerläden zu verschaffen.

2

Sie verabreichten Einstein pünktlich seine Medikamente, und er schluckte die Pillen gehorsam. Sie erklärten ihm, er müsse gut essen, um wieder zu Kräften zu kommen. Er gab sich Mühe, aber sein Appetit wollte sich nur langsam wieder einstellen. Er würde ein paar Wochen brauchen, um die verlorenen Pfunde zurückzugewinnen und seine alte Vitalität wiederzufinden. Aber es war Tag für Tag zu sehen, wie sich sein Zustand besserte.

Am Freitag, dem 10. Dezember, schien Einstein kräftig genug zu sein, um einen kurzen Spaziergang im Freien riskieren zu können. Bisweilen bewegte er sich noch etwas schwankend, aber er taumelte nicht mehr bei jedem Schritt. In der Tierarztpraxis hatte er seine sämtlichen Impfungen bekommen; es bestand also keine Gefahr, daß er sich nach der Staupe, die er gerade überwunden hatte, die Tollwut zuzöge.

Das Wetter war milder als in den vorangegangenen Wochen, mit Temperaturen um die fünfzehn Grad und keinem Wind. Die spärlichen Wolken waren weiß, die Sonne war, wenn sie sich nicht dahinter verbarg, weich und kosend.

Einstein begleitete Travis auf einer Inspektionsrunde zu den Infrarotsensoren rund um das Haus und zu den Distickstoffmonoxyd-Tanks in der Scheune. Sie bewegten sich ein wenig langsamer als beim letzten Mal, aber Einstein schien es Freude zu machen, wieder im Dienst zu sein.

Nora befand sich in ihrem Atelier und arbeitete an einem neuen Bild: einem Porträt Einsteins. Er wußte nicht, daß er ihre neueste Leinwand zierte. Das Bild sollte eine Weihnachtsüberraschung für ihn sein und, wenn es dann am Festtag enthüllt würde, über dem Kamin im Wohnzimmer aufgehängt werden.

Als Travis und Einstein aus der Scheune traten, fragte Travis: »Kommt er näher?«

Auf diese Frage hin verfiel Einstein in seine übliche Routine, wenn auch diesmal mit weniger Aufwand, weniger Schnüffeln und einer nur kurzen Untersuchung des sie umgebenden Waldes. Als er zu Travis zurückkehrte, winselte der Hund ängstlich.

»Ist er dort draußen?« fragte Travis.

Einstein gab keine Antwort. Er blickte wieder zum Wald -sichtlich verwirrt.

»Kommt er immer noch näher?« fragte Travis.

Der Hund gab keine Antwort.

»Ist er näher als früher?«

Einstein trottete im Kreis, beschnüffelte den Boden, beschnüffelte die Luft, legte den Kopf auf die eine Seite, dann auf die andere. Schließlich kehrte er zum Haus zurück und blieb an der Tür stehen, schaute Travis an und wartete geduldig. Als sie im Haus waren, lief Einstein direkt zur Speisekammer. UNKLAR.

Travis starrte das Wort auf dem Boden an. »Unklar?«

Einstein holte sich weitere Buchstaben und schob sie mit der Nase zurecht.

NICHT KLAR.

»Sprichst du von deiner Fähigkeit, den Outsider zu fühlen?«

Ein kurzes Schweifwedeln: JA.

»Du kannst ihn nicht mehr wahrnehmen?«

Ein Bellen: NEIN.

»Glaubst du... er ist tot?«

WEISS NICHT.

»Oder dein Spürsinn funktioniert nicht, wenn du krank bist oder geschwächt wie jetzt.«

VIELLEICHT.

Travis sammelte die Steine mit den Buchstaben auf und sortierte sie wieder ein. Er überlegte einen Augenblick. Schlimme Gedanken. Entnervende Gedanken. Sie hatten ein Alarmsystem, das ihren Besitz schützte, ja; aber eigentlich verließen sie sich darauf, daß Einstein ihnen eine Vorwarnung lieferte. Travis hätte sich angesichts der Vorsichtsmaßnahmen, die er ergriffen hatte, und mit seiner Ausbildung bei Delta Force eigentlich sicher fühlen müssen, hätte darauf vertrauen sollen, daß es ihm gelingen werde, den Outsider zu vernichten. Aber das Gefühl quälte ihn, daß er Irgendwo in ihren Verteidigungsanlagen eine Lücke gelassen haben könnte und er, wenn es zur Krise kam, Einsteins Fähigkeiten und ganze Kraft brauchen würde, um eine unerwartete Situation zu meistern.

»Du wirst, so schnell du kannst, wieder gesund werden müssen«, erklärte er dem Retriever. »Du wirst, selbst wenn du keinen Appetit hast, versuchen müssen zu essen. Du wirst so viel wie möglich schlafen müssen, um deinem Körper Gelegenheit zu geben, sich zu erholen. Und außerdem solltest du nicht die halbe Nacht am Fenster verbringen und dir Sorgen machen.«

HÜHNERSUPPE.

Travis lachte und meinte: »Das könnten wir ja auch versuchen.«

BOILERMAKER TÖTET BAKTERIEN.

»Wie kommst du denn darauf?«

BUCH. WAS IST BOILERMAKER?

»Ein Schuß Whisky in einem Glas Bier«, erklärte Travis.

Einstein dachte einen Augenblick darüber nach.

TÖTET BAKTERIEN? ABER WERDE BIERTRINKER.

Travis lachte und zerzauste Einstein das Fell. »Du bist ein richtiger Spaßmacher, Pelzgesicht.« Er drückte den Hund an sich, dann saßen sie beide in der Speisekammer und lachten, jeder auf seine Art.

Trotz der Scherze wußte Travis, daß Einstein der Verlust seiner Fähigkeit, den Outsider wahrzunehmen, zutiefst beunruhigte. Die Witze waren ein Abwehrmechanismus, einfach etwas, womit er die Furcht verdrängen wollte.

Am Nachmittag schlief Einstein, von dem kurzen Gang um das Haus erschöpft, während Nora fieberhaft in ihrem Atelier malte. Travis saß an einem der Fenster, starrte auf den Wald hinaus und ging in Gedanken einige Male ihre Verteidigungseinrichtungen durch, suchte nach einem Schwachpunkt.

Am Sonntag, dem 12. Dezember, kam Jim Keene nachmittags zu ihnen und blieb zum Abendessen. Er untersuchte Einstein und war mit dem Zustand des Hundes zufrieden.

»Es scheint nur langsam voranzugehen«, meinte Nora beunruhigt.

»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß es ein Weile dauern wird«, sagte Jim.

Er nahm einige Änderungen in Einsteins medikamentöser Behandlung vor und ließ neue Flaschen mit Pillen da.

Einstein bereitete es großes Vergnügen, seine Umblättermaschine und den Buchstabenspeicher in der Speisekammer zu demonstrieren. Er ließ sich dafür loben, daß er einen Bleistift zwischen den Zähnen halten und damit den Fernseher und den Videorecorder bedienen konnte, ohne Nora oder Travis belästigen zu müssen.

Zuerst überraschte es Nora, daß der Tierarzt weniger traurig und düster wirkte, als sie ihn in Erinnerung hatte. Aber dann entschied sie, daß sein Gesicht dasselbe war; was sich geändert hatte, war die Art und Weise, wie sie ihn sah. Jetzt, da sie ihn besser kannte und er ein enger Freund war, sah sie nicht nur die betrübte Miene, die die Natur ihm gegeben hatte, sondern auch die Freundlichkeit und den Humor unter dem ernsten Äußeren.

Beim Abendessen sagte Jim: »Ich hab' mich ein wenig mit Tätowierungen befaßt - um zu sehen, ob ich vielleicht die Ziffern in seinem Ohr entfernen kann.«

Einstein war in der Nähe auf dem Boden gelegen und hatte das Gespräch verfolgt. Jetzt erhob er sich, taumelte, einen Augenblick und lief dann zum Küchentisch und sprang auf einen der freien Stühle. Er saß ganz aufrecht da und starrte Jim erwartungsvoll an.

»Nun«, sagte der Tierarzt und ließ die Gabel mit dem Hühnercurry wieder sinken, die er schon halb zum Mund geführt hatte, »die meisten Tätowierungen kann man austilgen, aber nicht alle. Wenn ich weiß, was für eine Tinte benutzt worden ist und mit welcher Methode man sie in die Haut eingebracht hat, dann könnte ich die Marke vielleicht löschen.«

»Das wäre großartig«, sagte Nora. »Dann könnten die, selbst wenn sie uns finden würden und versuchten, Einstein

zurückzuholen, nicht beweisen, daß er der Hund ist, der ihnen abhandengekommen ist.«

»Aber es wurden immer noch Spuren der Tätowierung vorhanden sein, die man bei gründlicher Untersuchung bestimmt feststellen könnte«, sagte Travis. »Mit dem Vergrößerungsglas.«

Einstein sah zuerst Travis und dann Jim Keene an, als wollte er sagen: Ja, und?

»Die meisten Labors kennzeichnen ihre Versuchstiere nur mit einer Marke«, sagte Jim. »Diejenigen, die tätowieren, verwenden einige Standardfarben. Ich könnte die Markierung entfernen, ohne daß eine Spur zurückbleibt, lediglich eine kleine, natürlich aussehende Vernarbung im Fleisch. Selbst bei mikroskopischer Untersuchung würde man keine Spuren der Tinte finden und keinen Hinweis auf die Ziffern. Schließlich ist es eine ganz kleine Tätowierung, und das macht es einfacher. Ich muß mich noch ein wenig um Einzelheiten kümmern. Aber in ein paar Wochen könnten wir es versuchen - wenn Einstein die kleine Unbequemlichkeit nichts ausmacht.«

Der Retriever verließ den Tisch und trottete in die Kammer.

Sie konnten hören, wie er mit den Pedalen Buchstaben herausholte.

Nora ging nachsehen, was Einstein ihnen mitteilen wollte. WILL NICHT MARKIERT SEIN. BIN KEINE KUH.

Sein Wunsch, von der Tätowierung befreit zu werden, ging tiefer, als Nora angenommen hatte. Er wollte, daß man die Tätowierung entfernte, um nicht von den Leuten im Labor identifiziert werden zu können. Aber offenbar war es ihm auch zuwider, diese drei Ziffern in seinem Ohr zu tragen, weil sie ihn als bloßen Besitz kennzeichneten, und das war ein Zustand, der seine Würde beleidigte und seine Rechte als intelligente Kreatur verletzte.

FREIHEIT.

»Ja«, sagte Nora respektvoll und legte eine Hand auf seinen Kopf. »Das verstehe ich. Du bist ein ... eine Person, und zwar eine Person mit« - dies war das erste Mal, daß sie über diesen Aspekt nachgedacht hatte - »einer Seele.«

War es Blasphemie, zu glauben, daß Einstein eine Seele hatte? Nein. Menschenhand hatte den Hund geschaffen; aber wenn es einen Gott gab, dann war der offenbar mit Einstein einverstanden - nicht zuletzt, weil Einsteins Fähigkeit, Recht und Unrecht zu unterscheiden, seine Fähigkeit zu lieben, sein Mut und seine Selbstlosigkeit ihn dem Abbild Gottes näherbrachten, als man das von vielen menschlichen Wesen sagen konnte.

»Freiheit«, sagte sie. »Wenn du eine Seele hast - und ich weiß, daß du eine hast -, dann bist du mit freiem Willen und dem Recht zur Selbstbestimmung geboren. Die Ziffern in deinem Ohr sind eine Beleidigung, und wir werden sie loswerden.«

Nach dem Abendessen wollte Einstein sichtlich dem Gespräch lauschen, an ihm teilnehmen, aber seine Energie reichte nicht aus, und er schlief am Feuer ein.

Bei einem kleinen Brandy und einer Tasse Kaffee hörte Jim Keene zu, wie Travis ihm ihre Verteidigungsmaßnahmen gegen den Outsider schilderte. Travis forderte ihn auf, Lücken in ihren Vorbereitungen zu entdecken, aber mit Ausnahme der Verwundbarkeit ihrer Energieversorgung fiel ihm nichts ein. »Wenn das Ding schlau genug wäre, die Leitung zu unterbrechen, die vom Highway hereinführt, dann könnte es Sie mitten in der Nacht in Finsternis stürzen und Ihre Alarmanlage nutzlos machen. Und ohne Energie wird der raffinierte Mechanismus in der Scheune die Tür nicht hinter der Bestie zuschlagen oder das Distickstoffmonoxyd freisetzen.«

Nora und Travis gingen mit ihm die Treppe hinunter ins Souterrain unter dem hinteren Teil des Hauses, um ihm das Notstromaggregat zu zeigen. Es wurde von einem Zweihun-dert-Liter-Benzintank gespeist, der im Hof vergraben war, und würde dem Haus und der Scheune und dem Alarmsystem mit nur zehn Sekunden Verzögerung Elektrizität liefern, falls die Hauptversorgung ausfiel.

»Soweit ich das erkennen kann«, meinte Jim, »haben Sie an alles gedacht.«

»Ich glaube auch, daß wir das haben«, sagte Nora. Aber Travis zog die Stirn in Falten. »Ich weiß nicht recht...«

Am Mittwoch, dem 22. Dezember, fuhren sie nach Carmel. Sie ließen Einstein bei Jim Keene und verbrachten den Tag mit Weihnachtseinkäufen, erstanden Dekorationen für das Haus, Christbaumschmuck und den Baum selbst.

Jetzt, wo die Drohung des Outsiders unablässig näher rückte, schien es beinahe frivol, Pläne für das Fest zu machen.

Aber Travis sagte: »Das Leben ist kurz. Man weiß nie, wieviel Zeit man noch übrig hat, also kann man Weihnachten nicht einfach verstreichen lassen, ohne zu feiern, ganz gleich, was geschieht. Außerdem waren meine Weihnachten in den letzten Jahren nicht so besonders. Ich habe vor, das auszugleichen.« »Tante Violet hielt nichts davon, Weihnachten groß zu feiern. Sie hielt nichts von Geschenken oder einem Weihnachtsbaum.«

»Sie hielt nicht viel vom Leben«, sagte Travis. »Und das ist ein Grund mehr, dieses Weihnachten richtig zu feiern. Es werden unsere ersten guten Weihnachten sein, für Einstein überhaupt die ersten.«

Nächstes Jahr, dachte Nora, wird ein Baby im Haus sein, mit dem wir Weihnachten feiern können - da wird's dann erst richtig hoch hergehen!

Davon abgesehen, daß sie ein paar Pfund zugenommen hatte und morgens manchmal etwas unpäßlich war, waren an ihr bis jetzt noch keinerlei Anzeichen ihrer Schwangerschaft zu sehen. Ihr Bauch war immer noch flach, und Dr. Weingold sagte, daß sie mit ihrem Körperbau durchaus die Chance habe, zu jenen Frauen zu gehören, deren Leib sich nur mäßig ausdehnte. Sie hoffte, in dieser Beziehung Glück zu haben, weil es dann nach der Geburt viel leichter sein würde, wieder die alte Figur zu kriegen. Natürlich war das Baby erst in sechs Monaten fällig, und das ließ ihr noch genügend Zeit, so dick wie ein Walroß zu werden.

Als sie in dem Pick-up aus Carmel zurückkehrten, dessen hinterer Teil mit Paketen und einem perfekt gewachsenen Weihnachtsbaum beladen war, schlief Einstein halb auf Noras Schoß. Der Tag, den er mit Jim und Pooka verbracht hatte, hatte ihn angestrengt. Sie kamen eine knappe Stunde vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause. Einstein eilte ihnen zum Haus voraus ...

... blieb aber plötzlich stehen und sah sich neugierig um. Er zog schnüffelnd die kühle Abendluft ein und ging dann quer über den Hof, die Nase auf dem Boden, als hätte er eine Witterung aufgenommen.

Nora, die mit Paketen vollbeladen auf die Hintertür zuging, sah zuerst nichts Ungewöhnliches am Verhalten des Hundes, bemerkte dann aber, das Travis stehengeblieben war und Einstein anstarrte. »Was ist denn?« fragte sie.

»Warte mal.«

Einstein hatte den Hof jetzt hinter sich gelassen und ging auf den Waldrand an der Südseite ihres Grundstückes zu. Er stand starr da, den Kopf nach vorne gestreckt, schüttelte sich dann und ging am Waldrand weiter. Er blieb einige Male stehen, hielt sich jedesmal ganz still und kam nach ein paar Minuten auf der anderen Seite wieder zu ihnen.

Als der Retriever neben ihnen stand, sagte Travis: »Ist etwas?«

Einstein wedelte kurz mit dem Schweif und bellte einmal: Ja und nein.

Drinnen legte der Retriever in der Speisekammer seine Botschaft aus.

ETWAS GEFÜHLT.

»Was?« fragte Travis.

WEISS NICHT.

