ERSTER TEIL Die Vergangenheit in Stücke schlagen

Die Vergangenheit ist nur der Anfang eines Anfangs, und alles, was ist und gewesen ist, ist nichts als Zwielicht der Morgendämmerung.

H. G. Wells


Das Zusammentreffen zweier Persönlichkeiten ist wie das Aufeinandertreffen zweier chemischer Substanzen: Findet eine Reaktion statt, werden beide verwandelt.

C. G. Jung


EINS

1

An seinem sechsunddreissigten Geburtstag, dem 18. Mai, stand Travis Cornell um fünf Uhr früh auf. Er zog derbe Wanderstiefel, Jeans und ein langärmeliges blaukariertes Baum-wollhemd an. Von seinem Heim in Santa Barbara steuerte er seinen Pick-up südwärts, bis ganz hinunter zum Santiago Canyon am Ostrand des Orange County südlich von Los Angeles. Mitgenommen hatte er nur eine Schachtel Oreo-Kekse, in einer Feldflasche Cool-Aid mit Orangengeschmack sowie eine voll geladene Smith & Wesson .38 Chief's Special.

Während der zweieinhalbstündigen Fahrt schaltete er kein einziges Mal das Radio ein. Auch summte, pfiff oder sang er nicht vor sich hin, wie Männer das häufig tun, wenn sie allein sind. Während eines Teils der Fahrt lag der Pazifik zu seiner Rechten. Die morgendliche See war gegen den Horizont hin dräuend schwarz, hart und kalt wie Schiefer, näher am Ufer aber übersät von hellen Flecken, die das Frühlicht in der Farbe von Pennymünzen und Rosenblättern über die Wasserfläche legte. Doch Travis warf keinen einzigen bewundernden Blick auf das lichtgeschmückte Meer.

Er war ein hagerer, sehniger Mann, mit tief in den Höhlen liegenden Augen, die vom gleichen dunklen Braun waren wie sein Haar. Das Gesicht war schmal, mit einer edel geformten Nase, hohen Backenknochen und einem leicht spitzen Kinn. Ein asketisches Gesicht, das zu einem Ordensmann gepaßt hätte, der noch an Selbstgeißelung glaubte und an die Reinigung der Seele durch das Leid. Leid hatte er weiß Gott genug erfahren. Aber dieses Gesicht konnte auch Wärme und Offenheit ausstrahlen. Mit seinem Lächeln hatte er einmal die Frauen bezaubert, wenn auch nicht in letzter Zeit. Er hatte lange nicht mehr gelächelt.

Die Kekse, die Feldflasche und der Revolver steckten in einem kleinen grünen Nylonrucksack mit schwarzen Nylongurten, den er jetzt auf dem Sitz neben sich liegen hatte. Gelegentlich warf er einen Blick darauf, und dann war es ihm, als könnte er durch den Stoff hindurch die geladene Chiefs Special sehen.

Von der Santiago Canyon Road im Orange County bog er in eine viel schmalere Nebenstraße ein und ein kurzes Stück weiter in eine die Reifen stark beanspruchende Schotterstraße. Wenige Minuten nach halb neun parkte er den roten Pick-up auf einem Rastplatz unter den ausladenden, stacheligen Zweigen eines Nadelbaums,

Er schob die Tragegurte des kleinen Rucksacks über die Schultern und machte sich auf den Weg in die Vorberge des Santa-Ana-Gebirges. Aus seiner Jugend kannte er hier jeden Hang, jedes Tal, jeden Hohlweg und jeden Kamm. Seinem Vater hatte im oberen Holy Jim Canyon, dem vielleicht abgelegensten aller bewohnten Canyons, eine Steinhütte gehört, und Travis hatte Wochen damit verbracht, meilenweit im Umkreis die Wildnis zu erforschen.

Er liebte diese ungezähmten Canyons. Als er ein Junge gewesen war, hatten Schwarzbären die Wälder durchstreift; die waren jetzt fort. Aber Maultierhirsche konnte man noch finden, wenn auch nicht mehr in so großer Zahl wie vor zwei Jahrzehnten. Doch wenigstens die schönen Falten und Brüche des Bodens, das reiche, vielfältige Buschwerk und die Bäume waren noch so, wie sie einmal gewesen waren: Über weite Strecken ging es unter dem Blätterdach immergrüner kalifornischer Eichen und Sykomoren dahin.

Hier und da kam er an einzelnen oder in Gruppen stehenden Hütten vorüber. Einige von den Canyonbewohnern setzten ihre Überlebensphilosophie nur halbherzig in die Tat um; sie meinten zwar, das Ende der Zivilisation sei nahe, hatten aber nicht den Mut, noch unwirtlichere Orte aufzusuchen. Die meisten waren ganz gewöhnliche Leute, die das Getriebe des modernen Lebens satt hatten und es sich hier auch ohne Leitungswasser, Kanalisation und Elektrizität gutgehen ließen.

So abgelegen die Canyons zu sein schienen, sie würden doch bald unter den auswuchernden Vororten begraben liegen. Im Umkreis von hundertfünfzig Kilometern lebten in den einander überlappenden Counties von Orange und Los Angeles beinahe zehn Millionen Menschen, und das Wachstum ließ nicht nach.

Jetzt aber fiel kristallklares, alles enthüllendes Licht auf das ungezähmte Land, Licht von einer Dichte fast wie Regen, und alles war rein und wild.

Auf dem baumlosen Rückgrat eines Felskammes, wo das während der kurzen Regenzeit niedrig sprossende Gras bereits wieder dürr und braun geworden war, setzte sich Travis auf eine große Felstafel und nahm den Rucksack ab.

Eine eineinhalb Meter lange Klapperschlange sonnte sich auf einem anderen flachen Felsen in etwa fünfzehn Meter Entfernung. Sie hob den bösartigen, keilförmigen Kopf und faßte ihn ins Auge.

Als Junge hatte er in diesen Bergen Dutzende von Klapperschlangen getötet. Er holte den Revolver aus dem Rucksack und stand auf. Er ging ein paar Schritte auf die Schlange zu.

Die Klapperschlange richtete sich weiter vom Boden auf und starrte ihn eindringlich an.

Travis machte einen weiteren Schritt, dann noch einen, ging in Schußstellung, die Waffe mit beiden Händen haltend.

Der Schlangenleib geriet in windende Bewegung. Aber bald würde das Tier erkennen, daß es auf diese Distanz nicht zustoßen konnte, und den Rückzug anzutreten versuchen.

Obwohl Travis überzeugt war, daß er leichtes und sicheres Ziel hatte, stellte er überrascht fest, daß er es nicht fertigbrachte, abzudrücken. Er war in diese Vorberge nicht nur deshalb gekommen, um sich eine Zeit in Erinnerung zu rufen, in der er seines Lebens froh gewesen war, sondern auch, um Schlangen zu töten, falls er welche zu Gesicht bekäme. In letzter Zeit hatten die Einsamkeit und die schiere Sinnlosigkeit seines Lebens ihn abwechselnd deprimiert und geärgert, sein nervlicher Zustand glich dem einer gespannten Armbrustsehne. Und diese Anspannung bedurfte der Lösung durch gewalttätige Aktivität; ein paar Schlangen zu töten - womit ja niemand ein Schaden zugefügt wurde - erschien ihm als perfektes Rezept in seiner Bedrängnis. Als er jetzt freilich diese Klapperschlange anstarrte, erkannte er, daß ihre Existenz weniger sinnlos war als seine: Sie füllte eine ökologische Nische aus und hatte wahrscheinlich mehr Freude am Leben als er seit langem. Er begann zu zittern, die Waffe wanderte aus dem Ziel, und er fand in sich nicht den Willen zu schießen. Er war nicht würdig, Vollstrecker zu sein, also senkte er den Revolver und kehrte zu der Felsplatte zurück, wo er seinen Rucksack liegengelassen hatte.

Die Schlange war offensichtlich friedlich gestimmt, denn ihr Kopf senkte sich in geschmeidiger Bewegung auf den Stein zurück, dann lag sie still.

Nach einer Weile riß Travis das Päckchen Oreos auf. In seiner Jugend waren das seine Lieblingskekse gewesen. Seit fünfzehn Jahren hatte er keine mehr gegessen, und sie schmeckten fast so gut, wie er sie in Erinnerung hatte. Er trank Cool-Aid aus der Feldflasche, aber das befriedigte ihn bei weitem nicht so wie das Backwerk. Für seinen Erwachsenengaumen war das Zeug viel zu süß.

Man kann die Unschuld, die Begeisterung, die Freuden und die Gefräßigkeit der Jugendzeit wieder herbeirufen, doch wohl nie ganz zurückgewinnen, dachte er.

Er ließ Klapperschlange und Sonne in ihrer Zweisamkeit zurück, schulterte aufs neue seinen Rucksack und stieg den Südhang des Kamms hinunter in den Schatten der Bäume am oberen Ende des Canyons, wo die Luft erfüllt war vom erfrischenden Duft der im Frühjahrswachstum stehenden immergrünen Gehölze. Auf der leicht nach Westen abfallenden Canyonsohle, wo tiefe Dunkelheit herrschte, wandte er sich nach Westen und folgte einem Wildpfad.

Einige Minuten danach kam er zu einem Paar großer kalifornischer Sykomoren, die sich zueinander neigten und so eine Art Bogen bildeten, durchschritt diesen und erreichte eine Stelle, wo das Sonnenlicht in eine Waldschneise flutete. Am anderen Ende der Lichtung führte die Spur in weiteres Gehölz, wo Rottannen, Lorbeerbäume und Sykomoren dichter standen als irgendwo sonst. Vor ihm fiel der Boden steil ab, strebte der Canyonsohle zu. Er stand am Rande des Lichteinfalls, die Spitzen seiner Stiefel bereits im Schatten, und schaute den abschüssigen Pfad hinunter. Nur etwa fünfzehn Meter weit konnte er sehen, dann fiel fugenloses Dunkel über die Fährte.

Travis wollte eben seinen Weg fortsetzen, als ein Hund aus dem dürren Gebüsch zu seiner Rechten brach und keuchend und hechelnd geradewegs auf ihn zurannte. Es war ein Golden Retriever, dem Aussehen nach sogar reinrassig. Ein Rüde. Er schätzte ihn auf wenig älter als ein Jahr, denn obwohl bereits nahezu ausgewachsen, hatte er doch noch etwas von der Munterkeit des Welpen an sich. Sein dickes Fell war feucht, kotig, verfilzt, zerzaust und voll Kletten und abgerissenem Strauchwerk. Der Hund blieb vor ihm stehen, ließ sich auf die Hinterbeine nieder, legte den Kopf seitlich und blickte ihn mit unzweifelhaft freundlichem Ausdruck an.

So schmutzig der Hund war, so anziehend wirkte er nichtsdestoweniger. Travis beugte sich hinunter, tätschelte ihm den Kopf und kraulte ihn hinter den Ohren.

Halb rechnete er damit, daß der Besitzer jeden Augenblick keuchend und vielleicht erbost über den Ausreißer aus dem Busch auftauchen werde. Niemand kam. Als ihm einfiel, nach Halsband und Hundemarke zu suchen, fand er nichts.

»Du bist doch nicht etwa ein wilder Hund - oder. Junge?«

Der Retriever schniefte.

»Nein, für einen wilden bist du zu freundlich. Doch wohl nicht verlaufen, oder?«

Er stieß mit der Schnauze gegen seine Handfläche.

Jetzt entdeckte er, außer dem schmutzigen, zerzausten Fell, auch noch eingetrocknetes Blut am rechten Ohr. An den Vorderpfoten war frisches Blut zu sehen, als wäre er längere Zeit über felsiges Gelände gerannt, so daß die Ballen aufgeplatzt waren.

»Scheinst 'ne schwere Reise hinter dir zu haben. Junge.«

Der Hund winselte leise, als wolle er dem zustimmen.

Er fuhr fort, ihn am Rücken zu streicheln und hinter den Ohren zu kraulen, aber nach ein paar Minuten wurde ihm klar, daß er bei dem Hund etwas suchte, das er ihm nicht geben konnte: Sinn und Ziel, Trost in seiner Verzweiflung.

»So, und jetzt geh!« Er verpaßte dem Retriever einen leichten Klaps auf die Flanke, richtete sich auf und streckte sich. Der Hund blieb vor ihm stehen.

Er schritt an ihm vorbei, auf den schmalen Pfad zu, der in die Dunkelheit hinunterführte.

Der Hund schoß um ihn herum, blockierte den Pfad.

»Beweg dich. Junge.«

Der Retriever zeigte die Zähne und gab ein tiefes, kehliges Knurren von sich.

Travis runzelte die Stirn. »Beweg dich. So ist's brav.«

Als er versuchte, an dem Retriever vorbeizugehen, knurrte dieser, schnappte nach seinen Beinen.

Travis tänzelte zwei Schritte zurück. »He, was ist denn in dich gefahren?«

Der Hund hörte zu knurren auf und hechelte bloß.

Er machte wieder einen Schritt vorwärts, aber diesmal sprang der Hund ihn noch wilder an als zuvor, immer noch ohne zu bellen, aber sein Knurren wurde jetzt lauter, er schnappte ein paarmal nach seinen Beinen und trieb ihn rückwärts über die Lichtung. Travis machte auf dem schlüpfrigen Teppich aus abgefallenen Tannen- und Fichtennadeln acht oder zehn ungeschickte Schritte, stolperte dann über die eigenen Füße und fiel auf sein Hinterteil.

Im Augenblick, da Travis am Boden war, wandte der Hund sich von ihm ab. Er trottete quer über die Lichtung zum Rand des nach unten führenden Pfads und spähte in die Dunkelheit hinab. Seine Schlappohren hatten sich so weit aufgerichtet, wie die eines Retrievers das vermögen.

»Verdammter Hund!« sagte Travis.

Der Hund ignorierte ihn.

»Was, zum Teufel, ist mit dir los, du Köter?«

Doch der Hund stand im Schatten und starrte weiter den Pfad hinunter, in die Schwärze am Grunde des von Bäumen bestandenen Canyonhanges. Sein Schweif hing herab, war fast zwischen die Beine geklemmt.

Travis griff sich ein halbes Dutzend kleiner Steine vom Boden, stand auf und schleuderte einen nach dem Retriever. An der Hinterpartie getroffen, daß es sicherlich weh tat, japste der Hund nicht etwa, sondern fuhr überrascht herum.

Jetzt hab' ich's geschafft, dachte Travis. Jetzt geht er mir an die Kehle.

Aber der Hund sah ihn nur anklagend an - und versperrte weiterhin den Zugang zum Wildpfad.

Irgend etwas im Verhalten des zerzausten Hundes - im Blick der weit auseinanderliegenden dunklen Augen oder in der Art, wie er den großen Kopf hielt - ließ Travis Reue darüber empfinden, daß er einen Stein nach ihm geworfen hatte. Der schäbige, verdammte Hund sah ihn enttäuscht an, und er schämte sich.

»He, hör zu«, sagte er. »Du hast schließlich angefangen, das weißt du.«

Der Hund starrte bloß.

Travis ließ die anderen Steine los.

Der Hund warf einen Blick auf die fallengelassenen Wurfgeschosse und hob dann erneut die Augen. Travis hätte schwören mögen, daß er in dem Hundegesicht Billigung entdeckte. Travis hätte umkehren können. Oder sich einen anderen Weg hinunter in den Canyon suchen können. Aber jetzt hatte ihn jenseits aller Vernunft eine Entschlossenheit gepackt, seinen Weg fortzusetzen, dorthin zu gehen, wohin er gehen wollte, bei Gott. An diesem Tag, ausgerechnet an diesem, würde er sich von einer Nebensächlichkeit wie diesem widerspenstigen Hund nicht abhalten oder gar behindern lassen.

Er richtete sich auf, schubste den Rucksack mit den Schultern wieder in die richtige Lage, atmete tief die würzige, nach Fichtennadeln duftende Luft ein und schritt entschlossen quer über die Lichtung.

Der Retriever begann wieder zu knurren, nicht besonders laut, aber drohend. Seine Lefzen gaben die Zähne frei.

Schritt für Schritt verließ Travis der Mut, und als er noch etwa einen Meter von dem Hund entfernt war, entschied er sich für ein anderes Vorgehen. Er blieb stehen, schüttelte den Kopf und redete mit sanfter Stimme tadelnd auf den Hund ein: »Böser Hund. Ein wirklich böser Hund bist du. Weißt du das? Was ist denn nur in dich gefahren? Hm? Siehst gar nicht so aus wie ein böser Hund - eher wie ein braver Hund.«

Während er so den Retriever zu beschwichtigen suchte, hörte der zu knurren auf. Sein buschiger Schweif wedelte probeweise ein-, zweimal.

»So ist's brav«, schmeichelte Travis. »So ist's besser. Wir zwei können doch Freunde sein, hm?«

Der Hund gab ein versöhnliches Winseln von sich, jenes vertraute, einschmeichelnde Geräusch, mit dem alle Hunde ihrem natürlichen Wunsch, geliebt zu werden, Ausdruck geben. »So, jetzt kommen wir miteinander klar«, sagte Travis und machte einen weiteren Schritt auf den Retriever zu, in der Absicht, sich hinunterzubeugen und ihn zu streicheln.

Sofort sprang der Hund ihn knurrend an und trieb ihn über die Lichtung zurück. Seine Zähne verbissen sich in das eine Bein seiner Jeans, er schüttelte wütend daran. Travis trat nach ihm, verfehlte ihn. Als er durch den Tritt ins Leere das Gleichgewicht verlor und ins Taumeln geriet, schnappte der Hund nach dem anderen Hosenbein, rannte im Kreis um ihn herum und zog ihn mit sich. Er hopste verzweifelt, um mit seinem Widersacher Schritt zu halten, stolperte aber und krachte wieder zu Boden.

»Scheiße!« sagte er und kam sich dabei maßlos albern vor.

Der Hund hingegen, wieder in freundliche Stimmung verfallen, winselte und leckte ihm eine Hand.

»Du bist schizophren«, sagte Travis.

Der Hund kehrte zum anderen Ende der Lichtung zurück.

Stand da, den Rücken ihm zugewendet, und starrte den Wildpfad hinunter, der durch die kühlen Schatten der Bäume in die Tiefe führte. Jäh senkte er den Kopf und machte einen Buckel. Die Muskeln an Rücken und Höcker spannten sich sichtbar, als bereite er sich darauf vor, loszurennen.

»Was siehst du denn?« Plötzlich war Travis bewußt, daß den Hund nicht etwa der Pfad selbst in seinen Bann zog, sondern möglicherweise irgend etwas auf dem Pfad. »Berglöwe?« fragte er laut, während er aufstand. In seiner Jugend hatten Kuguare, eine Berglöwenart, diese Wälder unsicher gemacht, und er nahm an, daß einige immer noch an ihren Revieren festhielten. Der Retriever gab ein grollendes Geräusch von sich, das diesmal nicht Travis galt, sondern dem, was seine Aufmerksamkeit auf sich lenken mochte. Es war ein leises, kaum hörbares Grollen, und Travis schien es, als empfände der Hund zugleich Zorn und Angst.

Kojoten? Davon trieb sich in den Vorbergen eine ganze Menge herum. Ein Rudel hungriger Kojoten könnte sogar einem kräftigen Tier wie diesem Golden Retriever Angst machen.

Erschreckt aufjapsend, vollführte der Hund eine schnelle Drehung, weg von dem im Schatten liegenden Pfad. Er hetzte auf ihn zu, an ihm vorbei und zum gegenüberliegenden Gehölz. Travis dachte, er werde gleich im Wald verschwinden. Aber an dem Bogen, den die zwei Sykomoren bildeten und durch den Travis erst vor wenigen Minuten gekommen war, verhielt der Hund und schaute erwartungsvoll zurück. Mit allen Anzeichen der Enttäuschung und Angst hastete er wieder in Travis' Richtung, umkreiste ihn schnell, schnappte nach seinem Hosenbein und bewegte sich windend rückwärts, ihn mit sich zu zerren versuchend.

»Langsam, langsam!« sagte er. »Okay.«

Der Retriever ließ los. »Wuff!« machte er, eher ein heftiges Ausatmen als ein Bellen.

Offenbar - und erstaunlicherweise - hatte der Hund ihn ganz mit Absicht davon abgehalten, den im Düstern liegenden Teil des Wildpfads zu betreten, weil dort unten etwas war. Etwas Gefährliches. Und jetzt wollte der Hund, daß er floh, weil diese gefährliche Kreatur näher rückte.

Irgend etwas kam. Aber was?

Travis war nicht beunruhigt, nur neugierig. Was auch immer näher kam, es mochte einen Hund ängstigen; aber nichts, was in diesen Wäldern lebte, nicht einmal ein Kojote oder ein Kuguar, würde einen erwachsenen Menschen angreifen.

Mit ungeduldigem Winseln versuchte der Retriever aufs neue, eines von Travis' Hosenbeinen zu packen.

Sein Verhalten war ungewöhnlich. Wenn er Angst hatte, warum rannte er dann nicht einfach weg und vergaß ihn? Er war nicht sein Herr; der Hund schuldete ihm nichts, weder Zuneigung noch Schutz. Streunende Hunde haben kein Pflichtgefühl Fremden gegenüber, kein Gefühl für Moral, kein Gewissen. Wofür hielt dieses Tier sich eigentlich - für eine Art Samariter wie Lassie?

»Schon gut, schon gut«, sagte Travis und schüttelte den Retriever ab. Er folgte ihm zu dem Sykomorenbogen.

Der Hund hetzte voraus, den ansteigenden Weg hinauf, der zum Canyonrand führte, durch dünner werdenden Baumbestand und helleres Licht.

Travis blieb bei den Sykomoren stehen. Mit gerunzelter Stirn blickte er quer über die in praller Sonne liegende Lichtung auf das nachtschwarze Loch im Gehölz, wo der Pfad seinen Abstieg begann. Was kam da?

Die schrillen Schreie der Zikaden verstummten gleichzeitig, als hätte man die Nadel eines Grammophons von der Platte gehoben. Eine unnatürliche Stille lag über dem Wald.

Und dann hörte Travis etwas den lichtlosen Pfad heraufstürmen. Ein Scharren. Ein Klappern wie von losgetretenen Steinen. Ein schwaches Rascheln von trockenem Buschwerk. Das Ding klang näher, als es wahrscheinlich war, denn das Geräusch wurde durch das Echo im engen Tunnel der Bäume verstärkt. Nichtsdestoweniger kam das Geschöpf schnell näher. Sehr schnell.

Zum erstenmal hatte Travis das Gefühl, ernsthaft in Gefahr zu sein. Er wußte, daß im Wald nichts groß oder mutig genug war, ihn anzugreifen. Aber sein Verstand wurde vom Instinkt glatt überfahren. Sein Herz hämmerte.

Über ihm, auf dem höher liegenden Pfad, hatte der Retriever sein Zögern bemerkt. Er bellte aufgeregt.

Vor Jahren hätte er vielleicht gedacht, ein wütender Schwarzbär rase den Pfad herauf, durch Krankheit oder Schmerz zum Wahnsinn getrieben. Aber die Hüttenbewohner und die Wochenendausflügler, Vorreiter der Zivilisation, hatten die wenigen übriggebliebenen Bären weiter hinein in die Santa-Ana-Berge getrieben.

Dem Geräusch nach zu schließen, würde das unbekannte Tier in Sekunden die Lichtung zwischen dem oberen und unteren Pfad erreichen.

Schauer wanderten über Travis' Rückgrat, gleich schmelzenden Hagelschloßen, die an einer Fensterscheibe herunterrinnen.

Er wollte sehen, was das für ein Ding war, gleichzeitig aber hatte ihn eiskalte Angst gepackt, rein instinktive Furcht.

Weiter oben im Canyon bellte der Golden Retriever drängend.

Travis drehte sich um und rannte.

Er war in ausgezeichneter Verfassung, hatte kein Pfund Übergewicht. Angeführt von dem keuchenden Retriever, winkelte Travis die Arme an und hetzte den Wildpfad hinauf, die wenigen tiefhängenden Äste geduckt passierend. Die genagelten Sohlen seiner Wanderstiefel gaben guten Halt; zwar kam er auf lockeren Steinen und glitschigen Schichten trockener Fichtennadeln ins Gleiten, aber er fiel nicht hin. Und während er durch ein Scheinfeuer aus flackerndem Sonnenlicht und Schatten rannte, begann ein anderes Feuer in seinen Lungen zu brennen.

Travis Cornells Leben war reich an Gefahren und tragischem Geschehen gewesen, aber nie war er vor etwas zurückgeschreckt. Kam es zum Ärgsten, stellte er sich ruhig dem Verderben, dem Schmerz, der Furcht. Jetzt aber geschah etwas Eigenartiges: Er verlor die Kontrolle über sich. Zum ersten Mal in seinem Leben erfaßte ihn Panik. Furcht durchdrang ihn, rührte an einen Urtrieb tief im Inneren, an den noch nie etwas herangekommen war. Und während er rannte, spürte er, wie ihn eine Gänsehaut überlief und ihm der kalte Schweiß ausbrach, und wußte doch nicht, warum der unbekannte Verfolger ihm solch urtümlichen Schrecken einjagte.

Er blickte sich nicht um. Anfangs wollte er die Augen nicht von dem gewundenen Pfad wenden, aus Angst, gegen einen tiefhängenden Ast zu stoßen. Aber während er rannte, schwoll die Panik in ihm an, und als er ein paar hundert Meter zurückgelegt hatte, war der Grund, weshalb er sich nicht umsah, die Angst vor dem, was er vielleicht sehen würde.

Er wußte, daß seine Reaktion gegen jede Vernunft war. Das Prickeln im Genick, die Eiseskälte in seinen Gedärmen waren Anzeichen einer rein abergläubischen Furcht. Der zivilisierte, gebildete Mensch Travis Cornell hatte die Zügel an den verängstigten, kindlichen Wilden, der in jedem menschlichen Wesen steckt - das genetische Gespenst dessen, was wir einmal waren - abgegeben und konnte nicht ohne weiteres die Kontrolle zurückgewinnen, obwohl ihm die Absurdität seines Verhaltens bewußt war. Der nackte Instinkt herrschte jetzt, und dieser Instinkt sagte ihm, daß er rennen mußte, rennen, zu denken aufhören und einfach rennen.

Nahe dem oberen Ende des Canyons bog der Pfad nach links und wand sich die steile Nordwand hinauf bis zum Kamm. Travis hetzte um eine Biegung, sah einen Baumstamm im Weg liegen, sprang, verfing sich aber mit einem Fuß im modernden Holz. Er fiel vornüber platt auf den Bauch. Benommen lag er da, ohne Atem, konnte sich nicht bewegen, erwartete, etwas werde sich auf ihn stürzen und ihm die Kehle zerfetzen.

Der Retriever hetzte den Pfad zurück, übersprang Travis, landete sicher hinter ihm. Er bellte wild an, was immer ihnen nachjagte, viel drohender jetzt als vorhin, als er Travis auf der Lichtung angegriffen hatte.

Travis wälzte sich zur Seite und setzte sich keuchend auf. Unten auf dem Pfad sah er nichts. Dann erkannte er, daß aus dieser Richtung den Retriever nichts beunruhigte, daß dieser vielmehr quer auf dem Pfad stand und sich dem Unterholz östlich von ihnen zuwandte. Er bellte, dabei Geifer verspritzend, schrill und so lautstark, daß es Travis in den Ohren weh tat. Die wilde Wut dieser Laute wirkte einschüchternd. Der Hund warnte den unsichtbaren Feind, nicht näher zu kommen.

»Ganz ruhig. Junge«, sagte Travis gedämpft. »Ruhig.«

Der Retriever hörte zu bellen auf, schaute aber Travis nicht an. Er starrte unverwandt in die Büsche, zog die schwarzen Lefzen von den Zähnen zurück und ließ tief in der Kehle ein Knurren hören.

Immer noch heftig atmend, kam Travis auf die Beine und blickte nach Osten ins Gehölz. Immergrüne Gewächse, Syko-moren, ein paar Lärchen. Schatten wie dunkle Tuchfetzen waren da und dort durch goldene Nadeln und Lichtkeile an ihren Platz geheftet. Büsche. Dornengestrüpp. Kletterpflanzen. Ein paar verwitterte, zahnähnliche Felsformationen. Nichts, was außergewöhnlich gewesen wäre.

Als er sich hinunterbeugte und dem Retriever die Hand auf den Kopf legte, hörte der Hund zu knurren auf, als verstünde er seine Absicht. Travis hielt den Atem an und lauschte nach Bewegung im Gebüsch.

Die Zikaden blieben stumm. Kein Vogel sang in den Bäumen. Der Wald war so still, als hätte das riesige, kunstvolle Uhrwerk des Universums zu ticken aufgehört.

Er war sicher, daß nicht er die Ursache der abrupten Stille war. Vorhin hatte sein Marsch durch den Canyon weder Vögel noch Zikaden gestört.

Da war etwas. Ein Eindringling, den die gewöhnlichen Waldgeschöpfe offensichtlich nicht billigten.

Er holte tief Luft und hielt den Atem an, lauschte angestrengt, um die leiseste Bewegung im Wald zu hören. Und jetzt vernahm er das Rascheln im Gebüsch, das Knacken eines Zweiges, das weiche Knirschen trockener Blätter - und den entnervend fremdartigen, schweren, rauhen Atem von etwas Großem. Es klang, als wäre es etwa zwölf Meter entfernt, aber er konnte seinen Standort nicht genau bestimmen.

Der Retriever neben ihm war erstarrt. Seine Schlappohren waren leicht aufgerichtet, lauschten nach vorn.

Der rasselnde Atem des unbekannten Widersachers war so schauerlich - sei es nun wegen der Echowirkung des Waldes und des Canyons oder einfach deshalb, weil das Ganze schauerlich war -, daß Travis schnell seinen Rucksack abnahm, die Lasche aufzog und die geladene 38er herausholte.

Der Hund starrte den Revolver an. Travis hatte das unheimliche Gefühl, das Tier wisse, was ein Revolver war, und sei mit der Waffe einverstanden.

Travis fragte sich, ob das Ding im Wald ein Mensch sei, und rief: »Wer ist da? Kommen Sie raus, damit ich Sie sehen kann!«

In den heiseren Atem im Gebüsch mischte sich jetzt ein dumpfes, drohendes Knurren. Der grausige, kehlige Laut ließ Travis hochfahren. Sein Herz schlug noch heftiger, er wurde ebenso starr wie der Retriever an seiner Seite. Einige endlos dahintickende Sekunden lang begriff er nicht, warum allein dieses Geräusch einen solchen Strom der Angst durch seinen Körper jagte. Dann wurde ihm bewußt, daß das, was ihn so erschreckte, die Mehrdeutigkeit des Geräusches war: Das Knurren der Bestie war ganz eindeutig das eines Tieres...

Und doch war da noch eine nicht beschreibbare Eigenschaft, die auf Intelligenz schließen ließ, ein Klang, ein Tonfall, fast wie der Ton, den ein wütender Mensch von sich geben würde. Je mehr er lauschte, desto mehr kam Travis zu dem Schluß, daß es weder eindeutig ein tierisches noch ein menschliches Geräusch war. Aber wenn es keines von beiden war... was, zum Teufel, war es dann?

Er sah, wie die hohen Büsche sich bewegten. Genau vor ihm. Etwas kam auf ihn zu.

»Halt!« sagte er scharf. »Keinen Schritt weiter!«

Doch es kam näher.

Jetzt war es noch zehn Meter entfernt.

Rückte langsam vor. Vielleicht etwas vorsichtig geworden. Verringerte nichtsdestoweniger den Abstand.

Der Golden Retriever begann drohend zu knurren, warnte erneut das Geschöpf, das sich an sie heranpirschte. Aber man konnte sehen, wie seine Flanken bebten, und auch sein Kopf zitterte. Obwohl er das Ding im Gebüsch zum Kampf aufforderte, hatte er im Innersten Furcht davor.

Die Furcht des Hundes war entnervend. Retriever waren für ihren Mut und ihre Kühnheit bekannt. Man hatte sie als Begleiter für Jäger gezüchtet und setzte sie häufg bei gefährlichen Rettungsoperationen ein. Welche Gefahr, welcher Widersacher konnte einem starken, stolzen Hund wie diesem solche Angst einjagen?

Das Ding im Busch rückte immer noch näher, war jetzt höchstens sieben Meter entfernt.

Obwohl bis jetzt nichts Ungewöhnliches in Erscheinung getreten war, erfüllte ihn abergläubische Angst, das Gefühl der Gegenwart von etwas nicht Bestimmbarem, Unheimlichem. Er versuchte sich immer wieder einzureden, er sei auf einen Ka-guar gestoßen, bloß auf einen Berglöwen, der wahrscheinlich viel mehr Angst hatte als er. Aber das eisige Prickeln, das vom Ansatz seiner Wirbelsäule ausging und sich bis über seine Kopfhaut ausbreitete, verstärkte sich jetzt. Seine Hand war schweißnaß, so daß er fürchtete, der Revolver könnte ihm entgleiten.

Fünf Meter.

Travis richtete die 38er nach oben und gab einen Warnschuß ab. Die Detonation peitschte durch den Wald, der Schall wan-derte durch den langen Canyon hinunter.

Der Retriever zuckte nicht einmal, aber das Ding im Gebüsch wandte sich sofort von ihnen ab und rannte davon, bergauf in nördlicher Richtung, auf den Canyonrand zu. Travis konnte es nicht sehen, aber an der Bewegung im hüfthohen Gebüsch deutlich seinen Weg verfolgen.

Ein oder zwei Sekunden lang war er erleichtert, weil er glaubte, es verscheucht zu haben. Dann sah er, daß es eigentlich nicht davonrannte. Es schlug einen Bogen nach NordNordwest, der es auf den Wildpfad über ihnen bringen würde. Travis spürte, daß das Geschöpf versuchte, ihnen den Weg abzuschneiden, um sie zu zwingen, den Canyon auf der unteren Route zu verlassen, wo sich ihm bessere Angriffsmöglichkeiten bieten würden. Er verstand zwar nicht, wie er das wissen konnte, er wußte es einfach.

Sein ererbter Überlebensinstinkt trieb ihn zum Handeln, ohne daß er über jede seiner Bewegungen nachzudenken brauchte; er tat automatisch das, was nötig war. Diese animalische Instinktsicherheit hatte er seit seinem Militäreinsatz vor fast zehn Jahren nicht mehr verspürt.

Bemüht, die verräterische Bewegung im Gebüsch rechts von ihm im Auge zu behalten, entledigte er sich des Rucksacks, behielt nur die Waffe und hetzte den steilen Pfad hinauf. Der Retriever rannte hinter ihm her. Aber so schnell er auch war, er war nicht schnell genug, um den unbekannten Feind zu überholen. Als ihm klar wurde, daß die Kreatur den Pfad ein gutes Stück weiter oben erreichen würde, gab er noch einen Warn-schuß ab, der aber diesmal den Widersacher weder erschreckte noch vom Weg abbrachte. Zweimal feuerte er in die Büsche selbst, dorthin, wo sich Bewegung zeigte, ohne Rücksicht darauf, ob das dort ein Mensch war. Und es wirkte. Er glaubte nicht, daß er getroffen hatte, aber er hatte ihm endlich Angst gemacht, und es wandte sich in eine andere Richtung.

Travis rannte weiter, wollte unbedingt den Canyonrand erreichen, wo entlang des Kammes die Bäume weniger dicht standen, das Buschwerk spärlich wuchs und das grell einfallende Sonnenlicht keinen schützenden Schatten zuließ.

Als er ein paar Minuten später den Grat erreichte, war er völlig außer Atem. Seine Waden und Schenkel brannten. Sein Herz schlug so heftig, daß es ihn nicht überrascht hätte, wenn ein anderer Bergkamm das Echo des Herzschlags aufgenommen und es ihm quer über den Canyon hinweg zurückgeworfen hätte.

Hier war die Stelle, wo er Rast gemacht und ein paar Oreos gegessen hatte. Die Klapperschlange, die sich vorhin auf einer großen Felsplatte gesonnt hatte, war verschwunden.

Der Golden Retriever war Travis gefolgt. Er stand hechelnd neben ihm und spähte den Hang hinunter, den sie gerade heraufgekommen waren.

Leicht benommen und vom Wunsch erfüllt, sich hinzusetzen und auszuruhen, aber wohl wissend, daß ihm immer noch Gefahr drohte, eine Gefahr völlig unbekannter Art, schaute Travis ebenfalls den Wildpfad hinunter, ließ den Blick über das von hier sichtbare Unterholz gleiten. Falls das Schleichwesen sie weiterhin verfolgte, dann ging es jetzt weit umsichtiger vor, überwand Hänge, ohne Gräser und Sträucher zu bewegen. Der Retriever winselte und zupfte einmal an Travis' Hosenbein. Er rannte über den schmalen Felskamm zu einer Schrägung, über die sie in den nächsten Canyon gelangen konnten. Offenbar glaubte der Hund, daß sie noch nicht außer Gefahr waren und besser in Bewegung blieben.

Travis teilte diese Überzeugung. Seine atavistische Furcht -und das Vertrauen auf den Instinkt, den diese Furcht weckte -ließ ihn hinter dem Hund hereilen, über den Felsgrat hinweg und hinein in einen anderen dicht bewaldeten Canyon.

2

Vincent Nasco wartete seit Stunden in der finsteren Garage. Und er sah nicht wie der Typ aus, der sich gut aufs Warten verstand. Er war riesig - gut neunzig Kilo schwer, fast einen Meter neunzig groß, muskulös - und schien stets so voller Energie, daß man meinen konnte, er müsse jeden Augenblick aus den Nähten platzen. Sein breites Gesicht war sanft und gelassen und gewöhnlich ausdruckslos wie das Gesicht einer Kuh. Aber in seinen grünen Augen blitzte das Feuer der Vitalität, einer reizbaren, nervösen Wachsamkeit und zugleich eines eigenartigen Hungers, wie man ihn eher in den Augen eines wilden Tieres erwartet, einer Dschungelkatze, nie aber in den Augen eines Menschen. Und wie eine Katze geduldig war er auch trotz seiner ungeheuren Energie. Er konnte stundenlang reglos und stumm in geduckter Stellung verharren und auf Beute warten.

Um neun Uhr vierzig am Dienstagmorgen, viel später, als Nasco das erwartet hatte, wurde der Riegel an der Tür zwischen Garage und Haus mit einem einzigen harten Klack aufgemacht. Die Tür ging auf, und Dr. Davis Weatherby knipste die Garagenbeleuchtung an und streckte dann die Hand nach dem Knopf aus, der das große mehrteilige Tor heben würde.

»Halt! Stehenbleiben!« sagte Nasco, stand auf und trat hinter der Motorhaube des perlgrauen Cadillacs hervor.

Weatherby kniff die Augen zusammen und sah ihn überrascht an. »Wer, zum Teufel -«

Nasco hob eine mit einem Schalldämpfer versehene Walther P-38 und schoß dem Arzt ins Gesicht.

Sssnappp.

Mitten im Satz unterbrochen, fiel Weatherby rückwärts in die in fröhlichem Gelb und Weiß gehaltene Waschküche. Im Hinfallen schlug er mit dem Kopf gegen den Wäschetrockner und stieß einen Wäschekarren gegen die Wand.

Der Lärm bereitete Vince Nasco keine Sorge, weil Weather-by unverheiratet war und allein lebte. Er beugte sich über die Leiche, die wie ein Keil in der Türöffnung lag, und drückte dem Doktor beinahe sanft die Hand auf das Gesicht.

Die Kugel hatte Weatherbys Stirn getroffen, keine zwei Zentimeter über der Nasenwurzel. Blut war kaum geflossen, weil der Tod sofort eingetreten war und das Geschoß nicht über genügend Wucht verfügt hatte, aus dem Hinterkopf des Mannes auszutreten. Weatherbys braune Augen standen weit offen, blickten wie erstaunt.

Mit den Fingern strich Vince über Weatherbys warme Wange, über die Linie des Halses. Er drückte das blicklose linke Auge zu, dann das rechte, obwohl er wußte, daß die nach dem Tode einsetzenden Muskelkontraktionen in ein paar Minuten die Lider wieder öffnen würden. Mit zitternder Stimme, die seine tiefe Dankbarkeit verriet, sagte Vince: »Danke. Danke, Doktor.« Er küßte beide geschlossenen Augen des Toten. »Danke.«

Von wohligem Schauder erfaßt, griff Vince nach den Wagenschlüsseln auf dem Boden, wo der tote Mann sie fallengelassen hatte, ging in die Garage und öffnete den Kofferraum des Cadillac, sorgfältig darauf bedacht, keine Außenfläche zu berühren, auf der er einen deutlichen Fingerabdruck hinterlassen könnte. Der Kofferraum war leer. Gut. Er trug Weatherbys Leiche aus der Waschküche, legte sie in den Kofferraum, warf den Deckel zu und versperrte ihn.

Man hatte Vince gesagt, daß die Leiche des Doktors nicht vor morgen entdeckt werden dürfe. Er wußte nicht, warum das wichtig war, setzte aber seinen Stolz in makellose Arbeit. Deshalb kehrte er in die Waschküche zurück, stellte den Karren dort hin, wo er hingehörte, und sah sich nach Spuren von Gewalttätigkeit um. Dann schloß er befriedigt die Tür des gelb-weißen Raumes und sperrte sie mit Weatherbys Schlüsseln ab.

Er schaltete die Garagenbeleuchtung aus, durchquerte die dunkle Garage und ging durch die Seitentür hinaus, durch die er sich während der Nacht Zutritt verschafft hatte, indem er das klägliche Schloß mit Hilfe einer Kreditkarte lautlos geöffnet hatte. Jetzt versperrte er die Tür mit den Schlüsseln des Doktors wieder und entfernte sich.

Davis Weatherby wohnte in Corona Del Mär, in Sichtweite des Pazifischen Ozeans. Vince hatte seinen zwei Jahre alten Ford-Lieferwagen drei Straßen vom Haus des Arztes entfernt abgestellt. Der Fußmarsch zurück zum Lieferwagen war äußerst angenehm und belebend. Dies hier war eine feine Wohngegend mit einer Vielfalt architektonischer Stile. Teure Casas im spanischen Stil standen neben bis ins Detail gestalteten Cape-Cod-Häusern, in einer Harmonie, die man gesehen haben mußte, um sie für wahr zu halten. Gärten und Parks waren üppig bepflanzt und wohlgepflegt. Palmen, Feigen- und Olivenbäume lieferten den Gehsteigen Schatten. Rote, koral-lenfarbene, gelbe und orangefarbene Bougainvillen standen in Flammen. Die Flaschenbürstenbäume blühten. Die Zweige der Jacarandas troffen von purpurnen Blütentrauben. Der Duft von Jasmin hing in der Luft.

Vincent Nasco fühlte sich großartig. Stark, mächtig, und so lebendig.

3

Manchmal führte der Hund an,dann wiederum übernahm Travis die Führung. Sie legten ein langes Stück Weges zurück, ehe Travis klarwurde, daß er total aus der Verzweiflung und der ausweglosen Einsamkeit gerissen worden war, die ihn vor allem anderen in die Ausläufer der Santa-Ana-Berge getrieben hatten.

Der große, arg zerzauste Hund blieb auf dem ganzen Weg bis zu seinem Pick-up, den er neben der Schotterstraße unter den überhängenden Zweigen eines riesigen Nadelbaums geparkt hatte, bei ihm. Als sie beim Wagen stehenblieben, blickte der Retriever den Weg zurück, den sie gekommen waren. Hinter ihnen stießen schwarze Vögel am wolkenlosen Himmel in die Tiefe, als wären sie im Dienste irgendeines Bergzauberers auf Aufklärungsflug. Eine dunkle Wand aus Bäumen ragte empor gleich dem Mauerwerk eines unheimlichen Schlosses.

Obwohl es im Wald dunkel war, lag die Schotterstraße, auf die Travis hinausgetreten war, im vollen Sonnenlicht da, ausgedörrt zu einem fahlen Braun und eingehüllt in feinen, weichen Staub, der bei jedem Schritt rund um seine Stiefel hochwirbelte. Es überraschte ihn, daß ein strahlend heller Tag unvermittelt erfüllt sein sollte vom alles überwältigenden, greifbaren Bösen.

Der Hund musterte suchend den Wald, aus dem sie geflohen waren, und bellte zum ersten Mal seit einer halben Stunde. »Kommt immer noch, wie?« sagte Travis.

Der Hund sah ihn an und gab einen unglücklich wirkenden Klagelaut von sich.

»Ja«, sagte er. »Ich spüre es auch. Verrückt... und doch spür' auch ich es. Aber was, zum Teufel, ist das dort hinten, Junge? Hm? Was, zum Teufel, ist es?«

Der Hund zitterte heftig.

Seine Angst verstärkte sich jedesmal, wenn er sah, wie sich der Schrecken am Hund zeigte.

Er klappte die Ladebrücke nach unten und sagte: »Komm!

Ich nehm' dich mit.«

Der Hund sprang in den Laderaum.

Travis knallte die Klappe zu und ging um den Laster herum. Als er die Fahrertür aufzog, war ihm, als würde er im nahen Gebüsch Bewegung entdecken. Nicht hinter ihnen, in Richtung Wald, sondern auf der anderen Seite der Schotterstraße. Dort drüben war ein schmales Feld, auf dem hüfthohes braunes Gras stand, trocken wie Heu, ein paar stachelige Mesqui-tebüsche und ein paar weit auswuchernde Oleander, mit Wurzeln, die tief genug in den Boden reichten, um sie grün zu halten. Als er direkt zu dem Feld hinüberstarrte, sah er nichts mehr von der Bewegung, die er aus dem Augenwinkel wahrgenommen zu haben glaubte. Aber er vermutete dennoch, daß es keine Einbildung gewesen war.

Mit dem aufs neue erwachten Gefühl, nicht viel Zeit zu haben, kletterte er auf den Fahrersitz und legte den Revolver neben sich. Er fuhr so schnell davon, wie der waschbrettartige Weg und die Rücksichtnahme auf den vierbeinigen Passagier hinten im Laderaum das erlaubten.

Zwanzig Minuten später, als er an der Santiago Canyon Road anhielt, zurückgekehrt in die Welt des Asphalts und der Zivilisation, fühlte er sich immer noch schwach und zitterig. Aber die weiter in ihm schwellende Furcht war anders als die, die er im Wald empfunden hatte. Sein Herz trommelte nicht

mehr. Der kalte Schweiß auf seinen Händen und seiner Stirn war getrocknet. Das seltsame Prickeln am Nackenansatz und auf der Kopfhaut war verschwunden - schon die Erinnerung daran schien unwirklich. Jetzt machte ihm nicht mehr irgendein unbekanntes Geschöpf Angst, sondern sein eigenes seltsames Verhalten. Jetzt, da er aus dem Wald und in Sicherheit war, konnte er das Ausmaß des Schreckens, der ihn gepackt hatte, nicht mehr ganz ins Gedächtnis zurückrufen, und deshalb erschien ihm sein Handeln als irrational.

Er zog die Handbremse und schaltete den Motor ab. Es war elf Uhr, und der Trubel des vormittäglichen Verkehrs war vorbei; nur noch gelegentlich kam ein Wagen auf der zweispurigen, asphaltierten Landstraße vorüber. Er saß einen Augenblick da und versuchte sich einzureden, daß er nach Instinkten gehandelt hatte, die gut, richtig und verläßlich funktionierten. Er war stets auf seinen unerschütterlichen Gleichmut und seine dickschädelige Nüchternheit stolz gewesen - wenn schon auf sonst nichts. Er konnte inmitten eines Freudenfeuers kühl bleiben. Er konnte, falls er dazu gezwungen war, harte Entscheidungen fällen und die Konsequenzen auf sich nehmen.

Nur - es fiel ihm zunehmend schwer, zu glauben, daß ihn dort draußen tatsächlich ein fremdartiges Wesen beschlichen habe. Er fragte sich, ob er das Verhalten des Hundes falsch ausgelegt, sich die Bewegung im Unterholz eingebildet habe, bloß um sich einen Vorwand zu liefern, sein Selbstmitleid zu vergessen.

Er stieg aus dem Wagen und ging nach hinten, wo er sich von Angesicht zu Angesicht dem Retriever gegenübersah, der auf der Ladefläche stand. Der Hund schob seinen breiten Kopf nahe heran und leckte ihm Hals und Kinn. Obwohl er vorher nach ihm geschnappt und gebellt hatte, war er anschmiegsam, und zum erstenmal kam Travis sein zerzauster Zustand komisch vor. Er versuchte den Hund von sich abzuhalten, aber der strebte vorwärts, kletterte in seinem Eifer, ihm das Gesicht zu lecken, fast über die Brücke. Travis lachte und fuhr ihm durch das verfilzte Fell.

Die Ausgelassenheit des Retrievers, sein hektisches Schweifwedeln hatten eine unerwartete Wirkung auf Travis. Lange Zeit war sein Bewußtsein ein finsterer Ort gewesen, angefüllt mit Todesgedanken, die schließlich ihren Höhepunkt in der heutigen Reise gefunden hatten. Aber die unverhohlene Freude dieses Tieres am Leben war wie Scheinwerferlicht, das Travis' innere Düsternis durchstieß und ihn daran erinnerte, daß das Leben auch hellere Seiten hatte, von denen er sich vor langer Zeit abgewendet hatte.

»Was hatte das alles nur zu bedeuten?« fragte er laut.

Der Hund hörte auf, ihn abzulecken, hörte auf, mit dem schmutzverkrusteten Schweif zu wedeln, schaute ihn ernst an, und plötzlich fühlte Travis den bohrenden Blick der sanften, warmen braunen Augen des Tieres auf sich gerichtet. Etwas in ihnen war ungewöhnlich, unwiderstehlich. Travis war wie hypnotisiert, und der Hund schien in gleicher Weise in den Bann gezogen. Aus dem Süden wehte eine milde Frühlingsbrise. Travis suchte in den Augen des Hundes nach etwas, das deren besondere Kraft und Wirkung erklärte, sah aber nichts Ungewöhnliches; nur... nun, sie kamen ihm irgendwie ausdrucksvoller vor, als das Hundeaugen gewöhnlich waren: klüger, wacher. Bedachte man, wie kurz die Aufmerksamkeit eines beliebigen Hundes dauerte, dann war der unverwandte Blick des Retrievers verdammt ungewöhnlich. Als die Sekunden vergingen und weder Travis noch der Hund den Blickkontakt lösten, wurde ihm zunehmend eigenartig zumute. Ein Frösteln durchlief ihn, ausgelöst nicht von Furcht, sondern dem Gefühl, daß hier etwas Unheimliches geschah, daß er an der Schwelle einer schrecklichen Entdeckung stand.

Dann schüttelte der Hund die Mähne, leckte Travis die Hand, und der Zauber war gebrochen.

»Woher kommst du. Junge?«

Der Hund legte den Kopf nach links.

»Wem gehörst du?«

Der Hund legte den Kopf nach rechts.

»Was soll ich mit dir machen?«

Wie als Antwort darauf sprang der Hund über die Ladebrücke, rannte an Travis vorbei zur Fahrertür und kletterte ins Fahrerhaus des Pick-up.

Als Travis hineinschaute, saß der Retriever auf dem Beifahrersitz und blickte durch die Windschutzscheibe geradeaus nach vorn. Er drehte sich zu ihm und gab ein leises Wwufff von sich, als hätte Travis' Zögern ihn ungeduldig gemacht.

Travis setzte sich hinters Steuer und schob den Revolver unter seinen Sitz. »Ich glaube nicht, daß ich für dich sorgen kann. Zuviel Verantwortung, Bursche. Paßt nicht zu meinen Plänen. Tut mir leid.«

Der Hund sah ihn flehend an.

»Siehst hungrig aus. Junge.«

Wieder wuffte er einmal, leise.

»Okay. Vielleicht kann ich dir da helfen. Ich glaube, im Handschuhkasten ist ein Riegel Hershey-Schokolade ... Und nicht weit von hier gibt's ein McDonald's, und die haben wahrscheinlich ein paar Hamburger für dich. Aber dann...

\un, ich werde dich entweder wieder freilassen oder ins Tier-neim bringen müssen.«

Noch während Travis redete, hob der Hund eine Vorderpfote und drückte damit den Knopf des Handschuhkastens. Die Klappe fiel auf.

»Was, zum Teufel -«

Der Hund beugte sich vor, fuhr mit der Schnauze in den offenen Kasten und zog den Schokoladenriegel mit den Zähnen heraus, ihn dabei so locker haltend, daß die Verpackung nicht riß.

Travis blinzelte vor Überraschung.

Der Retriever hielt ihm den Schokoladenriegel hin, als wollte er Travis bitten, ihm den Leckerbissen auszuwickeln. Verblüfft nahm er die Schokolade und schälte sie aus dem Papier.

Der Retriever beobachtete ihn, leckte sich die Lefzen.

Travis brach den Riegel in einzelne Stücke und gab sie ihm der Reihe nach. Der Hund nahm sie dankbar und aß fast geziert.

Travis schaute verwirrt zu, war nicht sicher, ob das, was er gesehen hatte, wirklich ungewöhnlich war oder vernünftig erklärt werden konnte. Hatte der Hund ihn tatsächlich verstanden, als er sagte, es sei ein Schokoladenriegel im Handschuhkasten? Oder hatte er nur den Geruch von Schokolade entdeckt? Sicher letzteres.

Zum Hund sagte er: »Aber wie wußtest du denn, daß man den Knopf drücken muß, um den Deckel aufzubekommen?« Der Hund starrte ihn an, leckte sich die Lefzen und nahm ein weiteres Stück Schokolade entgegen.

Er sagte: »Okay, okay. Vielleicht ist das ein Trick, den man dir beigebracht hat, obwohl das ja normalerweise nicht zu den Dingen gehört, die man Hunden gewöhnlich beibringt, oder? Einen Purzelbaum schlagen, sich totstellen, fürs Abendessen singen, sogar ein Stück auf den Hinterbeinen gehen ... ja, das bringt man Hunden gewöhnlich bei... nicht aber, wie man Schlösser und Deckel aufbekommt.«

Der Retriever schaute sehnsüchtig auf das letzte Stückchen Schokolade, aber Travis enthielt ihm den Leckerbissen einen Augenblick vor.

Der Zeitpunkt - bei Gott, das war das Unheimliche. Zwei Sekunden nachdem Travis die Schokolade erwähnt hatte, hatte der Hund sie sich geholt.

»Hast du verstanden, was ich gesagt habe?« fragte Travis und kam sich albern vor, weil er argwöhnte, ein Hund könne über sprachliche Fähigkeiten verfügen. Trotzdem wiederholte er die Frage: »Hast du? Hast du verstanden?«

Widerstrebend hob der Retriever den Blick von dem letzten Stück Schokolade. Ihre Augen begegneten sich. Wieder fühlte Travis, daß hier etwas Unheimliches im Gange war; ein Schauder durchlief ihn, wie schon vorhin.

Er zögerte, räusperte sich: »Äh... war' es dir recht, wenn ich mir das letzte Stück Schokolade nehme?«

Der Hund wandte die Augen dem kleinen Stückchen Schokolade zu, das Travis noch in der Hand hielt. Er schniefte einmal kurz, gleichsam bedauernd, und schaute dann durch die Windschutzscheibe nach draußen.

»Ich will verdammt sein«, sagte Travis.

Der Hund gähnte.

Sorgsam darauf bedacht, die Hand nicht zu bewegen, ihm die Schokolade nicht hinzuhalten, in keiner Weise, außer mit Worten, seine Aufmerksamkeit auf die Schokolade zu lenken, wandte er sich wieder an den großen, zottigen Hund: »Nun, vielleicht brauchst du's mehr als ich. Junge. Wenn du es willst, gehört das letzte Stückchen dir.«

Der Retriever schaute ihn an.

Ohne seine Hand zu bewegen, sie dicht an seinem Körper haltend, um damit anzudeuten, daß er die Schokolade für sich behalte, sagte er: »Wenn du es willst, nimm es. Sonst werf ich es weg.« » Der Retriever rutschte auf dem Sitz ein Stück, beugte sich dicht zu ihm und schnappte sich sachte die Schokolade von seiner Handfläche.

Ich will doppelt verdammt sein«, sagte er.

Der Hund richtete sich auf alle viere auf, stand jetzt auf dem Sitz, so daß sein Kopf fast bis zur Decke der Kabine reichte. Er blickte durch das Hinterfenster und knurrte leise.

Travis schaute in den Rückspiegel und dann in den Außenspiegel an der Seite, entdeckte aber hinter ihnen nichts Ungewöhnliches, nur die zweispurige Asphaltstraße, den schmalen Mittelstreifen und die von Unkraut bedeckte Hügelflanke, die rechts zur Straße abfiel. »Du meinst, wir sollten sehen, daß wir weiterkommen? Ist es das?«

Der Hund schaute ihn an, blickte zum Hinterfenster hinaus, drehte sich dann um, ließ sich nieder, dabei die Hinterbeine auf eine Seite legend, und blickte wieder nach vorn.

Travis startete den Motor, legte den Gang ein, schwenkte in die Santiago Canyon Road ein und fuhr in nördlicher Richtung weiter. Während er seinen Begleiter ansah, sagte er: »Bist du wirklich mehr, als du zu sein scheinst... oder dreh' ich bloß durch? Und wenn du mehr bist, als du zu sein scheinst... was, zum Teufel, bist du dann?«

Am außerhalb des Stadtbereichs liegenden Ostende der Chapman Avenue bog er nach Westen ein, fuhr auf das McDonald's zu, von dem er gesprochen hatte.

»Jetzt kann ich dich nicht freilassen oder ins Tierheim bringen«, sagte er. Und eine Minute später fügte er hinzu: »Wenn ich dich nicht behalte, sterbe ich an Neugierde, weil ich mir dauernd Fragen über dich stelle.«

Sie fuhren etwa drei Kilometer weit und bogen dann in den Parkplatz des McDonald's ein.

Travis sagte: »Also bist du jetzt wohl mein Hund.«

Der Retriever sagte nichts.

ZWEI

1

Nora Devon hatte vor dem Fernsehtechniker Angst. Obwohl er etwa dreißig zu sein schien - wie sie -, hatte er etwas von der widerlichen Arroganz neunmalkluger Teenager an sich.

Als sie auf sein Läuten die Tür öffnete, musterte er sie frech von oben bis unten, während er sich zu erkennen gab - »Art Streck von Wadlows TV-Service« -, und als ihre Blicke sich dann wieder begegneten, zwinkerte er ihr zu. Er war groß, schlank und gepflegt und trug Dienstkleidung, weiße Hosen und weißes Hemd. Er war glattrasiert, sein dunkelblondes Haar kurzgeschnitten und sauber gekämmt. Er sah aus wie der normale Sohn einer normalen Mutter, weder Frauenhändler noch Sexualmörder, und doch hatte Nora sofort Angst vor ihm, vielleicht deswegen, weil seine Arroganz und sein freches Auftreten nicht zu seinem Aussehen paßten.

»Sie brauchen Service?« fragte er, als sie unter der Tür zögerte. Obwohl seine Frage ganz harmlos klang, empfand Nora seine Betonung des Wortes >Service< unheimlich und als Sexuelle Anspielung. Und sie hielt das nicht für eine Überreaktion.

Aber schließlich hatte sie Wadlows TV-Service angerufen und konnte Streck nicht ohne Erklärung einfach wieder wegschik-ken. Und eine solche Erklärung würde wahrscheinlich zu einer Auseinandersetzung führen, und sie war nicht der Mensch, der Auseinandersetzungen mochte. Also ließ sie ihn eintreten. Während sie ihn durch die große, kühle Halle zum Wohnzimmerdurchgang führte, hatte sie das beunruhigende Gefühl, sein gepflegtes Äußeres und sein breites Lächeln seien wohlkalkulierte Elemente einer Tarnung. Sie spürte seine tierhafte Wachsamkeit, seine Spannung, und die beunruhigten sie mit jedem Schritt, den sie sich von der Wohnungstür entfernten, mehr und mehr.

Er ging viel zu dicht hinter ihr, ragte drohend hinter ihr auf, als er jetzt sagte: »Ein hübsches Haus haben Sie hier, Mrs. Devon. Sehr nett. Gefällt mir wirklich.«

»Danke«, sagte sie steif und unterließ es, seinen Irrtum in bezug auf ihren Familienstand zu korrigieren,

»Ein Mann könnte hier sehr glücklich sein, Jaah - sehr glücklich sogar.«

Das Haus war in dem Stil gebaut, den man manchmal als Alt-Santa-Barbara-Spanisch bezeichnete: zwei Stockwerke, cremefarbener Verputz, mit einem roten Ziegeldach, Veranden, Balkons, und alles in weichgerundeten Linien anstelle kantiger Ecken. An der Nordfassade kletterte eine üppige rote Bougainvillaea empor, strotzend von kräftigfarbenen Blüten. Ein schönes Haus.

Und Nora haßte es.

Seit ihrem zweiten Lebensjahr wohnte sie hier, das waren jetzt achtundzwanzig Jahre. Und in all den Jahren, von einem abgesehen, hatte sie die eiserne Hand ihrer Tante Violet auf sich gespürt. Sie hatte keine glückliche Kindheit gehabt, noch bis zur Stunde ein glückliches Leben. Violet Devon war vor einem Jahr gestorben. In Wahrheit aber stand Nora immer noch unter der Tyrannei ihrer Tante, denn die Erinnerung an diese abscheuliche Alte war mächtig und erdrückend.

Im Wohnzimmer stellte Streck seinen Werkzeugkasten neben den Femseher und sah sich um. Der Raumdekor überraschte ihn sichtlich, Die Tapete mit dem Blumenmuster war dunkel gehalten, trauerfarben. Der Perserteppich war ausnehmend unattraktiv. Seine Farben - Grau, Braun, Königsblau - wurden durch die paar Tupfer verblaßten Gelbs nicht lebendiger. Schweres englisches Mobiliar aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, mit viel Schnitzwerk, stand auf Klauenfüßen: massive Armsessel, Hocker und Schränke, wie sie für einen Dr. Calgari passend gewesen wären; Anrichten, die aussahen, als wögen sie jede eine halbe Tonne. Auf kleinen Tischen lagen Schmuckdek-ken aus schwerem Brokat. Einige Stehlampen waren aus Zinn, mit blaßblauen Lampenschirmen, andere hatten dunkelbraune keramische Sockel, aber keine der Lampen spendete viel Licht. Die Vorhänge wirkten schwer wie Blei; und die vom Alter vergilbten Leinenstores zwischen den Seitenvertäfelungen erlaubten nur einem senffarbenen Schimmer des Sonnenlichts Zutritt zum Raum. Nichts von alldem paßte zu der spanischen Architektur; Violet hatte dem eleganten Haus bewußt den

Stempel ihres schwerfälligen, schlechten Geschmacks aufgedrückt.

»Das haben Sie entworfen?« fragte Art Streck.

»Nein. Meine Tante«, sagte Nora. Sie stand am Marmorkamin, so weit von ihm entfernt, wie das möglich war, ohne den Raum ganz zu verlassen. »Das war ihr Haus. Ich... habe es geerbt.«

»An Ihrer Stelle«, sagte er, »würde ich das ganze Zeug hier rausschmeißen. Das könnte ein heller, freundlicher Raum sein. Entschuldigen Sie, wenn ich das sage: Aber das hier sind nicht Sie. Das hier wäre vielleicht richtig für irgendeine alte Jungfer ...« das war sie wohl - eine alte Jungfer oder? »Jaah, hab' mir's schon gedacht. Für eine vertrocknete alte Jungfer mag das in Ordnung sein, aber ganz bestimmt nicht für eine hübsche Lady wie Sie.«

Nora wollte seine Impertinenz tadeln, ihm sagen, er solle gefälligst den Mund halten und den Fernseher richten; aber sie hatte keine Erfahrung darin, wie man sich auf die Hinterbeine stellte. Tante Violet hatte es vorgezogen, sie lammfromm und bescheiden sein zu lassen.

Streck lächelte ihr zu. Sein rechter Mundwinkel kräuselte sich auf höchst widerliche Art; es war fast ein Feixen.

Sie zwang sich zu sagen: »Mir gefällt es ganz gut so.« »Wirklich?«

»Ja.«

Er zuckte die Achseln. »Was ist denn los mit dem Gerät?« »Das Bild bleibt nicht stehen. Und dann gibt es atmosphärische Störungen, Flimmern.«

Er zog den Fernseher von der Wand weg, schaltete ihn ein und studierte die über den Bildschirm ziehenden, von Störungen zerrissenen Bilder. Er steckte das Kabel einer kleinen tragbaren Arbeitslampe in den Stecker und befestigte die Lampe an der Hinterseite des Geräts.

Die Großvateruhr im Gang verkündete die Viertelstunde mit einem Glockenschlag, der hohl durchs Haus hallte.

»Sehen Sie viel fern?« fragte er, während er die Staubverkleidung abschraubte.

»Nicht sehr«, sagte Nora.

»Ich mag die Serien am Abend. Dallas, Denver, alle diese Sachen.«

»Die seh' ich mir nie an.«

»So? Ach, jetzt kommen Sie schon, ich wette, Sie tun's doch.« Er lachte verschmitzt. »Alle sehen sich die an, selbst wenn sie's nicht zugeben wollen, Es gibt nichts Interessanteres als Geschichten, wo die Leute reingelegt werden und wo alle lügen und stehlen ... und es arg mit Frauen treiben. Sie wissen, was ich meine? Da sitzen die Leute da, sehen sich das Zeug an, schnalzen mit der Zunge und sagen: >Ach, wie schreckliche Aber in Wirklichkeit geht ihnen dabei einer ab. So sind die Menschen eben.«

»Ich... ich habe in der Küche zu tun«, sagte sie nervös.

»Rufen Sie mich, wenn Sie das Gerät repariert haben.« Sie verließ den Raum und ging durch die Halle und durch die Schwingtür in die Küche.

Sie zitterte. Sie verachtete sich wegen ihrer Schwäche und weil sie so leicht der Furcht nachgab; aber sie konnte nicht anders: Sie war eben eine Maus.

Tante Violet hatte oft gesagt: »Mädchen, auf der Welt gibt es zwei Arten von Menschen - die Katzen und die Mäuse. Die Katzen gehen, wohin sie wollen, tun, was sie wollen, nehmen sich, was sie wollen, Katzen sind von Natur aggressiv und nicht auf fremde Hilfe angewiesen. Mäuse andererseits haben keinen Funken Aggressivität in sich. Sie sind von Natur verletzlich, sanft und furchtsam und dann am glücklichsten, wenn sie den Kopf einziehen und das annehmen können, was das Leben ihnen gibt. Du bist eine Maus, meine Liebe. Maus zu sein ist nichts Schlechtes. Man kann damit vollkommen glücklich sein. Eine Maus hat vielleicht kein so farbiges Leben wie eine Katze, aber wenn sie im sicheren Bau bleibt und sich selbst genügt, wird sie länger leben als die Katze und viel weniger Aufruhr im Leben haben.«

Im Augenblick lauerte eine Katze im Wohnzimmer und reparierte den Fernseher, und Nora war in der Küche, von mäusehafter Furcht erfaßt. Sie war in Wahrheit gar nicht mitten im Kochen, wie sie Streck gesagt hatte. Einen Augenb lick lang stand sie am Ausguß, mit der einen kalten Hand die andere umklammernd - ihre Hände schienen immer kalt zu sein -, und fragte sich, was sie tun sollte, bis er mit seiner Arbeit fertig war und wieder ging. Sie beschloß, einen Kuchen zu bak-ken. Einen Sandkuchen mit Schokoladeguß. Das würde Sie beschäftigen und ihr helfen, nicht an Strecks anzügliches Augenzwinkern zu denken.

Sie holte Schüsseln, Utensilien, einen elektrischen Mixer sowie die Kuchenmischung und andere Zutaten aus den Schränken und machte sich an die Arbeit. Bald hatte die Beschäftigung mit alltäglicher Hausfrauenarbeit ihre angespannten Nerven beruhigt.

Sie hatte eben den Teig in die zwei Backformen gefüllt, als Streck in die Küche trat und sagte: »Kochen Sie gerne?«

Vor Überraschung hätte sie beinahe die leere Teigschüssel und den teigbeschmierten Schaber fallen lassen. Irgendwie schaffte sie es, sie festzuhalten - nur ein leises Klappern verriet ihre Spannung - und sie zum Spülen in den Ausguß zu legen. »Ja, ich koche gerne.«

»Ist das aber nett! Ich bewundere Frauen, die gerne Frauenarbeit tun. Nähen, häkeln oder sticken Sie auch, oder dergleichen?«

»Ich mache Petit-point-Stickerei«, sagte sie.

»Ist ja noch netter.«

»Ist der Fernseher wieder in Ordnung?«

»Fast.«

Nora war soweit, den Kuchen ins Backrohr zu schieben, wollte aber die Backformen nicht hintragen, solange Streck sie beobachtete, weil sie Angst hatte, dabei zu sehr zu zittern,

Dann würde er merken, daß er ihr Angst machte, und wahrscheinlich noch unverschämter werden. Also ließ sie die vollen Backformen auf der Anrichte stehen und riß statt dessen die Schachtel mit der Glasurmischung auf.

Streck kam noch weiter herein in die große Küche. Er bewegte sich zwanglos, ganz entspannt, sah sich mit liebenswürdigem Lächeln um, kam dabei aber direkt auf sie zu. »Könnte ich ein Glas Wasser haben?«

Fast hätte Nora erleichtert aufgeseufzt; sie wollte gern glauben, daß nur der Durst ihn hergeführt hatte. »O ja, natürlich«, sagte sie. Sie nahm ein Glas aus dem Schrank und drehte den Kaltwasserhahn auf.

Als sie sich umdrehte, um es ihm zu geben, stand er dicht hinter ihr - er war lautlos wie eine Katze näher gerückt. Sie zuckte unwillkürlich zusammen, Wasser schwappte aus dem Glas und klatschte auf den Boden.

Sie sagte: »Sie -«

»Hier«, sagte er und nahm ihr das Glas aus der Hand, »- haben mich erschreckt.«

»Ich?« sagte er lächelnd und fixierte sie mit eisblauen Augen. »Oh, das wollte ich aber ganz bestimmt nicht. Tut mir leid. Ich bin ganz harmlos, Mrs. Devon. Wirklich, das bin ich. Will nur einen Schluck Wasser. Sie haben doch nicht etwa geglaubt, ich will etwas anderes - oder?«

Er war so verdammt unverschämt. Es war nicht zu glauben, wie unverschämt er war, wie gerissen, cool und aggressiv. Am liebsten hätte sie ihn geohrfeigt, aber sie hatte Angst vor dem, was dann passieren würde. Wenn sie ihn ohrfeigte - also in irgendeiner Weise auf seine beleidigenden Zweideutigkeiten oder anderen Unverschämtheiten reagierte, würde ihn das wohl eher ermutigen als abschrecken.

Er starrte sie beunruhigend lange und intensiv an, Gier im Blick, ein Raubtierlächeln auf den Lippen.

Sie fühlte, daß sie mit Streck am besten fuhr, wenn sie sich unschuldig gab und exorbitante Begriffsstutzigkeit vortäuschte, also seine widerwärtigen sexuellen Andeutungen ignorierte, so als hätte sie sie nicht verstanden. Kurz, sie mußte ihn so behandeln, wie eine Maus eine Drohung behandelt, vor der sie nicht fliehen kann. Tu so, als würdest du die Katze nicht sehen; tu so, als wäre sie nicht da; vielleicht verwirrt die mangelnde Reaktion die Katze, sie ist enttäuscht und sucht sich ein Opfer, das besser reagiert.