»Der Outsider?«

VIELLEICHT.

»Nahe?«

WEISS NICHT.

»Kommt dein sechster Sinn zurück?« wollte Nora wissen. WEISS NICHT. NUR GEFÜHLT.

»•Was gefühlt?« fragte Travis.

Diesmal mußte der Hund eine Weile nachdenken, ehe er seine Antwort auslegte.

GROSSE DUNKELHEIT.

»Du hast eine große Dunkelheit gefühlt?«

JA.

»Was heißt das?« fragte Nora unruhig.

NUR GEFÜHLT.

Nora schaute Travis an und sah Sorgen in seinem Blick, der wahrscheinlich ihre eigenen widerspiegelte.

Irgendwo dort draußen war eine große Dunkelheit, und sie kam näher.

3

Weihnachten war schön und freudvoll. Am Morgen saßen sie um den lichtergeschmückten Baum, tranken Milch, aßen selbstgemachte Plätzchen und packten ihre Geschenke aus.

Das erste Geschenk Noras an Travis, als Spaß gedacht, war eine Schachtel mit Unterwäsche. Und er schenkte ihr einen grell orange-gelb gemusterten Muumuu[5], der für eine Frau von wenigstens hundertfünfzig Kilo bestimmt war. »Für den März, wenn dir nichts anderes mehr passen wird. Im Mai wirst du dann natürlich rausgewachsen sein.« Aber sie tauschten auch ernsthafte Geschenke - Schmuck, Pullover, Bücher.

Aber Nora war ebenso wie Travis der Meinung, daß der Tag ganz besonders Einstein gehörte. Sie gab ihm das Porträt, an dem sie den ganzen Monat gearbeitet hatte, und der Retriever schien verblüfft, geschmeichelt und entzückt, daß sie es für passend gehalten hatte, ihn in Farbe zu verewigen. Er bekam drei neue Mickymaus-Videobänder, zwei luxuriöse MetallSchüsseln für Wasser und Nahrung mit eingraviertem Namen anstelle der Plastikschüsseln, die er bisher benutzt hatte, eine kleine, batteriebetriebene Uhr, die er in jedes Zimmer mitnehmen konnte - er begann zunehmendes Interesse für die Zeit zu zeigen - und einige andere Geschenke, fühlte sich aber immer wieder zu dem Porträt hingezogen, das sie zur Betrachtung an eine Wand gelehnt hatten. Als sie es dann später über dem offenen Kamin im Wohnzimmer aufhängten, stellte er sich mit den Vorderpfoten auf die Kaminsohle und blickte stolz und erfreut zu dem Gemälde hinauf.

Wie jedes kleine Kind hatte Einstein fast ebensoviel Vergnügen daran, mit leeren Schachteln, zusammengeknülltem Einwickelpapier und Bändern zu spielen, wie an den Geschenken selbst. Eines seiner Lieblingsobjekte war ein Scherzpräsent: eine rote Mütze, wie sie der Weihnachtsmann trägt, mit weißer Quaste und einem Gummiband, damit sie nicht herunterfiel. Nora setzte sie ihm zum Spaß auf. Als er sich im Spiegel sah, freute er sich so über sein Aussehen, daß er sich sträubte, als sie ein paar Minuten später versuchte, ihm die Mütze wieder abzunehmen. Er behielt sie fast den ganzen Tag auf.

Jim Keene und Pooka kamen am frühen Nachmittag, und Einstein drängte sie sofort ins Wohnzimmer, damit sie sich sein Porträt über dem Kamin ansehen sollten. Dann spielten die Hunde eine Stunde lang, von Jim und Travis bewacht, im Hinterhof. Da dieser Aktivität bereits die Aufregung mit den Geschenken am Morgen vorangegangen war, brauchte Einstein jetzt dringend ein Nickerchen, also kehrten sie ins Haus zurück, wo Jim und Travis Nora bei der Zubereitung des Weihnachtsmahls halfen.

Nach seinem Schläfchen versuchte Einstein Pooka an Mik-kymaus-Filmen zu interessieren, aber Nora sah, daß er da nur auf begrenztes Interesse stieß. Mit Rücksicht auf den niedrigeren Intelligenzquotienten seines Gefährten, aber offensichtlich keineswegs von dessen Gesellschaft gelangweilt, schaltete Einstein den Fernseher ab und wandte sich rein hündischen Aktivitäten zu: einer kleinen Balgerei im Arbeitszimmer, ausgedehntem Herumliegen, Nase an Nase und in lautlosem Zwiegespräch über hündische Angelegenheiten.

Bis es dann Abend wurde, hatte sich das Haus gefüllt mit den Düften von Truthahn, gerösteten Maiskolben, Kürbispastete und anderen Köstlichkeiten. Weihnachtliche Musik erklang» Und trotz der Innenläden, die zu Beginn der langen Winternächte über die Fenster geschraubt worden waren, trotz der allgegenwärtigen Schußwaffen und trotz des dämonischen Outsiders, der stets in ihrem Unterbewußtsein lauerte, war Nora nie glücklicher gewesen.

Beim Abendessen unterhielten sie sich über den bevorstehenden Nachwuchs. Jim fragte, ob sie schon über Namen nachgedacht hätten. Einstein, der mit Pooka in der Ecke aß, war von der Idee, an der Namensgebung ihres Erstgeborenen beteiligt zu sein, sofort fasziniert. Er rannte sofort in die Speisekammer, um seinen Vorschlag zu buchstabieren.

Nora stand vom Tisch auf, um zu sehen, welchen Namen der Hund für passend hielt.

MICKY.

»Auf keinen Fall«, sagte sie. »Mein Kind wird nicht nach einer Maus in einem Comicstrip heißen.«

DONALD.

»Und nicht nach einer Ente.«

PLUTO.

»Pluto? Jetzt werd gefälligst mal ernst. Pelzgesicht.«

GOOFY

Nora hinderte ihn entschieden daran, die Pedale des Buchstabenmechanismus weiter zu betätigen, sammelte die gebrauchten Buchstaben ein und legte sie weg, schaltete das Licht in der Speisekammer aus und kehrte zum Tisch zurück. »Ihr haltet das vielleicht für spaßig«, sagte sie zu Travis und Jim, die vor Lachen fast erstickten, »aber ihm ist das ernst!«

Nach dem Essen saßen sie im Wohnzimmer um den Weihnachtsbaum und unterhielten sich über viele Dinge, darunter auch Jims Absicht, sich noch einen weiteren Hund zuzulegen. »Pooka braucht einen Gefährten«, meinte der Tierarzt. »Er ist jetzt beinahe eineinhalb Jahre alt, und ich bin der Ansicht, daß das Zusammensein mit Menschen für sie nicht ausreicht, wenn sie einmal aus dem Welpenstadium heraus sind. Sie werden genauso einsam wie wir. Und da ich diese Absicht habe, könnte ich ebensogut ein reinrassiges Labradorweibchen kaufen und auf die Weise später vielleicht sogar ein paar nette Welpen zu verkaufen haben. Also wird er nicht bloß einen Freund, sondern eine Gefährtin bekommen.«

Nora hatte nicht bemerkt, daß Einstein sich für diesen Teil der Unterhaltung mehr interessierte als für das, was sonst gesprochen wurde. Aber später, nachdem Jim und Pooka nach Hause gefahren waren, fand Travis eine Botschaft in der Kammer und rief Nora, damit sie sie auch sehen könne.

GEFÄHRTIN.

Der Retriever hatte darauf gewartet, daß sie die aufgereihten Steine bemerkten. Jetzt tauchte er hinter ihnen auf und sah sie mit fast spöttisch wirkender Miene an.

Nora sagte: »Meinst du, du hättest gerne eine Gefährtin?«

Einstein schlüpfte zwischen ihnen durch in die Speisekammer, löschte das, was er ausgelegt hatte, indem er die Steine wegschob, und gab Antwort.

DARÜBER NACHDENKEN.

»Aber hör mal zu, Pelzgesicht«, sagte Travis. »Du bist doch etwas Einmaliges. Es gibt sonst keinen Hund wie dich.«

Der Retriever dachte darüber nach, ließ sich aber nicht abbringen.

LEBEN IST GEFÄHRTE. TEILEN.

»Du hast unser Versprechen, daß wir darüber nachdenken, und dann reden wir noch einmal darüber«, sagte Travis. »Jetzt wird es langsam spät.«

Einstein verfaßte schnell noch eine weitere Botschaft: BABY MICKY?

»Kommt überhaupt nicht in Frage!« sagte Nora.

Nachts im Bett, nachdem sie und Travis sich geliebt hatten, sagte Nora: »Ich möchte wetten, daß er wirklich einsam ist.« »Jim Keene?«

»Nun, ja, ich wette, der ist auch einsam. Er ist ein so netter Mann und würde wirklich einen großartigen Ehemann abgeben. Aber Frauen sind in bezug auf das Aussehen genauso wählerisch wie Männer, meinst du nicht? Die mögen einfach keine Männer mit Spanielgesichtern. Die heiraten lieber Schönlinge, von denen sie die Hälfte der Zeit wie Dreck behandelt werden. Aber ich hab' nicht Jim gemeint. Ich habe Einstein gemeint. Er muß hier und da einsam sein.«

»Wir sind doch die ganze Zeit mit ihm zusammen.«

»Nein, in Wirklichkeit sind wir das nicht. Ich male, und du tust auch Dinge, bei denen der arme Einstein nicht mit dabei ist. Und falls du wieder ins Immobiliengeschäft einsteigst, wird es häufg so sein, daß Einstein gar niemanden hat.«

»Er hat seine Bücher. Er liebt Bücher.«

»Vielleicht reichen Bücher nicht«, sagte sie.

Dann herrschte lange Zeit Stille, und sie dachte, Travis wäre eingeschlafen. Doch dann sagte er: »Wenn Einstein eine Gefährtin hat und Welpen bekäme - wie würden die denn sein?«

»Du meinst - ob sie so klug sein werden wie er?«

»Das würde ich gerne wissen... Mir scheint, daß es drei Möglichkeiten gibt. Erstens: Wenn seine Intelligenz nicht vererbbar ist, werden seine Welpen ganz gewöhnliche Welpen sein. Zweitens: Falls sie vererbbar ist, aber die Gene der Hündin die Intelligenz verwässern, werden die Welpen schlau sein, aber nicht so schlau wie ihr Vater; und jede darauffolgende Generation wird schwächer, weniger klug, dümmer sein, bis am Ende seine Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßwelpen wieder ganz gewöhnliche Hunde sind.«

»Und die dritte Möglichkeit?«

»Da Intelligenz ein Überlebensfaktor ist, könnte es sein, daß sie genetisch dominant ist, sehr dominant.«

»Und in diesem Fall wären seine Welpen genauso schlau wie er.«

»Und deren Welpen auch, immer wieder, bis es mit der Zeit eine Kolonie intelligenter Golden Retrievers gibt. Tausende davon, überall auf der Welt.

Dann herrschte wieder Stille.

Schließlich sagte sie: »Mann!«

Und Travis: »Er hat recht.«

»Was?«

»Das ist wirklich etwas, worüber es sich lohnt nachzudenken.«

4

Vince Nasco hatte nie damit gerechnet, wenigstens damals im November nicht, daß er einen ganzen Monat brauchen würde, um an Ramon Velazquez heranzukommen, den Typen in Oakland, der Mario Tetragna lästig geworden war. Solange er Velazquez nicht erledigt hatte, würde Vince auch nicht an die Leute in San Francisco herankommen, die mit falschen Ausweispapieren handelten und ihm vielleicht dabei helfen konnten, Travis Cornell, die Frau und den Hund ausfindig zu machen. Dementsprechend groß war sein Bedürfnis, Velazquez in einen Haufen faulenden Fleisches zu verwandeln.

Aber Velazquez war ein verdammter Schatten. Der Mann tat keinen Schritt, ohne zwei Leibwächter an seiner Seite zu haben, was ihn eher mehr als weniger auffällig hätte machen müssen. Aber er führte seine Geschäfte in der Glücksspiel-und Drogenszene - womit er die Tetragna-Konzession in Oakland störte - mit der Heimlichkeit eines Howard Hughes. Er schlängelte und wand sich, benutzte eine ganze Flotte unterschiedlicher Wagen, fuhr nie zwei Tage hintereinander dieselbe Route, traf sich nie mit jemandem zweimal am selben Ort, benutzte die Straße als Büro und blieb nirgends lange genug, um markiert, gestellt und ausgelöscht werden zu können. Er war hoffnungslos paranoid und glaubte, alle seien nur darauf aus, ihn zu erledigen. Vince sah den Mann nie lange genug, um ihn mit der Fotografie zu vergleichen, die die Tetra-gnas ihm geliefert hatten. Ramon Velazquez war wie Rauch.

Vince erwischte ihn erst am Weihnachtstag. Und als es schließlich dazu kam, wurde das Ganze eine riesige Schweinerei. Ramon war mit einer Menge Verwandter zu Hause. Vom Haus dahinter über die hohe Ziegelmauer zwischen zwei Grundstücken gelangte Vince auf den Velazquez-Besitz. Als er auf der anderen Seite die Mauer hinabkletterte, sah er Velazquez und ein paar Leute an einem Grill neben dem Pool, wo sie damit beschäftigt waren, einen riesigen Truthahn zu rösten. (Gab es irgendwo außerhalb von Kalifornien Leute, die Truthähne am Grill zubereiteten?) Alle entdeckten ihn sofort, obwohl er noch fast fünfzig Meter entfernt war. Er sah, wie die Leibwächter in ihre Schulterhalfter griffen, und so hatte er keine andere Wahl, als ungezielt mit seiner Uzi zu feuern, Sperrfeuer über den ganzen Hof zu legen, wobei er Velazquez, die beiden Leibwächter, eine Frau in mittleren Jahren, vermutlich die Ehefrau von irgend jemandem, und eine alte Dame, die irgend jemandes Großmutter sein mußte, erledigte.

Sssnappp.

Sssnappp.

Sssnappp.

Sssnappp.

Sssnappp.

Alle anderen, innerhalb und außerhalb des Hauses, schrien und warfen sich Deckung suchend zu Boden. Vince mußte wieder über die Mauer zurück in den Hof des anliegenden Hauses - wo Gott sei Dank niemand zu Hause war -, und gerade, als er dabei war, seinen Hintern über die Mauerkrone zu befördern, eröffnete ein Rudel von Latino-Typen auf dem Ve-lazquez-Anwesen das Feuer auf ihn. Er konnte von Glück reden, daß er mit heiler Haut davonkam.

Als er am Tag nach Weihnachten in einem Restaurant in San Francisco auftauchte, das Don Tetragna gehörte, um sich mit Frank Dicenziano zu treffen, dem Capo der Familie, der nur dem Don selbst verantwortlich war, war Vince unruhig. Die Fratellama hatte in bezug auf Mordanschläge einen strengen Kodex. Zum Teufel, die hatten in bezug auf alles ihren Kodex - wahrscheinlich sogar darüber, wie man seinen Stuhlgang zu verrichten hatte -, und diesen Kodex nahmen sie ernst.

Aber der Mordanschläge betreffende Kodex wurde vielleicht noch ein wenig ernster genommen als die anderen. Die erste Regel dieses Kodex lautete: Man erledigt einen Mann nicht in Anwesenheit seiner Familie, es sei denn, er ist untergetaucht, und es gibt keine andere Möglichkeit, an ihn heranzukommen. In dieser Hinsicht fühlte Vince sich einigermaßen sicher. Aber eine weitere Regel besagte, daß man nie die Frau oder die Kinder oder die Großmutter eines Mannes erschoß, um an ihn heranzukommen. Jeder Profikiller, der so etwas tat, landete wahrscheinlich am Ende selbst in der Leichenhalle, von eben den Leuten erledigt, die ihn angeheuert hatten. Vince hoffte, Frank Dicenziano davon zu überzeugen, daß Velazquez ein besonderer Fall sei - bisher hatte sich noch nie eine Zielperson Vince länger als einen Monat entziehen können - und daß das, was am Weihnachtstag in Oakland geschehen sei, zwar bedauerlich, aber auch unvermeidlich gewesen wäre.

Und nur für den Fall, daß Dicenziano - und damit auch der Don - zu wütend war, um auf Vernunftgründe zu hören, hatte Vince sich mit mehr als einer Pistole auf das Treffen vorbereitet. Wenn sie seinen Tod wollten, würden sie ihn, sobald er das Restaurant betrat, und ehe er wußte, was gespielt wurde, in eine Ecke drängen und ihm die Waffe wegnehmen. Deshalb hatte er sich mit Plastiksprengstoff verdrahtet und war darauf vorbereitet, sie in die Luft zu jagen und das ganze Restaurant mit ihnen, falls sie versuchten, an ihm für einen Sarg Maß zu nehmen.

Vince war nicht sicher, ob er die Explosion überleben würde. In letzter Zeit hatte er die Lebensenergien so vieler Leute in sich aufgenommen, daß er dachte, der Unsterblichkeit, die er suchte, nahe zu sein. Vielleicht war er auch schon soweit -aber solange er es nicht ausprobierte, würde er es auch nicht wissen. Falls seine einzigen Wahlmöglichkeiten darin bestanden, im Zentrum einer Explosion zu stehen oder sich von ein paar Schlaumeiern hundert Kugeln in den Leib jagen und anschließend in Zement eingießen zu lassen, dann war ersteres immer noch vorzuziehen und bot ihm vielleicht sogar eine um einen Hauch bessere Überlebenschance.

Zu seiner Überraschung war Dicenziano - der ihn an ein Eichhörnchen mit Fleischklößen in den Backen erinnerte -von der Art und Weise entzückt, wie der Velazquez-Kontrakt erfüllt worden war. Er sagte, der Don sei voll des Lobes für Vince. Niemand durchsuchte Vince, als er das Restaurant betrat. Ihm und Frank wurde an einem Ecktisch - dem besten, den das Lokal zu bieten hatte - ein Spezialmenü mit nicht auf der Speisekarte stehenden Gerichten serviert. Dazu tranken sie Cabemet Sauvignon um dreihundert Dollar die Flasche, ein Geschenk Mario Tetragnas.

Als Vince vorsichtig auf die tote Ehefrau und die Großmutter zu sprechen kam, meinte Dicenziano: »Hören Sie, mein Freund, wir wußten, dies würde ein schwieriger Hit werden, ein anspruchsvoller Job, und daß möglicherweise Regeln gebrochen werden mußten. Außerdem waren diese Leute nicht unsere Art von Leuten - das waren bloß ein paar Wetbacks[6] , die nicht in dieses Geschäft gehören. Wenn die versuchen, sich reinzudrängen, dann dürfen sie nicht damit rechnen, daß wir ihnen gegenüber die Regeln einhalten.«

Erleichtert ging Vince in der Mitte der Mahlzeit auf die Herrentoilette und löste die Kontakte an den Sprengladungen. Er wollte nicht zufällig in die Luft fliegen, jetzt, wo die Krise vorbei war.

Am Ende des Mittagessens gab Frank Vince die Liste. Neun Namen. »Diese Leute - sie gehören übrigens nicht alle zur Familie - bezahlen den Don für die Erlaubnis, ihre Ausweisgeschäfte in seinem Territorium zu führen. Ich habe, weil ich schon damit rechnete, daß Sie mit Velazquez Erfolg haben würden, mit diesen neun im November gesprochen, und sie werden sich daran erinnern, daß der Don wünscht, daß sie mit Ihnen in jeder möglichen Weise zusammenarbeiten.«

Vince machte sich noch am selben Nachmittag auf die Suche nach jemandem, der sich an Travis Cornell erinnern konnte.

Zunächst wurde er enttäuscht. Zwei von den ersten vier Leuten auf der Liste waren nicht zu erreichen; sie hatten ihr Geschäft geschlossen und waren über die Feiertage weggefahren. Vince fand es einfach unpassend, daß die kriminelle Unterwelt sich Weihnachten und Neujahr freinahm, gerade so, als wären sie Schullehrer.

Aber der fünfte Mann, Anson Van Dyne, arbeitete im Kellergeschoß unter seinem Oben-ohne-Klub, dem >Hot Tips<, und um halb sechs, am 26. Dezember, fand Vince das, was er suchte. Van Dyne warf einen Blick auf die Fotografie von Travis Cornell, die Vince sich im Zeitungsarchiv von Santa Barbara besorgt hatte.

»Ja, ich erinnere mich an ihn. Den vergißt man nicht so leicht. Kein Ausländer, der schnell Amerikaner werden möchte wie die Hälfte meiner Kunden. Auch nicht der übliche lahmarschige Verlierer, der seinen Namen wechseln und sein Gesicht verstecken möchte. Nicht, daß er besonders groß wäre oder großmäulig auftreten würde, aber man hat einfach das Gefühl, daß er mit jedem, der ihm in die Quere kommt, den Boden aufwischen könnte. Sehr selbstbewußt. Sehr wachsam. Ich hab' ihn nicht vergessen.«

»Was du nicht vergessen hast«, sagte einer der zwei bärtigen Wunderknaben an den Computern, »ist in Wirklichkeit die Puppe, die er bei sich hatte.«

»Für die könnt' ihn selbst noch ein Toter hochkriegen«, sagte der andere.

»Ja, sogar ein Toter«, bestätigte der erste. »Ein richtiges Klasseweib.«

Ihr Beitrag zu dem Gespräch beleidigte und verwirrte Vince, also ignorierte er sie und sagte, zu Van Dyne gewendet: »Sie erinnern sich nicht vielleicht zufällig an die neuen Namen, die Sie ihnen gegeben haben?«

»Sicher. Die haben wir in der Ablage«, sagte Van Dyke.

Vince konnte es nicht glauben. »Ich dachte immer, Leute in Ihrem Beruf würden keine Aufzeichnungen führen? Das ist für Sie doch sicherer und für Ihre Kunden wichtig.«

Van Dyne zuckte die Achseln. »Die Kunden können mich am Arsch lecken. Weiß ich denn, ob uns nicht eines Tages die FBI oder die hiesigen Bullen hochgehen lassen? Am Ende brauche ich vielleicht Geld, um die Anwälte bezahlen zu können. Gibt es da etwas Besseres als eine Liste mit ein paar tausend Knilchen, die unter falschem Namen leben, Knilchen, die

sich lieber ein wenig ausquetschen lassen, als wieder ganz von vorn anfangen zu müssen?«

»Erpressung«, sagte Vince.

»Ein häßliches Wort«, wandte Van Dyne ein. »Aber es paßt, fürchte ich. Jedenfalls interessiert uns einzig und allein, daß wir in Sicherheit sind, daß es hier keine Aufzeichnungen gibt, die uns belasten. Wir bewahren die Daten natürlich nicht in diesem Loch hier auf. Sobald wir jemandem einen neuen Ausweis geliefert haben, übertragen wir die Daten über eine sichere Telefonleitung aus dem Computer hier auf einen Computer, den wir an einem anderen Ort stehen haben. Und so, wie dieser andere Computer programmiert ist, kann man die Daten nicht von hier aus aus ihm rausholen; das ist eine Einbahnstraße. Wenn man uns also hochgehen läßt, können die Hacker bei den Bullen über diese Maschinen hier nicht an unsere Aufzeichnungen ran. Verdammt, die wüßten nicht einmal, daß es solche Aufzeichnungen gibt.«

Diese neue High-tech-Verbrccherwelt machte Vince ganz benommen. Selbst der "Don, ein Mann von unendlicher krimineller Intelligenz, hatte geglaubt, daß diese Leute keine Aufzeichnungen führten, und nicht bedacht, daß die Computer ihnen das in durchaus ungefährlicher Weise ermöglichten.

Vince dachte über das, was Van Dyne ihm gesagt hatte, nach und versuchte Ordnung in seine Gedanken zu bringen. »Dann können Sie mich also zu diesem anderen Computer bringen und dort Cornells neue Identität abrufen?« fragte er. »Für einen Freund von Don Tetragna«, erklärte Van Dyne, »würde ich so ziemlich alles tun, bloß nicht den eigenen Hals aufschlitzen. Kommen Sie.«

Van Dyne fuhr Vince zu einem ziemlich überfüllten chinesischen Restaurant in Chinatown. Das Lokal bot vielleicht hundertfünfzig Menschen Platz, und jeder Tisch war besetzt. Obwohl das Restaurant riesig war und mit Papierlaternen, Wandgemälden mit Drachen und imitierten Wandschirmen aus Rosenholz und ganzen Reihen von bronzenen Windglocken in Form chinesischer Ideogramme dekoriert war, erinnerte es Vince doch an die kitschige italienische Trattoria, in der er im letzten August die Küchenschabe Pantangela und die zwei Marshals ermordet hatte. Jegliche folkloristische Dekoration, ob nun chinesisch, italienisch, polnisch oder irisch, war im Wesen exakt dasselbe.

Der Besitzer war ein Chinese um die Dreißig, der Vince einfach als Yuan vorgestellt wurde. Jeder mit einer Flasche Tsing-tao-Bier bewaffnet, die Yuan ihnen gegeben hatte, gingen Van Dyne und Vince in das Kellerbüro des Besitzers hinunter, wo auf zwei Schreibtischen zwei Computer standen; einer in der Mitte, der andere in einem Winkel. Der in der Ecke war eingeschaltet, wenn auch niemand an ihm tätig war.

»Das hier ist mein Computer«, erklärte Van Dyne. »An ihm arbeitet nie jemand. Nicht einmal anfassen tun die ihn, bloß am Morgen, um die Telefonleitung zu öffnen und das Modem aufzulegen, und abends, um ihn wieder abzuschalten. Meine Computer im >Hot Tips< sind mit dem hier verbunden.«

»Sie vertrauen Yuan?«

»Ich hab' ihm den Kredit verschafft, mit dem er sein Geschäft angefangen hat. Damit steht er in meiner Schuld. Und es war ein ganz sauberes Darlehen, nichts, das man in irgendeiner Weise mit mir oder Don Tetragna in Verbindung bringen kann. Also bleibt Yuan ein aufrechter Burger, der für die Bullen ohne Interesse ist. Als Gegenleistung braucht er nichts anderes zu tun, als meinen Computer hier stehen zu lassen.«

Van Dyne setzte sich vor das Terminal und begann darauf zu tippen. Zwei Minuten später hatte er Travis Comells neuen Namen: Samuel Spencer Hyatt.

»Und hier«, sagte Van Dyne, als neue Daten über den Schirm zogen, »das ist die Frau, die mit ihm zusammen war.

Ihr wirklicher Name war Nora Louise Devon aus Santa Barbara. Jetzt heißt sie Nora Jean Aimes.«

»Okay«, sagte Vince. »Und jetzt löschen Sie sie aus Ihren Aufzeichnungen.«

»Was meinen Sie damit?«

»Tilgen sollen Sie sie. Sie aus dem Computer herausnehmen. Die gehören jetzt nicht mehr Ihnen. Die gehören mir. Niemandem sonst. Nur mir.«

Kurz darauf waren sie wieder im >Hot Tips<, einem dekadenten Lokal, das bei Vince Speiübelkeit hervorrief.

Im Keller gab Van Dyne die Namen Hyatt und Aimes an die bärtigen jungen Männer weiter, die rund um die Uhr hier unten zu leben schienen wie zwei Trolle.

Zuerst verschafften die Trolle sich Zugang zur Verkehrskartei. Sie wollten herausfinden, ob Hyatt und Aimes sich in den letzten drei Monaten seit der Übernahme der neuen Identität irgendwo niedergelassen und den Behörden ihren Adressenwechsel mitgeteilt hatten.

»Bingo«, sagte einer von ihnen.

Auf dem Bildschirm tauchte eine Adresse auf, und der bärtige Operator bestellte einen Ausdruck.

Anson Van Dyne riß das Blatt aus dem Printer und reichte es Vince. Travis Comell und Nora Devon - jetzt Hyatt und Aimes hatten eine ländliche Adresse an der Pacific Coast Highway, südlich der Stadt Carmel.

5

Am Mittwoch, dem 29. Dezember, fuhr Nora nach Carmel, wo sie einen Termin mit Dr. Weingold hatte.

Der Himmel war bedeckt und so dunkel, daß die weißen Möwen, die vor dem Hintergrund der Wolken vom Himmel stießen, im Kontrast dazu fast wie Lichter wirkten. Das Wetter war seit Weihnachten so, aber der versprochene Regen hatte sich nicht eingestellt.

Heute freilich goß es in Strömen, und zwar eben jetzt, als sie den Pick-up in eine der wenigen Lücken auf dem kleinen Parkplatz hinter Dr. Weingolds Praxis lenkte. Sie trug - für alle Fälle - eine Nylonjacke mit Kapuze, und die Kapuze zog sie sich jetzt über den Kopf, ehe sie aus dem Wagen zum einstöckigen Ziegelbau hinüberrannte.

Dr. Weingold nahm wie üblich eine gründliche Untersuchung vor und verkündete dann, sie sei fit wie eine Fiedel, was Einstein sicherlich amüsiert hätte.

»Ich habe noch nie eine Frau im dritten Monat erlebt, der es besser gegangen wäre als Ihnen«, sagte der Arzt.

»Ich möchte ein gesundes Baby haben, ein perfektes Baby.« »So wird es auch sein.«

Der Arzt glaubte, daß sie Aimes hieß und ihr Mann Hyatt, ließ aber nie Mißbilligung in bezug auf ihren Familienstand erkennen. Die Situation war Nora etwas peinlich, aber sie nahm an, daß die moderne Welt, in die sie aus dem schützenden Kokon des Devon-Hauses geflattert war, in diesen Dingen liberale Ansichten hatte.

Dr. Weingold schlug, wie er das schon beim letztenmal getan hatte, vor, einen Test zu machen, um das Geschlecht des Babys zu bestimmen, und sie lehnte wie beim letztenmal ab. Sie wollte sich überraschen lassen. Außerdem würde Einstein, falls sie herausfanden, daß es ein Mädchen werden würde, sofort anfangen, für den Namen >Minnie< Werbung zu machen. Nachdem sie sich mit der Sprechstundenhilfe auf den nächsten Termin geeinigt hatte, zog sich Nora wieder die Kapuze über den Kopf und ging in den brausenden Regen hinaus. Es goß echt, der Regen klatschte von einem Teil des Daches herunter, wo keine Dachrinne angebracht war, strömte über den Weg, so daß sich im Asphalt des Parkplatzes tiefe Pfützen bildeten. Auf dem Weg zum Wagen mußte sie durch einen Miniaturfluß waten, und ihre Schuhe waren binnen Sekunden triefend naß.

Als sie den Pick-up erreichte, sah sie einen Mann aus einem roten Honda steigen, der neben ihr parkte. Der Mann fiel ihr nicht sonderlich auf - nur daß er sehr groß war, im Verhältnis zu dem Kleinwagen, und ganz und gar nicht für den Regen gekleidet. Er trug Jeans und einen blauen Pullover, und Nora dachte: Der Arme wird bis auf die Haut naß werden.

Sie öffnete die Tür auf der Fahrerseite und schickte sich an einzusteigen. Aber ehe sie sich's versah, drängte der Mann im blauen Pullover sich hinter ihr hinein, schob sie über den Sitz und setzte sich selbst hinters Steuer. Er sagte: »Wenn du schreist, Miststück, blas' ich dir ein Loch in den Bauch.« Erst jetzt bemerkte sie, daß er ihr einen Revolver in die Seite bohrte.

Unwillkürlich wollte sie schreien, versuchen, über den Sitz weiterzurutschen, zur Beifahrertür hinaus. Aber irgend etwas in seiner Stimme, die brutal und dunkel war, ließ sie zögern.

Es klang so, daß sie erkannte, er würde sie eher in den Rücken schießen, als sie entkommen lassen.

Er knallte die Fahrertür zu, und jetzt waren sie allein im Wagen, fern jeder Hilfe und durch den Regen, der an den Fenstern herunterströmte und das Glas undurchsichtig machte, praktisch allen Blicken entzogen. Doch das hatte ohnehin nichts zu besagen. Der Parkplatz war verlassen und von der Straße aus nicht einsehbar, so daß sie selbst außerhalb des Wagens niemanden gehabt hätte, an den sie sich hätte wenden können.

Er war sehr groß und muskulös; aber was ihr an ihm Angst machte, war nicht seine Größe. Sein breites Gesicht wirkte ruhig, praktisch ausdruckslos, und diese Gelassenheit, die überhaupt nicht der Situation angemessen war, machte Nora Angst. Und seine Augen waren noch schlimmer: grüne Augen - und kalt.

»Wer sind Sie?« fragte sie, bemüht, ihre Furcht zu verbergen, weil sie sicher war, daß sichtbare Angst ihn erregen würde. Er schien auf einem ganz schmalen Grat zu balancieren. »Was wollen Sie von mir?«

»Ich will den Hund.«

Sie hatte gedacht: Raub. Sie hatte gedacht: Vergewaltigung.

Sie hatte gedacht: psychopathischer Killer. Aber keinen Augenblick lang hatte sie gedacht, daß er ein Agent der Regierung sein könnte. Und doch, wer sonst würde nach Einstein suchen? Sonst wußte doch niemand, daß der Hund existierte. »Wovon reden Sie?« fragte sie.

Er bohrte ihr den Lauf des Revolvers tiefer in die Seite, bis es weh tat.