Um seinem fordernden Blick zu entgehen, riß Nora ein paar Papiertücher aus dem Spender neben dem Ausguß und begann das Wasser aufzutupfen, das sie verschüttet hatte. Aber in dem Augenblick, in dem sie sich vor Streck bückte, erkannte sie, daß sie einen Fehler gemacht hatte, denn er ging ihr nicht aus dem Weg, sondern blieb über ihr stehen, ragte über ihr auf, während sie vor ihm kauerte. Die Situation war voll erotischer Symbolik. Als sie begriff, daß ihre Haltung zu seinen Füßen Hingabe andeutete, schoß sie wieder in die Höhe und sah, daß sein Lächeln breiter geworden war.

Verlegen und blutrot im Gesicht warf Nora die feuchten Tücher in den Abfallkübel unter dem Ausguß.

Art Streck sagte; »Kochen, Sticken... hm, ich finde das wirklich hübsch, wirklich hübsch, Was tun Sie sonst noch gerne?«

»Das ist alles, fürchte ich«, sagte sie. »Ich habe keine ungewöhnlichen Hobbies. Ich bin nicht sehr interessant. Langweilig. Fad.«

Sie war wütend über sich, weil sie es nicht fertigbrachte, den Dreckskerl aus dem Haus zu weisen, schob sich an ihm vorbei und ging zum Backrohr, wie um sich zu vergewissern, daß es jetzt vorgeheizt war, in Wahrheit aber nur, um aus Strecks Reichweite zu gelangen.

Er folgte nach, blieb dicht bei ihr. »Als ich vor dem Haus hielt, habe ich eine Menge Blumen gesehen. Kümmern Sie sich um die Blumen?«

Sie starrte die Drehknöpfe des Backrohrs an und sagte:

»Ja... Ich mag die Gartenarbeit.«

»Das gefällt mir«, sagte er, als sollte es ihr nicht gleichgültig sein, ob es ihm gefiel oder nicht. »Blumen... Es ist gut, wenn Frauen sich für Blumen interessieren. Kochen, Sticken, Gartenarbeit - ich muß schon sagen, Sie sind voll fraulicher Interessen und Talente. Ich möchte wetten, daß Sie alles sehr gut machen, Mrs. Devon, ich meine, alles, was eine Frau tun sollte, Ich wette, Sie sind eine erstklassige Frau, in jeder Hinsicht.«

Wenn er mich anfaßt, schreie ich, dachte Sie.

Aber die Mauern des alten Hauses waren dick, und die Nachbarn wohnten ein gutes Stück entfernt. Niemand würde sie hören oder ihr zu Hilfe kommen.

Ich werde nach ihm treten, dachte sie. Mich wehren.

Aber tatsächlich war sie sich gar nicht sicher, ob sie kämpfen würde, ob sie den Mumm dazu hatte. Und selbst gesetzt den Fall, daß sie es versuchte, er war größer und stärker als sie.

»Jaah, ich wette. Sie sind in jeder Hinsicht eine erstklassige Frau«, wiederholte er mit noch provokanterem Unterton.

Sie wandte sich vom Backrohr ab und zwang sich zu einem Lachen. »Mein Mann wäre erstaunt, das zu hören. Auf Kuchen verstehe ich mich gar nicht schlecht, aber ich habe immer noch nicht gelernt, eine richtige Kruste auf die Pastete zu bekommen, und mein Braten gerät mir immer knochentrocken. Mei-

ne Stickarbeiten sind nicht übel, aber ich brauche eine Ewigkeit dazu.« Sie glitt an ihm vorbei und trat wieder an die Arbeitstheke. Sie war selber überrascht sich weiterplappern zuhören, während sie die Schachtel mit den Zutaten für die Glasur öffnete, Die Verzweiflung machte sie geschwätzig. »Auf Blumen verstehe ich mich, aber im Haushalt tauge ich nicht viel. Und wenn mein Mann nicht aushülfe - nun, dann würde es hier katastrophal aussehen.«

Das klang wohl nicht echt, fand sie. Sie entdeckte einen Hauch von Hysterie in ihrer Stimme, der ihm unbedingt auf fallen mußte. Aber nach der Erwähnung des Ehemanns würde Art Streck, offensichtlich nachdenklich gemacht, es sich reiflich überlegen, sie weiter zu bedrängen. Während Nora die Mischung in eine Schüssel schüttete und Butter abwog, trank Streck das Wasser, das sie ihm gegeben hatte. Er ging an der Ausguß und stellte das leere Glas zum Schmutzgeschirr in den Spülkorb. Diesmal drängte er sich nicht unnötig nah an sie heran.

»Nun, ich mach' mich besser wieder an die Arbeit«, sagte er.

Sie lächelte bewußt zerstreut und nickte. Dann begann sie leise zu summen, während sie sich wieder ihrer eigenen Arbeit zuwandte, so, als fühlte sie sich völlig ungestört.

Er ging durch die Küche und stieß die Schwingtür auf. Dann blieb er stehen und sagte: »Ihre Tante hatte es wirklich gern dunkel, nicht wahr? Diese Küche wäre auch viel hübscher, wenn Sie sie ein wenig heller machen würden.«

Ehe sie antworten konnte, ging er hinaus und ließ die Tür hinter sich zuschwingen.

Trotz seiner unverlangt abgegebenen Meinung über die Küchendekoration schien Streck die Hörner eingezogen zu haben, und Nora war mit sich zufrieden. Mit ein paar Notlügen bezüglich eines nicht existierenden Ehemanns, die sie mit bewundernswertem Gleichmut von sich gegeben hatte, hatte sie ihn nun doch auf Distanz gebracht. Das war zwar nicht gerade die Art und Weise, wie eine Katze mit einem Angreifer umgegangen wäre, aber es war auch nicht das verängstigte Verhalten einer Maus.

Sie sah sich in der Küche mit der hohen Decke um und entschied, daß sie wirklich zu dunkel war. Die Wände waren verwaschen blau, die Milchglaskugeln der Deckenbeleuchtung waren undurchsichtig und verbreiteten nur mattes, winteriges Licht. Sie überlegte, ob sie die Küche neu timchen, die Beleuchtungskörper austauschen lassen sollte.

Allein der Gedanke, in Violet Devons Haus größere Veränderungen vorzunehmen, war schwindelerregend und berauschend. Nora hatte seit Violets Tod ihr Schlafzimmer neu herrichten lassen, und nichts sonst. Jetzt, da sie überlegte, in größerem Umfang neu dekorieren zu lassen, kam sie sich tollkühn, ja aufrührerisch vor. Vielleicht. Es könnte gelingen. Wenn sie es fertigbrachte, sich Streck vom Leib zu halten, würde sie vielleicht auch die Courage aufbringen, ihrer toten Tante die Stirn zu bieten.

Ihre Hochstimmung dauerte genau zwanzig Minuten, was ausreichte, die Kuchenform ins Backrohr zu schieben, die Glasur anzurühren und einige Schüsseln und sonstiges Geschirr zu spülen. Dann kam Streck zurück, teilte ihr mit, der Femse-her sei jetzt repariert, und gab ihr die Rechnung. Als er die Küche verließ, schien er leicht gedämpft gewesen, jetzt, da er wiederkam, war er frech wie je. Er ließ seine n Blick über ihren Körper wandern, als würde er sie in seiner Fantasie entkleiden. Herausfordernd schaute er ihr in die Augen.

Sie fand die Rechnung zu hoch, machte aber keinen Einwand, weil sie ihn schnell aus dem Haus haben wollte, Als sie am Küchentisch saß, um den Scheck auszustellen, wandte er wieder den nun schon bekannten Trick an, sich nah neben sie zu stellen, um sie mit seiner Männlichkeit und Größe einzuschüchtern. Als sie aufstand und ihm den Scheck reichte, schaffte er es, ihn so entgegenzunehmen, daß seine Hand die ihre anzüglich berührte.

Auf dem ganzen Weg durch die Halle war Nora fast sicher, er werde plötzlich seinen Werkzeugkasten hinstellen und sie von hinten anfallen. Aber sie erreichte die Tür, und er trat an ihr vorbei auf die Veranda hinaus. Ihr wild schlagendes Herz begann sich auf normaleren Rhythmus umzustellen.

Vor der Tür zögerte er. »Was macht denn Ihr Mann?«

Die Frage brachte sie aus der Fassung. Das hätte er sie vorhin fragen sollen, in der Küche, als sie ihren Mann erwähnte. Jetzt schien seine Neugierde nicht am Platz.

Sie hätte ihm sagen müssen, daß ihn das nichts anginge,

aber sie hatte noch immer Angst vor ihm, Sie fühlte, daß er ein Mensch war, den man leicht zornig machen konnte, daß es nur einer Kleinigkeit bedurfte, die in ihm aufgestaute Gewalttätigkeit zum Ausbruch zu bringen. Also antwortete sie mit einer weiteren Lüge, einer, von der sie hoffte, sie werde ihn davon abhalten, sie weiter zu belästigen: »Er ist,,. Polizist.« Streck hob die Brauen, »Wirklich? Hier in Santa Barbara?« »Richtig.«

»Beachtliches Haus für einen Polizisten.«

»Wie bitte?« sagte sie.

»Ich wußte gar nicht, daß Polizisten so gut bezahlt sind.« »Oh, ich hab' es Ihnen doch gesagt - das Haus habe ich von meiner Tante geerbt.«

»Natürlich, jetzt erinnere ich mich wieder, Das haben Sie gesagt. Stimmt.«

Bemüht, ihre Lüge zu untermauern, sagte sie; »Wir hatten eine Wohnung, als meine Tante starb, dann sind wir hierhergezogen. Sie haben schon recht - anders hätten wir es uns nicht leisten können.«

»Nun«, sagte er, »freut mich für Sie. Wirklich. Eine Frau, die so hübsch ist wie Sie, verdient auch ein hübsches Haus.«

Er tippte sich an einen imaginären Hut, zwinkerte ihr zu und ging die Einfahrt zur Straße hinunter, wo sein weißer Lieferwagen am Bordstein parkte,

Sie schloß die Tür und beobachtete ihn durch ein durchsichtiges Segment im ovalen Farbglasfenster, das in der Türfüllung angebracht war, Er blickte zurück, sah sie und winkte, Sie trat vom Fenster zurück in die düstere Halle hinein und beobachtete ihn von einem Punkt aus, wo sie nicht gesehen werden konnte,

Klar hatte er ihr nicht geglaubt, Er wußte, der Ehemann war gelogen. Sie hätte um Himmels willen nicht sagen dürfen, daß sie mit einem Bullen verheiratet war; es war ein zu deutlicher Versuch gewesen, ihn loszuwerden. Sie hätte sagen sollen, ihr Mann sei Installateur oder Arzt - alles, bloß kein Bulle. Immerhin, Art Streck fuhr weg. Obwohl er wußte, daß sie log, fuhr er weg.

Sie fühlte sich erst sicher, als sein Lieferwagen außer Sicht war. Und selbst dann eigentlich nicht richtig sicher.

2

Nachdem er Dr. Davis Weatherby ermordet hatte, war Vince Nasco zu einer Tankstelle an der Pacific Coast Highwaygefahren. Von der Telefonzelle aus rief er eine Nummer in Los Angeles an, die er sich schon vor langem fest eingeprägt hatte.

Ein Mann meldete sich, indem er die gewählte Nummer wiederholte. E5 war eine von den drei Stimmen, die sich gewöhnlich meldeten: die weiche mit dem dunklen Timbre. Häufig meldete sich ein anderer mit einer unfreundlichen, scharfen Stimme, die einem in den Ohren weh tat. Seltener meldete sich eine Frau; ihre Stimme war sexy, kehlig, und doch irgendwie mädchenhaft. Vince hatte sie nie zu Gesicht bekommen, aber oft versucht, sich auszumalen, wie sie aussehen mochte,

Als jetzt der Mann mit der weichen Stimme die Nummer genannt hatte, sagte Vince: »Erledigt. Ich weiß es wirklich zu schätzen, daß Sie mich gerufen haben, und stehe stets zur Verfügung, wenn Sie wieder was haben.« Er war überzeugt, der Mann am anderen Ende der Leitung würde seine Stimme ebenfalls erkennen.

»Ich bin entzückt zu hören, daß alles gut gelaufen ist. Wir wissen Ihre fachmännische Arbeit sehr zu würdigen. Und jetzt geben Sie gut acht«, sagte die Kontaktperson. Der Mann nannte eine siebenstellige Telefonnummer.

Überrascht wiederholte Vince die Nummer.

Der Kontaktmann sagte; »Das ist eine Telefonzelle im Fashion Island Shopping Center. Sie befindet sich auf der Ladenstraße draußen im Freien, in der Nähe von Robinson's Department Store, Können Sie in einer Viertelstunde dort sein?« »Sicher«, sagte Vince. »In zehn Minuten.«

»Ich rufe dort in fünfzehn Minuten an und sage Ihnen die Einzelheiten.«

Vince legte auf und ging pfeifend zu seinem Lieferwagen zurück. Wenn sie ihn zu einem anderen öffentlichen Telefon dirigierten, um ihm >Einzelheiten< bekanntzugeben, dann konnte das nur eines bedeuten: Sie hatten sicher wieder einen Auftrag für ihn - zwei an einem Tag!

3

Später, nachdem der Kuchen gebacken und glasiert war, zog sich Nora in ihr Schlafzimmer in der Südwestecke des Obergeschosses zurück.

Zu Lebzeiten von Violet Devon war das hier Noras Zufluchtsort gewesen, obwohl die Tür kein Schloß hatte. Wie alle Zimmer in dem großen Haus war auch dieses vollgestopft mit schwerem Mobiliar, so als befände sich hier keine Wohnstätte, sondern ein Lager. Der Raum war auch in jeder anderen Beziehung trostlos. Dennoch war Nora, wenn sie ihre Pflichten getan oder von der Tante nach einem von deren endlosen Vorträgen entlassen worden war, in ihr Schlafzimmer geflohen, um sich in Bücher oder lebhafte Tagträume zu flüchten.

Einem unwiderstehlichen Drang nachgebend, kam Violet ohne Vorwarnung, um nach ihrer Nichte zu sehen, indem sie sich lautlos über den Korridor schlich, plötzlich die nicht versperrbare Tür aufriß und ins Zimmer trat, in der Hoffnung,

Nora bei irgend etwas Verbotenem zu ertappen. Diese unan-gekündigten Inspektionen waren in Noras Kindheit und Jungmädchenzeit häufig gewesen, dann seltener geworden, hatten aber auch noch in den letzten Wochen von Violets Leben, als Nora eine erwachsene Frau von neunundzwanzig gewesen war, stattgefunden. Violet bevorzugte dunkle Kleidung, trug ihr Haar in einem straffen Knoten und ging stets ohne eine Spur von Make-up auf dem blassen, kantigen Gesicht aus dem Haus. Oft hatte sie deshalb eher wie ein Mann gewirkt - ein strenger Mönch im groben Büßergewand, der durch die Gänge eines düsteren mittelalterlichen Klosters streift, um seine Klosterbrüder zu beaufsichtigen.

Wurde Nora bei Tagträumen oder einem Schläfchen erwischt, führte das zu strengem Tadel und zu Hausarbeit als Bestrafung. Die Tante duldete Faulheit nicht.

Bücher waren erlaubt - sofern Violet sie vorher gebilligt hatte -, weil Bücher zum einen der Bildung dienten. Außerdem hatte Violet oft geäußert: »Schlichte, unansehnliche Frauen wie du und ich führen kein strahlendes Leben, kommen an keine exotischen Orte. Also haben Bücher eine besondere Bedeutung für uns. So gut wie alle Dinge des Lebens können wir ersatzweise bekommen, durch Bücher. Das ist nicht Schlecht. Durch Bücher leben ist sogar besser, als wenn man Freunde hat und,,, Männer kennt.«

Mit der Unterstützung eines gefügigen Hausarztes hatte Violet es fertiggebracht, Nora ihrer angeblich angegriffenen Gesundheit wegen von den öffentlichen Schulen fernzuhalten, Sie war zu Hause erzogen worden, also waren Bücher auch ihre einzige Schule gewesen.

Davon abgesehen, daß sie mit dreißig Jahren bereits Tausende von Büchern kannte, hatte Nora sich daneben autodidaktisch als Künstlerin in den Techniken Öl, Acryl, Aquarell und Bleistiftzeichnung ausgebildet. Zeichnen und Malen waren ebenfalls Aktivitäten, die Tante Violet billigte, Kunst war etwas, das Nora allein für sich betreiben konnte, und das ihre Gedanken von der Welt draußen ablenkte und ihr half, den Kontakt zu Menschen zu vermeiden, die sie unweigerlich zurückstoßen, verletzen und enttäuschen würden.

In die eine Ecke von Noras Zimmer waren ein Zeichenbrett, eine Staffelei und ein Schränkchen für die nötigen Utensilien gestellt worden. Den Platz für ihr Miniaturatelier hatte sie sich geschaffen, indem sie die anderen Möbelstücke zusammenschob, und nicht etwa dadurch, daß sie irgend etwas entfernte. Die Folge war ein Gefühl der Beengtheit gewesen.

Oftmals im Laufe der Jahre, besonders nachts, aber auch mitten am Tag, war Nora von dem Gefühl befallen worden, der Schlafzimmerboden bräche unter dem Gewicht all der Möbel ein, und sie stürze in den Raum darunter, wo ihr schweres Himmelbett sie erdrücken werde, Wenn diese Furcht übermächtig wurde, floh sie auf den Rasen hinter dem Haus, wo sie dann im Freien saß, die Arme fest um den Körper gelegt, zitternd. Erst mit fünfundzwanzig wurde ihr klar, daß diese Anfälle von Angst nicht nur von zuviel Möbeln und zu düsterem Dekor herrührten, sondern auch von der erdrückenden Gegenwart ihrer Tante.

Eines Samstagmorgens vor vier Monaten, acht Monate nach Violet Devons Tod, hatte Nora plötzlich den Drang verspürt, etwas zu verändern, und sie hatte in fast hektischer Hast in ihrem Schlafzimmer-Atelier umgestellt. Sie trug und zerrte alle kleineren Möbelstücke hinaus und verteilte sie gleichmäßig auf die fünf anderen möblierten Räume des Obergeschosses. Einige der schwereren Stücke mußten zerlegt und in Teilen weggebracht werden. Aber schließlich schaffte sie es, alles hinauszubefördern, ausgenommen das mächtige Himmelbett, ein Nachttischchen, einen Lehnsessel, ihr Zeichenbrett, den Hok-ker, das Schränkchen und die Staffelei, genau die Dinge, die sie brauchte. Zuletzt riß sie noch die Tapete von der Wand. Während jenes überwältigenden Wochenendes hatte sie das Gefühl, es hätte eine Revolution gegeben und ihr Leben würde nie wieder werden wie früher. Aber sobald sie mit ihrem Schlafzimmer fertig war, hatte sich auch der Geist des Aufruhrs verflüchtigt, und der Rest des Hauses blieb unangetastet. Jetzt war wenigstens dieser eine Raum hell, ja fröhlich. Die Wände waren in einem ganz hellen Gelb getüncht; die schweren Vorhänge waren weg, an ihrer Stelle hatte sie Läden angebracht, die zur Farbe der Wände paßten. Den häßlichen Teppich hatte sie aufgerollt und den wunderschönen Eichenboden auf Hochglanz poliert.

Hier war jetzt mehr denn je ihr Zufluchtsort. Wenn sie durch die Tür trat und sah, was sie geschaffen hatte, stieg unweigerlich ihre Laune, und sie fand etwas Ruhe vor ihren Problemen.

Nach dem schrecklichen Erlebnis mit Streck wirkte das helle Zimmer wie immer beruhigend auf Nora. Sie setzte sich ans Zeichenbrett und fing eine Bleistiftskizze an, Vorstudie für ein Ölgemälde, das sie schon seit einiger Zeit zu malen vorhatte. Zuerst zitterten ihr die Hände, und sie mußte mehrere Male innehalten, um genügend Kontrolle über sich zu gewinnen und weiterzeichnen zu können. Aber mit der Zeit legte sich ihre Angst.

Sie konnte bei der Arbeit sogar an Streck denken und sich auszumalen versuchen, wie weit er wohl gegangen wäre, wenn sie es nicht geschafft hätte, ihn aus dem Haus zu manövrieren. In letzter Zeit hatte Nora sich gefragt, ob Violet Devons pessimistische Betrachtungsweise hinsichtlich der Welt und aller anderen Menschen richtig war; obwohl das der Einstellung entsprach, die man ihr, Nora, beigebracht hatte, quälte sie der Verdacht, dies sei vielleicht verdreht, ja krankhaft. Nun aber war sie Art Streck begegnet, und dieser schien ein hinreichendes Argument für Violets Ansichten zu sein, ein Beweis dafür, daß es gefährlich war, sich zu sehr mit der Welt draußen einzulassen.

Nach einer Weile, ihre Skizze war zur Hälfte fertig, begann Nora zu denken, sie habe möglicherweise alles, was Streck gesagt und getan hatte, falsch interpretiert. Er hatte ihr bestimmt keinen unsittlichen Antrag machen wollen. Ihr doch nicht,

Sie war schließlich alles andere als begehrenswert. Schlicht. Hausbacken, Vielleicht sogar häßlich, Nora wußte, dies war so, denn ganz gleich, was Violet für Fehler gehabt haben mochte, die alte Frau hatte auch einige Tugenden besessen, und eine davon war gewesen, nie um die Dinge herumzureden. Nora war unattraktiv, langweilig - einfach keine Frau, die erwarten durfte, daß jemand sie an sich drücken, küssen, zärtlich lieben wollte: eine Tatsache im Leben, die Tante Violet ihr schon in frühen Jahren begreiflich gemacht hatte.

Obwohl als Person abstoßend, war Streck in körperlicher Hinsicht ein attraktiver Mann; einer, der seine Wahl unter hübschen Frauen treffen konnte. Es war lächerlich, anzunehmen, er würde sich für ein Aschenbrödel wie sie interessieren. Nora trug immer noch die Kleider, die ihre Tante für sie gekauft hatte - dunkle, formlose Kleider, Röcke und Blusen, ähnlich denen, die Violet getragen hatte. Farbenfrohere, feminine Kleidung würde nur die Aufmerksamkeit auf ihren knochigen, ungrazilen Körper und ihr reizloses, wenig anziehendes Gesicht lenken,

Aber warum hatte Streck gesagt, sie sei hübsch?

Nun, das ließ sich leicht erklären; Er machte sich vielleicht über sie lustig, Oder, was wahrscheinlicher war, er wollte höflich und nett sein,

Je mehr sie darüber nachdachte, je mehr glaubte Nora, daß sie dem armen Mann unrecht getan habe, Jetzt war sie dreißig und bereits eine hysterische alte Jungfer, von Ängsten ebensosehr heimgesucht wie von Einsamkeit geplagt.

Eine Weile bedrückte sie dieser Gedanke. Aber mit verdoppeltem Eifer arbeitete sie an ihrer Skizze, beendete sie und fing eine andere, aus anderer Perspektive, an. Während das Licht des Nachmittags verblaßte, fand sie Zuflucht in ihrer Kunst.

Von unten hallten die Glockentöne der alten Großvateruhr pünktlich jede volle, halbe und Viertelstunde zu ihr herauf.

Die im Westen niedersinkende Sonne färbte sich golden, als mehr Zeit verstrich. Im Zimmer wurde es heller. Die Luft selbst schien Licht auszusenden. Draußen vor dem Südfenster wiegte sich eine Königspalme sanft in der Maibrise.

Um vier Uhr hatte sie ihren Frieden gefunden, summte beim Arbeiten vor sich hin.

Als das Telefon klingelte, schreckte sie hoch,

Sie legte den Bleistift hin und griff nach dem Hörer. »Hallo?« »Komisch«, sagte ein Mann,

»Wie bitte?«

»Die haben nie von ihm gehört.«

»Tut mir leid«, sagte sie, »aber ich glaube, Sie haben die falsche Nummer.«

»Das sind doch Sie, Mrs. Devon?«

Jetzt erkannte sie die Stimme. Er war es. Streck.

Einen Augenblick lang brachte sie keinen Ton heraus.

»Die haben nie von ihm gehört«, sagte er. »Ich habe die Polizei von Santa Barabara angerufen und Officer Devon verlangt. Aber die sagten, sie haben keinen Officer Devon. Ist das nicht eigenartig, Mrs. Devon?«

»Was wollen Sie?« fragte sie mit schwacher Stimme.

»Ich stell' mir vor, da ist ein Computerfehler passiert«, sagte Streck und lachte leise. »Aber ja, sicher! Irgendein blöder Computer hat Ihren Mann aus den Akten entfernt. Ich finde,

Sie sollten ihm das am besten gleich sagen, wenn er nach Hause kommt, Mrs, Devon, Wenn er das nicht in Ordnung bringt,... nun, zum Teufel, dann kriegt er vielleicht am Ende der Woche seinen Scheck nicht.«

Er legte auf, und beim Ton des Freizeichens wurde ihr klar, daß sie hätte zuerst auflegen müssen, im Augenblick, da er sagte, er habe die Polizeistation angerufen, den Hörer hätte auf die Gabel knallen sollen. Sie durfte nicht riskieren, ihn schon allein dadurch zu ermutigen, daß sie ihm am Telefon zuhörte.

Sie ging durchs Haus und prüfte sämtliche Fenster und Türen: Sie waren alle sicher versperrt.

4

Bei McDonald's an der East Chapman Avenue in Orange hatte Travis Cornell fünf Hamburger für den Golden Retriver bestellt, Auf dem Vordersitz des Pick-up sitzend, hatte der Hund das ganze Fleisch und zwei der dazugehörigen Brötchen gefressen und dann seine Dankbarkeit dadurch zum Ausdruck bringen wollen, daß er ihm das Gesicht leckte.

»Du hast einen Atem wie ein Alligator, der Aufstoßen hat«, protestierte er und hielt das Tier von sich ab.

Die Rückfahrt nach Santa Barbara nahm dreieinhalb Stunden in Anspruch, weil die Straßen viel stärker befahren waren als am Morgen. Während der ganzen Fahrt schaute Travis seinen Begleiter immer wieder an, redete zu ihm und wartete darauf, ein weiteres Schauspiel jener wahrhart niederschmetternden Intelligenz geboten zu bekommen, die der Hund schon vorhin geliefert hatte. Doch seine Erwartungen blieben unerfüllt. Der Retriever benahm sich wie jeder beliebige Hund auf einer langen Fahrt. Gelegentlich saß er allerdings sehr aufrecht da und blickte mit ungewöhnlichem Interesse durch die Windschutzscheibe oder das Seitenfenster auf die Landschaft. Aber die meiste Zeit lag er eingerollt auf dem Sitz, schliefund schnüffelte in seinen Träumen - oder er schnaufte, gähnte und schien gelangweilt.

Als der Geruch des schmutzigen Hundefells unerträglich wurde, kurbelte Travis das Fenster herunter, um durchzulüften, und der Retriever steckte den Kopf in den Wind hinaus. Ohren und Fell im Fahrtwind, zeigte er das alberne, für sich einnehmende dümmliche Grinsen aller Hunde, die je auf diese Weise einen Beifahrersitz erobert haben,

In Santa Barbara hielt Travis an einem Shopping Center und kaufte ein paar Dosen Alpo, einen Karton Milk-Bone-Hunde-kuchen, feste Plastikschüsseln für Hundefutter und Wasser, eine eloxierte Waschschüssel, eine Flasche Hundeshampoo mit einem Mittel gegen Flöhe und Zecken, eine Bürste, um dem Tier das verfilzte Fell auszukämmen, sowie eine Leine.

Als Travis seine Einkäufe in den Laderaum des Pick-up schaffte, beobachtete ihn der Hund durch das Hinterfenster

des Fahrerhäuschens und hielt dabei die feuchte Nase an das Glas gepreßt.

Als er sich wieder hinter das Steuer setzte, sagte er: »Du bist schmutzig, und du stinkst. Du wirst mir beim Baden doch keinen Ärger machen, oder?«

Der Hund gähnte.

Als Travis in die Einfahrt seines gemieteten VierzimmerBungalows am Nordrand von Santa Barbara schwenkte und den Motor des Pick-up abschaltete, begann er sich zu fragen, ob das, was der Hund am Morgen getan hatte, wirklich so erstaunlich war, wie er es in Erinnerung hatte.

»Wenn du jetzt nicht bald wieder etwas zum Besten gibst«, sagte er zu dem Hund, während er den Schlüssel ins Türschloß schob, »dann werde ich wohl annehmen müssen, daß sich bei mir dort draußen im Wald ein Rädchen gelockert hat und daß ich einfach spinne und mir alles eingebildet habe.«

Der Hund stand neben ihm auf der offenen Veranda und blickte seltsam zu ihm hoch.

»Willst du schuld daran sein, daß ich an meinem eigenen Verstand zweifle? Hmmmmmm?«

Ein schwarzer Schmetterling mit orangefarbenen Flecken auf den Flügeln flatterte am Gesicht des Retrievers vorbei und erschreckte ihn. Der Hund bellte und rannte hinter der flatternden Beute her, von der Veranda auf den Weg und diesen hinunter. Er hetzte über den Rasen hierhin und dorthin, sprang hoch, schnappte zu, verfehlte sein buntes Ziel immer wieder, kollidierte fast mit dem Stamm einer großen kanarischen Dattelpalme, konnte gerade noch verhindern, daß er sich beim Frontalzusammenstoß mit einem Vogelbecken aus Beton bewußtlos schlug, und landete schließlich tolpatschig in einem Hyazinthenbeet, über dem der Schmetterling in die sicheren Lüfte entschwebte. Der Retriever überschlug sich einmal, rappelte sich auf und war mit einem Satz aus den Blumen.

Als er begriff, daß er geschlagen war, kehrte der Hund zu Travis zurück. Er sah ihn mit Schafsaugen an.

»Du bist mir vielleicht ein Wunderhund!« sagte er. »Du liebe Güte!«

Er öffnete die Tür, und der Retriever schlüpfte vor ihm hinein. Er trottete sofort davon, um die neuen Räumlichkeiten zu erforschen.

»Hoffentlich bist du stubenrein«, rief Travis ihm nach. Er trug die Waschwanne und den Plastikbeutel mit den anderen Einkäufen in die Küche: Dort ließ er die Freßschüsseln und das Hundefutter zurück und trug alles andere durch die Hintertür nach draußen, Er setzte den Beutel auf dem betongepflasterten Innenhof ab und stellte die Wanne daneben hin, dicht neben einen aufgerollten Schlauch, der an einein Wasserhahn befestigt war.

Dann ging er wieder hinein, holte unter dem Küchenausguß einen Eimer hervor, hielt ihn unter den auf höchste Stufe gedrehten Heißwasserhahn, füllte diesen und trug ihn hinaus und entleerte ihn in die Wanne. Als Travis vier Eimer heißes Wasser hinausgetragen hatte, tauchte der Retriever auf und begann den Hinterhof zu erforschen. Als die Wanne zur Hälfte voll war, hatte der Hund angefangen, entlang der weißgestrichenen Mauer aus Betonblöcken, die die Grundstücksgrenze darstellte, sein Bein zu heben und damit sein Territorium zu markieren.

»Wenn du damit fertig bist, das Gras umzubringen«, sagte Travis, »bist du hoffentlich in der Stimmung für ein Bad, Du stinkst.«

Der Retriever drehte sich zu ihm herum, legte den Kopf schief und schien ihm zuzuhören. Aber er sah nicht aus wie einer dieser intelligenten Filmhunde. Sah auch nicht aus, als würde er ihn verstehen. Sondern einfach wie ein dummer Hund. Und als Travis zu sprechen aufhörte, lief er ein paar Schritte an der Mauer weiter und pinkelte erneut.

Als er dem Hund dabei zusah, wie er sich erleichterte, verspürte Travis selbst einen ähnlichen Drang. Er ging ins Bad und zog dann für die schmutzige Arbeit, die ihm bevorstand, alte Jeans und ein T-Shirt an.

Als Travis wieder hinauskam, stand der Retriever neben der dampfenden Waschwanne und hielt den Schlauch zwischen den Zähnen. Irgendwie hatte er es geschafft, den Wasserhahn aufzudrehen. Wasser schoß aus dem Schlauch in die Wanne. Für einen Hund mußte es sehr schwierig, wenn nicht unmöglich sein, erfolgreich einen Wasserhahn zu betätigen. Tra-vis stellte sich vor, daß ein gleich schwerer Test seiner, Travis', Findigkeit und Geschicklichkeit darin bestehen müsse, mit einer Hand hinter dem Rücken den kindersicheren Verschluß einer Aspirinflasche zu öffnen.

Erstaunt sagte er: »Ist dir das Wasser zu heiß?«

Der Retriever ließ den Schlauch fallen, so daß das Wasser über den Hof strömte. und stieg fast geziert in die Wanne. Er setzte sich hin und sah ihn an, als wollte er sagen: Jetzt fang schon an, du Schwachkopf.

Travis ging zu der Wanne und kauerte sich daneben nieder. »Zeig mir, wie du das Wasser abschalten kannst.«

Der Hund sah ihn dumm an,

»Zeig es mir«, sagte Travis.

Der Hund schnaubte leicht und veränderte seine Sitzhaltung in dem warmen Wasser,

»Wenn du fertiggebracht hast, es aufzudrehen, kannst du es auch abdrehen, Wie hast du es gemacht? Mit den Zähnen?

Muß wohl mit den Zähnen gewesen sein. Mit der Pfote geht das bestimmt nicht, weiß Gott, Aber diese Drehbewegung ist doch ziemlich schwierig. Du hättest dir am gußeisernen Hahn einen Zahn ausbrechen können.«

Der Hund streckte sich etwas aus der Wanne, gerade weit genug, um in die Tüte zu beißen, in der das Shampoo war.

»Du willst also den Hahn nicht abdrehen?« fragte Travis,

Der Hund blinzelte ihm nur unergründlich zu.

Travis seufzte und drehte das Wasser ab. »Na, schön. Okay. Dann sei eben ein Schlaumeier.« Er nahm Bürste und Shampoo aus dem Beutel und hielt sie dem Retriever hin. »Hier. Mich brauchst du wahrscheinlich gar nicht. Du kannst dich sicher selbst abschrubben. «

Der Hund gab ein langgezogenes Wuuufff von sich, das tief unten in seiner Kehle seinen Ausgang nahm, und Travis hatte das Gefühl, daß der Hund jetzt ihn einen Schlaumeier nannte.

Vorsichtig jetzt, sagte er sich, mach dich bloß nicht selbst verrückt, Travis. Das hier ist ein verdammt schlaues Vieh, aber was du sagst, kann es wirklich nicht verstehen, und es kann dir auch nicht antworten.

Der Retriever ließ das Bad ohne Protest über sich ergehen, genoß es. Nachdem er dem Hund befohlen hatte, aus der Wanne zu kommen, und ihm das Shampoo abgespült hatte, verbrachte Travis eine Stunde damit, ihm das feuchte Fell zu bürsten. Er zog Kletten heraus, kleine Aststücke, die das Wasser nicht weggespült hatte, kämmte ineinander verfilzte Haare aus. Der Hund wurde dabei nie ungeduldig, und um sechs Uhr war die Umwandlung vollzogen.

In gepflegtem Zustand war er ein hübsches Tier. Im Fell überwogen goldbraune Töne, mit helleren Stellen hinten an den Beinen am Bauch und an den Hinterbacken sowie an der Unterseite des Schweifes. Das Unterfell war dick und weich, um ihn zu wärmen und Wasser abzustoßen. Das Fell an den Seiten war ebenfalls weich, aber nicht so dick und an manchen Stellen gewellt. Der leicht nach oben gebogene Schweif signalisierte Munterkeit und Zufriedenheit, ein Eindruck, der sich noch dadurch verstärkte, daß dieser Schweif ständig in Bewegung war.

Das eingetrocknete Blut am Ohr stammte von einem kleinen Riß, der bereits zu heilen begann. Das Blut an den Pfoten stammte nicht von einer ernsthaften Verletzung, sondern daher, daß er viel über felsiges Terrain gerannt war. Travis begnügte sich damit. Borwasser, als mildes Antiseptikum, auf diese kleinen Wunden zu träufeln. Er war überzeugt, der Hund empfinde nur leichtes Unbehagen - oder vielleicht auch gar nichts, da er nicht hinkte - und werde in ein paar Tagen wieder völlig wiederhergestellt sein.

Der Retriever sah jetzt großartig aus, Travis aber war feucht und verschwitzt und stank nach Hundeshampoo. Er sehnte sich danach, zu duschen und sich umzuziehen. Außerdem hatte ihm die Arbeit Appetit gemacht.

Das einzige, was jetzt noch zu tun blieb, war, dem Hund ein Halsband umzulegen. Doch als er versuchte, das neue Halsband anzubringen, knurrte der Retriever leise und zog sich vor ihm zurück.

»Jetzt komm schon. Ist doch nur ein normales Halsband, Junge.«

Der Hund starrte das rote Lederband an, das Travis in der Hand hielt, und fuhr fort zu knurren.

»Hast wohl schlimme Erfahrungen mit einem Halsband gemacht, hm?«

Der Hund hörte zu knurren auf, kam aber nicht näher. »Schlecht behandelt?« fragte Travis. »Das wird's sein. Vielleicht haben sie dich mit dem Halsband gewürgt oder an die kurze Kette gelegt. War es so etwas?«

Der Retriever bellte einmal, trottete über den Hof, blieb in der entferntesten Ecke stehen und sah das Halsband aus der Ferne an.

»Vertraust du mir?« fragte Travis und blieb auf den Knien, um nicht auf den Hund bedrohlich zu wirken.

Der Hund wandte seine Aufmerksamkeit vom Lederband ab und Travis zu, begegnete dessen Blick.

»Ich werd' dich nie schlecht behandeln«, sagte er ganz ernst und kam sich überhaupt nicht albern dabei vor, so direkt und aufrichtig zu einem Hund zu reden. »Du mußt wissen, daß ich das nicht tun werde. Ich meine, du hast für solche Dinge doch einen guten Instinkt, Junge, und hab Vertrauen zu mir.«

Der Hund kehrte aus der Ecke des Innenhofs zurück und blieb ein Stück außerhalb von Travis' Reichweite stehen. Er warf einen Blick auf das Halsband und schaute ihn dann wieder mit diesen unheimlich sprechenden Augen an. Wie schon zuvor spürte er eine Art von Verbindung mit dem Tier, ebenso tief wie unheimlich - und ebenso unheimlich wie unbeschreibbar.

Er sagte: »Hör zu. Ich werde dich manchmal an Orte bringen wollen, wo du eine Leine brauchst, und die muß man an einem Halsband befestigen, nicht wahr? Das ist der einzige Grund, weshalb ich möchte, daß du ein Halsband trägst: damit ich dich überall mitnehmen kann - das und um die Flöhe abzuhalten. Aber wenn du es wirklich nicht willst, werde ich dich nicht zwingen.«

Sie sahen einander lange an, während der Retriever offenbar über die Situation nachgrübelte. Travis fuhr fort, ihm das Halsband hinzuhalten, als stelle es ein Geschenk dar und nicht eine Forderung; und der Hund fuhr fort, seinem neuen Herrn in die Augen zu starren. Schließlich schüttelte sich der Retriever, nieste einmal kurz und kam langsam nach vorn.

»So ist's brav«, sagte Travis ermutigend.

Als er Travis erreichte, ließ der Hund sich auf dem Bauch nieder, rollte sich dann auf den Rücken und streckte in einer Art Demutsgebärde alle vier Beine von sich. In seinem Blick waren Liebe, Vertrauen und ein wenig Furcht.

Verrückterweise spürte Travis, daß ihm ein Klumpen in der Kehle saß und ihm heiße Tränen aus den Augenwinkeln traten. Er schluckte heftig, blinzelte, um die Tränen zu vertreiben, und nannte sich einen sentimentalen Esel. Er wußte, weshalb die Unterwerfung des Hundes ihn so rührte. Zum ersten Mal seit drei Jahren hatte Travis Cornell das Gefühl, gebraucht zu werden, empfand er eine tiefe Bindung zu einem anderen lebenden Geschöpf. Zum ersten Mal in drei Jahren hatte sein Leben wieder einen Sinn.

Er legte das Halsband an, schnallte es zu und kraulte den Retriever sanft am Bauch.

»Jetzt brauchen wir noch einen Namen für dich«, sagte er.

Der Hund rappelte sich hoch, sah ihn an und spitzte die Ohren, als warte er darauf, von ihm zu hören, wie er gerufen werden würde.

Lieber Gott, dachte Travis, ich unterschiebe ihm menschliche Absichten. Dabei ist er ein Köter, ein ganz besonderer vielleicht, aber trotzdem bloß ein Köter. Es mag so aussehen, als warte er darauf, zu hören, wie ich ihn rufen werde, Aber Englisch versteht er ganz bestimmt nicht.

»Mir fällt kein Name ein, der zu dir paßt«, sagte Travis schließlich. »Wir wollen nichts übereilen, Es muß genau der richtige Name sein. Du bist kein gewöhnlicher Hund, Pelzgesicht. Ich muß mir das noch eine Weile durch den Kopf gehen lassen, bis mir das Richtige einfällt.«

Travis leerte die Waschwanne, spülte sie aus und ließ sie zum Trocknen stehen. Dann gingen er und der Retriever gemeinsam ins Haus, das sie jetzt miteinander teilten.

5

Dr. Elisabeth Yarbeck und ihr Mann Jonathan, Anwalt, wohnten in Newport Beach in einem weitläufgen einstöckigen Haus im Ranchstil, mit Schindeldach, cremefarbigem Verputz und einer Promenade aus Bouquet-Canyon-Natursteinen. Das verblassende Sonnenlicht leuchtete kupfer- und rubinfarben und glitzerte und funkelte in den Facetten der schmalen, bleigefaßten Fenster neben der Eingangstür, so daß die Scheiben wie riesige Edelsteine wirkten.

Elisabeth ging an die Tür, als Vince Nasco klingelte. Sie war etwa fünfzig, schlank, attraktiv, mit struppiger silberblonder Haarmähne und blauen Augen. Vince sagte ihr, er heiße John Parker, komme vom FBI und müsse mit ihr und ihrem Mann in bezug auf einen augenblicklich in Untersuchung befindlichen Fall sprechen.

»Fall?« fragte sie. »Was für ein Fall?«

»Es handelt sich um ein von der Regierung finanziertes Forschungsprojekt, an dem Sie einmal beteiligt waren«, erklärte ihr Vince, weil man ihm das so aufgetragen hatte,

Sie sah sich seinen Fotoausweis und die FBI-Papiere gründlich an.

Ihm machte das nichts aus. Die falschen Papiere waren von denselben Leuten angefertigt worden, die ihn für diesen Job engagiert hatten. Man hatte ihn mit diesen gefälschten Papieren vor zehn Monaten für einen Hit in San Francisco ausgestattet, und sie hatten ihm bei drei anderen Gelegenheiten gute Dienste geleistet.

Obwohl er wußte, daß die Ausweise ihre Billigung finden würden, war er nicht sicher, ob er selbst die Musterung bestand, Er trug einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd, eine blaue Krawatte und auf Hochglanz polierte schwarze Schuhe - die korrekte Kleidung für einen Agenten. Auch seine Größe und seine ausdruckslose Miene leisteten ihm in der Rolle, die er zu spielen hatte, gute Dienste. Aber der Mord an Dr. Davis Weatherby und die Aussicht auf zwei weitere Morde innerhalb der nächsten paar Minuten hatten ihn in hochgradige Erregung versetzt, erfüllten ihn mit einer geradezu mechanischen Heiterkeit, die er nur mit Mühe unterdrücken konnte. Ein ungeheurer Drang, in Gelächter auszubrechen, baute sich in ihm auf, und die Anstrengung, diese Regung zu Unterdrük-ken, wurde von Minute zu Minute größer. Im unauffälligen grünen Ford, den er vor vierzig Minuten speziell für diesen Job gestohlen hatte, hatte ihn ein Zittern befallen, das nicht von Nervosität herrührte, sondern von einem intensiven Genußempfinden fast sexueller Natur. Er hatte den Wagen an den Straßenrand lenken müssen. Zehn Minuten saß er da und atmete tief durch, ehe er sich etwas beruhigte.

Jetzt blickte Elisabeth Yarbeck von dem gefälschten Ausweis auf, sah Vince in die Augen und runzelte die Stirn.

Er riskierte ein Lächeln, obwohl die Gefahr bestand, daß daraus ein unkontrollierbares Gelächter würde, was seine Tarnung hätte auffliegen lassen. Sein Lächeln war knabenhaft, und gerade durch den auffälligen Gegensatz zu seiner Körpergröße entwaffnend.

Nach einem Augenblick lächelte Dr. Yarbeck auch. Zufrieden reichte sie ihm seine Papiere zurück und bat ihn ins Haus.

»Ich werde auch Ihren Mann sprechen müssen«, erinnerte Vince sie, als sie die Haustür hinter ihnen schloß.

»Er ist im Wohnzimmer, Mr. Parker. Bitte, kommen Sie weiter,«

Das Wohnzimmer war groß und hoch. Cremefarbene Wände, ein ebensolcher Teppich. Blaßgrüne Sofas. Große Fensterscheiben, zum Teil durch grüne Markisen abgeschirmt, boten einen Ausblick auf den mit Sorgfalt angelegten Garten und auf die Häuser an den tieferliegenden Hügeln.

Jonathan Yarbeck war eben dabei, eine Handvoll Späne zwischen die Scheite zu stecken, die er in dem aus Ziegeln gemauerten Kamin zum Feuermachen aufgetürmt hatte. Er richtete sich auf, rieb sich die Hände sauber, während seine Frau Vince vorstellte. »... John Parker vom FBI.«

»FBI?« sagte Yarbeck und hob fragend die Brauen.

»Mr. Yarbeck«, sagte Vince, »wenn noch andere Angehörige Ihrer Familie zu Hause sind, möchte ich sie jetzt auch sprechen, um mich nicht wiederholen zu müssen. »

Yarbeck schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, nur Liz und ich sind hier. Die Kinder sind auf dem College. Was hat das alles zu bedeuten?«

Vince zog die mit Schalldämpfer ausgerüstete Pistole aus der Innentasche seines Jacketts und schoß Jonathan Yarbeck in die Brust. Der Anwalt wurde gegen den Kamin geschleudert, wo er einen Augenblick hängenblieb wie angenagelt, dann fiel er auf das messingene Kaminbesteck.

Sssssnapp.

Elisabeth Yarbeck war einen kurzen Augenblick lang starr vor Verblüffung und Schrecken. Vince nahm sie sich schnell

vor. Er packte ihren linken Arm und drehte ihn hinter ihrem Rücken unsanft herum. Als sie vor Schmerz aufschrie, drückte er ihr die Pistole gegen den Kopf und sagte: »Seien Sie still, sonst blas' ich Ihnen Ihr beschissenes Hirn aus dem Schädel.«

Er zwang sie, mit ihm quer durchs Zimmer zur Leiche ihres Mannes zu gehen. Jonathan lag mit dem Gesicht nach unten auf einer kleinen Kohlenschaufel aus Messing und einem Schürhaken mit Messinggriff. Er war tot. Aber Vince wollte kein Risiko eingehen. Er schoß Yarbeck zweimal aus kurzer Distanz von hinten in den Kopf.

Ein seltsames, dünnes, katzenähnliches Geräusch entrang sich Liz Yarbeck - dann fing sie zu schluchzen an.

Wegen der Entfernung und der Rauchglasscheiben glaubte Vince nicht, daß selbst die Nachbarn durch die großen Fenster sehen konnten; aber er wollte sich mit der Frau an einem abgeschiedeneren Ort befassen. Er zwang sie, mit ihm in die Halle zu gehen, drang tiefer ins Haus ein, öffnete eine Tür nach der anderen, bis er das Schlafzimmer fand. Dort hinein versetzte er ihr einen Stoß, und sie stürzte zu Boden. »Liegenbleiben!« sagte er.

Er schaltete die Nachttischlampen an. Dann ging er zu den großen gläsernen Schiebetüren, die sich zum Innenhof öffneten, und begann die Vorhänge zuzuziehen.

Im Augenblick, da er ihr den Rücken zuwandte, rappelte sich die Frau hoch und rannte auf die Tür zu.

Er erwischte sie, schmetterte sie gegen die Wand, trieb ihr die Faust in den Leib, daß es ihr den Atem nahm, und warf sie wieder zu Boden. Dann schnappte er sich eine Handvoll ihres Haars, zog daran ihren Kopf in die Höhe und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen.

»Hören Sie, Lady, ich werde Sie nicht erschießen. Ich kam her, um Ihren Mann zu erwischen. Nur Ihren Mann. Wenn Sie aber versuchen, mir hier zu entwischen, ehe es soweit ist, daß ich Sie laufenlasse, muß ich auch Sie kaltmachen, verstanden?«

Er log natürlich. Sie war diejenige, für deren Liquidierung man ihn bezahlte, und der Mann mußte nur erledigt werden, weil er im Hause war. Aber daß Vince sie nicht erschießen würde, stimmte. Er wollte, daß sie sich nicht wehrte, bis er sie fesseln und sich ihr mit mehr Muße widmen konnte. Die Erschießung der beiden letzten Opfer hatte Befriedigung verschafft, aber das hier wollte er in die Länge ziehen, sie langsamer töten. Manchmal konnte man den Tod genießen wie gutes Essen, guten Wein oder einen schönen Sonnenuntergang.

Nach Atem ringend, schluchzend sagte sie: »Wer sind Sie?«

»Das geht Sie nichts an«

»Was wollen Sie?«

»Daß Sie jetzt den Mund halten und tun, was ich sage, dann werden Sie das lebend überstehen.«

Das einzige, was ihr jetzt noch blieb, war ein schnelles Gebet, wobei die einzelnen Worte ineinander verschmolzen und nur gelegentlich durch leise, verzweifelt hervorgestoßene Laute akzentuiert waren.

Vince hatte jetzt die Vorhänge zugezogen.

Er riß das Telefon aus der Wand und warf es quer durch den Raum.

Dann packte er die Frau wieder am Arm, zerrte sie auf die Beine ins Badezimmer. Dort suchte er in den Schubladen herum, bis er eine Kassette für Erste Hilfe fand; Heftpflaster war genau das, was er brauchte.

Wieder im Schlafzimmer, zwang er sie, sich auf das Bett zu legen. Er benutzte das Heftpflaster dazu, ihre Knöchel zusammenzubinden und ihre Handgelenke vor ihrem Körper aneinanderzufesseln. Dann holte er aus einer Schublade eines ihrer Höschen, knüllte es zusammen und stopfte es ihr in den Mund. Den letzten Streifen Heftpflaster benutzte er dazu, ihr den Mund zu verkleben.

Sie zitterte heftig, blinzelte durch Tränen und Schweiß.

Er verließ das Schlafzimmer, ging ins Wohnzimmer und kniete neben Jonathan Yarbecks Leiche nieder, mit der es noch etwas zu erledigen gab. Er drehte sie herum. Eine der Kugeln, die durch Yarbecks Hinterkopf eingedrungen war, war an der Kehle, dicht unter dem Kinn, wieder ausgetreten. Sein offenstehender Mund war voll Blut. Ein Auge war nach innen verdreht, so daß nur das Weiße zu sehen war.

Vince blickte in das andere Auge. »Danke«, sagte er aufrichtig, mit Ehrfurcht. »Danke, Mr. Yarbeck.«

Er drückte beide Augenlider zu. Küßte sie.

»Danke.«

Er küßte die Stirn des Toten.

»Danke für das, was Sie mir gegeben haben.«

Dann ging er in die Garage, wo er in den Schränken herumsuchte, bis er das Werkzeug fand. Er wählte einen Hammer mit bequemem, mit Gummi überzogenem Griff und poliertem Stahlkopf aus.

Als er ins ruhige Schlafzimmer zurückkehrte und den Hammer neben die gefesselte Frau auf die Matratze legte, weiteten sich ihre Augen in fast komischer Weise.

Sie begann sich zu wälzen und zu drehen, versuchte erfolglos, die Hände aus der Heftpflasterschlinge zu winden.

Vince streifte die Kleider ab.

Als er sah, wie die Augen der Frau ihn ebenso entsetzt ansahen wie vorhin den Hammer, sagte er: »Nein, bitte, nur keine Angst, Dr. Yarbeck. Ich schände Sie nicht.« Er hängte Jakkett und Hemd über eine Stuhllehne. »Ich bin sexuell nicht an Ihnen interessiert.« Er schlüpfte aus Schuhen, Socken und Hose. »Diese Erniedrigung brauchen Sie nicht zu erleiden. Ich bin nicht die Art von Mann. Ich ziehe meine Kleider nur aus, damit sie nicht voll Blut werden.«

Nackt griff er nach dem Hammer, holte über ihrem linken Bein aus und zerschmetterte ihr das Knie. Vielleicht fünfzig oder sechzig Hammerschläge später kam der Augenblick. Ssssnappp.

Plötzlich durchfuhr ihn ein Energiestoß. Er war übermenschlich wach, nahm Farben und Stoffe um ihn herum überdeutlich wahr, fühlte sich um vieles stärker denn je zuvor in seinem Leben - wie ein Gott im Körper eines Menschen.

Er ließ den Hammer fallen und sank neben dem Bett auf die nackten Knie. Er legte die Stirn auf das blutige Bettlaken, atmete tief ein, erschauderte unter einem Lustgefühl von solcher Stärke, daß es beinahe nicht zu ertragen war.

Ein paar Minuten später, als er sich erholt und an seinen neuen, kraftvolleren Zustand gewöhnt hatte, stand er auf, wandte sich der toten Frau zu und drückte Küsse auf ihr zerschlagenes Gesicht und je einen in jede ihrer Handflächen. »Danke«

Er war von dem Opfer, das sie ihm dargebracht hatte, so tief bewegt, daß er glaubte, er müsse weinen. Aber die Freude über sein Glück war größer als das Mitleid, das er für sie empfand, und so wollten sich keine Tränen einstellen.

Im Badezimmer duschte er kurz. Als das heiße Wasser die Seife von ihm wegspülte, dachte er, wie glücklich er sich doch preisen dürfte, einen Weg gefunden zu haben, Mord zu seinem Geschäft zu machen und für das bezahlt zu werden, was er ohnehin getan hätte, auch ohne Entlohnung.

Als er sich wieder angekleidet hatte, benutzte er ein Handtuch, um die wenigen Dinge abzuwischen, die er seit dem Betreten des Hauses berührt hatte. Er erinnerte sich stets an jede einzelne seiner Bewegungen und war nie besorgt, er könnte beim Abwischen einen Gegenstand übersehen und so irgendwo einen Fingerabdruck hinterlassen, Sein perfektes Gedächtnis war Teil seiner Begabung.

Als er das Haus verließ, entdeckte er, daß die Nacht hereingebrochen war.

DREI

1

Am frühen Abend zeigte der Retriever nichts von dem auffallenden Verhalten, das Travis' Fantasie so beschäftigt hatte. Er beobachtete den Hund, manchmal direkt, manchmal heimlich; aber er sah nichts, was seine Neugierde geweckt hätte.

Er bereitete für sich ein Abendbrot aus mit Schinken, Salat und einer Tomate belegten Broten und machte für den Retriever eine Dose Alpo auf. Das Alpo schien ihm zu schmecken, er vertilgte das Zeug mit großen Bissen, zog aber ganz offenkundig Travis' Essen vor. Der Hund saß neben seinem Stuhl auf dem Küchenboden und sah ihn unglücklich an, als er an dem mit rotem Kunststoff belegten Tisch zwei Sandwiche aß. Schließlich gab er ihm zwei Streifen Schinken.

An seinem hundehaften Betteln war nichts Außergewöhnliches. Er führte auch keine verblüffenden Tricks vor. Er leckte sich nur die Lefzen, winselte hier und da und zeigte wiederholt sein kleines Repertoire an Mitleid und Mitgefühl heischenden Klagemienen. Jeder andere Hund hätte sich auf dieselbe Art bemüht, einen Leckerbissen zu bekommen.

Später schaltete Travis im Wohnzimmer den Fernseher ein, und der Hund rollte sich auf der Couch neben ihm ein. Nach einer Weile legte er ihm den Kopf auf den Schenkel und ließ erkennen, daß er gestreichelt und hinter den Ohren gekratzt werden wollte, was Travis auch tat. Gelegentlich warf der Hund einen Blick auf den Fernseher, schien sich aber nicht sonderlich für das Programm zu interessieren.

Auch Travis war nicht nach Fernsehen zumute. Was ihn jetzt interessierte, war einzig und allein der Hund. Er wollte sich näher mit ihm befassen und dazu bringen, weitere Tricks zu zeigen. Obwohl er überlegte, wie er ihn dazu veranlassen könnte. Beweise seiner erstaunlichen Intelligenz zu liefern, fielen ihm keine Prüfungen ein, mit denen sich die geistige Kapazität des Tieres verläßlich würde messen lassen.

Außerdem sagte eine innere Stimme Travis, daß der Hund bei einem Test nicht mitmachen würde. Die meiste Zeit schien er seine Klugheit instinktiv zu verbergen, Travis erinnerte sich an sein Ungeschick und seine geradezu komische Tollpatschigkeit bei der Verfolgung des Schmetterlings und stellte dieses Verhalten der Geschicklichkeit und Klugheit gegenüber, die nötig gewesen waren, um den Wasserhahn im Hof aufzudrehen; Zwei völlig verschiedene Tiere schienen hier am Werk gewesen zu sein. So verrückt die Vorstellung war, Travis argwöhnte, der Retriever wünsche es nicht, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und zeige seine unheimliche Intelligenz nur in Krisenzeiten (wie im Wald), wenn er sehr hungrig war (als er den Handschuhkasten öffnete, um an den Schokoladenriegel zu kommen) oder wenn niemand zusah (wie beim Aufdrehen des Wasserhahns).

Es war ein unsinniger Gedanke, bedeutete er doch, daß der Hund nicht nur für einen Angehörigen seiner Spezies hochintelligent war, sondern auch um das Außergewöhnliche seiner Fähigkeiten wußte. Hunde - eigentlich alle Tiere - verfügten einfach nicht über das hohe Maß an Selbsterkenntnis, dessen es bedurfte, um sich mit anderen Artgenossen zu vergleichen. Vergleichende Analyse war eine rein menschliche Fähigkeit.

Wenn ein Hund besonders schlau war und viele Tricks konnte, wußte er deshalb noch lange nicht, daß er sich damit von den meisten seiner Artgenossen unterschied. Anzunehmen, daß dieser Hund tatsächlich um solche Dinge wußte, hieß, ihm nicht nur außergewöhnliche Intelligenz zuzuschreiben, sondern auch die Fähigkeit der Anwendung von Vernunft und Logik, also ein rationales Urteilsvermögen, das dem Instinkt weit überlegen war, der die Entscheidungen aller anderen Tiere lenkte.

»Du«, sagte Travis, zum Retriever gewendete und strich ihm dabei sachte über den Kopf, »bist das Rätsel im Rätsel. Oder ich bin reif für die Gummizelle.«

Der Hund schaute zu ihm her, als er seine Stimme hörte, sah ihm einen Augenblick lang in die Augen, gähnte - und fuhr plötzlich mit dem Kopf in die Höhe und starrte an ihm vorbei auf die Bücherregale zu beiden Seiten des Bogenganges, der Wohnzimmer und Speisezimmer miteinander verband. Der zufriedene, dümmliche Hundeblick war jenem wachen Interesse gewichen, das Travis schon erlebt hatte und das weit über normale hündische Wachsamkeit hinausging.

Der Retriever sprang vom Sofa und stürmte zu den Bücherregalen. Dort rannte er hin und her und schaute zu den bunten Rücken der säuberlich geordneten Bände hinauf.

Travis hatte das Haus zur Gänze möbliert gemietet - wenn auch fantasielos und billig eingerichtet, mit Polsterungen, die nach ihrer Dauerhaftigkeit (Vinyl) oder ihrer Eignung, hartnäckige Flecken zu verbergen (mit die Augen schmerzendem Karomuster) ausgewählt worden waren. Anstelle von Holz gab es Unmengen von Kunststoff mit künstlicher Holzmaserung, der gegenüber Schlag, Stoß und Brennflecken von Zigaretten widerstandsfähig war. Buchstäblich das einzige im Raum, das Travis' persönlichen Geschmack und seine persönlichen Interessen widerspiegelte, waren die Bücher - Taschenbücher und Hardcovers -, die die Regale im Wohnzimmer füllten,

Den Hund schienen zumindest ein paar dieser einige hundert umfassenden Bände hochgradig zu interessieren.

Travis stand auf und sagte: »Was ist denn, Junge? Was regt dich denn so auf?«

Der Retriever stellte sich auf die Hinterbeine, legte die Vorderpfoten auf eines der Regale und beschnüffelte die Buchhüllen. Er schaute Travis an und wandte sich dann wieder seiner eifrigen Untersuchung der Bibliothek zu.

Travis ging zu dem betreffenden Regal, nahm einen der Bände heraus, an die der Hund die Schnauze gedrückt hatte ->Die Schatzinsel< von Robert Louis Stevenson - und hielt es ihm hin. »Das da? Interessiert dich das?«

Der Hund studierte das Bild von Long John Silver und einem Piratenschiff, das den Schutzumschlag zierte. Er blickte zu Travis auf, schaute auf Long John Silver nieder. Einen Augenblick danach ließ er sich wieder auf alle viere sinken, rannte zu den Regalen auf der anderen Seite des Bogens, richtete sich erneut auf den Hinterbeinen auf und begann andere Bücher zu beschnüffeln.

Travis stellte >Die Schatzinsel< zurück und folgte dem Retriever. Der drückte jetzt seine feuchte Nase an eine Sammlung von Charles-Dickens-Romanen. Travis griff nach einer Taschenbuchausgabe von >Zwei Städte<.

Wieder studierte der Retriever die Umschlagsillustration genau, als versuchte er herauszufinden, wovon das Buch handelte, und sah dann Travis erwartungsvoll an.

Total verblüfft meinte der: »Die Französische Revolution. Guillotine, Hinrichtungen. Tragödien und Heldentum. Es... äh... nun, es handelt davon, daß Individuen wichtiger sind als Gruppen und daß man dem Leben eines Mannes oder einer Frau viel größere Bedeutung beimessen muß als dem Fortschritt der Massen.«

Der Hund wandte sich wieder den Bänden in den Regalen zu und schnüffelte, Schnüffelte unablässig,

»Das ist doch Quatsch«, sagte Travis und stelle >Zwei Städ-te< wieder dorthin, woher er es genommen hatte. »Mein Gott, jetzt fange ich an, einem Hund Inhaltsangaben von Büchern zu liefern!«

Der Retriever ließ seine großen Pfoten auf das nächste Regal fallen, bekeuchte und beschnüffelte die Literatur dieser Reihe. Als Travis keines der Bücher zur Inspektion herauszog, drehte der Hund den Kopf zur Seite, um ihn ins Regal zu bekommen, packte sachte einen der Bände mit den Zähnen und versuchte ihn herauszuziehen, um ihn besser inspizieren zu können.

»Mann!« sagte Travis und griff nach dem Buch. »Ich will deinen Geifer nicht auf den Einbänden haben, Pelzgesicht.

Das hier ist »Oliver Twist<. Wieder ein Dickens. Die Geschichte eines Waisenjungen im Viktorianischen England. Er läßt sich mit zwielichtigen Gestalten ein, der kriminellen Unterwelt, und sie... «

Der Retriever ließ sich auf den Boden fallen und trottete zurück zu den Regalen auf der anderen Seite des Bogens, wo er fortfuhr, die in Reichweite befindlichen Bände zu beschnuppern. Travis hätte schwören mögen, daß er wehmütig zu den Büchern hinaufspähte, die höher oben standen.

Vielleicht fünf Minuten lang, von gespenstischer Vorahnung erfaßt, daß gleich etwas von welterschütternder Bedeutung geschehen werde, folgte Travis dem Hund, zeigte ihm die Umschläge von einem Dutzend Romanen und lieferte dazu jeweils in ein, zwei Sätzen eine Kurzbeschreibung des Inhalts. Er hatte keine Ahnung, ob es das war, was der altkluge Köter wollte. Ganz bestimmt konnte er die Zusammenfassungen, die er ihm lieferte, nicht verstehen. Und doch schien er ihm wie gebannt zuzuhören. Er wußte, daß er zielloses, tierisches Verhalten grundsätzlich falsch auslegte, dem Hund komplexe Absichten zuschrieb, die die5er gar nicht hatte. Trotzdem verspürte er das Prickeln einer Vorahnung im Nacken. Und während ihre eigenartige Suche weiterging, erwartete Travis fast, es werde jeden Augenblick irgendeine verblüffende Offenbarung geben - und kam sich gleichzeitig immer einfältiger und alberner vor.

Travis' Geschmack bezüglich Romanliteratur war weitgespannt. Unter den Bänden, die er von den Regalen nahm, waren Bradburys >Das Böse schleicht auf leisen Sohlen< und Chandlers >Der lange Abschiede Cains >Die Rechnung ohne den Wirt< und Hemingways >Inseln im Sturm<. Zwei Bücher von Richard Condon und eines von Ann Tyler. Dorothy Sayers' »Mord braucht Reklame< und Elmore Leonards >52 Pick-up<.

Endlich wandte sich der Hund von den Büchern ab und trottete in die Mitte des Raumes, wo er sichtlich erregt hin und her wanderte. Dann blieb er stehen, schaute Travis an und bellte dreimal.

»Was ist denn. Junge?«

Der Hund winselte, schaute zu den überladenen Regalen hin, wanderte im Kreis, blickte wieder hin zu den Büchern. Er schien enttäuscht zu sein. Zutiefst enttäuscht.

»Ich weiß nicht, was ich sonst noch tun soll, Junge«, sagte Travis. »Ich weiß nicht, worauf du/aus bist, was du mir sagen willst.«

Der Hund schnaubte und schüttelte sich. Dann senkte er niedergeschlagen den Kopf, kehrte resigniert zum Sofa zurück und ringelte sich auf den Kissen ein.

»Ist das alles?« fragte Travis. »Geben wie jetzt einfach auf?« Den Kopf flach auf das Sofa legend, musterte er Travis mit feuchten, seelenvollen Augen.

Travis wandte sich von dem Hund ab und ließ den Blick langsam über die Bücher wandern, so als würden diese nicht nur die Informationen liefern, die auf ihren Seiten gedruckt standen, sondern als enthielten sie auch eine wichtige Botschaft, die nicht so leicht abzulesen war: als wären ihre bunten rücken fremdartige Runen einer lange vergessenen Sprache, die, einmal entziffert, wunderbare Geheimnisse offenbaren würden. Aber er konnte sie nicht entziffern.

Travis, der geglaubt hatte, er stehe an der langen Schwelle einer großen Entdeckung, fühlte sich ungeheuer im Stich gelassen, Seine eigene Enttäuschung war noch viel schlimmer als das, was der Hund hier geliefert hatte; er konnte sich nicht so wie der Retriever einfach auf dem Sofa einrollen, den Kopf in die Kissen drücken und das Ganze vergessen.

»Was, zum Teufel, sollte das alles?« fragte er.

Der Hund blickte unergründlich zu ihm auf.

»Hatte das Getue mit den Büchern irgendeinen Sinn?«

Der Hund starrte ihn an.

»Ist an dir etwas Besonderes - oder ist mir das Gehirn ausgelaufen?«

Der Hund lag reglos und schlaff da, als würde er jeden Augenblick die Augen schließen und einschlafen.

»Wenn du mich jetzt angähnst, verdammt noch mal, bekommst du einen Tritt.«

Der Hund gähnte.

»Scheißköter!« sagte Travis.

Er gähnte wieder.

»Also bitte! Was soll das jetzt? Gähnst du, weil ich das gesagt habe und weil du dein Spiel mit mir treibst? Oder gähnst du einfach so! Wie soll ich das, was du tust, auslegen? Wie soll ich wissen, ob etwas davon eine Bedeutung hat?«

Der Hund seufzte.

Travis seufzte ebenfalls, ging an eines der vorderen Fenster und starrte in die Nacht hinaus, wo der schwachgelbe Schein der Natriumdampf-Straßenlampen die federartigen Wedel der ausladenden kanarischen Dattelpalme von hinten beleuchtete. Er hörte, wie der Hund vom Sofa sprang und aus dem Raum eilte, verzichtete aber darauf, seinen Aktivitäten nachzugehen. Für den Augenblick konnte er keine weitere Enttäuschung brauchen.

Der Retriever machte in der Küche Lärm. Ein Klirren. Dann ein schwaches Klappern. Travis nahm an, daß er aus seiner Schüssel trank.

Sekunden später hörte er ihn zurückkommen. Er kam an seine Seite und rieb sich an seinem Bein.

Travis schaute hinunter und entdeckte zu seiner Überraschung, daß der Retriever eine Dose Bier zwischen den Zähnen hielt. Er nahm die dargebotene Dose und stellte fest, daß sie kalt war.

»Die hast du aus dem Kühlschrank geholt!«

Der Hund schien zu grinsen.

2

Als Nora Devon in der Küche das Abendessen zubereitete, Klingelte das Telefon wieder. Sie betete, daß nicht er anriefe.

Aber er war es. »Ich weiß, was Sie brauchen«, sagte Streck.

„Ich weiß, was Sie brauchen.«

Ich bin nicht einmal hübsch, wollte sie sagen. Ich bin eine ganz gewöhnliche, verbaute alte Jungfer, was wollen Sie also von mir? Ich bin vor Leuten wie Ihnen sicher, weil ich nicht hübsch bin. Sind Sie blind? Aber sie konnte nichts sagen.

»Wissen Sie, was Sie brauchen?« fragte er.

Jetzt fand sie endlich ihre Stimme und sagte: »Lassen Sie mich in Frieden.«

»Ich weiß, was Sie brauchen. Sie wissen es vielleicht nicht, aber ich weiß es.«

Diesmal legte sie als erste auf, knallte den Hörer so kräftig hin, daß es ihm im Ohr weh getan haben mußte.

Später, um halb neun, läutete das Telefon wieder. Sie saß im Bett, las Dickens' >Große Erwartungen und aß Eiskrem. Als der Apparat das erste Mal anschlug, erschreckte sie das so, daß ihr der Löffel aus der Hand und in die Schale fiel und sie ihren Nachtisch fast verschüttet hätte,

Sie stellte die Schale weg, legte das Buch hin und starrte das Telefon auf dem Nachttisch angstvoll an. Sie ließ es zehnmal klingeln, fünfzehnmal. Zwanzigmal. Das schrille Geräusch erfüllte den Raum, hallte von den Wänden wider, bis jeder einzelne Klingelton sich in ihren Schädel zu bohren schien. Schließlich wurde ihr klar, daß sie einen großen Fehler machte, wenn sie sich nicht meldete. Er würde wissen, daß sie hier war und Angst davor hatte, den Hörer abzunehmen, und das würde ihm Vergnügen bereiten. Ihn verlangte es vor allem anderen danach. Macht auszuüben. Gerade ihr furchtsames Sichzurückziehen würde ihn ermutigen. Nora hatte keine Erfahrung im Austragen von Duellen, aber sie begriff, daß sie lernen mußte, für sich einzutreten - und zwar schnell.

Beim einunddreißigsten Klingeln nahm sie den Hörer ab. Streck sagte: »Ich kann einfach nicht aufhören, an Sie zu denken.«

Nora gab keine Antwort.