Sie dachte an das Baby, das in ihr heranwuchs. »All right, okay. Sie wissen offensichtlich über den Hund Bescheid, also hat es keinen Sinn, irgendwelche Spielchen mit Ihnen zu treiben.«

»Gar keinen Sinn.« Er redete so leise, daß sie ihn im Dröhnen des Regens, der auf das Dach trommelte und gegen die Windschutzscheiben peitschte, kaum hören konnte.

Er beugte sich zu ihr hinüber, schob ihr die Kapuze vom Kopf, zog den Reißverschluß auf und griff mit der Hand an ihre Brüste, ihren Bauch. Einen Augenblick lang dachte sie schreckerfüllt, daß er sie doch vergewaltigen wollte.

Aber er sagte nur: »Dieser Weingold ist Gynäkologe. Was hast du also für ein Problem? Irgendeine verdammte Geschlechtskrankheit, oder bist du schwanger?« Das Wort >Ge-schlechtskrankheit< spie er förmlich aus, als machte ihn das bloße Wort vor Ekel halb krank.

»Sie sind kein Regierungsagent.« Sie sagte es rein instinktiv.

»Ich hab' dich was gefragt, du Schlampe«, sagte er mit einer Stimme, die kaum lauter war als ein Wispern. Er beugte sich dicht zu ihr hinüber und bohrte ihr wieder den Lauf in die Seite. Die Luft im Wagen war stickig und feucht. Das sie umgebende Prasseln des Regens erzeugte im Verein mit der Feuchtigkeit in dem engen Raum eine fast unerträgliche beengende Atmosphäre. »Also, was ist?« fragte er. »Hast du Herpes, Syphilis, Tripper oder irgendeine andere Fäulnis? Oder bist du schwanger?«

Da sie glaubte, daß die Schwangerschaft ihr vielleicht Rettung vor seiner Gewalttätigkeit brachte, sagte sie: »Ich bekomme ein Baby. Ich bin im dritten Monat schwanger.«

Etwas geschah mit seinen Augen. Es war, wie wenn ein Hebel umgelegt wurde. Oder eine Bewegung in einem zarten Kaleidoskopmuster aus Glasstücken in derselben Schattierung von Grün.

Nora wußte: Indem sie ihre Schwangerschaft zugegeben hatte, hatte sie das Allerschlimmste getan, das sie hatte tun können. Aber warum das so war, wußte sie nicht.

Sie dachte an die .38er-Pistole im Handschuhfach. Sie würde unmöglich den Handschuhkasten öffnen, sich die Waffe schnappen und ihn erschießen können, ehe er den Abzug seines Revolvers betätigte. Trotzdem würde sie dauernd wachsam bleiben, um eine Gelegenheit zu erspähen, ein kurzes Erlahmen seiner Aufmerksamkeit, das ihr die Chance bot, sich ihre Waffe zu holen.

Plötzlich war er über ihr, und wieder glaubte sie, er werde sie am hellichten Tage vergewaltigen, wohl im Schutz des Regens, aber immerhin am hellichten Tage. Dann begriff sie, daß er nur mit ihr den Platz wechselte, sie hinters Steuer zwang, während er den Beifahrersitz einnahm, wobei er die ganze Zeit den Lauf seiner Waffe auf sie gerichtet hielt.

»Fahr zu!« sagte er.

»Wohin?«

»Dorthin, wo du wohnst.«

»Aber...«

»Halt den Mund und fahr!«

Jetzt befand sie sich auf der dem Handschuhfach entfernten Seite. Um an dieses heranzukommen, würde sie über ihn hin-weggrcifen müssen. So unaufmerksam würde er nie sein.

Fest entschlossen, ihre galoppierende Furcht im Zaum zu halten, erkannte sie, daß sie gleichzeitig verhindern mußte, total durchzudrehen.

Sie ließ den Motor an, fuhr aus dem Parkplatz heraus und bog auf der Straße nach rechts.

Das hämmernde Klatschen der Scheibenwischer war fast ebenso laut wie ihr Herzschlag. Sie wußte nicht, wieviel von dem erdrückenden Geräusch vom Regen herrührte und wieviel vom Dröhnen des Blutes in ihren Ohren.

Straße nach Straße hielt Nora nach einem Polizisten Ausschau - obwohl sie keine Ahnung hatte, was sie tun würde, falls sie einen entdeckte. Aber sie brauchte das nicht zu Ende zu denken, denn nirgends waren Polizisten zu sehen.

Bis sie Carmel hinter sich gelassen und die Pacific Coast Highway erreicht hatten, trieb der Wind nicht nur den Regen gegen die Windschutzscheibe, sondern immer wieder Zypressen- und Fichtennadeln von den riesigen alten Bäumen, die die Straßen der Stadt schützten. Als sie später in südlicher Richtung an der Küste entlang durch weniger dicht besiedelte Gegenden fuhren, gab es keine Bäume mehr, deren Äste über die Straße hingen; dafür traf der Wind, der vom Meer hereinwehte, den Pick-up mit voller Gewalt. Nora spürte einige Male, wie er am Steuer riß. Der Regen, der jetzt direkt vom Meer hereinpeitschte, schlug so hart auf dem Wagen auf, daß sie glaubte, er müsse Beulen im Blech hinterlassen.

Nach wenigstens fünf Minuten des Schweigens, die ihr wie eine Stunde vorkamen, war sie nicht länger fähig, seinem Befehl zu gehorchen und den Mund zu halten. »Wie haben Sie uns gefunden?«

»Ich habe euer Haus mehr als einen Tag lang beobachtet«, sagte er mit jener kalten, ruhigen Stimme, die so gut zu dem ausdruckslosen Gesicht paßte. »Als du heute morgen wegfuhrst, bin ich dir gefolgt, weil ich hoffte, du würdest mir eine Chance geben.«

»Nein, ich meine, wie haben Sie erfahren, wo wir wohnen?« Er lächelte. »Van Dyne.«

»Dieser schmierige Verräter.«

»Besondere Umstände«, versicherte er ihr. »Der große Mann in San Francisco war mir einen Gefallen schuldig, also hat er Van Dyne unter Druck gesetzt.«

»Der große Mann?«

»Tetragna.«

»Wer ist das?«

»Du weißt wohl überhaupt nichts, wie?« sagte er. »Bloß wie man Babys macht, hm? Das weißt du, stimmt's?«

Im harten, höhnischen Klang seiner Stimme gab es nicht nur sexuelle Untertöne: Es war düsterer, fremdartiger, erschreckender. Sie hatte solche Angst vor der Spannung, die sie jedesmal in ihm fühlte, wenn er auf das Thema Sex kam, daß sie nicht wagte, ihm Antwort zu geben.

Vor ihnen hatte sich jetzt dünner Nebel aufgebaut, und sie schaltete die Schweinwerfer ein. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt jetzt der vom Regen gepeitschten Straße, und sie spähte mit zusammengekniffenen Augen durch die schmierige Windschutzscheibe.

»Du bist sehr hübsch«, sagte er. »Wenn ich ihn irgendwo reinstecken wollte, dann bei dir.«

Nora biß sich auf die Unterlippe.

»Aber so hübsch du bist«, fuhr er fort, »du bist wie alle anderen, wette ich. Wenn ich ihn dir reinstecke, wird er mir verfaulen und abfallen, weil du krank bist wie alle anderen -oder? Jaah. Du bist es. Sex ist tot. Ich gehöre anscheinend zu den wenigen, die das wissen, obwohl es überall Beweise gibt. Sex ist tot. Aber du bist sehr hübsch ...«

Sie spürte, wie sich ihre Kehle verengte. Es fiel ihr schwer, tief Atem zu holen.

Plötzlich war seine Schweigsamkeit wie verflogen. Er redete schnell, immer noch mit weicher Stimme und entnervend ruhig - wenn man bedachte, wie verrückt es war, was er sagte -, aber sehr schnell: »Ich werde größer sein als Tetragna, und bedeutender. Ich habe Dutzende von Leben in mir. Ich habe von mehr Leuten Energie in mich aufgenommen, als du dir vorstellen kannst. Ich habe den großen Augenblick erlebt, erlebt, wie es sssnappp macht. Das ist mein Talent. Wenn Tetragna tot ist und weg, dann werde ich noch da sein. Wenn alle tot sind, die jetzt leben, werde ich immer noch da sein, weil ich unsterblich bin.«

Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Er war aus dem Nichts aufgetaucht, wußte irgendwie über Einstein Bescheid und war wahnsinnig, und es schien nichts zu geben, was sie tun konnte. Das war unfair, und ihr Zorn darüber war ebenso groß wie ihre Angst. Sie hatten sich so sorgfältig auf den Outsider vorbereitet, hatten alle möglichen Vorkehrungen getroffen, um sich dem Zugriff der Regierung zu entziehen - wie aber hätten sie sich darauf vorbereiten sollen? Es war einfach nicht fair.

Wieder verstummt, starrte er sie eine Minute lang, vielleicht auch länger, eindringlich an - eine weitere Ewigkeit. Sie spürte den Blick seiner eisiggrünen Augen körperlich, wie sie das Streichen einer eiskalten Hand auf ihrer Haut gespürt hätte.

»Du weißt nicht, wovon ich rede, nicht wahr?« sagte er. »Nein.«

Weil er sie hübsch fand, beschloß er, es ihr zu erklären. »Ich habe es bis jetzt nur einem Menschen gesagt, und der hat sich über mich lustig gemacht. Er hieß Danny Slowicz, und wir haben beide für die Carramazza-Familie in New York gearbeitet, die größte der fünf Mafia-Familien. Ein bißchen Muskelarbeit

- hier und da Leute umgebracht, die umgebracht werden mußten.«

Nora spürte die Übelkeit in sich aufsteigen, weil er nicht nur verrückt, nicht nur ein Killer war, sondern auch noch ein verrückter professioneller Killer.

Er merkte ihre Reaktion nicht, sein Blick wanderte von der regengepeitschten Straße zu ihrem Gesicht, und er fuhr fort. »Siehst du, wir waren beim Abendessen in diesem Restaurant, Danny und ich, und spülten unsere Muscheln mit Valpolicella runter, und ich erklärte ihm, daß mir bestimmt sei, lange zu leben, weil ich die Fähigkeit besaß, die Lebensenergien der Leute, die ich erledigte, in mich aufzunehmen. Ich hab' zu ihm gesagt: >Sieh mal, Danny, die Leute sind wie Batterien, wie lebende Batterien, angefüllt mit dieser geheimnisvollen Energie, die wir Leben nennen. Wenn ich einen allemache, dann wird seine Energie meine Energie, und ich werde stärker. Ich bin ein Bulle. >Danny<, sag' ich, >schau mich an - bin ich ein Bulle oder nicht? Und ich muß ein Bulle sein, weil ich dieses Talent besitze, die Energie anderer in mich aufzunehmen. < Und weißt du, was Danny darauf sagt?«

»Was?« fragte sie benommen.

»Nun, Danny hat immer großen Wert auf das Essen gelegt, also schaut er nicht von seinem Teller hoch, das Gesicht in seinem Fraß, bis er noch ein paar Muscheln weggeputzt hat. Und dann schaut er auf, während ihm die Muschelsoße von den Lippen und vom Kinn tropft, und sagt: >Ja, Vince, wo hast du dann diesen Trick gelernt, hm? Wo hast du gelernt, wie man Lebensenergie in sich aufnimmt?< Und ich sag' drauf: »Nun, das ist mein Talent.< Und er: >Du meinst, wie vom Herrgott?< Darüber muß ich nachdenken, und dann sag' ich: >Wer weiß, woher es kommt? Es ist einfach mein Talent, so wie Sinatras Stimme ein Talent ist.< Und Danny sagt: >Sag mal - angenommen, du erledigst einen Typen, der Elektriker ist. Nachdem du seine Energie in dich aufgenommen hast - weißt du dann plötzlich, wie man die Leitungen in einem Haus neu verlegt?< Ich bemerke immer noch nicht, daß er sich über mich lustig macht. Ich denk, es ist eine ernste Frage, also erklär' ich ihm, wie ich Lebensenergie aufnehme, nicht die Person und nicht all das, was der Bursche im Hirn hat - bloß seine Energie.

Und dann sagt Danny: >Wenn du also so 'nen Knaben vom Jahrmarkt wegbläst, dann heißt das nicht, daß du plötzlich den Drang verspürst, Hühnern die Köpfe abzubeißcn?< Und in dem Augenblick hab' ich gewußt, daß Danny dachte, ich war' entweder besoffen oder verrückt. Also aß ich meine Muscheln auf und redete nicht mehr über meine Gabe. Und das war das letzte Mal, daß ich jemandem davon erzählte, bis ich es jetzt dir erzählt habe.«

Er hatte sich selbst Vince genannt, also kannte sie jetzt seinen Namen: Welchen Nutzen das bringen würde, war nicht abzusehen.

Er hatte ihr seine Geschichte erzählt ohne jedes Anzeichen dafür, daß ihm der schwarze Humor daran bewußt war. Er war ein tödlich ernster Mann. Wenn Travis nicht mit ihm fertig wurde, würde dieser Bursche sie nicht am Leben lassen.

»Also«, fuhr Vince fort, »konnte ich natürlich nicht riskieren, daß Danny herumlief und irgendeinem erzählte, was ich ihm erzählt hatte, weil er es verdrehen würde, es irgendwie komisch hinstellen würde, und dann hätten die Leute gedacht, ich bin verrückt. Die großen Bosse stellen keine Verrückten ein - die wollen coole, logische, ausgeglichene Typen, die saubere Arbeit tun. Und das bin ich auch: cool und ausgeglichen. Aber Danny wollte, daß sie anders dachten. Also hab' ich ihm in jener Nacht die Kehle aufgeschlitzt, ihn zu einer verlassenen Fabrik gebracht, die ich kannte, ihn in Stücke geschnitten und in einen Tank gelegt und eine Menge Schwefelsäure über ihn geschüttet. Er war ein Lieblingsneffe des Don, also konnte ich nicht riskieren, daß jemand eine Leiche fand, die man vielleicht zu mir zurückverfolgen konnte. Und jetzt hab' ich Dannys Energie in mir, und die von vielen anderen auch.«

Die Waffe war im Handschuhfach.

Daß sie das wußte, war ein Quentchen Hoffnung.

Während Nora fort war, um Dr. Weingold aufzusuchen, raffte sich Travis dazu auf, zwei Bleche Schokoladenplätzchen mit Erdnußbutter zu backen. Weil er allein gelebt hatte, hatte er Kochen gelernt, aber Freude hatte es ihm nie bereitet. Doch in den letzten Monaten hatte Nora seine kulinarischen Fähigkeiten so weit verbessert, daß das Kochen ihm jetzt Freude machte, ganz besonders das Backen.

Einstein, der sich gewöhnlich pflichtschuldig in seiner Nähe aufhielt, wenn gebacken wurde, in der Erwartung, ein paar Leckerbissen abzubekommen, verließ ihn, ehe er mit dem Teig fertig war. Der Hund war unruhig, lief von Fenster zu Fenster und starrte immer wieder in den Regen hinaus.

Nach einer Weile steckte die Unruhe des Hundes Travis an, und er fragte, ob etwas nicht in Ordnung sei.

Einstein lieferte ihm seine Antwort in der Kammer.

FÜHLE MICH EIGENARTIG.

»Krank?« fragte Travis, besorgt, daß sich vielleicht ein Rückfall eingestellt habe. Der Retriever war dabei, sich zu erholen, aber noch nicht wieder ganz hergestellt. Sein Immunsystem war einer größeren neuen Belastung nicht gewachsen.

NICHT KRANK.

»Was dann? Fühlst du den Outsider?«

NEIN. ANDERS.

»Aber du fühlst etwas?«

SCHLECHTER TAG.

»Vielleicht ist es der Regen.«

VIELLEICHT.

Erleichtert, aber dennoch beunruhigt, wandte Travis sich wieder seinem Teig zu.

Die Fahrbahn war silbrig vom Regen.

Je weiter sie entlang der Küste nach Süden kamen, desto dichter wurde der Nebel und zwang Nora damit, ihr Tempo auf sechzig Stundenkilometer zu verringern, an manchen Stellen sogar auf weniger als fünfzig.

Wenn sie den Nebel als Vorwand benutzte und langsam fuhr, konnte sie es dann riskieren, ihre Tür aufzureißen und hinauszuspringen? Nein. Wahrscheinlich nicht. Sie würde die Geschwindigkeit auf unter zehn Stundenkilometer reduzieren müssen, um sich oder ihr ungeborenes Kind nicht zu verletzen, und der Nebel war einfach nicht dicht genug, um ein derart langsames Tempo zu rechtfertigen. Außerdem hielt Vince die ganze Zeit, auch während er redete, den Revolver auf sie gerichtet und würde sie sofort in den Rücken schießen, wenn sie sich herumdrehte, um rauszuspringen.