Streck sagte: »Sie haben schönes Haar. So dunkel. Fast schwarz. Dicht und glänzend. Ich möchte mit den Händen durch Ihr Haar fahren.«

Sie mußte jetzt etwas sagen, um ihn in die Schranken zu weisen - oder auflegen. Aber sie brachte weder das eine noch das andere fertig.

»Ich habe nie Augen gesehen wie Ihre«, sagte Streck. Sein Atem ging schwer. »Grau, aber nicht wie andere graue Augen. Tiefgründig, voll Wärme und sexy.«

Nora war unfähig zu sprechen, war wie gelähmt.

»Sie sind sehr hübsch, Nora Devon. Sehr hübsch. Und ich weiß, was Sie brauchen. Wirklich, das weiß ich, Nora. Ich weiß, was Sie brauchen, und ich werd' es Ihnen geben.«

Ihre Starre löste sich, weil sie plötzlich unkontrolliert zu zittern anfing. Sie ließ den Hörer auf die Gabel fallen. Sie beugte sich im Bett nach vom, es war ihr, als würde sie in Einzelteile zerfallen, bis das Zittern langsam aufhörte.

Sie besaß keine Schußwaffe.

Sie fühlte sich klein, zerbrechlich und schrecklich allein.

Ob sie die Polizei rufen sollte? Aber was sollte sie denen sagen? Daß sie sexuell belästigt wurde? Das würde Riesengelächter auslösen, Sie ein Sexualobjekt? Sie war eine alte Jungfer, schlicht und einfach, jedenfalls alles andere als der Typ, der einem Mann den Kopf verdrehte und in ihm erotische Träume auslöste. Die Polizei würde annehmen, daß sie das Ganze entweder erfunden hatte oder daß sie hysterisch war. Oder, daß sie Strecks Höflichkeit als sexuelles Interesse mißdeutete, genau das, was auch sie anfangs gedacht hatte.

Sie zog über dem weiten Männerpyjama, den sie trug, einen blauen Morgenmantel an und verknotete den Gürtel. Barfuß eilte sie in die Küche hinunter, wo sie zögernd ein Fleischermesser aus dem Fächergestell neben dem Ofen zog. Das Licht rann wie ein dünner Quecksilberstrom über die scharfgeschliffene Schneide.

Während sie das blitzende Messer in der Hand drehte, sah sie ihre Augen im Spiegel der breiten, flachen Klinge. Sie starrte sich im polierten Stahl an und fragte sich, ob sie es fertigbringen würde, eine so schreckliche Waffe gegen ein anderes menschliches Wesen zu gebrauchen, selbst in Notwehr.

Sie hoffte, es nie erfahren zu müssen.

Als sie wieder oben war, legte sie das Fleischermesser auf den Nachttisch, in Reichweite.

Sie zog den Morgenrock aus, setzte sich auf die Bettkante, schlang die Arme um ihren Leib und versuchte ihr Zittern zu beruhigen.

»Warum gerade ich?« sagte sie laut. »Warum hat er es ausgerechnet auf mich abgesehen?«

Streck hatte gesagt, sie sei hübsch, aber Nora wußte, daß das nicht stimmte. Ihre eigene Mutter hatte sie bei Tante Violet zurückgelassen und war in achtundzwanzig Jahren nur zweimal gekommen, das letzte Mal, als Nora sechs war. Ihren Vater hatte sie nie gekannt, und von den anderen Devon-Verwandten wollte niemand sie aufnehmen - ein Faktum, das Violet in aller Offenheit Noras wenig ansprechender Erscheinung zuschrieb. Und deshalb konnte, auch wenn Streck sagte, sie sei hübsch, unmöglich sie es sein, die er begehrte. Nein, was er wollte, war der Nervenkitzel. Ihr Angst machen, Macht über sie ausüben, ihr weh tun, das wollte er. Solche Leute gab es.

Sie hatte in Büchern und Zeitschriften über sie gelesen. Und Tante Violet hatte tausendmal gewarnt, wenn je ein Mann mit süßen Worten und süßem Lächeln daherkäme, würde er sie in den Himmel heben, bloß um sie später um so tiefer hinabzustürzen und ihr noch mehr weh zu tun.

Nach einer Weile legte sich das Zittern. Nora stieg wieder ins Bett. Was von ihrer Eiskrem übriggeblieben war, war geschmolzen, und sie stellte die Schale auf dem Nachttisch ab.

Sie nahm wieder den Dickens-Roman zur Hand und versuchte sich neuerlich in die Geschichte von Pip zu vertiefen. Aber sie war nicht ganz bei der Sache, warf immer wieder Blicke zum Telefon hinüber, auf das Fleischermesser - und durch die offene Tür hinaus auf den Flur, wo sie die ganze Zeit Bewegung wahrzunehmen glaubte.

3

Travis ging in die Küche, und der Hund folgte ihm.

Er deutete auf den Kühlschrank und sagte: »Zeig es mir. Tu es noch mal. Hol mir ein Bier. Zeig mir, wie du es gemacht hast.«

Der Hund rührte sich nicht.

Travis kauerte sich nieder. »Jetzt hör mir mal zu, Pelzgesicht - wer hat dich aus dem Wald rausgeholt, weg von dem, das dich verfolgte, was immer das gewesen ist? Ich. Wer hat Hamburger für dich gekauft? Ich. Ich hab' dich gebadet, dir zu fressen gegeben und ein Zuhause. Jetzt schuldest du mir was. Hör jetzt auf, dich zu zieren. Wenn du dieses Ding öffnen kannst, dann tu es!«

Der Hund trottete zu dem altersschwachen Frigidaire, ging mit dem Kopf an die untere Ecke der emaillierten Tür, packte den Rand mit den Zähnen und zog nach hinten, mit dem ganzen Körper nachhelfend. Die Gummidichtung öffnete sich mit einem kaum hörbaren saugenden Geräusch. Die Tür schwang auf. Der Hund schlüpfte schnell in die Öffnung, sprang hoch und stützte sich mit beiden Vorderpfoten an einem Regal ab. »Da soll mich doch der Teufel holen!« sagte Travis und trat näher.

Der Retriever spähte in das zweite Regal, in dem Travis Dosen mit Bier, Diät-Pepsi und V-8-Gemüsesaft lagern hatte. Er schnappte sich eine weitere Bierdose, fiel auf die Vorderpfoten nieder und ließ die Kühlschranktür wieder zufallen, während er zu Travis kam,

Er nahm das Bier in Empfang. Dann stand er da, in jeder Hand eine Dose, betrachtete den Hund und meinte schließlich, mehr zu sich selbst, als zu dem Tier gewendet: »Okay, dann hat dir also jemand beigebracht, wie man eine Kühlschranktür aufkriegt. Er hätte dir sogar beibringen können, eine bestimmte Biersorte zu erkennen, sie von anderen Sorten zu unterscheiden und sie herbeizuholen. Aber ein paar Rätsel bleiben da trotzdem noch offen. Ist es wahrscheinlich, daß die Marke, die sie dir eingebleut haben, dieselbe ist, die ich in meinem Kühlschrank habe? Möglich, ja, aber nicht wahrscheinlich. Außerdem hab' ich dir nichts befohlen. Ich habe nicht gesagt, du sollst mir ein Bier holen. Du hast es von selbst getan, so als hättest du gedacht, ein Bier wäre genau das, was ich im Augenblick brauche. Und so war es auch.«

Travis stellte eine Dose auf den Tisch. Die andere wischte er an seinem Hemd sauber, ließ den Verschluß knacken und nahm ein paar Schlucke, daß der Hund die Dose im Maul gehabt hatte, störte ihn nicht. Die erstaunliche Vorführung des Tieres erregte ihn zu sehr, als daß er sich wegen Bakterien Sorgen gemacht hätte. Außerdem hatte der Retriever beide Dosen an der Unterseite gepackt, als wäre er um Hygiene besorgt gewesen.

Der Retriever beobachtete ihn beim Trinken.

Als er das Bier zu einem Drittel getrunken hatte, sagte Travis: »Es hat ja gerade so ausgesehen, als hättest du verstanden, daß ich nervös war, unruhig, und ein Bier mir helfen wür-

de, mich zu entspannen. Jetzt frag' ich dich: Ist das verrückt -oder was sonst? Wir reden hier von analytischem Denken. Okay, Tiere können also häufig die Stimmung ihrer Herren fühlen. Aber wie viele Tiere wissen, was Bier ist, und wie viele begreifen, daß es ihren Herrn und Meister freundlicher stimmt? Und außerdem, woher wußtest du, daß Bier im Kühlschrank ist? Du könntest es irgendwann am Abend gesehen haben, als ich das Essen zubereitete. Aber trotzdem...«

Seine Hände zitterten. Er trank wieder. Die Dose stieß klappernd gegen seine Zähne.

Der Hund ging um den Tisch mit dem roten Kunststoffbelag herum und zu den zwei Türchen unter dem Ausguß. Er machte eines davon auf, steckte den Kopf in die dunkle Öffnung, holte den Beutel mit Hundekuchen heraus und brachte ihn Travis.

Der lachte und sagte: »Nun, wenn ich ein Bier kriege, dann hast du dir wohl auch einen Leckerbissen verdient, was?« Er nahm dem Hund den Beutel weg und riß ihn auf. »Du meinst, ein paar Hundekuchen könnten dich aufheitern. Pelzgesicht?« Er stellte den offenen Beutel auf den Boden. »Bedien dich selber. Ich verlass' mich darauf, daß du dich nicht überfrißt wie ein gewöhnlicher Hund.« Er lachte wieder. »Verdammt, ich glaube, ich könnte dir sogar meinen Wagen anvertrauen!«

Der Retriever holte sich ein Stück Hundekuchen aus der Packung, setzte sich mit gespreizten Hinterbeinen hin und zerbiß es krachend.

Travis zog sich einen Stuhl hervor, setzte sich an den Tisch und sagte: »Du bringst mich so weit, daß ich an Wunder glaube. Weißt du, was ich heute morgen im Wald gemacht habe?« Der Hund war völlig auf seinen Hundekuchen konzentriert und schien für den Augenblick jegliches Interesse an Travis verloren zu haben.

»Das war für mich eine Art empfindsamer Reise; ich hoffte die Freuden wiederzufinden, die mir die Santa Anas, als ich ein Junge war, bereiteten, damals, bevor... alles so dunkel wurde. Ich wollte ein paar Schlangen schießen, wie ich das als Junge tat, ein Stück marschieren, die Gegend erforschen und wie in alten Tagen einssein mit der Natur. Denn schon eine ganz Zeit lang ist mir ziemlich egal gewesen, ob ich lebe oder sterbe.«

Der Hund hörte zu kauen auf, schluckte und wandte Travis seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu.

»In letzter Zeit waren meine Depressionen schwärzer als Mitternacht auf dem Mond. Weißt du, was Depressionen sind, Köter?«

Der Retriever stand auf, als wären die Hundekuchen vergessen, und kam zu ihm. Er schaute ihm mit jener entnervenden Tiefe und Direktheit in die Augen, wie er das schon vorher getan hatte.

Travis wich dem Blick nicht aus und sagte: »Wenn ich auch nicht an Selbstmord dachte. Zum einen bin ich als Katholik erzogen, und obwohl ich schon eine Ewigkeit nicht mehr in der Kirche gewesen bin, habe ich mir doch meinen Glauben bewahrt, zum Teil wenigstens. Und für einen Katholiken ist Selbstmord eine Todsünde. Mord. Außerdem bin ich zu stur und zäh, um aufzugeben, ganz gleich, wie schwarz die Dinge sind.«

Der Retriever blinzelte, löste aber den Blick nicht.

»Ich war in diesem Wald und suchte nach dem Glück von damals. Und dann bin ich auf dich gestoßen.«

»Wuff«, sagte der Hund, als wollte er sagen: Gut.

Travis stützte den Kopf in beide Hände, vergrub sein Gesicht darin und sagte: »Depression. Das Gefühl, die Existenz sei sinnlos geworden. Wie sollte ein Hund darüber was wissen, hm? Ein Hund hat keine Sorgen, oder? Für einen Hund ist jeder Tag eine Freude. Verstehst du also wirklich, wovon ich rede, Junge? Weiß Gott, ich glaube, du tust es vielleicht. Aber schreibe ich dir zu viel Intelligenz zu, zu viel Weisheit, selbst für einen Zauberhund? Hm? Ja, du kannst ein paar erstaunliche Tricks, aber das ist nicht dasselbe wie mich zu verstehen.« Der Retriever entfernte sich von ihm und ging zurück zu dem Paket mit den Hundekuchen. Er nahm den Beutel mit den Zähnen und schüttelte zwanzig oder dreißig Hundekuchen aus dem Sack auf den Bodenbelag.

»Da haben wir's wieder«, sagte Travis. »Einmal kommst du einem fast wie ein Mensch vor - im nächsten Augenblick bist du nur noch ein Hund mit den Interessen eines Hundes.«

Aber der Retriever war gar nicht auf einen Imbiß aus. Er fing an, die Hundekuchen mit der schwarzen Spitze seiner Schnauze vor sich herzuschieben, bugsierte sie einen nach

dem anderen in die Mitte des Küchenbodens und ordnete sie säuberlich, Schmalseite an Schmalseite.

»Was, zum Teufel, soll das jetzt wieder?«

Der Hund hatte fünf Biskuits in einer Reihe angeordnet, die nach rechts einen Bogen beschrieb. Jetzt schob er den sechsten Hundekuchen dazu und betonte damit die Kurve noch.

Travis trank hastig sein Bier aus, ohne dabei den Hund aus den Augen zu lassen, und öffnete die zweite Dose. Er hatte das Gefühl, er werde das Bier brauchen.

Der Hund studierte die Reihe der Hundekuchen einen Augenblick lang, als wäre er sich nicht ganz sicher, was er da angefangen hatte. Er lief ein paarmal hin und her, sichtlich im unklaren, schob aber zu guter Letzt zwei weitere Hundekuchen an die Reihe. Er schaute Travis an, dann wieder das Gebilde, das er auf dem Fußboden erzeugte, und schob dann mit der Nase einen neunten Hundekuchen an seinen Platz.

Travis nahm einen Schluck von seinem Bier und wartete angespannt, was als nächstes kommen werde.

Der Hund schüttelte den Kopf, gab einen enttäuschten, schnaubenden Laut von sich und ging dann zum anderen Ende des Zimmers, stand mit gesenktem Kopf da und schaute in die Ecke. Travis fragte sich, was das zu bedeuten habe, und kam dann irgendwie auf den Gedanken, er sei in die Ecke gegangen, um seine Gedanken zu ordnen. Nach einer Weile kam er zurück und schob den zehnten und elften Hundekuchen an seinen Platz, damit die Anordnung erweiternd.

Wieder überkam Travis die Vorahnung, daß sich hier etwas von großer Bedeutung anbahnte. Er spürte eine Gänsehaut auf seinen Armen.

Diesmal sollte er nicht enttäuscht werden. Der Golden Retriever benutzte neunzehn Hundekuchen dazu, um auf dem Küchenboden ein etwas unregelmäßiges, aber durchaus erkennbares Fragezeichen zu legen, hob dann die ausdrucksvollen Augen und sah Travis an.

Ein Fragezeichen.

Und seine Bedeutung: Warum? Warum bist du so deprimiert? Warum hast du das Gefühl, das Leben sei sinnlos und leer?

Offenbar verstand der Hund, was er ihm gesagt hatte. Also schön. Okay. Vielleicht verstand er Sprache nicht exakt, konn-te nicht jedem Wort folgen, aber irgendwie erfaßte er die Bedeutung dessen, was man sagte, oder zumindest genug davon, daß sein Interesse und seine Neugierde geweckt wurden.

Und, o Gott! Wenn er nun auch den Zweck eines Fragezeichens verstand, dann war er zu abstraktem Denken fähig! Allein der Gedanke, einfache Symbole - Buchstaben, Zahlen, Fragezeichen, Ausrufungszeichen -, als eine Art Kurzschrift zur Übermittlung komplizierter Ideen zu verwenden ... nun, das erforderte abstraktes Denken. Und abstraktes Denken war eine Fähigkeit, die auf der Erde nur einer Gattung vorbehalten war: der Menschheit. Dieser Golden Retriever, allen Anzeichen nach kein Mensch, hatte sich aber irgendwie in den Besitz intellektueller Fähigkeiten gesetzt, die kein anderes Lebewesen für sich beanspruchen konnte.

Travis war wie benommen. Aber an dem Fragezeichen war nichts Zufälliges. Plump vielleicht, aber keineswegs zufällig. Irgendwo mußte der Hund das Symbol gesehen und seine Bedeutung erlernt haben. Statistiker sagten, eine unendliche Zahl von Affen, ausgerüstet mit einer unendlichen Zahl von Schreibmaschinen, würden, einfach dem Zufallsprinzip gehorchend, am Ende imstande sein, jede einzelne Zeile der großen englischen Prosa neu zu schaffen. Daß dieser Hund, überlegte er, in genau zwei Minuten aus Hundekuchen ein Fragezeichen formte, und dies einzig und allein zufällig, war etwa zehnmal so unwahrscheinlich wie diese verdammten Affen, die Shakespeares Stücke neu schrieben.

Der Hund beobachtete ihn voll Erwartung.

Als Travis aufstand, stellte er fest, daß er etwas unsicher auf den Beinen war. Er ging zu den sorgfältig aufgelegten Hundekuchen, warf sie durcheinander und kehrte zu seinem Stuhl zurück.

Der Retriever besah sich die Unordnung, schaute Travis fragend an, beschnüffelte die Hundekuchen und schien irgendwie verblüfft.

Travis wartete.

Es war unnatürlich still im Haus, so als wäre der Fluß der Zeit für jedes lebende Geschöpf, jede Maschine und jeden Gegenstand auf dieser Erde angehalten worden - ausgenommen für ihn, den Retriever und das, was sich in der Küche befand.

Schließlich begann der Hund wie vorhin die Biskuits mit der Nase umherzuschieben. Nach ein oder zwei Minuten waren sie wiederum in der Form eines Fragezeichens angeordnet. Travis nahm einen langen Schluck Bier. Sein Herz schlug wie wild. Seine Handflächen waren feucht. Staunen und Verblüffung, wilde Freude und Angst vor dem Unbekannten erfüllten ihn, gleichzeitig hatten Bestürzung und ehrfürchtige Scheu ihn ergriffen. Er wollte lachen, hatte er doch nie auch nur annähernd so Spaßiges gesehen wie diesen Hund. Und er wollte weinen, denn noch vor Stunden hatte er geglaubt, das Leben sei trostlos, finster und ohne Sinn. Doch wie schmerzvoll es auch manchmal sein mochte: Das Leben war doch, wie er jetzt begriff, etwas ungemein Wertvolles. Er hatte tatsäch-ich das Gefühl, Gott habe ihm den Retriever gesandt, um ihn nieder neugierig zu machen, ihn daran zu erinnern, daß die Zeit voller Überraschungen war und Verzweiflung keinen Sinn ergab, solange man den Zweck - und die seltsamen Möglichkeiten - der Existenz nicht begriff. Travis wollte lachen, aber sein Lachen bewegte sich am Rand eines Schluch-zens. Als er jedoch dem Schluchzen nachgab, wurde ein Lachen daraus. Er wollte aufstehen, wußte gleich, daß er noch zittriger war als vorhin, zu zittrig; also tat er das einzige, wozu er imstande war: Er blieb in seinem Stuhl sitzen und nahm noch einen langen Schluck Bier.

Der Hund legte den Kopf schief, zuerst nach der einen, dann nach der anderen Seite, beobachtete ihn scharf, als dächte er, Travis habe den Verstand verloren. Das hatte er ja auch. Vor Monaten. Aber jetzt fühlte er sich viel besser.

Er stellte das Bier nieder und wischte sich mit den Handrük-ken die Tränen aus den Augen. Dann sagte er: »Komm her, Pelzgesicht!«

Der Retriever zögerte und kam dann zu ihm.

Travis zerzauste ihm das Fell, streichelte ihn, kratzte ihn hinter den Ohren. »Du erstaunst mich und machst mir Angst. Ich kann mir nicht zusammenreimen, woher du kommst oder wie du zu dem geworden bist, was du jetzt bist. Aber du hättest keinen Platz finden können, wo man dich mehr braucht. Ein Fragezeichen, hm? Herrgott! Also schön. Du willst wissen, warum ich fand, das Leben habe mir weder Sinn noch Freuden zu bieten? Ich will's dir sagen. Ja, bei Gott, das will ich. Ich werde hier sitzen, noch ein Bier trinken und es einem Hund erzählen. Vorher aber... werd' ich dir einen Namen geben.« Der Hund blies die Luft durch die Nüstern, als wollte er sagen: Nun, wird ja auch Zeit.

Travis umfaßte den Kopf des Hundes und sah ihm dabei tief in die Augen. Dann sagte er: »Einstein. Von nun an. Pelzgesicht, heißt du Einstein.«

4

Um zehn Minuten nach Neun rief Streck wieder an. Nora schnappte sich den Hörer beim ersten Klingeln, war fest entschlossen, ihm zu sagen, er solle sie in Ruhe lassen. Aber aus irgendeinem Grund verkrampfte sich in ihr wieder alles, und sie brachte kein Wort heraus.

Mit abstoßender Vertraulichkeit sagte er: »Vermißt du mich, Hübsches? Hm? Wünschst du dir, daß ich komme und dir ein Mann bin?«

Sie legte auf.

Was stimmt bloß nicht mit mir? fragte sie sich. Warum schaffe ich es nicht, ihm zu sagen, er soll sich trollen und aufhören, mich zu belästigen?

Vielleicht kam ihre Sprachlosigkeit vom verborgeneren Wunsch, zu hören, wie ein Mann - irgendein Mann, selbst ein so abstoßender wie Streck - sie hübsch nannte. Obwohl er nicht von der Art war, die der Zärtlichkeit oder Zuneigung fähig war, konnte sie ihm zuhören und sich dabei ausmalen, wie es wäre, wenn ein guter Mann ihr süße Dinge sagte.

»Nun, du bist nicht hübsch«, sagte sie zu sich, »und du wirst es auch nie sein, also hör auf zu träumen. Das nächste Mal, wenn er anruft, sagst du ihm die Meinung.«

Sie stieg aus dem Bett und ging durch den Flur zum Badezimmer, in dem ein Spiegel hing. Violet Devons Beispiel folgend, hatte Nora außer in den Badezimmern nirgends Spiegel. Sie mochte sich nicht ansehen, weil das, was sie sah, so betrüblich war.

Aber heute nacht wollte sie einen Blick auf sich werfen, weil Strecks Schmeicheleien, wenn auch mit kalter Berechnung gegeben, ihre Neugierde geweckt hatten. Nicht daß sie hoffte, irgendein schönes Merkmal zu entdecken, die sie nie zuvor an sich gesehen hatte. Nein. Über Nacht vom häßlichen Entlein zum schönen Schwan ... ein leerer Traum. Vielmehr wollte sie sich bestätigen, daß sie unattraktiv war. Strecks nicht erwünschtes Interesse warf Nora aus der Bahn, weil sie sich in ihrer Reizlosigkeit und Einsamkeit behaglich fühlte. Jetzt wollte sie sich versichern, daß er sich über sie lustig machte und seine Drohungen nicht wahrmachen würde. Ihre friedvolle Einsamkeit würde weiterdauern. Wenigstens redete sie sich das ein, als sie das Badezimmer betrat und das Licht anknipste.

Der enge Raum war vom Boden bis zur Decke blaßblau, am Fliesenrand weiß gekachelt. Es gab eine riesige Badewanne mit Klauenfüßen. Weißes Porzellan und Messingarmaturen. Den großen Spiegel, der deutliche Altersspuren aufwies.

Sie betrachtete ihr Haar, von dem Streck sagte, es sei schön, dunkel und glänzend. Aber es war fahlfarben und ohne natürlichen Glanz. Nach ihrer Meinung nicht glänzend, sondern fettig, obwohl sie es am Morgen gewaschen hatte.

Sie prüfte rasch Stirn, Backenknochen, Nase, Kinnpartie, Lippen. Zog zaghaft mit einer Hand die Linie ihrer Züge nach, entdeckte aber nichts, was einem Mann auffallen mochte.

Zuletzt starrte sie widerstrebend in ihre Augen, die Streck schön und tiefgründig nannte. Sie waren grau und glanzlos, und sie ertrug es nicht, ihren eigenen Blick mehr als ein paar Sekunden lang zu erwidern. Ihre Augen bestätigten ihr die geringe Meinung, die sie von ihrem Aussehen hatte. Andererseits ... nun, sie sah in ihren Augen einen schwelenden Zorn, der sie beunruhigte, der nicht zu ihr paßte; einen Zorn über das, was sie aus sich hatte werden lassen. Was natürlich überhaupt keinen Sinn ergab. Denn sie war das, was die Natur aus ihr gemacht hatte - eine Maus.

Als sie sich von dem fleckigen Spiegel abwandte, spürte sie mit einemmal schmerzhaft die Enttäuschung darüber, daß ihre Inspektion zu keiner einzigen Überraschung oder Neubewertung geführt hatte. Im gleichen Augenblick war sie schockiert, ja entsetzt über diese Enttäuschung. Sie stand in der Badezimmertür, schüttelte den Kopf und wunderte sich über ihre wirren Gedanken.

Wollte sie Streck gefallen? Natürlich nicht. Er war sonderlich, krank, gefährlich. Auf ihn attraktiv zu wirken, war das Allerletzte, was sie wollte. Vielleicht würde sie nichts dagegen haben, wenn ein anderer Mann sie wohlwollend ansah. Nicht aber bei Streck. Eigentlich sollte sie auf die Knie fallen und Gott danken, daß er sie so geschaffen hatte, wie sie war, weil Streck, wäre sie auch nur ein wenig attraktiv, seine Drohungen wahrmachen würde. Er würde herkommen und sie vergewaltigen. Vielleicht sogar ermorden. Wer wußte schon, was in Männern wie ihm vorging? Wer wußte schon, wie weit er gehen würde? Nein, sie war keine nervöse alte Jungfer, wenn sie sich über Mord Gedanken machte, nicht in Zeiten wie diesen: Schließlich waren die Zeitungen voll davon.

Ihr fiel ein, daß sie ohne Waffe war, und sie eilte ins Schlafzimmer zurück, wo sie das Fleischermesser liegengelassen hatte.

5

Die meisten Leute glauben, mit Psychoanalyse könne man Unglück kurieren. Sie sind sicher, sie würden ihre Probleme bewältigen und zu innerem Frieden gelangen, sofern sie ihren Seelenzustand durchschauten und die Gründe für ihre negativen Stimmungen und ihr destruktives Verhalten verstünden. Aber Travis hatte die Erfahrung gemacht, daß dies nicht der Fall war. Er hatte sich jahrelang rücksichtsloser Selbstanalyse gestellt und schon vor langer Zeit herausgefunden, weshalb er zum Einzelgänger geworden war, dem es nicht mehr gelang, Freunde zu gewinnen. Und trotz dieser Erkenntnis war er nicht imstande gewesen, sich zu ändern.

Jetzt saß er, während Mittemacht nahte, in der Küche, trank noch ein Bier und erzählte Einstein von seiner selbstauferleg-ten seelischen Isolation. Einstein saß bewegungslos vor ihm, gähnte kein einziges Mal, als gelte sein ganzes Interesse Travis' Bericht.

»Ich war schon als Kind ein Einzelgänger, von allem Anfang an, obwohl ich nicht ganz ohne Freunde war. Es war nur so, daß ich immer meine eigene Gesellschaft vorzog. Ich vermute, das liegt in meiner Natur. Ich meine, als ich ein Kind war, war ich noch nicht zum Schluß gekommen, es sei gefährlich, mit mir befreundet zu sein.«

Travis' Mutter war bei seiner Geburt gestorben, und das war ihm schon in sehr jungen Jahren bekannt gewesen. Mit der Zeit sollte ihm ihr Tod wie ein Omen dessen, was noch kommcn sollte, vorkommen und schreckliche Bedeutung annehmen; aber das war später. Als Kind lastete die Bürde der Schuld noch nicht auf ihm.

Nicht bevor er zehn wurde. Das war das Jahr, in dem sein Bruder Harry starb. Harry war zwölf, um zwei Jahre älter als Travis. Eines Montagmorgens im Juni überredete Harry Travis dazu, die drei Blocks bis zum Strand zu wandern, obwohl ihr Vater ihnen ausdrücklich verboten hatte, ohne ihn schwimmen zu gehen. Es war eine einsame Badebucht ohne Badeaufseher, und sie waren weit und breit die einzigen Schwimmer.

»Harry geriet in eine Strömung«, berichtete Travis. »Wir waren beide im Wasser, keine drei Meter voneinander entfernt, und die verdammte Strömung packte ihn und riß ihn mit sich, sog, mich aber hat sie nicht erwischt. Ich bin sogar hinter ihm hergeschwommen, habe versucht, ihn zu retten, hätte also eigentlich in dieselbe Strömung hineinschwimmen müssen. Aber ich nehme an, sie änderte, gleich nachdem sie Harry erfaßt hatte, ihre Richtung, weil ich lebend aus dem Wasser kam.« Ein paar Augenblicke lang starrte er die Tischplatte an, sah vor sich nicht etwa den roten Kunststoffbelag, sondern die trügerische blaugrüne See mit ihren Wellen. »Ich habe meinen großen Bruder mehr als sonst jemanden auf der Welt geliebt.«

Einstein winselte leise, wie um sein Mitgefühl auszudrükken.

»Niemand gab mir für das, was Harry zustieß, die Schuld.

Er war der Ältere. Und hätte der Vernünftigere sein müssen. Mir aber kam vor... nun, wenn die Strömung Harry mitgerissen hatte, hätte sie auch mich erwischen sollen.«

Ein nächtlicher Wind wehte vom Westen herein und ließ eine lockere Fensterscheibe klappern.

Nachdem er einen Schluck Bier genommen hatte, sagte Travis: »In dem Sommer, in dem ich vierzehn wurde, wollte ich unbedingt in ein Tenniscamp. Tennis hat mich damals sehr begeistert. Also schrieb mein Vater mich in einem Camp in der Nähe von San Diego ein, für einen ganzen Monat, mit intensiver Unterweisung. Eines Sonntags fuhr er mich hin, aber wir sind nie dort angekommen. Ein Stück nördlich von Oceanside schlief ein Trucker am Steuer ein, sein Lastzug schleuderte über den Mittelstreifen und nahm uns mit. Dad war sofort tot. Genickbruch, Rückgratbruch, eingedrückter Schädel, zerquetschter Brustkasten. Ich saß vorne neben ihm und kam mit ein paar Kratzern, ein paar Platzwunden und zwei gebrochenen Fingern davon.«

Der Hund sah ihn eindringlich an.

»Es war genau wie mit Harry. Wir hätten beide sterben müssen, Vater und ich. Ich aber kam davon. Und wir hätten diese verdammte Fahrt nicht gemacht, wenn ich nicht so versessen auf das Tenniscamp gewesen wäre. Diesmal stand es einfach für mich fest. Vielleicht hatte ich keine Schuld daran, daß meine Mutter bei der Geburt starb; vielleicht konnte man mir auch Harrys Tod nicht anhängen; aber diesmal... Jedenfalls war doch ziemlich klar, daß ich irgendwie vom Unheil verfolgt wurde, daß es für die Leute gefährlich war, mir zu nahe zu kommen. Wenn ich jemanden gern hatte, wirklich gern hatte, dann war es scheißsicher, daß ihm das den Tod brachte.« Nur ein Kind konnte zur Überzeugung gelangen, solch tragische Ereignisse bedeuteten nichts anderes, als daß es ein wandelnder Fluch sei. Aber Travis war damals ein Kind, erst vierzehn Jahre alt, und keine andere Erklärung paßte so gut.

Er war zu jung, um zu begreifen, daß die sinnlose Gewalttätigkeit von Natur und Schicksal oft von keiner klar erkennbaren Zielgerichtetheit war. Mit vierzehn Jahren brauchte er eine Erklärung, um mit den Dingen fertigzuwerden, also sagte er sich, daß ein Fluch auf ihm laste und er, wenn er sich näher mit jemandem anfreundete, den Betreffenden zu frühem Tod verurteile. Schon von Natur in sich gekehrt, fiel es ihm nur allzu leicht, sich nach innen zu wenden und sich mit seiner eigenen Gesellschaft abzufinden.

Als er mit einundzwanzig das College abschloß, war er eindeutig ein Einzelgänger, wenn er auch mit zunehmender Reife eine gesündere Einstellung zum Tod seiner Mutter, seines Bruders und seines Vaters hatte. Er sah sich jetzt nicht länger als Unglücksbringer, gab sich nicht länger die Schuld für das, was seiner Familie zugestoßen war. Trotzdem blieb er einsam und ohne enge Freunde, zum Teil deswegen, weil ihm die Fähigkeit abhanden gekommen war, intime Beziehungen einzugehen und zu pflegen, zum anderen deswegen, weil er sich die Überzeugung zurechtgezimmert hatte, Leid könne ihn nicht zerschmettern, wenn er keine Freunde zu verlieren habe. »Gewohnheit und der Selbsterhaltungstrieb sorgten dafür, daß ich emotioneil isoliert blieb«, sagte er zu Einstein.

Der Hund erhob sich und legte das kurze Stück, das sie voneinander trennte, zurück. Er wand sich zwischen seine Beine und legte ihm den Kopf auf den Schoß.

Travis streichelte Einstein und sagte: »Ich hatte keine Ahnung, was ich nach dem College tun wollte. Es gab damals Wehrpflicht, also meldete ich mich, ehe die mich einzogen. Ich entschied mich für die Army Special Forces. Hat mir gefallen. Vielleicht, weil... Nun, es gab da so etwas wie Kameradschaft. Ich war gezwungen, mir Freunde zuzulegen. Verstehst du, ich gab vor, keine enge Bindung an irgend jemanden zu wünschen, müsse sie aber haben, weil ich mich in eine Lage begab, wo es unvermeidbar war. Nach einer Weile entschied ich mich dafür, das Militär zu meinem Beruf zu machen. Als die Delta Force - die Antiterroristengruppe - gebildet wurde, landete ich schließlich dort. Die Typen bei Delta waren echte Kumpel. Sie nannten mich den >Taubstummen< und >Har-po<, weil ich nicht viel redete. Aber ich gewann damals trotz meiner Eigenheiten Freunde. Dann wurde meine Gruppe bei unserem elften Einsatz nach Athen geflogen. Eine Palästinensergruppe hatte die US-Botschaft besetzt, wir sollten sie zurückerobern. Sie hatten acht Botschaftsangehörige getötet, brachten jede Stunde einen weiteren um und wollten nicht verhandeln. Wir schlugen schnell zu, aus dem Hinterhalt -und es wurde ein Fiasko. Sie hatten den ganzen Gebäudekomplex vermint. Neun Männer in meiner Gruppe starben. Ich war der einzige Überlebende. Eine Kugel im Schenkel. Schrapnell im Hintern. Aber ich überlebte.«

Einstein hob den Kopf aus Travis' Schoß.

Travis vermeinte in den Augen des Hundes Mitgefühl zu entdecken - vielleicht weil er das entdecken wollte.

»Das liegt jetzt acht Jahre zurück, ich war damals achtundzwanzig. Ich bin aus der Army ausgetreten und nach Kalifornien zurückgekehrt. Ich besorgte mir eine Lizenz als Immobilienmakler, weil mein Vater in der Branche tätig gewesen war und ich nicht wußte, was ich sonst hätte tun sollen. Ging eigentlich recht gut, vielleicht weil mir egal war, ob sie die Häuser kauften, die ich ihnen zeigte, sie nicht drängte und mich gar nicht wie ein Verkäufer benahm. Tatsache ist, es ging mir so gut, daß ich mein eigenes Büro eröffnete und Verkäufer einstellte.«

Und dabei hatte er Paula kennengelernt. Sie war eine hochgewachsene blonde Schönheit, intelligent und amüsant, und verstand sich so gut darauf, Immobilien zu verkaufen, daß sie im Spaß meinte, sie habe in einem früheren Leben die holländischen Kolonisten vertreten, als diese den Indianern um ein paar Glasperlen die Halbinsel Manhattan abkauften. Sie hatte sich in Travis verknallt. Und es ihm auch gesagt: »Mr. Cornell, Sir, ich bin verknallt. Ich glaube, das liegt an Ihrer starken, lautlosen Art. Sie sind die beste Clint-Eastwood-Imitation, die ich je gesehen habe.« Zuerst leistete Travis ihr Widerstand. Er glaubte nicht, daß er Paula Unglück bringen werde. Zumindest glaubte er es nicht bewußt. Er war nicht offen in den Aberglauben seiner Kindheit zurück verfallen. Aber er wollte den Schmerz eines Verlustes nicht aufs neue riskieren. Sein Zögern schreckte sie nicht ab, sie stellte ihm förmlich nach. Und schließlich mußte er zugeben, daß er in sie verliebt war. So verliebt, daß er ihr schließlich erzählte, wie er sein ganzes Leben lang mit dem Tod Fangen gespielt habe, etwas, worüber er mit sonst niemandem redete. »Hör zu«, sagte Paula, »mich wirst du nicht betrauern müssen. Ich werde dich überleben, weil ich nicht der Typ bin, der seine Gefühle in Flaschen abfüllt. Ich reagiere meine Launen an meiner Umgebung ab, also werde ich wahrscheinlich dich ein Jahrzehnt deines Lebens kosten.«

Vor vier Jahren hatten sie geheiratet. Es war eine ganz schlichte Zeremonie auf dem Standesamt, im Sommer nach Travis' zweiunddreißigstem Geburtstag. Er hatte sie geliebt.

0 Gott, hatte er sie geliebt.

Zu Einstein sagte er: »Wir wußten das damals nicht, aber sie hatte schon an unserem Hochzeitstag Krebs. Zehn Monate später war sie tot.«

Der Hund legte wieder den Kopf in seinen Schoß.

Eine Weile konnte Travis nicht weitersprechen.

Er trank einen Schluck Bier. Streichelte den Kopf des Hundes.

Nach einer Weile sagte er: »Danach versuchte ich mein Leben wie gewohnt weiterzuführen. Ich bin immer stolz darauf gewesen, einer zu sein, der weitermacht, sich mit allem abfinden kann, einer, der immer die Nase oben behält, und all den Quatsch. Das Maklerbüro hab' ich noch ein Jahr in Gang gehalten. Aber nichts davon war mehr wichtig. Vor zwei Jahren hab' ich es verkauft. Löste auch meine Wertpapiere ein. Machte alles zu Geld und legte es auf die Bank. Mietete dieses Haus. Hab' die letzten zwei Jahre mit... nun, mit Brüten verbracht. Und bin dabei zum Eichhörnchen geworden. Kein Wunder, wie? Ein verdammtes Eichhörnchen. Kam im Kreis zurück, verstehst du, genau an den Punkt meiner kindlichen Überzeugungen. Für mich stand fest, daß ich für jeden eine Gefahr war, der mir nahekam. Aber du hast mich verändert, Einstein. An einem einzigen Tag hast du mich umgedreht. Ich schwöre dir, es ist als hätte man dich geschickt, um mir zu zeigen, daß das Leben geheimnisvoll, fremdartig und voller Wunder ist - und daß sich nur ein Narr freiwillig daraus zurückzieht und die Dinge an sich vorbeiziehen läßt.«

Wieder schaute der Hund zu ihm empor.

Er hob die Bierdose, aber sie war leer.

Einstein ging zum Kühlschrank und holte eine neue.

Travis nahm dem Hund die Dose ab und sagte: »So, jetzt hast du die ganze traurige Geschichte gehört. Was meinst du letzt? Glaubst du, daß es klug für dich ist, in meiner Nähe zu sein? Glaubst du, es ist ungefährlich?«

Einstein wuffte.

»War das ein Ja?«

Einstein rollte sich auf den Rücken, streckte alle viere in die Luft, bot seinen Bauch dar, wie er das getan hatte, als er Travis gestattete, ihm ein Halsband anzulegen.

Travis stellte sein Bier beiseite, glitt vom Stuhl, ließ sich auf den Boden nieder und streichelte den Hund am Bauch. »Also gut«, sagte er. »Also gut. Aber stirb mir nicht, verdammt. Komm ja nicht auf die Idee, mir zu sterben.«

6

Um elf uhr klingelte Nora Devons Telefon.

Es war Streck. »Bist du jetzt im Bett, meine Hübsche?«

Sie gab keine Antwort.

»Wünschst du dir, ich wäre bei dir?«

Seit dem letzten Anruf hatte sie darüber nachgedacht, wie sie mit ihm zurechtkäme, und dabei waren ihr ein paar Drohungen eingefallen, die, wie sie hoffte, vielleicht wirken würden. »Wenn Sie mich nicht in Frieden lassen«, sagte sie, »geh' ich zur Polizei.«

»Nora, schläfst du nackt?«

Sie saß im Bett. Jetzt richtete sie sich weiter auf, starr, verkrampft. »Ich gehe zur Polizei und werde sagen, daß Sie versucht haben... sich mir aufzudrängen. Das werde ich. Ich schwöre, ich werde es tun.«

»Ich möchte dich nackt sehen«, sagte er, ihre Drohung nicht beachtend.

»Ich werde lügen. Ich werde sagen, daß Sie mich vergewaltigt haben.«

»Würdest du denn nicht wollen, daß ich meine Hände an deine Brüste lege, Nora?«

Ein Stechen im Magen zwang sie, sich im Bett nach vorne zu beugen. »Ich lasse mein Telefon anzapfen und alle Gespräche aufzeichnen, damit ich Beweise habe.«

»Dich am ganzen Körper küssen, Nora. Wäre das nicht hübsch?«

Das Stechen wurde ärger. Außerdem zitterte sie jetzt am ganzen Körper. Ihre Stimme brach mehrmals, als sie ihre letzte Drohung einsetzte: »Ich habe eine Pistole. Ich habe eine Pistole.«

»Heute nacht wirst du von mir träumen, Nora. Da bin ich ganz sicher. Du wirst davon träumen, daß ich dich überall küsse, deinen ganzen hübschen Körper... «

Sie knallte den Hörer auf den Apparat.

Dann rollte sie sich im Bett in seitliche Lage, zog die Schultern hoch, zog die Knie ein und umfaßte sie mit beiden Armen. Das Stechen hatte keine natürliche Ursache; es war ein-

zig und allein eine psychische Reaktion, ausgelöst von Furcht, Scham, Wut und ungeheurer innerer Verkrampfung.

Langsam ließ der Schmerz nach. Die Furcht legte sich, nur die Wut blieb.

Sie war so erschütternd naiv bezüglich der Welt und ihrem Getriebe, so wenig vertraut, mit Leuten umzugehen, daß sie nur funktionierte, wenn sie sich auf das Haus beschränkte, auf eine in sich abgeschlossene Welt ohne menschliche Kontakte. Sie wußte nichts über gesellschaftlichen Umgang. Sie war nicht einmal imstande gewesen, mit Garrison Dilworth, Tante Violets Anwalt - jetzt Noras Anwalt -, ein höfliches Gespräch zu führen. Sie waren zusammengekommen, um den Nachlaß zu regeln, und sie hatte seine Fragen so bündig wie möglich beantwortet, war in seiner Gegenwart mit gesenktem Blick, die Hände im Schoß verkrampft, dagesessen, schüchtern wie nur. Angst vor dem eigenen Anwalt! Wenn sie mit einem freundlichen Mann wie Garrison Dilworth nicht umgehen konnte, wie sollte sie je mit einem Tier wie Art Streck zu Rande kommen? In Zukunft würde sie es nicht mehr wagen, jemanden für eine Reparatur ins Haus zu lassen, ganz gleich, was kaputtging, und einfach in immer schlimmer werdendem Zerfall leben müssen. Denn der nächste Mann konnte wieder ein Streck sein - oder noch schlimmer. In Beibehaltung der Tradition, die ihre Tante eingeführt hatte, ließ sich Nora bereits die Lebensmittel vom nahen Supermarkt liefern, um nicht zum Einkaufen aus dem Haus gehen zu müssen. Jetzt aber würde sie sogar Angst davor haben, den Jungen, der die Sachen brachte, ins Haus zu lassen; er war nie auch nur im geringsten Maße zudringlich, anzüglich oder in irgendeiner Weise beleidigend gewesen. Aber eines Tages würde er vielleicht ihre Verwundbarkeit erkennen, wie Streck ...

Sie haßte Tante Violet.

Andererseits hatte Violet recht gehabt: Nora war eine Maus. Und wie allen Mäusen war ihr bestimmt, zu rennen, sich zu verstecken, im Dunkeln zu kauern.

Ihre Wut ließ nach, wie vorhin der stechende Schmerz. Das Gefühl der Verlassenheit trat an die Stelle des Zorns, und sie weinte leise.

Später saß sie an das Kopfteil gelehnt da, tupfte sich die geröteten Augen mit Kleenex, schneuzte sich und gelobte tapfer, nicht zur Einsiedlerin zu werden. Irgendwie würde sie die Kraft und den Mut finden, sich mehr als in der Vergangenheit in die Welt hinauszuwagen. Sie würde Menschen kennenlernen. Sich mit den Nachbarn bekannt machen, die Violet mehr oder weniger geschnitten hatte. Sie würde Freunde gewinnen. Weiß Gott, das würde sie. Und sie würde sich von Streck nicht einschüchtern lassen. Sie würde lernen, auch andere Probleme zu meistern, und eines Tages würde sie eine ganz andere sein als die, die sie jetzt war. Dieses Versprechen legte sie ab. Ein heiliges Gelöbnis.

Sie erwog, die Telefonschnur aus der Dose zu ziehen, um auf diese Weise Streck einen Strich durch die Rechnung zu machen, aber sie hatte Angst, sie könnte den Apparat brauchen. Was, wenn sie aufwachte, jemand im Haus hörte und das Telefon nicht schnell genug anstecken konnte?

Bevor sie das Licht ausschaltete und die Decke hochzog, schloß sie die Schlafzimmertür und sicherte sie mit dem Lehnsessel, indem sie diesen schräg unter dem Türknopf verspreiz-te. Im Bett, im Dunkeln, tastete sie nach dem Fleischermesser, das sie auf den Nachttisch gelegt hatte, und war beruhigt, als ihre Hand es ohne langes Suchen fand.

Nora lag auf dem Rücken, die Augen offen, hellwach. Fahles, bernsteinfarbenes Licht der Straßenlaternen fand seinen Weg durch die Fensterläden. Einander abwechselnde Streifen aus Schwarz und blassem Gold überzogen die Zimmerdecke, als spränge ein unendlich langer Tiger mit einem nicht endenden Satz über das Bett. Sie fragte sich, ob sie jemals wieder würde leicht einschlafen können.

Außerdem fragte sie sich, ob sie draußen in jener größeren Welt, die zu betreten sie gelobt hatte, jemanden finden würde, dem sie etwas bedeutete, der sich um sie - und für sie -sorgte. Gab es denn niemanden, der eine Maus lieben und hegen konnte?

Aus weiter Ferme erklang das Pfeifen eines Zuges, ein einziger, hohler, klagender Ton.

7

Noch nie war Vince Nasco so emsig gewesen. Und so glücklich.

Als er die übliche Nummer in Los Angeles anrief, um seinen Erfolg im Haus der Yarbecks zu melden, verwies man ihn an eine andere öffentliche Telefonzelle. Diese stand zwischen einem Yoghurteis-Laden und einem Fischrestaurant auf Baiboa Island in Newport Harbor.

Dort rief ihn die Kontaktperson mit der kehligen, sinnlichen Kleinmädchenstimme an. Sie sprach in Umschreibungen von Mord, gebrauchte nie belastende Worte, sondern exotische Euphemismen, die vor Gericht nicht von Gewicht sein konnten.

Sie sprach von einer anderen Telefonzelle aus, einer, die sie willkürlich gewählt hatte, so daß buchstäblich nicht die geringste Chance bestand, eines der beiden Telefone könnte angezapft sein. Aber dies hier war eine Welt des Großen Bruders, in der man nicht wagen durfte, Risiken einzugehen.

Die Frau hatte einen dritten Auftrag für ihn. Drei an einem Tag!

Während Vince beobachtete, wie der abendliche Verkehr sich auf der schmalen Inselstraße stockend an ihm vorbeibewegte, gab die Frau - die er nie im Leben gesehen hatte und deren Name er nicht kannte - ihm die Adresse von Dr. Albert Hudston in Laguna Beach. Hudston wohnte da mit seiner Frau und seinem sechzehnjährigen Sohn. Dr. Hudston und seine Frau sollten beide erledigt werden; was mit dem Jungen geschah, war Vince überlassen. Wenn man den Jungen heraushalten konnte, so war das in Ordnung. Aber wenn er Vince sah und als Zeuge auftreten könnte, mußte auch er beseitigt werden.

»Liegt ganz in Ihrem Ermessen«, sagte die Frau.

Vince wußte bereits, daß er den Jungen auslöschen würde, denn Töten nützte ihm mehr, brachte ihm mehr Energie ein, wenn das Opfer jung war. Es war lange her, daß er einen wirklichen Jungen weggeblasen hatte, und die Aussicht darauf erregte ihn.

»Ich kann nur betonen«, sagte die Kontaktperson und trieb Vince mit ihren Pausen, in denen nur ihr Atem zu hören war, halb zum Wahnsinn, »daß vom Optionsrecht entsprechend schnell Gebrauch gemacht werden muß. Wir wollen, daß das Geschäft bis heute abend getätigt ist. Bis morgen weiß die Konkurrenz, was für ein Ding wir schaukeln wollen, und wird uns in die Quere kommen.«

Vince wußte, daß die >Konkurrenz< die Polizei sein mußte. Man bezahlte ihn dafür, an einem einzigen Tag drei Ärzte zu töten - Ärzte, wo er doch bisher nie einen Arzt getötet hatte. Also wußte er auch, daß es zwischen ihnen eine Verbindung gab, die die Bullen herausfinden würden, wenn sie Weatherby im Kofferraum seines Wagens und Elisabeth Yarbeck zu Tode geprügelt in ihrem Schlafzimmer fanden. Vince wußte nicht, was das für eine Verbindung war, weil er nie etwas über die Leute wußte, für deren Ermordung man ihn bezahlte. In Wahrheit wollte er gar nichts wissen. Es war sicherer so. Aber die Bullen würden Weatherby mit Yarbeck und diese beiden mit Hudston in Verbindung bringen. Wenn Vince also heute abend nicht an Hudston herankam, würde die Polizei den Mann ab morgen schützen.

Vince sagte: »Die Frage ist... wollen Sie das Optionsrecht auf dieselbe Weise ausgeübt wissen wie bei den beiden anderen Geschäften heute? Wünschen Sie, daß nach einem bestimmten Schema vorgegangen wird?«

Er dachte daran, das Haus der Hudstons mitsamt seinen Bewohnern niederzubrennen, um die Morde zu tarnen »Ja, wir wollen unbedingt, daß man ein Schema erkennt«, sagte die Frau. »Genauso wie bei den anderen Wir wollen, daß sie wissen, daß wir tätig sind.«

»Ich verstehe.«

»Wir wollen sie in die Ohren kneifen«, sagte sie und lachte halblaut. »Wir wollen Salz in ihre Wunden reiben."

Vince legte auf und ging ins >Jolly Roger<, um dort zu Abend zu essen. Er nahm Gemüsesuppe, einen Hamburger, Pommes frites. Zwiebelringe, Krautsalat, Schokoladekuchen mit Eiskrem und - als Draufgabe - Apfelkuchen und spülte alles mit fünf Tassen Kaffee hinunter. Er hatte stets einen gesunden Appetit, aber dieser Appetit nahm nach einem erledigten Job noch erheblich zu. In der Tat, auch nach dem Apfelkuchen war er noch nicht voll. Verständlich. An einem einzigen, arbeitsreichen Tag hatte er die Lebensenergien von Davis Weatherby und die der Yarbecks in sich aufgenommen; er war zu hoch aufgeladen, eine im Schnellgang laufende Maschine. Sein Stoffwechsel lief auf vollen Touren; er würde eine Weile lang mehr Treibstoff brauchen, bis sein Körper die überschüssigen Lebensenergien für künftigen Gebrauch in biologischen Batterien gespeichert hatte.

Seine Fähigkeit, die Lebenskraft seiner Opfer zu absorbieren, war eine Gabe, die ihn von allen anderen Menschen unterschied. Dank dieser Gabe würde er immer stark, vital und voll auf dem Posten sein. Und ewig leben.

Das Geheimnis dieser herrlichen Gabe hatte er der Frau mit der kehligen Stimme nie verraten, und auch sonst keinem der Leute, für die er arbeitete. Nur wenige Menschen besaßen genügend Fantasie und Aufgeschlossenheit, ein solch erstaunliches Talent ernsthaft für möglich zu halten. Vince behielt es für sich, weil er Angst hatte, man könnte denken, er sei verrückt.

Draußen vor dem Restaurant blieb er eine Weile auf dem Gehsteig stehen und atmete tief durch, genoß die würzige Seeluft. Eine kühle Nachtbrise blies vom Hafen herein und fegte Papierfetzen und purpurfarbene Jakarandablüten über das Pflaster.

Vince fühlte sich prächtig. Er hielt sich für eine Elementargewalt wie Wind und Meer.

Von Baiboa Island fuhr er in südlicher Richtung nach Laguna Beach. Um zwanzig nach elf parkte er seinen Lieferwagen vor dem Hudston-Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Das Haus lag in den Hügeln, ein einstöckiger Bau, der sich an die steile Hügelflanke schmiegte und sicherlich einen herrlichen Ausblick auf das Meer bot. Hinter ein paar der Fenster war Licht zu sehen.

Er kletterte zwischen den Sitzen durch und in den hinteren Teil des Lieferwagens, wo er nicht gesehen werden konnte, um abzuwarten, bis alle Hudstons zu Bett gegangen waren. Bald nach Verlassen des Hauses der Yarbecks hatte er seinen blauen Anzug mit einer grauen Hose, einem weißen Hemd, einem braunem Pullover und einer dunkelblauen Nylonjacke vertauscht. Jetzt hatte er in der Dunkelheit nichts zu tun, als seine Waffen aus einer Pappschachtel zu holen, in der sie unter zwei Laib Brot, einer Viererpackung Toilettenpapier und anderen Dingen, die den Eindruck vermitteln sollten, er hätte gerade Einkäufe gemacht, versteckt gewesen waren.

Die Walther P-38 war voll geladen. Nach dem Job im Haus der Yarbecks hatte er einen frischen Schalldämpfer auf den Lauf geschraubt, einen von den neuen, kurzen, die dank der Fortschritte der Technik nur halb so lang waren wie die älteren Modelle. Er legte die Waffe beiseite.

Er hatte ein Klappmesser mit einer sechszölligen Klinge.

Das steckte er in die rechte vordere Hosentasche.

Als er die Drahtgarrotte zu einem kleinen Knäuel zusammengerollt hatte, stopfte er sie in die linke Innentasche seiner Jacke.

Dann hatte er noch einen mit Bleikugeln beschwerten Totschläger; dieser wanderte in die rechte Außentasche seines Jacketts.

Vince rechnete nicht damit, eine andere Waffe als die Pistole einsetzen zu müssen. Aber er liebte es, auf jede Eventualität vorbereitet zu sein.

Bei manchen Jobs hatte er eine Uzi-Maschinenpistole verwendet. Aber der gegenwärtige Auftrag erforderte keine schwere Waffen.

Er hatte auch noch ein kleines Lederetui bei sich. etwa halb so groß wie ein Reisenecessaire, in dem sich ein paar einfache Einbrecherwerkzeuge befanden. Er machte sich nicht die Mühe, diese Instrumente näher zu inspizieren. Vielleicht würde er sie gar nicht brauchen, weil eine Menge Leute in bezug auf die Sicherheit ihrer Häuser erstaunlich lasch waren und Türen und Fenster nachts unversperrt ließen, gerade so als glaubten sie, in einem Quäkerdorf des neunzehnten Jahrhunderts zu leben.

Um elf Uhr vierzig beugte er sich zwischen den Sitzen hindurch nach vorne und schaute durch die Seitenfenster zum Haus hinüber. Alle Lichter waren ausgeschaltet. Gut. Sie waren zu Bett gegangen.

Um ihnen Zeit zum Einschlafen zu lassen, setzte er sich wieder in den hinteren Teil des Lieferwagens, aß einen Schokoladenriegel auf und dachte darüber nach, wie er einen Teil der erheblichen Honorare ausgeben würde, die er seit heute morgen verdient hatte.

Er wünschte sich schon seit einiger Zeit einen Power-Ski,eine jener raffinierten Maschinen, die es möglich machten, ohne Boot Wasserski zu laufen. Er liebte das Meer. Etwas an der See übte ungeheure Anziehungskraft auf ihn aus; er fühlte sich in den Fluten zu Hause, erlebte alles doppelt intensiv, wenn er sich im Gleichklang mit dahinrollenden großen dunklen Wassermassen fortbewegte. Er fand großes Vergnügen am Tauchen. Segeln und Surfen. Als Teenager hatte er mehr Zeit am Strand verbracht als in der Schule. Auch jetzt holte er gelegentlich sein Surfbrett hervor, wenn die Brandung stark war. Aber er war achtundzwanzig, und Surfen war ihm heute ein eher zahmes Vergnügen. Er ließ sich nicht mehr so leicht begeistern wie früher einmal. Heutzutage liebte er Schnelligkeit. Er malte sich aus, wie er auf dem neuen Power-Ski über die schieferfarbene See fegte, vom Wind getrieben, durchgerüttelt von der nicht abreißenden Reihe hereinkommender Brecher auf dem Pazifik reitend wie ein Rodeo-Cowboy, der einen Bronco einritt...

Fünfzehn Minuten nach Mitternacht stieg er aus dem Lieferwagen. Er steckte die Pistole in den Hosenbund und ging quer über die verlassene, stille Straße zum Hudston-Haus. Er betrat das Anwesen durch ein unversperrtes hölzernes Tor und kam an eine Seitenterrasse, die nur vom Mondlicht erhellt wurde, das durch die Blätter eines riesigen Korallenbaumes drang.

Er blieb stehen, um ein Paar dünne Lederhandschuhe überzustreifen.

Das Mondlicht spiegelte sich in einer Schiebetür aus Glas, die die Terrasse mit dem Wohnzimmer verband. Sie war abgeschlossen. Im Licht einer Taschenlampe, die er aus dem Futteral mit Einbrecherwerkzeugen holte, zeigte sich, daß eine hölzerne Stange in der Innenschiene der Tür lag, um zu verhindern, daß man sie gewaltsam öffnete.

Die Hudstons waren sicherheitsbewußter als die meisten Leute, aber das störte Vince nicht. Er befestigte einen kleinen Gummisaugnapf am Glas, schnitt in der Nähe des Türgriffs mit einem Diamantschneider einen Kreis in die Scheibe und entfernte das ausgeschnittene Stück lautlo s mit dem Saugnapf. Dann griff er durch das Loch und löste die Verriegelung. Er schnitt in Bodennähe einen weiteren Kreis, griff hinein, entfernte die Holzstange aus der Schiene und schob sie unter den zugezogenen Gardinen in den Raum dahinter.

Um Hunde brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Die Frau mit der sinnlichen Stimme hatte ihm gesagt, die Hudstons besäßen keine Haustiere. Einer der Gründe, weshalb er so gerne für gerade diese Auftraggeber arbeitete: Ihre Informationen waren stets ausführlich und exakt.

Lautlos die Tür zur Seite schiebend, schlüpfte er zwischen den zugezogenen Gardinen ins dunkle Wohnzimmer. Er blieb einen Augenblick lang stehen; wartete, bis seine Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten, lauschte. Das Haus war still wie ein Grab.

Das Zimmer des Jungen fand er als erstes. Der grüne Schein der Leuchtziffern auf einem Uhrenradio spendete etwas Helle. Der Halbwüchsige lag auf der Seite und schnarchte leise. Sechzehn. Sehr jung. Vince mochte es, wenn sie sehr jung waren.

Er ging um das Bett herum und kauerte sich an der Längsseite nieder, so daß sein Gesicht sich dicht vor dem des Schläfers befand. Mit den Zähnen zog er sich den Handschuh von der linken Hand. Die Pistole in der rechten Hand haltend, drückte er die Mündung von unten gegen das Kinn Der Junge wachte sofort auf.

Vince schlug mit der unbehandschuhten Hana klatschend gegen die Stirn des Jungen und drückte gleichzeitig ab. Die Kugel durchdrang die weiche Unterseite des Kinns des Jungen, durchschlug sein Gaumendach und drang in sein Gehirn ein, was zum sofortigen Tod führte.

Ssssnappp.

Eine mächtige Ladung Lebensenergie schoß aus dem sterbenden Körper in Vince hinein. Es war Energie in so reiner, lebendiger Form, daß er vor Entzücken wimmerte als er spürte, wie sie in ihn hineinströmte.

Eine Weile verharrte er neben dem Bett in seiner knienden Lage und wagte nicht, sich zu bewegen. Atemlos. Entrückt. Endlich küßte er im Dunkeln den toten Jungen auf die Lippen und sagte: »Ich nehme an. Danke. Ich nehme an.«

Rasch und lautlos wie eine Katze kroch er durch das Haus und fand schnell das Elternschlafzimmer. Eine weitere Digitaluhr mit grünen Leuchtziffern und der weiche Schein einer Nachtleuchte, der durch die offene Badezimmertür drang, lieferten genügend Licht. Dr. Hudston und seine Frau schliefer beide. Vince tötete die Frau zuerst - Ssssnappp - ohne ihrer Mann zu wecken. Sie schlief nackt, und so legte er, nachdem er ihr Opfer empfangen hatte, den Kopf auf ihre unbedeckter Brüste und lauschte der Stille ihres Herzens. Er küßte ihn Brustwarzen und murmelte: »Danke.«

Als er um das Bett herumging, eine Nachttischlampe anknipste und Dr. Hudston weckte, war der Mann zuerst etwas verwirrt. Bis er die blicklosen, starren Augen seiner Frau sah Dann schrie er und griff nach Vinces Arm, und Vince schlug ihm zweimal den Kolben seiner Pistole über den Schädel.

Vince zerrte den Bewußtlosen, der ebenfalls nackt war, in' Badezimmer. Wieder fand er Heftpflaster, mit dem er dem Arzt die Hand und Fußgelenke fesselte. Er füllte die Wanne mit kaltem Wasser und bugsierte Hudston mit einiger Mühe hinein. Das kalte Bad belebte den Arzt.

Obwohl nackt und gefesselt, versuchte Hudston sich aus dem kalten Wasser hochzustemmen und auf Vince loszugehen.

Vince schlug ihm die Pistole ins Gesicht und drückte ihn in die Wanne zurück.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie?« stieß Hudston hastig hervor, als sein Gesicht aus dem Wasser kam.

»Ich habe Ihre Frau und Ihren Sohn getötet und werde Sie töten.«

Hudstons Augen schienen in der feuchten, teigigen Masse seines Gesichts zu versinken. »Jimmy? Oh, nicht Jimmy. Wirklich nicht!«

»Ihr Junge ist tot«, fuhr Vince beharrlich fort. »Ich hab' ihm das Gehirn aus dem Schädel geblasen.«

Bei der Erwähnung seines Sohnes brach Hudston zusammen. Er vergoß keine Tränen, fing nicht an zu jammern -nichts, was so dramatisch gewesen wäre. Seine Augen waren plötzlich tot, verloren schlagartig jeden Glanz. Ein Licht, das plötzlich ausging. Er starrte Vince an, aber in diesem Blick waren kein Zorn mehr, keine Furcht.

»Sie haben jetzt die Wahl«, sagte Vince. »Sie können leicht sterben oder auf die harte Tour. Sie sagen mir, was ich wissen möchte, und ich lasse Sie leicht sterben, schnell und schmerzlos. Wenn Sie stur sind, kann ich es auf fünf oder sechs Stunden ausdehnen.«

Dr. Hudston starrte nur. Abgesehen von den hellroten Streifen frischen Blutes auf seinem Gesicht war er sehr weiß, naß und von unnatürlicher Blässe, wie irgendein Wesen, das seit ewigen Zeiten in den tiefsten Tiefen der See zu Hause ist. Vince hoffte, der Bursche sei nicht in Katatonie verfallen. »Was ich wissen will, ist, was Sie mit Davis Weatherby und Elisabeth Yarbeck gemeinsam haben.«

Hudston blinzelte, sein Blick kehrte zurück. Seine Stimme war heiser und brüchig. »Davis und Liz? Wovon reden Sie?« »Sie kennen sie?«

Hudston nickte.

»Wie kennen Sie sie? Sind Sie zusammen zur Schule gegangen? Waren Sie einmal Nachbarn?«

Hudston schüttelte den Kopf und sagte: »Wir... wir haben früher einmal bei Banodyne zusammengearbeitet.« »Banodyne - was ist das?«

»Die Banodyne-Labors.«

»Wo ist das?«

»Hier in Orange County«, sagte Hudston und nannte eine Adresse in Irvine.

»Was haben Sie dort gemacht?«

»Forschungsarbeiten. Aber ich bin vor zehn Monaten weggegangen. Weatherby und Yarbeck sind immer noch dort, ich nicht mehr.«

»Was für Forschungsarbeiten?« fragte Vince Hudston zögerte.

Vince sagte: »Schnell und schmerzlos - oder qualvoll und häßlich?«

Der Arzt berichtete ihm von den Forschungsarbeiten, mit denen er bei Banodyne befaßt gewesen war. Das Francis-Projekt. Die Experimente. Die Hunde.

Die Geschichte war unglaublich. Vince ließ Hudston einige Einzelheiten drei- oder viermal wiederholen, ehe er endlich überzeugt war, daß die Geschichte der Wahrheit entsprach. Als Vince sicher war, alles aus dem Mann herausgequetscht zu haben, schoß er Hudston ins Gesicht, direkt und aus nächster Nähe: der schnelle Tod, den er versprochen hatte. Sssnappp.

Als er wieder in seinem Lieferwagen saß und die nachtdunklen Laguna-Hügel hinunterfuhr, das Hudston-Haus hinter sich zurücklassend, dachte Vince über den gefährlichen Schritt nach, den er getan hatte. Gewöhnlich wußte er nichts über seine Zielobjekte; so war das für ihn und seine Auftraggeber am sichersten. Gewöhnlich wollte er nicht wissen, was die armen Teufel getan hatten, um solchen Kummer auf sich zu häufen, weil dieses Wissen ihm Kummer machen würde. Aber das hier war keine gewöhnliche Sache. Er war dafür bezahlt worden, drei Doktoren zu töten - nicht etwa Ärzte, wie sich jetzt herausstellte, sondern Wissenschaftler -, alles angesehene Bürger, und mit ihnen alle Familienmitglieder, die zufällig anwesend waren. Außergewöhnlich. Die Zeitungen von morgen würden nicht genug Raum haben, um alles zu bringen. Etwas Großes war hier im Gange, etwas so Bedeutsames, daß ihm damit vielleicht eine einmalige Chance in die Hand gegeben war: eine Chance auf so viel Geld, daß er beim Zählen Hilfe brauchen würde. An das Geld würde er kommen, wenn er das verbotene Wissen verkaufte, das er Hudston abgepreßt hatte ... falls er rausfand, wer es kaufen wollte. Aber Wissen war nicht nur verkäuflich, es war auch gefährlich. Man brauchte ja nur Adam zu fragen. Oder Eva. Wenn seine jetzigen Auftraggeber, die Dame mit der sinnlichen Stimme und die anderen Leute in L.A., erfuhren, daß er gegen die fundamentalste Regel seines Handwerks verstoßen hatte, wenn sie wüßten, daß er eines seiner Opfer verhört hatte, ehe er es erledigte, würden sie einen Kontrakt mit Vince als Zielobjekt schließen. Und der Jäger würde zum Gejagten werden.

In bezug auf das Sterben machte er sich natürlich keine großen Sorgen. Er hatte zu viel Leben in sich gespeichert. Das Leben anderer Leute. Mehr Leben als zehn Katzen. Er würde ewig leben. Dessen war er ziemlich sicher. Aber... nun, er wußte nicht genau, wie viele Leben er in sich aufnehmen mußte, um sich die Unsterblichkeit zu sichern. Manchmal hatte er das Gefühl, er habe bereits den Zustand der Unüberwindbar-keit, des ewigen Lebens erreicht. Dann wiederum hatte er das Gefühl, immer noch verwundbar zu sein, noch mehr Lebensenergie aufnehmen zu müssen, um den erwünschten Zustand der Gottähnlichkeit zu erlangen. Und bis er außerhalb jeden

Zweifels wußte, daß er auf dem Olymp angekommen war, war es am besten, etwas vorsichtig zu sein.

Banodyne.

Das Francis-Projekt.

Wenn das, was Hudston gesagt hatte, stimmte, würde das Risiko, das Vince jetzt einging, belohnt werden, sobald er den richtigen Käufer für die Information fand. Er würde ein reicher Mann sein.

8

Wes Dalberg lebte seit zehn Jahren allein in einer Steinhütte ganz oben im Holy Jim Canyon am Ostrand des Orange County. Seine einzigen Lichtspender waren Petroleumlampen, das einzige Fließwasser kam aus einer Handpumpe am Küchenausguß. Die Toilette befand sich etwa dreißig Meter hinter der Hütte, in einem freistehenden Aborthäuschen mit einem -wohl als Scherz gedachten - in die Tür geschnitzten Halbmond.

Wes war zweiundvierzig, sah aber älter aus. Sein Gesicht war vom Wind blankgescheuert, von der Sonne gegerbt. Er trug einen sauber gestutzten Bart mit einer Menge weißer Strähnen. Obwohl älter aussehend, hatte er die Konstitution eines Fünfundzwanzigjährigen. Den beneidenswerten Gesundheitszustand schrieb er seinem Leben inmitten der Natur zu.

Am Abend des 18. Mai, eines Dienstags, saß er im silbrigen Licht einer zischenden Petroleumlampe bis ein L'hr morgens am Küchentisch, nippte immer wieder an selbstgemachtem Pflaumenwein und las einen Roman der McGee-Serie von John D. MacDonald. Wes war, wie er das selbst ausdrückte, >ein asozialer Brummbär, der im falschen Jahrhundert zur Welt gekommen ist< und der mit der modernen Gesellschaft wenig anzufangen wußte. Aber über McGee las er gerne, denn McGee schwamm dort draußen in jener chaotischen, häßlichen Welt und ließ nie zu, daß die mörderischen Strömungen ihn forttrugen.

Als er mit dem Buch um ein Uhr fertig war, ging Wes hin-aus, um Holz für seinen Kamin zu holen. Die vom Wind bewegten Zweige der Sykomoren warfen dünne Mondschatten, und die glatten Flächen der raschelnden Blätter leuchteten schwach im fahlen Widerschein des Mondlichts. Kojoten heulten in der Ferne, wahrscheinlich damit beschäftigt, einen Feldhasen oder anderes Kleingetier zu jagen. In der Nähe sangen die Insekten im Gebüsch, und ein kühler Wind seufzte durch das obere Geäst.

Sein Vorrat an Holzscheiten war in einem Anbau gelagert, der die ganze Nordseite seiner Hütte einnahm. Er zog den Bolzen aus dem Schließband der Doppeltür. Er war so vertraut mit der Anordnung der Scheite im Lagerschuppen, daß er im Finstern seine massive Tragmulde aus Blech mit einem halben Dutzend Scheite füllte. Er trug die Tragmulde mit beiden Händen hinaus, stellte sie nieder und drehte sich um, um die Türen zuzumachen.

Jetzt fiel ihm auf, daß die Kojoten und Insekten alle verstummt waren. Nur der Wind besaß noch seine Stimme.

Mit gerunzelter Stirn drehte er sich um und blickte zum finsteren Wald, der die kleine Lichtung umgab, auf der seine Hütte stand.

Etwas knurrte.

Wes musterte mit zusammengekniffenen Augen das nachtdunkle Gehölz, das plötzlich vom Mond weniger beleuchtet schien als noch vor einem Augenblick.

Es war ein tiefes, zorniges Knurren. Nie hatte er in den zehn Jahren, die er hier lebte, in seinen einsamen Nächten Ähnliches vernommen.

Wes war neugierig, sogar etwas besorgt, hatte aber keine Angst. Er stand reglos da und lauschte. Eine Minute verstrich, und er hörte nichts mehr.

Er schloß die Türen des Anbaus, schob dann den Bolzen durch die Öse und nahm die Tragmulde mit den Holzscheiten auf.

Wieder das Knurren. Dann Stille. Und dann das Geräusch von trockenem Strauchwerk und Blättern, knirschend, knisternd, unter Tritten brechend.

Die Art des Geräuschs ließ auf eine Entfernung von vielleicht fünfundzwanzig Metern schließen, ein Stück westlich von dem Abort. Noch im Wald.

Wieder knurrte das Ding, lauter diesmal. Und auch näher. Keine zwanzig Meter entfernt.

Den Verursacher des Geräuschs sah er noch immer nicht.

Der abtrünnige Mond versteckte sich weiterhin hinter einem schmalen, zarten Wolkenband.

Während er auf das dumpfe, kehlige und doch klagende Knurren lauschte, wurde Wes plötzlich unbehaglich zumute. Zum erstenmal in den zehn Jahren, die er jetzt am Holy Jim wohnte, hatte er das Gefühl, sich in Gefahr zu befinden. Den Holzträger auf den Armen, ging er mit schnellen Schritten in Richtung Hinterseite der Hütte und Küchentür.

Das Rascheln von bewegten Zweigen wurde lauter. Das Geschöpf im Gehölz bewegte sich jetzt schneller. Zum Teufel, es rannte.

Wes rannte auch.

Das Knurren steigerte sich zum bösartigen Schnauben: eine gespenstische Mischung aus Lauten, die teils Hund, teils Schwein, teils Puma, teils Mensch und zu einem Teil etwas ganz anderes zu sein schienen. Es war ihm dicht auf den Fersen.

Während er um die Ecke der Hütte hetzte, schwang Wes die Tragmulde und warf sie dorthin, wo er das Tier vermutete. Er hörte die Scheite fliegen und am Boden aufprallen, hörte, wie der Metallträger sich ein paarmal überschlug, aber das Knurren rückte nur näher und wurde lauter, also wußte er, daß er sein Ziel verfehlt hatte.

Er rannte die drei Stufen hinauf, riß die Küchentür auf, trat ein und knallte die Tür hinter sich zu. Er schob den Riegel vor - eine Sicherheitsmaßnahme, die er seit neun Jahren nicht mehr ergriffen hatte, nicht, seitdem er sich an die Ruhe im Canyon gewöhnt hatte.

Er ging durch die Hütte zur vorderen Tür und verriegelte auch diese. Die Heftigkeit, mit der die Furcht ihn überfallen hatte, überraschte ihn. Selbst wenn dort draußen ein bösartiges Tier war - ein tollwütiger Bär vielleicht, der aus den Bergen heruntergekommen war -, konnte es keine Türen öffnen und ihm in die Hütte folgen. Es bestand keine Notwendigkeit, die Riegel vorzuschieben, und doch fühlte er sich jetzt, da er es getan hatte, sicherer. Ein Instinktverhalten war das, und er verstand sich gut genug auf das Leben in der Wildnis, um zu wissen, daß man den Instinkten vertrauen sollte, selbst wenn sie zu scheinbar irrationalem Verhalten führten.

Okay. Er war also in Sicherheit. Kein Tier konnte eine Tür öffnen. Ein Bär sicherlich nicht, und höchstwahrscheinlich war es ein Bär.

Aber es hatte nicht wie ein Bär geklungen. Das war es, was so geisterhaft gewesen war. Es hatte wie nichts von dem geklungen, was in jenen Wäldern zu Hause sein konnte. Er war mit den Lebewesen der Nachbarschaft vertraut, kannte all die Rufe, Schreie und anderen Laute, die sie von sich gaben.

Das einzige Licht im vorderen Zimmer kam vom offenen Kamin, und es reichte nicht, die Schatten aus den Ecken zu vertreiben. Gebilde, die der Flammenschein erzeugte, huschten über die Wände. Zum erstenmal hätte Wes es begrüßt, Elektrizität zu haben.

Er besaß eine Remington-Schrotbüchse, mit der er gelegentlich auf Jagd ging, um Abwechslung auf seinen Speisezettel zu bringen und nicht ausschließlich von im Laden gekauften Lebensmitteln abhängig sein zu müssen. Sie lag auf einem Gestell in der Küche. Er überlegte, ob er die Schrotflinte herunterholen und laden sollte; aber jetzt, wo er sich hinter verschlossenen Türen sicher wußte, begann es ihm peinlich zu werden, daß er in Panik geraten war. Wie ein Greenhorn, weiß Gott. Wie ein fettärschiger Vorstadtbewohner, der beim Anblick einer Feldmaus zu kreischen anfing. Hätte er bloß einen Schrei ausgestoßen und in die Hände geklatscht, er würde das Ding in den Büschen wahrscheinlich verscheucht haben.

Selbst wenn seine Reaktion dem Instinkt angelastet werden konnte, hatte er sich jedenfalls nicht dem Bild entsprechend verhalten, das er sich von sich selbst machte: dem des hartgesottenen Canyonbewohners. Wenn er sich jetzt ohne zwingende Notwendigkeit mit der Flinte bewaffnete, kostete ihn das den Großteil seiner Selbstachtung, die für ihn wichtig war: Denn die einzige Meinung über Wes Dalberg, die bei Wes zählte, war die, die er selbst von sich hatte. Nein, die Schrotflinte blieb in der Küche.

Wes riskierte es, an das große Wohnzimmerfenster zu treten. Jemand, der vor etwa zwanzig Jahren die Hütte von der Forstverwaltung gemietet hatte, hatte diese Änderung vorgenommen; man hatte damals das alte schmale Sprossenfenster ausgebaut, ein größeres Loch in die Wand geschlagen und ein großes Fenster eingesetzt, das aus einer einzigen Scheibe bestand, um den herrlichen Blick auf den Wald genießen zu können.

Ein paar silbrig im Mond glitzernde Wolken tauchten phosphoreszierend vor der samtigen Schwärze des Nachthimmels auf. Mondlicht sprenkelte den Hof, schimmerte auf der Kühlerhaube und der Windschutzscheibe von Wes' CherokeeJeep und zog die schattenhaften Konturen der Bäume nach. Zuerst bewegte sich nichts außer ein paar Zweigen, die leicht im sanften Wind schwankten.

Er beobachtete die Waldszene einige Minuten lang. Da er nichts Außergewöhnliches sah oder hörte, kam er zu dem Schluß, das Tier sei weitergezogen. Beträchtlich erleichtert und mit einem erneuten Gefühl der Verlegenheit, schickte er sich an, vom Fenster wegzugehen - da entdeckte er in der Nähe des Jeeps eine Bewegung. Er kniff die Augen zusammen, sah nichts und blieb ein oder zwei Minuten lang wachsam. Gerade als er zu dem Schluß kam, er habe sich die Bewegung eingebildet, sah er sie wieder; etwas, das hinter dem Jeep hervorkam. Er beugte sich näher ans Fenster.

Etwas rannte quer über den Hof in Richtung Hütte, schnell und flach am Boden. Das Mondlicht, statt zu enthüllen, wer der Feind war, ließ seine Konturen zerfließen und machte ihn nur noch rätselhafter. Das Ding raste auf die Hütte zu. Und dann ganz plötzlich - Herrgott im Himmel! - befand sich das Geschöpf in der Luft, etwas Fremdartiges das geradenwegs durch die Dunkelheit auf ihn zugeflogen kam Wes schrie auf. Im nächsten Augenblick explodierte das große Fenster beim Aufprall der Bestie, und Wes brüllte, aber das Brüllen dauerte nur Augenblicke.

9

Weil Travis nicht viel zu Trinken pflegte, reichten drei Biere aus, um ihn vor Schlaflosigkeit zu bewahren Sekunden nachdem er den Kopf auf das Kissen gelegt hatte war er eingeschlafen. Er träumte, er sei Stallmeister in einem Zirkus, in dem alle auftretenden Tiere sprechen konnten. Nach jeder Vorstellung besuchte er sie in ihren Käfigen, wo jedes Tier ihm ein Geheimnis verriet, das ihn in Erstaunen setzte, obwohl er es gleich wieder vergaß, sobald er zum nächsten Käfig und dem nächsten Geheimnis weiterging.

Um vier Uhr morgens wachte er auf und sah Einstein am Schlafzimmerfenster. Der Hund stand, die Vorderpfoten auf dem Fensterbrett, die Konturen des Kopfes vom Mondlicht nachgezeichnet, und starrte wachsam in die Nacht hinaus.

»Was ist denn. Junge?« fragte Travis.

Einstein warf ihm einen Blick zu und wandte dann seine Aufmerksamkeit wieder der vom Mondlicht überfluteten Nacht zu. Er winselte leise und stellte die Ohren auf.

»Jemand draußen?« fragte Travis, stieg aus dem Bett und schlüpfte in seine Jeans.

Der Hund ließ sich auf alle viere fallen und rannte aus dem Schlafzimmer.

Travis fand ihn an einem anderen Fenster im abgedunkelten Wohnzimmer, jetzt auf dieser Seite des Hauses die Nacht prüfend. Neben dem Hund in die Hocke gehend, legte er ihm eine Hand auf den breiten, pelzigen Rücken und sagte: »Was ist denn los? Hm?«

Einstein preßte die Schnauze gegen das Glas und wimmerte unruhig.

Travis konnte weder auf dem Rasen vor dem Haus noch auf der Straße etwas Bedrohliches sehen. Dann kam ihm plötzlich der Gedanke, und er sagte: »Machst du dir immer noch Sorgen über das, was dich heute morgen im Wald gejagt hat?«

Der Hund schaute ihn ernst an.

»Was war das dort im Wald?« wollte Travis wissen.

Einstein winselte erneut und zitterte.

Bei der Erinnerung an die blanke Angst, die den Retriever

- und auch ihn selbst - in den Santa-Ana-Vorbergen befallen hatte, und an das unheimliche Gefühl, daß da etwas Unnatürliches sie beschlich, fröstelte Travis. Er blickte in die Nacht hinaus. Die spitzen schwarzen Muster der Blätter der Dattelpalme stachen ins fahlgelbe Licht der Straßenlampe. Ein steter Wind jagte kleine Staubwirbel, Blätter und Unrat über das Pflaster, ließ sie sekundenlang fallen, daß sie wie tot liegen-blieben, und erweckte sie dann aufs neue zum Leben. Eine einsame Motte prallte vor Travis und Einstein leise gegen das Fenster, offenbar den Widerschein des Mondes oder der Straßenlampe für eine Flamme haltend.

»Hast du Angst, daß es noch immer hinter dir her ist?« fragte er.

Der Hund wuffte einmal leise.

»Nun, ich denke nicht«, sagte Travis. »Ich glaube, du begreifst nicht ganz, um wieviel weiter im Norden wir sind. Wir bewegten uns auf Rädern, dieses Ding aber hätte zu Fuß folgen müssen, und das schaffte es nicht. Was es auch war, es ist weit hinter uns, Einstein, weit unten im Orange County, und kann nicht wissen, wohin wir gegangen sind. Du brauchst dir seinetwegen keine Sorgen mehr zu machen. Verstehst du?« Einstein stieß Travis' Hand an und leckte sie, als wäre er beruhigt und dankbar. Aber dann sah er wieder zum Fenster hinaus und gab einen kaum hörbaren wimmernden Laut von sich.

Travis mußte ihm zureden, damit er wieder ins Schlafzimmer zurückkehrte. Dort wollte der Hund neben seinem Herrn auf dem Bett liegen, und um das Tier zu beruhigen, protestierte Travis nicht.

Der Wind murmelte und klagte im Dachsims des Bungalows.

Manchmal knisterte es irgendwo im Haus, vertraute mitternächtliche Geräusche von sich dehnendem oder entspannendem Material.

Motorgebrumm, das Flüstern von Reifen, ein Wagen rollte auf der Straße vorbei.

Erschöpft von den seelischen wie auch körperlichen Anstrengungen des Tages, war Travis bald eingeschlafen.

Gegen Morgen, in halbwachem Zustand, gewahrte er, daß Einstein wieder am Schlafzimmerfenster war und Wache hielt. Er murmelte den Namen des Retrievers und klopfte müde auf die Matratze. Aber Einstein blieb auf Wache, und Travis döste wieder ein.

VIER

1

Am Tag nach ihrer Begegnung mit Art Streck unternahm Nora Devon einen langen Spaziergang; sie hatte sich vorgenommen, Teile der Stadt zu erkunden, die sie nie zuvor gesehen hatte.

Mit Violet hatte sie einmal die Woche kurze Spaziergänge gemacht. Seit dem Tod der alten Frau ging Nora immer noch aus, wenn auch nicht mehr so oft, entfernte sich dabei aber nie weiter von ihrem Haus als sechs oder acht Blocks. Heute wollte sie viel weiter gehen. Dies sollte der erste kleine Schritt sein auf dem langen Weg zu Freiheit und Selbstachtung.

Ehe sie aufbrach, überlegte sie, ob sie später in irgendeinem Restaurant einen kleinen Lunch einnehmen sollte. Aber sie war noch nie in einem Restaurant gewesen. Die Aussicht darauf, sich mit einem Kellner auseinanderzusetzen und in Gesellschaft Fremder speisen zu müssen, erfüllte sie mit Furcht. Also gab sie statt dessen einen Apfel, eine Orange und zwei Haferflockenplätzchen in eine kleine Papiertüte. Sie würde allein zu Mittag essen, irgendwo in einem Park. Selbst das war für sie noch revolutionär. Schön eins nach dem anderen.

Der Himmel war wolkenlos, die Luft warm. Im lebendigen frischen Grün sahen die Bäume wie neu aus, regten sich in einer Brise, die gerade kräftig genug war, den heißen Strahlen der Sonne etwas von ihrer Schärfe zu nehmen.

Während Nora an gepflegten Häusern entlangschlenderte, die meisten von ihnen im spanischen Architekturstil erbaut, schaute sie mit neuer Wißbegierde nach Türen und Fenstern, dabei überlegend, wer wohl die Leute waren, die dahinter wohnten. Waren sie glücklich? Traurig? Verliebt? Welche Art von Musik, welche Bücher liebten sie? Welches Essen? Planten sie Ferien in exotischen Ländern, Abende im Theater, Besuche in Nachtclubs?

Früher hatte sie nie über diese Menschen nachgedacht, weil sie wußte, deren Leben und das ihre würden sich nie kreuzen.

Über sie nachzudenken wäre Zeitvergeudung gewesen. Aber jetzt...

Wenn sie anderen Fußgängern begegnete, hielt sie den Kopf gesenkt und wandte das Gesicht ab, wie sie das früher immer getan hatte. Aber nach einer Weile fand sie die Courage, einige von ihnen anzusehen. Sie war überrascht, als viele ihr zulächelten und »Hallo« sagten. Und nach einer Weile hörte sie sich zu ihrer noch größeren Überraschung sogar den Gruß erwidern.

Als sie das Gerichtsgebäude erreichte, blieb sie stehen, um die gelben Yucca-Blüten und die fetten roten Bougainvilleen zu bewundern, die an der rauh verputzten Mauer emporkletterten und sich oberhalb eines der hohen Fenster durch das kunstvoll geschmiedete Eisengitter wanden.

An der 1815 erbauten Mission von Santa Barbara blieb sie am Fuße der Eingangstreppe stehen und betrachtete die hübsche Fassade der alten Kirche. Dann schlenderte sie durch den Hof mit seinem heiligen Garten und bestieg schließlich den westlichen Glockenturm.

Langsam begann sie zu begreifen, weshalb Santa Barbara in einigen der vielen Bücher, die sie gelesen hatte, als einer der schönsten Orte der Welt bezeichnet wurde. Fast ihr ganzes Leben hatte sie hier verbracht. Weil sie sich aber mit Violet im Haus verkroch, und wenn sie einmal ausgingen, wenig mehr gesehen hatte als die Spitzen ihrer Schuhe, nahm sie die Stadt jetzt zum erstenmal wahr. Und das erregte und beglückte sie. Um ein Uhr setzte sie sich im Alameda-Park auf eine Bank in der Nähe dreier uralter, riesiger Dattelpalmen mit Blick auf den Teich. Ihre Füße begannen zu schmerzen, aber sie hatte nicht vor, bald nach Hause zurückzukehren. Sie öffnete ihre Tüte und begann ihr Mittagessen mit dem gelben Apfel. Noch nie hatte etwas auch nur annähernd so köstlich geschmeckt. Weil sie Hunger hatte, aß sie gleich darauf die Orange, warf die Schale in die Tüte und war gerade im Begriff, ins erste Haferflockenplätzchen zu beißen, als Art Streck sich neben sie setzte.

»Hallo, Hübsche.«

Er trug nur blaue Turnhosen, Laufschuhe und dicke weiße Wollsocken. Offensichtlich war er nicht gelaufen, denn er schwitzte nicht. Er war muskulös, mit breitem Brustkasten

und tiefgebräunt und wirkte sehr männlich. Seine Kleidung diente einzig und allein dem Zweck, seinen athletischen Körper zur Schau zu stellen, und so wandte Nora sofort die Augen ab.

»Schüchtern?« fragte er.

Sie konnte nicht sprechen, weil der Bissen von dem Haferflockenplätzchen ihr im Mund steckengeblieben war. Sie brachte auch keinen Speichel zuwege. Sie fürchtete zu erstik-ken, wenn sie versuchte, das Plätzchen zu schlucken, aber sie konnte es nicht einfach ausspucken.

»Meine süße, schüchterne Nora«, sagte Streck.

Nach unten blickend, sah sie, wie heftig ihre rechte Hand zitterte. Das Plätzchen zerbröckelte zwischen ihren Fingern zu Krümeln, die auf das Pflaster zwischen ihren Füßen hinunterfielen.

Sie hatte sich gesagt, dieser Spaziergang, der den ganzen Tag dauern sollte, sei ein erster Schritt zur Befreiung, jetzt aber mußte sie sich eingestehen, daß es noch einen anderen Grund gegeben hatte, das Haus zu verlassen: Strecks Annäherungsversuchen aus dem Weg zu gehen. Sie hatte Angst gehabt, zu Hause zu bleiben, Angst, er werde immer wieder anrufen. Jetzt hatte er sie im Freien gefunden, außerhalb des Schutzes ihrer verriegelten Fenster und versperrten Türen.

Und das war noch viel schlimmer als das Telefon, unendlich schlimmer.

»Sieh mich an, Nora!«

»Nein.«

»Sieh mich an!«

Das letzte Stück des sich auflösenden Plätzchens entfiel ihrer rechten Hand.

Streck nahm ihre linke Hand, sie versuchte ihm Widerstand zu leisten, aber er drückte zu, quetschte ihre Fingerknochen zusammen, und so gab sie nach. Er legte ihre Hand mit der Handfläche nach unten auf seinen nackten Schenkel. Sein Fleisch war fest und heiß.

Ihr wurde übel, ihr Herz schlug wie wild, sie wußte nicht, ob sie sich zuerst übergeben oder in Ohnmacht fallen würde. Ihre Hand langsam auf seinem nackten Oberschenkel hin und her schiebend, sagte er: »Ich bin genau das, was du brauchst. Hübsche. Ich kann's dir besorgen.«

Das Haferflockenplätzchen verklebte ihr den Mund, als wäre es aufgequollene Paste. Sie behielt den Kopf unten, hob aber die Augen, um unter gesenkten Wimpern hervorzuschauen. Sie hoffte jemanden in der Nähe zu entdecken, den sie zu Hilfe rufen konnte, aber da waren nur zwei junge Mütter mit ihren kleinen Kindern, und auch die waren zu weit weg, um helfen zu können.

Jetzt nahm Streck ihre Hand von seinem Schenkel und legte sie auf seine nackte Brust. »Hast wohl einen hübschen Spaziergang gemacht, wie?« sagte Streck. »Hat dir die Mission gefallen? Wie? Und waren die Yucca-Blüten am Gerichtsgebäude nicht hübsch?«

Und so ging es in diesem lässigen, selbstzufriedenen Ton weiter. Er erkundigte sich, wie ihr andere Dinge gefallen hätten, und sie erkannte, daß er ihr den ganzen Morgen gefolgt war, in seinem Wagen oder zu Fuß. Sie hatte ihn nicht bemerkt, aber es gab keinen Zweifel, denn er wußte über jede ihrer Bewegungen seit Verlassen des Hauses Bescheid, und das ärgerte und erschreckte sie mehr als alles bisherige.

Sie atmete schnell und kräftig und hatte doch das Gefühl, ersticken zu müssen. In ihren Ohren dröhnte es, und doch konnte sie jedes seiner Worte nur zu deutlich hören. Sie dachte daran, nach ihm zu schlagen, ihm die Augen auszukratzen, und war doch wie gelähmt, nah daran, zuzuschlagen, aber unfähig, es zu tun, von Wut getrieben, zugleich von Furcht geschwächt. Sie wollte schreien, nicht um Hilfe, sondern im Gefühl ihrer Hilflosigkeit.

»Also«, sagte er, »jetzt hast du einen richtigen netten Spaziergang gemacht, im Park hübsch zu Mittag gegessen und bist entspannt. Weißt du, was jetzt nett wäre? Weißt du, womit du diesen Tag krönen kannst. Hübsche? Einen besonderen Tag daraus machen kannst? Wir gehen jetzt zu meinem Wagen, fahren zu deinem Haus, gehen hinauf in dein gelbes Zimmer und steigen in dein Himmelbett... «

Er war in ihrem Schlafzimmer gewesen! Gestern. Als er im Wohnzimmer den Fernseher hätte reparieren sollen, mußte er sich nach oben geschlichen haben, dieser Schweinehund, und hatte den allerpersönlichsten Raum, den sie besaß, durchforscht, ihr Heiligtum betreten und in ihren Habseligkeitcn gewühlt.

»... in dieses riesige alte Bett. Und dann werd' ich dich ausziehen, Honey, nackt ausziehn und dich ficken ...«

Ob ihr plötzlicher Mut aus der schrecklichen Erkenntnis wuchs, daß er ihren Zufluchtsort entweiht hatte, oder daher kam, weil er zum erstenmal in ihrer Gegenwart ein obszönes Wort gebraucht hatte, oder aus beidem, hätte Nora nie sagen können. Aber ihr Kopf fuhr plötzlich in die Höhe, sie schaute ihn durchdringend an und spuckte ihm den Plätzchenklumpen mitten ins Gesicht. Speichelfäden und feuchte Teigmasse klebten an seiner rechten Wange, seinem rechten Auge und der Nase. Haferflockenstücke hingen in seinem Haar und an seiner Stirn. Als sie sah, wie die Wut seine Augen aurblitzen ließ und sein Gesicht verzerrte, spürte Nora eine Aufwallung von Schrecken über das, was sie getan hatte. Gleichzeitig war sie stolz darauf, daß sie imstande gewesen war, lähmende Fesseln zu zerreißen, selbst wenn das, was sie getan hatte, ihr Leid einbringen sollte, selbst wenn Streck zurückschlug,

Und er schlug zurück, schnell und brutal. Er hielt immer noch ihre linke Hand fest, und Nora war außerstande, sich loszureißen. Er drückte zu, wie er das schon einmal getan hatte quetschte ihre Knochen gegeneinander. Es tat weh, Herrgott es tat weh. Aber sie wollte ihm nicht die Genugtuung verschalten, sie weinen zu sehen, war fest entschlossen, weder zu betteln noch zu wimmern. Also biß sie die Zähne zusammen und erduldete den Schmerz. Schweiß trat aus ihrer Kopfhaut, einen Augenblick lang dachte sie, ohnmächtig zu werden.

Aber der Schmerz war nicht das Schlimmste. Am schlimmsten war es, in Strecks erschreckende eisblaue Augen sehen zu müssen. Während er ihre Finger zusammenpreßte, hielt er sie nicht nur mit der Hand fest, sondern auch mit seinem Blick der kalt und unendlich fremd war. Er versuchte sie einzuschüchtern, ihr Angst zu machen, und es funktionierte - weiß Gott, das tat es -, weil sie in ihm einen Wahnsinn sah, dem sie nie gewachsen sein würde.

Als er ihre Verzweiflung sah, die ihm offenbar mehr Vergnügen bereitete als ein Schmerzensschrei, hörte er auf, ihre Hand zu quetschen, ließ sie aber nicht los. »Dafür wirst du mir bezahlen«, sagte er, »dafür, daß du mir ins Gesicht gespuckt hast. Und du wirst es genießen, dafür zu bezahlen.«

Ohne rechte Überzeugung sagte sie: »Ich werde mich bei Ihrem Chef beschweren, und dann verlieren Sie bestimmt Ihren Job.«

Streck lächelte nur. Nora fragte sich, warum er keine Anstalten machte, sich die Plätzchenreste aus dem Gesicht zu wischen. Aber während sie noch darüber nachdachte, wurde ihr der Grund klar: Er würde sie dazu zwingen, es zu tun. Doch vorher sagte er: »Meinen Job verlieren? Aach, ich hab' die Stellung bei Wadlow TV schon aufgegeben. Gestern nachmittag habe ich Schluß gemacht. Um für dich Zeit zu haben, Nora.« Sie senkte die Augen. Sie konnte ihre Furcht nicht verbergen, war so geschüttelt von Furcht, daß sie glaubte, ihre Zähne würden zu klappern anfangen.

»Ich bleib' nie besonders lang in einer Stellung. Ein Mann wie ich, voll Energie, langweilt sich leicht. Ich muß in Bewegung bleiben. Außerdem ist das Leben zu kurz, um es einzig und allein mit Arbeit zu vergeuden, meinst du nicht auch? Also behalt' ich einen Job eine Zeitlang, bis ich etwas Geld gespart habe, und dann lass' ich mich, solang es geht, treiben.

Hier und da stoße ich dabei auf eine Lady wie dich, eine, die mich dringend braucht, eine, die geradezu nach einem Mann wie mir schreit, und dann helf ich ein wenig aus.«

Gib ihm einen Tritt, beiß ihn, kratz ihm die Augen aus, dachte sie.

Sie tat nichts.

Ihre Hand schmerzte dumpf. Der brennende, durchdringende Schmerz von vorhin fiel ihr ein.

Seine Stimme änderte sich, wurde weich, einschmeichelnd, besänftigend, aber das machte ihr noch mehr Angst. »Und ich helf dir aus, Nora. Ich werde für eine Weile bei dir einziehen.

Es wird uns Spaß machen. Du bist meinetwegen noch ein wenig nervös, sicher, das versteh' ich, echt, das versteh' ich. Aber glaub' mir, du brauchst das, Mädchen. Es wird dein ganzes Leben verändern, nichts wird mehr so sein wie früher, und das ist das beste, was dir passieren konnte.«

2

Einstein liebte den Park.

Als Travis ihm die Leine abnahm, trottete der Retriever zum nächsten Blumenbeet - große, gelbe Ringelblumen, umgeben von purpurfarbenen Polyantharosen - und umkreiste es langsam, sichtlich fasziniert. Dann ging er an ein Beet mit spätblühenden Ranunkeln, danach zu einem mit Vergißmeinnicht, und sein Schweif wedelte bei jeder Entdeckung schneller. Es hieß immer, Hunde könnten nur Schwarz und Weiß erkennen, aber Travis hätte nicht wetten mögen, Einstein könne nicht alle Farben sehen. Der Hund beschnüffelte alles - Blumen, Sträucher, Bäume, Steine, Abfalleimer, den Sockel eines Wasserspeiers und jeden Fußbreit Boden, über den er ging -, dabei zweifellos Geruchs>bilder< von Menschen und Hunden aufnehmend, die vorher hier vorbeigekommen waren, Bilder, so klar, wie es für Travis Fotografien gewesen wären.

Während des ganzen Vormittags und auch des frühen Nachmittags hatte der Retriever nichts Außergewöhnliches getan. Tatsächlich war sein Ich-bin-nur-ein-ganz-gewöhnlicher-dummer-Hund-Verhalten so überzeugend, daß Travis sich fragte, ob die nahezu menschliche Intelligenz des Tieres etwa nur in kurzen Schüben auftrete, ähnlich epileptischen Anfällen. Nach allem, was gestern geschehen war, stand Einsteins Außergewöhnlichkeit, auch wenn sie sich nur selten offenbarte, jedenfalls nicht mehr zur Debatte.

Während sie um den Teich schlenderten, erstarrte Einstein plötzlich, hob den Kopf, stellte seine Schlappohren ein wenig auf und starrte ein Paar an, das etwa zwanzig Meter entfernt auf einer Parkbank saß. Der Mann trug Turnhosen, die Frau ein sackartiges graues Kleid; er hielt ihre Hand, und sie schienen ins Gespräch vertieft.

Travis wollte sich wieder von ihnen abwenden und in die Richtung der weiten Grünflächen gehen, um sie nicht zu stören.

Aber Einstein bellte einmal und rannte geradenwegs auf das Paar zu.

»Einstein! Hierher! Komm sofort zurück!«

Der Hund beachtete ihn nicht, näherte sich dem Paar und begann wütend zu bellen.

Als Travis die beiden erreichte, war der Mann in Turnhosen aufgestanden. Er hielt abwehrend die Arme von sich gestreckt und die Hände geballt, während er sich vorsichtig einen Schritt von dem Retriever zurückzog.

»Einstein!«

Der Retriever hörte zu bellen auf, wich Travis aus, ehe der die Leine wieder an seinem Halsband einhaken konnte, ging zu der Frau auf der Bank und legte seinen Kopf in ihren Schoß. Der Wechsel vom knurrenden Hund zum Schoßhündchen erfolgte so plötzlich, daß alle verblüfft waren.

Travis sagte: »Es tut mir leid. Er hat noch nie ...«

»Herrgott«, sagte der Mann in Turnhosen, »Sie können doch einen bissigen Hund nicht einfach frei im Park herumlaufen lassen!«

»Er ist nicht bissig«, sagte Travis. »Er...«

»Blödsinn«, sagte der Mann so heftig, daß dabei Speichel flog. »Das verdammte Biest hat versucht, mich zu beißen. Sie haben wohl Spaß daran, angezeigt zu werden, oder?«

»Ich weiß nicht, was in ihn gefah ... «

»Schaffen Sie ihn weg von hier! » verlangte der Mann in Turnhosen.

Verlegen nickend wandte Travis sich zu Einstein um und sah, daß die Frau den Retriever auf die Bank gelockt hatte. Einstein saß jetzt neben ihr, die Augen ihr zugewendet, die Vorderpfoten auf ihrem Schoß, und sie streichelte ihn nicht nur, sondern drückte ihn an sich. Die Art und Weise, wie sie sich an ihm festklammerte, sah in der Tat aus, als wäre der Hund eine Art Rettungsanker für sie.

»Sie sollen ihn von hier wegschaffen!« sagte der Mann wütend.

Der Bursche war höher, breiter in den Schultern und hatte größeren Brustkorbumfang als Travis, trat jetzt ein paar Schritte vor, so daß er Travis überragte, um ihn mit seiner überlegenen Größe einzuschüchtern. Seine aggressive Art, sein Blick und Benehmen, die wohl gefährlich aussehen sollten, ließen erkennen, daß er gewohnt war, sich durchzusetzen. Travis verachtete solche Leute.

Einstein drehte den Kopf herum und sah den Mann an, legte die Zähne frei und knurrte tief in der Kehle.

»Hören Sie, Kumpel«, sagte der Mann in Turnhosen ärgerlich. »Sie sind wohl taub, oder wie? Ich hab' gesagt, daß der Hund an die Leine gehört, und ich sehe, daß Sie da eine Leine in der Hand halten. Worauf, zum Teufel, warten Sie also?«

Travis begann zu erkennen, daß hier irgend etwas nicht stimmte. Der rechtschaffene Zorn des Mannes war übertrieben

- so als hätte man ihn bei etwas Ungehörigem ertappt, als versuchte er seine Schuld zu überdecken, indem er sofort in die Offensive überging. Und die Frau benahm sich auch seltsam. Sie hatte kein Wort gesagt. Sie war totenbleich, ihre dünnen Hände zitterten. Wie sie den Hund streichelte und sich an ihn klammerte, war nicht Einstein es, der ihr Angst machte. Travis fragte sich, ob wohl ein Paar so unterschiedlich gekleidet in den Park gehen würde; er in Turnhosen, sie im faden Hauskleid. Er sah, wie die Frau dem Mann verstohlene, verängstigte Blicke zuwarf, und plötzlich wußte er, daß diese beiden nicht zusammengehörten; zumindest nicht nach Ansicht der Frau - und daß der Mann tatsächlich Anlaß zu Schuldgefühlen hatte.

»Miss«, sagte Travis, »ist bei Ihnen alles in Ordnung?« »Natürlich nicht«, sagte der Mann. »Ihr verdammter Hund hat uns angebellt und nach uns geschnappt... «

»Im Augenblick scheint er Sie aber nicht gerade zu terrorisieren«, sagte Travis, suchte den Blick des Mannes und hielt ihn fest.

Er hatte sowas wie Hafermehlteig an der Wange kleben.

Travis sah in einer Tüte, die neben der Frau auf der Bank lag, ein Haferplätzchen und ein zweites, das zwischen ihren Füßen halbzerdrückt auf dem Boden lag. Was, zum Teufel, war hier vorgegangen?

Der Mann in Turnhosen schaute Travis durchdringend an und wollte etwas sagen. Aber dann warf er einen Blick auf die Frau und Einstein und erkannte offenbar, daß seine gespielte Empörung nicht mehr passend war. Mürrisch bemerkte er: »Nun ... jedenfalls sollten Sie den verdammten Köter anhängen.«

»Oh, ich glaube nicht, daß er jetzt jemanden belästigt«, sagte Travis und rollte die Leine ein. »Es war wohl nur eine kleine Entgleisung.«

Immer noch wütend, aber unsicher geworden, blickte der Mann in Turnhosen auf die zusammengekauert dasitzende Frau und sagte: »Nora?«

Sie gab keine Antwort, sondern fuhr fort, Einstein zu streicheln.

»Bis später dann«, meinte er. Und als er keine Antwort bekam, wandte er sich wieder Travis zu, kniff die Augen zusammen und sagte: »Wenn der Hund nach mir schnappen sollte... «

»Das wird er nicht«, unterbrach ihn Travis. »Sie können ruhig Ihren Lauf weitermachen. Er wird Sie nicht belästigen.« Der Mann sah sich mehrere Male nach ihnen um, während er langsam durch den Park auf den nächsten Ausgang zutrabte. Dann war er verschwunden.

Auf der Bank hatte Einstein es sich inzwischen bequem gemacht und der Frau den Kopf in den Schoß gelegt.

»Der hat sich richtig mit Ihnen angefreundet«, sagte Travis.

Sie blickte nicht auf und streichelte Einstein mit einer Hand, während sie meinte: »Wirklich, ein netter Hund.«

»Ich hab' ihn gestern bekommen.«

Sie sagte nichts.

Er nahm am anderen Ende der Bank Platz, so daß Einstein zwischen ihnen lag. »Ich heiße Travis.«

Sie reagierte nicht darauf, sondern kratzte Einstein hinter den Ohren. Der Hund gab einen zufriedenen Laut von sich. »Travis Cornell«, sagte er.

Endlich hob sie den Kopf und sah ihn an. »Nora Devon.« »Freut mich. Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Sie lächelte, blieb aber nervös.

Obwohl sie ihr Haar schlicht und glatt trug und keinerlei Make-up benutzte, war sie recht anziehend. Das Haar war dunkel und glänzend, die Haut makellos, und sie hatte grüne Streifen in den grauen Augen, die in der hellen Maisonne von innen heraus zu strahlen schienen.

Als fühlte sie seinen wohlgefälligen Blick und hätte Angst davor, brach sie sofort den Augenkontakt ab und senkte wieder den Kopf.

»Miss Devon ...«, sagte er, »stimmt etwas nicht?«

Sie sagte nichts.

»Dieser Mann ... hat er Sie belästigt?«

»Es ist schon in Ordnung«, sagte sie.

Mit dem gesenkten Kopf, den tiefhängenden Schultern, als laste ein tonnenschweres Gewicht des Argwohns auf ihr, sah sie so verwundbar aus, daß Travis es nicht fertigbrachte, einfach aufzustehen, wegzugehen und sie mit ihren Problemen alleinzulassen. »Wenn dieser Mann Sie belästigt hat«, meinte er, »denke ich, sollten wir einen Polizisten holen ... «

»Nein«, sagte sie leise und doch eindringlich. Sie machte sich von Einstein los und stand auf.

Der Hund krabbelte von der Bank, stellte sich neben sie und sah sie liebevoll an.

Travis erhob sich ebenfalls und meinte: »Ich will mich natürlich nicht in Ihre Angelegenheiten mischen ...«

Sie ging eilig davon, verließ den Park auf einem anderen Weg als dem, den der Läufer eingeschlagen hatte.

Einstein lief ihr nach, blieb aber, als Travis ihn rief, stehen und kehrte widerstrebend um.

Verwundert sah Travis ihr nach, bis sie verschwunden war.

Ein rätselhaftes, von irgend etwas geplagtes Wesen in einem grauen Kleid, das so formlos und nichtssagend war wie das Gewand einer Mennonitin oder der Angehörigen irgendeiner anderen Sekte. Diese Leute waren bemüht, die weibliche Gestalt in Gewänder zu hüllen, die einen Mann nicht in Versuchung bringen konnten.

Er und Einstein setzten ihren Spaziergang durch den Park fort. Später gingen sie an den Strand, wo der Anblick der wogenden See und der schäumenden Brecher den Retriever sichtlich in Erstaunen versetzte. Er blieb mehrere Male stehen, um ein oder zwei Minuten aufs Meer hinauszustarren, und tobte dann vergnügt in der Brandung herum. Später, als sie wieder zu Hause waren, versuchte Travis Einstein an den Büchern zu interessieren, die ihn letzten Abend so in Erregung versetzt hatten, in der Hoffnung, diesmal herauszufinden, was der Hund dabei zu entdecken hoffte. Einstein beschnüffelte die Bände, die Travis ihm brachte, gelangweilt - und gähnte.

Am Nachmittag drängte sich die Erinnerung an Nora Devon überraschend lebhaft in Travis' Gedanken. Sie brauchte keine auffallende Kleidung, um das Interesse eines Mannes zu wek-ken. Dieses Gesicht und die grüngesprenkelten Augen reichten schon.

3

Nach nur wenigen Stunden Schlaf nahm Vincent Nasco eine frühe Maschine nach Acapulco. Er bezog ein Zimmer in einem riesigen Hotel an der Bucht, einem glitzernden, aber seelenlosen Hochbau, der zur Gänze aus Glas, Beton und Terrazzo bestand. Er zog luftige weiße Baumwollhosen, weiße Leinenschuhe und ein hellblaues Ban-Lon-Hemd an und machte sich auf die Suche nach Dr. Lawton Haines.

Haines machte in Acapulco Ferien. Er war neununddreißig Jahre alt, einen Meter siebenundsiebzig groß, wog zweiundsiebzig Kilo, hatte schwer zu bändigendes dunkelbraunes Haar und sollte angeblich wie Al Pacino aussehen, wenn man davon absah, daß er ein rotes Muttermal von der Größe einer Halb-Dollar-Münze auf der Stirn hatte. Er kam mindestens zweimal im Jahr nach Acapulco, wohnte immer im eleganten Hotel Las Brisas an der Anhöhe östlich der Bucht und speiste zu Mittag mit Vorliebe ausgedehnt in einem Restaurant neben dem Hotel Caleta, das er wegen seiner Margaritas und seinem Ausblick auf die Playa de Caleta bevorzugte.

Zwanzig nach zwölf saß Vince in einem mit bequemen gelb und grün gemusterten Kissen ausgestatteten Rohrstuhl an einem fensterseitigen Tisch jenes Restaurants. Er hatte Haines gleich beim Betreten des Lokals entdeckt. Der Doktor saß an einem anderen Fenstertisch, drei Tische von Vince entfernt und durch eine Topfpalme etwas abgeschirmt. Er befand sich in Gesellschaft einer fantastisch aussehenden Blondine, und sie aßen Garnelen und tranken Margaritas. Sie trug weiße Hosen und ein buntgestreiftes Oberteil, und die Hälfte der Männer im Lokal starrte sie an.

Vince fand, Haines sehe eher wie Dustin Hoffman als wie AI Pacino aus. Er hatte die scharfen Züge Hoffmans, inklusive der Nase, und war im übrigen genau so, wie man ihn beschrieben hatte. Der Typ trug rosafarbene Baumwollhosen, ein hellgelbes Hemd und weiße Sandalen, eine Aufmachung, die nach Vinces Ansicht selbst für diese Breiten etwas extrem war. Vince nahm Albondigasuppe, Enchiladas aus Meeresfrüchten in Salsa Verde und eine alkoholfreie Margarita zu sich und bezahlte seine Rechnung, als Haines und die Blondine sich zum Gehen anschickten.

Die Blondine fuhr einen roten Porsche. Vince folgte ihnen in einem gemieteten Ford mit zu vielen Meilen auf dem Buckel, der klapperte wie das Schlagzeug einer Mariachi-Kapelle und dessen Fußmatte süßlich nach Schimmel roch.

Am Las Brisas setzte die Blondine Haines am Parkplatz ab, fuhr allerdings erst weiter, nachdem sie wenigstens fünf Minuten neben ihrem Wagen stehend einander im hellen Tageslicht, jeder die Hände am Popo des anderen, geküßt hatten.

Vince war angewidert. Er hatte erwartet, Haines würde mehr Gefühl für Anstand haben. Der Mann war schließlich Akademiker. Wenn sich schon gebildete Leute nicht gemäß den überlieferten Verhaltensnormen benahmen, wer dann sollte es tun? Brachte man den Leuten heutzutage auf den Universitäten keine Manieren mehr bei? Kein Wunder, wenn die Welt mit jedem Jahr roher und unflätiger wurde.

Die Blonde fuhr in ihrem Porsche davon, und Haines verließ den Parkplatz in einem weißen Mercedes 560 SL Sportcoupe.

Es war bestimmt kein Mietwagen, und Vince fragte sich, wo der Doktor ihn herhatte.

Haines überließ den Wagen vor einem anderen Hotel dem Parkwächter, und Vince tat es ihm gleich. Er folgte dem Doktor durch die Hotelhalle zum Strand, wo es zunächst den Anschein hatte, als stünde ihnen beiden ein ereignisloser Spaziergang am Ufer bevor. Aber Haines ließ sich neben einem fantastisch aussehenden mexikanischen Mädchen in einem Bänder-Bikini nieder. Sie war dunkel, herrlich proportioniert und um fünfzehn Jahre jünger als der Doktor. Sie nahm auf einer Liege ein Sonnenbad und hatte die Augen geschlossen. Haines küßte sie auf den Hals und erschreckte sie damit. Of fensichtlich kannte sie ihn, denn sie schlang lachend die Arme um ihn.

Vince ging ein Stück den Strand hinunter, kehrte dann um und setzte sich hinter Haines und dem Mädchen in den Sand. Nur ein sonnenbadendes Paar befand sich zwischen ihm und den beiden. Daß Haines ihn bemerken könnte, befürchtete er nicht. Der Doktor schien nur für auserlesene weibliche Anatomie Augen zu haben. Zudem besaß Vince Nasco trotz seiner Größe die besondere Gabe, eins zu werden mit dem Hintergrund.

Draußen in der Bucht ließ sich ein Tourist, hinter einem Motorboot hoch oben an einem Fallschirm hängend, durch die Lüfte ziehen. Die Sonne fiel gleich einem nicht endenden Regen goldener Dublonen auf den Sand und die See.

Nach zwanzig Minuten küßte Haines das Mädchen auf die Lippen und den Ansatz ihrer Brüste und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Das Mädchen rief ihm nach: »Heute abend um sechs!« Und Haines sagte: »Ich werde da sein.«

Nun begannen Haines und Vince mit einer kleinen Vergnügungsfahrt. Zuerst dachte Vince, Haines habe ein bestimmtes Ziel im Sinn, aber nach einer Weile hatte es den Anschein, daß sie einfach ziellos auf der Küstenstraße dahinrollten und die Szenerie genossen. Sie fuhren am Revolcadero Beach vorbei, und es ging weiter, Haines in seinem weißen Mercedes, Vince so weit hinter ihm, wie er das in seinem Ford wagen durfte. Schließlich erreichten sie einen Aussichtspunkt, wo Haines von der Straße seitlich abschwenkte und neben einem Wagen parkte, dem soeben vier grellbunt gekleidete Touristen entstiegen. Vince parkte ebenfalls und ging zum Schutzgitter am Rand des Steilabbruchs, von wo aus man einen wahrhaft grandiosen Blick auf die Küste und auf die Wellen hatte, die sich mehr als dreißig Meter tief unten donnernd am felsigen Ufer brachen.

Die Touristen in den Papageienhemden und gestreiften Hosen hatten ihrem Entzücken über den Ausblick zur Genüge freien Lauf gelassen, schossen ihre letzten Fotos, entledigten sich ihrer letzten Abfälle und zogen weiter, Vince und Haines allein an der Klippe zurücklassend. Der einzige Verkehr auf der Straße war ein näher kommender schwarzer TransAm. Vince wartete darauf, daß der Wagen vorbeifuhr. Anschließend würde er Haines überraschen.

Aber statt vorbeizufahren, schwenkte der TransAm von der Straße ab und parkte neben Haines' Mercedes. Ein großartig aussehendes, etwa fünfundzwanzigjähriges Mädchen stieg aus. Sie eilte auf Haines zu. Sie sah wie eine Mexikanerin aus, aber mit einem Quentchen chinesischen Blutes, sehr exotisch. Sie trug ein weißes Oberteil und weiße Shorts und hatte die aufregendsten Beine, die Vince je gesehen hatte. Sie und Haines gingen ein Stück am Geländer entlang, bis sie reichliche zehn Meter von Vince entfernt standen, worauf sie in einen Clinch gingen, der Vince die Schamröte ins Gesicht trieb. Während der nächsten paar Minuten schob Vince sich am Geländer auf sie zu, wobei er sich hier und da gefährlich weit hinausbeugte und den Hals streckte, um die von Gischt gekrönten Wellen anzustarren, die das Wasser fünf Meter hoch in die Luft schleuderten, dabei gelegentlich »Mann, o Mann!« rufend, wenn ein besonders mächtiger Brecher gegen die schroffen Felsvorsprünge prallte. Die ganze Zeit über war er bemüht, den Eindruck zu erwecken, er bewege sich völlig unabsichtlich in ihre Richtung.

Obwohl sie ihm den Rücken zuwandten, trug die Brise Fetzen ihrer Unterhaltung bis zu ihm her. Die Frau schien in Sorge, ihr Mann könnte erfahren, daß Haines in der Stadt sei, und Haines bedrängte sie, sich wegen morgen abend zu entscheiden. Der Bursche war schamlos.

Jetzt war die Straße wieder frei von Verkehr, und Vince entschied, eine bessere Gelegenheit, Haines festzunageln, werde sich ihm kaum mehr bieten. Er legte die letzten paar Schritte, die ihn von dem Mädchen trennten, zurück, packte sie am Genick und am Gürtel ihrer Shorts, hob sie in die Luft und warf sie über das Geländer. Mit einem Schrei stürzte sie hinunter auf die Felsen.

Das Ganze geschah so schnell, daß Haines keine Zeit hatte zu reagieren. Noch während die Frau in der Luft war, wandte Vince sich dem verblüfften Doktor zu und schlug ihm die Faust ins Gesicht, dann ein zweites Mal, spaltete ihm beide Lippen, brach ihm das Nasenbein und schickte ihn ins Land der Träume.

Als Haines umfiel, schlug die Frau unten auf den Klippen auf, und Vince nahm ihr Geschenk selbst aus dieser Entfernung entgegen: Snnnappp.

Gern hätte er sich über das Geländer gebeugt, um einen ausgiebigen Blick auf ihren zerschmetterten Leichnam dort unten auf den Felsen zu werfen; aber bedauerlicherweise hatte er keine Zeit zu verlieren. Die Straße würde nicht lange einsam bleiben.

Er schleppte Haines zu seinem Ford zurück und placierte ihn auf den Beifahrersitz, lehnte ihn so gegen die Tür, daß es aussah, als schlafe er friedlich. Er vergewisserte sich, daß der Kopf des Mannes so nach hinten geneigt war, daß das Blut aus der Nase durch die Kehle abfließen konnte.

Vince verließ die Küstenstraße, die für eine so wichtige Straßenverbindung recht kurvig und gelegentlich in ziemlich schlechtem Zustand war, und folgte einer Reihe nicht asphaltierter Straßen, von denen jede folgende enger und holpriger war als die vorangegangene, bog von gekiesten Straßen in Feldwege ab und drang so immer tiefer in den Regenwald ein, bis er schließlich an einer grünen Wand aus riesigen Bäumen und üppigem Buschwerk zum Halten kam. Zweimal während der Fahrt hatte Haines sich angeschickt, wieder zu Bewußtsein zu kommen; aber Vince hatte den Doktor jedesmal zum Schweigen gebracht, indem er seinen Kopf gegen das Armaturenbrett schmetterte.

Jetzt zerrte er den bewußtlosen Mann aus dem Ford durch eine Lücke im Gebüsch hinein unter die Bäume, bis er eine schattige Lichtung fand, deren Boden von haarigem Moos bedeckt war. Die kreischenden, trillernden Vögel verstummten; unbekannte Tiere mit eigenartigen Stimmen entfernten sich durchs Unterholz. Große Insekten, darunter ein Käfer, fast so groß wie Vinces Hand, huschten davon, Echsen liefen die Baumstämme hinauf.

Vince kehrte zum Ford zurück, wo im Kofferraum einiges lag, was für ein Verhör nötig war: ein Päckchen mit Injektionsspritzen und zwei Ampullen Natrium-Pentothal; ein mit Bleikugeln beschwerter lederner Totschläger; ein an die Hände anzuschließendes Elektrisiergerät, Taser genannt, das wie die Fernbedienung eines Fernsehers aussah. Schließlich noch ein Korkenzieher mit Holzgriff.

Lawton Haines war noch immer bewußtlos, als Vince auf die Lichtung zurückkehrte. Sein Atem rasselte durch die eingeschlagene Nase.

Haines sollte seit vierundzwanzig Stunden tot sein. Die Leute, die Vince gestern für drei Jobs engagiert hatten, hatten einen seiner Berufskollegen einsetzen wollen, der in Acapulco lebte und in ganz Mexiko operierte. Aber der Typ war gestern früh gestorben, weil ein langerwartetes Luftpostpäckchen von Fortnum & Mason in London überraschenderweise anstatt eines Sortiments von Gelees und Konfitüren zwei Pfund Plastiksprengstoff enthalten hatte. In ihrer Not hatte die Organisation in Los Angeles Vince den Auftrag gegeben, obwohl ihn das gefährlich an die Grenze der Überarbeitung brachte. Es war für ihn die große Chance, denn er war überzeugt, daß auch dieser Doktor mit Banodyne Laboratories in Verbindung stand und ihm daher weitere Einzelheiten über das FrancisProjekt würde liefern können.

Jetzt erforschte Vince den Regenwald rings um die Lichtungen, wo Haines lag, und fand einen umgestürzten Baum, von dem er ein loses, leicht gebogenes Stück Borke nehmen konnte, das sich als Schöpfer eignen würde. Er fand einen von Algen durchzogenen kleinen Wasserlauf und schöpfte fast einen Liter Wasser in das Behelfsgefäß. Das Zeug sah faulig aus und wimmelte wahrscheinlich von allen möglichen exotischen Bakterien. Aber zu diesem Zeitpunkt war die Gefahr, Haines könnte sich irgendeine Krankheit zuziehen, für diesen bereits ohne Belang.

Vince schüttete Haines den ersten Schöpfer Wasser ins Gesicht. Eine Minute darauf kam er mit einem zweiten, den er den Doktor auszutrinken zwang. Nach viel Prusten, Würgen und nachdem er sich übergeben mußte, hatte Haines endlich einen genügend klaren Kopf, um zu verstehen, was man zu ihm sagte, und darauf auch verständlich zu antworten.

Vince zeigte Haines der Reihe nach den Totschläger, den Ta-ser und den Korkenzieher und erklärte, wie er die einzelnen Geräte einsetzen würde, falls Haines unkooperativ sein sollte. Der Doktor - Gehirnphysiologe nach eigener Aussage - ließ keinen Zweifel offen, daß seine Intelligenz stärker ausgeprägt war als sein Patriotismus, und enthüllte eifrig jedes Detail des streng geheimen Militärprojekts, an dem er bei Banodyne arbeitete.

Als Haines schwor, daß es jetzt nichts mehr zu sagen gäbe, bereitete Vince das Natrium-Pentothal vor. Als er die Injektionsspritze aufzog, sagte er im Gesprächston: »Doktor, wie ist das eigentlich mit Ihnen und den Frauen?«

Haines, der mit den Armen am Körper im Moos lag, genau so, wie Vince es ihm befohlen hatte, schaffte es nicht, sich auf den plötzlichen Themawechsel einzustellen. In Verwirrung kamen seine Lider in rasche Bewegung.

»Ich verfolge Sie jetzt seit dem Mittagessen und weiß, daß Sie in Acapulco drei davon an der Leine haben ...«

»Vier«, sagte Haines, und trotz des Schreckens, der ihm im Magen saß, kam dabei ein Hauch von Stolz zum Vorschein. »Dieser Mercedes, den ich fahre, gehört Giselle, der süßesten Kleinen... «

»Sie benutzen den Wagen einer Frau, um sie mit drei anderen zu betrügen?«

Haines nickte, versuchte ein Lächeln, zuckte aber zusammen, als neue Schmerzwellen durch seine eingedroschene Nase jagten. »Das war immer... meine Methode bei den Ladys.« »Um Himmels willen!« Vince war erschüttert. »Ist Ihnen nicht klar, daß wir nicht mehr die sechziger oder siebziger Jahre haben? Die freie Liebe ist tot. Die hat jetzt einen hohen Preis, einen sehr hohen. Haben Sie noch nichts von Herpes oder AIDS und all dem Zeug gehört?« Während er ihm die Spritze mit dem Pentothal verabreichte, sagte er: »Sie haben bestimmt jede Geschlechtskrankheit, die der Mensch kennt.« Haines blinzelte ihn blöde an, wirkte zuerst verblüfft und sank dann in tiefen Pentothal schlaf. Unter dem Einfluß der Droge bestätigte er Vince alles, was er ihm bereits über Bano-dyne und das Francis-Projekt gesagt hatte.

Als die Wirkung des Mittels nachließ, schloß Vince den Ta-ser an, nur so, zum Spaß, bis die Batterien verbraucht waren. Der Wissenschaftler zuckte und schlug aus wie ein halbzerdrückter Wasserkäfer und wühlte Absätze, Kopf und Hände tief ins Moos.

Als der Taser nicht mehr zu gebrauchen war, schlug Vince Haines mit dem Totschläger bewußtlos und tötete ihn dann, indem er den Korkenzieher zwischen zwei Rippen ansetzte und schräg in das schlagende Herz bohrte.

Ssssnappp.

Grabesstille hing über dem Regenwald, und doch fühlte Vince, wie tausend Augen ihn beobachteten, die Augen wilder Geschöpfe. Und er glaubte, daß die verborgenen Beobachter billigten, was er Haines angetan hatte, weil die Art und Weise, wie der Wissenschaftler lebte, ihn zu einer Beleidigung für die natürliche Ordnung der Dinge machten - jener natürlichen Ordnung, der alle Geschöpfe des Dschungels gehorchten.

Er sagte »Danke!« zu Haines, küßte den Mann aber nicht, weder auf den Mund noch auf die Stirn. Haines' Lebensenergie war ebenso belebend und willkommen wie die irgendeines anderen Opfers, aber sein Körper und sein Geist waren unrein.

4

Nora ging vom Park auf dem kürzesten Wege nach Hause. Die Abenteuerstimmung und das Gefühl der Freiheit, die den Morgen und den frühen Nachmittag in bunte Farben getaucht hatten, ließen sich nicht wieder einfangen. Streck hatte den Tag beschmutzt.

Nachdem sie die Haustür hinter sich zugemacht hatte, versperrte sie das gewöhnliche Schloß, schob den Riegel vor und hängte die Sicherheitskette ein. Dann ging sie durch die Zimmer im Erdgeschoß und zog an sämtlichen Fenstern die Gardinen zu, damit Arthur Streck, falls er kommen und um das Haus streichen sollte, nicht hereinsehen könne. Aber die Dunkelheit, die dadurch entstand, war ihr unerträglich, deshalb schaltete sie in jedem Zimmer jede Lampe ein. In der Küche ließ sie die Jalousien herunter und überprüfte auch das Schloß an der hinteren Tür.

Ihre Begegnung mit Streck hatte sie nicht nur in Schrecken versetzt, sondern in ihr auch das Gefühl hinterlassen, schmutzig zu sein. Sie wünschte sich jetzt mehr als alles andere eine lange, heiße Dusche.

Aber ihre Beine waren plötzlich zitterig und schwach, und ein Schwindelanfall überkam sie. Sie mußte sich am Küchentisch festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Wenn sie jetzt versuchte, die Treppe ins Obergeschoß hinaufzugehen, würde sie fallen, das wußte sie; also setzte sie sich, verschränkte die Arme auf dem Tisch, legte den Kopf darauf und wartete, bis sie sich besser fühlte.

Als der ärgste Schwindel vorüber war, erinnerte sie sich an die Flasche Cognac in der Anrichte neben dem Kühlschrank und fand, daß ein Schluck davon ihr jetzt guttun würde. Sie hatte den Cognac, einen Remy Martin, gekauft, nachdem Violet gestorben war, weil Violet keinerlei alkoholische Getränke duldete, die stärker waren als leicht vergorener Apfelmost. In einem Akt des Aufbegehrens hatte Nora sich ein Glas Cognac eingeschenkt, als sie vom Begräbnis ihrer Tante nach Hause kam. Sie hatte kein Vergnügen daran gehabt und den größten Teil davon in den Ausguß geschüttet. Aber jetzt schien es, als würde ein Schluck ihr helfen, das Zittern loszuwerden.

Zuerst ging sie an den Ausguß und wusch sich die Hände, so heiß sie es ertragen konnte, zuerst mit Seife, dann mit Ivory-Spülmittel, um jede Spur von Streck wegzuschrubben. Als sie fertig war, waren ihre Hände rot und wundgerieben.

Sie nahm die Cognacflasche und ein Glas mit zum Tisch.

Sie hatte Romane gelesen, in denen sich die Akteure mit einer Flasche Schnaps und ihrer Verzweiflung hinsetzten, fest entschlossen, erstere zu benutzen, um letztere wegzuspülen. Für die Romanfiguren funktionierte das manchmal, also würde es vielleicht auch bei ihr funktionieren. Wenn Cognac ihren Gemütszustand bloß um einen Hauch verbesserte, war sie bereit, die ganze verdammte Flasche auszutrinken.

Aber zur Säuferin war sie nicht geboren. Sie verbrachte die nächsten zwei Stunden damit, an einem einzigen Glas Remy Martin zu nippen.

Wenn sie versuchte, ihre Gedanken von Streck abzuwenden, plagten sie gnadenlos die Erinnerungen an Tante Violet, und wenn sie versuchte, nicht an Violet zu denken, führte sie das gleich wieder zu Streck. Wenn sie sich zwang, beide aus ihrem Bewußtsein zu verdrängen, dachte sie an Travis Cornell, den Mann im Park, und sich mit ihm zu befassen, verschaffte ihr auch keine innere Ruhe. Er hatte nett auf sie gewirkt, sanft, höflich, besorgt, und er hatte es zuwege gebracht, daß Streck sie in Ruhe ließ. Aber wahrscheinlich war er genauso schlimm wie Streck. Ließ man ihm auch nur die geringste Chance, Cornell würde sie ebenso zu nutzen versuchen wie Streck. Tante Violet war ein Tyrann gewesen, krank und verdreht, aber mehr und mehr schien es, daß sie bezüglich der Gefahren des Umgangs mit anderen Leuten recht gehabt hatte.

Aber der Hund. Das war eine andere Geschichte. Vor dem Hund hatte sie sich nicht gefürchtet; auch nicht, als er auf sie zugerannt kam und wie wild bellte. Irgendwie hatte sie gewußt, daß der Retriever - >Einstein< hatte sein Herrchen ihn gerufen - nicht sie anbellte, sondern daß sein Zorn vielmehr Streck galt. Indem sie sich an Einstein klammerte, hatte sie sich sicher gefühlt, beschützt, obwohl Strecks Gestalt immer noch drohend neben ihr aufragte.

Vielleicht sollte sie sich ebenfalls einen Hund anschaffen. Violet hatte die bloße Vorstellung von Haustieren abscheulich gefunden. Aber Violet war tot, für immer tot, und es gab nichts, was Nora daran hindern konnte, einen eigenen Hund zu haben.

Nur...

Nun, sie hatte die seltsame Vorstellung, kein Hund außer Einstein würde ihr das tiefe Gefühl von Sicherheit geben. Zwischen ihr und dem Retriever hatte sofort Einverständnis geherrscht.

Es war natürlich möglich, daß sie dem Hund, weil er sie vor Streck gerettet hatte, Eigenschaften zuschrieb, die er gar nicht besaß. Es lag nahe, daß sie ihn als ihren Retter, ihren tapferen Beschützer ansah. Aber sosehr sie sich auszureden versuchte, daß Einstein nur ein ganz gewöhnlicher Hund sei wie jeder andere, hatte sie doch das Gefühl, er sei etwas Besonderes, und war überzeugt, kein anderer Hund würde ihr das Maß an Schutz und Gesellschaft bieten.

Das Glas Remy Martin, im Laufe zweier Stunden geleert, und die Gedanken an Einstein halfen tatsächlich, ihre Stimmung zu heben. Und was noch wichtiger war: Der Cognac und die Erinnerung an den Hund verhalfen ihr zu soviel Mut, daß sie ans Telefon in der Küche ging, um Travis Cornell anzurufen und ihm anzubieten, seinen Retriever zu kaufen. Schließlich hatte er gesagt, er besitze den Hund erst seit einem Tag. Er konnte sich also noch nicht besonders zu ihm hingezogen fühlen. Vielleicht verkaufte er ihn, wenn ihm der Preis zusagte. Sie blätterte im Telefonbuch, fand Cornells Nummer und wählte sie.

Er meldete sich beim zweiten Klingeln: »Hallo?«

Als sie seine Stimme hörte, wurde ihr klar, daß jeder Versuch, ihm den Hund abzukaufen, ihm einen Hebel verschaffte, sich in ihr Leben zu drängen.

»Hallo?« wiederholte er.

Nora zögerte.

»Hallo? Ist da jemand?«

Sie legte auf, ohne ein Wort zu sagen.

Bevor sie mit Cornell über den Hund sprach, mußte sie sich eine Vorgangsweise überlegen, bei der er nicht auf den Gedanken kam, einen Annäherungsversuch zu machen, für den Fall, daß er tatsächlich so geartet war wie Streck.

5

Als ein paar Minuten vor fünf das Telefon klingelte, war Travis gerade damit beschäftigt, eine Dose Alpo in Einsteins Schüssel zu leeren. Der Retriever beobachtete ihn interessiert, leckte sich die Lefzen, wartete aber; bis die letzten Reste aus der Dose gekratzt waren, um zu zeigen, wie sehr er Zurückhaltung zu üben verstand.

Travis ging ans Telefon, und Einstein machte sich über sein Fressen her. Als sich am anderen Ende niemand meldete, sagte Travis noch einmal Hallo, und der Hund blickte von seiner Schüssel auf. Als Travis noch immer keine Antwort bekam, fragte er, ob jemand in der Leitung sei, was Einstein offensichtlich neugierig machte, denn er trottete durch die Küche und blickte zum Hörer auf, den Travis in der Hand hielt.

Travis legte auf und drehte sich um. Aber Einstein blieb stehen und starrte das an der Wand befestigte Telefon an.

»Wahrscheinlich die falsche Nummer.«

Einstein schaute zuerst ihn, dann wieder das Telefon an.

»Oder Kinder, die sich einen Spaß machen wollten.«

Einstein winselte unglücklich.

»Was ist dir über die Leber gelaufen?«

Einstein stand beim Telefon wie angewurzelt.

Seufzend meinte Travis: »Nun, die Überraschungen, die ich erlebt habe, reichen mir für einen Tag. Wenn du weiter rätselhaft sein willst, dann ohne mich.«

Er wollte sich die Nachrichten ansehen, bevor er das Abendessen bereitete, also holte er ein Diät-Pepsi aus dem Kühlschrank, ging ins Wohnzimmer und ließ den Hund allein zurück, der immer noch vom Telefon fasziniert zu sein schien. Er schaltete den Fernseher ein, setzte sich in den großen Lehnsessel, riß den Verschluß seiner Pepsi-Dose auf und hörte, wie Einstein in der Küche irgendwelches Unheil anrichtete.

»Was machst du denn dort drüben?«

Ein Klirren, ein Klappern. Das Geräusch von Krallen, die an etwas Hartem scharrten. Ein dumpfer Knall, dann noch einer.

»Was du auch anrichtest«, warnte Travis, »du wirst dafür bezahlen müssen. Und wie willst du das Geld verdienen? Vielleicht schick' ich dich nach Alaska, dort kannst du dann als Schlittenhund arbeiten.«

In der Küche wurde es still. Aber nur einen Augenblick lang. Dann neuerlich ein paar dumpfe Geräusche, ein Klappern, ein Rascheln und wieder das Scharren von Krallen.

Travis war jetzt gegen seinen Willen neugierig geworden. Er schaltete mit der Fernbedienung den Ton des Fernsehers aus. Etwas fiel mit einem Knall auf den Küchenboden.

Travis wollte gerade nachsehen, was passiert sei, aber bevor er sich vom Stuhl erhob, tauchte Einstein auf. Der Hund trug das Telefonbuch im Maul. Er mußte ein paarmal an der Küchentheke hochgesprungen sein, wo das Buch lag, mußte mit den Pfoten daran gekratzt haben, bis er es schließlich heruntergeholt hatte. Jetzt trottete er quer durch das Wohnzimmer und ließ das Buch vor dem Lehnsessel fallen.

»Was willst du denn?« fragte Travis.

Der Hund stieß das Telefonbuch mit der Schnauze an und schaute Travis dann erwartungsvoll an.

»Du willst, daß ich jemanden anrufe?«

»Wuff.«

»Wen?«

Wieder stieß Einstein das Telefonbuch an.

Travis sagte: »Also, wen soll ich anrufen? Lassie, Rin Tin Tin, Pluto?«

Der Retriever starrte ihn mit seinen dunklen, gar nicht hundegemäßen Augen an, die jetzt ausdrucksvoller waren denn je, was aber nicht ausreichte, das mitzuteilen, was das Tier mitteilen wollte.

»Hör zu, mag ja sein, daß du meine Gedanken lesen kannst«, sagte Travis, »aber ich nicht die deinen.«

Enttäuscht winselnd trottete der Retriever hinaus und verschwand um die Ecke in den kurzen Flur, der zum Bad und den beiden Schlafzimmern führte.

Travis überlegte, ob er ihm folgen sollte, beschloß dann aber, abzuwarten, was als nächstes geschehen würde.

In weniger als einer Minute kehrte Einstein zurück. Er trug eine goldgerahmte Fotografie im Format 18 x 24 im Maul. Er ließ sie neben dem Telefonbuch fallen. Es war das Bild Paulas, das Travis auf seinem Nachttisch stehen hatte. Es war an ihrem Hochzeitstag aufgenommen worden, zehn Monate vor ihrem Tod. Sie sah sehr schön aus auf dem Bild - und trügerisch gesund.

»Geht nicht. Junge. Die Toten kann man nicht anrufen.« Einstein schnaubte, als wolle er sagen, Travis sei schwer von Begriff. Er ging zu einem Zeitungsständer in der Ecke, stieß ihn um, so daß alle Zeitschriften herunterfielen, und kam mit einer Ausgabe von Times zurück, die er neben das gerahmte Foto fallen ließ. Mit den Vorderpfoten scharrte er an dem Magazin, bis er es offen hatte, und blätterte dann darin herum, wobei ein paar Seiten in Fetzen gingen.

Travis beugte sich in seinem Sessel nach vorn und sah interessiert zu.

Einstein hielt einige Male inne, um die aufgeschlagenen Seiten des Magazins zu studieren, und blätterte dann weiter. Schließlich kam er zu einer Automobilanzeige, die im Vordergrund ein attraktives brünettes Mädchen zeigte. Er blickte zu Travis auf, dann hinunter auf die Anzeige, blickte wieder zu Travis auf und wuffte.

»Das versteh' ich nicht.«

Einstein machte sich erneut über das Magazin her und fand schließlich eine Anzeige mit einer lächelnden Blondine und einer Zigarette. Er schnaubte Travis an.

»Autos und Zigaretten? Du möchtest, daß ich dir einen Wagen kaufe und ein Päckchen Virginia Slims?«

Wieder trottete Einstein zu dem Zeitungsständer und kehrte mit einem Immobilien-Anzeigenblatt zurück, das die Post immer noch jeden Monat brachte, obwohl Travis bereits vor zwei Jahren aus dem Geschäft ausgestiegen war. Jetzt machte sich der Hund darüber her, bis er eine Anzeige fand, die eine hübsche brünette Immobilienmaklerin in einer Century-21-Jacke zeigte.

Travis musterte Paulas Foto, dann die Blondine mit der Zigarette, schließlich die Century-21-Maklerin und erinnerte sich an die andere Anzeige mit der Brünetten und dem Auto und sagte: »Eine Frau? Du möchtest, daß ich ... eine Frau ... anrufe?«

Einstein bellte.

»Wen?«

Einstein griff mit den Zähnen sachte nach Travis' Handgelenk und versuchte ihn aus dem Sessel hochzuziehen.

»Okay, okay, laß los. Ich komm' ja schon.«

Aber Einstein ging kein Risiko ein. Er ließ Travis' Handgelenk nicht los und zwang ihn, halbgebückt durch Wohnzimmer und Eßzimmer in die Küche zu gehen, zum Telefon. Dort ließ er Travis schließlich los.

»Wen?« fragte Travis erneut. Aber plötzlich begriff er. Es gab nur eine einzige Frau, deren Bekanntschaft er und der Hund gemacht hatten. »Doch nicht die Dame, die wir heute in Park kennengelernt haben?«

Einstein begann mit dem Schweif zu wedeln.

»Und du meinst, die hat uns gerade angerufen?«

Der Schweif wedelte schneller.

»Wie willst du wissen, wer es war? Sie hat kein Wort gesagt. Und außerdem - was hast du eigentlich vor? Willst du uns verkuppeln?«

Der Hund wuffte zweimal.