Die Lichtbalkcn der Frontlichter des Pick-up und auch die der wenigen entgegenkommenden Fahrzeuge wurden vom Nebel gebrochen. Immer wieder prallte ein Kreis aus Licht und flimmernden Regenbögen gegen die dahinziehenden Nebelvorhänge, wurde kurz sichtbar und war dann verschwunden.

Sie überlegte, den Wagen von der Straße zu steuern, an einer der wenigen Stellen, wo sie wußte, daß die Böschung sanft abfiel und der Aufprall erträglich sein würde. Aber sie hatte Angst, sie könnte es an der falschen Stelle tun und dann über den Steilabfall in sechzig Meter Leere stürzen und mit höchster Wucht auf der Felsküste unten aufprallen. Und selbst wenn sie an der richtigen Stelle über den Rand fuhr, konnte ein berechenbarer und daher überlebbarer Sturz sie bewußtlos machen oder zu einer Fehlgeburt führen. Und sie wollte doch, wenn möglich, daß sie das hier lebend überstand, sie und das Kind, das sie in sich trug.

Jetzt, da Vince einmal angefangen hatte, auf sie einzureden, konnte er nicht mehr aufhören. Jahrelang hatte er seine großen Geheimnisse gehütet, seine Träume von Macht und Unsterblichkeit vor der Welt verborgen. Aber seine Sehnsucht, von seiner Größe zu reden, war seit dem Fiasko mit Danny Slo-wicz nicht geringer geworden. Es war, als hätte er alles, was er den Leuten hatte sagen wollen, in sich aufgestaut, es auf unzählige Spulen geistigen Tonbands aufgezeichnet und spielte es jetzt mit hoher Geschwindigkeit ab. Und er spie alle diese Verrücktheiten aus, und Nora wurde übel dabei.

Er erzählte ihr, wie er von Einstein erfahren hatte, von der Ermordung der Wissenschaftler, die im Rahmen des Francis-Projekts bei Banodyne die verschiedenen Forschungsprogramme geleitet hatten. Er wußte auch über den Outsider Bescheid, hatte aber keine Angst vor ihm. Er stehe, so erklärte er, an der Schwelle der Unsterblichkeit, und eine der letzten Aufgaben, die er erfüllen müsse, um seine Bestimmung zu erreichen, bestehe darin, sich in den Besitz des Hundes zu setzen. Ihm und dem Hund sei es bestimmt, zusammen zu sein, weil jeder von ihnen in dieser Welt einmalig war, ein Wesen ganz besonderer Art. Und sobald er, Vince, seine Bestimmung erfüllt habe, sagte er, könne nichts ihn aufhalten - nicht einmal der Outsider.

Die Hälfte der Zeit verstand Nora nicht, was er sagte. Wenn sie es verstanden hätte, so vermutete sie, würde sie ebenso wahnsinnig sein wie er.

Aber obwohl sie nicht immer mitbekam, was er meinte, wußte sie doch, was er mit ihr und Travis vorhatte, sobald er den Retriever in seine Gewalt gebracht haben würde. Zuerst hatte sie davor Angst, über ihr Schicksal zu sprechen, als würde sie es damit unwiderruflich machen. Aber zuletzt, als sie nur noch knappe acht Kilometer von dem Feldweg entfernt waren, der vom Highway zu ihrem Haus führte, sagte sie: »Sie werden uns doch nicht laufen lassen, wenn Sie den Hund haben, oder?«

Er starrte sie an, und sein Blick war wie eine Liebkosung. »Was meinst du denn, Nora?«

»Ich denke. Sie werden uns töten.«

»Natürlich.«

Es überraschte sie, daß diese Bestätigung ihrer Ängste sie nicht mit noch größerem Schrecken erfüllte. Seine selbstgefällige Antwort machte sie nur wütend, dämpfte ihre Furcht und steigerte gleichzeitig ihre Entschlossenheit, seine Pläne zunichte zu machen.

In diesem Augenblick wußte sie, daß sie eine radikal veränderte Frau war, die fast nichts mehr gemein hatte mit jener Nora vom vergangenen Mai, die durch die arrogante Selbstsicherheit dieses Mannes zu einem zitternden Häufchen geworden wäre.

»Ich könnte den Wagen von der Straße lenken und das Risiko eines Unfalls eingehen«, sagte sie.

»In dem Augenblick, in dem du am Steuer reißt«, sagte er, »würde ich dich erschießen müssen und dann versuchen, die Kontrolle über den Wagen zurückzubekommen.«

»Vielleicht könnten Sie das nicht. Vielleicht würden Sie auch sterben.«

»Ich? Sterben? Vielleicht. Aber ganz bestimmt nicht bei etwas so Belanglosem wie einem Verkehrsunfall. Nein, nein. Ich habe zu viele Leben in mir, um so einfach abzutreten. Und außerdem glaube ich nicht, daß du es versuchen wirst. Tief im Herzen glaubst du nämlich, daß dein Mann es irgendwie schaffen wird, dich und den Hund und sich zu retten. Da liegst du natürlich falsch. Aber du kannst einfach nicht aufhören, an ihn zu glauben. Dabei wird er gar nichts tun, weil er Angst haben wird, dir zu schaden. Ich werde mit einer Kanone hineingehen, die ich dir an den Bauch halte, und das wird ihn lange genug lahmen, daß ich ihm den Schädel runterblasen kann. Deshalb habe ich auch nur den Revolver. Er ist alles, was ich brauche. Seine Fürsorge für dich, seine Angst, dir zu schaden, wird ihn das Leben kosten.«

Nora erkannte, daß es sehr wichtig war, ihre Wut nicht zu zeigen. Sie mußte verängstigt wirken, schwach, ihrer selbst völlig unsicher. Wenn er sie unterschätzte, machte er vielleicht einen Fehler, der ihr einen kleinen Vorteil verschaffte.

Sie nahm nur eine Sekunde lang den Blick von der nassen Straße, schaute zu ihm hinüber und sah, daß er sie nicht amüsiert oder vielleicht voll kranker Wut anstarrte, wie sie das eigentlich erwartet hatte, auch nicht mit der ihr schon vertrauten kuhartigen Gleichmut, sondern eher mit einem Ausdruck der Zuneigung, ja vielleicht sogar der Dankbarkeit.

»Ich träume seit Jahren davon, eine schwangere Frau zu töten«, sagte er, als handele es sich dabei um ein um nichts weniger lohnendes Ziel, als ein Wirtschaftsimperium aufzubauen, die Hungrigen zu nähren oder die Kranken zu pflegen. »Ich habe mich nie in einer Situation befunden, wo das Risiko, eine schwangere Frau zu töten, niedrig genug war, um es zu rechtfertigen. Aber in diesem abgelegenen Haus, das ihr beide habt, werden die Umstände, sobald ich mit Cornell fertig bin, ideal sein.« »Bitte, nicht«, sagte sie zitternd, spielte die Schwache, wobei sie das Beben in ihrer Stimme gar nicht erst vorzutäuschen brauchte.

Immer noch mit ruhiger Stimme, aber noch um eine Spur gefühlvoller als vorhin, sagte er: »Deine Lebensenergie wird freiwerden, immer noch jung und reich. Aber im Augenblick, da du stirbst, werde ich auch die Energie des Kindes empfangen. Und die wird vollkommen rein und unbenutzt sein, ein Leben, das von den vielen Seuchen dieser kranken, degenerierten Welt nicht befleckt ist. Du bist meine erste schwangere Frau, Nora, und ich werde immer an dich denken.«

Tränen schimmerten in ihren Augenwinkeln, und sie waren nicht bloß Ergebnis ihrer Schauspielkunst. Obwohl sie wirklich daran glaubte, daß Travis einen Weg finden würde, diesem Mann entgegenzutreten, fürchtete sie dennoch, daß sie oder Einstein im Getümmel den Tod finden würden. Und sie wußte nicht, wie Travis damit fertigwerden würde, wenn er sie nicht alle retten konnte.

»Verzweifle nicht, Nora«, sagte Vince. »Du und dein Baby, ihr werdet nicht ganz aufhören zu existieren. Ihr beide werdet ein Teil von mir werden, und in mir ewig weiterleben.«

Travis nahm das erste Blech mit Plätzchen aus der Backröhre und stellte es zum Abkühlen ab.

Einstein kam schnüffelnd an, und Travis sagte: »Die sind noch zu heiß.«

Der Hund kehrte ins Wohnzimmer zurück, um durch das Fenster in den Regen hinauszublicken.

Kurz bevor Nora vom Highway abbog, glitt Vince vom Sitz, unter Fensterhöhe, um nicht gesehen zu werden. Er hielt die Waffe auf sie gerichtet. »Eine falsche Bewegung, und ich blas' dir das Baby aus dem Bauch.«

Sie glaubte ihm.

Sie bog in den schlammigen, schlüpfrigen Feldweg ein und fuhr den Hügel hinauf auf das Haus zu. Die überhängenden Zweige der Bäume schützten die Straße vor dem schlimmsten Regen, sammelten aber das Wasser auf den Blättern und schickten es in dicken Tropfen oder kleinen Rinnsalen auf den Boden.

Sie sah Einstein an einem der vorderen Fenster und versuchte sich irgendein Signal einfallen zu lassen, das >Gefahr< bedeutete und das der Hund sofort verstehen würde. Aber es wollte ihr nichts einfallen.

Vince blickte zu ihr auf und sagte: »Fahr nicht bis ganz zur Scheune. Halt neben dem Haus an.«

Sein Plan war leicht zu durchschauen. Die Ecke des Hauses, wo sich Speisekammer und Kellertreppe befanden, hatte keine Fenster. Travis und Einstein würden den Mann nicht mit ihr aus dem Pick-up steigen sehen. Vince konnte sie um die Ecke treiben, hinauf auf die hintere Veranda und ins Innere des Hauses, ehe Travis bemerken würde, daß etwas nicht stimmte.

Vielleicht würden Einsteins Hundesinne die Gefahr spüren. Vielleicht. Aber... Einstein war so krank gewesen.

Einstein trottete in die Küche. Er war sichtlich erregt.

»War das Nora?« fragte Travis.

JA.

Der Retriever ging zur hinteren Tür, vollführte einen ungeduldigen Tanz - und blieb dann wie erstarrt stehen, legte den Kopf schief.

Noras Chance kam, als sie es am allerwenigsten erwartete.

Als sie neben dem Haus hielt, die Handbremse einlegte und den Motor abschaltete, packte Vince sie und zerrte sie über den Sitz, auf seiner Seite nach draußen, weil das die Seite war, die dem Hinterende des Hauses zugewendet war und von den vorderen Fenstern aus am schwierigsten einzusehen war. Während er aus dem Wagen kletterte und sie an einer Hand hinter sich herzog, schaute er um sich, um sicherzugehen, daß Travis nicht in der Nähe war. Damit beschäftigt, konnte er den Revolver nicht so dicht auf Nora gerichtet halten wie vorher. Während sie über die Sitzbank rutschte - am Handschuhfach vorbei -, ließ sie den Deckel aufklappen und schnappte sich die Pistole, Vince mußte etwas gehört oder gefühlt haben, denn er schwang zu ihr herum - aber da war es bereits zu spät. Sie rammte ihm den Lauf der .38er in den Leib und drückte dreimal schnell hintereinander ab, ehe er seinerseits die Waffe heben und ihr den Schädel wegblasen konnte.

Sein Blick zeigte höchste Bestürzung. Er wurde gegen die Hauswand, nur einen Meter hinter ihm, geschleudert.

Ihre eigene Kaltblütigkeit erstaunte sie. Ein verrückter Gedanke kam ihr: daß niemand gefährlicher sei als eine Mutter, die ihre Kinder beschützte, selbst wenn ein Kind noch ungeboren und das andere ein Hund war. Sie feuerte nochmals, aus nächster Distanz, diesmal auf seine Brust.

Vince fiel mit dem Gesicht voran auf den feuchten Boden.

Sie wandte sich von ihm ab und fing zu rennen an. An der Hausecke wäre sie beinahe mit Travis zusammengestoßen, der in dem Augenblick über das Geländer der Veranda flankte und halb geduckt vor ihr landete, den Uzi-Karabiner in der Hand. »Ich habe ihn getötet«, sagte sie, hörte die Hysterie in ihrer Stimme, kämpfte dagegen an. »Ich habe viermal auf ihn geschossen. Ich habe ihn getötet. Mein Gott!«

Travis richtete sich langsam aus der geduckten Stellung auf, noch verwirrt. Nora schlang die Arme um ihn und drückte den Kopf an seine Brust. Der kalte Regen prasselte auf sie beide nieder, doch Nora spürte Travis' lebende Wärme wie eine Köstlichkeit.

»Wer...«, begann Travis.

Hinter Nora stieß Vince einen schrillen, atemlosen Schrei aus, rollte sich auf den Rücken und feuerte auf sie. Die Kugel traf Travis oben an der Schulter und warf ihn um. Fünf Zentimeter weiter rechts - und sie hätte Noras Kopf getroffen.

Fast wäre auch sie gestürzt, als Travis zu Boden ging, weil sie ihn festgehalten hatte. Aber sie ließ ihn schnell los und rannte nach links, vor den Wagen und aus der Schußlinie. Sie warf rasch einen Blick auf Vince, der mit einer Hand den Revolver hielt und sich die andere an den Leib preßte und aufzustehen versuchte.

Und bei diesem Blick, ehe sie hinter dem Pick-up in Dek-kung ging, hatte sie kein Blut an dem Mann gesehen.

Was ging hier vor? Er konnte unmöglich drei Kugeln in den Bauch und eine in die Brust überlebt haben. Außer er war tatsächlich unsterblich.

Noch während Nora in Deckung ging, hatte Travis sich wieder aufgerappelt und saß jetzt im Schlamm. An ihm konnte man Blut sehen, das ihm von der Schulter über die Brust rann und sein Hemd durchtränkte. Er hatte immer noch die Uzi in der rechten Hand. Als Vince blindlings einen zweiten Schuß abgab, eröffnete Travis das Feuer aus der Uzi. Aber er war nicht besser dran als Vince; der Feuerstoß traf die Hauswand und ließ ein paar Querschläger gegen die Ladebrücke des Pickup prallen. Vergeudete Munition.

Er hörte zu schießen auf. »Scheiße!« Er rappelte sich auf. »Hast du ihn erwischt?« fragte Nora.

»Er ist um die Hausecke entkommen«, sagte Travis und setzte ihm nach.

Vince mutmaßte, daß er sich der Unsterblichkeit nähere, sie beinahe erreicht habe. Er brauchte - höchstenfalls - ein paar weitere Leben. Jetzt, wo er seiner Bestimmung so nahe war, ausgelöscht zu werden - dagegen hatte er Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Wie beispielsweise die neueste und aufwendigste kugelsichere Weste aus Kevlar. Er trug eine unter seinem Pullover, und das war es, was die vier Schüsse aufgehalten hatte, die dieses Miststück auf ihn abgegeben hatte. Die Kugeln hatten sich an der Weste abgeplattet und überhaupt keine Wunde verursacht. Aber, Herrgott, weh hatten sie getan! Der Aufprall hatte ihn gegen die Hauswand geschleudert und ihm den Atem aus den Lungen gepreßt. Er fühlte sich, als hätte er auf dem Amboß eines Riesen gelegen, und jemand habe wiederholt einen Schmiedehammer auf seinen Leib niedersausen lassen.

Während er zusammengekrümmt zur Vorderseite des Hauses humpelte und versuchte, dieser verdammten Uzi zu entkommen, war er sicher, daß ihn im nächsten Augenblick eine Kugel im Rücken treffen würde. Aber irgendwie schaffte er es bis zur Ecke, stieg die Stufen zur Veranda hinauf und gelangte damit aus Cornells Schußlinie.

Vince bereitete es einige Befriedigung, daß er Cornell verwundet hatte, obwohl er wußte, daß die Verletzung nicht tödlich war. Jetzt, da er das Moment der Überraschung verloren hatte, stand ihm ein längerer Kampf bevor. Zum Teufel, die Frau schien fast so gefährlich zu sein wie Comell selbst - eine verrückte Amazone.

Er hätte schwören mögen, daß die Frau etwas von einer furchtsamen Maus an sich hatte, daß es in ihrem Wesen lag, sich zu unterwerfen. Er hatte sie offensichtlich falsch eingeschätzt - und das machte ihn unruhig. Vince Nasco war es nicht gewöhnt, solche Fehler zu machen; Fehler beging ein Mensch niederen Grades, nicht aber ein von der Vorsehung Auserwählter.

Er rannte über die Veranda, überzeugt, Comell sei hinter ihm her, und beschloß, ins Haus zu gehen, statt in Richtung Wald. Sie würden damit rechnen, daß er zu den Bäumen rannte, dort Deckung suchte und seine Strategie neu überdachte. Statt dessen würde er geradenwegs ins Haus eindringen und an einem Punkt in Stellung gehen, von dem aus er die beiden Türen vorn und hinten am Haus sehen konnte. Vielleicht gelang es ihm doch noch, sie zu überrumpeln.