»Nun, hübsch war sie, aber nicht mein Typ, mein Bester. Ein bißchen sonderlich, fandest du nicht auch?«

Einstein bellte ihn an, rannte zur Küchentür und sprang zweimal an ihr hoch, drehte sich zu Travis um und bellte wieder, rannte um den Tisch herum, bellte dabei die ganze Zeit hastete zur Tür, sprang sie wieder an, und mit der Zeit wurde offenkundig, daß ihn irgend etwas in höchstem Grade beunruhigte.

Etwas, das mit der Frau zu tun hatte.

Sie hatte am Nachmittag im Park irgendwie Schwierigkeiten gehabt. Travis erinnerte sich an den widerwärtigen Burschen in Turnhosen. Er hatte der Frau seine Hilfe angeboten, und sie

hatte abgelehnt. Dann hatte sie es sich anders überlegt und ihn vor ein paar Minuten angerufen, nur um festzustellen, daß sie nicht die Courage hatte, ihm ihr Leid zu klagen?

»Und du meinst wirklich, daß sie es ist, die angerufen hat?« Der Schweif fing wieder zu wedeln an.

»Nun ... selbst wenn sie es war, ist es wahrscheinlich nicht klug, sich da in etwas hineinziehen zu lassen.«

Der Retriever sprang ihn an, packte sein rechtes Hosenbein und zerrte wie wild an dem Jeansstoff, so daß Travis fast das Gleichgewicht verlor.

»Schon gut, ist ja schon gut! Ich tu's ja. Bring mir das verdammte Telefonbuch.«

Einstein ließ los und rannte aus der Küche, so schnell, daß er auf dem glatten Linoleum ins Rutschen kam. Im nächsten Augenblick kehrte er mit dem Telefonbuch zwischen den Zähnen zurück.

Erst als Travis das Buch in Empfang nahm, wurde ihm klar, daß er vom Hund erwartet hatte, er werde verstehen, was er ihm auftrug. Die außergewöhnliche Intelligenz und die Fähigkeiten des Tieres nahm Travis jetzt schon als selbstverständlich hin.

Und dann wurde ihm blitzartig klar, daß der Hund ihm das Telefonbuch nicht ins Wohnzimmer gebracht hätte, wenn er nicht verstünde, welchen Zweck ein solches Buch hatte.

»Mein Gott, Pelzgesicht, dein Name paßt wirklich zu dir, oder nicht?«

6

Obwohl Nora gewöhnlich nie vor sieben zu Abend aß, war sie hungrig. Der Spaziergang am Vormittag und das Glas Cognac hatten ihr solchen Appetit gemacht, daß nicht einmal der Gedanke an Streck ihn verderben konnte. Ihr war nicht nach Kochen zumute, also legte sie sich frisches Obst, etwas Käse sowie ein im Backofen aufgewärmtes Croissant auf einen Teller.

Gewöhnlich aß Nora in ihrem Zimmer zu Abend, im Bett, mit einer Zeitschrift oder einem Buch, weil sie sich dort am wohlsten fühlte. Als sie den Teller hinauftragen wollte, klingelte das Telefon.

Streck.

Er mußte es sein. Wer sonst? Sie bekam wenig Anrufe. Sie erstarrte, lauschte auf das Klingeln. Auch nachdem es aufgehört hatte, lehnte sie, von einem Schwächegefühl erfaßt, an der Küchentheke, und wartete, daß es wieder anfinge.

7

Als Nora Devon sich nicht am Telefon meldete, wollte Travis sich den Abendnachrichten im Fernsehen wieder zuwenden. Aber Einstein gab noch immer keine Ruhe. Der Retriever sprang an der Küchentheke hoch, krallte wieder nach dem Telefonbuch, riß es erneut zu Boden, nahm es ins Maul und rannte damit aus der Küche.

Neugierig, was der Hund als nächstes tun würde, folgte Travis ihm und fand ihn, immer noch mit dem Telefonbuch im Maul, an der Haustür wartend.

»Was nun?«

Einstein legte eine Pfote auf die Tür.

»Du willst hinaus?«

Der Hund winselte. Das Telefonbuch, das er im Maul hielt, dämpfte den Ton.

»Was willst du dort draußen mit dem Telefonbuch? Es wohl vergraben wie einen Knochen? Was ist los?«

Obwohl er auf keine seiner Fragen Antwort erhielt, öffnete Travis die Tür und ließ den Retriever hinaus ins goldene Licht der Spätnachmittagssonne. Einstein hetzte geradenwegs zum Pick-up, der in der Einfahrt stand. Er blieb an der Beifahrertür stehen und sah sich mit einem Ausdruck um, den man als Ungeduld deuten könnte.

Travis ging zum Wagen und blickte zum Retriever hinunter.

Er seufzte. »Ich habe den Verdacht, du möchtest irgendwohin, und ich habe außerdem den Verdacht, du denkst dabei nicht ans Büro der Telefongesellschaft.«

Einstein ließ das Telefonbuch fallen, richtete sich auf, legte die Vorderpfote gegen die Wagentür und sah Travis über die Schulter an. Er bellte.

»Du möchtest, daß ich Miss Devons Adresse heraussuche und hinfahre. Ist es das?«

Ein Wuff.

»Tut mir leid«, sagte Travis. »Ich weiß, sie hat dir gefallen, aber ich bin wirklich nicht auf der Suche nach einer Frau. Außerdem ist sie nicht mein Typ. Das hab' ich dir bereits gesagt. Und ich bin auch nicht ihr Typ. Tatsächlich habe ich das Gefühl, daß niemand ihr Typ ist.«

Der Hund bellte.

»Nein.«

Der Hund ließ sich wieder auf alle viere fallen, rannte zu Travis und packte wieder eins der Hosenbeine seiner Jeans. »Nein«, sagte Travis, griff hinunter und packte Einstein am Halsband. »Es hat keinen Sinn, wenn du meine Hosen zerfetzt. Ich werde nicht fahren.«

Einstein ließ los, entwand sich seinem Griff und rannte zu dem langen Beet mit blühenden Vergißmeinnicht, wo er wütend zu graben anfing und dabei zerfetzte Blumen hinter sich auf den Rasen schleuderte.

»Was soll das denn jetzt, um Gottes willen?«

Der Hund fuhr fort, eifrig zu graben, arbeitete sich durch das Beet, vor und zurück, offenbar darauf erpicht, es völlig zu zerstören.

»He, hör auf damit!« Travis wollte den Hund einfangen. Einstein floh ans andere Ende des Vorgartens und fing dort an, ein Loch in den Rasen zu graben.

Travis rannte ihm nach.

Einstein entkam in eine andere Ecke des Rasens, wo er wieder Gras auszureißen begann, dann ging's zum Vogelbad, das er zu unterminieren suchte, schließlich zurück zu den Vergißmeinnicht. Außerstande, den Retriever zu fangen, blieb Travis schließlich nach Atem ringend stehen und schrie: »Genug!« Einstein hörte auf zu graben und hob den Kopf. Vergißmeinnichtreste hingen ihm aus dem Maul.

»Wir fahren«, sagte Travis.

Einstein ließ die Blumen fallen, verließ das ruinierte Beet und kam auf den Rasen - blieb aber äußerst wachsam.

»Keine Tricks«, versprach Travis. »Wenn es dir so viel bedeutet, dann werden wir die Frau aufsuchen. Wenn ich nur wüßte, was ich ihr sagen werde.«

8

Den Teller mit ihrem Abendessen in der einen Hand, eine Flasche Evian in der anderen, ging Nora durch den Flur im Erdgeschoß. Daß in allen Zimmern Licht brannte, empfand sie als beruhigend. Im Obergeschoß angelangt, drückte sie mit dem Ellbogen den Schalter für die Korridorbeleuchtung. Sie würde nächstens eine Menge Glühbirnen bestellen, weil sie vorhatte, in Zukunft Tag und Nacht alle Lichter brennen zu lassen. Diese Kosten nahm sie gern auf sich.

Immer noch vom Cognac in Stimmung gehalten, begann sie leise zu singen, während sie ihrem Zimmer zustrebte: »Moon River, wider than a mile ...«

Sie trat durch die Tür. Streck lag auf dem Bett.

Er grinste und sagte: »Tag, Baby.«

Einen Augenblick lang hielt sie es für eine Halluzination. Aber als er sprach, wußte sie, daß es Wirklichkeit war. Sie schrie auf, der Teller entfiel ihrer Hand, so daß Obst und Käse sich auf den Boden verstreuten.

»Ach, du meine Güte, was du anrichtest«, sagte er, setzte sich auf und schwang die Beine über den Bettrand. Er trug immer noch seine Turnhosen, Socken und Laufschuhe. Nichts sonst. »Aber du brauchst das jetzt nicht sauberzumachen. Zuerst ist da anderes zu erledigen. Ich warte schon die längste Zeit, daß du raufkommst. Dabei hab' ich an dich gedacht... mich auf dich eingestimmt...« Er stand vor ihr. »Und jetzt ist Zeit, dir beizubringen, was du nie gelernt hast.«

Nora war unfähig, sich zu bewegen. Unfähig zu atmen.

Er mußte direkt vom Park zu ihrem Haus gegangen, mußte vor ihr eingetroffen sein. Er hatte sich gewaltsam Zugang verschafft und keine Spur eines Einbruchs hinterlassen, hatte die ganze Zeit, während sie in der Küche Cognac trank, hier auf dem Bett auf sie gewartet. Daß er hier oben wartete, war noch unheimlicher als alles, was er bislang getan hatte - er hatte gewartet, sich am Vorgefühl des Kommenden aufgegeilt, seinen Nervenkitzel daran gehabt, sie unten herumhantieren zu hören, ohne daß sie von seiner Anwesenheit wußte.

Ob er sie töten würde, wenn er mit ihr fertig war?

Sie drehte sich um und rannte hinaus auf den Korridor. Als sie an der Treppe die Hand auf das Geländer legte und hinunterlaufen wollte, hörte sie Streck hinter sich.

Sie hetzte die Treppe hinunter, nahm zwei oder drei Stufen auf einmal, in panischer Angst, sie könnte sich den Knöchel verstauchen und stürzen. Am Treppenabsatz versagte beinahe das Knie ihr den Dienst, sie stolperte, rannte aber weiter, sprang die letzten Stufen ins Erdgeschoß.

Dann packte Streck sie von hinten, riß sie an der Schulterpartie ihres Kleides herum, so daß sie ihn ansehen mußte.

9

Als Travis vor dem Haus Nora Devons an den Randstein heranfuhr, stand Einstein auf dem Vordersitz, die beiden Vorderpfoten auf dem Türgriff, drückte mit seinem ganzen Gewicht hinunter und öffnete die Tür. Wieder so ein Trick. Er sprang aus dem Wagen, preschte den Zugang hinauf, noch ehe Travis die Handbremse gezogen und den Motor abgeschaltet hatte.

Sekunden später erreichte Travis die Treppe zur Veranda, gerade rechtzeitig, um festzustellen, daß sich der Retriever unterm Vordach des Eingangs auf die Hinterbeine erhoben hatte und mit einer Vorderpfote die Klingel betätigte. Man konnte es drinnen läuten hören.

Travis stieg die Stufen hinauf und sagte: »Was, zum Teufel, ist jetzt in dich gefahren?«

Der Hund klingelte erneut.

»Gib ihr doch eine Chance ...«

Als Einstein das dritte Mal den Klingelknopf drückte, hörte Travis einen Mann aus Wut und Schmerz schreien. Dann den Hilferuf einer Frau.

Mit einem ebenso wütenden Bellen wie gestern im Wald scharrte Einstein an der Tür, als glaubte er wirklich, er könnte sich auf die Weise Zugang verschaffen.

Travis preßte das Gesicht an die Tür und spähte durch ein klares Feld im Mosaikfenster. Der Korridor war hell erleuchtet, und er konnte zwei Leute sehen, die nur ein paar Meter von ihm entfernt miteinander rangen.

Einstein bellte, knurrte, drehte langsam durch.

Travis versuchte, die Tür zu öffnen, fand sie versperrt. Er schlug mit dem Ellbogen ein paar der Farbglasscheiben ein, griff hinein, tastete nach dem Schloß, fand es und auch die S-cherheitskette und stand im Flur, als der Kerl in Turnhosen die Frau beiseite stieß und sich zu ihm herumdrehte.

Einstein gab Travis keine Chance zu handeln. Der Retriever jagte durch den Korridor geradenwegs auf den Mann zu.

Der Bursche reagierte so, wie jeder reagiert, wenn ihm ein Hund von der Größe Einsteins anging; Er rannte. Die Frau versuchte ihm ein Bein zu stellen, er stolperte, fiel aber nicht. Am Ende des Korridors stieß er eine Schwingtür auf und verschwand.

Einstein raste an Nora Devon vorbei, erreichte im vollen Lauf die immer noch hin und her schwingende Tür, hatte den Zeitpunkt genau berechnet, denn er schoß durch die Öffnung, als die Tür eben nach innen schwang. Im Raum dahinter -der Küche, nahm Travis an - war Bellen, Knurren und Schreien zu hören. Etwas fiel krachend zu Boden, dann folgte ein noch lauterer Krach. Der Mann fluchte, Einstein gab ein bösartiges Geräusch von sich, daß es Travis eisig über den Rücken lief, und der Lärm wurde noch schlimmer.

Er ging zu Nora Devon. Sie lehnte am Treppengeländer.

»Sind Sie okay?« fragte er.

»Er hätte fast... fast...«

»Aber er hat nicht«, vermutete Travis.

»Nein.«

Er berührte das Blut an ihrem Kinn. »Sie sind verletzt.«

»Sein Blut«, sagte sie, als sie es an Travis' Fingerspitzen sah. »Ich habe den Dreckskerl gebissen.« Sie schaute zur Pendeltür, die jetzt zur Ruhe gekommen war. »Lassen Sie nicht zu, daß er dem Hund weh tut.«

»Höchst unwahrscheinlich«, sagte Travis.

Der Lärm ließ nach, als Travis die Schwingtür aufstieß. Zwei Stühle waren umgefallen. Eine große, blaugeblümte Keramikkeksdose lag in Scherben auf dem Fliesenboden, Hafermehl-plätzchen waren im Raum verteilt, einige ganz, einige zerbrochen, einige zerdrückt. Der Mann saß in einer Ecke, die nackten Beine angewinkelt, die Hände schützend vor der Brust gekreuzt. Einer der Schuhe des Mannes fehlte, Travis vermutete, daß der Hund ihn an sich gebracht hatte. Die rechte Hand des Mannes blutete, anscheinend Nora Devons Werk. Außerdem blutete er an der linken Wade; bei dieser Wunde schien es sich um einen Hundebiß zu handeln. Einstein bewachte ihn, außer Reichweite eines Tritts, aber bereit, sofort zuzuschnappen, falls der Bursche so unvernünftig sein sollte, seinen Platz zu verlassen. »Saubere Arbeit«, sagte Travis, zum Hund gewendet.

»Wirklich, sehr saubere Arbeit.«

Einstein gab einen winselnden Ton von sich, der andeutete, daß er das Lob akzeptierte. Als Streck aber eine Bewegung machte, ging das zufriedene Winseln sofort in ein Knurren über. Einstein schnappte nach dem Mann, der in seine Ecke zurückwich.

»Sie sind erledigt«, sagte Travis zu ihm.

»Er hat mich gebissen! Beide haben mich gebissen.« Beleidigte Wut. Erstaunen. Unglauben. »Mich gebissen.«

Wie viele Schläger, die ihr ganzes Leben lang andere drangsaliert hatten, erschütterte diesen Mann die Entdeckung, daß man auch ihm weh tun, ihn schlagen konnte. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß die Leute immer klein beigaben, wenn man sie genügend terrorisierte und vor ihnen den bösen Mann spielte. Er hatte geglaubt, er könne nie verlieren. Jetzt war er bleich und sah aus, als stünde er unter Schock.

Travis ging ans Telefon und rief die Polizei an.

FÜNF

1

Als Vincent Nasco am Vormittag des 20. Mai von seinem eintägigen Urlaubsaufenthalt in Acapulco zurückkehrte, kaufte er sich am Flughafen von Los Angeles die Times, ehe er den Zubringerbus - sie nannten es zwar eine Limousine, aber es war ein Bus - nach Orange County nahm. Während der Fahrt zu seinem Reihenhaus in Huntington Beach las er die Zeitung und entdeckte auf Seite drei den Bericht über den Brand in den Banodyne Laboratories in Irvine.

Das Feuer war gestern kurz nach sechs Uhr früh ausgebrochen. Vince war eben zum Flughafen unterwegs gewesen, um nach Acapulco zu fliegen. Von den beiden Banodyne-Gebäuden war eines völlig ausgebrannt, ehe es der Feuerwehr gelungen war, die Flammen unter Kontrolle zu bekommen.

Die Leute, die Vince dafür bezahlt hatten, Davis Weatherby, Lawton Haines, die Yarbecks und die Hudstons zu töten, hatten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen Brandstifter eingesetzt, um Banodyne in Flammen aufgehen zu lassen. Sie schienen bemüht zu sein, alle Aufzeichnungen des Francis-Projekts auszutilgen, sowohl jene, die in den Archiven von Banodyne ruhten, als auch jene im Gedächtnis der Wissenschaftler, die an dem Projekt beteiligt gewesen waren.

In dem Bericht war nichts von den Militäraufträgen Banody-nes erwähnt; offensichtlich war dies der Öffentlichkeit nicht zugängliches Wissen. Die Firma wurde als >führend in der Gentechnik, besonders im Hinblick auf die Entwicklung revolutionärer neuer Medikamente auf der Basis der DNS-For-schung< bezeichnet.

Ein Nachtwächter war bei dem Brand ums Leben gekommen. Die Times gab nicht an, weshalb er nicht hatte entkommen können. Vince vermutete, daß die Eindringlinge ihn getötet und anschließend in die Flammen geworfen hatten, um die Mordspuren zu verwischen.

Der Bus setzte Vince vor seinem Reihenhaus ab. Die Räume waren kühl und schattig. Jeder seiner Schritte hallte auf den nicht mit Teppichen belegten Böden, und das Echo setzte sich hohl durch das fast leere Haus fort.

Das Haus gehörte ihm jetzt seit zwei Jahren, aber er hatte es nicht zur Gänze eingerichtet. Das Speisezimmer und zwei der drei Schlafzimmer enthielten überhaupt kein Mobiliar, nur billige Gardinen, damit man nicht hineinsehen konnte.

Vince betrachtete das Reihenhaus als eine Zwischenstation, als provisorische Unterkunft, von der aus er eines Tages in ein Haus am Strand in Rincon ziehen würde, der wegen des Wellengangs und seiner Surfer berühmt war und wo die weite, wogende See alles andere in den Schatten stellte. Daß er seine augenblickliche Behausung nicht möbliert hatte, hatte nichts mit deren provisorischem Status zu tun. Er mochte einfach kahle, weiße Wände, saubere Betonböden und leere Zimmer. Wenn er einmal sein Traumhaus kaufte, beabsichtigte Vince, in jedem der großen Räume an Boden und Wänden glänzendweiße Keramikfliesen anbringen zu lassen. In diesem Haus würde es kein Holz und weder Stein noch Ziegel geben, auch keine strukturierten Oberflächen, um die visuelle >Wärme< zu liefern, die anderen Leuten anscheinend so wichtig war. Das Mobiliar würde nach seinen Plänen angefertigt werden, glänzend-weiß lackiert und mit weißer Vinylpolsterung. Die einzige Unterbrechung all dieser glänzend-weißen Flächen würde nötigenfalls Glas und auf Hochglanz polierter Stahl sein. Solcherart eingekapselt, würde er zum erstenmal im Leben das Gefühl haben, zu Hause zu sein und in Frieden leben zu können.

Nachdem er seinen Koffer ausgepackt hatte, ging er hinunter in die Küche, um sich das Mittagessen zuzubereiten. Thunfisch. Drei hartgekochte Eier. Ein halbes Dutzend Roggenkekse. Zwei Äpfel und eine Orange. Eine Flasche Zitronenlimonade. In der Küche gab es in der Ecke einen kleinen Tisch und einen Stuhl, aber er aß oben im spärlich möblierten Schlafzimmer. Er saß auf einem Stuhl am Fenster, das nach Westen ging. Der Ozean war nur einen Häuserblock entfernt, begann auf der anderen Seite der Küstenstraße, jenseits des breiten öffentlichen Badestrands, und vom Obergeschoß aus konnte er das Rollen der Brandung sehen.

Der Himmel war teilweise bewölkt, also bedeckte ein Muster aus Licht und Schatten die See. Das sah an manchen Stellen aus wie geschmolzenes Chrom, an anderen hätte es auch eine wallende Masse aus dunklem Blut sein können.

Der Tag war warm, dabei wirkte er seltsam kalt und winterlich.

Wenn er auf den Ozean hinausstarrte, hatte er stets das Gefühl, das Wallen des Blutes in seinen Venen und Arterien sei in vollkommener Harmonie mit dem Rhythmus der Gezeiten.

Als er fertiggegessen hatte, saß er eine Weile da, im Gleichklang mit der See, etwas vor sich hinsummend und schaute durch sein verschwommenes Spiegelbild im Glas hindurch, als spähte er durch die Wand eines Aquariums, und dabei fühlte er sich im Ozean treiben, weit unter den Wellen, in einer sauberen, kühlen, endlosen Welt des Schweigens.

Im späteren Verlauf des Nachmittags fuhr er mit seinem Lieferwagen nach Irvine und machte dort die Banodyne Laboratories ausfindig. Banodyne erhob sich vor der Silhouette der Santa-Ana-Berge. Die Firma hatte zwei Komplexe auf einem Areal stehen, das für eine so teure Gegend überraschend groß war: ein L-förmiges, zweistöckiges Gebäude und einen größeren, V-förmigen, einstöckigen Bau mit nur wenigen schmalen Fenstern, die ihn wie eine Festung aussehen ließen. Beide hatten moderne Linienführung, ein auffälliges Nebeneinander von Ebenen und sinnlichen Kurven, in dunkelgrünen und grauen Marmor gefaßt, alles recht attraktiv. Die Gebäude, umgeben von einem Parkplatz für Angestellte und einer riesigen gepflegten, von einigen Palmen und Korallenbäumen beschatteten Rasenfläche, waren in Wahrheit wesentlich größer, als es den Anschein hatte, denn das weite Flachland verzerrte den Maßstab.

Das Feuer war auf den V-förmigen Bau beschränkt geblieben, der die Labors beherbergte. Das einzige, was auf die Zerstörung hinwies, waren ein paar zerbrochene Scheiben und Rußflecken am Marmor über den schmalen Fensteröffnungen. Das Gelände war weder von einem Zaun noch einer Mauer umgeben, und Vince hätte, wenn er das gewollt hätte, es einfach betreten können, obwohl es an der dreispurigen Zufahrt ein einfaches Tor und ein Wächterhäuschen gab. Die Pistole, die der Wachmann am Gürtel trug, und der abweisende Charakter des Gebäudes, in dem sich die Forschungslabors befanden, ließen darauf schließen, daß das Gelände elektronisch überwacht wurde und daß in der Nacht komplizierte Alarmsysteme die Wachmannschaft von der Anwesenheit eines Eindringlings unterrichten würden, kaum daß dieser mehr als ein paar Schritte über den Rasen getan hatte. Der Brandstifter mußte sich also auf mehr als das bloße Legen von Bränden verstanden haben; er mußte auch recht gute Kenntnisse über Sicherheitssysteme besitzen.

Vince fuhr langsam an dem Areal vorbei, kehrte dann um und passierte es aus der anderen Richtung noch einmal. Die Wolken schatten zogen geisterhaft über den Rasen, glitten an den Gebäudewänden empor. Irgend etwas war an Banodyne, das es unheilverheißend, ja drohend wirken ließ. Dabei hatte Vince nicht den Eindruck, diese Wirkung erhielte unangemessen Nahrung von seinem Wissen um die Art der hier durchgeführten Forschungsarbeiten.

Er fuhr nach Huntington Beach zurück.

Da er nach Banodyne in der Hoffnung gefahren war, der Anblick des Geländes würde ihm bei seiner Entscheidung, wie er weiter vorgehen sollte, helfen, war er jetzt enttäuscht. Er wußte immer noch nicht, was er als nächstes tun sollte. Er kam einfach nicht dahinter, wem er seine Information um einen Preis verkaufen konnte, der das Risiko wert war, das er damit einging. Jedenfalls nicht der US-Regierung: Ihr gehörte die Information schließlich. Auch nicht den Sowjets, deren natürlichem Gegner, denn die Sowjets waren es, die ihn dafür bezahlt hatten, Weatherby, die Yarbecks, die Hudstons und Haines zu töten.

Natürlich konnte er nicht beweisen, daß er für die Sowjets gearbeitet hatte. Sie gingen recht geschickt vor, wenn sie einen Freiberufler wie ihn anheuerten. Aber er hatte ebensooft für diese Leute gearbeitet, wie für die Mafia, und aus den Hinweisen, die sich im Laufe der Jahre ergeben hatten, schloß er, daß es Sowjets waren. Hin und wieder hatte er mit anderen Leuten als den üblichen drei in L.A. zu tun, und die hatten deutlich mit russischem Akzent gesprochen. Außerdem standen die Zielpersonen gewöhnlich wenigstens in gewisser Hinsicht mit dem politischen Leben in Verbindung, oder sie waren, wie bei den Banodyne-Jobs, militärische Ziele. Die Informationen erwiesen sich stets als gründlicher, exakter und besser recherchiert als die Informationen, die die Mafia ihm lieferte, wenn er einen Auftrag für einen einfachen Gangland-Hit übernahm. Wer also außer den USA und den Sowjets würde für derart heikle Informationen aus dem Verteidigungsbereich bezahlen? Irgendein Diktator in der Dritten Welt, der nach einer Möglichkeit suchte, den Nuklearschild der mächtigen Länder zu umgehen. Das Francis-Projekt konnte irgendeinem Hitler im Taschenformat Vorteile verschaffen, seinem Land den Status einer. Weltmacht verleihen; also konnte es durchaus sein, daß er gut dafür bezahlen würde. Aber wer wollte schon das Risiko eingehen, mit Typen wie Gadhaffi Geschäfte zu machen?

Vince bestimmt nicht.

Außerdem, er verfügte zwar über das Wissen um die Existenz der revolutionären Forschungsarbeiten bei Banodyne, nicht aber über detaillierte Unterlagen darüber, wie die Wunder des Francis-Projekts zustande gekommen waren. Er hatte weniger zu verkaufen, als er ursprünglich angenommen hatte. Seit gestern aber reifte in ihm langsam eine Idee heran, nahm Gestalt an. Und jetzt, während er weiterhin darüber nachdachte, wer wohl potentieller Käufer für seine Informationen sein könnte, blühte diese Idee auf.

Der Hund.

Er war wieder zu Hause, saß in seinem Schlafzimmer und starrte auf die See hinaus. Selbst nach Einbruch der Nacht saß er noch da, obwohl er das Meer jetzt nicht mehr sehen konnte, und dachte über den Hund nach.

Hudston und Haines hatten ihm so viel über den Retriever erzählt, daß er langsam zu begreifen begann, daß sein Wissen über das Francis-Projekt, wenn auch von höchst explosiver Natur und äußerst wertvoll, nicht den tausendsten Teil des Wertes besaß, den der Hund selbst darstellte. Es gab viele Möglichkeiten, aus dem Retriever Kapital zu schlagen; er war eine Geldmaschine mit vier Beinen. Zum einen konnte er ihn an die Regierung oder an die Russen verhökern, und zwar für eine Schiffsladung Bargeld. Wenn es ihm gelang, den Hund zu finden, dann war er für alle Zeiten finanziell unabhängig.

Aber wie ihn ausfindig machen?

In ganz Südkalifornien mußte in aller Stille eine Suchaktion - so gut wie geheim und doch von gigantischem Ausmaß - im Gange sein. Das Verteidigungsministerium würde ohne Zweifel alles verfügbare Personal für diese Suche einsetzen, und wenn Vince den Suchern in die Quere kam, würden sie wissen wollen, wer er war. Die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, konnte er sich aber nicht leisten.

Außerdem: Falls er selbst in den Vorbergen des Santa-Ana-Gcbirges suchte, wohin die den Labors Entkommenen mit höchster Wahrscheinlichkeit geflohen waren, mochte er dem Falschen über den Weg laufen - den Golden Retriever verpassen und auf den Outsider stoßen. Das könnte gefährlich sein. Tödlich.

Vor dem Schlafzimmerfenster flossen der wolkengepanzerte Nachthimmel und die See in Schwärze ineinander, Schwärze, so finster wie die finstere Seite des Mondes.

2

Am Donnerstag, einen Tag nachdem Einstein Arthur Streck in Nora Devons Küche gestellt hatte, wurde Streck dem Untersuchungsrichter vorgeführt, und man vernahm ihn zu der Anklage des Einbruchs, der versuchten Körperverletzung und der versuchten Vergewaltigung. Da er bereits einmal wegen Vergewaltigung verurteilt worden war und zwei Jahre einer dreijährigen Kerkerstrafe abgesessen hatte, wurde eine hohe Kaution festgesetzt; er war nicht imstande, sie aufzubringen. Und da er niemanden ausfindig machen konnte, der ihm vertraute und die Kaution für ihn geleistet hätte, schien es ihm bestimmt, so lange in Untersuchungshaft zu bleiben, bis sein Fall vor Gericht kommen würde, was für Nora eine große Erleichterung bedeutete.

Am Freitag ging sie mit Travis Cornell zum Lunch.

Es verblüffte sie selbst, als sie sich sagen hörte, sie nehme seine Einladung an. Zwar war Travis offensichtlich richtig schockiert gewesen, als er von ihr erfuhr, in welchem Maße Streck sie belästigt hatte, und in gewissem Maße verdankte sie ihm ihre Unberührtheit, vielleicht sogar ihr Leben, weil er im allerletzten Augenblick gekommen war. Aber all die Jahre un-

ter Tante Violets Verfolgungswahn ließen sich nicht in wenigen Tagen wegwischen, und ein Rest unsinnigen Argwohns blieb in Nora haften. Sie wäre bedrückt, vielleicht sogar erschüttert gewesen, keineswegs aber überrascht, hätte Travis plötzlich den Versuch gemacht, sich ihr aufzudrängen. Seit frühester Kindheit dazu erzogen, von anderen Menschen das Schlimmste zu erwarten, konnten nur Freundlichkeit und Mitgefühl von Seiten anderer sie überraschen.

Dennoch ging sie mit ihm essen.

Zuerst wußte sie gar nicht, warum sie das tat.

Aber sie brauchte nicht lange nachzudenken, um die Antwort zu finden. Der Hund. Sie wollte dem Hund nahe sein, weil er ihr ein Gefühl der Sicherheit vermittelte und weil sie noch nie derart unverhohlene Zuneigung erfahren hatte, wie Einstein sie ihr so verschwenderisch zuteil werden ließ. Niemand hatte ihr bislang irgendeine Art von Zuneigung entgegengebracht, deshalb genoß sie sie, selbst wenn sie nur von einem Tier ausging. Außerdem wußte Nora im Innersten, daß Travis Cornell völlig vertrauenswürdig war, weil Einstein ihm vertraute. Und Einstein sah nicht aus, als würde er sich leicht täuschen lassen. Sie aßen in einem Cafe, wo man in einem mit Ziegeln ausgelegten Innenhof an ein paar leinengedeckten Tischen unter weiß-blau gestreiften Schirmen speisen konnte.

Die Hundeleine durfte sie an dem schmiedeeisernen Tischfuß anbinden, so daß Einstein bei ihnen bleiben konnte. Er benahm sich äußerst gesittet und blieb die meiste Zeit ruhig liegen. Gelegentlich hob er den Kopf und sah sie beide mit seinen seelenvollen Augen an, bis sie ihm ein paar Brocken von ihrem Essen abgaben, obwohl er keineswegs lästig darum bettelte.

Nora hatte keine große Erfahrung mit Hunden, fand aber, daß Einstein ungewöhnlich aufmerksam und wißbegierig war. Er wechselte häufig seine Position, um andere Gäste zu beobachten, die ihn zu interessieren schienen.

Für Nora war alles von Interesse. Dies war ihre erste Mahlzeit in einem Restaurant. Obwohl sie in zahllosen Romanen davon gelesen hatte, wie Leute in Restaurants zu Mittag oder zu Abend aßen, faszinierte und entzückte sie jede Einzelheit. Die Rose in der milchig-weißen Vase auf dem Tisch. Die Zündholzbriefchen mit Namensaufdruck des Restaurants. Die run-

jen Butterstückchen mit eingeprägtem Blumenmuster, die in einer Schale mit geschabtem Eis serviert wurden. Der Zitronenschnitz im Eiswasser. Die gekühlte Salatgabel als besonders erstaunliches Detail.

»Sehen Sie sich das an«, sagte sie zu Travis, nachdem man ihnen ihr Hauptgericht serviert hatte und der Kellner gegangen war.

Er sah ihren Teller mit gerunzelter Stirn an und fragte:

»Stimmt etwas nicht?«

»Nein, nein. Ich meine ... das Gemüse.«

»Babykarotten, Zwergkürbis.«

»Wo kriegen sie die so winzig her? Und da, sehen Sie doch, wie sie die Tomate eingeschnitten haben. Alles ist so hübsch. Wo nehmen die bloß die Zeit her, alles so hübsch zu arrangieren?«

Sie wußte, daß all die Dinge, die sie so in Erstaunen versetzten, für ihn Selbstverständlichkeiten waren, wußte, daß ihr Erstaunen ihm ihre Unerfahrenheit verriet und sie ihm als Kind erscheinen lassen mußte. Sie wurde häufig rot, stammelte manchmal verlegen, konnte sich aber dennoch der Kommentare über diese Wunder nicht enthalten. Travis lächelte ihr fast ununterbrochen zu, aber es war Gott sei Dank kein herablassendes Lächeln; das Vergnügen, das die Entdeckungen und all der kleine Luxus ihr bereiteten, schien ihn echt zu entzücken.

Als sie mit dem Kaffee und dem Nachtisch fertig waren -eine Kiwitorte für sie, Erdbeeren mit Sahne für Travis und ein Schokoladen-Eclair, das Einstein mit niemandem zu teilen brauchte -, hatte Nora das längste Gespräch ihres Lebens hinter sich. Sie verbrachten zweieinhalb Stunden, ohne daß ein einziges Mal eine peinliche Gesprächspause aufgetreten wäre, indem sie hauptsächlich über Bücher redeten, weil - in Anbetracht von Noras zurückgezogenem Leben - die Liebe zu Büchern praktisch das einzige war, was ihnen gemeinsam war. Das und die Einsamkeit. Ihre Meinung über verschiedene Schriftsteller schien ihn ernsthaft zu interessieren, und er hatte bei manchen Büchern faszinierende Einsichten gewonnen, die ihr verborgen geblieben waren. Sie lachte an diesem Nachmittag mehr, als sie in einem ganzen Jahr gelacht hatte. Die neue Erfahrung war so aufheiternd, daß ihr gelegentlich schwindlig wurde. Als sie schließlich das Restaurant verließen, konnte sie sich an fast nichts von dem, was gesprochen worden war, erinnern; alles verschwamm in einem farbigen Schleier. Was sie hier erlebte, war eine Überladung der Sinne, vergleichbar vielleicht mit dem, was ein Eingeborener empfinden mochte, wenn man ihn plötzlich mitten in New York City aussetzte, und sie brauchte Zeit, um all das, was ihr widerfahren war, in sich aufzunehmen und zu verarbeiten.

Da sie von ihrem Haus, wo Travis seinen Pick-up abgestellt hatte, zu Fuß zum Cafe gegangen waren, gingen sie den Weg zurück jetzt ebenfalls zu Fuß, und Nora hielt die ganze Zeit über die Hundeleine. Einstein versuchte kein einziges Mal, sich von ihr zu entfernen, verwickelte kein einziges Mal ihre Beine in die Hundeleine, sondern trottete immer neben oder vor ihr einher, lammfromm, hier und da mit so rührenden Augen zu ihr aufsehend, daß sie lächeln mußte.

»Ein braver Hund ist das«, sagte sie.

»Sehr brav«, pflichtete Travis ihr bei.

»So gesittet.«

»Ja, meistens.«

»Und so klug.«

»Sie sollten ihm nicht zu sehr schmeicheln.«

»Haben Sie Angst, er könnte eitel werden?«

»Eitel ist er bereits«, sagte Travis. »Wenn er um eine Spur eitler wird, ist er nicht mehr auszuhalten.«

Der Hund wandte sich um, sah Travis an und schnaubte laut, als wollte er sich über die Bemerkung lustigmachen.

Nora lachte. »Manchmal scheint es fast, als könnte er jedes Wort verstehen, das Sie sagen.«

»Manchmal«, pflichtete Travis ihr bei.

Als sie das Haus erreichten, wollte Nora ihn hineinbitten.

Aber sie hatte Angst, er könnte das mißverstehen. Sie wußte, sie benahm sich damit wie eine nervöse alte Jungfer, wußte, daß sie ihm vertrauen konnte - und sollte; aber plötzlich ragte Tante Violet in ihrer Erinnerung vor ihr auf, voll finsterer Warnungen in bezug auf Männer, und sie brachte es einfach nicht über sich, das zu tun, von dem sie wußte, daß es richtig war. Der Tag war perfekt gewesen, sie hatte Angst, ihn weiter auszudehnen, aus Furcht, etwas würde geschehen, das die Erinnerung beschmutzte. Also dankte sie ihm für die Einladung und wagte es nicht einmal, ihm die Hand zu reichen.

Aber sie beugte sich hinunter und drückte den Hund an sich. Einstein rieb seine Schnauze an ihrer Wange und leckte ihr einmal über den Hals, so daß sie kichern mußte. Sie hatte sich noch nie kichern hören. Sie hätte sich stundenlang an ihn drücken und ihn streicheln können, wenn das nicht ihre Scheu vor Travis noch deutlicher geoffenbart hätte.

Unter der offenen Tür stehend, blickte sie ihnen nach, wie sie in den Pick-up stiegen und wegfuhren.

Travis winkte ihr zu.

Sie winkte auch.

Dann hatte der Wagen die Ecke erreicht und begann nach rechts abzubiegen, kam außer Sicht, und Nora bedauerte ihre Feigheit, wünschte, sie hätte Travis kurz ins Haus gebeten.

Fast wäre sie ihnen nachgerannt, hätte fast seinen Namen gerufen. Aber dann war der Wagen fort, und sie war wieder allein. Zögernd ging sie ins Haus und schloß die Tür vor der helleren Welt dort draußen.

3

Der Diensthubschrauber vom Typ Bell JetRanger strich über die von Bäumen bestandenen Schluchten und kahl werdenden Kämme der Santa-Ana-Vorberge hinweg. Sein Schatten war ihm voraus, weil die Sonne im Westen stand, und der Freitagnachmittag zu verblassen begann. Als sie sich dem Holy Jim Canyon näherten, sah Lemuel Johnson zum Fenster des Passagierabteils hinaus und entdeckte vier Patrouillenwagen des Bezirkssheriffs, die sich dort unten entlang des schmalen Feldweges aufgereiht hatten. Ein paar weitere Fahrzeuge, darunter der Kombi des Leichenbeschauers und ein Jeep Cherokee, der wahrscheinlich dem Opfer gehörte, parkten neben der Steinhütte. Der Pilot hatte kaum genug Raum, um den Helikopter auf der Lichtung aufzusetzen. Noch bevor das Motorengeräusch verstummte und die von der Sonne bronzefarben getönten Rotoren sich langsamer drehten, war Lem herausgesprungen und eilte auf die Hütte zu. Cliff Soames, sein engster Mitarbeiter, folgte ihm auf den Fersen.

Walt Gaines, der Bezirkssheriff, trat aus der Hütte, als Lem nah heran war. Gaines war ein Hüne, einen Meter neunzig groß und wenigstens neunzig Kilo schwer, mit enormen Schultern und einem mächtigen Brustkasten. Mit dem maisgelben Haar und den kornblumenblauen Augen hätte er wie ein Kinoheld aussehen können, wenn nicht das derbe Gesicht und die groben Züge gewesen wären. Er war fünfundfünfzig, sah aus wie vierzig und trug sein Haar nur eine Spur länger, als er es während der zwanzig Jahre bei der Marineinfanterie getragen hatte.

Obwohl Lem Johnson Neger war, genauso dunkel wie Walt hellhäutig, nahezu zwanzig Zentimenter kleiner und fünfundzwanzig Kilo leichter als Walt, obwohl aus einer schwarzen Familie der gehobenen Mittelklasse stammend, während Walts Leute weißes Armeleutepack aus Kentucky waren, und obwohl Lem um zehn Jahre jünger war als der Sheriff, waren die beiden Freunde. Mehr als das, Kumpel. Sie spielten zusammen Bridge, gingen zusammen tiefseefischen und genossen es königlich, auf Liegestühlen im Garten des einen oder des anderen zu sitzen, Corona-Bier zu trinken und sämtliche Probleme der Welt zu lösen. Selbst ihre Frauen waren Freundinnen geworden, eine rein zufällige Entwicklung, die nach Walts Meinung >ein Wunder< war, weil, wie er sagte, »die Frau noch nie jemanden gemocht hat, den ich ihr in den letzten zweiunddreißig Jahren vorgestellt habe«.

Für Lem war seine Freundschaft mit Walt Gaines ebenfalls ein Wunder, denn er war nicht der Mann, der leicht Freunde gewann. Er war ein Arbeitstier und hatte einfach nicht die Muße, eine Bekanntschaft zu pflegen und eine länger dauernde Beziehung daraus zu machen. Natürlich hatte es dieser Pflege bei Walt nicht bedurft; sie waren sich bei der ersten Begegnung sympathisch gewesen, hatten ähnliche Ansichten und Gesichtspunkte beim anderen entdeckt. Als sie einander sechs Monate lang kannten, schien es, als wären sie sich seit ihrer Kinderzeit nahegestanden. Lem war ihre Freundschaft fast so wichtig, wie seine Ehe mit Karen. Die Last seines Berufes wäre schwerer zu ertragen gewesen, hätte er nicht gelegentlich bei Walt etwas Dampf ablassen können.

Als jetzt die Rotorblätter des Hubschraubers verstummten, sagte Walt Gaines: »Ich kann mir nicht vorstellen, was euch Feds[1] an einem knorrigen alten Canyonbewohner interessiert.«

»Gut«, sagte Lem. »Erwartet auch keiner von dir, und du willst es auch gar nicht wissen.«

»Jedenfalls hab' ich bestimmt nicht damit gerechnet, daß du selbst kommst. Dachte, du würdest einen deiner Lakaien schicken.«

»NSA-Beamte haben es gar nicht gern, wenn man sie Lakaien nennt«, sagte Lem.

Walt warf Cliff Soames einen Blick zu und meinte: »Aber so behandelt er euch doch, oder? Wie Lakaien?«

»Er ist ein Tyrann«, bestätigte Cliff. Er war einunddreißig, rothaarig und sommersprossig und sah eher aus wie ein beflissener junger Prediger als wie ein Agent der National Security Agency.

»Nun, Cliff«, sagte Walt Caines, »dazu muß man natürlich wissen, wo Lern herkommt. Sein Vater war ein getretener schwarzer Geschäftsmann, der nie mehr als zweihunderttausend im Jahr verdiente. Unterprivilegiert, verstehen Sie? Deshalb bildet Lern sich ein, er muß euch weiße Boys durch Reifen hüpfen lassen, wenn er kann, um all die Jahre der brutalen Unterdrückung auszugleichcn.«

»Er verlangt sogar, daß ich >Massa< zu ihm sage«, grinste Cliff.

»Genauso hab' ich es mir vorgestellt«, sagte Walt.

Lem seufzte und meinte: »Ihr beiden macht mir ungefähr soviel Spaß wie ein Leistenbruch. Wo ist die Leiche?«

»Hier entlang, Massa«, sagte Walt.

Ein warmer Windstoß ließ die Bäume rundum erzittern, in die Stille des Canyons fiel das Wispern des Blattwerks. Der Sheriff führte Lem und Cliff in den ersten der beiden Räume der Hütte.

Lem wußte sofort, weshalb Walt so witzig tat. Der gezwungene Humor war die Reaktion auf das Schreckliche im Inneren der Hütte. Es war, wie wenn man nachts im Friedhof laut lacht, um die Nervosität zu verjagen.

Zwei Lehnsessel waren umgestürzt, die Polsterung aufgeschlitzt. Die Sofakissen waren zerfetzt, der weiße Schaumgummi bloßgelegt. Von einem Büchergestell in der Ecke waren Taschenbücher heruntergefegt, zerrissen und über den ganzen Raum verstreut worden. Glasscherben der großen Fensterscheibe glitzerten wie Edelsteine in all dem Durcheinander.

Und alles, die Wände mit eingeschlossen, war mit Blut bespritzt, auf dem hellen Fichtenholzboden waren dunkle Flekken getrockneten Blutes zu sehen.

Wie ein paar Krähen, die bunte Fäden suchten, um damit ihr Nest herauszuputzen, arbeiteten sich zwei Labortechniker in dunklen Anzügen mit Sorgfalt durch das Chaos. Gelegentlich gab einer von ihnen ein leises, krächzendes Geräusch von sich, zupfte sich irgend etwas mit einer Pinzette und deponierte es in einem Plastikbeutel.

Offensichtlich hatte man die Leiche bereits untersucht und fotografiert, denn sie war in einem undurchsichtigen Plastiksack verstaut, lag jetzt neben der Tür und wartete darauf, zum Fleischerwagen hinausgetragen zu werden.

Lem schaute auf die verschwommen sichtbare Leiche im Sack, die unter dem milchfarbenen Plastik nur undeutlich als menschliche Gestalt zu erkennen war, und sagte: »Wie hieß er denn?«

»Wes Dalberg«, sagte Walt. »Hat hier zehn Jahre oder länger gelebt.«

»Wer hat ihn gefunden?«

»Ein Nachbar.«

»Wann ist er getötet worden?«

»Soweit wir das feststellen können, vor etwa drei Tagen. Vielleicht Dienstag nacht. Wir müssen die Labortests abwarten, um es genau zu wissen. Das Wetter in letzter Zeit war ziemlich warm, und das hat natürlich Einfluß auf den Zersetzungsprozeß.«

Dienstag nacht... Am Dienstagmorgen, noch bevor es dämmerte, war es in Banodyne zu dem Ausbruch gekommen. Es war also durchaus möglich, daß der Outsider bis Dienstag nacht soweit gekommen war.

Lem dachte darüber nach - und erschauerte.

»Ist dir kalt?« fragte Walt sarkastisch.

Lem gab keine Antwort. Sie waren Freunde, und sie dienten beide dem Gesetz, der eine als örtlicher, der andere als Bundesbeamter. Aber in diesem Fall dienten sie einander entgegengesetzten Interessen: Walts Aufgabe war es, die Wahrheit herauszufinden und sie der Öffentlichkeit bekanntzugeben; Lems Aufgabe bestand darin, einen Deckel über den Fall zu stülpen und dafür zu sorgen, daß er draufblieb.

»Hier drin stinkt's wirklich«, meinte Cliff Soames.

»Du hättest das riechen sollen, bevor wir die Leiche in den Sack gesteckt haben«, meinte Walt. »Richtig reif.«

»Nicht nur... Zersetzung«, sagte Cliff.

»Nein«, sagte Walt und deutete auf ein paar Flecken, die nicht von Blut herrührten. »Auch Urin und Kot.«

»Vom Opfer?«

»Glaub' ich nicht«, sagte Walt.

»Habt ihr schon erste Tests gemacht?« fragte Lem, bemüht, nicht besorgt zu klingen. »Mikroskopische Untersuchungen am Tatort, meine ich.«

»Fehlanzeige. Wir nehmen die Proben mit ins Labor. Wir glauben, es stammt von dem, was da durchs Fenster reingekommen ist.«

Lem hob den Blick von dem Plastiksack mit der Leiche und sagte: »Du meinst den Mann, der Dalberg umgebracht hat?«

»Das war kein Mann«, sagte Walt, »und ich schätze, das weißt du.«

»Kein Mann?« sagte Lem.

»Zumindest kein Mann wie du oder ich.«

»Was denkst du dann, das es war?«

»Verdammt will ich sein, wenn ich das weiß«, sagte Walt und rieb sich mit einer seiner mächtigen Pranken die Stoppeln am Hinterkopf. »Aber der Leiche nach zu schließen, hatte der Killer scharfe Zähne, vielleicht Klauen, und ein recht bösartiges Naturell. Klingt das nach dem, was ihr sucht?«

Aber Lem ging ihm nicht auf den Leim.

Einen Augenblick lang sagte keiner etwas.

Eine frische, nach Pinien duftende Brise wehte durch das zersplitterte Fenster herein und blies etwas von dem üblen Gestank fort.

Einer der Laborleute sagte »Ah!« und holte mit seiner Pinzette etwas aus dem Trümmerfeld.

Lem seufzte müde. Das lief gar nicht gut. Sie würden nicht genug finden, um daraus schließen zu können, was Dalberg getötet hatte, aber sie würden genügend Beweismaterial sammeln, um höllisch neugierig zu werden. Hier aber ging es um eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit, in die seine Nase zu stecken für einen Zivilisten höchst unklug war. Lem würde ihre Ermittlungen verhindern müssen. Er hoffte, das zu schaffen, ohne Walt zu verärgern. Es würde ihre Freundschaft echt auf die Probe stellen.

Plötzlich wurde Lem, der immer noch den Sack mit der Leiche anstarrte, bewußt, daß etwas mit der Form der Leiche nicht stimmte. Er sagte: »Der Kopf ist nicht da.«

»Euch Feds entgeht aber wirklich nichts, wie?« sagte Walt. »Hat man ihn geköpft?« fragte Cliff Soames unruhig.

»Kommt mal mit«, sagte Walt und führte sie in den nächsten Raum. Es war eine große, wenn auch primitive Küche, mit einer Handpumpe am Ausguß und einem alten, mit Holz zu beheizenden Herd.

Mit Ausnahme des Kopfes gab es in der Küche keine Spuren von Gewalttätigkeit. Aber der Kopf war natürlich schlimm genug. Er lag mitten auf dem Tisch. Auf einem Teller.

»Du lieber Gott!« sagte Cliff leise.

Während sie den Raum betraten, war ein Polizeifotograf gerade damit beschäftigt, den Kopf aus verschiedenen Blickwinkeln zu fotografieren. Er war noch nicht fertig, trat aber einen Schritt zurück, damit sie besser sehen konnten.

Die Augen des Toten fehlten; man hatte sie ihm herausgerissen. Die leeren Augenhöhlen schienen tief wie Brunnen.

Cliff Soames war so weiß geworden, daß seine Sommersprossen im Kontrast dazu auf seiner Haut brannten wie Glut. Lem empfand Übelkeit, nicht nur wegen dem, was Wes Dalberg widerfahren war, sondern wegen all der Toten, die es noch geben würde. Er war stolz auf sein Können auf dem Feld polizeilicher Ermittlungsarbeit und Organisation und wußte, daß er diesen Fall besser als sonst einer bearbeiten konnte. Daneben aber war er ein erfahrener Praktiker und somit außerstande, einen Feind zu unterschätzen und daher so zu tun, als werde es für diesen Alptraum ein baldiges Ende geben. Er würde Zeit, Geduld und Glück brauchen, um den Killer aufzuspüren, und bis dahin würden sich weitere Leichen auftürmen.

Man hatte dem Toten den Kopf nicht abgeschnitten; so sauber und ordentlich war das nicht vor sich gegangen. Es hatte den Anschein, als wäre er mittels Krallen, Bissen und unter Krafteinsatz abgerissen worden.

Lem spürte plötzlich, daß seine Handflächen feucht waren. Seltsam ... wie die leeren Augenhöhlen des Kopfes ihn fixierten, als enthielten sie noch weit offene, starr blickende Augen. Ein einzelner Schweißtropfen rann ihm über den Rücken. Er hatte mehr Angst als je in seinem bisherigen Leben, mehr, als er je geglaubt hatte, haben zu können - aber wollte nicht, daß man ihn aus irgendeinem Grund von diesem Fall abzog. Es war für die Sicherheit der ganzen Nation und die Sicherheit der Öffentlichkeit von vitaler Bedeutung, daß man diesem Notfall richtig begegnete, und er wußte, daß das wahrscheinlich niemand so gut konnte wie er. Es war nicht nur sein Ego, das da aus ihm sprach. Jeder sagte, er sei der Beste, und er wußte, sie hatten recht. Sein Stolz war gerechtfertigt, falsche Bescheidenheit kannte er nicht. Das hier war sein Fall, und er wollte ihn zu Ende bringen.

Seine Eltern hatten ihm ein fast zu stark ausgeprägtes Gefühl für Pflicht und Verantwortung anerzogen. »Ein schwarzer Mann«, pflegte sein Vater zu sagen, »muß das, was man ihm aufträgt, doppelt so gut erledigen wie ein weißer, um dafür überhaupt Anerkennung zu ernten. Für Bitterkeit ist da kein Platz. Es ist auch nicht wert, dagegen zu protestieren. Es ist einfach eine der Tatsachen des Lebens. Ebensogut könnte man dagegen protestieren, daß es im Winter kalt wird. Statt zu protestieren, mußt du dich einfach den Tatsachen stellen, doppelt so hart arbeiten, dann kommst du dorthin, wo du hin möchtest. Und Erfolg mußt du haben, weil du für alle deine Brüder die Fahne trägst.« Als Folge dieser Erziehung war Lem außerstande, bei einem Auftrag weniger als den totalen, rückhaltlosen Einsatz von sich zu fordern. Er hatte panische Angst zu versagen, erlebte es kaum je, konnte aber wochenlang in tiefe Niedergeschlagenheit fallen, wenn es ihm nicht gelang, einen Fall erfolgreich abzuschließen.

»Kann ich dich draußen kurz sprechen?« sagte Walt und trat an die offene Hintertür der Hütte.

Lem nickte. Zu Cliff gewendet, sagte er: »Bleiben Sie hier. Sorgen Sie dafür, daß keiner - und das schließt Pathologen,

Fotografen, Polizisten in Uniform, eben alle, nicht aus - von hier weggeht, bevor ich Gelegenheit hatte, mit ihm zu reden.« »Ja, Sir« , sagte Cliff. Er ging rasch in den vorderen Raum, um allen mitzuteilen, daß sie für den Augenblick unter Quarantäne stünden - und um den augenlosen Kopf nicht mehr ansehen zu müssen.

Lem folgte Walt Gaines hinaus auf die Lichtung hinter der Hütte. Er entdeckte eine Tragmulde aus Metall und über den Boden verstreutes Feuerholz und blieb stehen, um diese Dinge zu besichtigen.

»Wir nehmen an, daß es hier draußen angefangen hat«, sagte Walt. »Vielleicht wollte Dalberg Holz für den Kamin holen. Vielleicht ist etwas von dort zwischen den Bäumen hervorgekommen, und er hat die Tragwanne nach ihm geworfen und ist ins Haus gerannt.«

Sie standen im blutig orangefarbenen Nachmittagslicht am Rand der Bäume und spähten in die purpurfarbenen Schatten und die geheimnisvollen grünen Tiefen des Waldes.

Lem war unruhig. Er fragte sich, ob der Flüchtling aus Weatherbys Labor vielleicht in der Nähe war und sie beobachtete.

»Also, was läuft da?« fragte Walt.

»Kann ich nicht sagen.«

»Nationale Sicherheit?«

»Stimmt genau.«

Die Föhren und Fichten und Sykomoren raschelten in der Brise, und es kam ihm vor, als bewege sich etwas verstohlen durchs Unterholz.

Fantasie natürlich. Nichtsdestoweniger war Lem froh, daß er und Walt Gaines mit verläßlichen Pistolen in leicht zugänglichen Schulterhalftern bewaffnet waren.

»Du kannst natürlich weiter den Mund halten, wenn du drauf bestehst«, meinte Walt, »aber ganz im Dunkeln kannst du mich nicht stehen lassen. Einiges kann ich mir selbst zusammenreimen. Ich bin nicht blöd.«

»Hab' ich auch nie geglaubt.«

»Am Dienstagmorgen bekommt jedes verdammte Polizeirevier in Orange und San Bernardino die dringliche Aufforderung von deiner NSA, wir sollten uns bereithalten, um an einer Suchaktion teilzunehmen, Einzelheiten würden nachfol-

gen. Was uns natürlich nervös macht. Wir wissen nämlich schon, wofür ihr Typen verantwortlich seid - für die Bewachung von Forschungsanlagen und um dafür zu sorgen, daß die Wodkapisser unsere Geheimnisse nicht klauen. Und da in Südkalifornicn die Hälfte aller Auftragnehmer des Verteidigungsministeriums ansässig sind, gibt es hier eine ganze Menge zu stehlen.«

Lem starrte immer noch in den Wald hinüber, ohne ein Wort zu sagen.

»Also«, fuhr Walt fort, »stellen wir uns vor, wir sollen nach einem russischen Agenten Ausschau halten, der irgendwas Heißes in den Taschen hat, und sind froh, wieder einmal Gelegenheit zu bekommen, für Onkel Sam ein paar Knaben in den Hintern zu treten. Aber statt daß man uns Details liefert, wird um Mittag die Aufforderung zurückgenommen. Keine Suchaktion, alles unter Kontrolle, heißt es aus eurem Büro. Der Alarm sei irrtümlich gegeben worden, sagt ihr.«

»Das stimmt.« Die NSA hatte erkannt, daß man die lokale Polizei nicht genügend unter Kontrolle hatte und ihr deshalb nicht voll vertrauen konnte. Hier mußten sich die Militärs drum kümmern. »Es war falscher Alarm.«

»Und was für einer! Am späten Nachmittag desselben Tages erfahren wir, daß Marine-Helikopter aus El Toro sich in den Vorbergen der Santa Ana einnisten. Und am Mittwoch morgen werden hundert Marines mit High-Tech-Suchgeräten von Camp Pendleton eingeflogen.«

»Davon habe ich gehört. Aber mit meiner NSA hatte das nichts zu tun«, sagte Lem.

Walt vermied es geflissentlich. Lem anzusehen. Er starrte die Bäume an. Für ihn war sonnenklar, daß Lem ihn belog -daß Lem ihn belügen mußte, und er hatte das Gefühl, es gehöre sich nicht. Lem zu zwingen, das zu tun, während sie Augenkontakt hatten. Walt Gaines mochte grobschlächtig und ungehobelt aussehen, aber er war ein ungewöhnlich sensibler Mann mit seltenem Talent dafür, Freundschaften zu pflegen. Außerdem war er Bezirkssheriff, und es gehörte zu seinen Pflichten, weiterzubohren, obwohl er wußte, daß Lern ihm nichts sagen würde. »Die Marines wollen uns weismachen, das Ganze sei nur eine Übung im Rahmen ihrer Ausbildung«, meinte er.

»Das hab' ich auch gehört.«

»Wir werden immer zehn Tage im voraus informiert, wenn solche Übungen angesetzt sind.«

Lem gab keine Antwort. Ihm kam vor, er habe im Wald etwas gesehen, einen sich bewegenden Schatten, etwas Dunkles, das sich unter den düsteren Kiefern bewegte.

»Also treiben sich die Marines den ganzen Mittwoch und den halben Donnerstag draußen in den Bergen rum. Aber als dann Reporter von dieser >Übung< hören und angetanzt kommen, pfeifen die Ledernacken das Ganze plötzlich ab, packen ihre Sachen und gehen nach Hause. Es war gerade so, als wäre ... nun, als wäre das, was sie suchen, so unangenehm, so verdammt streng geheim, daß sie es lieber erst gar nicht finden wollen, weil das hieße, daß dann auch die Presse davon erfährt.«

Lem spähte mit zusammengekniffenen Augen in den Wald hinüber und versuchte durch die immer dunkler werdenden Schatten hindurchzusehen und die Bewegung noch einmal zu entdecken, die einen Augenblick zuvor seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.

Walt war noch nicht fertig. »Und dann fordert uns gestern nachmittag die NSA auf, sie über alle >absonderlichen Anzeigen, ungewöhnlichen Überfälle oder ausnehmend gewalttätigen Mordfällc< zu informieren. Wir verlangen Aufklärung, bekommen aber keine.«

Dort. Etwas bewegte sich in der Düsternis unter den immergrünen Zweigen, etwa fünfundzwanzig Meter vom Waldrand entfernt. Etwas, das sich schnell und verstohlen von einem schützenden Schatten zum nächsten bewegte. Lem legte unter dem Jackett die rechte Hand auf den Kolben seiner Pistole, die er in einem Schulterhalfter trug.

»Und dann finden wir einen Tag später dieses arme Schwein, Dalberg, in Stücke gerissen«, sagte Walt, »und der Fall ist verdammt absonderlich und ungefähr so >ausnehmend gewalttätige wie ich nie mehr einen zu sehen hoffe. Dann tauchst du hier auf, Mr. Lemuel Asa Johnson, Chef des Büros Südkalifornien der NSA, und ich weiß genau, daß du nicht einfach anflatterst, um mich zu fragen, ob ich morgen abend beim Bridge Zwiebel- oder Guacamolesoße haben möchte.«

Das, was sich bewegte, war jetzt näher als fünfundzwanzig Meter heran, viel näher. Die einzelnen Schattenschichten und das alles seltsam verzerrende Nachmittagslicht, das durch die Bäume drang, hatten Lem getäuscht. Das Ding war jetzt höchstens noch ein Dutzend Meter entfernt, vielleicht weniger als das. Und plötzlich kam es geradenwegs auf sie zu, sprang sie durch das Gebüsch an, und Lem stieß einen Schrei aus, zog die Pistole aus dem Halfter und taumelte unwillkürlich ein paar Schritte rückwärts, ehe er breitbeinig in Schußstellung ging, die Waffe mit beiden Händen haltend.

»Ist doch nur ein Maultierhirsch!« sagte Walt Gaines.

Und das war es tatsächlich. Nur ein Maultierhirsch.

Der Hirsch blieb vier Meter vor ihnen stehen, unter den herunterhängenden Zweigen einer Tanne, und sah sie aus riesigen braunen Augen an, in denen die Neugier leuchtete. Er hielt den Kopf hoch erhoben, die Ohren gespitzt.

»Die sind die Menschen in diesen Canyons so gewohnt, daß sie beinah zahm sind«, sagte Walt.

Lem atmete tief aus, während er seine Pistole ins Halfter zurücksteckte.

Der Maultierhirsch fühlte die Spannung, unter der sie standen, wandte sich ab und verschwand wieder im Gehölz.

Walt starrte Lem durchdringend an. »Was ist hier draußen, Kumpel?«

Lem sagte nichts. Er wischte sich die feuchten Hände am Jackett ab.

Die Brise wurde steifer, kühler. Der Abend nahte, dicht dahinter die Nacht.

»Ich hab noch nie erlebt, daß du Schemen nachjagst«, sagte Walt.

»Das macht das Koffein. Ich habe heute zu viel Kaffee getrunken.«

»Blödsinn.«

Lem zuckte die Achseln.

»Es scheint, Dalberg wurde von einem Tier getötet, von irgend etwas mit Zähnen und Klauen, etwas Wildem«, sagte Walt. »Und doch würde kein verdammtes Tier den Kopf des Burschen so säuberlich mitten auf dem Küchentisch auf einen Teller legen. Das ist einfach krankhaft. Tiere tun so was nicht. Was auch immer Dalberg getötet hat... es hat den Kopf für uns zum Hohn dorthin gelegt. Und jetzt sag mir, um Christi willen, womit wir es hier zu tun haben.«

»Das willst du in Wirklichkeit gar nicht wissen. Und du brauchst es gar nicht zu wissen, weil ich in diesem Fall die Zuständigkeit an mich ziehe.«

»Den Teufel tust du.«

»Die Vollmacht dafür habe ich«, sagte Lem. »Das ist jetzt eine Bundesangelegenheit, Walt. Ich beschlagnahme sämtliches Beweismaterial, das deine Leute eingesammelt haben, alle Berichte, die sie bis jetzt geschrieben haben. Du und deine Leute dürft mit niemandem über das sprechen, was ihr hier gesehen habt. Mit niemandem. Eine Akte über den Fall werdet ihr haben, aber das einzige, was in der Akte steht, wird ein Vermerk von mir sein, daß ich, unter Hinweis auf die entsprechende Verordnung, das Bundesprivileg ausübe. Ihr seid da raus.

Ganz gleich, was passiert, niemand kann dir was anhängen, Walt.«

»Scheiße!«

»Halt dich raus.«

Walt zog die Stirn in Falten. »Ich muß wissen ...«

»Du sollst dich raushalten.«

»... ob Leute in meinem Bezirk in Gefahr sind. So viel zumindest kannst du mir sagen.«

»Ja.«

»In Gefahr?«

»Ja.«

»Und wenn ich mich jetzt mit dir anlege, versuche, die Zuständigkeit in diesem Fall zu behalten, gäbe es dann irgend etwas, was ich tun könnte, um die Gefahr zu verringern und die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten?«

»Nein, nichts«, sagte Lem wahrheitsgemäß.

»Dann hat es wenig Sinn, daß ich mich mit dir anlege.« »Überhaupt keinen«, sagte Lem.

Er setzte sich in Richtung Hütte in Bewegung, weil das Tageslicht rasch schwächer wurde und er nicht in der Nähe des Waldes sein wollte, wenn die Dunkelheit hereinkroch. Sicher, es war nur ein Maultierhirsch gewesen. Aber das nächste Mal? »Warte!« sagte Walt. »Du läßt mich jetzt sagen, was ich mir denke, und hörst nur zu. Du brauchst das, was ich sage, weder

zu bestätigen noch zu verneinen. Du brauchst mir nur bis zum Ende zuzuhören.«

»Also los«, sagte Lem ungeduldig.

Die Schatten der Bäume krochen stetig über das Stoppelgras der Lichtung. Die Sonne schwebte ruhig über dem westlichen Horizont.

Walt trat aus den Schatten in das verblassende Sonnenlicht, die Hände in den Hüfttaschen, blickte auf den staubigen Boden und nahm sich einen Augenblick Zeit, seine Gedanken zu sammeln. Dann fing er an: »Am Dienstagnachmittag betrat jemand ein Haus in Newport Beach, erschoß einen Mann namens Yarbeck und prügelte dessen Frau zu Tode. In derselben Nacht tötete jemand die Familie Hudston in Laguna Beach -Mann, Frau, halbwüchsigen Sohn. Die Polizei in beiden Gemeinden benutzt dasselbe Gerichtslabor, also dauert es nicht lang, um festzustellen, daß an beiden Orten ein und dieselbe Waffe benutzt worden war. Und das ist so ziemlich alles, was die Polizei in beiden Fällen erfahren wird, weil die NSA in aller Stille auch bei diesen Verbrechen die Zuständigkeit an sich gezogen hat. Im Interesse der nationalen Sicherheit.«

Lem gab keine Antwort. Allein, daß er sich bereit erklärt hatte, zuzuhören, tat ihm bereits leid. Außerdem würde er nicht direkt die Ermittlungen zur Aufklärung der Morde an den zwei Wissenschaftlern leiten, hinter denen beinahe mit Sicherheit sowjetische Drahtzieher standen. Diese Aufgabe hatte er an andere delegiert, um sich ganz darauf konzentrieren zu können, den Hund und den Outsider zu finden.

Die Sonne färbte sich orangerot. Die Fenster der Hütte glühten im Widerschein des verblassenden Feuers.

Walt sagte. »Okay, dann wäre da noch Dr. Davis Weatherby aus Corona Del Mar. Seit Dienstag verschwunden. Heute morgen hat Weatherbys Bruder die Leiche des Doktors im Kofferraum seines Wagens gefunden. Kaum sind die Pathologen der örtlichen Behörde dort eingetroffen, als auch schon die NSA-Agenten auftauchen.«

Die Schnelligkeit, mit der der Sheriff offensichtlich Informationen sammelte, ordnete und verarbeitete, die aus verschiedenen Gemeinden stammten, die sich nicht in seinem Bezirk befanden und daher auch nicht in seinem Zuständigkeitsbereich lagen, war etwas zermürbend.

Walt grinste, aber in seinem Grinsen war nicht die leiseste Spur von Humor. »Hast wohl nicht erwartet, daß ich diese Zusammenhänge herstelle, hm? Alles das steht in verschiedenen Polizeiberichten. Aber soweit ich das sehe, ist dieser Bezirk eine einzige Großstadt mit zwei Millionen Menschen, und deshalb arbeite ich mit sämtlichen Revieren eng zusammen.« »Worauf willst du hinaus?«

»Ich will darauf hinaus, daß es höchst erstaunlich ist, wenn an einem Tag sechs angesehene Bürger ermordet werden. Schließlich ist das hier Orange County, und nicht Los Angeles. Und noch erstaunlicher ist, daß alle sechs Todesfälle in Zusammenhang stehen mit dringlichen Angelegenheiten der nationalen Sicherheit. Das erweckt meine Neugierde. Ich fange also an, mich ein wenig um den Hintergrund dieser Leute zu kümmern, suche nach etwas, das sie miteinander verbindet...«

»Walt, um Gottes willen!«

»... und entdecke, daß sie alle für etwas arbeiten - oder gearbeitet haben -, das sich Banodyne Laboratories nennt.«

Lem war nicht böse. Er konnte Walt nicht böse sein - sie standen sich schließlich näher als Brüder. Aber die Gerissenheit, die er jetzt an den Tag legte, konnte einen verrückt machen. Lem sagte: »Hör zu, du hast kein Recht, Ermittlungen anzustellen.«

»Ich bin Sheriff, das solltest du nicht vergessen.«

»Aber keiner dieser Morde - mit Ausnahme dieses hier an Dalberg - fällt in deine Zuständigkeit. So fängt's an«, sagte Lem. »Und selbst wenn das der Fall wäre... sobald die NSA sich einschaltet, hast du nicht das Recht, deine Ermittlungen weiterzuführen. Tatsächlich verbietet dir das Gesetz das sogar ausdrücklich.«

Walt tat, als hätte er nicht gehört, und fuhr fort: »Also schlage ich nach, was Banodyne ist, woran sie arbeiten, und entdecke, daß sie sich mit Gentechnologie befassen ...«

»Du bist unverbesserlich.«

»Nichts deutet darauf hin, daß Banodyne mit Verteidigungsprojekten befaßt ist, aber das hat nichts zu bedeuten. Schließlich könnten das ja auch blinde Verträge sein, Projekte, die so geheim sind, daß die Mittel dafür nicht öffentlich ausgewiesen werden.«

»Herr Jesus!« sagte Lem gereizt. »Verstehst du denn wirklich nicht, wie verdammt gemein wir werden können, wenn wir die nationalen Sicherheitsgesetze auf unserer Seite haben?«

»Ich stelle im Augenblick lediglich Spekulationen an«, sagte Walt.