Er kam an einem großen Fenster vorbei, strebte der vorderen Tür zu, als etwas durch das Glas geflogen kam.

Vince stieß einen überraschten Schrei aus und feuerte seinen Revolver ab, aber der Schuß bohrte sich in die Decke -und der Hund prallte hart gegen ihn. Die Waffe flog ihm aus der Hand, er wurde nach rückwärts geworfen. Der Hund klammerte sich an ihm fest, Krallen zerrten an seinen Kleidern, Zähne bohrten sich in seine Schulter. Das Geländer zerbrach, und sie fielen auf den Boden darunter.

Schreiend hämmerte Vince mit seinen großen Fäusten auf den Hund ein, bis der ihn jaulend losließ. Doch jetzt ging er ihm an die Gurgel, und er konnte ihn gerade noch rechtzeitig wegstoßen, um zu verhindern, daß er ihm die Luftröhre aufriß.

Sein geschundener Leib schmerzte immer noch dort, wo die Kugeln sich an der Kevlar-Weste plattgedrückt hatten, aber er rappelte sich auf und taumelte zur Veranda zurück, suchte seinen Revolver - und fand statt dessen Cornell. Er stand auf der Veranda und blickte auf Vince herab.

Vince verspürte eine mächtige Aufwallung von Selbstvertrauen. Er wußte, daß er die ganze Zeit recht gehabt hatte, daß er unbesiegbar war, unsterblich, weil er ohne Furcht in die Mündung der Uzi sehen konnte, ohne die geringste Furcht.

Und deshalb grinste er Cornell an. »Schau mich an. Schau her! Ich bin dein schlimmster Alptraum.«

Cornell sagte: »Nicht im entferntesten«, und eröffnete das Feuer.

In der Küche saß Travis auf einem Stuhl, mit Einstein an seiner Seite, während Nora die Wunde versorgte. Dabei erzählte sie ihm, was sie über den Mann wußte, der sich zu ihr in den Wagen gedrängt hatte.

»Eine wilde Trumpfkarte, mit der keiner rechnen konnte«, sagte Travis. »Wie hätten wir ahnen sollen, daß es ihn gab.« »Hoffentlich ist er die einzige wilde Karte im Spiel.«

Er zuckte zusammen, als Nora Alkohol und Jod über die Wunde goß, und dann noch einmal, als sie sie mit Gaze verband und den Verbandstreifen unter seiner Achselhöhle durchzog. Dann sagte er: »Mach nur nicht zuviel daraus. Die Blutung ist nicht so schlimm. Es ist keine Arterie getroffen.«

Es war ein glatter Durchschuß mit einer häßlichen Austrittswunde, und er hatte ziemlich große Schmerzen, aber er würde schon eine Weile durchhalten. Später würde er ärztliche Hilfe brauchen, vielleicht von Jim Keene, um Fragen zu entgehen, auf deren Beantwortung jeder andere Arzt sicherlich bestehen würde. Für den Augenblick war ihm nur wichtig, daß die Wunde fest genug verbunden war, um es ihm zu erlauben, den Toten zu beseitigen.

Auch Einstein war nicht ganz ungeschoren geblieben. Zum Glück hatte er sich keine Verletzungen zugezogen, als er sich durch das Fenster gestürzt hatte. Er schien sich auch keine Knochen gebrochen zu haben, hatte aber immerhin ein paar harte Schläge einstecken müssen. Da er von Anfang an nicht in besonders guter Verfassung gewesen war, sah er ziemlich übel aus - von Schlamm und Regen durchweicht und von Schmerzen gequält. Jim Keene würde sich auch seiner annehmen müssen.

Draußen regnete es heftiger denn je. Der Regen prasselte auf das Dach und gurgelte laut in den Dachrinnen und Fallrohren. Er peitschte auch gegen die Veranda und durch das zerschlagene Fenster. Aber sie hatten jetzt nicht die Zeit, an Wasserschaden zu denken.

»Dem Himmel sei Dank für den Regen«, meinte Travis. »Bei dem Wolkenbruch hat keiner die Schüsse gehört.«

Nora fragte: »Wo schaffen wir die Leiche hin?«

»Das überlege ich gerade.« Und zu überlegen fiel ihm schwer, denn der Schmerz in seiner Schulter pochte bis hinauf in den Kopf.

»Wir könnten ihn hier begraben, im Wald ...«, sagte sie.

»Nein. Dann würden wir immer wissen, daß er hier ist, und uns die ganze Zeit Sorgen machen, daß wilde Tiere ihn ausgraben oder daß ein Wanderer ihn findet. Nein, ich weiß etwas Besseres ... Es gibt Stellen am Coast Highway, wo wir bis an den Straßenrand fahren und warten können, bis kein Verkehr ist, und ihn dann einfach hinunterwerfen. Wenn wir uns eine Stelle aussuchen, wo das Meer bis an die Küstenfelsen herankommt, dann trägt die See ihn nach draußen, ehe jemand ihn bemerkt.«

Als Nora mit dem Verbinden fertig war, stand Einstein plötzlich auf und winselte. Er hob die Nase, schnüffelte. Dann ging er zur hinteren Tür, starrte sie einen Augenblick lang an und verschwand dann im Wohnzimmer.

»Ich fürchte, er ist schwerer verletzt, als es den Anschein hat«, sagte Nora und klebte den letzten Streifen Heftpflaster fest.

»Vielleicht«, sagte Travis. »Aber vielleicht auch nicht. Er war den ganzen Tag schon so komisch, seit du heute morgen weggefahren bist. Er meinte, es rieche nach einem schlechten Tag.«

»Da hat er recht«, sagte sie.

Einstein kam aus dem Wohnzimmer zurückgerannt, hetzte geradenwegs zur Speisekammer, schaltete das Licht ein und betätigte die Pedale, die die Buchstaben freigaben.

»Vielleicht hat er eine Idee, wie man die Leiche loswerden kann«, sagte Nora.

Während Nora die Flaschen mit Jod, Alkohol und das restliche Verbandsmaterial einsammelte, schlüpfte Travis mit schmerzvcrzerrtem Gesicht in sein Hemd und eine in die Kammer, um zu sehen, was Einstein zu sagen hatte.

DER OUTSIDER IST DA.

Travis rammte ein neues Magazin in den Kolben der Uzi, steckte sich ein weiteres in die Tasche und gab Nora eine der Uzi-Pistolen, die in der Speisekammer verstaut waren.

Einsteins drängendes Verhalten ließ den Schluß zu, daß sie keine Zeit hatten, durch das ganze Haus zu gehen und die Läden zu schließen und zu verriegeln.

Der raffinierte Plan, den Outsider in der Scheune mit Gas zu betäuben, baute auf der Überzeugung auf, er werde sich nachts nähern und das Haus auskundschaften. Jetzt, da er bei hellichtem Tage gekommen war und seine Kundschafterarbeit getan hatte, während sie mit Vince beschäftigt gewesen waren, war dieser Plan nutzlos.

Sie standen in der Küche und lauschten, aber in dem prasselnden Regen war nichts zu hören.

Einstein konnte ihnen nicht exakter mitteilen, wo sich der Gegner befand. Sein sechster Sinn funktionierte noch nicht einwandfrei. Sie konnten von Glück reden, daß er die Bestie

überhaupt wahrgenommen hatte. Die Angstgefühle, die ihn den ganzen Vormittag geplagt hatten, hatten sich allem Anschein nach überhaupt nicht auf den Mann bezogen, der mit Nora zum Haus gekommen war, sondern waren, auch wenn er selbst das nicht wußte, durch das Herannahen des Outsiders verursacht worden.

»Hinauf«, sagte Travis. »Gehen wir.«

Hier unten konnte die Kreatur durch Türen oder Fenster eindringen, aber im Obergeschoß würden sie wenigstens nur auf die Fenster zu achten haben. Und vielleicht schafften sie es sogar, an einigen die Läden zu schließen.

Nora ging mit Einstein die Treppe hinauf. Travis bildete die Nachhut, er ging rückwärts, die Uzi nach unten gerichtet. Die Anstrengung machte ihn benommen. Er merkte deutlich, wie der Schmerz und die Schwäche, die von seiner Schulterwunde ausgingen, sich jetzt in seinem ganzen Körper ausbreiteten wie ein Tintenfleck in einem Löschblatt.

Als sie im Obergeschoß das Treppenende erreichten, sagte er: »Wenn wir ihn hereinkommen hören, können wir uns zurückziehen und abwarten, bis er anfängt, nach oben zu klettern, und dann vortreten und ihn überraschen, ihn wegblasen.« Sie nickte.

Sie mußten jetzt leise sein, ihm die Chance geben, sich unten hereinzuschleichen, ihm Zeit lassen, zu erkennen, daß sie sich im Obergeschoß befanden, warten, bis er dreist wurde und im Gefühl der Sicherheit die Treppe heraufkam.

Ein Blitz - der erste des Gewitters - entlud sich vor dem Fenster am Ende des Korridors, und der Donner krachte. Der Blitz schien den Himmel gespalten zu haben, und aller Regen, der noch in den Wolken gestaut war, brach in einem einzigen, mächtigen Guß über die Erde herein.

Am Ende des Korridors flog eines von Noras Bildern aus der Tür des Ateliers und krachte gegen die Wand.

Nora stieß einen überraschten Schrei aus, und einen Augenblick lang starrten sie alle drei dumm auf das Gemälde, das auf dem Boden lag, überlegten, ob sein poltergeistähnlicher Flug vielleicht vom Donnerschlag und dem Blitz ausgelöst worden sei.

Ein zweites Gemälde segelte aus dem Atelier, prallte gegen die Wand, und Travis sah, daß die Leinwand zerfetzt war.

Der Outsider war bereits im Haus.

Sie befanden sich am einen Ende des kurzen Flurs. Zu ihrer Linken lagen ihr Schlafzimmer und das künftige Kinderzimmer, zur Rechten das Bad und dahinter Noras Atelier. Das Ding war nur zwei Türen von ihnen entfernt, in Noras Atelier, und demolierte ihre Bilder.

Ein weiteres Bild flog in den Flur.

Vom Regen durchnäßt, schlammbedeckt, immer noch von seinem Kampf gegen die Staupe geschwächt, bellte Einstein nichtsdestoweniger wild, versuchte den Outsider zu verscheuchen.

Die Uzi schußbereit, machte Travis einen Schritt in den Korridor hinein.

Nora packte ihn am Arm. »Nicht! Laß uns hier verschwinden!«

»Nein. Wir müssen uns ihm stellen.«

»Aber zu unseren Bedingungen«, sagte sie.

»Das sind jetzt die besten Bedingungen, die wir je bekommen werden.«

Zwei weitere Gemälde flogen aus dem Atelier und fielen klappernd auf den anwachsenden Haufen zerstörter Bilder. Einstein hatte jetzt aufgehört zu bellen, und ein tiefes Knurren kam aus seiner Kehle.

Gemeinsam bewegten sie sich den Flur hinunter, auf die offene Tür von Noras Studio zu.

Travis' Erfahrung und seine Ausbildung sagten ihm, daß sie sich teilen, ausschwärmen mußten, statt als Gruppe ein einziges Ziel zu bilden. Aber dies hier war nicht Delta Force, und ihr Feind war auch kein gewöhnlicher Terrorist. Wenn sie sich aufteilten, würden sie einen Teil der Courage verlieren, die sie brauchten, sich dem Ding zu stellen. Die bloße Nähe des anderen verlieh ihnen Stärke.

Sie hatten die Hälfte des Weges zum Atelier zurückgelegt, als der Outsider einen schrillen Schrei ausstieß. Der eisige Ton durchfuhr Travis wie ein Stich und ließ ihn bis ins Mark erstarren. Er und Nora blieben stehen, aber Einstein machte zwei weitere Schritte, ehe er innehielt.

Der Hund zitterte heftig.

Jetzt bemerkte Travis, daß auch er zitterte. Und das Zittern verstärkte den Schmerz in seiner Schulter noch.

Mit einem Satz zur offenen Tür hindurch brach er den Bann, trat auf zerfetzte Bilder und jagte einen Feuerstoß ins Studio. Der Rückstoß der Waffe, wiewohl schwach, war wie ein Meißel, der gegen seine Wunde hämmerte.

Er traf nichts, hörte nichts schreien, sah keine Spur des Feindes.

Der Fußboden drinnen war übersät von einem Dutzend zerfetzter Gemälde und den Scherben der zerbrochenen Fensterscheibe, durch die das Ding sich Zutritt verschafft hatte, nachdem es auf das Dach der vorderen Veranda geklettert war.

Travis stand breitbeinig da. Wartete. Die Waffe in beiden Händen. Blinzelte, um den Schweiß aus den Augen zu kriegen. Versuchte den brennenden Schmerz an der rechten Schulter zu ignorieren. Wartete.

Der Outsider mußte sich links von der Türöffnung befinden

- oder hinter der offenen Tür auf der rechten Seite, geduckt, sprungbereit. Wenn er ihm Zeit ließ, würde er des Wartens vielleicht müde werden und ihn anspringen, und dann konnte er ihn durch die Türöffnung mit einem Feuerstoß niedermähen.

Nein, er ist genauso schlau wie Einstein, sagte er sich. Würde Einstein so dumm sein und mich durch eine schmale Türöffnung anspringen? Nein. Nein, er wird etwas Intelligenteres tun, etwas Unerwartetes.

Der Himmel explodierte mit einem so mächtigen Donnerhall, daß die Fenster vibrierten und das Haus erzitterte. Ein Kettenblitz zischte über den Taghimmel.

Komm nur, du Schweinehund, zeig dich.

Er blickte zu Nora und Einstein, die ein paar Schritte von ihm entfernt standen, das Schlafzimmer auf der einen, das Badezimmer auf der anderen Seite, die Treppe hinter sich.

Er schaute wieder durch die Türöffnung, auf das Fensterglas in all dem Durcheinander auf dem Boden. Plötzlich war er überzeugt, daß der Outsider sich gar nicht mehr im Studio befand, daß er durch das Fenster nach draußen gestiegen war, auf das Dach der vorderen Veranda, und jetzt aus einem anderen Teil des Hauses wieder angriff, durch eine andere Tür, vielleicht aus einem der Schlafzimmer oder dem Badezimmer -oder sie vielleicht mit einem schrillen Schrei von der Treppe aus anfiel.

Er winkte Nora zu sich heran. »Gib mir Feuerschutz.«

Ehe sie etwas einwenden konnte, ging er geduckt durch die Tür ins Studio, wäre über all den Trümmern fast zu Fall gekommen. Aber er blieb auf den Füßen und schwankte herum, bereit, das Feuer zu eröffnen, falls das Ding vor ihm stehen sollte.

Es war fort.

Die Schranktür stand offen. Der Schrank leer.

Er ging zum eingeschlagenen Fenster und schaute vorsichtig auf das vom Regen überschwemmte Dach der Veranda hinaus. Der Wind fing sich an den gefährlich scharfen Glassplittern, die noch aus dem Fensterrahmen stachen.

Er wandte sich um, tat einen Schritt in Richtung Flur. Er konnte Nora draußen stehen sehen, die ihn ansah, verängstigt, aber entschlossen die Uzi umklammernd. Hinter ihr öffnete sich jetzt die Tür zum künftigen Kinderzimmer - und da war es ... mit glühenden gelben Augen. Seine mächtigen Kinnladen öffneten sich weit, voll mit Zähnen, schärfer als die heimtückischen Glassplitter im Fensterrahmen.

Auch sie hatte es wahrgenommen, begann sich umzudrehen. Aber es schlug nach ihr, ehe sie die Gelegenheit zum Schießen hatte. Die Bestie riß ihr die Uzi aus den Händen. Aber das Scheusal bekam keine Gelegenheit, ihr mit seinen rasiermesserscharfen, fünfzehn Zentimeter langen Klauen an den Leib zu gehen, denn im selben Augenblick, in dem es ihr die Uzi wegriß, griff Einstein fletschend an. Katzenartig schnell wandte der Outsider seine Aufmerksamkeit dem Hund zu. Er schnellte herum, die langen Arme, so als hätten sie mehr als nur ein Ellbogengelenk, sausten peitschenartig nieder. Er schnappte Einstein mit beiden scheußlichen Händen und hob ihn hoch.

Travis rannte quer durchs Studio zur Tür, hatte aber keine freie Schußline auf den Outsider, weil Nora zwischen ihm und dem scheußlichen Ding stand. Als Travis' die Tür erreichte, schrie er, sie solle sich fallen lassen, damit er schießen könne, und das tat sie sofort - aber bereits zu spät. Der Outsider schleuderte Einstein ins Kinderzimmer und knallte die Tür zu, als wäre er ein böser, aus einem Alptraum gezeugter Schachtelteufel, der aus seinem Kasten gefahren und mit seiner Beute wieder darin verschwunden war - und alles in Sekundenschnelle.

Einstein jaulte, Nora rannte auf die Kinderzimmertür zu. »Nein!« schrie Travis und riß sie beiseite.

Er zielte mit seinem automatischen Karabiner auf die verschlossene Tür und leerte den Rest des Magazins in sie, damit wenigstens dreißig Löcher ins Holz schlagend, schrie zwischen zusammengebissenen Zähnen auf, als Schmerz durch seine Schulter flammte. Es bestand ein gewisses Risiko, Einstein zu treffen, aber der Retriever befand sich in noch viel größerer Gefahr, wenn Travis das Feuer nicht eröffnete. Als der Karabiner aufhörte. Kugeln zu speien, riß Travis das leere Magazin heraus, holte das volle aus der Tasche und rammte es in die Gewehrkammer. Dann trat er die ruinierte Tür auf und betrat das Kinderzimmer.

Das Fenster stand offen, die Vorhänge bauschten sich im Wind.

Der Outsider war fort.

Einstein lag auf dem Boden an der Wand, reglos, mit Blut bedeckt.

Als Nora den Retriever sah, entrang sich ihr ein Laut der Qual.

Vom Fenster aus entdeckte Travis Blutflecken, die sich über das Dach der Veranda zogen. Der peitschende Regen würde sie in wenigen Augenblicken weggewaschen haben.

Er nahm eine Bewegung wahr und schaute zur Scheune hinüber, wo der Outsider gerade durch die große Tür verschwand.

Nora beugte sich über den Hund und sagte: »O mein Gott, Travis, mein Gott - nach allem, was er durchgemacht hat, muß er jetzt so sterben.«

»Ich hol' mir diesen Schweinehund, diesen Bastard«, stieß Travis durch die zusammengebissenen Zähne hervor. »Er ist in der Scheune.«

Sie folgte ihm zur Tür, und er sagte: »Nein! Ruf Jim Keene an und bleib dann bei Einstein. Bleib bei Einstein.«

»Aber du brauchst mich jetzt! Du kannst ihm nicht allein folgen.«

»Einstein braucht dich!«

»Einstein ist tot«, sagte sie unter Tränen.

»Sag das nicht!« brüllte er. Ihm war klar, wie irrational er sich verhielt, als glaubte er, Einstein werde erst dann wirklich tot sein, wenn sie sagten, er sei tot. Aber er hatte keine Gewalt über sich. »Sag nicht, daß er tot ist. Bleib hier bei ihm, verdammt. Ich hab' dieser Scheißausgeburt der Hölle bereits eins versetzt, ordentlich versetzt, glaube ich, sie blutet, und ich kann sie allein erledigen. Ruf Jim Keene an, und bleib bei Einstein.«

Er hatte außerdem noch Angst, all die Aufregung würde bei ihr zu einer Fehlgeburt führen - wenn das nicht ohnehin schon der Fall war. Dann würden sie nicht nur Einstein, sondern auch das Baby verloren haben.

Er rannte hinaus.

In deinem jetzigen Zustand darfst du nicht in die Scheune, sagte er sich. Du mußt zuerst ruhig werden. Nora aufzutragen, den Tierarzt zu einem toten Hund zu rufen und bei dem Hund zu bleiben, wenn er sie doch in Wirklichkeit an seiner Seite brauchte ... So ging das nicht. Es geht nicht, daß du deine Wut und deinen Rachedurst Gewalt über dich gewinnen läßt. Das geht nicht.

Aber er konnte nicht stehenbleiben. Sein ganzes Leben lang hatte er Menschen verloren, die er liebte. Und abgesehen von der Zeit bei Delta Force, hatte er nie etwas gehabt, dem er Schläge zurückversetzen konnte, weil man am Schicksal keine Rache nehmen kann. Selbst bei Delta war der Feind so gesichtslos gewesen - jene amorphe Masse aus Verrückten und Fanatikern, die den internationalen Terrorismus< repräsentierten -, daß es eine Art von Rache war, die wenig Befriedigung verschaffte. Aber hier war ein Feind von unvergleichbarer Bösartigkeit, ein Feind, der diesen Namen verdiente, und er würde ihn für das bezahlen lassen, was er Einstein angetan hatte.

Er raste durch den Flur, die Treppe hinunter, jeweils zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, wurde von Übelkeit und Schwindel befallen, stürzte beinahe. Er packte das Geländer, hielt sich daran fest. Dabei stützte er sich auf den falschen Arm, und eine heiße Welle des Schmerzes lief durch seine verwundete Schulter. Er ließ das Geländer los, verlor das Gleichgewicht, fiel über die letzten zwei Stufen und prallte unten hart auf.

Sein Zustand war schlechter, als er gedacht hatte.

Die Uzi fest umklammernd, stand er auf und taumelte durch die hintere Tür auf die Veranda hinaus und über die Stufen hinunter in den Hof. Der kalte Regen machte seinen Kopf klar. Er blieb einen Augenblick auf dem Rasen stehen und ließ sich vom Sturm umwehen.

Das Bild von Einsteins zerschmettertem, blutigem Körper erstand vor seinem inneren Auge. Er dachte an die spaßigen Botschaften, die nie wieder auf dem Boden der Speisekammer ausgelegt werden würden. Dann an künftige Weihnachten, an denen Einstein nicht wieder in seiner Weihnachtsmütze herumtoben würde. Er dachte an Liebe, nie wieder gegeben, nie mehr empfangen, dachte an all die genialen kleinen Hündchen, die nie geboren werden würden, und das Gewicht all diesen Verlustes drückte ihn fast zu Boden.

Er schärfte seine Wut an seinem Leid, schliff seinen Zorn, bis er scharf war wie ein Rasiermesser.

Dann ging er zur Scheune.

Drinnen drängten sich die Schatten. Er stand an der offenen Tür, ließ den Regen auf Kopf und Rücken trommeln, spähte hinein, schaute mit zusammengekniffenen Augen in die Schwärze, hoffte die gelben Augen zu entdecken.

Nichts.

Er ging durch die Tür, tollkühn in seiner Wut, schob sich seitwärts zu den Lichtschaltern an der Nordwand. Doch selbst, als das Licht anging, konnte er den Outsider nicht sehen.

Er kämpfte gegen die Benommenheit an, biß die Zähne vor Schmerz zusammen, bewegte sich langsam weiter, vorbei an der freien Fläche, wo sonst der Pick-up stand, hinten an dem Toyota vorbei, dann an der Wagenseite entlang.

Der Speicherraum unterm Dach.

Nur noch ein paar Schritte, und er würde unter dem Speicherboden hervortreten. Wenn das Ding dort oben war, konnte es auf ihn herunterspringen ...

Doch diese Spekulation erwies sich als Sackgasse, denn der Outsider war an der Hinterwand, vor dem Kühler des Toyota, kauerte dort auf dem Betonboden, wimmerte und hielt die beiden mächtigen, langen Arme an sich gepreßt. Der Boden rings um die Bestie war mit Blut beschmiert.

Travis stand fast eine Minute lang neben dem Wagen, fünf Meter von dem Geschöpf entfernt, und studierte es mit einer Mischung aus Ekel und Furcht, Schrecken und eigenartiger Faszination. Er glaubte die Körperformen eines Affen zu sehen, vielleicht eines Pavians - jedenfalls irgendeines Angehörigen der Gattung Affe. Aber es war weder vorwiegend eine Gattung noch lediglich ein Flickwerk erkennbarer Teile vieler verschiedener Tiere. Es war vielmehr ein Ding ganz für sich. Mit seinem übergroßen, knolligen Gesicht, den riesigen gelben Augen, dem ausladenden Kinn, den langen, gebogenen Zähnen, dem krummen Rücken, dem filzigen Fell und den zu langen Armen war es von furchterregender Eigenart.

Er starrte ihn an, wartete.

Er trat zwei Schritte vor, brachte die Waffe in Anschlag.

Der Outsider hob den Kopf, seine Kinnladen bewegten sich, ein scharrendes, brüchiges, undeutliches und doch verständliches Wort kam hervor, das Travis trotz des Heulens des Sturms hören konnte: »Verwundet.«

Travis war mehr erschrocken als erstaunt. Das Geschöpf war nicht dazu bestimmt gewesen, der Sprache mächtig zu sein, und doch besaß es die Intelligenz, Sprache zu lernen und Verständigung zu wünschen. Offenbar war jener Wunsch in den Monaten, in denen es Einstein verfolgt hatte, so groß geworden, daß es in gewissem Maße seine physischen Grenzen überschritten hatte. Es hatte Sprache geübt, Mittel und Wege gefunden, seinen unterentwickelten Sprechwerkzeugen und seinem zum Sprechen ungeeigneten Maul ein paar armselige Worte abzuringen. Travis erschreckte nicht der Anblick dieses Dämons, der sprach, sondern der Gedanke, wie verzweifelt dieses Ding den Wunsch verspürt haben mußte, sich mit jemandem, irgend jemandem, zu verständigen. Er wollte kein Mitleid haben, wagte nicht, es zu bemitleiden, denn er wünschte sich das Hochgefühl, es vom Erdboden getilgt zu haben.

»Weit gekommen. Jetzt erledigt«, sagte das Geschöpf unter ungeheurer Anstrengung, als müßte jedes Wort aus seiner Kehle gerissen werden.

Seine Augen waren zu fremdartig, um Mitgefühl zu erregen, jede seiner Gliedmaßen war unverkennbar ein Mordinstrument.

Indem es einen der langen Arme von seinem Körper löste, hob es etwas auf, das neben ihm auf dem Boden gelegen und das Travis bis jetzt nicht bemerkt hatte: eine der MickymausVideokassetten, die Einstein zu Weihnachten bekommen hatte. Auf der Kassette war die berühmte Maus abgebildet, in der Kleidung, die sie immer trug, mit ihrem bekannten Lächeln, winkend.

»Micky«, sagte der Outsider, und so armselig und fremd und kaum verständlich seine Stimme auch war, irgendwie vermittelte sie doch ein Gefühl schrecklichen Verlustes und furchtbarer Einsamkeit. »Micky.«

Dann ließ die Kreatur die Kassette fallen, preßte wieder die Arme an den Leib und wiegte sich im Schmerz vor und zurück.

Travis trat einen weiteren Schritt vor.

Das scheußliche Gesicht des Outsiders war so abstoßend, daß das schon wieder eine Art Verfeinerung war. In seiner einzigartigen Häßlichkeit war es auf seltsame dunkle Weise fesselnd.

Als diesmal der Donner krachte, flackerten die Lampen in der Scheune und gingen beinahe aus.

Der Outsider hob den Kopf und sprach mit derselben kratzenden Stimme, aber in kalter, wahnsinniger Verzückung: »Hund töten, Hund töten, Hund töten«, und gab dabei ein Geräusch von sich, das Gelächter sein mochte.

Fast hätte er die Bestie in Stücke geschossen. Aber ehe er den Abzug betätigen konnte, ging das Gelächter des Outsiders in etwas über, das Schluchzen zu sein schien. Travis starrte ihn wie gebannt an.

Und während er Travis mit seinen Latemenaugen fixierte, sagte er wieder: »Hund töten, Hund töten, Hund töten«, aber dieses Mal schien er von Leid gequält, als begriffe er die Ungeheuerlichkeit des Verbrechens, das zu begehen ihn seine Gene gezwungen hatten.

Er blickte auf das Bild der Mickymaus auf der Kassette. Schließlich sagte er flehentlich: »Töte mich.«

Travis wußte nicht, ob er mehr aus Wut oder mehr aus Mitleid handelte, als er den Abzug betätigte und das Magazin der Uzi in den Outsider entleerte. Was der Mensch begonnen hatte, beendete jetzt ein Mensch.

Als es getan war, fühlte er sich ausgepumpt.

Er ließ den Karabiner fallen und ging hinaus. Er fand nicht die Kraft in sich, zum Haus zurückzukehren. Also setzte er sich auf den Rasen, kauerte sich im Regen zusammen und weinte.

Er weinte immer noch, als Jim Keene den schlammigen Feldweg vom Coast Highway heraufgefahren kam.

ELF

1

Am Nachmittag des 13. Januar, einem Donnerstag, ließ Lem Johnson Cliff Soames und drei weitere Männer an der Abzweigung des Feldweges vom Pacific Coast Highway zurück. Sie hatten Anweisung, niemanden vorbeizulassen und hier auf Posten zu bleiben, bis Lem sie rief - falls es dazu kommen sollte.

Cliff Soames schien das etwas seltsam, aber er behielt seine Einwände für sich.

Lem erklärte, Travis Cornell sei ein ehemaliger Angehöriger von Delta, verfüge daher über beträchtliche Nahkampferfahrung, und es sei deshalb notwendig, vorsichtig mit ihm umzugehen. »Wenn wir angestürmt kommen, weiß er, sobald er uns sieht, wer wir sind, und könnte gewalttätig reagieren. Wenn ich allein hineingehe, kann ich ihn dazu bringen, mit mir zu sprechen, und vielleicht schaffe ich es, ihn zum Aufgeben zu überreden.«

Das war eine recht fadenscheinige Erklärung für ein so unorthodoxes Vorgehen und reichte nicht, Cliffs Stirnrunzeln zu vertreiben.

Lem waren Cliffs Stirnfalten gleichgültig. Er fuhr allein hin und parkte vor dem Haus.

Vögel sangen in den Bäumen. Der Winter hatte für kurze Zeit seine Macht über den nördlichen Küstenbereich Kaliforniens aufgegeben, und es war warm.

Lem stieg die Verandatreppe hinauf und klopfte.

Travis Cornell kam an die Tür und starrte ihn durch das Gitter der Tür an, ehe er sagte: »Mr. Johnson, nehme ich an.« »Woher... o ja, natürlich - Garrison Dilworth hat Ihnen ohne Zweifel von mir erzählt, als er seinen Anruf durchbekam.«

Zu Lems Überraschung öffnete Cornell die Tür. »Sie können gerne reinkommen.«

Cornell trug ein ärmelloses T-Shirt, allem Anschein nach wegen eines umfangreichen Verbandes, der den größten Teil seiner rechten Schulter bedeckte. Er führte Lem durch einen Vorraum in die Küche, wo seine Frau am Tisch saß und Äpfel schälte.

»Mr. Johnson«, sagte sie.

Lem lächelte und meinte: »Wie ich sehe, bin ich weithin bekannt.«

Cornell setzte sich an den Tisch und griff nach einer Tasse Kaffee. Lem bot er keinen Kaffee an.

Lem stand einen Augenblick lang verlegen da und setzte sich schließlich zu ihnen. Dann meinte er: »Nun, das war ja unvermeidbar, wissen Sie? Über kurz oder lang mußten wir Sie finden.«

Sie schälte Äpfel und sagte nichts. Ihr Mann staute in seinen Kaffee.

Was stimmt mit denen nicht? fragte sich Lem.

Das glich nicht im entferntesten einer jener Szenen, wie er sie sich vorgestellt hatte.

Er war auf Panik vorbereitet gewesen, auf Zorn, auf Niedergeschlagenheit und vieles andere, aber nicht auf diese eigenartige Teilnahmslosigkeit. Es schien ihnen überhaupt nichts auszumachen, daß er sie endlich doch aufgespürt hatte. »Interessiert es Sie nicht, wie wir Sie ausfindig gemacht haben?« fragte er.

Die Frau schüttelte den Kopf.

Cornell meinte: »Wenn Sie es uns wirklich sagen wollen, schön, dann machen Sie sich den Spaß.«

Lem runzelte verwirrt die Stirn und meinte: »Nun, eigentlich war es ganz einfach. Wir wußten, daß Mr. Dilworth Sie aus irgendeinem Haus oder Geschäftslokal einige Blocks entfernt von dem Park nördlich des Hafens angerufen haben muß. Also haben wir unsere Computer mit den Aufzeichnungen der Telefongesellschaft verkoppelt - mit deren Erlaubnis natürlich - und Leute darangesetzt, sämtliche Femgespräche zu überprüfen, die in jener Nacht von allen Nummern im Umkreis des Parks geführt wurden. Das brachte nichts ein. Aber dann fiel uns ein, daß im Falle eines R-Gesprächs die Gebühren nicht der Nummer angelastet werden, von der aus das Gespräch geführt wird; sie erscheint in den Aufzeichnungen der

Person, die das R-Gespräch annimmt - und das waren Sie. Aber außerdem taucht sie auch noch in einer besonderen Registratur der Telefongesellschaft auf, damit sie das Gespräch bestätigen können, falls die Person, die das R-Gespräch angenommen hat, später die Zahlung ablehnt. Diese besondere Registratur, die übrigens sehr klein ist, haben wir durchsucht und dabei schnell ein Gespräch gefunden, das von einem Haus nördlich des Strandparks mit Ihrer Nummer hier geführt wurde. Als wir diese Adresse aufsuchten und mit den Leuten redeten - Essenby heißt die Familie -, kamen wir auf einen jungen Mann namens Tommy und konnten, auch wenn es einige Zeit in Anspruch nahm, herausbekommen, daß Dilworth tatsächlich ihr Telefon benutzt hatte. Der erste Teil war schrecklich zeitraubend, er hat Wochen und Wochen in Anspruch genommen. Aber dann ... Kinderspiel.«

»Wollen Sie jetzt einen Orden - oder was?« fragte Cornell.