»Du wirst deinen >Honky[2]<-Arsch gleich in eine Gefängniszelle hineinspekulieren.«

»Augenblick mal, Lemuel. Wir wollen hier keine Rassenauseinandersetzung führen.«

»Du bist unverbesserlich.«

»Jaah, und du fängst an, dich zu wiederholen. Jedenfalls hab' ich gründlich nachgedacht und mir zusammengereimt, daß die Morde an diesen Leuten, die bei Banodyne gearbeitet haben, irgendwie mit der Suchaktion am Mittwoch und Donnerstag zusammenhängen. Und mit dem Mord an Wesley Dalberg.«

»Zwischen dem Mord an Dalberg und den anderen Morden gibt es keine Ähnlichkeiten.«

»Natürlich nicht. Das war nicht derselbe Killer. Das seh' ich. Die Yarbecks, die Hudstons und Weatherby sind von einem Profi umgelegt worden, während der arme Wes Dalberg in Stücke gerissen wurde. Trotzdem gibt es eine Verbindung, weiß Gott, oder du würdest dich nicht für die Geschichte interessieren. Und die Verbindung muß Banodyne sein.«

Die Sonne ging unter. Die Schatten liefen ineinander, verdichteten sich.

Walt fuhr fort: »Ich denk' es mir folgendermaßen: Die haben bei Banodyne an irgendeinem neuen Bazillus gearbeitet, einer genetisch veränderten Bakterie, und die ist ihnen entkommen, hat jemanden angesteckt, aber ihn nicht bloß krank gemacht. Sie hat sein Gehirn ernstlich beschädigt und ihn in einen Wilden oder so etwas verwandelt... «

»Ein Dr. Jekyll für das High-Tech-Zeitalter?« unterbrach Lem ihn sarkastisch.

»... und er ist aus dem Labor entkommen, ehe jemand wußte, was ihm widerfahren war, in die Vorberge geflohen, kam hierher und griff Dalberg an.«

»Du siehst dir wohl eine Menge schlechter Horrorfilme an, oder?«

»Was Yarbeck und die anderen angeht: Die sind vielleicht eliminiert worden, weil sie wußten, was passiert war, und wegen der Folgen solche Angst hatten, daß sie vorhatten, damit an die Öffentlichkeit zu gehen.«

Irgendwo tief im in die Dämmerung gehüllten Canyon erhob sich ein leises, wehklagendes Heulen. Wahrscheinlich bloß ein Kojote.

Lem wollte fort von hier, raus aus dem Wald. Aber er mußte sich mit Walt Gaines auseinandersetzen, mußte den Sheriff von seinen Nachforschungen und Mutmaßungen abbringen.

»Jetzt wollen wir einmal etwas klarstellen, Walt. Behauptest du allen Ernstes, die Regierung der Vereinigten Staaten hätte ihre eigenen Wissenschaftler umbringen lassen, um sie zum Schweigen zu bringen?«

Walt runzelte die Stirn. Er wußte, wie unwahrscheinlich -wenn nicht unmöglich - dieses Szenario war.

Lem sagte: »Ist das Leben wirklich bloß ein Ludlum-Ro-man? Wir bringen unsere eigenen Leute um? Ist das der Paranoia-Monat der Nation oder so was? Glaubst du den Scheiß wirklich?«

»Nein«, gab Walt zu.

»Und wie könnte Dalbergs Mörder ein verseuchter Wissenschaftler mit einem Hirnschaden sein? Ich meine, Herrgott, du selbst hast doch gesagt, daß irgendein Tier Dalberg getötet hat, etwas mit Klauen und scharfen Zähnen.«

»Okay, okay, dann hab' ich das Puzzle eben noch nicht richtig zusammengesetzt. Jedenfalls nicht ganz. Aber ich bin sicher, daß alles irgendwie mit Banodyne zusammenhängt. Ich bin doch nicht ganz auf der falschen Spur - oder?«

»Doch, das bist du«, sagte Lem. »Völlig.«

»Wirklich?«

»Wirklich.« Lem belastete es, daß er Walt anlügen und manipulieren mußte, aber er tat es trotzdem. »Ich sollte dir nicht einmal sagen, daß du hinter der falschen Spur herrennst. Aber als Freund schulde ich dir wohl soviel.«

Weitere wilde Stimmen hatten sich dem unheimlichen Heulen in den Wäldern angeschlossen und bestätigten damit, daß die Schreie nur von Kojoten kamen, und doch ließ der Lärm es

Lem Johnson eisig über den Rücken laufen, und es drängte ihn, diesen Ort zu verlassen.

Walt rieb sich mit einer Hand seinen Stiernacken und sagte: »Es hat also überhaupt nichts mit Banodyne zu tun?«

»Gar nichts. Es ist reiner Zufall, daß Weatherby und Yarbeck beide dort arbeiteten - und daß Hudston früher einmal dort gearbeitet hat. Wenn du unbedingt eine Verbindung zwischen diesen Fällen herstellen willst, vergeudest du nur deine Energien - und mir soll's recht sein.«

Die Sonne versank und schien dabei eine Tür aufgestoßen zu haben, durch die eine viel kühlere, schärfere Brise in die dunkler werdende Welt wehte.

Walt, der sich immer noch den Nacken rieb, sagte: »Also nicht Banodyne, hm?« Er seufzte. »Ich kenn' dich zu gut, Kumpel. Dein Pflichtgefühl ist so ausgeprägt, daß du deine eigene Mutter belügen würdest, wenn das im Interesse unseres Landes wäre.«

Lem sagte nichts.

»Also gut«, sagte Walt. »Ich lass' es. Ab jetzt gehört der Fall dir. Es sei denn, weitere Leute in meinem Zuständigkeitsbereich werden umgebracht. Wenn das passiert... nun, dann könnte ich vielleicht versuchen, wieder einzugreifen. Kann dir nicht versprechen, daß ich das nicht tun werde. Ich habe auch mein Pflichtgefühl, weißt du?«

»Ich weiß«, sagte Lem und kam sich wie ein Schwein vor. Dann strebten sie beide der Hütte zu.

Der Himmel - im Osten dunkel, im Westen noch immer von orangefarbenen, roten und purpurfarbenen Lichtzungen durchsetzt - schien sich wie der Deckel einer Schachtel herabzusenken.

Kojoten heulten.

Etwas im nächtlichen Wald erwiderte ihren Ruf.

Ein Puma, dachte Lem, wußte aber, daß er sich damit jetzt selbst belog.

4

Am Sonntag, zwei Tage nach dem so angenehm verlaufenen Mittagessen, fuhren Travis und Nora nach Solvang, einem Dorf im Santa-Ynez-Tal mit Häusern im dänischen Stil. Es handelte sich um eine Touristenattraktion mit Hunderten von Geschäften, in denen es alles zu kaufen gab, angefangen vom exquisiten skandinavischen Kristall bis zu Plastikimitationen dänischer Bierkrüge. Die malerische - wenn auch auf Wirkung bedachte - Architektur und die von Bäumen gesäumten Straßen steigerten noch die simplen Freuden eines Schaufensterbummels.

Travis verspürte einige Male den Drang, nach Noras Hand zu greifen und sie festzuhalten, während sie dahinschlenderten. Es schien ihm natürlich und richtig so. Und dennoch hatte er das Gefühl, sie selbst könnte für einen so harmlosen Kontakt wie das Halten ihrer Hand noch nicht bereit sein.

Sie trug ein anderes fades Kleid, diesmal in stumpfem Blau und nahezu sackförmig. Praktische Schuhe. Ihr dichtes Haar hing immer noch schlaff und ohne Frisur herab, ganz wie beim erstenmal.

Mit ihr zusammenzusein war ein reines Vergnügen. Sie hatte eine reizende Art, war stets empfindsam und liebenswürdig. Ihre Unschuld war herzerfrischend. Ihre Scheu und ihre Bescheidenheit, obwohl sie sie übertrieb, machten sie nur noch sympathischer. Sie betrachtete alles mit großäugigem Staunen, was bezaubernd aussah, und es machte ihm riesigen Spaß, sie mit einfachen Dingen zu überraschen: einem Laden, in dem nur Kuckucksuhren verkauft wurden; einem anderen, in dem es nur ausgestopfte Tiere gab; einer Musikbox mit einer Tür aus Perlmutt, die sich öffnete und den Blick auf eine Pirouetten drehende Ballerina freigab.

Er kaufte ihr ein T-Shirt mit einem eigens für sie ausgedachten Aufdruck, den sie erst sehen durfte, als er fertig war: NORA LOVES EINSTEIN. Obwohl sie behauptete, sie würde nie ein T-Shirt tragen, es sei nicht ihr Stil, wußte Travis, daß sie es tragen würde, weil sie den Hund wirklich liebte.

Einstein konnte den Aufdruck auf dem Hemd nicht lesen, schien aber zu verstehen, was er bedeutete. Als sie aus dem

Geschäft kamen und seine Leine von der Parkuhr lösten, wo sie ihn angebunden hatten, betrachtete Einstein den Aufdruck des Hemdes ernst, während Nora es ihm hinhielt, damit er es inspizieren konnte. Dann leckte er ihr glücklich die Hände und schmiegte sich an sie.

Einen einzigen schlimmen Augenblick gab es an diesem Tag. Als sie um eine Ecke bogen und sich einem weiteren Schaufenster näherten, blieb Nora plötzlich stehen und sah sich um, musterte die Menschenmassen auf den Bürgersteigen - Leute, die Eiskrem aus großen Waffeltüten aßen; Leute, die in Wachspapier gewickelte Apfeltorten verzehrten; junge Männer in mit Federn verzierten Cowboyhüten, die sie in einem der Geschäfte gekauft hatten; hübsche junge Mädchen in Minishorts und BH; eine sehr fette Frau in einem weiten gelben hawaiischen Muumuu; Leute, die Englisch, Spanisch, Japanisch, Vietnamesisch und all die anderen Sprachen sprachen, die man in jedem Touristenort Südkaliforniens hören konnte. Dann fiel ihr Blick auf einen Andenkenladen, der die Form einer dreistöckigen Windmühle mit Fachwerkfassade hatte, und sie erstarrte plötzlich, hatte Angst. Travis mußte sie zu einer Bank in einem kleinen Park führen, wo sie sich hinsetzte und ein paar Minuten sitzenblieb, bis sie sagen konnte, was nicht stimmte.

»Überladen«, sagte sie schließlich mit zitternder Stimme.

»So viel... Neues ... neue Geräusche ... soviel Verschiedenes auf einmal. Es tut mir leid.«

»Ist schon gut«, sagte er, irgendwie gerührt.

»Ich bin ein paar Zimmer gewöhnt, an Dinge, die ich kenne. Starren die Leute uns an?«

»Niemand hat etwas bemerkt. Es gibt nichts anzustarren.«

Sie saß mit krummem Rücken da, den Kopf gesenkt, die Hände lagen zu Fäusten geballt in ihrem Schoß. Bis Einstein den Kopf auf ihre Knie legte. Während sie den Hund hinter den Ohren kraulte, begann sie sich langsam zu entspannen.

»Es hat mir wirklich gefallen«, sagte sie zu Travis, ohne dabei den Kopf zu heben, »wirklich sehr, und ich mußte immer denken, wie weit weg von zu Hause ich doch war, wie wunderbar weit weg von zu Hause ... «

»Nicht wirklich. Weniger als eine Stunde Fahrt«, beruhigte er sie.

»Sehr, sehr weit«, sagte sie.

Für sie war das wohl tatsächlich eine große Entfernung, vermutete Travis.

Sie fuhr fort: »Und als mir klarwurde, wie weit weg von zu Hause ich war und wie ... wie anders alles war ... da krampfte sich alles in mir zusammen, und ich hatte Angst wie ein Kind.«

»Möchten Sie jetzt nach Santa Barbara zurückfahren?«

»Nein!« sagte sie und sah ihm endlich in die Augen. Sie schüttelte den Kopf. Sie wagte es, um sich zu blicken, die Leute zu betrachten, die durch den kleinen Park schlenderten, und den Andenkenladen, der wie eine Windmühle aussah. »Nein. Ich möchte noch eine Weile bleiben. Den ganzen Tag. Ich möchte in einem Restaurant hier zu Abend essen, nicht in einem Straßencafe, sondern im Lokal, wie die anderen Leute es tun. Und möchte nach Hause, wenn es dunkel geworden ist.

Sie blinzelte und wiederholte verwundert die letzten Worte. »Wenn es dunkel geworden ist.«

»Einverstanden.«

»Außer natürlich. Sie hatten vorgehabt; früher heimzukommen.«

»Nein, nein«, sagte er. »Ich hatte vor, den ganzen Tag mit ihnen zu verbringen.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

Travis hob eine Braue. »Was meinen Sie damit?«

»Das wissen Sie.«

»Ich fürchte nein.«

»Daß Sie mir helfen, in die Welt hinauszutreten«, sagte sie. »Daß Sie Ihre Zeit opfern, um jemandem ... wie mir zu helfen. Das ist sehr großzügig von Ihnen.«

Er war verblüfft. »Nora, lassen Sie mich Ihnen versichern, daß ich hier nicht als Wohltäter fungiere.«

»Ein Mann wie Sie hat aber an einem Sonntagnachmittag im Mai ganz sicher Besseres zu tun.«

»O ja«, sagte er im Selbstspott. »Ich hätte zu Hause bleiben und meine sämtlichen Schuhe gründlich eincremen und dann polieren können. Ich hätte auch die Makkaroni in der Schachtel zählen können.«

Sie starrte ihn ungläubig an.

»Mein Gott, das ist ja wirklich Ihr Ernst«, sagte Travis. »Sie denken, ich sei hier, bloß weil Sie mir leid tun.«

Sie biß sich auf die Unterlippe und sagte: »Es ist ja gut.«

Sie blickte wieder auf den Hund hinab. »Es macht mir nichts aus.«

»Aber ich bin nicht aus Mitleid hier, um Himmels willen!

Ich bin hier, weil es mir Spaß macht, mit Ihnen zusammenzusein, wirklich - ich mag Sie sehr.«

Obwohl sie den Kopf gesenkt hielt, war die Röte, die sich über ihre Wangen schlich, nicht zu übersehen.

Eine Weile sagte keiner von ihnen etwas.

Einstein schaute anbetend zu ihr auf, als sie ihn streichelte, wenn er auch hin und wieder Travis von der Seite einen Blick zuwarf, als wollte er sagen: Also schön, jetzt hast du die Tür zu einer Beziehung geöffnet, also sitz nicht einfach da wie ein Narr - sag etwas, unternimm etwas, erobere sie.

Sie kraulte den Retriever hinter den Ohren und streichelte ihn ein paar Minuten lang, dann sagte sie: »Jetzt bin ich wieder okay.«

Sie verließen den kleinen Park und schlenderten wieder an den Geschäften vorüber, und nach einer Weile war es, als hätten sich ihr Anfall von Panik und seine etwas ungeschickte Erklärung seiner Zuneigung nicht ereignet.

Es war ihm, als würde er einer Nonne den Hof machen. Schließlich wurde ihm bewußt, daß es sogar noch schlimmer war. Seit dem Tod seiner Frau vor drei Jahren hatte er im Zölibat gelebt. Der ganze Bereich sexueller Beziehungen schien ihm fremd und nun wieder völlig neu. Also war es beinahe so, als wäre er ein Priester, der sich um eine Nonne bemühte.

Fast in jedem Häuserblock gab es eine Bäckerei, und jedes der Schaufenster schien köstlichere Dinge zu enthalten als das Schaufenster zuvor. Düfte von Zimt, Puderzucker, Muskat, Mandeln, Äpfeln und Schokoladen mischten sich in der warmen Frühlingsluft.

Einstein stellte sich bei jeder Bäckerei auf die Hinterpfoten, legte die Vorderpfoten auf den Fenstersims und starrte sehnsüchtig durch das Glas auf das kunstvoll arrangierte Gebäck. Aber er betrat keinen der Läden, bellte kein einziges Mal.

Wenn er bettelte, war sein seelenvolles Gewinsel diskret leise, um die Touristen nicht zu belästigen. Als er dann mit einer Erdnußschnitte und einem kleinen Apfeltörtchen belohnt wurde, war er zufrieden und hörte auf zu betteln.

Zehn Minuten später enthüllte Einstein Nora seine außergewöhnliche Intelligenz. Er war in ihrer Gesellschaft ganz der brave Hund gewesen, voll Zuneigung und Freundlichkeit, hatte beträchtliche Initiative an den Tag gelegt, indem er Arthur Streck jagte und stellte. Aber einen Blick auf seine unheimliche Intelligenz hatte er ihr bislang nicht gestattet. Und als sie schließlich Zeugin derselben wurde, begriff sie zuerst gar nicht, was sie sah.

Sie kamen an der Apotheke des Städtchens vorbei, wo man auch Zeitungen und Magazine verkaufte, von denen einige in einem Ständer neben dem Eingang ausgestellt waren. Einstein strebte mit einem plötzlichen Ruck in Richtung Apotheke, dabei der überraschten Nora die Leine aus der Hand reißend.

Ehe Nora und Travis ihn wieder einfangen konnten, benutzte Einstein seine Zähne dazu, ein Magazin vom Regal zu reißen, es ihnen zu bringen und vor Noras Füße fallen zu lassen. Es war die Zeitschrift >Die moderne Braut<. Als Travis die Hand nach ihm ausstreckte, wich Einstein aus und schnappte sich ein weiteres Exemplar der >Modernen Braut<, das er vor Travis' Füße zu Boden fallen ließ, als Nora eben ihr Exemplar aufhob, um es wieder auf den Ständer zu legen.

»Du Dummchen«, sagte sie. »Was ist denn in dich gefahren?«

Travis griff nach der Leine, wand sich zwischen den Passanten hindurch, um das zweite Exemplar des Magazins wieder dorthin zurückzulegen, wo der Hund es genommen hatte. Er glaubte genau zu wissen, was Einstein im Sinn hatte, sagte aber nichts, aus Sorge, es könnte Nora peinlich sein, und sie setzten ihren Spaziergang fort.

Einstein besah sich alles, beschnüffelte interessiert die Vorübergehenden und schien seine Begeisterung für dem Ehestand gewidmete Druckerzeugnisse völlig vergessen zu haben.

Sie hatten jedoch wenig mehr als zwanzig Schritte zurückgelegt, als der Hund abrupt kehrtmachte, zwischen Travis'

Beine rannte, ihm dabei die Leine aus der Hand riß und ihn fast zu Boden warf. Einstein strebte geradenwegs der Apotheke zu, schnappte sich ein Magazin aus dem Ständer und kehrte damit zurück.

>Die moderne Braut.<

Nora begriff immer noch nicht, hielt das Ganze für komisch und beugte sich hinunter, um den Retriever am Hals zu kraulen. »Das ist wohl deine Lieblingslektüre, du dummer Hund? Liest es wohl jeden Monat, was? Weißt du, ich wette, das tust du. Du kommst mir richtig romantisch vor.«

Ein paar Touristen hatten den verspielten Hund bemerkt und lächelten; aber es war weniger wahrscheinlich als bei Nora, daß sie begriffen, daß das Tier bei seinem Spiel mit der Zeitschrift komplexe Hintergedanken verfolgte.

Als Travis sich bückte, um >Die moderne Braut< aufzuheben, in der Absicht, sie zurückzutragen, kam Einstein ihm zuvor, hielt das Heft mit den Zähnen fest und schüttelte es einen Augenblick lang heftig.

»Böser Hund«, sagte Nora, sichtlich überrascht, an Einstein auch teuflische Züge zu entdecken.

Einstein ließ das Magazin fallen. Es war ziemlich zerknautscht, ein paar der Seiten waren zerfetzt, und hier und da zeigten sich auf dem Papier Spuren von Speichel.

»Jetzt werden wir es kaufen müssen«, sagte Travis.

Hechelnd hockte sich der Hund auf den Bürgersteig, legte den Kopf schief und grinste zu Travis hinauf.

Nora in ihrer Unschuld merkte nicht, daß der Hund versuchte, ihnen etwas mitzuteilen. Natürlich hatte sie keine Veranlassung, für Einsteins Verhalten komplizierte Erklärungen zu suchen. Sie wußte nichts von seinen geistigen Fähigkeiten und erwartete von ihm keine Wunder von kommunikativem Verhalten.

Travis sah den Hund böse an und sagte: »Jetzt hörst du auf, Pelzgesicht. Schluß damit. Verstanden?«

Einstein gähnte.

Nachdem sie das Magazin bezahlt und es in einen Plastikbeutel gesteckt hatten, setzten sie ihren Gang durch Solvang fort. Doch ehe sie das Ende des Häuserblocks erreicht hatten, fing der Hund an, seine Botschaft zu verdeutlichen. Plötzlich nahm er Noras Hand vorsichtig zwischen die Zähne und zog sie zu ihrer Verblüffung über den Bürgersteig zu einer Gemäldegalerie, wo ein junges Paar die Landschaftsgemälde im Schaufenster bewunderte. Sie hatten ein Baby in einem Kinderwagen, und auf dieses Kind lenkte Einstein jetzt Noras Aufmerksamkeit. Er wollte ihre Hand nicht loslassen, bis er sie gezwungen hatte, den in Rosa gekleideten Säugling am Arm zu tätscheln.

Verlegen meinte Nora: »Er hält Ihr Baby wohl für ausnehmend hübsch - und das ist es ja auch.«

Mutter und Vater hatten den Hund zunächst argwöhnisch gemustert, erkannten aber schnell, daß er harmlos war.

»Wie alt ist denn Ihr kleines Mädchen?« fragte Nora.

»Zehn Monate«, sagte die Mutter.

»Und wie heißt sie?«

»Lana.«

»Ein hübscher Name.«

Schließlich war Einstein bereit, Noras Hand loszulassen.

Ein paar Schritte von dem jungen Paar entfernt, vor einem Antiquitätenladen, der so aussah, als wäre er Ziegel um Ziegel und Balken um Balken aus dem Dänemark des 17. Jahrhunderts hierhertransportiert worden, blieb Travis stehen, kauerte sich neben dem Hund nieder, hob eines seiner Ohren und sagte: »Genug. Wenn du je wieder dein Alpo kriegen willst, dann hör jetzt auf.«

Nora sah ihn verdutzt an. »Was ist nur in ihn gefahren?« Einstein gähnte, und Travis wußte, daß es Ärger geben würde.

In den nächsten zehn Minuten ergriff Einstein zweimal Noras Hand und führte sie beide Male zu Babys.

>Die moderne Braut< und Babys.

Die Botschaft war jetzt schmerzhaft deutlich, selbst für Nora: Du und Travis, ihr gehört zusammen. Heiratet. Habt Kinder. Gründet eine Familie. Worauf wartet ihr?

Sie war jetzt knallrot und schien außerstande, Travis anzusehen. Auch ihm war das Ganze peinlich.

Endlich schien Einstein zufrieden, seine Absicht klargemacht zu haben, und benahm sich wieder anständig. Bis zu dieser Stunde hätte Travis jedem gegenüber auf dessen entsprechende Frage behauptet, ein Hund könne nicht blasiert dreinsehen.

Später, als es Zeit wurde, essen zu gehen, war es immer noch angenehm warm, und Nora änderte ihre Absicht, das Essen in einem gewöhnlichen Restaurant im Inneren einzunehmen. Sie wählte ein Lokal mit Tischen im Freien unter roten

Schirmen, die unter den schützenden Ästen einer riesigen Eiche standen. Travis hatte aber das Gefühl, daß sie sich nicht davor fürchtete, in einem richtigen Restaurant zu sitzen, sondern daß sie im Freien essen wollte, damit sie Einstein bei sich behalten konnten. Mehrere Male während des Essens schaute sie Einstein an, musterte ihn manchmal verstohlen, dann wiederum unverhohlen und mit gespannter Aufmerksamkeit.

Travis ging auf das, was geschehen war, nicht ein und tat so, als hätte er die ganze Angelegenheit vergessen. Aber als dann der Hund ihm die Aufmerksamkeit zuwandte und Nora gerade nicht herschaute, formte sein Mund drohende Worte: Keine Apfeltörtchen mehr. Würgehalsband. Maulkorb. Auf dem schnellsten Weg ins Hundeasyl.

Einstein nahm jede Drohung mit großem Gleichmut hin, grinste entweder oder gähnte oder blies schnaubend die Luft durch die Nasenlöcher.

5

Am frühen Sonntagabend besuchte Vince Nasco Johnny Santi-ni, genannt >der Draht<. Johnny wurde aus mehreren Gründen >der Draht< genannt, nicht zuletzt deshalb, weil er groß, schlank und drahtig war und aussah, als bestünde er aus verknoteten Drähten verschiedener Dicke. Außerdem hatte er gekräuseltes Haar in der Farbe von Kupfer. Johnny war schon im zarten Alter von fünfzehn Jahren zu Ansehen gelangt: Er hatte es damals, um seinem Onkel Religio Fustino, dem Don einer der fünf Familien New Yorks, gefällig zu sein, auf sich genommen, einen auf eigene Rechnung arbeitenden Shit-und-Coke-Dealer zu strangulieren, der in der Bronx ohne Erlaubnis der Familie tätig war. Johnny benützte für den Job eine Klaviersaite. Dieser Beweis seiner Eigeninitiative und seiner Achtung der Prinzipien der Familie hatte Don Religio mit Stolz und Zuneigung erfüllt, er hatte geweint - zum zweiten Mal in seinem Leben -, seinen Neffen des ewigen Respekts der Familie versichert und ihm eine gutbezahlte Position im Geschäft versprochen.

Jetzt war Johnny >der Draht< fünfunddreißig und wohnte in einem Strandhaus in San Clemente, das eine Million Dollar gekostet hatte. Die zehn Zimmer und vier Bäder waren von einem Innenarchitekten gestaltet worden, dessen Auftrag gelautet hatte, inmitten unserer modernen Welt im authentischen -und teuren - Art-deco-Stil einen Zufluchtsort zu schaffen.

Alles war in Schwarz, Silber und Dunkelblau gehalten, mit Andeutungen von Türkis und Pfirsich. Johnny hatte Vince gegenüber geäußert, Art deco gefalle ihm, weil ihn diese Richtung an die Roaring Twenties erinnere. Er liebte die zwanziger Jahre, denn das war die romantische Epoche der legendären Gangsterbosse gewesen.

Für Johnny den Draht war Verbrechen nicht nur ein Mittel, Geld zu machen, nicht nur einfach eine Möglichkeit, sich gegen die Einengungen der zivilisierten Gesellschaft aufzulehnen, auch nicht bloß ein ererbter Trieb, für ihn war es auch -und zwar in erster Linie - eine großartige romantische Tradition. Er sah sich als Bruder aller Augenklappen tragenden ha-kenarmigen Piraten, die je auf der Suche nach Raubgut die Segel gesetzt hatten, aller Straßenräuber, die je eine Postkutsche ausgeraubt hatten, und der Gesamtheit von Safeknackern, Kidnappern und Erpressern seit den Zeiten, da es Verbrechen als Profession gab. Er war, darauf bestand er, auf mystische Weise mit Jesse James, Dillinger, AI Capone, den Dalton-Boys, Lucky Luciano und Legionen anderer verwandt, und Johnny liebte sie alle, diese legendären Brüder in Diebstahl und Blutvergießen.

Als er Vince die Eingangstür aufmachte, sagte er: »Komm rein, komm rein. Großer. Schön, dich wiederzusehen.«

Sie umarmten einander. Vince mochte Umarmungen nicht, aber er hatte für Johnnys Onkel Religio gearbeitet, als er noch in New York lebte, und bisweilen war er hier an der Westküste noch für die Fustino-Familie tätig, also kannten er und Johnny einander schon lange, lange genug, um eine Umarmung zu rechtfertigen.

»Du siehst gut aus«, sagte Johnny. »Paßt auf dich auf, wie ich sehe. Bist du immer noch boshaft wie eine Schlange?«

»Wie eine Klapperschlange«, sagte Vince, dem es allmählich peinlich war, solchen Schwachsinn von sich zu geben, aber er wußte, Johnny hatte es gern, wenn man mit dieser Art Gangstergequassel um sich warf.

»Hab' dich schon so lange nicht mehr gesehen. Dachte schon, die Bullen hätten dir vielleicht den Arsch aufgerissen.« »Ich sitze nie«, sagte Vince und meinte damit, für ihn stehe fest, daß das Gefängnis nicht zu den Dingen gehöre, die die Vorsehung für ihn ausersehen habe.

Johnny legte es so aus, daß Vince lieber schießend zu Boden gehen würde, als sich dem Gesetz zu ergeben, und daraufhin runzelte er die Stirn und nickte zustimmend. »Wenn sie dich je in die Ecke treiben, bläst du so viele von ihnen weg, wie du kannst, ehe sie dich erledigen. Die einzig saubere Art, zu Boden zu gehen.«

Johnny der Draht war ein erstaunlich häßlicher Mann, was wahrscheinlich sein Bedürfnis erklärlich machte, sich als Teil einer großen romantischen Tradition zu fühlen. Im Laufe der Jahre hatte Vince erkannt, daß die gutaussehenden Gangster nie herausstrichen, was sie taten. Sie töteten kaltblütig, weil Töten ihnen Freude bereitete oder weil sie es für nötig fanden, und sie stahlen, erpreßten und unterschlugen, weil sie auf bequeme Art zu Geld kommen wollten, punktum: keine Rechtfertigungen, keine Selbstbeweihräucherung, und so sollte es auch sein. Aber Leute mit Betongesichtern, die aussahen wie Quasimodo; wenn er seinen schlechten Tag hatte - nun, viele von diesen versuchten ihr unglückseliges Aussehen dadurch zu kompensieren, daß sie sich gaben wie Jimmy Cagney im Film >Public Enemy<.

Johnny trug einen schwarzen Jumpsuit und schwarze Turnschuhe. Er trug immer Schwarz, wahrscheinlich weil er dachte, er sehe damit bedrohlich aus und nicht einfach nur häßlich. Aus dem Vorraum folgte Vince Johnny ins Wohnzimmer, wo schwarze Polstergarnituren mit glänzendschwarz lackierten Sofatischen standen. Da waren Ormolu-Tischlampen von Ranc zu sehen, große, silberbestäubte Deco-Vasen von Daum, ein Paar alte Stühle von Jacques Ruhlmann. Vince kannte die Geschichte dieser Gegenstände nur deshalb, weil Johnny der Draht bei früheren Besuchen kurz aus seiner Rolle des harten Burschen herausgetreten war und über seine Schätze geplaudert hatte.

Eine gutaussehende Blondine lag hingestreckt auf einer schwarzsilbernen Chaiselongue und las eine Zeitschrift. Sie war höchstens zwanzig, aber in beinahe peinlicher Weise überreif. Ihr silberblondes Haar war kurzgeschnitten, ein Bubikopf. Sie trug einen roten Hosenanzug aus chinesischer Seide, der an den Konturen ihrer vollen Brüste klebte, und als sie aufblickte und Vince schmollend ansah, schien das ein Versuch, wie Jean Harlow auszusehen.

»Das ist Samantha«, sagte Johnny der Draht. Zu Samantha gewandt, meinte er: »Süße, das hier ist ein gemachter Mann, mit dem nicht gut Kirschen essen ist, und schon zu Lebzeiten eine Legende.«

Vince kam sich wie ein Esel vor.

»Was ist ein >gemachter Mann

Johnny trat neben die Chaiselongue, umschloß mit der Hand eine Brust der Blondine und drückte sie kosend durch den Seidenpyjama hindurch. Dann meinte er: »Sie versteht die Sprache nicht, Vince, sie gehört nicht zur Fratellanza. Sie ist ein Mädchen aus dem Tal, kennt das Leben nicht und kennt nicht unsere Sitten.«

»Damit meint er, daß ich keine Spaghetti fressende Ithake-rin bin«, sagte Samantha ärgerlich.

Johnny versetzte ihr eine so heftige Ohrfeige, daß sie fast von der Chaiselongue fiel. »Gib acht, was du sagst, blödes Stück.«

Sie griff sich mit der Hand an die Wange, und in ihren Augen schimmerten Tränen. Dann sagte sie mit Kleinmädchenstimme: »Tut mir leid, Johnny.«

»Blödes Stück«, murmelte er.

»Ich weiß nicht, was manchmal in mich fährt«, sagte sie.

»Du bist so gut zu mir, Johnny, und ich hasse mich, wenn ich 50 bin.«

Vince kam das Ganze wie einstudiert vor, wahrscheinlich deshalb, weil sie das schon so oft durchgespielt hatten, sowohl allein wie auch vor anderen. Das Glitzern in Samanthas Augen verriet Vince, daß es ihr Vergnügen machte, geschlagen zu werden; sie reizte Johnny, damit er sie schlug. Und Johnny bereitete es sichtlich Freude, sie zu schlagen.

Vince widerte das an.

Johnny der Draht nannte sie noch einmal >blödes Stück<, rührte dann Vince aus dem Wohnzimmer ins große Arbeitszimmer und schloß die Tür hinter sich. Er blinzelte ihm zu und sagte: »Ein wenig vorlaut, die Kleine, aber dafür saugt sie dir das Hirn aus den Eiern.«

Vince verabscheute solch schmutzige Reden. Er lehnte es ab, sich in ein solches Gespräch hineinziehen zu lassen. Statt dessen holte er einen Umschlag aus der Jackettasche. »Ich brauche Informationen.«

Johnny nahm den Umschlag, schaute hinein, blätterte desinteressiert in dem Bündel Hundert-Dollar-Noten und sagte: »Was du willst, sollst du haben.«

Das Arbeitszimmer war der einzige Raum im Haus, der von der Art Deco unberührt geblieben war. Er war durch und durch High-Tech. An drei Wänden standen massive Stahltische, auf ihnen acht Computer unterschiedlicher Marken und Modelle. Jeder Computer hatte sein Modem mit eigener Telefonleitung, und jeder Bildschirm leuchtete. Auf einigen Schirmen liefen Programme ab; Daten huschten über sie oder rollten von unten nach oben ab. Die Gardinen waren vor die Fenster gezogen, die zwei Arbeitslampen auf biegsamen Hälsen verhüllt, damit kein grelles Licht auf die Monitore fiele, und so war der Raum in elektronisches Grün getaucht, was Vince das eigenartige Gefühl vermittelte, er befände sich unter Wasser. Drei Laserdrucker produzierten mit leisem Flüstern Kopien, und die Geräusche ließen in Vinces Fantasie aus irgendeinem Grund das Bild von Fischen erstehen, die sich durch die Vegetation des Meeresbodens hindurchwanden.

Johnny der Draht hatte ein halbes Dutzend Männer getötet, Buchmacher- und Lottogeschäfte betrieben. Bankraube und Juwelendiebstähle geplant und ausgeführt. Er war ins Drogengeschäft der Fustino-Familie verwickelt gewesen, hatte seine Finger in Erpressung, Entführung, Gewerkschaftskorruption, der illegalen Herstellung von Videokopien, politischer Bestechung und Kinderpornographie gehabt. Er hatte alles getan, alles gesehen, und obwohl ihn nie eine kriminelle Unternehmung gelangweilt hatte, egal, wie lange oder wie oft er damit befaßt gewesen war, hatte sich bei ihm doch eine gewisse Übersättigung eingestellt. Als im letzten Jahrzehnt der Com-puter erregende neue Bereiche krimineller Aktivitäten erschloß, hatte Johnny die Gelegenheit ergriffen, dort hineinzugehen, wo keiner der Maulhelden der Mafia bislang hineingegangen war: in das eine Herausforderung darstellende neue Gebiet der Computerkriminalität. Er hatte dafür eine Begabung und wurde bald zum größten Hacker der Mafia.

Wenn man ihm genügend Zeit gab und ihn entsprechend motivierte, konnte er jedes Computer-Sicherheitssystem knak-ken und sich die geheimsten Informationen einer Firma oder einer Regierung beschaffen. Galt es beispielsweise eine größere Kreditkartenmasche abzuziehen, Einkäufe im Wert von einer Million Dollar zu tätigen und damit die American-Express-Konten anderer Leute zu belasten, dann war Johnny der Draht imstande, geeignete Namen aus den Akten von TRW und die entsprechenden Kartennummern aus den Datenbänken von American Express abzuzapfen, und schon war man im Geschäft. War man ein Don, stand unter Anklage und erwartete seinen Prozeß und fürchtete sich vor der Zeugenaussage, die einer der eigenen Komplizen liefern könnte, weil die Staatsanwaltschaft ihm den Kronzeugenstatus versprochen hatte, dann war Johnny imstande, in die bestgehüteten Datenbänke des Justizministeriums einzudringen und dort die neue Identität herauszufinden, die man dem Verräter verschafft hatte. Und dann war es ein leichtes, die Killer auf ihn anzusetzen. Johnny hatte sich selbst etwas großspurig den Titel >Silikon-Zauberer< verliehen, obwohl alle anderen ihn immer noch den >Draht< nannten.

Als Hacker der Unterwelt war er den Familien der ganzen Nation wertvoller denn je; so wertvoll, daß es ihnen nichts ausmachte, als er an einem vergleichsweise abgelegenen Ort wie San Clemente sein Domizil aufschlug, wo er ein bequemes Leben am Strand führen konnte, während er gleichzeitig für sie arbeitete. Im Zeitalter der Mikrochips, meinte Johnny, sei die ganze Welt eine einzige Kleinstadt, und man könne in San Clemente - oder Oshkosh - sitzen und jemandem in New York City die Taschen leeren.

Johnny ließ sich in einen hochlehnigen schwarzen Ledersessel sinken, auf dessen Gummirollen man sich schnell von einem Computer zum nächsten gleiten lassen konnte. »Also!

Was kann der Silikon-Zauberer für dich tun, Vince?« fragte er.

»Kannst du die Polizei-Computer anzapfen?«

»Nichts leichter als das.«

»Ich muß wissen, ob seit dem letzten Dienstag irgendeine Polizeibehörde im Bezirk eine Akte in bezug auf irgendwelche absonderlichen Morde angelegt hat.«

»Wer sind die Opfer?«

»Das weiß ich nicht. Ich bin nur auf der Suche nach absonderlichen Morden.«

»Absonderlich in welcher Hinsicht?«

»Das weiß ich nicht genau. Vielleicht... vielleicht jemand, dem man die Kehle herausgerissen hat. Jemand, den man in Stücke gerissen hat. Jemand, den ein Tier zerbissen und hohlgefressen hat.«

Johnny warf ihm einen eigenartigen Blick zu. »Das ist absonderlich, allerdings. So was würde in der Zeitung stehen.«

»Vielleicht nicht«, sagte Vince und dachte an die Armee von Sicherheitsagenten der Regierung, die zweifellos am Werk war, um die Presse über das Francis-Projekt im dunkeln zu lassen und die gefährlichen Vorkommnisse in den Banodyne-Labors zu vertuschen. »Vielleicht sind die Morde in den Nachrichten erwähnt, aber vermutlich verschweigt die Polizei die grausigen Einzelheiten und stellt das Ganze als gewöhnliche Morde hin. Also werde ich aus dem, was die Zeitungen über Morde bringen, nicht feststellen können, welche die Mordopfer sind, die mich interessieren.«

»In Ordnung. Das läßt sich machen.«

»Du solltest auch die Veterinärbehörde des Bezirks etwas unter die Lupe nehmen, um zu sehen, ob bei denen irgendwelche Anzeigen über ungewöhnliche Angriffe von Kojoten, Pumas oder anderen Raubtieren eingegangen sind. Und nicht nur Angriffe auf Menschen, sondern auch auf Vieh - Kühe, Schafe. Es könnte sogar irgendeine Gemeinde, vielleicht am östlichen Rand des Bezirks, geben, wo eine Menge Haustiere verschwinden oder von irgendwelchen wilden Tieren zerrissen worden sind. Wenn du auf so etwas stößt, möchte ich das auch wissen.«

Johnny grinste und sagte: »Du bist wohl einem Werwolf auf der Spur?«

Das sollte ein Witz sein; er rechnete weder mit einer Antwort, noch wollte er eine hören. Er hatte nicht gefragt, wes-halb diese Information benötigt wurde, und er würde nie fragen, weil Leute, die in diesem Geschäft tätig waren, ihre Nase nicht in die Angelegenheiten anderer Leute steckten. Neugierig mochte Johnny sein, aber Vince wußte, daß der Draht nie seiner Neugierde nachgeben würde.

Vince beunruhigte auch nicht so sehr die Frage, sondern das sie begleitende Grinsen. Das grüne Licht der Computerschirme spiegelte sich in Johnnys Augen, im Speichel auf seinen Zähnen und in geringerem Maße auch in seinem drahtigen kupferfarbenen Haar. So häßlich er von Natur war - das gespenstische Licht ließ ihn wie eine wieder zum Leben erweckte Leiche in einem Romero-Film erscheinen.

Vince sagte: »Und noch was: Ich muß wissen, ob irgendeine Polizeibehörde im Bezirk in aller Stille nach einem Golden Retriever sucht.«

»Einem Hund?«

»Ja.«

»Die Bullen suchen gewöhnlich keine verlorengegangenen Hunde.«

»Ich weiß«, sagte Vince.

»Hat der Hund einen Namen?«

»Kein Name.«

»Ich werde nachsehen. Noch etwas?«

»Das ist alles. Wann hast du alles beisammen?«

»Ich ruf dich morgen früh an.«

Vince nickte. »Es wird drauf ankommen, was du ausfindig machst, ob ich dich vielleicht brauche, damit du diese Dinge Tag für Tag weiterverfolgst.«

»Kinderspiel«, sagte Johnny, machte eine Dreihundertsech-zig-Grad-Drehung in seinem schwarzen Ledersessel und sprang dann grinsend auf. »So, und jetzt werd' ich Samantha vögeln. He! Willst du mitmachen? Zwei Hengste wie wir -wenn wir uns die Kleine gleichzeitig vornehmen, bis das Miststück nur noch ein Haufen Sülze ist, fleht sie um Gnade. Wie wär's?«

Vince war für die gespenstische grüne Beleuchtung dankbar, weil sie verbarg, daß er bleich wurde wie ein Gespenst.

Die Vorstellung, es mit dieser infizierten Schlampe zu treiben, dieser verseuchten Hure, diesem durch und durch verfaulten

Drecksstück, reichte aus, in ihm Übelkeit zu erzeugen. »Ich habe eine Verabredung, die ich einhalten muß«, sagte er.

»Schade«, sagte Johnny.

Vince zwang sich zu sagen: »War' richtig ein Spaß gewesen.«

»Vielleicht nächstesmal.«

Allein die Vorstellung, daß sie alle drei... nun, Vince fühlte sich unrein. Ein überwältigender Drang nach einer dampfendheißen Dusche überkam ihn.

6

Es war Sonntagabend, Travis war von dem langen Tag in Sol-vang angenehm müde und dachte, er werde in dem Augenblick einschlafen, da er den Kopf auf das Kissen legte. Doch es war nicht so. Er konnte einfach nicht aufhören, über Nora Devon nachzudenken. Die grauen Augen mit den grünen Lichtern. Das glänzendschwarze Haar. Die feine schlanke Linie des Halses. Der wohltuende Klang ihres Lachens und die Art und Weise, wie sich beim Lächeln ihre Mundwinkel verzogen. Einstein lag auf dem Boden, im fahlsilbernen Licht, das durchs Fenster drang und nur einen kleinen Teil des ansonsten im Dunkel liegenden Zimmers schwach erhellte. Nachdem Travis sich eine Stunde lang im Bett herumgewälzt hatte, sprang der Hund schließlich zu ihm aufs Bett und legte seinen breiten Kopf und seine Vorderpfoten auf Travis' Brust.

»Sie ist so süß, Einstein. Ich habe noch selten jemanden kennengelernt, der so sanft und so süß ist.«

Der Hund blieb stumm.

»Und klug ist sie. Sie hat einen scharfen Verstand, schärfer, als ihr bewußt ist. Sie sieht Dinge, die ich nicht sehe. Sie hat eine Art, Dinge zu beschreiben, die diese frisch und neu erscheinen lassen. Die ganze Welt kommt mir frisch und neu vor, wenn ich sie mit ihren Augen sehe.«

Obwohl Einstein ruhig und stumm dalag, war er nicht eingeschlafen. Er war äußerst wachsam.

»Wenn man daran denkt, daß all die Lebenskraft, all die Intelligenz und Liebe zum Leben dreißig Jahre lang unterdrückt worden sind, könnte man weinen. Dreißig Jahre in diesem finsteren alten Haus. Du lieber Gott! Wenn ich daran denke, daß sie das all die Jahre erduldet hat und doch nicht verbittert geworden ist, möchte ich sie an mich drücken und ihr sagen, was für eine unglaubliche Frau sie ist, was für eine starke, mutige, unglaubliche Frau.«

Einstein gab keinen Laut von sich und blieb unbewegt liegen.

Lebhaft erinnerte Travis sich an den sauberen Shampoogeruch von Noras Haar, den er wahrgenommen hatte, als er sich vor dem Schaufenster einer Gemäldegalerie in Solvang zu ihr beugte. Er atmete tief ein, und da war der Geruch tatsächlich wieder, und der Duft beschleunigte seinen Herzschlag. »Verdammt«, sagte er. »Jetzt kenne ich sie seit ein paar Tagen, aber ich will verdammt sein, wenn ich nicht angefangen habe, mich in sie zu verlieben.«

Einstein hob den Kopf und wuffte, als wollte er sagen, es sei ja auch an der Zeit, daß Travis begriffe, was da geschehe. Er habe sie zusammengebracht, rechne sich ihr zukünftiges Glück als Verdienst an, und das alles sei Teil eines großen Plans. Travis solle doch aufhören, sich darüber Gedanken zu machen und sich einfach im Strom treiben lassen.

Travis redete noch eine ganze Stunde lang über Nora, wie sie aussah, sich bewegte, über den Klang ihrer weichen Stimme, ihre einmalige Art, das Leben zu betrachten und überhaupt ihre Art zu denken. Und Einstein hörte aufmerksam und echt interessiert zu, wie es sich für einen wahren, besorgten Freund gehörte. Diese Stunde gab ihm Auftrieb. Travis hatte nicht geglaubt, daß er wieder Liebe empfinden können würde, weder für einen Menschen noch ganz allgemein, und ganz bestimmt nicht so intensiv. Noch vor weniger als einer Woche war ihm seine Einsamkeit als etwas Unbesiegbares vorgekommen.

Später, nun körperlich wie seelisch ausgelaugt, schlief Travis ein.

Noch später, im hohlen Herzen der Nacht, wurde er halbwach und nahm benommen wahr, daß Einstein am Fenster war. Die Vorderpfoten des Retrievers lagen auf dem Fenstersims, er hatte die Schnauze gegen das Glas gepreßt und starrte in die Dunkelheit hinaus, wachsam.

Travis spürte die Unruhe des Hundes.

Aber in seinem Traum hatte er Noras Hand gehalten, unter dem Herbstmond, und er wollte nicht ganz wach werden, aus Angst, er könnte nicht mehr zu diesem angenehmen Fantasiebild zurückfinden.

7

Am Montagmorgen, dem 24. Mai, fanden sich Lemuel Johnson und Cliff Soames in dem kleinen Zoo - eigentlich mehr ein Tiergarten für Kinder - in der ausgedehnten Gemeinde Irvine Park am östlichen Rand des Orange County ein. Die Sonne stand grell und heiß am wolkenlosen Himmel. Auf den mächtigen Eichen regte sich kein Blatt in der unbewegten Luft, aber Vögel schwebten von Ast zu Ast, trillerten und fiepten.

Zwölf Tiere waren tot. Sie lagen gleich blutigen Haufen da. Während der Nacht war jemand oder etwas über die Zäune in die Pferche geklettert und hatte drei junge Ziegen, eine weißschwänzige Hirschkuh und ihr gerade zur Welt gekommenes Kitz, zwei Pfauen, einen Feldhasen, ein Mutterschaf und zwei Lämmer hingeschlachtet.

Dann war noch ein Pony tot, wenngleich es nicht so zugerichtet war wie die anderen. Offenbar war es aus Angst gestorben, als es sich wiederholt gegen den Zaun warf, im Versuch, vor dem zu fliehen, was die anderen Tiere angriff. Es lag auf der Seite, sein Hals war in unwahrscheinlichem Winkel verdreht.

Die Wildschweine waren unversehrt geblieben. Sie gruben schnaubend und schniefend in der staubigen Erde rund um den Futtertrog in ihrem separierten Pferch und suchten nach Futter, das vielleicht gestern verschüttet worden war und ihnen bis jetzt entgangen sein mochte.

Die anderen Überlebenden waren im Gegensatz zu den Wildschweinen nervös.

Die Angestellten des kleinen Parks - ebenfalls nervös -hatten sich in der Nähe eines orangefarbenen Lastwagens versammelt, der dem Bezirk gehörte. Sie redeten mit zwei Beamten der Tierbehörde und einem jungen, bärtigen Biologen vom kalifornischen Naturschutz.

Lem kauerte neben dem zarten, übel zugerichteten Rehkitz und studierte die Wunden an seinem Hals, bis er den Gestank nicht länger ertragen konnte. Aber nicht alle üblen Gerüche kamen von den toten Tieren. Es gab deutliche Hinweise, daß der Killer seine Opfer, so wie auch in Dalbergs Hütte, mit Kot und Urin bespritzt hatte: Lem drückte sich ein Taschentuch als Filter gegen die Nase und trat neben einen toten Pfau. Der Kopf war dem Tier abgerissen worden, ebenso ein Bein. Die beiden gestutzten Flügel waren gebrochen, die irisierenden Federn stumpffarben und mit Blut besudelt.

»Sir!« rief Cliff Soames aus dem Nachbarpferch.

Lem ließ den Pfau liegen, fand eine Tür, die in die nächste Umfriedung führte, und trat neben Cliff an den Kadaver des Mutterschafes.

Fliegen umschwärmten sie hungrig summend, ließen sich immer wieder auf dem Schafskadaver nieder und schossen davon, wenn die Männer sie verscheuchten.

Cliffs Gesicht war blutlos weiß, aber er wirkte nicht so schockiert und angegriffen wie letzten Freitag bei Dalbergs Hütte. Vielleicht setzte ihm dieses Massaker hier nicht so zu, weil die Opfer Tiere und keine Menschen waren. Vielleicht mobilisierte er auch bewußt all seine Härte gegen die extreme Gewalttätigkeit ihres Widersachers.

»Sie müssen auf diese Seite kommen«, rief Cliff von der Stelle aus, wo er neben dem Schafskadaver kauerte.

Lem ging um das Schaf herum und kauerte sich neben Cliff nieder. Obwohl der Kopf im Schatten eines in den Pferch ragenden Eichenastes lag, sah Lem, daß dem Tier das rechte Auge herausgerissen worden war.

Ohne Kommentar benutzte Cliff einen Stock dazu, die linke Seite des Schafskopfes vom Boden abzuheben, so daß man sehen konnte, daß auch die andere Augenhöhle leer war.

Die Fliegenwolke, die sie umgab, wurde dichter.

»Sieht ganz so aus, als wäre das unser Ausreißer«, sagte Lem.

Cliff nahm kurz das Taschentuch vom Gesicht und sagte:

»Da ist noch mehr.« Er führte Lem zu den drei anderen Kadavern, den beiden Lämmern und einer der Ziegen. Sie waren augenlos. »Ich würde sagen, das ist er einwandfrei. Das verdammte Ding, das vergangene Dienstagnacht Dalberg getötet hat, dann fünf Tage durch die Hügel und Canyons gezogen ist und dabei... «

»Und dabei was?«

»Das weiß Gott allein. Jedenfalls ist es gestern nacht hier gelandet.«

Lem wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von seinem dunklen Gesicht. »Wir befinden uns nur ein paar Meilen nordnordwestlich von Dalbergs Hütte.«

Cliff nickte.

»Wohin meinen Sie, daß es weiterzieht?«

Cliff zuckte die Achseln.

»Jaah«, sagte Lem. »Nicht rauszukriegen, wo es hinwill. Schließlich haben wir auch nicht die leiseste Ahnung, wie dieses Monster denkt. Wir wollen nur zu Gott beten, daß es hier draußen im dünnbesiedelten Teil des Bezirks bleibt. Ich will nicht einmal darüber nachdenken, was passiert, falls es auf die Idee käme, in die östlichen Vorstädte wie Orange Park Acres und Villa Park zu gehen.«

Als sie die kleine Anlage verließen, sah Lem, daß die Fliegen sich in solcher Zahl um den toten Hasen gesammelt hatten, daß sie wie ein Stück schwarzen Tuchs aussahen, das man über den Kadaver gelegt hatte und das in einer leichten Brise auf und nieder flatterte.

Acht Stunden später, am Montagabend um sieben Uhr, trat Lem an ein Rednerpult in einem großen Vortragssaal auf dem Gelände des Marineluftstützpunkts von El Toro. Er beugte sich zum Mikrofon vor, tippte es mit dem Finger an, um sich zu vergewissern, daß es eingeschaltet war, hörte ein lautes, hohles Geräusch und sagte: »Darf ich Sie um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«

Hundert Männer saßen auf Klappstühlen aus Metall. Sie waren alle jung, gutgebaut und kerngesund, gehörten sie doch Einheiten der Marineabwehr, einer Elitetruppe, an. Man hatte fünf Züge zu je zwei Gruppen von Pendleton und anderen Stützpunkten in Kalifornien abgezogen. Die meisten von ihnen hatten am letzten Mittwoch und Donnerstag nach dem Ausbruch aus dem Banodyne-Labors an der Suchaktion in den Santa-Ana-Bergen teilgenommen.

Sie suchten immer noch und waren soeben von einem vollen Tagewerk aus den Hügeln und Canyons zurückgekehrt. Aber sie führten die Operation inzwischen nicht mehr in Uniform durch. Um die Reporter und die lokalen Behörden zu täuschen, waren sie in privaten Fahrzeugen und Jeeps an verschiedene Punkte im Einsatzgebiet gefahren, in Dreier- oder Vierergruppen in die Wildnis eingedrungen, als Zivilisten gekleidet, in Jeans oder in Khakihosen, wie sie heute in Mode waren, in T-Shirts oder Safarihemden, und mit Dodger-, Budweiser-, John-Deere-Mützen oder Cowboyhüten. Sie waren alle mit großkalibrigen Revolvern bewaffnet, die sie schnell in ihren Nylonrucksäcken oder unter ihren weiten T-Shirts verstecken konnten, wenn sie auf echte Wanderer oder Angehörige der lokalen Behörde stießen. In großen Thermosbehältern führten sie zerlegbare Uzi-Maschinenpistolen mit sich, die binnen Sekunden einsatzbereit gemacht werden konnten, für den Fall, daß sie den Gegner fanden.

Jeder der im Raum Anwesenden hatte schriftlich einen Geheimhaltungseid abgelegt, der ihm eine lange Gefängnisstrafe androhte, falls er mit jemandem über ihren Einsatz sprach. Sie wußten, was sie jagten, obwohl Lem bewußt war, daß es einigen von ihnen schwerfiel, an die tatsächliche Existenz der Kreatur zu glauben. Manche hatten Angst. Andere, besonders die, die schon im Libanon oder in Mittelamerika gedient hatten, waren mit Tod und Schrecken vertraut genug, um sich auch nicht durch das, worauf sie augenblicklich Jagd machten, erschüttern zu lassen. Ein paar Veteranen waren sogar noch aus dem letzten Jahr in Vietnam dabei, und sie behaupteten, die ganze Mission sei ein Zuckerlecken. Jedenfalls waren sie alle hervorragende Leute mit gesundem Respekt für den fremdartigen Feind, den sie jagten. Und wenn der Outsider zu finden war, würden sie ihn finden.

Als Lem sie jetzt um ihre Aufmerksamkeit bat, verstummten sie sofort.

»General Hotchkiss sagt mir, daß Sie wieder einen erfolglosen Tag hatten dort draußen«, sagte Lem. »Und ich weiß. Sie sind darüber ebensowenig froh wie ich. Sie haben jetzt sechs Tage lang in schwierigem Terrain gearbeitet. Sie sind müde und fragen sich, wie lange das noch weitergehen soll. Nun, wir werden weitersuchen, bis wir finden, was wir suchen, bis

wir den Outsider in eine Ecke treiben und töten. Wir können und dürfen nicht ruhen, solange er noch in Freiheit ist. Keinesfalls.«

Keiner der hundert Männer gab einen Ton von sich.

»Und denken Sie immer daran - wir suchen auch nach dem Hund.«

Jeder im Saal hoffte wahrscheinlich, daß er derjenige sein würde, der den Hund fand, und daß ein anderer auf den Outsider stieß.

Lem sagte: »Am Mittwoch bringen wir weitere vier Gruppen der Marineabwehr von weiter entfernten Stützpunkten herein, und die Männer werden Sie dann im Turnus ablösen, damit Sie ein paar Tage frei haben. Morgen früh aber sind Sie alle wieder draußen, und wir haben das Suchgebiet neu abgesteckt.«

Hinter dem Rednerpult war eine Karte des Bezirks an der Wand angebracht, und Lem deutete jetzt mit einem Zeigestab darauf. »Wir verlagern den Einsatz nach Nord-Nordwesten in die Hügel und Canyons rings um Irvine Park.«

Er berichtete ihnen von dem Gemetzel in dem Tierpark. Er beschrieb ihnen den Zustand der Kadaver in allen Einzelheiten, weil er nicht wollte, daß auch nur einer dieser Männer unvorsichtig würde.

»Was diesen Zootieren passiert ist«, sagte Lem, »könnte jedem einzelnen von Ihnen auch passieren, wenn Sie am falsehen Ort oder zur falschen Zeit in Ihrer Wachsamkeit nachlassen.«

Hundert Männer musterten ihn mit großem Ernst, und in ihren Augen sah er hundert Spielarten seiner eigenen unterdrückten Furcht.

8

Dienstagnacht, der 25. Mai. Tracy Leigh Keeshan konnte nicht schlafen. Sie war so aufgeregt, daß sie das Gefühl hatte, bersten zu müssen. Sie stellte sich vor, sie sei ein Löwenzahn, ein zarter Ball zerbrechlichen weißen Federwerks. Und dann kam ein Windstoß und all die weiße Watte segelte nach allen Richtungen davon - puff - in die entferntesten Winkel der Welt, und Tracy Keeshan würde nicht mehr existieren, von ihrer eigenen Erregung vernichtet.

Die Fantasie ging der Dreizehnjährigen oft durch. Wenn sie im dunklen Zimmer im Bett lag, brauchte sie nicht einmal die Augen zu schließen, um sich im Sattel sitzen zu sehen, auf Goodheart, ihrem kastanienbraunen Hengst, über die Rennbahn donnernd, den anderen Pferden im Feld weit voraus, die Ziellinie nicht einmal mehr hundert Meter vor sich, und die begeisterte Menge jubelte ihr wie wild von den Tribünen zu ... Auf der Schule bekam sie gewohnheitsmäßig gute Noten, nicht weil sie eine besonders fleißige Schülerin war, sondern weil das Lernen ihr leichtfiel und sie ohne viel Mühe gut vorankam. Die Schule bedeutete ihr nicht sehr viel. Sie war schlank und blond, mit Augen, genau im Farbton eines klaren Sommerhimmels, und sehr hübsch. Die Jungs fühlten sich zu ihr hingezogen. Aber sie verbrachte ebensowenig Zeit mit Gedanken über Jungs wie damit, sich mit ihren Schulaufgaben zu befassen. Vorläufig zumindest. Dabei waren ihre Freundinnen auf Jungs geradezu fixiert, derart besessen von dem Thema, daß Tracy es zu Tode langweilig fand.

Was Tracy interessierte - leidenschaftlich, tief und heftig -das waren Pferde, Vollblutrennpferde. Seit ihrem fünften Lebensjahr sammelte sie Bilder von Pferden, seit dem siebten Lebensjahr nahm sie Reitstunden, obwohl ihre Eltern es sich die längste Zeit nicht hatten leisten können, ihr ein Pferd zu kaufen. Aber in den letzten zwei Jahren florierte das Geschäft ihres Vaters, vor zwei Monaten waren sie nach Orange Park Acres in ein großes neues Haus mit einem achttausend Quadratmeter großen Grundstück gezogen, und Orange Park Acres war Pferdeland mit einer Menge Reitwegen. Am hinteren Ende ihres Besitzes gab es einen Privatstall für sechs Pferde, wenn auch nur eine der Boxen besetzt war. Und genau heute, am Dienstag, dem 25. Mai, einem Tag der Freude, einem Tag, der ewig in Tracy Keeshans Herzen leben würde, einem Tag, der einfach der Beweis dafür war, daß es einen Gott gab, hatte sie ihr eigenes Pferd bekommen, den unvergleichlichen, großartigen, wunderschönen Goodheart.

Deshalb konnte sie nicht schlafen. Sie war um zehn zu Bett gegangen, jetzt war Mitternacht, und sie war wacher denn je.

Um ein Uhr früh konnte sie es nicht länger ertragen. Sie mußte hinaus zum Stall und Goodheart ansehen. Sich vergewissern, daß bei ihm alles in Ordnung war und er sich in seinem neuen Heim wohl fühlte. Sich vergewissern, daß er Wirklichkeit war.

Sie warf das Laken und die dünne Decke von sich und stieg leise aus dem Bett. Sie trug ein Höschen und ein T-Shirt mit dem Aufdruck >Santa Anita Racetrack<, schlüpfte bloß in ihre Jeans und in blaue Nike-Laufschuhe.

Langsam drehte sie den Türknopf, völlig lautlos, ging in den Korridor hinaus, ließ die Tür offenstehen.

Im Haus war es dunkel und still. Ihre Eltern und ihr neunjähriger Bruder Bobby schliefen.

Tracy ging durch den Flur, passierte Wohnzimmer und Speisezimmer, ohne das Licht einzuschalten. Sie fand sich im Mondlicht zurecht, das durch die großen Fenster fiel.

In der Küche machte sie lautlos die Schublade des Sekretärs auf, der in der Ecke stand, und nahm eine Taschenlampe heraus. Sie sperrte die Hintertür auf und trat auf die hintere Terrasse, zog klammleise die Tür hinter sich zu, immer noch, ohne die Taschenlampe anzuknipsen.

Die Frühlingsnacht war kühl, aber nicht kalt. Ein paar große Wolken, oben silbrig vom Mondlicht, unten mit dunklen Bäuchen, glitten wie Galeoncn mit weißen Segeln durch das Meer der Nacht. Tracy starrte eine Weile zu ihnen empor und genoß den Augenblick. Sie wollte jeden einzelnen dieser ganz besonderen Augenblicke in sich aufnehmen und ihre Vorfreude wachsen lassen. Schließlich, dies würde das erste Mal sein, daß sie mit dem stolzen, edlen Goodheart allein war. Nur sie beide würden ihre Zukunftsträume miteinander teilen.

Sie ging über die Terrasse, umschritt den Swimming-pool, wo der Widerschein des Mondes sich im Chlorwasser kräuselnd bewegte, und trat auf den leicht abschüssigen Rasen.

Das taufeuchte Gras schimmerte im sanften Mondlicht.

Links und rechts grenzte ein weißer Ranchzaun, der phosphoreszierendes Licht auszusenden schien, das Grundstück von den Nachbargrundstücken ab, die alle mindestens viertausend Quadratmeter groß waren, manche auch so groß wie das Keeshan-Anwesen. Überall rundum herrschte Stille, von ein paar Grillen und Fröschen abgesehen.

Tracy ging langsam auf die Stallungen am Ende des Grundstücks zu und dachte an die Triumphe, die ihr und Goodheart bevorstanden. Er würde in keine Rennen mehr gehen. Er war in Santa Anita, Del Mar, Hollywood Park und auf anderen Rennplätzen in Kalifornien in die Gewinnränge gelaufen. Aber dann hatte er sich eine Verletzung zugezogen, und ein Rennen war für ihn nicht mehr ungefährlich. Aber als Deckhengst konnte er noch eingesetzt werden, und Tracy zweifelte nicht daran, daß er Sieger zeugen würde. Im Laufe der nächsten Woche hofften sie, ihrem Bestand zwei gute Mähren zufügen zu können, und dann wollten sie die Pferde sofort auf eine Zuchtfarm bringen, wo Goodheart die Mähren decken würde. Dann kämen alle drei hierher zurück, und Tracy würde für sie sorgen. Im nächsten Jahr würden zwei gesunde Fohlen zur Welt kommen, und die Fohlen würden sie in der Nähe bei einem Trainer unterbringen, so daß Tracy sie dauernd besuchen konnte. Sie würde beim Training mithelfen, alles lernen, was es über die Aufzucht eines Champions zu lernen gab, und dann - ja, dann - würden sie und die Nachkommen Good-hearts Renngeschichte machen. 0 ja, sie war ganz sicher, daß sie Renngeschichte machen würden.

Sie wurde aus ihren Fantasien gerissen, als sie etwa zwölf Meter vor den Stallungen in etwas Weiches, Schlüpfriges trat und fast hinfiel. Es roch nicht nach Pferdekot, aber es mußte ein Haufen sein, den Goodheart hierher gesetzt hatte, als sie ihn gestern abend herausholte. Sie kam sich dumm und ungeschickt vor. Sie knipste die Taschenlampe an, richtete den Lichtstrahl auf den Boden und entdeckte statt Pferdekot die Überreste einer total verstümmelten Katze.

Tracy ließ vor Ekel zischend die Luft zwischen den Zähnen entweichen und schaltete sofort die Taschenlampe wieder aus. In der Nachbarschaft wimmelt es von Katzen, vor allem weil sie nützlich waren, die Mäusebevölkerung rings um die Stallungen in Grenzen zu halten. Von den Hügeln und Canyons im Osten kamen regelmäßig Kojoten auf der Suche nach Beute herein. Obwohl Katzen schnell waren, waren Kojoten manchmal schneller. Also war Tracys erster Gedanke, ein Kojote habe sich unter dem Zaun durchgegraben oder sei über ihn gesprungen und habe diese unglückliche Katze erwischt, die vermutlich auf der Jagd nach Nagern gewesen war,

Aber ein Kojote hätte die Katze sofort verzehrt und nicht viel mehr als ein Stück vom Schweif und ein oder zwei Fetzen Fell hinterlassen, denn Kojoten waren mehr Gourmands als Gourmets und hatten einen mörderischen Appetit. Oder er hätte die Katze weggeschleppt, um sie anderswo in Muße zu verspeisen. Diese Katze hingegen war nicht einmal zur Hälfte aufgefressen, nur in Stücke gerissen, so als hätte sie etwas oder jemand nur aus dem krankhaften Vergnügen heraus getötet, sie entzweizureißen ...

Tracy schauderte.

Und erinnerte sich an die Gerüchte, die über den Zoo im Umlauf waren.

In dem kleinen Tierpark von Irvine Park, nur ein paar Kilometer entfernt von hier, hatte jemand allem Anschein nach vor zwei Tagen ein paar Käfigtiere getötet. Vandalen im Drogenrausch. Vertierte Menschen, die um des Nervenkitzels wegen getötet hatten. Die Geschichte war nur ein heißes Gerücht, niemand konnte sie bestätigen. Aber es gab Hinweise, daß sie der Wahrheit entsprach. Ein paar Kinder waren gestern nach der Schule mit den Rädern zum Park gefahren, hatten dort zwar keine verstümmelten Kadaver gesehen, aber sie berichteten, daß allem Anschein nach weniger Tiere als gewöhnlich in den Gehegen wären, und das Shetlandpony sei eindeutig nicht mehr dasselbe. Die Tierwärter waren nicht besonders mitteilsam gewesen.

Tracy fragte sich, ob es irgendwelche Geistesgestörte gebe, die in Orange Park Acres herumstrichen und Katzen und andere Haustiere töteten - eine Vorstellung, die ihr unheimlich war und bei der ihr fast übel wurde. Plötzlich kam ihr der Gedanke, daß Menschen, die so abartig waren, rein zum Spaß Katzen abzuschlachten, auch genügend verdreht sein würden, daran Spaß zu finden, Pferde zu töten.

Beim Gedanken an Goodheart, der hier draußen ganz allein in seinem Stall stand, durchzuckte sie Furcht wie ein stechender Schmerz. Einen Augenblick war sie unfähig, sich zu bewegen.

Rings um sie schien die Nacht jetzt noch lautloser als bisher.

Sie war lautloser. Die Grillen hatten aufgehört zu zirpen. Auch die Frösche hatten ihr Quaken eingestellt.

Die Wolken-Galeonen schienen am Himmel Anker gesetzt zu haben, und im eisfahlen Schein des Mondes schien die Nacht gefroren zu sein.

Etwas bewegte sich im Buschwerk.

Der Großteil des riesigen Grundstücks war von Rasen bedeckt, aber es gab ein gutes Dutzend Bäume, in geschmackvollen Gruppen angeordnet, hauptsächlich Indianerlorbeer, Ja-carandas und ein paar Korallenbäume, außerdem Azaleenbeete, Fliederbüsche und Geißblatt.

Tracy vernahm ganz deutlich das Rascheln in den Büschen, wie sich etwas unsanft und schnell durch sie hindurcharbeitete. Aber als sie die Taschenlampe anknipste und den Lichtkegel über die Pflanzung wandern ließ, konnte sie nichts sehen.

Die Nacht war wieder verstummt. Zum Schweigen gebracht. In Erwartung von etwas.

Sie überlegte, ob sie zum Haus zurückkehren, ihren Vater wecken und ihn bitten sollte, nachzusehen. Oder besser zu Bett zu gehen, bis morgen zu warten und dann die Lage selbst zu erkunden. Wenn nun das im Busch nur ein Kojote war? In diesem Fall war sie nicht in Gefahr. Ein hungriger Kojote würde zwar ein sehr kleines Kind angreifen, aber vor jemandem von Tracys Größe die Flucht ergreifen. Außerdem war sie jetzt zu sehr in Sorge um ihren edlen Goodheart, um noch mehr Zeit zu vergeuden. Sie mußte sicher sein, daß dem Pferd nichts fehlte.

Sie benutzte jetzt ihre Taschenlampe, um etwaigen weiteren herumliegenden toten Katzen auszuweichen, und strebte der Stallung zu. Sie hatte nur wenige' Schritte zurückgelegt, als sie das Rascheln wieder hörte und, was noch schlimmer war, ein unheimliches Knurren, ganz anders als irgendeiner von der Tierlauten, die sie kannte.

Sie drehte sich um, wäre wohl in dem Augenblick zum Haus gerannt, doch jetzt wieherte Goodheart im Stall, schrill, als hätte er Angst, und trat nach den Wänden seiner Box. Sie sah in ihrer Fantasie einen satanisch grinsenden Geistesgestörten, der es mit widerwärtigen Folterinstrumenten auf Goodheart abgesehen hatte. Die Sorge um ihr eigenes Wohlergehen war nicht halb so stark wie ihre Furcht, ihrem geliebten Erzeuger von Champions könnte etwas Schreckliches zustoßen. Also rannte sie ihm zu Hilfe.

Der arme Goodheart begann jetzt noch verzweifelter um sich zu keilen. Seine Hufe krachten mehrere Male gegen die Wände, trommelten wie wild, und die Nacht schien vom Gedonner eines herannahenden Sturms widerzuhallen.

Sie war noch etwa fünfzehn Meter vom Stall entfernt, als sie wieder das seltsame, kehlige Knurren hörte und erkannte, daß etwas hinter ihr war, sich ihr von hinten näherte. Sie geriet auf dem feuchten Gras ins Rutschen, wirbelte herum und hob die Taschenlampe.

Was da auf sie zurannte, war eine Kreatur, die ganz sicher aus der Hölle kam. Jetzt stieß das Wesen einen kreischenden Schrei aus, in dem sich Wut und Wahnsinn mischten.