Die Frau griff nach einem weiteren Apfel, viertelte ihn und begann ihn zu schälen.

Sie machten es ihm nicht leicht - aber seine Absichten waren auch ganz andere als die, die sie vermutlich erwarteten. Man konnte sie nicht dafür kritisieren, daß sie kühl blieben, wo sie doch nicht wußten, daß er als Freund gekommen war.

Er sagte: »Hören Sie, ich habe meine Leute unten am Highway gelassen. Ich hab' ihnen gesagt. Sie könnten vielleicht in Panik geraten, etwas Dummes tun, wenn Sie uns als Gruppe kommen sähen. Aber in Wirklichkeit bin ich gekommen, um ... Ihnen ein Angebot zu machen.«

Jetzt sahen ihn beide plötzlich interessiert an.

»Ich gebe diesen gottverdammten Job im Frühling auf«, fuhr er fort. »Warum ich das tue ... brauchen Sie nicht zu wissen, es geht Sie auch nichts an. Sagen wir einfach, daß ich eine Wandlung durchgemacht habe, daß ich gelernt habe, mit einem Mißerfolg zu leben, und jetzt macht mir so was keine Angst mehr.« Er seufzte und zuckte die Achseln. »Jedenfalls gehört der Hund nicht in einen Käfig. Mir ist es scheißegal, was die sagen und was die wollen - ich weiß, was richtig ist. Ich weiß, wie es ist, wenn man in einem Käfig steckt. Ich war den größten Teil meines Lebens in einem, bis vor ganz kurzer Zeit. Der Hund soll nicht wieder dahin zurück. Was ich vorschlagen werde, ist, daß Sie ihn jetzt von hier .wegschaffen. Mr. Cornell, ihn durch den Wald bringen und irgendwo lassen, wo er in Sicherheit ist, dann zurückkommen und es hinter sich bringen. Sagen Sie, der Hund wäre vor ein paar Monaten weggelaufen, und Sie glaubten, daß er jetzt tot sein müsse oder in der Hand von Leuten, die sich gut um ihn kümmerten. Dann ist da immer noch das Problem des Outsiders, von dem Sie sicherlich auch wissen. Aber Sie und ich könnten uns ja überlegen, wie wir das angehen. Ich werde Männer anstellen, um Sie zu überwachen, aber nach ein paar Wochen ziehe ich die wieder ab und sage, das ganze hätte keinen Sinn ;.. « Cornell stand auf und trat neben Lems Stuhl. Mit der linken Hand packte er ihn am Hemd und zog ihn in die Höhe. »Sie kommen sechzehn Tage zu spät, Sie Dreckskerl.«

»Was meinen Sie damit?«

»Der Hund ist tot. Der Outsider hat ihn getötet. Und ich habe den Outsider getötet.«

Die Frau legte ihr Schälmesser und ein Stück Apfel weg. Sie barg das Gesicht in den Händen, bewegte sich im Stuhl nach vorne und fing zu schluchzen an.

»O Jesus!« sagte Lem.

Cornell ließ ihn los. Verlegen und bedrückt zog Lem sich die Krawatte zurecht und glättete die Falten in seinem Hemd. Dann blickte er auf sein Hose hinab - und wischte auch die ab.

»O Jesus!«

Cornell war bereit, sie zu der Stelle im Wald zu führen, wo er den Outsider begraben hatte.

Lems Leute gruben ihn aus. Das Mißgeschöpf lag in Plastikbahnen gewickelt vor ihnen, aber sie brauchten die Hüllen nicht zu entfernen, um zu wissen, daß sie Yarbecks Outsider vor sich hatten.

Seit das Ding erschossen worden war, war kaltes Wetter gewesen, trotzdem stank es bereits.

Cornell wollte ihnen nicht sagen, wo er den Hund begraben hatte. »Er hatte nie die Chance, in Frieden zu leben«, erklärte er mürrisch. »Aber jetzt wird er, weiß Gott, in Frieden ruhen. Niemand wird ihn auf einen Autopsietisch legen und in Stük-ke schneiden. Kommt nicht in Frage.«

»In Fällen, wo es um die nationale Sicherheit geht, kann man Sie zwingen ... «

»Lassen Sie sie ruhig«, sagte Cornell. »Wenn die mich vor einen Richter zerren und dort aus mir rauspressen wollen, wo ich Einstein begraben habe, dann erfährt die Presse von mir die ganze Geschichte. Aber wenn sie Einstein in Frieden lassen und mich und die meinen auch, dann halte ich den Mund. Ich habe nicht vor, nach Santa Barbara zurückzugehen und dort wieder als Travis Cornell anzufangen. Ich bin jetzt Hyatt und werde es auch bleiben. Mein altes Leben ist für immer vorbei. Es gibt keinen Grund, zurückzugehen. Und wenn die Regierung schlau ist, dann läßt sie mich Hyatt sein und kommt mir nicht in die Quere.«

Lem starrte ihn eine Weile an, nickte dann und sagte: »Ja. Wenn die schlau sind, denke ich, werden sie genau das tun.« Etwas später am selben Tag, Jim Keene war gerade dabei, das Abendessen zuzubereiten, klingelte das Telefon. Es war Garrison Dilworth, dem Jim zwar nie persönlich begegnet war, den er aber im Laufe der letzten Wochen kennengelernt hatte, als er als Verbindungsmann zwischen dem Anwalt und Travis und Nora aufgetreten war. Garrison rief aus einer Telefonzelle in Santa Barbara an.

»Sind sie schon aufgetaucht?« frage der Anwalt.

»Heute am frühen Nachmittag«, erklärte Jim. »Dieser Tommy Essenby muß ein guter Junge sein.«

»Ja, wirklich nicht schlecht. Aber er ist nicht aus reiner Herzensgüte zu mir gekommen, um mich zu warnen. Er befindet sich in Auflehnung gegen jegliche Autorität. Als sie ihn unter Druck setzten und ihn schließlich dazu brachten, ihnen von dem Telefonat zu erzählen, das ich in jener Nacht aus seinem Haus führte, hat ihm das nicht gepaßt. Und deshalb kam Tommy, ebenso unvermeidbar wie ein Ziegenbock, der mit dem Kopf gegen eine Bretterwand rennt, geradewegs zu mir.«

»Die haben den Outsider mitgenommen.«

»Und was ist mit dem Hund?«

»Travis sagte ihnen, er werde ihnen das Grab nicht zeigen. Er hat ihnen klargemacht, daß es Riesenärger geben würde, wenn sie ihn unter Druck setzten, und daß er das ganze Kartenhaus zum Einsturz bringen würde.«

»Wie geht es Nora?« fragte Dilworth.

»Sie wird das Baby nicht verlieren.«

»Gott sei Dank. Das muß eine große Erleichterung für sie sein.«

2

Acht Monate später, an dem großen Labor-Day-Wochenende im September, trafen sich die Johnsons und die Gaines zu einer Grillparty im Haus des Sheriffs. Den größten Teil des nachmittags spielten sie Bridge. Lem und Karen gewannen öf ter, als sie verloren, was in diesen Tagen ungewöhnlich war, weil Lem nicht mehr mit dem fanatischen Drang, zu gewinnen, an das Spiel heranging, wie das früher einmal sein Stil gewesen war.

Er war im Juni aus der NSA ausgetreten. Seither lebte er von den Zinsen der Erbschaft, die ihm vor langer Zeit sein Vater hinterlassen hatte. Im nächsten Frühjahr hatte er vor, eine neue Tätigkeit aufzunehmen, irgendein kleines Geschäft, in dem er sein eigener Herr war und selbst über seine Zeit bestimmen konnte.

Als dann später am Nachmittag die Frauen in der Küche Salat machten, standen Lem und Walt am Grill und kümmerten sich um die Steaks.

»Dann kennt man dich in der Agency immer noch als den Mann, der die Banodyne-Krise verpatzt hat?«

»So wird man mich bis in alle Ewigkeit kennen.«

»Aber deine Pension kriegst du trotzdem?« fragte Walt.

»Nun, schließlich habe ich dreiundzwanzig Jahre für die geschuftet.«

»Trotzdem kommt es mir einfach nicht richtig vor, daß einer den größten Fall des ganzen Jahrhunderts versaut und mit sechsundvierzig mit voller Pension einfach das Weite sucht.« »Drei Viertel meiner Pension.«

Walt atmete tief ein und genoß den duftenden Rauch, der von den Steaks aufstieg. »Trotzdem. Ich möchte wissen, was aus unserem Land geworden ist. In weniger liberalen Zeiten hätte man Versager wie dich ausgepeitscht und zumindest an den Pranger gestellt.« Er holte noch einmal tief Luft und sagte:

»Erzähl mir noch einmal, wie das in der Küche bei den beiden war.«

Lem hatte es schon hundertmal erzählt, aber Walt wurde nie müde, es immer wieder zu hören. »Nun, das ganze Haus war wie aus dem Schächtelchen. Richtig blitzsauber. Und Cornell und seine Frau sind auch selber äußerst gepflegt. Und dann sagen sie mir, der Hund sei seit zwei Wochen tot, tot und begraben. Cornell kriegt seinen Wutanfall, zerrt mich am Hemd aus dem Stuhl und funkelt mich an, als würde er mir gleich den Kopf abreißen. Als er mich losläßt, ziehe ich mir die Krawatte zurecht, glätte mein Hemd ... und schau' an meiner Hose runter, irgendwie gewohnheitsmäßig - da sehe ich diese goldenen Haare. Hundehaare. Von einem Retriever, verdammt. Kann es nun wirklich sein, daß diese ordnungsliebenden Menschen, ganz besonders, wo sie doch die Zeit totschlagen und sich selbst von der Tragödie ablenken müssen, wirklich nicht die Zeit haben, in mehr als zwei Wochen das Haus sauberzumachen?«

»Deine ganzen Hosenbeine waren voller Haare«, sagte Walt. »Hunderte von Haaren.«

»Als ob der Hund gerade noch dagesessen hätte, Minuten, bevor du reinkamst.«

»So, als hätte ich mich, wenn ich zwei Minuten eher gekommen wäre, auf den Hund selber gesetzt.«

Walt drehte die Steaks auf dem Grill um. »Du bist ein Mann mit ausgezeichneter Beobachtungsgabe, Lem, und damit hättest du in deinem Beruf sehr weit kommen müssen. Ich begreife einfach nicht, wie du es bei all deinen Talenten fertiggebracht hast, den Banodyne-Fall so gründlich zu verpatzen.«

Sie lachten beide, wie immer.

»Einfach Glück, schätze ich«, sagte Lem, wie immer, und dann lachte er wieder.

3

Als James Garrison Hyatt am 28. Juni seinen dritten Geburtstag feierte, erwartete seine Mutter sein künftiges Schwesterchen.

Sie feierten eine Party in dem Holzhaus an den bewaldeten Hängen über dem Pazifik. Weil die Hyatts vorhatten, bald in ein neues, größeres Haus ein Stück weiter oben an der Küste zu ziehen, sollte es eine unvergeßliche Party werden, nicht nur zur Feier des Geburtstages, sondern auch als Abschied von dem Haus, das erste Zuflucht der Familie gewesen war.

Jim Keene kam mit Pooka und Sadie, seinen zwei schwarzen Labradors, und seinem jungen Golden Retriever Leonardo, der gewöhnlich Leo gerufen wurde, aus Carmel herauf.

Ein paar enge Freunde kamen aus dem Immobilienbüro, wo Sam - Travis, wie ihn alle nannten - in Carmel Highlands arbeitete, und aus der Galerie, wo Noras Gemälde ausgestellt und verkauft wurden. Auch diese Freunde brachten ihre Retriever, alles Nachkommen des zweiten Wurfs von Einstein und seiner Gefährtin Minnie.

Nur Garrison Dilworth fehlte. Er war im vergangenen Jahr im Schlaf gestorben.

Sie hatten einen wunderschönen Tag, verbrachten herrliche Stunden, nicht nur, weil sie Freunde waren und es ihnen Freude bereitete, zusammen zu sein, sondern auch deshalb, weil sie ein geheimes Wunder miteinander teilten, eine Freude, die sie für alle Zeiten zu einer weitverzweigten Familie verband. Auch die Angehörigen des ersten Wurfes, die wegzugeben Travis und Nora einfach nicht ertragen hätten und die ebenfalls in dem Holzhaus lebten, waren anwesend: Mickey, Donald, Daisy, Huey, Dewey und Louie.

Die Hunde hatten sogar noch mehr Spaß als die Leute. Sie tollten auf dem Rasen herum, spielten im Wald Verstecken und sahen sich im Wohnzimmer am Fernseher Videos an.

Der Hundepatriarch beteiligte sich an einigen der Spiele, verbrachte aber den größten Teil seiner Zeit mit Travis und Nora und hielt sich wie üblich dicht bei Minnie. Er hinkte -das würde er den Rest seines Lebens tun -, weil sein rechtes Hinterbein von dem Outsider brutal verstümmelt worden war und wohl überhaupt nicht mehr zu benutzen gewesen wäre, wenn sein Tierarzt sich nicht ganz besondere Mühe gegeben hätte.

Travis fragte sich oft, ob der Outsider Einstein mit Gewalt gegen die Wand des Kinderzimmers geschleudert und dann angenommen hatte, er wäre tot. Vielleicht auch hatte das Ding in dem Augenblick, da das Leben des Retrievers ihm anheimgestellt war, in sich einen Tropfen Barmherzigkeit gefunden, den seine Schöpfer nicht in ihn hineingeplant hatten, der irgendwie aber dennoch dagewesen war. Vielleicht erinnerte er sich an das eine Vergnügen, das er und der Hund im Labor geteilt hatten - die Trickfilme. Und indem er sich daran erinnerte, hatte er in sich vielleicht zum erstenmal die schwache Möglichkeit, vielleicht doch wie andere lebende Wesen zu sein, gesehen. Und indem er diese Gemeinsamkeit erkannte, könnte er in diesem Augenblick Einstein vielleicht nicht so einfach töten. Schließlich hätte er ihm mit seinen mächtigen Krallen mühelos den Leib aufschlitzen können.

Obwohl Einstein jetzt hinkte, hatte er dank Jim Keene die Tätowierung im Ohr verloren. Niemand würde je beweisen können, daß er der Hund von Banodyne war. Und wenn Einstein wollte, konnte er immer noch sehr gut den >dummen Hund< spielen.

Hier und da während Jimmys Geburtstagparty betrachtete Minnie ihren Gefährten und ihre Nachkommen gebannt und verwirrt zugleich, wunderte sich aufs neue über ihre Possen und ihr Verhalten. Obwohl sie sie nie ganz verstehen konnte, erhielt doch keine andere Hundemutter je auch nur die Hälfte der Liebe, die ihr von ihren Kindern entgegengebracht wurde. Sie wachte über sie, jene bewachten sie, jeder des anderen behüter.

Als jener schöne Tag in Dunkelheit endete - die Gäste waren gegangen, Jimmy schlief in seinem Zimmer, und Minnie und ihr erster Wurf legten sich für die Nacht zur Ruhe -, versammelten sich Einstein, Travis und Nora vor der Speisekammer.

Der Buchstabenspender war verschwunden. An seiner Stelle stand ein IBM-Computer auf dem Boden. Einstein nahm einen Stift ins Maul und tippte an die Tastatur. Die Botschaft erschien auf dem Bildschirm.

SIE WACHSEN SCHNELL.

»Ja, das tun sie wohl«, sagte Nora. »Deine schneller als unsere.«

EINES TAGES WERDEN SIE ÜBERALL SEIN.

»Eines Tages wird es sie auf der ganzen Welt geben«, sagte Travis. »Man muß sich nur genügend Zeit lassen, und es wird eine Menge Würfe brauchen.«

SO WEIT VON MIR. DAS IST TRAURIG.

»Ja, das ist es«, sagte Nora. »Aber früher oder später fliegen alle jungen Vögel aus dem Nest.«

UND WENN ICH NICHT MEHR BIN?

»Was meinst du?« fragte Travis und beugte sich hinunter und zerzauste ihm das dicke Fell.

WERDEN SIE SICH AN MICH ERINNERN?

»O ja. Pelzgesicht«, sagte Nora, kniete neben ihm nieder und drückte ihn an sich. »Solange es Hunde gibt und Menschen, die es verdienen, mit ihnen zu gehen, werden sich alle an dich erinnern.«

ENDE

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