Trotz des Strahls der Taschenlampe konnte Tracy den Angreifer nicht deutlich erkennen. Der Lichtkegel bewegte sich zittrig hin und her, die Nacht wurde dunkler, als der Mond hinter eine Wolke glitt. Die widerliche Bestie bewegte sich schnell, Tracy hatte zu große Angst, um zu begreifen, was sie sah. Aber soviel sah sie, um zu wissen, daß es etwas war, was sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie glaubte, einen dunklen, mißgestalteten Kopf mit asymmetrischen Vorsprüngen und Einbuchtungen erkennen zu können, mächtige Kinnladen voll scharfer, gebogener Zähne und bernsteinfarbenen Augen, die im Kegel ihrer Taschenlampe glühten, wie die Augen eines Hundes oder einer Katze im Scheinwerferbündel eines Wagens. Tracy schrie.

Der Angreifer stieß erneut einen schrillen, kreischenden Schrei aus und sprang sie an.

Er prallte mit solcher Wucht gegen Tracy, daß ihr der Atem aus den Lungen gepreßt wurde. Die Taschenlampe entfiel ihrer Hand und purzelte zu Boden. Sie stürzte, die Kreatur warf sich auf sie, und sie wälzten sich zusammen auf dem Boden in Richtung Stall. Während sie dahinrollten, hämmerte sie verzweifelt mit ihren kleinen Fäusten auf das Ding ein und spürte, wie seine Klauen sich an ihrer rechten Seite in ihr Fleisch bohrten. Das aufgerissene Maul war vor ihrem Gesicht, sie spürte, wie heißer, fauliger Atem über sie hinwegstrich. Sie roch Blut und Fäulnis und Schlimmeres, fühlte, wie das Maul ihre Kehle suchte - ich bin tot, dachte sie, o Gott, es wird mich töten, ich bin tot wie die Katze -, und wäre sicher binnen Sekunden tot gewesen, wenn Goodheart, weniger als fünf Meter entfernt, nicht die verriegelte Halbtür seiner Box weggetreten hätte und in seiner Panik geradewegs auf sie zugeschossen wäre.

Der Hengst wieherte, bäumte sich auf, als er sie sah, als wollte er sie zertrampeln.

Tracys monströser Angreifer stieß wieder einen Schrei aus, diesmal nicht aus Wut, sondern vor Schreck und Überraschung. Er ließ sie los, warf sich zur Seite, unter dem Pferd weg.

Goodhearts Hufe rammten sich wenige Zentimeter neben Tracys Kopf in die Erde, er bäumte sich erneut auf, seine Vorderbeine schlugen die Luft, er wieherte, und sie wußte, er würde ihren Schädel in seinem Schrecken, ohne es zu wollen, zu Brei zerquetschen. Sie wälzte sich unter ihm weg, auch weg von der bernsteinäugigen Bestie, die auf der anderen Seite des Hengstes in der Dunkelheit verschwunden war.

Goodheart wieherte, immer noch hoch aufgebäumt, auch Tracy schrie, ringsum heulten Hunde in der Nachbarschaft, und jetzt gingen im Haus Lichter an, und das machte ihr Hoffnung, diesen Schrecken vielleicht doch noch zu überleben.

Aber sie fühlte auch, daß der Angreifer nicht bereit war, aufzugeben, daß er bereits im Begriff war, den in Panik geratenen Hengst zu umkreisen, um einen weiteren Angriff auf sie zu versuchen. Sie hörte ihn knurren und speien, wußte, er würde sie zu Boden reißen, ehe sie das ferne Haus erreichte. Also stürzte sie in Richtung Stall, zu einer der leeren Boxen. Dabei hörte sie sich fast eintönig leiern: »Jesus, o Jesus, Jesus, Jesus ...«

Die beiden Hälften der Boxentür waren fest aneinandergeriegelt. Ein weiterer Bolzen hielt die ganze Tür am Rahmen fest. Diesen zweiten Bolzen zog sie zurück, öffnete die Tür, ha-itete in die nach Stroh riechende Finsternis, stieß die Tür zu und hielt sie mit aller Kraft, die sie hatte, zu, denn von innen verriegeln konnte man sie nicht.

Im nächsten Augenblick prallte ihr Widersacher von der anderen Seite gegen die Tür, versuchte sie einzudrücken, aber das verhinderte der Rahmen. Die Tür ließ sich nur nach außen bewegen, und Travy hoffte, die bernsteinäugige Kreatur wäre nicht schlau genug, herauszufinden, wie die Tür sich öffnete.

Aber sie war schlau genug ...

(Lieber Gott im Himmel, warum war die Bestie nicht ebenso dumm wie häßlich!)

... und nachdem sie sich lediglich zweimal gegen die Barriere geworfen hatte, begann sie zu ziehen, statt zu drücken. Die Tür wurde Tracy fast aus den Händen gerissen.

Sie wollte um Hilfe schreien, aber sie brauchte jedes Quentchen Energie, um die Absätze in den Boden zu graben und die Boxentür festzuhalten. Sie schlug und klapperte gegen den Rahmen, während der dämonische Widersacher mit ihr rang. Zum Glück wieherte Goodheart die ganze Zeit schrill und schreckerfüllt, und auch ihr Angreifer gab schrille Laute von sich - Töne, die menschlich und zugleich seltsam tierisch klangen -, so daß für ihren Vater kein Zweifel bestehen konnte, wo Hilfe nötig war.

Die Tür öffnete sich ein paar Zentimeter weit.

Sie stieß einen Schrei aus und zog sie wieder zu.

Im gleichen Augenblick riß der Angreifer sie wieder ein Stück auf, hielt sie fest, zerrte wild, sie weiter aufzuziehen, während sie alle Kraft einsetzte, sie wieder zu schließen. Doch sie war eindeutig dabei, diesen Kampf zu verlieren. Zentimeter um Zentimeter öffnete sich die Tür weiter. Jetzt sah sie schattenhaft die Umrisse des unförmigen Gesichts. Die spitzen Zähne schimmerten stumpf. Die bernsteinfarbenen Augen waren jetzt nur schwach sichtbar. Die Bestie zischte, knurrte, ihr fauliger Atem übertönte den Strohgeruch.

Vor Angst und Verzweiflung wimmernd, zog Tracy mit aller Kraft an der Tür.

Aber sie öffnete sich ein Stück weiter.

Und noch weiter.

Im wilden Hämmern ihres Herzschlags klang die Detonation des ersten Schusses nur gedämpft. Sie war nicht sicher, was sie gehört hatte, bis ein zweiter Schuß durch die Nacht dröhnte. Jetzt war ihr klar, daß ihr Vater sich beim Verlassen des Hauses seine Waffe gegriffen hatte.

Die Boxentür schlug knallend gegen den Rahmen, als der Angreifer, von dem Schuß erschreckt, losließ. Tracy hielt weiter fest.

Dann fiel ihr ein, daß Daddy bei all dem Durcheinander glauben könnte, Goodheart habe die Schuld, das arme Pferd habe durchgedreht oder so etwas. Aus dem Inneren der Box schrie sie: »Schieß nicht auf Goodheart! Schieß nicht auf das Pferd!«

Aber es waren keine weiteren Schüsse zu hören, und Tracy kam sich im gleichen Augenblick töricht vor, zu glauben, ihr Vater würde Goodheart niederschießen. Daddy war ein vorsichtiger Mann, besonders was geladene Waffen betraf, und solange er nicht genau wußte, was vor sich ging, würde er nur Warnschüsse abgeben. Höchstwahrscheinlich hatte er lediglich ein paar Büsche in Fetzen geschossen.

Goodheart war vermutlich in Ordnung, der bernsteinäugige Angreifer sicher bereits in Richtung auf die Vorberge oder die Canyons unterwegs - oder jedenfalls dorthin, woher er gekommen war.

(Aber was war dieses verrückte, verdammte Ding?)

Und dieses Martyrium war vorüber, dem Himmel sei Dank.

Sie hörte jemanden im Laufschritt näher kommen, dann rief ihr Vater ihren Namen.

Sie stieß die Boxentür auf und sah, wie Daddy, in blauen Pyjamahosen, barfuß und mit der Schrotflinte unterm Arm, hereingerannt kam. Mom war auch da, im kurzen gelben Nachthemd war sie mit einer Taschenlampe dicht hinter Daddy.

Und ein Stück weiter oben auf dem leicht abschüssigen Grundstück stand Goodheart, Erzeuger künftiger Champions, hatte sich beruhigt und war unverletzt.

Tränen der Erleichterung quollen aus Tracys Augen, als sie den unversehrten Hengst sah, sie taumelte aus der Box, wollte ihn sich genauer ansehen. Aber beim zweiten oder dritten Schritt spürte sie einen brennenden Schmerz in ihrer rechten Körperseite, plötzlich erfaßte sie Schwindel, sie taumelte, stürzte, griff sich mit der Hand an die Seite, spürte etwas Feuchtes und bemerkte erst jetzt, daß sie blutete. Sie erinnerte sich an die Klauen, die sich in sie gebohrt hatten, ehe Goodheart aus seiner Box schoß und damit den Angreifer verscheuchte, und hörte sich wie aus weiter Ferne sagen: »Braves Pferd ... was für ein braves Pferd ...«

Daddy kniete neben ihr nieder. »Baby, was, zum Teufel, ist passiert, was ist denn los?«

Jetzt war auch ihre Mutter da.

Daddy sah das Blut. »Ruf eine Ambulanz!«

Ihre Mutter, in Augenblicken der Gefahr weder zu Hysterie noch zu Zaghaftigkeit neigend, machte sofort kehrt und rannte zum Haus zurück.

Tracys Benommenheit wuchs. Aus dem Rand ihres Sichtfeldes kroch eine Dunkelheit heran, die nicht Teil der Nacht war. Sie hatte keine Angst davor; sie erschien ihr wie eine heilende, willkommene Dunkelheit.

»Baby«, sagte ihr Vater und legte eine Hand auf ihre Wunden.

Ganz schwach, wohl bewußt, daß sie sich in einer Art Dämmerzustand befand, und neugierig, was sie sagen würde, sagte sie: »Erinnerst du dich, als ich ganz klein war... ein kleines Mädchen... und immer dachte, irgendein schreckliches Ding ... würde in meinem Schrank liegen ... nachts?«

Er runzelte besorgt die Stirn. »Honey, vielleicht ist es besser, wenn du jetzt ruhig bist, ganz ruhig.«

Und während sie die Besinnung verlor, hörte Tracy sich sagen, und zwar mit einer Ernsthaftigkeit, die sie gleichzeitig amüsierte und ängstigte: »Nun ... ich glaube, vielleicht war es der Butzemann, der damals in dem anderen Haus im Kleiderschrank lebte. Ich glaube ... er war vielleicht doch echt... und ist jetzt zurückgekommen.«

9

Am Mittwoch früh um vier uhr zwanzig, nur Stunden nach dem Angriff auf das Haus der Keeshans, traf Lemuel Johnson in Tracy Keeshans Krankenhauszirnmer im St.-Josephs-Hospi-tal in Santa Ana ein. Aber sosehr er sich auch beeilt hatte, Sheriff Walt Gaines war ihm zuvorgekommen. Walt stand im Korridor, den jungen Arzt vor ihm im grünen Chirurgenschurz über dem weißen Labormantel hoch überragend. Sie schienen miteinander leise zu debattieren.

Das Banodyne-Krisenteam der NSA überwachte alle Polizeistationen im Bezirk, darunter auch das Revier in Orange, in dessen Zuständigkeit das Haus der Keeshans fiel. Der Nachtschichtleiter des Teams hatte Lem zu Hause angerufen und ihn

über den Fall unterrichtet, der genau in das Schema jener Art von Zwischenfällen paßte, das auf einen Zusammenhang mit Banodyne hindeutete.

»Du hast deine Zuständigkeit abgegeben«, erinnerte Lem Walt etwas spitz, als er vor der verschlossenen Tür des Krankenzimmers zu dem Sheriff und dem Arzt hintrat.

»Vielleicht gehört das hier gar nicht zu demselben Fall.«

»Du weißt genau, daß das nicht so ist.«

»Nun, es ist jedenfalls noch nicht entschieden.«

»Das hat sich entschieden - schon am Ort des Überfalls, wo ich mit deinen Männern sprach.«

»Okay, dann sagen wir einfach, daß ich als Beobachter hier bin.«

Fast hätte Lem losgelacht. Er mochte diesen Burschen wirklich, aber er wußte, wenn er lachte, würde Walt dieses Lachen trotz ihrer Freundschaft als Keil benutzen, sich wieder in den Fall hineinzudrängen. Also behielt Lem sein Pokergesicht bei, obwohl Walt ganz offensichtlich wußte, daß Lem zum Lachen zumute war. Ihr Spiel war lächerlich, aber es mußte gespielt werden.

Der Arzt, Roger Selbok, erinnerte im Aussehen an den jungen Rod Steiger. Jetzt runzelte er die Stirn, weil ihre Stimmen lauter wurden, und er hatte etwas von der beeindruckenden Persönlichkeit Steigers an sich, denn sein Stirnrunzeln reichte aus, um ihre Lautstärke zu dämpfen.

Selbok sagte, man habe das Mädchen untersucht, ihre Wunden behandelt und ihr ein schmerzstillendes Mittel verabreicht. Sie sei müde. Er wäre gerade im Begriff, ihr ein Sedativum zu verabreichen, um sicherzustellen, daß sie ruhig schlafen könne, und sei nicht der Ansicht, daß es jetzt eine besonders gute Idee wäre, wenn Polizisten, welchen Zuständigkeitsbereichs auch immer, ihr in diesem Augenblick Fragen stellten. Das Flüstern, die morgendliche Stille des Krankenhauses, der Geruch von Desinfektionsmitteln, der den Korridor erfüllte, der Anblick einer weißgewandeten Nonne, die an ihnen vorbei schwebte, reichten, um Lem zu beunruhigen. Plötzlich hatte er Angst, das Mädchen befände sich in viel schlimmeren Zustand, als man ihm gesagt hatte, und diese Besorgnis teilte er Selbok mit.

»Nein, nein, ihr Zustand ist recht gut«, sagte der Arzt. »Ich habe ihre Eltern nach Hause geschickt, und das würde ich bestimmt nicht getan haben, wenn es irgendeinen Anlaß zur Besorgnis gäbe. Ihre linke Gesichtsseite ist aufgeschürft, sie hat ein blaues Auge, aber das ist nicht ernst. Die Wunden an ihrer rechten Seite mußten genäht werden, zweiunddreißig Stiche, also müssen wir entsprechende Vorkehrungen treffen, damit es keine häßliche Narbenbildung gibt. Aber sie ist außer Gefahr. Sie hat einen bösen Schrecken abgekriegt. Aber sie ist ein intelligentes junges Mädchen und steht mit beiden Beinen auf der Erde, also glaube ich nicht, daß sie ein längerdauerndes psychisches Trauma davontragen wird. Trotzdem glaube ich nicht, daß es eine gute Idee wäre, sie jetzt noch einem Verhör auszusetzen.«

»Kein Verhör«, sagte Lem. »Nur ein paar Fragen.«

»Fünf Minuten«, sagte Walt.

»Weniger«, sagte Lem.

Sie ließen nicht locker und schafften es schließlich, Selbok zu überreden. »Nun ... Sie müssen schließlich auch Ihre Arbeit tun, und wenn Sie mir versprechen, sie nicht zu sehr zu bedrängen ... «

»Ich werde sie so anfassen, als bestünde sie aus Seifenblasen«, sagte Lem.

»Wir werden sie anfassen, als bestünde sie aus Seifenblasen«, korrigierte Walt.

Selbok sah die beiden an. »Sagen Sie mir nur eines ... was zum Teufel ist ihr denn passiert?«

»Hat sie es Ihnen nicht selbst gesagt?« fragte Lem.

»Nun, sie spricht davon, ein Kojote hätte sie angegriffen ... « Lem war überrascht, und er sah, daß auch Walt verblüfft war. Vielleicht hatte der Fall gar nichts mit dem Tode Wes Dalbergs und den toten Tieren von Irvine Park zu tun.

»Aber«, meinte der Arzt, »kein Kojote würde ein Mädchen von Tracys Größe angreifen. Die werden nur ganz kleinen Kindern gefährlich. Und ich glaube auch nicht, daß ihre Wunden von der Art sind, wie ein Kojote sie einem zufügen würde.« Walt meinte: »Soweit ich gehört habe, hat ihr Vater den Angreifer mit einer Schrotflinte verjagt. Weiß er denn nicht, was sie angegriffen hat?« »Nein«, sagte Selbok. »Er konnte nicht sehen, was sich in der Dunkelheit abspielte, also gab er lediglich zwei Warnschüsse ab. Er sagte, etwas sei quer über das Grundstück gerannt und über den Zaun gesprungen, aber er konnte keine Einzelheiten erkennen. Er sagte, Tracy habe zuerst gesagt, es sei der Butzemann gewesen, der früher in ihrem Kleiderschrank lebte, aber da war sie bereits nicht mehr ganz bei Bewußtsein. Mir hat sie gesagt, es war ein Kojote. Also ... wissen Sie, was hier vorgeht? Können Sie mir irgend etwas sagen, was mir bei der Behandlung des Mädchens hilft?«

»Ich kann es nicht«, sagte Walt. »Aber Mr. Johnson hier ist mit der ganzen Lage vertraut.«

»Vielen Dank«, sagte Lem.

Walt lächelte nur.

Zu Selbok gewendet, meinte Lem: »Es tut mir leid, Doktor, aber ich bin nicht befugt, über den Fall zu sprechen. Jedenfalls würde nichts, was ich sagen könnte, irgendeinen Einfluß auf Ihre Behandlung von Tracy Keeshan haben.«

Als Lem und Walt schließlich Tracys Krankenzimmer betraten, während Dr. Selbok auf dem Korridor wartete, um sicherzustellen, daß ihr Besuch nicht zu lange dauerte, fanden sie ein hübsches dreizehnjähriges Mädchen vor, im Gesicht übel zugerichtet und bleich wie Schnee. Sie lag im Bett und hatte sich die Decke bis zu den Schultern hochgezogen. Obwohl man ihr schmerzstillende Mittel verabreicht hatte, war sie wach, ja hellwach, und es war offenkundig, weshalb Selbok ihr ein Beruhigungsmittel geben wollte. Sie versuchte es nicht zu zeigen, aber sie hatte Angst.

»Mir wäre lieber, du gehst jetzt«, sagte Lem zu Walt Gaines.

»Wenn dir Filet mignon lieber wäre, würden wir immer gut zu Abend essen«, sagte Walt. »Tag, Tracy, ich bin Sheriff Walt Gaines, und das hier ist Lemuel Johnson. Ich bin einer der nettesten Menschen, die es gibt, aber dieser Lem ist ein richtiger Stinker, das sagen alle - doch du brauchst keine Angst zu haben, ich- werde dafür sorgen, daß er sich anständig benimmt und nett zu dir ist. Okay?«

Gemeinsam zogen sie Tracy in ein Gespräch. Sie brachten schnell heraus, daß sie Selbok deshalb gesagt hatte, ein Kojote hätte sie angegriffen - obwohl sie wußte, daß das nicht stimmte -, weil sie bezweifelte, den Arzt - oder sonst jemanden - von der Wahrheit dessen, was sie gesehen hatte, überzeugen zu können. »Ich hatte Angst, die würden denken, ich hätte einen kräftigen Schlag auf den Kopf abbekommen, der mein Gehirn etwas durcheinandergebracht hat«, sagte sie. »Und dann würden die mich viel länger hierbehalten.«

Lem, der auf dem Bettrand saß, meinte: »Tracy, hab keine Angst, ich könnte denken, du spinnst. Ich glaube, ich weiß, was du gesehen hast, und ich möchte von dir nur eine Bestätigung dafür erhalten.«

Sie starrte ihn ungläubig an.

Walt stand am Fußende ihres Bettes und lächelte auf sie herab, als wäre er ein großer, liebevoller, zum Leben erwachter Teddybär. Er sagte: »Ehe du die Besinnung verlorst, hast du zu deinem Dad gesagt, der Butzemann habe dich angegriffen, der in deinem Schrank gewohnt hat.«

»Häßlich genug dafür war es«, sagte das Mädchen leise. »Aber der Butzemann wird's wohl nicht gewesen sein.«

»Dann sag mir, was es war«, bat Lem.

Sie starrte zuerst Walt, dann Lem an und seufzte schließlich. »Sagen Sie mir doch, was ich gesehen haben soll, und wenn es dem nahekommt, dann sag' ich Ihnen, woran ich mich erinnern kann. Aber ich werde nicht anfangen, weil ich ganz genau weiß, daß Sie dann glauben, ich hätte nicht alle Tassen im Schrank.«

Lem sah Walt mit unverhohlener Enttäuschung an. Er erkannte, daß es jetzt nicht mehr zu vermeiden war, daß einige der Fakten des Falles preisgegeben wurden.

Walt grinste.

Zu dem Mädchen gewandt, sagte Lem: »Gelbe Augen.«

Sie atmete hastig ein, wurde starr. »Ja! Das wissen Sie also, oder? Sie wissen, was es war.« Sie wollte sich aufsetzen, zuckte vor Schmerz zusammen, als sie dabei ihre Wunde strapazierte, und sank wieder ins Bett zurück. »Was war es? Was war es?«

»Tracy«, sagte Lem, »ich darf dir nicht sagen, was es war.

Ich habe einen Geheimhaltungseid unterzeichnet. Wenn ich den verletze, kann man mich ins Gefängnis stecken. Aber was viel wichtiger ist... ich würde den Respekt vor mir selbst verlieren.«

Sie runzelte die Stirn und nickte schließlich. »Ich denke, das kann ich verstehen.«

»Gut. Und jetzt sag mir alles, was du weißt.«

Wie sich herausstellte, hatte sie nicht viel gesehen, weil es finster gewesen war und ihre Taschenlampe den Outsider nur einen Augenblick lang beleuchtet hatte. »Ziemlich groß für ein Tier... vielleicht so groß wie ich. Die gelben Augen.« Sie schauderte. »Und das Gesicht war... so seltsam.«

»Inwiefern?«

»Knollig... ohne Form«, sagte das Mädchen. Obwohl sie schon zu Anfang sehr bleich gewesen war, wurde sie jetzt noch bleicher, an ihrem Haaransatz tauchten winzige Schweißtropfen auf, ihre Stirn wurde feucht.

Walt stützte sich auf das Gitter am Fußende des Bettes, vorgebeugt, ungeheuer interessiert, um sich nur ja kein Wort entgehen zu lassen.

Ein plötzlicher Santa-Ana-Wind rüttelte am Gebäude und erschreckte das Mädchen. Sie schaute angsterfüllt zum klappernden Fenster, wo der Wind klagend vorbeistrich, als hätte sie Angst, etwas würde die Scheiben zertrümmern und hereinkommen.

Genauso, erinnerte sich Lem, hatte sich der Outsider Zugang zu Wes Dalberg verschafft.

Das Mädchen schluckte. »Sein Maul war riesig... und die Zähne... «

Sie konnte nicht zu zittern aufhören, und Lem legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Es ist schon in Ordnung, Kleines. Jetzt ist es ja vorbei. Du hast das alles hinter dir.« Nach einer kleinen Pause, um sich zu beruhigen, aber immer noch zitternd, sagte Tracy: »Ich glaube, es war irgendwie haarig... oder hatte ein Fell... ich bin nicht sicher. Aber es war sehr stark.«

»Welcher Art von Tier hat es denn ähnlich gesehen?« fragte Lem.

Sie schüttelte den Kopf. »Gar keinem.«

»Aber wenn du sagen müßtest, daß es einem Tier glich, würdest du dann sagen, daß es eher wie ein Puma ausgesehen hat?«

»Nein, kein Puma.«

»Wie ein Hund?«

Sie zögerte. »Vielleicht... ein klein wenig wie ein Hund.« »Vielleicht auch ein klein wenig wie ein Bär?«

»Nein.«

»Wie ein Panther?«

»Nein. Gar nicht wie eine Katze.«

»Wie ein Affe?«

Sie zögerte wieder, runzelte die Stirn, dachte nach. »Ich weiß nicht, warum ... aber, ja, vielleicht ein wenig wie ein Affe. Nur daß kein Hund und kein Affe solche Zähne haben.«

Die Tür zum Korridor öffnete sich, Dr. Selbok tauchte auf. »Die fünf Minuten sind bereits um.«

Walt wollte den Arzt hinauswinken.

Aber Lem sagte: »Nein, es ist schon gut. Wir sind fertig. Eine halbe Minute noch.«

»Ich werde die Sekunden zählen«, sagte Selbok und zog sich zurück.

Zu dem Mädchen gewendet, sagte Lem: »Kann ich mich auf dich verlassen?«

Sie sah ihm in die Augen und sagte: »Daß ich den Mund halte?«

Lem nickte.

Sie sagte: »Ja. Ich will es ganz bestimmt niemandem sagen. Meine Eltern meinen, ich bin für mein Alter ziemlich reif. Geistig und emotionell reif, meine ich. Aber wenn ich anfange, verrückte Geschichten zu erzählen, über... über Ungeheuer, dann werden sie glauben, ich bin doch nicht so reif, und kommen vielleicht auf die Idee, ich bin noch nicht vernünftig genug, mich um Pferde zu kümmern. Und dann ändern sie vielleicht ihre Pläne wegen der Zucht. Das will ich nicht riskieren, Mr. Johnson. Nein, Sir. Also ist es, soweit es mich betrifft, ein verrückter Kojote gewesen. Aber...«

»Ja?«

»Können Sie mir sagen.., besteht die Möglichkeit, daß es wiederkommt?«

»Das glaube ich nicht. Aber eine Weile wäre es wohl klug, nachts nicht zum Stall zu gehen. In Ordnung?«

»In Ordnung«, sagte sie. Nach ihrem gehetzten Blick zu schließen, würde sie die nächsten Wochen nach Einbruch der Dämmerung das Haus nicht mehr verlassen.

Sie gingen hinaus, dankten Dr. Selbok für sein Verständnis und stiegen hinunter in die Parkgarage des Krankenhauses.

Die Morgendämmerung hatte noch nicht eingesetzt, die riesige unterirdische Halle aus Beton war leer und verlassen. Ihre Schritte hallten hohl von den Wänden wider.

Ihre Wagen standen im selben Stockwerk, und Walt begleitete Lem zu dem grünen, nicht gekennzeichneten NSA-Wa-gen. Als Lem den Schlüssel ins Türschloß steckte, um aufzusperren, schaute Walt sich um, um sich zu vergewissern, daß sie allein waren, und sagte dann: »Sag es mir.«

»Kann nicht.«

»Ich werde es herausbekommen.«

»Du bist raus aus dem Fall.«

»Dann mußt du mich vor Gericht bringen. Besorg dir einen Haftbefehl.«

»Das könnte ich tun.«

»Wegen Gefährdung der nationalen Sicherheit.«

»Das würde auch zutreffen.«

»Steck mich doch in den Knast.«

»Das könnte ich tun«, sagte Lem, obwohl er wußte, daß er es nicht tun würde.

Eigenartigerweise, obwohl Walts Hartnäckigkeit störend und mehr als lästig war, tat sie ihm in gewisser Weise wohl. Er hatte nur wenige Freunde, und Walt war davon der wichtigste. Seiner Ansicht nach hatte er deshalb wenige Freunde, weil er wählerisch war, strenge Maßstäbe anlegte. Hätte Walt sich einfach zurückgezogen, sich von einem Bundesgesetz einschüchtern lassen, seine Neugierde abgeschaltet, wie man ein Licht ausknipst, dann wäre das in Lems Augen ein Makel gewesen. »Was erinnert dich an einen Hund und an einen Affen und hat gelbe Augen?« fragte Walt. »Abgesehen von deiner Mama natürlich.«

»Laß gefälligst meine Mama aus dem Spiel, Honky«, sagte Lem. Gegen seinen Willen lächelnd, stieg er in den Wagen. Walt hielt die Tür offen und beugte sich zu ihm in den Wagen. »Was, um Christi willen, ist aus Banodyne entkommen?« »Ich habe dir gesagt, daß es nichts mit Banodyne zu tun hat.«

»Und das Feuer, das sie am nächsten Tag in den Labors hatten ... Haben sie das selber gelegt, um alle Spuren und Hinweise auf das, was sie gemacht haben, zu vernichten?«

»Mach dich nicht lächerlich«, sagte Lem müde und steckte den Schlüssel ins Zündschloß. »Beweismaterial könnte man sehr viel wirksamer auf weniger dramatische Art und Weise vernichten. Falls es Beweismaterial zu vernichten gab. Was nicht der Fall ist. Weil Banodyne damit nichts zu tun hat.«

Lem ließ den Motor an. Aber Walt ließ nicht locker. Er hielt die Tür offen und beugte sich noch tiefer hinein, um sich trotz des Brummens des Motors Gehör zu verschaffen. »Gentechnologie. Damit beschäftigen die sich in Banodyne. Die schnippeln an Bakterien und Viren rum, um neue Bazillen zu entWik-keln, die Nützliches leisten, wie zum Beispiel Insulin herstellen oder Ölpest auffressen. Und mit den Genen von Pflanzen basteln die auch rum, ich schätze, um Mais zu produzieren, der auch in saurem Boden wächst, oder Weizen, der mit der Hälfte des üblichen Wassers auskommt. Wenn wir an Genbastelei denken, dann meinen wir immer, das geschähe in kleinem Maßstab - Pflanzen und Bakterien. Aber könnte es sein, daß die sich an den Genen eines Tieres zu schaffen machen, daß es bizarre Nachkommen bekommt, eine ganz neue Gattung? Ist es das, was sie gemacht haben? Ist es das, was aus Banodyne entflohen ist?«

Lem schüttelte verzweifelt den Kopf. »Walt, ich bin kein Fachmann für Genen-Rekombination, aber ich glaube nicht, daß die Wissenschaft schon genügend weit ist, um mit einiger Zuversicht an solchen Dingen zu arbeiten. Und welchen Sinn hätte es auch? Okay, einmal angenommen, daß die ein unheimliches neues Lebewesen erzeugen könnten, indem sie an der Genstruktur einer existierenden Gattung herumschnippeln - welchen Nutzen würde das bringen? Ich meine, abgesehen davon, daß man es auf einem Rummelplatz zur Schau stellen könnte?«

Walts Augen verengten sich. »Ich weiß nicht. Das mußt du mir sagen.«

»Hör zu. Die Zuwendungen für Forschungsvorhaben sind immer verdammt knapp, und um jede größere und kleinere Zuwendung dieser Art gibt es heftige Konkurrenz, also wird niemand sich leisten können, mit etwas zu experimentieren, das keinen Sinn hat. Verstehst du? Und da jetzt ich in den Fall verwickelt bin, weißt du, daß es sich um eine Angelegenheit der nationalen Verteidigung handeln muß, was wiederum hieße, Banodyne verplempert Pentagon-Geld, um einen Faschingsnarren zu produzieren.«

»Die Worte >verplempern< und >Pentagon< sind schon manchmal im selben Satz vorgekommen«, sagte Walt trocken. »Jetzt bleib mal auf dem Teppich, Walt. Es ist eine Sache, wenn das Pentagon zuläßt, daß einige seiner Auftragnehmer Geld für die Produktion notwendiger Waffensysteme vergeuden, und eine völlig andere, daß sie bewußt Mittel für ein Experiment ohne Verteidigungsnutzen ausgeben. Das System ist manchmal ineffzient, manchmal sogar korrupt, aber regelrecht dumm ist es nie. Und außerdem sage ich noch einmal: Dieses ganze Gespräch ist sinnlos, weil das hier nichts mit Banodyne zu tun hat.«

Walt starrte ihn einige Augenblicke lang an und seufzte dann. »Herrgott, Lem, du bist gut. Ich weiß, daß du mich anlügen mußt, aber fast glaube ich jetzt, du sagst die Wahrheit.« »Ich sage die Wahrheit.«

»Du bist gut. Also sag mir... wie steht's mit Weatherby, Yarbeck und den anderen? Habt ihr ihren Mörder inzwischen gefunden?«

»Nein.« Tatsächlich hatte der Mann, den Lem mit dem Fall betraut hatte, berichtet, allem Anschein nach hätten die Sowjets einen Killer eingesetzt, der nicht einer ihrer Agenten sei und vielleicht überhaupt nicht im Kreis der politischen Agenten zu suchen sei. Die Ermittlungen waren offenbar in eine Pattstellung geraten. Aber zu Walt gewendet, sagte er nur: »Nein.«

Walt schickte sich an, sich aufzurichten und die Wagentür zu schließen, beugte sich dann aber noch einmal hinunter. »Eines noch: Hast du schon bemerkt, daß es allem Anschein nach ein bestimmtes Ziel hat?«

»Wovon redest du?«

»Es hat sich, seit es aus Banodyne ausgebrochen ist, beständig in nördlicher oder nordnordwestlicher Richtung bewegt«, sagte Walt.

»Es ist nicht aus Banodyne ausgebrochen, verdammt«.

»Von Banodyne zum Holy Jim Canyon, von dort nach Irvine Park und von dort heute nacht zum Haus der Keeshans. Beständig in nördlicher oder nordnordwestlicher Richtung. Ich nehme an, du weißt, was das bedeutet, welches Ziel es haben Mannte, aber ich wage natürlich nicht, dich danach zu fragen, sonst steckst du mich geradenwegs ins Gefängnis und läßt mich dort verfaulen.«

»Ich habe dir in bezug auf Banodyne die Wahrheit gesagt.«

»Sagst du.«

»Walt, du bist unmöglich.«

»Sagst du.«

»Sagt jeder. Würdest du mich bitte jetzt nach Hause fahren lassen? Ich bin müde.«

Lächelnd schloß Walt endlich die Tür.

Lem fuhr aus der Krankenhausgarage zur Main Street, dann auf die Autobahn in Richtung Placentia, nach Hause. Er hoffte, spätestens zur Dämmerung wieder im Bett zu liegen.

Während er den NSA-Wagen durch die Straßen steuerte, die ebenso leer waren wie Schiffahrtswege auf dem Meer, dachte er darüber nach, daß der Outsider nordwärts zog. Ihm war das ebenfalls aufgefallen. Und er glaubte sicher zu wissen, was er suchte, selbst wenn er nicht exakt wußte, wohin sein Weg ihn rührte. Der Hund und der Outsider hatten von Anfang an ein ganz besonderes Wahrnehmungsvermögen füreinander gehabt, eine geradezu unheimliche, instinktive Wahrnehmung der Stimmungen und Aktivitäten des anderen, selbst wenn sie nicht im selben Raum waren. Davis Weatherby hatte halb im Scherz gemeint, die Beziehung dieser beiden Geschöpfe habe etwas Telepathisches an sich. Und jetzt gab es im Outsider höchstwahrscheinlich immer noch einen gewissen Gleichklang mit dem Hund, also folgte er ihm, und irgendein sechster Sinn wies ihm den Weg.

Lem hoffte um des Hundes willen, daß es nicht so war.

Im Labor war offenkundig gewesen, daß der Hund den Outsider stets fürchtete, und aus gutem Grund. Die beiden waren das Yin und das Yang des Francis-Projekts - das Scheitern und der Erfolg, das Böse und das Gute. So böse und schlecht der Outsider war - nun, so gut und wunderbar war der Hund, und die Forscher hatten erkannt, daß der Outsider den Hund nicht fürchtete, sondern ihn mit einer Leidenschaft haßte, die niemand hatte verstehen können. Jetzt, da sie beide

in Freiheit waren, konnte es sein, daß der Outsider nichts anderes im Sinn hatte, als den Hund zu verfolgen, denn er hatte sich nie etwas mehr gewünscht, als den Retriever Stück für Stück zu zerreißen.

Lem bemerkte, daß er in seiner Besorgnis zu heftig auf das Gaspedal getreten war. Der Wagen schoß wie eine Rakete auf der Autobahn dahin. Er nahm den Fuß etwas zurück.

Wo immer der Hund sein, bei wem immer er Zuflucht gefunden haben mochte, er war in Gefahr. Und die, die ihm Zuflucht gewährt hatten, waren es ebenfalls.

SECHS

1

Die letzte Maiwoche und die erste Juniwoche waren Nora und Travis - und Einstein - beinahe jeden Tag zusammen.

Anfangs fürchtete sie, Travis sei irgendwie gefährlich; nicht so gefährlich wie Art Streck, aber doch jemand, den man zu fürchten hatte. Aber diese Phase von Verfolgungswahn hatte sie bald hinter sich. Jetzt mußte sie über sich selbst lachen, wenn sie daran dachte, wie sie ihn beargwöhnt hatte. Er war freundlich und nett und damit genau die Sorte Mann, die nach Meinung ihrer Tante Violet nirgends auf der Welt existierte. Sobald Nora ihre Verfolgungsangst überwunden hatte, war sie zunächst überzeugt, der einzige Grund, weshalb Travis sich mit ihr abgebe, sei sein Mitleid. Mitfühlender Mensch, der er sei, bringe er es einfach nicht fertig, jemandem den Rücken zu kehren, der sich in einer verzweifelten Lage befinde. Die meisten Leute, die Nora kennenlernten, kamen nicht auf den Gedanken, sie sei verzweifelt - absonderlich vielleicht und scheu und gedrückt, nicht aber verzweifelt. Und doch war sie in verzweifeltem Maße unfähig - oder war es gewesen -, sich der Welt außerhalb ihrer eigenen vier Wände zu stellen, hatte verzweifelte Angst vor der Zukunft und war verzweifelt einsam. Travis, ebenso empfindsam wie nett, sah diese Verzweiflung und reagierte darauf. Und während der Mai langsam in den Juni überging und die Tage unter der Sommersonne heißer wurden, wagte sie es langsam, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, er helfe ihr nicht aus Mitleid, sondern weil er sie wirklich gern hatte.

Was ein Mann wie er in einer Frau wie sie sehen mochte, war ihr allerdings nicht klar. Sie hatte nichts, aber auch schon §ar nichts zu bieten.

Nun gut, sie hatte Probleme mit ihrem Eigenbild. Vielleicht war sie in Wirklichkeit gar nicht so hoffnungslos fade und nichtssagend, wie sie sich vorkam. Dennoch, Travis verdiente klarerweise bessere weibliche Gesellschaft, als sie sie ihm bieten konnte - und hätte sie auch bestimmt bekommen.

Sie beschloß, sein Interesse nicht näher zu erforschen. Was sie tun mußte, war jetzt einfach, sich zu entspannen und es zu genießen.

Weil Travis nach dem Tod seiner Frau seine Makleragentur verkauft hatte und daher praktisch in einer Art Ruhestand lebte, und weil auch Nora keinen Beruf ausübte, hatten sie beide die Freiheit, den größten Teil des Tages zusammen zu sein, wenn sie das wollten - und sie wollten. Sie gingen in Galerien, durchstöberten Buchläden, machten lange Spaziergänge oder noch längere Ausflugsfahrten in das malerische Santa-Ynez-Tal oder entlang der grandiosen Pazifikküste.

Zweimal brachen sie am frühen Morgen nach Los Angeles auf und verbrachten einen ganzen Tag dort, und Nora war allein von der Größe der Stadt ebenso überwältigt wie von dem, was sie unternahmen: eine Besichtigung der Filmstudios, einen Besuch im Zoo, den Besuch einer Vormittagsvorstellung eines erfolgreichen Musicals.

Eines Tages überredete Travis sie, sich einen neuen Haarschnitt zuzulegen. Er ging mit ihr in einen Schönheitssalon, den seine verstorbene Frau regelmäßig aufgesucht hatte. Nora war so nervös, daß sie zu stottern begann, als sie mit der Friseuse, einer munteren Blondine namens Melanie, sprach. Violet hatte Nora das Haar immer zu Hause geschnitten, und nach Violets Tod hatte Nora das selbst getan. Von einer Kosmetikerin betreut zu werden, war eine neue Erfahrung, ebenso nervenaufreibend wie das erste Essen in einem Restaurant. Melanie tat etwas, das sie als >Effilieren< bezeichnete: Sie schnitt Nora eine Menge Haare weg, ohne daß sie dabei an Haarfülle verlor. Sie erlaubten Nora nicht, im Spiegel zuzusehen, ließen es nicht zu, daß sie auch nur einen einzigen Blick auf ihr Spiegelbild warf, ehe sie trockengefönt und ausgekämmt war. Dann drehten sie sie im Sessel herum und konfrontierten sie mit sich selbst. Als sie sich sah, war sie überwältigt.

»Sie sehen großartig aus«, sagte Travis.

»Eine totale Verwandlung«, sagte Melanie.

»Großartig!!« wiederholte Travis.

»Sie haben ein so hübsches Gesicht und einen prima Knochenbau«, sagte Melanie. »Die glatten langen Haare haben Ihr Gesicht in die Länge gezogen und spitz erscheinen lassen. So hat Ihr Gesicht die vorteilhafteste Einrahmung.«

Selbst Einstein schien die Veränderung zu mögen. Als sie den Schönheitssalon verließen, wartete der Hund an der Stelle, wo sie ihn an eine Parkuhr angebunden hatten. Erst nach einer typischen Hunde-Spätzündung erkannte er sie, sprang auf und legte ihr die Vorderpfoten auf die Schultern. Er beschnüffelte ihr Gesicht und ihr Haar und winselte dann glücklich und schwanzwedelnd.

Sie haßte ihr neues Aussehen. Als man sie zum Spiegel herumdrehte, sah sie vor sich eine bedauernswerte alte Jungfer, die versuchte, als lebhaftes junges Ding aufzutreten. Das gestylte Haar war einfach nicht sie - es betonte bloß, daß sie im Grunde langweilig und nichtssagend aussah. Sie würde niemals begehrenswert, charmant, modern oder irgend etwas von dem sein, was die neue Frisur von ihr behauptete. Es war, als steckte man einem Truthahn einen bunten Federwisch an und versuchte ihn als Pfau auszugeben.

Weil sie Travis' Gefühle nicht verletzen wollte, tat sie, als gefiele ihr, was man mit ihr gemacht hatte. Aber am Abend wusch sie sich das Haar, bürstete es aus, zog daran, bis das sogenannte Styling glattgezerrt war. Wegen des Schnittes lag es nicht mehr so gerade und schlaff wie früher, aber sie tat, was sie konnte, um den alten Zustand wiederherzustellen.

Als Travis sie am nächsten Tag zum Mittagessen abholte, war er sichtlich betroffen, daß sie zu ihrem früheren Aussehen zurückgekehrt war. Aber er sagte nichts, stellte keine Fragen. Ihr war es derart peinlich, sie hatte solche Angst, seine Gefühle verletzt zu haben, daß sie in den ersten zwei Stunden unfä-nig war, ihm länger als ein oder zwei Sekunden lang in die Augen zu sehen.

Trotz ihres wiederholten und immer heftiger werdenden Sträubens bestand Travis darauf, mit ihr etwas zum Anziehen kaufen zu gehen, ein buntes, sommerliches Kleid, das sie zum Abendessen im Talk-of-the-Town tragen könnte, einem eleganten Restaurant an der West Gutierrez, wo man, wie er ihr sagte, gelegentlich die Filmstars sehen könne, die in der Gegend lebten, Leute von der Filmkolonie, die an Prominenz nur der in Beverly Hills/Bel Air nachstehe. Sie gingen in einen teuren Laden, wo sie ein Dutzend Kleider anprobierte, sich in jedem Travis zeigte, um seine Reaktion zu sehen, dabei rot wurde und sich gedemütigt vorkam. Die Verkäuferin schien echt zufrieden, wie alles an Nora aussah, und sagte ihr immer wieder, ihre Figur sei perfekt. Aber Nora wurde einfach das Gefühl nicht los, die Frau mache sich über sie lustig.

Das Kleid, das Travis am besten gefiel, stammte aus der Diane-Freis-Kollektion. Nora konnte nicht leugnen, daß es reizend aussah: im wesentlichen in Rot und Gold, aber mit geradezu wildem Hintergrund aus einem Gemisch anderer Farben, die besser zusammenpaßten, als das eigentlich hätte der Fall sein sollen (offenbar das Besondere an Preis' Designs). Es war ein höchst feminines Kleid. An einer schönen Frau wäre es einfach umwerfend gewesen. Aber es paßte nicht zu ihr.

Dunkle Farben, formlose Schnitte, einfaches Material, keinerlei Dekor - das war ihr Stil. Sie versuchte ihm klarzumachen, was für sie das beste sei, erklärte, daß sie nie ein Kleid wie dieses tragen könne. Aber er sagte: »Sie sehen einfach großartig darin aus, wirklich - großartig.«

Sie ließ es ihn kaufen. Ja, bei Gott, sie ließ es wirklich zu.

Sie wußte, es war ein großer Fehler, es war falsch, und sie würde es nie tragen. Als das Kleid eingepackt wurde, fragte sich Nora, weshalb sie nachgegeben habe, und dabei wurde ihr klar, daß sie sich zwar gedemütigt vorkam, es ihr aber doch schmeichelte, daß ein Mann Kleider für sie kaufte, sich für ihr Aussehen interessierte. Daß so etwas geschehen könnte, davon hätte sie nie zu träumen gewagt, und sie war überwältigt. Die Röte wich nicht aus ihrem Gesicht. Ihr Herz schlug wie wild. Sie fühlte sich schwindelig, aber es war ein wohltuender Schwindel.

Als sie das Geschäft verließen, erfuhr sie, daß er fünfhundert Dollar für das Kleid bezahlt hatte. Fünfhundert Dollar!

Sie hatte vorgehabt, es in den Schrank zu hängen und oft anzusehen, gleichsam als Ausgangspunkt für angenehme Tagträume, was schön und in Ordnung gewesen wäre, hätte es fünfzig Dollar gekostet. Aber für fünfhundert würde sie es tragen müssen, selbst wenn sie sich darin lächerlich vorkam, selbst wenn sie richtig aufgedonnert damit aussah, eine Putzfrau, die sich als Prinzessin ausgab.

Am folgenden Abend, bevor Travis sie zum Essen im Talk-of-the-Town abholte, zog sie zwei Stunden lang das Kleid ein halbes Dutzend mal an und wieder aus. Sie durchstöberte mehrmals den Inhalt ihres Kleiderschranks, suchte verzweifelt nach etwas anderem. Vernünftigerem. Aber sie hatte nichts, weil sie bisher nie Garderobe für teure Restaurants gebraucht hatte.

Mit finsterem Blick ihr Bild im Badezimmerspiegel betrachtend, sagte sie: »Du siehst aus wie Dustin Hoffman in >Toot-sie<.«

Sie mußte plötzlich lachen, denn ihr war klar, daß sie zu streng über sich urteilte. Aber zarter ging's einfach nicht; so fühlte sie sich eben: wie ein Mann in Frauenkleidern. Und in diesem Fall waren Gefühle wichtiger als Tatsachen. Ihr Lachen schmeckte plötzlich bitter.

Zweimal begann sie zu heulen, überlegte, ob sie ihn anrufen und ihre Verabredung absagen solle. Aber sie wollte ihn sehen, ganz gleich, wie erniedrigend der Abend sein würde. Sie wusch sich die roten Ränder aus den Augen, probierte das Kleid erneut an - und zog es aus.

Ein paar Minuten nach sieben traf er ein und sah sehr gut aus in seinem dunklen Anzug.

Nora trug ein formloses blaues Hemdblusenkleid und dunkelblaue Schuhe.

»Ich werde warten«, sagte er.

Und sie: »Hm? Worauf?«

»Sie wissen schon«, sagte er, was nichts anderes bedeutete als: Gehen Sie sich umziehen,

Sie sprudelte es in nervöser Hast heraus, und ihre Ausrede hinkte ordentlich: »Travis, tut mir leid, es ist wirklich schrecklich, aber ich habe Kaffee über das Kleid gegossen.«

»Ich werde hier drinnen warten«, sagte er und ging auf das Wohnzimmer zu.

»Einen vollen Topf Kaffee«, sagte sie.

»Sie beeilen sich besser. Wir haben für halb acht reserviert.«

Sich innerlich gegen das amüsierte Flüstern, wenn nicht sogar Gekichere der Leute stählend, sich vorsagend, die Meinung Travis' sei die einzige, auf die es ankomme, zog sie das Diane-Freis-Kleid an. Sie wünschte, sie hätte die Frisur nicht zerstört, die Melanie ihr vor ein paar Tagen gemacht hatte.

Vielleicht hätte das geholfen. Nein, wahrscheinlich würde sie damit noch lächerlicher aussehen.

Als sie wieder die Treppe herunterkam, lächelte Travis und sagte: »Sie sehen reizend aus.«

Sie konnte nicht feststellen, ob das Essen im Talk-of-the-Town so gut war wie sein Ruf. Sie schmeckte überhaupt nichts. Später konnte sie sich auch nicht mehr an die Innenausstattung des Lokals erinnern, dafür hatten sich die Gesichter der Gäste - darunter auch das des Schauspielers Gene Hackman - in ihre Erinnerung eingebrannt, weil sie sicher war, daß diese Leute sie den ganzen Abend über voll Staunen und Verachtung angestarrt hatten.

Das Essen war in vollem Gange, als Travis, dem ihr Unbehagen sichtlich bewußt war, sein Weinglas hinstellte, sich zu ihr beugen und leise sagte: »Sie sehen wirklich reizend aus, Nora, ganz gleich, was Sie denken. Hätten Sie die Erfahrung, solche Dinge zu bemerken, dann wüßten Sie, daß die meisten Männer im Saal hingerissen sind von Ihnen.«

Aber sie kannte die Wahrheit, konnte sich dieser Wahrheit stellen. Wenn die Männer sie tatsächlich anstarrten, dann nicht, weil sie hübsch war. Man mußte schließlich damit rechnen, daß die Leute einen Truthahn anstarrten, der sich mit Hilfe eines Federbuschs als Pfau auszugeben versuchte.

»Sie sehen ohne eine Spur von Make-up besser aus als jede andere Frau im Saal«, sagte er.

Kein Make-up. Ein weiterer Grund, weshalb sie sie anstarrten. Wenn eine Frau ein Fünfhundert-Dollar-Kleid anzog, um sich in ein teures Restaurant ausführen zu lassen, dann sorgte sie dafür, daß sie so gut wie möglich aussah, benutzte Lippenstift, Eyeliner, Make-up, Puder und Gott-weiß-was-sonst-noch. Aber Nora war nicht einmal der Gedanke an Make-up gekommen.

Das Dessert - Mousse au Chocolat und zweifellos köstlich - schmeckte wie Bücherleim und blieb ihr ein paarmal im Hals stecken.

Sie und Travis hatten in den vergangenen Wochen stundenlange Gespräche geführt, waren überrascht gewesen, wie leicht es ihnen fiel, voreinander intime Gefühle und Gedanken auszubreiten. Sie hatte erfahren, warum er trotz seines guten Aussehens und seiner relativen Wohlhabenheit allein lebte.

Und er hatte erfahren, warum sie eine so geringe Meinung von sich hatte. Als sie dann einfach kein Mousse mehr hinunterbrachte und Travis anflehte, sie sofort nach Hause zu bringen, sagte er leise: »Wenn es eine Gerechtigkeit gibt, dann schwitzt Violet Devon heute nacht in der Hölle.«

Schockiert sagte Nora; »O nein, so schlecht war sie nicht.« Auf dem ganzen Nachhauseweg blieb er stumm und brütete vor sich hin.

Als er sich an ihrer Tür von ihr verabschiedete, bestand er darauf, daß sie einen Termin mit Garrison Dilworth vereinbare, der der Anwalt ihrer Tante gewesen war und Nora jetzt in kleineren juristischen Angelegenheiten beriet. »Nach allem, was Sie mir gesagt haben«, meinte Travis, »hat Dilworth Ihre Tante besser gekannt als sonst jemand, und ich wette Dollars gegen Schmalzkrapfen, daß er Ihnen genug über sie erzählen kann, damit dieser verdammte Würgegriff sich endlich löst, mit dem sie Sie selbst aus dem Grab heraus noch festhält.« »Aber es gibt keine finsteren Geheimnisse um Tante Violet«, sagte Nora. »Sie war genau so, wie sie auf die Leute wirkte: in Wirklichkeit eine ganz einfache Frau. Und irgendwie traurig.« »Traurig. Daß ich nicht lache«, sagte Travis.

Er ließ nicht locker, bis sie sich schließlich einverstanden erklärte, den Termin mit Garrison Dilworth zu vereinbaren.

Als sie oben in ihrem Schlafzimmer versuchte, das Diane-Freis-Kleid auszuziehen, stellte sie fest, daß sie sich gar nicht ausziehen wollte. Den ganzen Abend über hatte sie sich ungeduldig danach gesehnt, aus der Kostümierung herauszukommen - ihr war es wie eine Kostümierung erschienen. Jetzt, im Rückblick, lag ein warmer Glanz über dem Abend, und diesen Glanz, diese Wärme wollte sie sich erhalten. Also ging sie wie eine sentimentale Oberschülerin mit dem Fünfhundert-DollarKleid ins Bett.

Garrison Dilworth' Büro war in seiner Ausstattung sorgfältig darauf ausgerichtet, Ehrbarkeit, Stabilität und Verläßlichkeit auszustrahlen. Eine wunderschön gearbeitete Eichenvertäfelung. Schwere königsblaue Gardinen, die an Messingstangen hingen. Regale mit in Leder gebundenen Gesetzesbüchern.

Ein wuchtiger Eichenschreibtisch.

Der Anwalt selbst war eine interessante Mischung aus Würde, Rechtschaffenheit - und Weihnachtsmann. Groß, ziemlich behäbig, mit dichtem silbergrauen Haar, über siebzig, aber immer noch die ganze Woche tätig, trug Garrison mit Vorliebe Anzüge mit Weste und Krawatten in gedeckten Farben. Trotz der vielen Jahre, die er als Kalifornier gelebt hatte, wies ihn seine tiefe, kultivierte Sprechweise deutlich als ein Produkt der Oberklasse der Ostküste aus, in diese hineingeboren, in ihr aufgewachsen und erzogen. Aber da war auch ein unzweifelhaft schelmisches Leuchten in den Augen, sein Lächeln kam rasch, war voll Wärme, eben ganz Weihnachtsmann.

Er schuf keinen Abstand, indem er hinter seinem Schreibtisch sitzen blieb, sondern setzte sich mit Nora und Travis in behagliche Armsessel an einen niedrigen Tisch, auf dem eine große Waterford-Schale stand. »Ich weiß nicht, was Sie hier zu erfahren hoffen. Es gibt keine Geheimnisse um Ihre Tante.

Keine großen, düsteren Enthüllungen, die Ihr Leben verändern werden ... «

»Das habe ich gewußt«, sagte Nora. »Tut mir leid, daß wir Sie belästigt haben.«

»Warten Sie«, sagte Travis. »Lassen Sie Mr. Dilworth ausreden.« Der Anwalt fuhr fort: »Violet Devon war meine Mandantin, und ein Anwalt hat die Verpflichtung, die Angelegenheiten seiner Mandanten auch über deren Tod hinaus vertraulich zu behandeln. Das ist wenigstens meine Ansicht, obwohl es in meinem Berufsstand durchaus Leute gibt, die sich nicht so lange daran gebunden fühlen. Da ich mit Violets engster Angehöriger und Alleinerbin spreche, gibt es wahrscheinlich sehr wenig, was ich Ihnen vorenthalten würde - falls es tatsächlich irgendwelche Geheimnisse zu enthüllen gebe. Ganz bestimmt sehe ich keine moralischen Hindernisse, die mich davon abhalten könnten, eine ehrliche Meinung über Ihre Tante abzugeben. Selbst Anwälten, Priestern und Ärzten ist es erlaubt, eine Meinung über Leute zu haben.« Er atmete tief durch und runzelte die Stirn. »Ich habe sie nie gemocht. Ich empfand sie als engstirnige, total selbstsüchtige Frau, die zumindest leicht... nun, sagen wir geistig labil war. Und die Art und Weise, wie sie Sie aufgezogen hat, war verbrecherisch. Nora. Ich meine nicht verbrecherisch im juristischen Sinne, also in einer Art und Weise, die die Behörden interessieren würde, aber nichtsdestoweniger verbrecherisch. Und grausam.«

Solange Nora sich zurückerinnern konnte, hatte sie immer das Gefühl gehabt, es gäbe da irgendwo in ihrem Inneren einen straffen Knoten, der lebenswichtige Organe und Blutgefäße einengte, Verkrampfungen erzeugte, ihren Blutkreislauf behinderte und sie zwang, mit halbwachen Sinnen zu leben, sich schleppend zu bewegen, als wäre sie eine Maschine, die nur ungenügend mit Energie versorgt wurde. Garrison Dilworths Worte lösten jenen Knoten plötzlich. Zum ersten Mal fühlte sie das Leben ungehindert durch sie hindurchströmen.

Ihr war immer bewußt gewesen, was Violet Devon ihr angetan hatte. Aber es zu wissen, reichte nicht, die harten Jahre innerlich zu überwinden. Ein anderer mußte ihre Tante verurteilen. Travis hatte Violet bereits angeprangert, und schon das war für Nora eine kleine Erleichterung gewesen. Aber es reichte nicht, sie ganz zu befreien. Denn Travis hatte Violet nicht gekannt, sein Urteil war deshalb nicht gewichtig genug. Garrison hingegen kannte Violet gut, und seine Worte befreiten nun Nora aus ihrem Joch.

Sie begann zu zittern, Tränen rannen ihr über das Gesicht, aber beides war ihr nicht bewußt, bis Travis sich aus seinem Sessel herüberbeugte und ihr tröstend die Hand auf die Schulter legte. Sie tastete in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch.

»Es tut mir leid.«

»Meine liebe Lady«, sagte Garrison, »entschuldigen Sie sich nicht dafür, daß Sie diesen eisernen Panzer sprengen, in dem Sie Ihr ganzes Leben lang gesteckt haben. Es ist das erste Mal, daß ich bei Ihnen eine starke Gefühlsregung erlebe, das erste Mal, daß ich Sie in einem anderen Zustand als dem extremer Scheu sehe, und das ist wirklich reizend anzusehen.« Er drehte sich zu Travis herum, Nora damit Zeit gebend, sich die Augen abzutupfen, und sagte: »Was haben Sie denn sonst noch von mir zu hören gehofft?«

»Es gibt einige Dinge, die Nora nicht weiß, Dinge, die sie wissen sollte und von denen ich nicht glaube, daß die Preisgabe selbst Ihren strengen persönlichen Kodex verletzen würde.« »Was zum Beispiel?«

Travis sagte: »Violet Devon hat nie gearbeitet und doch in relativem Wohlstand gelebt, war nie in Not und hat genügend hinterlassen, daß es für Nora für den Rest ihres Lebens reicht, wenigstens so lange, als sie in diesem Haus bleibt und ein Einsiedlerleben führt. Woher kam ihr Geld?«

»Woher es kam?« Garrison klang überrascht. »Das weiß Nora doch sicherlich.«

»Nein, das tut sie nicht«, sagte Travis.

Nora blickte auf und sah, daß Garrison Dilworth sie erstaunt ansah. Er blinzelte und sagte: »Violets Mann war in bescheidenem Maße wohlhabend. Er starb ziemlich jung, und sie erbte alles.«

Nora starrte ihn mit aufgerissenen Augen an und fand kaum den Atem zu sprechen. »Mann ?«

»George Olmstead«, sagte der Anwalt.

»Den Namen habe ich nie gehört.«

Garrison blinzelte wieder rasch, als ob ihm Sand in die Augen geflogen wäre. »Sie hat nie einen Gatten erwähnt?«

»Nie.«

»Aber hat denn nie ein Nachbar... «

»Wir hatten mit unseren Nachbarn keinerlei Kontakt«, sagte Nora. »Violet hielt nichts von ihnen.«

»Jetzt, wo ich es mir überlege«, sagte Garrison, »kann es durchaus sein, daß links und rechts von Ihnen bereits neue Nachbarn wohnten, als Sie zu Violet kamen.«

Nora schneuzte sich und steckte ihr Taschentuch weg. Sie zitterte immer noch. Das Gefühl, plötzlich aus den Ketten der Sklaverei befreit zu sein, hatte machtvolle Gefühle erzeugt, die aber jetzt der Wißbegierde Platz machten.

»Geht's wieder?« fragte Travis.

Sie nickte, sah Travis dann eindringlich an und sagte: »Sie haben es gewußt, nicht wahr? Das mit dem Mann, meine ich. Deshalb haben Sie mich hierhergebracht.«

»Geahnt habe ich es«, sagte Travis. »Hätte sie alles von ihren Eltern geerbt, würde sie das erwähnt haben. Die Tatsache, daß sie nicht darüber redete, woher das Geld kam ... nun, mir schien das nur eine Möglichkeit offenzulassen - ein Mann, und höchstwahrscheinlich einer, mit dem sie Schwierigkeiten hatte. Und es ergibt sogar noch mehr Sinn, wenn man bedenkt, wie wenig sie von den Menschen im allgemeinen und von Männern im speziellen hielt.«

Der Anwalt war entsetzt und in derartiger Erregung, daß er nicht still sitzen konnte. Er stand auf, marschierte an einem riesigen alten Globus vorbei, der von innen beleuchtet war und allem Anschein nach aus Pergament bestand. »Jetzt bin ich wirklich sprachlos. Sie haben also nie richtig begriffen, weshalb sie die Menschen so haßte, weshalb sie jeden im Verdacht hatte, ihr Böses antun zu wollen?«

»Nein«, sagte Nora. »Ich brauchte es wahrscheinlich nicht zu wissen. So war sie eben.«

Immer noch auf und ab gehend, sagte Garrison: »Ja. Das stimmt. Ich bin überzeugt, daß sie bereits in jungen Jahren leicht paranoid war. Und als sie dann herausfand, daß George sie mit anderen Frauen betrogen hatte, riß der Faden in ihr.

Von da an wurde es nur noch schlimmer mit ihr.«

»Warum hat Violet immer noch ihren Mädchennamen Devon benutzt, wenn sie doch mit Olmstead verheiratet war?« fragte Travis.

»Sie wollte seinen Namen nicht mehr. Sie verabscheute den Namen. Sie hat ihm die Tür gewiesen, ihn beinahe mit dem Stock aus dem Haus gejagt! Als er starb, hatte sie bereits die Scheidungsklage eingereicht«, sagte Garrison. »Sie hatte von seinen Affären mit anderen Frauen erfahren, wie ich schon sagte. Sie war wütend. Von Zorn und Scham erfüllt. Ich muß sagen ... ich kann es dem armen George nicht völlig verübeln, denn ich glaube nicht, daß er zu Hause viel Liebe und Zuneigung erfuhr. Er wußte schon einen Monat nach der Hochzeit, daß die Heirat ein Fehler gewesen war.«

Garrison blieb neben dem Globus stehen, eine Hand locker auf die Weltkugel gestützt, und starrte weit in die Vergangenheit zurück. Normalerweise sah man ihm sein Alter nicht an. Als er freilich jetzt über die Jahre zurückblickte, schienen die Linien in seinem Gesicht sich zu vertiefen, seine blauen Augen verloren etwas von ihrem Glanz. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf und fuhr fort: »Das waren damals jedenfalls andere Zeiten als heute. Eine Frau, die von ihrem Mann betrogen worden war, war ein Objekt des Mitleids, des Spotts. Aber selbst für jene Zeit fand ich Violets Reaktion übertrieben. Sie verbrannte seine sämtlichen Kleider, ließ die Türschlösser austauschen. Sie tötete sogar einen Hund, einen Spaniel, den er gerngehabt hatte. Sie hat ihn vergiftet, ihn in einen Karton verpackt und ihn ihm zugeschickt.«

»Herrgott im Himmel!« sagte Travis.

Garrison fuhr fort: »Violet nahm wieder ihren Mädchennamen an, weil sie den seinen nicht mehr wollte. Der Gedanke, George Olmsteads Namen durchs Leben tragen zu müssen, stieße sie ab, sagte sie, obwohl er bereits tot war. Sie war eine Frau, die nicht verzeihen konnte.«

»Ja«, pflichtete Nora ihm bei.

Garrison Dilworth' Gesicht verzog sich aus Mißbehagen über die Erinnerung daran, und er sagte: »Als George getötet wurde, tat sie nichts, um ihre Freude zu verbergen.«

»Getötet?« Nora rechnete fast damit, jetzt zu hören, daß Violet George Olmstead getötet habe und irgendwie der gerichtlichen Strafe entgangen sei.

»Es war ein Autounfall, vor vierzig Jahren«, sagte Garrison. »Er verlor auf der Küstenstraße bei der Heimfahrt von Los Angeles die Kontrolle über seinen Wagen und stürzte in die Tiefe. Damals gab es noch kein Geländer. Die Strandböschung war an dieser Stelle zwanzig oder dreißig Meter hoch, sehr steil, und Georges Wagen - ein großer schwarzer Packard - überschlug sich mehrere Male, ehe er unten auf den Felsen aufprallte. Violet erbte alles, weil George, obwohl sie bereits das Scheidungsverfahren gegen ihn eingeleitet hatte, noch nicht dazugekommen war, sein Testament zu ändern.«

Travis nickte langsam. »Also hat George Olmstead Violet nicht nur betrogen, sondern ihr, indem er starb, jede Zielscheibe für ihren Groll genommen. Also richtete sie ihre Wut gegen die Welt im allgemeinen.«

»Und mich im speziellen«, sagte Nora.

Am gleichen Nachmittag erzählte Nora Travis von ihrer Malerei. Sie hatte ihre künstlerische Betätigung bisher nicht erwähnt, und er hatte ihr Schlafzimmer nicht betreten und daher ihre Staffelei und ihr Zeichenbrett nicht gesehen. Sie war sich nicht im klaren, weshalb sie diesen Teil ihres Lebens vor ihm geheimgehalten hatte. Sie hatte zwar ihr Interesse für Kunst erwähnt, weshalb sie auch Galerien und Museen besucht hatten; aber vielleicht hatte sie nie von ihrer eigenen Arbeit gesprochen, weil sie fürchtete, er würde, wenn er ihre Bilder sähe, nicht beeindruckt sein.

Und wenn er gar meinte, sie sei nicht wirklich talentiert?

Abgesehen von der Zerstreuung, die Bücher ihr boten, war die Malerei Noras Trost in vielen dunklen, einsamen Jahren gewesen. Sie hielt sich für gut, vielleicht sogar für sehr gut, obwohl sie zu schüchtern und verletzlich war, um diese Überzeugung vor irgend jemandem auszusprechen. Was, wenn sie unrecht hatte? Was, wenn sie kein Talent besaß und es also nur ein Zeitvertreib gewesen war? Ihre Kunst war das wesentliche Medium, durch das sie selbst sich definierte. Sie besaß sonst sehr wenig, auf das sich ihr so dünnes, zerbrechliches Selbstgefühl stützen konnte; also hatte sie ein geradezu verzweifeltes Bedürfnis, an ihr Talent zu glauben. Travis' Meinung bedeutete ihr unaussprechlich viel, und eine negative Reaktion seinerseits auf ihre Malerei, fürchtete sie, würde sie vernichten. Aber nachdem sie Garrison Dilworths Büro verlassen hatten, wußte Nora, daß die Zeit gekommen war, das Risiko auf sich zu nehmen. Die Wahrheit über Violet Devon war der Schlüssel, mit dem Nora den Kerker ihrer Gefühle aufgeschlossen hatte. Sie würde viel Zeit brauchen, aus ihrer Zelle herauszutreten, durch den langen Korridor hinaus in die Welt zu treten - aber die Reise würde unvermeidbar weitergehen. Deshalb mußte sie sich allen Erfahrungen des neuen Lebens öffnen, und das schloß auch die schreckliche Möglichkeit des Abgelehntwerdens und der schweren Enttäuschung mit ein. Ohne Risiko gab es keine Hoffnung auf Gewinn.

Als sie wieder im Haus waren, überlegte sie, Travis mit hinaufzunehmen, damit er sich ein halbes Dutzend ihrer letzten Gemälde ansähe. Aber die Vorstellung, einen Mann in ihrem Schlafzimmer zu haben, selbst mit den unschuldigsten Absichten, war zu beunruhigend. Garrison Dillworths Enthüllungen hatten sie befreit, ihre Welt war im Begriff, sich rasch auszuweiten. Aber so frei war sie noch nicht. Statt dessen bestand sie darauf, daß Travis und Einstein auf einem der großen Sofas in dem mit Möbeln überladenen Wohnzimmer Platz nahmen, wohin sie ihnen einige ihrer Bilder zum Betrachten bringen wollte. Sie schaltete sämtliche Lichter ein, zog die Vorhänge von den Fenstern und sagte: »Ich bin gleich wieder zurück.« Aber oben stand sie zappelig vor den mehr als zehn Gemälden in ihrem Schlafzimmer, konnte sich nicht entscheiden, welche zwei sie ihm zuerst bringen sollte. Schließlich entschied sie sich für vier, obwohl es etwas unbequem war, so viele auf einmal zu tragen. Auf halbem Wege blieb sie zitternd stehen und beschloß, die Bilder wieder hinaufzutragen und andere auszuwählen. Aber sie ging nur vier Stufen zurück, dann wurde ihr klar, daß sie solcherart den ganzen Tag in ihrer Unschlüssigkeit verbringen würde. Sie rief sich in Erinnerung, daß ohne Risiko nichts zu gewinnen sei, atmete tief durch und ging rasch mit den vier Gemälden, die sie ausgewählt hatte, die Treppe hinunter.

Sie gefielen Travis. Mehr noch: Er geriet beinahe in Verzükkung.

»Mein Gott, Nora, das ist keine Hobbymalerei! Das ist wirklich etwas! Das ist Kunst!«

Sie stellte die Arbeiten auf vier Stühle, aber es genügte ihm nicht, sie nur vom Sofa aus zu studieren. Er stand auf, um sie aus der Nähe zu betrachten, ging von einer Leinwand zur anderen, dann wieder zurück.

»Sie sind eine ganz superbe Fotorealistin«, sagte er. »Okay, ich bin kein Kunstkritiker. Aber, bei Gott, Sie sind so geschickt wie Wyeth. Aber da ist noch was anderes ... das Element des Unheimlichen in diesen zwei... «

Seine Komplimente hatten ihr die Röte ins Gesicht getrieben, sie mußte kräftig schlucken, um ihre Stimme wiederzufinden. »Ein bißchen surrealistisch.«

Sie hatte zwei Landschaften und zwei Stilleben gebracht. Jeweils eines war tatsächlich streng fotorealistisch. Aber die beiden anderen waren Fotorealismus mit stark surrealistischem Einschlag. Im Stilleben zum Beispiel waren einige Wassergläser, ein Krug, mehrere Löffel und eine durchgeschnittene Limone geradezu peinigend genau wiedergegeben, auf den ersten Blick wirkte die Szene sehr realistisch, auf den zweiten Blick allerdings fiel auf, daß eines der Gläser in die Fläche hineinschmolz, auf der es stand, und daß ein Limonenschnitz die Wand eines der Gläser durchdrang, als wäre das Glas um ihn herum geformt.

»Die sind brillant, Nora, ohne Zweifel«, sagte er. »Haben Sie noch mehr?«

Ob sie noch mehr hatte!

Sie begab sich noch zweimal in ihr Schlafzimmer und kehrte mit sechs weiteren Gemälden zurück.

Bei jeder neuen Leinwand wuchs Travis' Erregung. Und sein Entzücken und seine Begeisterung waren echt. Ursprüng-lich dachte sie, er tue das nur, um ihr gefällig zu sein, aber bald durfte sie sicher sein, daß er ihr nichts vormachte.

Indem er von einem Bild zum nächsten und wieder zurück wanderte, sagte er: »Ihr Farbgefühl ist exzellent.«

Einstein begleitete Travis durch den Raum, setzte hinter jede Aussage seines Herrchens ein leises Wuff und wedelte heftig mit dem Schweif, als wolle er damit seine Bestätigung des Urteils zum Ausdruck bringen.

»Da ist soviel Stimmung drin«, sagte Travis.

»Wuff.«

»Und es ist erstaunlich, wie Sie Ihr Medium beherrschen.

Ich habe nicht das Gefühl, Tausende von Pinselstrichen zu sehen. Statt dessen scheint es, als wäre das Bild wie durch Zauberei auf der Leinwand erschienen.«

»Wuff.«

»Schwer zu glauben, daß Sie keine schulmäßige Ausbildung haben.«

»Wuff.«

»Nora, diese Bilder sind mit Sicherheit gut genug, um verkauft zu werden. Jede Galerie würde sie sofort nehmen.« »Wuff.«

»Sie könnten davon nicht nur leben ... ich glaube, damit könnten Sie sogar verdammt berühmt werden.«

Weil Nora sich nie einzugestehen wagte, daß sie ihre Arbeit ernst nahm, hatte sie häufig, unter mehrmaliger Verwendung derselben Leinwand, ihre Bilder übermalt. Demzufolge waren viele ihrer Werke für immer dahin. Aber auf dem Dachboden hatte sie mehr als achtzig ihrer besten Arbeiten aufbewahrt. Und weil Travis jetzt darauf bestand, holten sie mehr als ein Dutzend dieser eingepackten Leinwände herunter, rissen das braune Papier auf und legten sie im Wohnzimmer aus. Soweit Nora sich erinnern konnte, war es zum ersten Mal, daß der düstere Raum hell und freundlich wirkte.

»Jede Galerie würde entzückt sein, damit eine Ausstellung zu veranstalten«, sagte Travis. »Lassen Sie uns doch morgen einige davon in den Wagen laden, zu ein paar Galerien bringen und hören, was die sagen.«

»O nein, nein!«

»Ich verspreche Ihnen, Nora, Sie werden nicht enttäuscht sein.

Plötzlich spürte sie die Klauen der Angst. Obwohl die Aussicht auf eine künstlerische Karriere erregend war, hatte sie doch Angst vor dem großen Schritt. Ein Schritt vom Klippenrand ins Nichts.

»Nicht jetzt«, sagte sie. »In einer Woche ... oder einem Monat... laden wir sie in Ihren Wagen und bringen sie in eine Galerie. Aber noch nicht jetzt, Travis. Ich kann einfach nicht... ich werde noch nicht damit fertig.«

Er grinste sie an. »Wieder eine Überladung der Sinne?«

Einstein trat zu ihr, rieb sich an ihrem Bein und blickte so freundlich zu ihr auf, daß Nora unwillkürlich lächeln mußte.

Sie kraulte den Hund hinter den Ohren und sagte: »So vieles hat sich so schnell ereignet. Ich kann das nicht alles verarbeiten. Ich habe immer wieder gegen Schwindelanfälle anzukämpfen. Mir ist, als säße ich auf einem Karussell, das sich schneller und schneller dreht und nicht mehr zu bremsen ist.« Was sie sagte, stimmte bis zu einem gewissen Grad. Doch es war nicht der einzige Grund, weshalb sie hinauszögern wollte, mit ihrer Kunst an die Öffentlichkeit zu treten. Sie wollte Zeit haben, diese herrliche Entwicklung auszukosten. Wenn sie die Verwandlung von der einsiedlerischen Jungfer zur ausgewachsenen Teilnehmerin am Leben zu rasch ablaufen ließ, würde später alles einfach ineinander verschwimmen.

Sie wollte jeden Augenblick ihrer Metamorphose genießen.

Nora Devon trat vorsichtig in eine neue Welt hinaus, als hätte sie von Geburt an schwer leidend in einem finsteren Zimmer verbringen müssen, angeschlossen an lebenserhaltende Maschinen, und wäre eben erst auf wundersame Weise geheilt worden.

Travis war für Noras Hervortreten aus dem Eremitendasein nicht allein verantwortlich. Eine gleichermaßen wichtige Rolle in dieser Verwandlung spielte Einstein.

Der Retriever hatte offensichtlich die Entscheidung getroffen, man dürfe Nora das Geheimnis seiner außergewöhnlichen Intelligenz anvertrauen. Nach der Episode mit der Zeitschrift >Die moderne Braut< und dem Baby in Solvang erlaubte ihr der Hund nach und nach weitere Einblicke in seinen ganz und gar nicht hundegemäßen Verstand.

Und Travis folgte Einsteins Beispiel und erzählte Nora, wie er den Retriever im Wald fand und wie etwas Fremdartiges -das er nie zu Gesicht bekam - ihn verfolgte. Er berichtete von all den erstaunlichen Dingen, die der Hund seitdem getan hatte; auch von Einsteins gelegentlichen Anfällen von Angst mitten in der Nacht, wenn er manchmal am Fenster stand und in die Dunkelheit hinausstarrte, als glaubte er, die unbekannte Kreatur im Wald würde ihn finden.

Eines Abends saßen sie stundenlang in Noras Küche, tranken kannenweise Kaffee, aßen hausgemachten Ananaskuchen und diskutierten über mögliche Erklärungen für die unheimliche Intelligenz des Hundes. Sofern Einstein nicht damit beschäftigt war. Kuchenstücke zu schnorren, lauschte er voll Interesse, als verstünde er, was sie über ihn sagten, und manchmal winselte er und ging ungeduldig auf und ab, als frustriere es ihn, daß seine Hundestimmbänder ihm das Sprechen nicht ermöglichten. Im wesentlichen ergaben sich keine Erklärungen, die der Diskussion wert gewesen wären.

»Ich glaube, er könnte uns sagen, woher er kommt und weshalb er so ganz anders ist als andere Hunde«, sagte Nora. Einstein wedelte geschäftig mit dem Schweif.

»Oh, da bin ich ganz sicher«, sagte Travis. »Die Art, wie er sich seiner selbst bewußt ist, ist ganz menschlich. Er weiß, daß er anders ist, und ich vermute, er weiß auch, weshalb. Und ich glaube, er würde uns gern mehr darüber sagen, wenn er nur wüßte, wie.«

Der Retriever bellte einmal, rannte ans andere Ende der Küche, rannte zurück, schaute zu ihnen empor, vollführte einen hektischen Tanz und ließ sich schließlich zu Boden fallen, den Kopf auf die Pfoten legend, wobei er abwechselnd schnaubende und winselnde Geräusche von sich gab: ein Bild rein menschlicher Frustration.

Am meisten faszinierte Nora die Geschichte jener Nacht, als der Hund sich so aufgeregt mit Travis' Büchersammlung befaßt hatte. »Er erkennt, daß Bücher ein Mittel der Kommunikation sind«, sagte sie. »Vielleicht spürt er sogar, daß es einen Weg gibt, Bücher dazu einzusetzen, den Abgrund zwischen ihm und uns zu überbrücken.«

»Wie?« fragte Travis und nahm sich eine Gabel Ananaskuchen.

Nora zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht. Aber vielleicht lag das Problem darin, daß die Bücher nicht von der richtigen Art waren. Romane, haben Sie gesagt?«

»Ja, ganz richtig.«

»Nun«, meinte sie, »vielleicht brauchen wir Bücher mit Abbildungen, auf die er reagieren kann. Wenn wir vielleicht alle möglichen Bücher und Zeitschriften mit Bildern besorgen und sie auf dem Boden ausbreiten und mit Einstein arbeiten, finden wir vielleicht einen Weg, uns mit ihm zu verständigen.«

Der Retriever sprang auf und trottete geradewegs auf Nora zu. Sein wacher Blick ließ Nora erkennen, daß ihr Vorschlag gut war. Morgen würde sie ein paar Dutzend Bücher und Zeitschriften besorgen und den Plan in die Tat umsetzen.

»Es wird viel Geduld erfordern«, warnte Travis sie.

»Ich habe einen Ozean voll Geduld.«

»Das glauben Sie vielleicht. Aber wenn man sich mit Einstein abgibt, bekommt das Wort manchmal eine völlig neue Bedeutung.«

Der Hund drehte sich zu Travis herum und blies die Luft durch die Nasenlöcher.

Die Aussicht auf direktere Kommunikation erschien während der ersten paar Sitzungen mit dem Hund am Mittwoch und Donnerstag recht trübe, aber der große Durchbruch sollte nicht lange auf sich warten lassen. Am Freitagabend, dem 4. Juni, fanden sie den Weg. Und danach war ihr Leben nie mehr wie vorher.

2

»... Schreie aus nicht fertiggestellter Reihenhausanlage in Bordeaux Ridge gemeldet... «

Freitagabend, 4. Juni, eine knappe Stunde vor Einbruch der Nacht. Die Sonne warf ihr gold- und kupferfarbenes Licht auf Orange County. Es war der zweite Tag mit Temperaturen über dreißig Grad, und die Gebäude und das Straßenpflaster gaben die aufgestaute Hitze des langen Sommertages ab. Die Bäume schienen müde dahinzuwelken. Kein Lüftchen rührte sich. Auf den Autobahnen und Landstraßen war der Verkehrslärm gedämpft, als würde die dicke Luft das Dröhnen der Motoren und das Schrillen der Hupen filtrieren.

»... wiederhole, Bordeaux Ridge, das Baugebiet im Osten ...« In den sanften Hügeln im Nordosten, in einem erst teilweise erschlossenen Gebiet, gleich neben Yorba Linda, das der Vorortsbrei erst vor kurzem erreicht hatte, war wenig Verkehr.

Das gelegentliche Schrillen einer Hupe oder das Quietschen von Bremsen klang in der feuchten Stille nicht nur gedämpft, sondern eigenartig klagend und melancholisch.

Die beiden Hilfssheriffs Teel Porter und Ken Dimes saßen in einem Streifenwagen. Teel fuhr, Ken saß daneben. Das Lüftungssystem war ausgefallen, keine Klimaanlage, und nicht einmal der Ventilator funktionierte. Die Fenster waren offen, trotzdem war es im Wagen wie in einem Backofen.

»Du stinkst wie ein totes Schwein«, verkündete Teel Porter seinem Partner.

»Jaah? Und du gehst mit toten Schweinen aus.«

Ken lächelte trotz der Hitze. »Tatsächlich? Nun, deine Mädchen sagen, daß du Liebe machst wie ein totes Schwein.«

Ihr müder Humor konnte die Tatsache nicht verdecken, daß sie müde waren und sich nicht besonders fühlten. Und sie gingen einem Anruf nach, der nicht besonders viel Abwechslung versprach: wahrscheinlich spielende Kinder; Kinder spielten gern auf Bauplätzen. Die beiden Hilfssheriffs waren zweiunddreißig, kräftig gebaute ehemalige Footballspieler. Sie waren keine Brüder - aber nach sechs Jahren als Partner im Dienst waren sie Brüder.

Teel bog von der Bezirksstraße in eine leicht geölte Schotterstraße ein, die in das Baugebiet von Bordeaux Ridge führte. Etwa vierzig Häuser waren in unterschiedlichem Bauzustand zu erkennen. Die meisten standen noch im Holzgerüst, aber ein paar waren bereits verputzt.

»Da hast du wieder den Scheiß, auf den die meisten Leute reinfallen«, sagte Ken. »Es ist wirklich nicht zu glauben. Ich meine, verdammt noch mal, was ist denn >Bordeaux< für ein Name für ein Reihenhausgebiet in Südkalifornien? Wollen die einem weismachen, daß es hier eines Tages Weinberge geben wird? Und dann nennen sie es noch >Ridge<, dabei ist die ganze Anlage auf Land gebaut, das so flach ist wie ein Brett. Die Bautafel verspricht Ruhe und Beschaulichkeit. Jetzt mag das ja vielleicht stimmen. Aber was ist dann, wenn die hier in den nächsten fünf Jahren weitere dreitausend Häuser aus dem Boden stampfen?«

Teel pflichtete ihm bei. »Jaah. Aber was mich wild macht, ist das Wort >Mini-Landsitz<. Was, zur Hölle, ist ein Mini-Landsitz? Keiner, der seinen Verstand beisammen hat, wird das hier für einen Landsitz halten - höchstens vielleicht Russen, die ihr ganzes Leben zu zwölft in einem Apartment verbracht haben. Das hier sind Reihenhäuser und sonst gar nichts.«

Die Bürgersteige aus Beton und die Rinnsteine entlang der Straßen von Bordeaux Ridge waren bereits gegossen, aber das Straßenpflaster noch nicht gelegt. Teel fuhr langsam, bemüht, möglichst wenig Staub aufzuwirbeln, wirbelte aber trotzdem welchen auf. Er und Ken sahen sich die skelettartigen Gerüste zu beiden Seiten an und hielten nach Schabernack treibenden Kindern Ausschau.

Im Westen, am Rande von Yorba Linda und direkt an Bordeaux Ridge angrenzend, gab es fertige Reihenhäuser, die bereits bewohnt waren. Von dort war auch der Anruf bei der Polizei von Yorba Linda gekommen, daß irgendwo in dieser embryonalen Anlage jemand geschrien habe. Da die Gegend noch nicht von Yorba Linda annektiert worden war, fiel die Anzeige in den Zuständigkeitsbereich des Sheriffs.

Am Ende der Straße sahen die zwei Hilfssheriffs einen weißen Pick-up jener Gesellschaft stehen, der Bordeaux gehörte: Tulemann Brothers. Er parkte vor drei fast fertiggestellten Musterhäusern.

»Sieht aus, als ob noch ein Vorarbeiter da ist«, meinte Ken.

»Oder vielleicht der Nachtwächter, der seinen Dienst etwas früher angetreten hat«, sagte Teel.

Sie parkten hinter dem Kleinlaster, stiegen aus dem brü-tendheißen Streifenwagen und standen einen Augenblick lauschend da. Stille.

Ken schrie: »Hallo? Ist jemand da?«

Seine Stimme hallte durch das verlassene Baugebiet.

»Willst du dich umsehen?« frage Ken.

»Scheiße. Nein«, sagte Teel. »Aber tun wir's trotzdem.«

Ken glaubte noch immer nicht, daß etwas in Bordeaux Ridge nicht stimme. Vielleicht hatten die den Pick-up einfach stehenlassen. Schließlich lag auch anderes Gerät über Nacht hier: ei-ne Planierraupe auf einem Sattelschlepper und ein kleiner Motorpflug. Es war noch immer wahrscheinlich, daß die Schreie von spielenden Kindern stammten.

Sie holten sich Taschenlampen aus dem Streifenwagen, weil es in den Rohbauten noch keine Lampen oder Deckenbeleuchtungen gab, auch wenn die Anlage bereits an das Stromnetz angeschlossen war.

Ken und Teel rückten sich die Revolvergurte zurecht, mehr aus Gewohnheit und nicht, weil sie dachten, sie würden Waffen brauchen, dann gingen sie durch das ihnen am nächsten liegende, teilweise fertiggestellte Haus. Sie hielten nach nichts Bestimmtem Ausschau, sondern taten das, was sie taten, einfach routinemäßig, wie es bei der Hälfte aller Polizeiarbeit der Fall war.

Eine schwache, unregelmäßige Brise kam auf, die erste an diesem Tag, und blies kleine Geister aus Sägemehl durch die wandlosen Seiten des Hauses. Die Sonne sank schnell westwärts, die Mauerpfosten warfen Schatten wie die Gitterstangen eines Gefängnisses. Das letzte Tageslicht, das jetzt von Gold in ein Schlammigrot umschlug, ließ die Luft sanft erglühen, ein Glühen, wie es vor einer offenen Ofentür entsteht.

Der aus Beton gegossene Boden war mit Nägeln übersät, die in dem feurigen Licht glitzerten und unter ihren Schritten klirrten.

»Für hundertachtzigtausend Kröten«, sagte Teel und leuchtete mit dem Lichtkegel seiner Taschenlampe in schwarze Ek-ken, »würd' ich mir etwas größere Räume erwarten als die hier.« Ken atmete tief die nach Sägemehl riechende Luft ein und sagte: »Zum Teufel, ich würde Zimmer groß wie eine Flughafenhalle erwarten.«

Sie verließen das Haus durch den Hinterausgang und betraten einen engen Hinterhof, wo sie ihre Taschenlampen ausknipsten. Die kahle, trockene Erde war noch nicht vom Gärtner bearbeitet worden und mit Bauabfall bedeckt: Holzstücke, Brocken zerbrochenen Betons, zerknüllte Dachpappestreifen, Draht, nochmals Nägel, PVC-Rohrstücke, Zedernschindeln, die die Dachdecker weggeworfen hatten, Plastikbechcr und Big-Mac-Behälter, leere Cola-Dosen und sonstiger, weniger leicht identifizierbarer Müll.

Bis jetzt waren noch keine Zäune errichtet worden, also war der Blick frei auf alle zwölf Hinterhöfe an dieser Straße. Purpurne Schatten sickerten über den sandigen Boden, aber sie konnten sehen, daß alle Höfe verlassen waren.

»Nichts zu sehen. Keine Kampfspuren«, sagte Teel.

»Und keine Jungfrau in Gefahr«, erklärte Ken.

»Nun, laß uns wenigstens hier durchgehen und zwischen die Häuser sehen«, erklärte Teel. »Schließlich müssen wir der Öffentlichkeit für ihr Geld etwas bieten.«

Zwei Häuser weiter, in dem zehn Meter breiten Durchgang zwischen den Rohbauten, fanden sie den Toten.

»Verdammt!« sagte Teel.

Der Mann lag auf dem Rücken, großteils im Schatten, im schmutzigroten Licht war nur die untere Hälfte seines Körpers zu sehen, und zuerst konnten Ken und Teel gar nichts erkennen, welcher Horrorfund das hier war. Aber als Ken neben der Leiche niederkniete, sah er mit Entsetzen, daß man dem Mann den Bauch aufgerissen hatte.

»Herr Jesus, seine Augen!« sagte Teel.

Ken ließ den Blick von dem brutal zerfetzten Torso aufwärts wandern und sah leere Höhlen, wo die Augen des Opfers hätten sein sollen.

Teel zog sich in den unratübersäten Hof zurück und holte den Revolver heraus.

Auch Ken trat den Rückzug von der verstümmelten Leiche an und zog ebenfalls die Waffe aus dem Halfter. Obwohl er den ganzen Tag geschwitzt hatte, fühlte er sich plötzlich noch feuchter, spürte eine andere Art von Schweiß auf der Haut, den kalten, sauren Schweiß der Furcht.

PCP, dachte Ken. Nur jemand, der eine volle Dosis PCP intus hatte, würde etwas so Widerliches tun.

Bordeaux Ridge war eine Oase der Stille.

Nichts bewegte sich, mit Ausnahme der Schatten, die jede Sekunde länger zu werden schienen.

»Irgendein Junkie, der bis über die Ohren voll Engelstaub steckt, hat das getan«, sagte Ken und kleidete damit seine Ängste bezüglich PCP in Worte.

»Das gleiche hab' ich mir auch gedacht«, sagte Teel. »Willst du weitersuchen?«

»Nicht zu zweit, weiß Gott. Wir wollen über Radio Hilfe anfordern.«

Sie gingen langsam den Weg zurück, den sie gekommen waren, hielten vorsichtig nach allen Seiten Ausschau, während sie sich bewegten, waren nicht weit gekommen, als sie den Lärm hörten. Ein Krachen. Das Scheppern von Metall. Brechendes Glas.

Für Ken gab es keinerlei Zweifel, woher die Geräusche kamen. Der Lärm hatte seinen Ursprung im am nächsten stehenden der drei Häuser, die fast fertiggestellt waren und als Musterhäuser dienen sollten.

Da kein Verdächtiger zu sehen war und sie auch über keinerlei Hinweise verfügten, wo sie nach einem hätten suchen können, wäre es durchaus gerechtfertigt gewesen, zum Streifenwagen zurückzukehren und Unterstützung anzufordern.

Aber jetzt, da sie den Lärm in dem Musterhaus gehört hatten, verlangten ihre Ausbildung und ihr Instinkt, etwas beherzter zu handeln. Sie strebten auf die Hinterseite des Hauses zu.

Hier hatte man Sperrholzplatten über die Pfosten genagelt, so daß die Wände nicht offen den Elementen ausgesetzt waren, hatte ein Drahtgeflecht auf den mit Dachpappe bedeckten Brettern angebracht und die Hälfte bereits mit Außenputz versehen. Tatsächlich sah der Putz feucht aus, als hätte man erst heute mit der Arbeit angefangen. Die meisten Fenster waren bereits eingesetzt; nur ein paar Auslassungen in den Wänden waren noch mit zerfetzten Plastikbahnen vermacht.

Ein weiteres Krachen war zu hören, lauter als das erste, dann das Geräusch von zersplitterndem Glas im Inneren des Hauses.

Ken Dimes versuchte die Glasschiebetür zu bewegen, die den Hinterhof und das Wohnzimmer verband. Sie war nicht abgesperrt.

Von draußen schaute Teel durch das Glas ins Wohnzimmer. Obwohl durch die von keinen Gardinen verhängten Türen und Fenster etwas Licht ins Haus drang, war das Innere von Schatten beherrscht. Sie konnten sehen, daß das Wohnzimmer verlassen war, also schob sich Teel durch die halb geöffnete Schiebetür, in der einen Hand die Taschenlampe, in der anderen seine Smith & Wesson.

»Geh du vorne herum«, flüsterte Teel, »damit der Schweinehund nicht dort rauskann.«

Geduckt, um unterhalb des Fenstersimses zu bleiben, eilte Ken um die Ecke, am Haus entlang, nach vorne, wobei er bei ledern Schritt damit rechnete, daß jemand ihn vom Dach aus oder durch eine der Fensteröffnungen ansprang.

Die Innenwände und die Decke waren bereits verputzt. Das Wohnzimmer ging in einen Frühstücksraum über, der neben der Küche lag, und alles zusammen war ein einziger Raum mit nur angedeuteten Wänden. In der Küche waren bereits eichenfurnierte Schränke angebracht, aber der Fliesenboden noch nicht gelegt.

Der Geruch von feuchtem Mörtel, in den sich der scharfe Dunst von Ölfarbe mischte, lag in der Luft.

Teel stand im Frühstücksraum und lauschte nach weiteren Geräuschen, die auf Zerstörung oder Bewegung hindeuteten.

Nichts.

Wenn dieser Bau angelegt war, wie die meisten kalifornischen Reihenhäuser, würde er das Eßzimmer links hinter der Küche finden, danach ein weiteres Wohnzimmer, das Vorzimmer beim Eingang und ein Arbeitszimmer. Wenn er in den Korridor trat, der vom Frühstücksraum abging, würde er dort wahrscheinlich eine Wäschekammer finden, die Gästetoilette, einen begehbaren Kleiderschrank und den hinteren Vorraum. Keine der möglichen Routen schien ihm vorteilhafter, also ging er in den Korridor und prüfte zunächst die Wäschekammer.

Die Tür stand halb offen. Der dunkle Raum hatte keine Fenster, im Licht seiner Taschenlampe waren nur gelbe Einbauschränke und die Leerstellen zu sehen, wo später die Waschmaschine und der Trockner installiert werden würden. Teel wollte den Bereich hinter der Tür sehen, wo er einen Ausguß und eine kleine Arbeitsfläche vermutete. Er stieß die Tür ganz auf, ging schnell hinein und ließ seine Taschenlampe und den Revolver in diese Richtung schwingen. Er fand den Ausguß aus Edelstahl und den eingebauten Tisch, den er erwartet hatte. Aber keinen Killer.

Er war nervös wie seit Jahren nicht mehr. Er wurde das Bild des toten Mannes nicht los, das immer wieder vor seinem inneren Auge erstand: diese leeren Augenhöhlen.

Nicht bloß nervös, dachte er. Sei doch ehrlich: Eine Scheißangst hast du.

Vorne sprang Ken über einen schmalen Graben und strebte auf die doppelten Eingangstüren des Hauses zu, die noch geschlossen waren. Er musterte die Umgebung und sah niemanden, der zu fliehen versuchte. Im einsetzenden Zwielicht wirkte Bordeaux Ridge nicht wie eine Baustelle, eher wie eine zerbombte Gegend. Schatten und Staub schufen die Illusion von Ruinen.

In der Wäschekammer drehte Teel Porter sich um, wollte wieder auf den Korridor hinaustreten. Rechts hinter ihm im gelben Wandverbau flog plötzlich die einen halben Meter breite und einen Meter achtzig hohe Tür eines Besenschranks auf, und dieses Ding sprang wie ein Schachtelmann heraus. Hergott, den Bruchteil einer Sekunde lang war er sicher, daß es ein Junge in einer Gummimaske sein mußte. Im Widerschein der Taschenlampe, die nicht dem Angreifer zugewendet war, konnte er nur undeutlich sehen; aber dann wußte er, daß das, was er sah, echt war, weil diese Augen, die wie Lichtkreise rauchigen Lampenlichts aussahen, nicht bloß Plastik oder Glas waren - nein, sicher nicht. Er feuerte seinen Revolver ab, aber der Lauf war nach vorne gerichtet, in den Korridor, und die Kugel bohrte sich harmlos in die Wand draußen. Also versuchte er sich umzudrehen, aber das Ding war jetzt über ihm, zischte wie eine Schlange. Er feuerte wieder, diesmal in den Boden, das Geräusch in dem engen Raum war betäubend, dann wurde er gegen den Ausguß zurückgetrieben, die Waffe wurde seiner Hand entrissen. Auch die Taschenlampe verlor er, sie flog in die Ecke. Er versuchte zuzuschlagen, aber ehe seine Faust ihren Bogen halb vollendet hatte, spürte er einen schrecklichen Schmerz im Leib, als hätte man ihm mehrere Dolche gleichzeitig in den Leib getrieben, und im gleichen Augenblick wußte er, was mit ihm geschah. Er schrie, schrie, und in der Düsternis ragte das mißgestaltete Gesicht des Schachtelmanns über ihm auf, seine Augen leuchteten gelb, und Teel schrie wieder, schlug um sich, und weitere Dolche bohrten sich jetzt in das weiche Gewebe seiner Kehle ...

Ken Dimes war vier Schritte von der Vordertür entfernt, als er Teel schreien hörte. Ein Schrei der Überraschung, der Furcht, des Schmerzes.

»Scheiße!«

Es waren Doppeltüren, eichenfarbig eingelassen. Die rechte war mit Riegeln an Schwelle und Rahmen befestigt, während die zur Linken beweglich war - und nicht versperrt. Ken rannte hinein, kurz jede Vorsicht in den Wind schlagend, und blieb dann im düsteren Vorraum stehen.

Das Schreien war bereits verstummt.

Er schaltete seine Taschenlampe ein. Leeres Wohnzimmer zur Rechten. Leeres Arbeitszimmer zur Linken. Eine Treppe, die ins Obergeschoß führte. Nirgends jemand zu sehen.

Stille. Völlige Stille. Wie in einem Vakuum.

Einen Augenblick lang zögerte Ken, nach Teel zu rufen, aus Furcht, damit dem Killer seine Position zu verraten. Dann wurde ihm klar, daß die Taschenlampe, ohne die er keinen Schritt weitergehen konnte, ihn ohnedies verriet; ob er Geräusche machte oder nicht, hatte nichts zu besagen.

»Teel!«

Der Name hallte durch die leeren Räume.

»Teel, wo bist du?«

Keine Antwort.

Teel mußte tot sein. Herrgott. Wenn er noch lebte, würde er antworten.

Aber vielleicht war er nur verletzt oder bewußtlos, verwundet und im Begriff zu sterben. In dem Fall war es vielleicht am besten, wenn er zum Streifenwagen zurückging und eine Ambulanz herbeirief.

Nein. Wenn sein Partner tatsächlich in Not war, dann mußte Ken ihn schnell finden und Erste Hilfe leisten. Teel könnte in der Zeit sterben, derer es bedurfte, um eine Ambulanz zu rufen. Das Risiko, Zeit zu verlieren, war zu groß.

Außerdem mußte er sich um den Killer kümmern.

Nur ganz schwaches rauchig-rotes Licht kam jetzt durch die Fenster; der Tag war im Begriff, von der Nacht verschlungen zu werden. Ken mußte sich ganz auf die Taschenlampe verlassen, was nicht ideal war, denn jedesmal, wenn der Lichtkegel sich bewegte, sprangen Schatten, sausten wieder und schufen so die Illusion von Angreifern, unechten Angreifern, die ihn von der echten Gefahr ablenken konnten.

Die Haustür weit offenstehen lassend, schlich er durch den engen Gang, der zum hinteren Teil des Hauses führte. Er hielt sich dicht an der Wand. Eine seiner Schuhsohlen quietschte bei fast jedem Schritt. Er hielt den Revolver mit dem Lauf nach vorne, nicht gegen Boden oder Decke gerichtet, weil ihm, zumindest für den Augenblick, gestohlen bleiben konnte, was man ihnen über den richtigen Umgang mit Waffen beigebracht hatte.

Zur Rechten stand eine Tür offen. Eine Kammer. Leer.

Der Geruch seines eigenen Schweißes überdeckte jetzt den Geruch von Mörtel und Ölfarbe.

Er kam zu einer Toilette, zur Linken. Sein Lichtkegel huschte durch den Raum und ließ nichts Ungewöhnliches erkennen, wenn ihn auch sein eigenes angsterfülltes Gesicht erschreckte, das der Wandspiegel ihm zurückwarf.

Der hintere Teil des Hauses - Wohnzimmer, Eßbereich, Küche - lag direkt vor ihm, und zu seiner Linken gab es eine weitere Tür, die offenstand. Im Schein seiner Taschenlampe, die plötzlich in seiner Hand heftig zu wackeln begann, sah Ken auf dem Boden einer Wäschekammer Teels Körper liegen und so viel Blut, daß es keinen Zweifel mehr geben konnte. Er war tot.

In den Wogen der Angst, die sein Bewußtsein überschwemmten, gab es Unterströmungen von Leid, Wut, Haß und dem wilden Begehren nach Rache.

Hinter Ken war ein Stampfen zu hören.

Er stieß einen Schrei aus und wirbelte herum, um sich der Drohung zu stellen.

Aber der Gang rechts von ihm und das Frühstückszimmer zu seiner Linken waren beide verlassen.

Das Geräusch war vom vorderen Teil des Hauses gekommen. Noch während das Echo verhallte, wußte er, was er gehört hatte: Die vordere Tür war geschlossen worden.

Ein weiteres Geräusch durchbrach die Stille, nicht so laut wie das erste, aber entnervender: das Klack, mit dem das Türschloß einhakte.

Hatte der Killer das Haus verlassen und die Tür von außen mit einem Schlüssel versperrt? Aber woher sollte er den Schlüssel haben? Von dem Vorarbeiter, den er ermordet hatte? Und warum sollte er sich die Zeit nehmen, abzusperren?

Es war eher wahrscheinlich, daß er die Tür von innen versperrt hatte, nicht nur um Ken am Entkommen zu hindern, sondern auch um ihn wissen zu lassen, daß die Jagd noch im Gange war.

Ken überlegte, ob er die Taschenlampe ausschalten sollte, weil sie für den Feind ein leichtes Ziel war. Aber unterdessen hatte das Zwielicht an den Fenstern purpurgraue Farbe angenommen und reichte nicht mehr ins Haus hinein. Ohne die Taschenlampe würde er blind sein.

Wie, zum Teufel, fand sich der Killer in dieser beständig zunehmenden Dunkelheit zurecht? War es möglich, daß die Nachtsichtigkeit eines PCP-Junkies besser wurde, wenn er high war, ebenso wie seine Stärke als Nebeneffekt des Engelstaubs zu der von zehn Männern anwuchs?

Das Haus war totenstill.

Er stand mit dem Rücken zur Korridorwand.

Er konnte Teels Blut riechen, ein irgendwie metallischer Geruch.

Klick, klick, klick.

Ken erstarrte, lauschte mit angespannten Sinnen, aber nach diesen drei rasch aufeinanderfolgenden Geräus chen hörte er nichts mehr. Es hatte wie schnelle Schritte auf Beton geklungen, wie von jemandem mit Stiefeln oder mit harten Lederabsätzen - oder mit beschlagenen Schuhen.

Die Geräusche hatten so plötzlich eingesetzt und wieder aufgehört, daß er nicht hatte feststellen können, woher sie kamen. Dann hörte er sie wieder - klick, klick, klick - diesmal vier, und zwar im Vorraum, sie bewegten sich in seine Richtung, auf den Korridor zu, in dem er stand.

Er stieß sich sofort von der Wand ab und drehte sich herum, dem Widersacher zugewendet, duckte sich und streckte Taschenlampe und Revolver in die Richtung, aus der er die Schritte gehört hatte. Aber der Korridor war verlassen.

Mit offenem Munde atmend, um das Geräusch seines schnellen Atems zu reduzieren, aus Sorge, er könnte damit die Bewegungen des Feindes übertönen, schob Ken sich durch den Gang in den Vorraum. Nichts. Die Haustür war tatsächlich geschlossen, aber das Arbeitszimmer und das Wohnzimmer und Treppe und Galerie darüber waren verlassen.

Klick, klick, klick, klick.

Die Geräusche kamen jetzt aus einer völlig anderen Richtung, aus dem hinteren Teil des Hauses, dem Eßbereich. Der Killer war lautlos aus dem Vorraum geflohen, quer durch Wohnzimmer und Eßzimmer, in die Küche, den Eßraum, war quer durchs Haus in Kens Rücken gelangt. Jetzt drang der Schweinehund in den Flur ein, den Ken gerade verlassen hatte. Und obwohl der Bursche lautlos durch die anderen Räume gehuscht war, machte er jetzt wieder diese Geräusche, offensichtlich nicht, weil er sie machen mußte, weil seine Schuhe bei jedem Schritt klickten, so wie Kens Schuhe quietschten, sondern weil er es so wollte, weil er Ken herausfordern wollte, weil er sagen wollte: He, ich bin hinter dir, und jetzt komme ich, ob du bereit bist oder nicht. Jetzt komme ich.

Klick, klick, klick.

Ken Dimes war kein Feigling. Er war einer von den guten Bullen, der nie vor einem Ärger Reißaus nahm. In den nur sieben Jahren, die er jetzt im Polizeidienst war, hatte er zwei Belobigungen wegen Tapferkeit erhalten. Aber dieser gesichtslose, auf wahnsinnige Art gewalttätige Hurensohn, der in völliger Dunkelheit durch das Haus schlich, lautlos, wenn er das wollte, und herausfordernd Geräusche produzierte, wenn es ihm paßte - der machte Ken Angst und erschreckte ihn. Und obwohl Ken genauso mutig war wie jeder andere Bulle, war er doch kein Narr. Nur ein Narr würde tollkühn in eine Situation hineinrennen, die er nicht überschaute.

Anstatt in den Flur zurückzukehren und den Killer zu stellen, ging er zur Haustür und tastete nach dem Messinggriff, in der Absicht, von hier zu verschwinden. Und da bemerkte er, daß die Tür nicht nur abgeschlossen und verriegelt worden war: 'Ein Stück Draht war um den Knauf der feststehenden Tür und den der beweglichen gewunden worden und verband sie miteinander, hielt sie aneinander fest. Er mußte den Draht abwickeln, ehe er hinauskonnte, was vielleicht eine halbe Minute in Anspruch nehmen würde.

Klick, klick, klick.

Er feuerte einmal, ohne auch nur hinzusehen, in den Korridor und rannte in die entgegengesetzte Richtung, durchquerte das leere Wohnzimmer. Er hörte den Killer hinter sich. Hörte ihn klicken. Er kam in der Finsternis schnell heran. Und doch hörte Ken, als er das Eßzimmer erreicht hatte und fast am Türbogen war, der in die Küche führte, von wo aus er in das zweite Wohnzimmer und zur Terrassentür gelangen wollte, durch die Teel hereingekommen war, wie das Klicken nun von vorne auf ihn zukam. Er war sicher, daß der Killer ihn ins Wohnzimmer verfolgt hatte. Jetzt aber war der Bursche wieder in den finsteren Flur zurückgekehrt und kam von der anderen Richtung auf ihn zu, machte aus dem Ganzen ein verrücktes Spiel. Den Geräuschen nach zu schließen, die der Schweinehund machte, war er im Begriff, den Eßraum zu betreten. Dann würde zwischen ihm und Ken nur noch die Küche liegen. Deshalb beschloß Ken, hier stehenzubleiben und diesen Wahnsinnigen in dem Moment wegzublasen, wo der Bursche in seinem Scheinwerferkegel auftauchte ...

Und dann stieß der Killer einen schrillen Schrei aus.

Durch den Flur klickend, immer noch außer Sichtweite, aber auf Ken zukommend, stieß der Angreifer einen schrillen, unmenschlichen Schrei aus - einen Schrei, in dem sich urtümliche Wut und Haß elementar vermengten, der seltsamste Laut, den Ken je gehört hatte; kein Laut, wie ein Mensch ihn erzeugen würde, nicht einmal ein Irrer. Ken gab jeglichen Gedanken auf, sich dieser Kreatur zu stellen, schleuderte seine Taschenlampe in die Küche, um den Feind von sich abzulenken, wandte sich ab und floh wieder, aber nicht zurück ins Wohnzimmer, in keinen Teil des Hauses, in dem dieses Katz-und-Maus-Spiel weitergeführt werden konnte, sondern geradenwegs quer durch das Eßzimmer auf ein Fenster zu, das im letzten Schein des Zwielichts schwach glitzerte. Er zog den Kopf ein, legte die Arme an die Brust und drehte sich zur Seite, während er gegen das Glas prallte. Das Fenster zerbarst, er fiel in den Hinterhof hinaus, rollte durch Bauschutt. Überreste von Balkenstücken und Betonbrocken bohrten sich schmerzhaft in seine Beine und Rippen. Er rappelte sich auf, wirbelte herum und schoß das Magazin seiner Waffe auf das zerbrochene Fenster leer, für den Fall, daß der Killer ihn verfolgen sollte.

In der herabsinkenden Nacht sah er keine Spur des Feindes. Wahrscheinlich hatte er keinen Treffer erzielt, vergeudete aber keine Zeit darauf, sein Pech zu verfluchen. Er hetzte um das Haus herum und hinaus auf die Straße. Er mußte den Streifenwagen erreichen, wo es ein Funkgerät gab - und eine großkalibrige Schrotbüchse.

3

Am Mittwoch und Donnerstag, dem zweiten und dritten Juni, suchten Travis, Nora und Einstein eifrig nach einem Weg, die Verständigung zwischen Mensch und Hund zu verbessern, was teilweise solche Frustration erzeugte, daß Mensch und Hund schon beinahe anfingen, das Mobiliar anzuknabbern.

Doch Nora hatte genug Geduld und Zuversicht für sie alle. Als am Freitagabend, dem vierten Juni, kurz vor Sonnenuntergang, der Durchbruch kam, war sie weniger überrascht als Travis oder Einstein.

Sie hatten vierzig Magazine gekauft - von >Time< und >Life< bis >McCall' s< und >Redbook< - sowie fünfzig Bücher, alles Kunst- und Fotobände, und hatten sie ins Wohnzimmer des von Travis gemieteten Hauses gebracht, wo genügend Platz war, um alles auf dem Boden auszubreiten. Sie hatten auch Kissen auf dem Boden ausgelegt, damit sie auf derselben Ebene wie der Hund arbeiten konnten, ohne es unbequem zu haben.

Einstein hatte ihre Vorbereitungen mit Interesse beobachtet.

Auf dem Boden sitzend und mit dem Rücken gegen das Vinyl-überzogene Sofa gelehnt, nahm Nora den Kopf des Retrievers in beide Hände und sagte, wobei sie das Gesicht dicht an dem seinen hatte, so daß ihre Nasen sich fast berührten:

'Okay, jetzt hör mir zu, Einstein. Wir möchten alles mögliche über dich wissen: woher du kommst, weshalb du schlauer bist als ein gewöhnlicher Hund, wovor du an jenem Tag im Wald, als Travis dich fand, Angst hattest, weshalb du manchmal nachts zum Fenster hinausstarrst, als ob du vor etwas Angst hättest, und noch eine ganze Menge. Aber du kannst nicht reden, oder? Nein. Und soweit wir das wissen, kannst du auch nicht lesen. Und selbst wenn du lesen kannst, kannst du nicht ichreiben. Also müssen wir das, glaube ich, mit Bildern machen.«

Travis, der neben Nora saß, konnte sehen, daß der Hund die ganze Zeit, während sie sprach, seinen Blick nicht von ihrem löste. Einstein war wie erstarrt. Sein Schweif hing reglos herunter. Er schien nicht nur zu verstehen, was sie ihm sagte, sondern von dem Experiment gleichsam elektrisiert zu sein.

Wieviel nimmt der Köter wirklich wahr, fragte sich Travis, und wie viele von seinen Reaktionen bilde ich mir aus reinem Wunschdenken bloß ein?

Menschen haben die natürliche Tendenz, ihre Haustiere zu anthropomorphisieren, den Tieren also menschliche Wahrnehmungen und Absichten zuzuschreiben, wo gar keine existieren. Im Falle Einsteins, wo tatsächlich außergewöhnliche Intelligenz vorlag, war die Versuchung, in jeder bedeutungslosen Hundebewegung einen tieferen Sinn zu vermuten, sogar noch größer als normal.

»Wir werden jetzt alle diese Bilder genau ansehen und nach Dingen suchen, die dich interessieren, und anderen, die uns helfen, zu erfahren, woher du kommst und wie du das geworden bist, was du heute bist. Jedesmal, wenn du etwas siehst, das uns helfen kann, dieses Puzzle zusammenzusetzen, mußt du uns darauf aufmerksam machen. Belle es an, lege deine Pfote darauf oder wedle mit dem Schweif.«

»Das ist doch Unfug«, sagte Travis.

»Verstehst du mich, Einstein?« fragte Nora.

Der Retriever gab ein leises »Wuff« von sich.

»Das funktioniert nie«, sagte Travis.

»Doch, es wird«, beharrte Nora. »Er kann nicht reden und nicht schreiben, aber er kann uns Dinge zeigen. Wenn er uns ein Dutzend Bilder zeigt, verstehen wir vielleicht nicht sofort. welche Bedeutung sie für ihn haben, welchen Bezug auf seine Herkunft und seinen Ursprung. Aber mit der Zeit werden wir eine Möglichkeit finden, sie miteinander und mit ihm in Beziehung zu bringen, und dann werden wir wissen, was er uns zu sagen versucht.«

Der Hund, dessen Kopf Noras Hände immer noch festhielten, schielte zu Travis hinüber und wuffte wieder.

»Fertig?« fragte Nora Einstein.

Einsteins Blick kehrte zu ihr zurück, und er wedelte mit dem Schweif.

»Also gut«, sagte sie und ließ seinen Kopf los. »Fangen wir an.«

Mittwoch, Donnerstag und Freitag durchblätterten sie jeweils mehrere Stunden lang Dutzende von Druckwerken, zeigten Einstein Bilder von allen möglichen Dingen - Leuten, Bäumen, Blumen, Hunden, anderen Tieren, Maschinen, Straßen in Städten, Überlandstraßen, Autos, Schiffen, Flugzeugen, Lebensmitteln, Anzeigen für Tausende Produkte - in der Hoffnung, er würde etwas sehen, das seine Aufmerksamkeit erregte. Das Problem war, daß er viele Dinge sah, die ihn interessierten - zu viele. Vielleicht bei hundert aus tausend Bildern bellte er, kratzte mit der Pfote, wuffte, legte die Nase darauf oder wedelte mit dem Schweif. Das, was er auswählte, war von solcher Vielfalt, daß Travis keine Methode erkennen konnte. keine Möglichkeit fand, die Dinge miteinander in Verbindung zu bringen, aus ihrem assoziativen Nebeneinander eine Bedeutung herauszulesen.

Eine Automobilanzeige faszinierte Einstein, in der das Fahrzeug, das mit einem mächtigen Tiger verglichen wurde, in einem eisernen Käfg eingesperrt gezeigt wurde. Ob es nun der Wagen war, oder der Tiger, der sein Interesse erweckte, war nicht klar. Auch auf einige Computeranzeigen reagierte er, auf Anzeigen für Alpo und Purina-Hundefutter, auf eine Anzeige für einen tragbaren Stereo-Kassettenspieler, auf Bilder von Büchern, Schmetterlingen, einem Papagei, einem verzweifelten Mann in einer Gefängniszelle, vier jungen Leuten, die mit einem gestreiften Wasserball spielten, Mickey Mouse, einer Violine, einem Mann auf einem Tretwerk und vielen anderen Dingen. Die Fotografie eines Golden Retrievers machte ihn unruhig, das Bild eines Cockerspaniels versetzte ihn in hochgradige Erregung, aber eigenartigerweise zeigte er für andere Hunderassen wenig oder gar kein Interesse.

Seine stärkste - und verblüffendste - Reaktion zeigte er bei einem Foto in einem Zeitschriftenartikel über einen in Vorbereitung befindlichen Film der 20th Century-Fox. Der Film Handelte von übernatürlichen Dingen - Gespenstern, Poltergeistern, aus der Hölle emporgestiegenen Dämonen -, und las Foto, das ihn in Aufregung versetzte, zeigte eine dämonartige Erscheinung mit mächtigen Kinnbacken, bösen Fangzähnen und glühenden Augen. Die Kreatur war nicht scheußlicher als die anderen im Film, sogar weniger scheußlich, und doch zeigte Einstein nur bei ihr Wirkung.

Der Retriever bellte die Fotografie an. Er rannte hinter das Sofa und spähte dann hervor, als dächte er, die Kreatur könnte aus dem Bild steigen und seine Verfolgung aufnehmen. Er bellte wieder, winselte, und man mußte ihm gut zureden, damit er zur Zeitschrift zurückkäme. Als Einstein den Dämon das zweitemal sah, knurrte er drohend. Er kratzte mit der Pfote an dem Magazin, riß und zerrte an den Seiten, bis die Zeitschrift leicht zerfetzt, aber geschlossen war.

»Was ist denn an dem Bild so besonders?« fragte Nora den Hund.

Einstein starrte sie bloß an - und zitterte leicht.

Geduldig öffnete Nora das Magazin, so daß dieselbe Seite zu sehen war.

Einstein schloß es wieder.

Nora öffnete es.

Einstein schloß es das dritte Mal, schnappte es sich und trug es aus dem Raum.

Travis und Nora folgten dem Retriever in die Küche, wo sie ihn dabei beobachteten, wie er geradenwegs auf den Abfalleimer zuging. Der Abfalleimer war eines jener Modelle mit einem Pedal, das einen mit Scharnieren versehenen Deckel öffnete. Einstein setzte eine Pfote auf das Pedal, sah zu, wie der Deckel sich öffnete, ließ die Zeitschrift in den Eimer fallen und ließ das Pedal los.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte sich Nora.

»Ich schätze, das ist ein Film, den er sich ganz bestimmt nicht anschauen möchte.«

»Unser persönlicher vierbeiniger Kritiker.«

Dieser Zwischenfall ereignete sich am Donnerstagnachmittag. Am frühen Freitagabend näherte sich Travis' Enttäuschung - und die des Hundes - dem kritischen Punkt.

Manchmal legte Einstein unheimliche Intelligenz an den Tag, dann benahm er sich wieder wie ein ganz gewöhnlicher Hund, und dieses Hin- und Herpendeln zwischen Hundegenie und Köter war für jeden entnervend, der zu begreifen suchte, wie er so klug sein konnte. Langsam glaubte Travis, es wäre am besten, den Retriever einfach als das zu akzeptieren, was er war: auf erstaunliche Kunststücke dann und wann vorbereitet zu sein, aber nicht damit zu rechnen, daß er die ganze Zeit dazu fähig sei. Höchstwahrscheinlich würde das Geheimnis von Einsteins ungewöhnlicher Intelligenz nie gelöst werden. Doch Nora blieb geduldig. Sie gab immer wieder zu bedenken, daß Rom schließlich auch nicht an einem Tag erbaut worden sei und jede nennenswerte Leistung Entschlossenheit, Hartnäckigkeit und Zeit erfordere.

Jedesmal, wenn sie zum Thema Standfestigkeit und Ausdauer loslegte, seufzte Travis müde - und Einstein gähnte.

Nora ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Nachdem sie die Bilder in sämtlichen Büchern und Magazinen angesehen hatten, wählte sie die aus, auf die Einstein reagiert hatte, breitete sie auf dem Boden aus und ermunterte den Hund, zwischen den einzelnen Bildern Verbindungen herzustellen.

»Das sind alles Bilder von Dingen, die in seiner Vergangenheit eine wichtige Rolle gespielt haben«, sagte Nora.

»Ich glaube nicht, daß wir dessen so sicher sein können«, wandte Travis ein.

»Nun, wir hatten ihn jedenfalls darum gebeten«, sagte sie.

»Wir hatten ihn gebeten, uns Bilder zu zeigen, die uns vielleicht etwas darüber sagen könnten, woher er kommt.«

»Aber versteht er das Spiel?«

»Ja«, sagte sie überzeugt.

Der Hund wuffte.

Nora hob Einsteins Pfote und legte sie auf das Foto der Violine. »Okay, Köter. Du erinnerst dich von irgendwo an eine Violine, und sie war irgendwie wichtig für dich.«

»Vielleicht ist er in der Carnegie Hall aufgetreten«, sagte Travis.

»Mund halten!« Und zum Hund gewendet, sagte Nora: »Also schön. Gibt es eine Verbindung zwischen der Violine und einem dieser Bilder? Gibt es irgendeine Verbindung zu einem anderen Bild, das uns verstehen hilft, was du mit der Violine verbindest?«

Einstein starrte sie einen Augenblick lang eindringlich an, als überlegte er, was ihre Frage bedeute. Dann durchquerte er das Zimmer, ging vorsichtig durch die engen Bahnen zwischen den Fotoreihen, schnüffelte, ließ den Blick nach links und nach rechts wandern, bis er die Anzeige für den Sony-Kassettenrecorder fand. Er legte eine Pfote darauf und sah Nora wieder an.

»Das ist eine naheliegende Verbindung«, sagte Travis. »Die Violine macht Musik, der Kassettenrecorder gibt die Musik wieder. Für einen Hund ist das eine eindrucksvolle Assoziation. Aber hat das wirklich auch sonst noch etwas zu bedeuten, etwas, was seine Vergangenheit betrifft?«

»Oh, da bin ich ganz sicher«, sagte Nora. Und zu Einstein gewendet: »Hat jemand in deiner Vergangenheit Violine gespielt?«

Der Hund starrte sie an.

»Hat dein letztes Herrchen einen Kassettenrecorder wie den da gehabt?« wollte sie wissen.

Der Hund starrte sie an.

»Vielleicht hat der Violinspieler in deiner Vergangenheit seine eigene Musik mit einem Kassettenrecorder aufgezeichnet?« fragte sie.

Der Hund blinzelte und winselte.

»Also gut«, sagte sie. »Gibt es hier noch ein Bild, das du mit der Violine und dem Kassettenrecorder in Verbindung bringen kannst?«

Einstein starrte einen Augenblick lang die Sony-Anzeige an, als müßte er nachdenken, ging dann in einen anderen Gang zwischen zwei weiteren Bilderreihen und blieb diesmal bei einem aufgeschlagenen Magazin stehen, das eine Anzeige für die Blue-Cross-Krankenversicherung zeigte; ein Arzt im weißen Mantel war am Bett einer jungen Mutter zu sehen, die ihr Baby im Arm hielt. Arzt und Mutter strahlten über das ganze Gesicht, das Baby blickte unschuldig und heiter wie das Christkind.

Nora kroch zu dem Hund hin und sagte: »Erinnert dich das Bild an die Familie, der du gehört hast?«

Der Hund starrte sie an.

»Hat es in der Familie, bei der du gelebt hast, eine Mutter, einen Vater und ein neues Baby gegeben?«

Der Hund starrte sie an.

Travis, der immer noch auf dem Boden saß und sich gegen das Sofa lehnte, sagte: »He, vielleicht haben wir es hier mit einem Fall von Reinkarnation zu tun. Vielleicht erinnert sich der alte Einstein daran, daß er in einem früheren Leben ein Arzt, eine Mutter oder ein Baby gewesen ist.«

Nora würdigte diesen Vorschlag keiner Antwort.

»Ein Baby, das Violine spielte«, sagte Travis.

Einstein gab einen unglücklich wirkenden wimmernden Ton von sich.

Nora war noch immer auf allen vieren, nur einen halben Meter von dem Retriever entfernt, ihr Gesicht nahe dem seinen. »Also schön. So kommen wir nicht weiter. Wir müssen Fragen über diese Bilder stellen können und irgendwie Antworten bekommen.

»Gib ihm doch Papier und Bleistift«, sagte Travis.

»Ich meine das ernst«, sagte Nora, die gegenüber Travis mehr Ungeduld zeigte, als je bei Einstein.

»Ich weiß, das es ernst ist«, sagte er. »Aber lächerlich ist es auch.«

Sie ließ den Kopf einen Augenblick lang hängen, wie ein Hund, der unter der Sommerhitze leidet, hob dann plötzlich den Blick und sagte zu Einstein: »Wie schlau bist du wirklich, Köter? Willst du beweisen, daß du ein Genie bist? Willst du dir ewig unsere Bewunderung und unseren Respekt verdienen? Dann wirst du eines lernen müssen: auf meine Fragen mit einem einfachen Ja oder Nein zu antworten.«

Der Hund musterte sie interessiert und erwartungsvoll.

»Wenn die Antwort auf meine Frage ja lautet - dann wedle mit dem Schweif«, sagte Nora. »Aber nur, wenn die Antwort ja ist. Während wir diesen Test durchführen, mußt du es vermeiden, nur aus Gewohnheit zu wedeln oder weil dich irgend etwas aufgeregt hat. Schweifwedeln dient nur dazu, ja zu sagen. Und wenn du nein sagen willst, dann bellst du einmal. Nur einmal.«

Travis meinte: »Zweimal bellen heißt: >Ich würde lieber Katzen jagen<, und dreimal bellen: >Hol mir ein Budweiser.<«

»Bringen Sie ihn nicht durcheinander«, sagte Nora scharf.

»Warum nicht? Er bringt doch auch mich durcheinander.«

Der Hund würdigte Travis keines Blickes. Seine großen braunen Augen blieben eindringlich auf Nora gerichtet, während sie ihm das Wedeln-für-ja- und Bellen-für-nein-System ein zweitesmal erklärte.

»Also gut«, sagte sie. »Jetzt wollen wir's versuchen. Einstein, verstehst du die Ja-Nein-Signale?«

Der Retriever wedelte fünf- oder sechsmal mit dem Schweif und hörte dann auf.

»Zufall«, sagte Travis. »Hat nichts zu bedeuten.«

Nora zögerte einen Augenblick lang, während sie die nächste Frage überlegte, und sagte dann: »Kennst du meinen Namen?«

Der Schweif wedelte, hielt inne.

»Ist mein Name ... Ellen?«

Der Hund bellte. Nein.

»Ist mein Name ... Mary?«

Ein Bellen. Nein.

»Ist mein Name Nona?«

Der Hund rollte die Augen, als wolle er sie dafür tadeln, daß sie versuchte, ihn hereinzulegen. Kein Wedeln. Ein Bellen.

»Ist mein Name ... Nora?«

Einstein wedelte heftig.

Jauchzend vor Freude kroch Nora vorwärts, setzte sich auf und drückte den Retriever an sich.

»Da soll mich doch der Teufel holen«, sagte Travis und kroch zu ihnen hinüber.

Nora deutete auf das Foto, auf das der Retriever immer noch eine Pfote gelegt hatte. »Reagierst du auf dieses Bild, weil es dich an die Familie erinnert, bei der du einmal gelebt hast?«

Ein Bellen. Nein.

Travis sagte: »Hast du je bei einer Familie gelebt?«

Ein Bellen.

»Aber du bist kein wilder Hund«, sagte Nora. »Du mußte irgendwo gelebt haben, ehe Travis dich fand.«

Travis studierte die Anzeige von Blue Cross und glaubte plötzlich alle richtigen Fragen zu wissen. »Hast du wegen des Babys auf dieses Bild reagiert?«

Ein Bellen. Nein.

»Wegen der Frau?«

Nein.

»Wegen des Mannes in dem weißen Labormantel?«

Heftiges Wedeln: Ja. ja, ja.

»Er hat also bei einem Arzt gelebt«, sagte Nora. »Vielleicht ein Tierarzt.«

»Oder ein Wissenschaftler«, sagte Travis, einer Idee folgend, die ihm plötzlich gekommen war.

Einstein wedelte ein >Ja<, als das Wort Wissenschaftler fiel.

»Ein Forscher«, sagte Travis.

Ja.

»In einem Labor«, sagte Travis.

Ja, ja, ja.

»Du bist ein Laborhund?« fragte Nora.

Ja.

»Ein Versuchstier«, sagte Travis.

Ja.

»Und deshalb bist du so klug.«

Ja.

»Wegen etwas, das die mit dir gemacht haben.«

Ja.

Travis' Herz schlug wie wild. Sie standen jetzt tatsächlich in Verbindung, kommunizierten miteinander, bei Gott, nicht nur grobmaschig, auf die vergleichsweise primitive Art wie er und Einstein in jener Nacht, als der Hund aus Hundekuchen ein Fragezeichen gemacht hatte. Dies hier war Kommunikation höchst spezifischer Natur. Sie redeten, als wären sie drei Personen - nun, es war fast ein Gespräch -, und plötzlich würde nichts mehr so sein, wie es vorher gewesen war. Nein, in einer Welt, in der Menschen und Tiere den gleichen (wenn auch vielleicht verschiedenartigen) Verstand besaßen, in der sie sich dem Leben unter den gleichen Bedingungen stellten, mit den gleichen Rechten, den gleichen Hoffnungen und Träumen, konnte nichts mehr so sein, wie es einmal gewesen war. Schön. Okay. Vielleicht machte er jetzt zu viel daraus. Nicht allen Tieren war plötzlich Bewußtsein und Intelligenz auf menschlichem Niveau gegeben; dies war nur ein Hund, ein Versuchstier, vielleicht das einzige seiner Art. Aber Herrgott! Herrgott! Travis starrte den Retriever beinahe ehrfürchtig an, und es lief ihm eisig über den Rücken, nicht aus Furcht, sondern aus Staunen.

Nora sprach zu dem Hund, und aus ihrer Stimme war dieselbe Ehrfurcht herauszuhören, die Travis für kurze Zeit sprachlos gemacht hatte: »Die haben dich nicht einfach laufenlassen, oder?«

Ein Bellen. Nein.

»Du bist ihnen davongelaufen?«

Ja.

»An jenem Dienstagmorgen, als ich dich im Wald fand?« fragte Travis. »Warst du da gerade weggelaufen?«

Einstein bellte weder, noch wedelte er mit dem Schweif.

»Tage vorher?« fragte Travis.

Der Hund winselte.

»Er hat wahrscheinlich einen Zeitsinn«, sagte Nora, »weil praktisch alle Tiere dem natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus folgen, nicht wahr? Sie haben instinktive Uhren, biologische Uhren. Aber wahrscheinlich hat er keine Vorstellung von Kalendertagen. Er versteht wirklich nicht, wie wir die Zeit in Tage, Wochen und Monate aufteilen, also kann er Ihre Frage nicht beantworten.«

»Dann ist das etwas, was wir ihm beibringen müssen«, sagte Travis. Einstein wedelte heftig mit dem Schweif. »Davongelaufen ...«, meinte Nora nachdenklich.

Travis glaubte zu wissen, was sie jetzt dachte, und so sagte er, zu Einstein gewendet: »Die werden dich suchen, nicht wahr?«

Der Hund winselte und wedelte mit dem Schweif, was Travis als ein besonders betontes - von Furcht betontes - >Ja< deutete.

4

Eine Stunde nach Sonnenuntergang trafen Lemuel Johnson und Cliff Soames in Bordeaux Ridge ein. Ihnen folgten in zwei weiteren nicht gekennzeichneten Wagen acht NSA-Agentcn. Die ungeteerte, durch das Zentrum des Baugeländes führende Straße war von Fahrzeugen gesäumt, hauptsächlich Streifenwagen des Sheriffbüros sowie einigen Fahrzeugen der gerichtsmedizinischen Abteilung.

Lem registrierte verstimmt, daß die Presse bereits eingetroffen war. Die Journalisten und die Fernsehcrews mit ihren elektronischen Kameras waren durch einen Polizeikordon, einen halben Block vor dem vermutlichen Schauplatz des Mordes, ausgesperrt. Die NSA hatte die Einzelheiten über den Tod Wesley Dalbergs im Holy Jim Canyon und die miteinander in Verbindung stehenden Morde an den Wissenschaftlern von Banodyne unterdrückt und eine aggressive Desinformationskampagne geführt. Dadurch hatte die Presse von der Verbindung, die zwischen diesen Ereignissen bestand, bisher keine Kenntnis erlangt. Lem hoffte, daß die Hilfssheriffs, die die Sperren bewachten, zu Walt Gaines' engsten Vertrauten gehörten und auf die Fragen der Reporter mit steinernem Schweigen reagieren würden, bis man diesen eine überzeugende Geschichte auftischen konnte.

Einige Absperrböcke wurden weggehoben, um die NSA-Fahrzeuge durch die Polizeilinien zu lassen, dann wieder zurückgestellt.

Lem fuhr am Schauplatz des Mordes vorbei und parkte ein Stück dahinter am Ende der Straße. Er überließ es Cliff Soa-mes, die anderen Agenten zu informieren, und strebte auf das halb fertiggestellte Haus zu, dem allem Anschein nach alle Aufmerksamkeit galt.

Die Radios der Streifenwagen erfüllten die heiße Nachtluft mit Codes und Stimmengeschnatter - und einem Knistern von Störgeräuschen, als würde die ganze Welt auf einem kosmischen Rost gebraten.

Tragbare Scheinwerfer standen auf Stativen und strahlten die Vorderseite des Hauses an, um die Ermittlungen zu erleichtern. Lem hatte das Gefühl, sich auf einer riesigen Bühne zu befinden. Motten kreisten um die Scheinwerfer und flatterten benommen im grellen Licht. Ihre vergrößerten Schatten glitten über den staubigen Boden.

Er ging quer durch den von Bauschutt bedeckten Hof auf das Haus zu und warf dabei selbst einen übertrieben großen, verzerrten Schatten. Drinnen fand er weitere Scheinwerfer vor. Blendendes Licht prallte von den weißen Wänden ab. Ein paar junge Hilfssheriffs, Männer von der gerichtsmedizinischen Abteilung und die üblichen verbissen wirkenden Typen vom Spurendienst füllten den kleinen Raum. Im grellen Licht sahen sie blaß und verschwitzt aus.

Das Blitzlicht eines Fotografen flammte zweimal auf, weiter hinten im Hause. Im Korridor waren zu viele Menschen, also ging Lem durch das Wohnzimmer, das Eßzimmer und die Küche nach hinten.

Walt Gaines stand im Frühstückszimmer hinter dem letzten, halb verhängten Scheinwerfer. Aber selbst im Schatten waren sein Zorn und seine Verstimmung nicht zu übersehen. Er war offenbar zu Hause gewesen, als er die Nachricht von der Ermordung eines Hilfssheriffs erhielt, denn er trug ausgefranste Joggingschuhe, zerdrückte, beigefarbene Freizeithosen und ein rot-braun-kariertes kurzärmeliges Hemd. Trotz seiner hünenhaften Gestalt, seines Stiernackens, seiner muskulösen Arme und seiner mächtigen Pranken sah Walt in dieser Kleidung und mit der Art und Weise, wie er mit hängenden Schultern dastand, wie ein verlassener kleiner Junge aus.

Vom Frühstücksraum aus konnte Lem wegen der ihm die Sicht verstellenden Leute vom Gerichtslabor nicht in den Wäscheraum sehen, wo immer noch die Leiche lag. Er sagte: »Es tut mir leid, Walt. Sehr leid.«

»Er hieß Teel Porter. Sein Dad, Red Porter, und ich sind seit fünfundzwanzig Jahren Freunde. Red ist erst letztes Jahr in den Ruhestand gegangen. Wie soll ich ihm das beibringen? Herrgott. Das muß ich selber machen, wo wir doch Freunde sind. Diesmal kann ich das an keinen weitergeben.«

Lem wußte, daß Walt sich nie drückte, wenn einer seiner Männer im Dienst ums Leben kam. Er suchte die Familie immer persönlich auf, überbrachte die schlimme Nachricht und blieb während des ersten Schocks bei ihnen.

»Fast hätte ich zwei Männer verloren«, meinte Walt. »Der andere ist noch völlig durcheinander.«

»Wie ist Teel Porter...?«

»Den Bauch aufgerissen, wie Dalberg. Und geköpft.«

Der Outsider, dachte Lem. Darüber gab es jetzt keinen Zweifel mehr.

Motten waren hereingekommen und prallten gegen das Glas des Scheinwerfers, hinter dem Lem und Walt standen.

Der Zorn ließ jetzt Walts Worte undeutlicher werden, als er sagte: »Bis jetzt haben wir... seinen Kopf noch nicht gefunden. Wie bring' ich seinem alten Herrn bei, daß Teels Kopf verschwunden ist?«

Darauf wußte Lem keine Antwort.

Walt sah ihn scharf an. »Jetzt kannst du mich nicht mehr ganz hinausdrängen. Jetzt, wo einer meiner Männer tot ist.« »Walt, meine Behörde arbeitet absichtlich im dunkeln. Verdammt, sogar die Zahl der Agenten, die wir auf der Lohnliste stehen haben, ist Verschlußsache. Aber deine Abteilung ist ganz der Neugier der Presse ausgesetzt. Und damit sie wissen, wie sie sich in diesem Fall verhalten müssen, müßte man deinen Leuten genau sagen, wonach sie suchen. Was hieße, daß einer großen Zahl von Subalternen Geheimnisse der nationalen Verteidigung zur Kenntnis gebracht werden ...«

»Deine Männer wissen alle, was gespielt wird«, konterte Walt.

»Ja, aber meine Männer haben sich eidesstattlich zur Geheimhaltung verpflichtet, sind gründlichen Sicherheitsprüfungen unterzogen worden und dazu ausgebildet, den Mund zu halten.«

»Auch meine Männer können ein Geheimnis bewahren.« »Ganz sicher können sie das«, sagte Lem vorsichtig. »Ich bin sicher, daß sie außerhalb ihrer Arbeit nicht über gewöhnliche Fälle sprechen. Aber das hier ist kein gewöhnlicher Fall. Nein, er muß in unserer Hand bleiben.«

Walt sagte: »Auch meine Männer können sich eidesstattlich zur Geheimhaltung verpflichten.«

»Wir müßten jeden in deiner Abteilung gründlich unter die Lupe nehmen, eine Sicherheitsüberprüfung vornehmen. Nicht nur bei deinen Hilfssheriffs, sondern bei jedem Büroangestellten. Das würde Wochen dauern, Monate.«

Walt blickte durch die Küche zur offenen Wohnzimmertür hinüber und sah Cliff Soames und einen NSA-Agenten mit zwei Hilfssheriffs sprechen, die sich im Zimmer dahinter aufhielten. »Ihr habt hier wohl, kaum daß ihr hier aufgetaucht seid, das Kommando übernommen, wie? Bevor du auch nur ein Wort mit mir darüber gesprochen hast?«

»Ja. Wir müssen sicherstellen, daß deine Leute wissen, daß sie über nichts reden dürfen, was sie heute nacht hier gesehen haben - nicht einmal mit ihren Frauen. Wir machen jeden einzelnen Mann mit den entsprechenden Bundesgesetzen vertraut, weil wir sicher sein wollen, daß sie wissen, welchen Geld- und Gefängnisstrafen sie sich aussetzen.«

»Du drohst mir ja schon wieder mit dem Knast!« sagte Walt, aber diesmal war keine Spur von Humor in seiner Stimme wie beim letztenmal, als sie in der Garage des St.-Josephs-Hospi-tals nach dem Besuch bei Tracy Keeshan miteinander gesprochen hatten.

Lem bedrückte nicht nur der Tod des Hilfssheriffs, sondern auch der Keil, den dieser Fall zwischen ihn und Walt trieb. »Ich will niemanden im Knast haben. Deshalb will ich ja auch sicher sein, daß jeder die Konsequenzen begreift...«

Walt runzelte die Stirn und sagte: »Komm mit.«

Lem folgte ihm nach draußen zu einem Streifenwagen, der vor dem Haus parkte.

Sie setzten sich auf die Vordersitze, Walt hinter das Steuerrad. Die Türen hatten sie geschlossen. »Dreh die Fenster hoch, damit wir ungestört sind.«

Lem protestierte, meinte, sie würden in dieser Hitze ohne Lüftung ersticken. Aber selbst im schwachen Licht sah er förmlich Walts dampfende Wolke der Wut hochsteigen und erkannte; daß er sich in der Lage eines Mannes befand, der in einem See von Benzin steht und eine brennende Kerze in der Hand hält. Er kurbelte sein Fenster hoch.

»Okay«, sagte Walt. »Wir sind allein. Jetzt sind wir nicht NSA-Distriktchef und Sheriff. Nur alte Freunde. Kumpel. Und jetzt raus mit der Sprache.«

»Walt, verdammt noch mal, das kann ich nicht.«

»Sag es mir jetzt, und ich halte mich aus dem Fall raus.

Dann mische ich mich nicht ein.«

»Du wirst in jedem Fall draußenbleiben. Das mußt du.« »Verdammt will ich sein, wenn ich das tue«, sagte Walt zornig. »Ich brauche jetzt bloß die Straße hinunter zu diesen Schakalen zu gehen.« Der Wagen war so geparkt, daß die Motorhaube aus Bordeaux Ridge hinauswies, in die Richtung der Straßensperre, wo die Reporter warteten. Walt deutete jetzt durch die verstaubte Windschutzscheibe zu ihnen hin. »Ich kann denen sagen, daß die Banodyne Laboratories an irgendeinem Verteidigungsprojekt gearbeitet haben und daß es ihnen außer Kontrolle geraten ist. Ich kann ihnen sagen, daß irgend jemand oder irgend etwas Fremdartiges trotz der Sicherheitsmaßnahmen aus den Labors entkommen ist, und jetzt ist es in Freiheit und tötet Menschen.«

»Wenn du das tust«, sagte Lem, »würdest du nicht in den Knast wandern. Dann würdest du deine Stellung verlieren und deine ganze Laufbahn ruinieren.«

»Das glaube ich nicht. Ich würde vor Gericht behaupten, daß ich die Wahl hatte, die nationalen Sicherheitsbestimmungen zu brechen oder das Vertrauen der Leute zu verraten, die mich in diesem Bezirk in mein Amt gewählt haben. Ich würde behaupten, daß ich in einer solchen Krise die öffentliche Sicherheit meiner Mitbürger über die Sorgen der Verteidigungsbürokraten in Washington stellen mußte. Ich bin sicher, daß so ziemlich jedes Geschworenengericht mich freisprechen würde. Ich würde nicht in den Knast wandern, und bei der nächsten Wahl würde ich noch mehr Stimmen bekommen als bei der letzten.«

»Scheiße!« sagte Lem, weil er wußte, daß Walt recht hatte. »Wenn du mir jetzt reinen Wein einschenkst, wenn du mich überzeugst, daß deine Leute besser imstande sind, mit der Situation fertigzuwerden, als meine, dann mache ich dir den Weg frei. Wenn du es mir aber nicht sagst, lasse ich alles auffliegen.«

»Damit würde ich meinen Eid brechen. Ich würde selber meinen Hals in die Schlinge stecken.«

»Niemand wird je erfahren, daß du es mir gesagt hast.« »Wirklich? Also schön, Walt. Warum, um Christi willen, bringst du mich in eine so unangenehme Lage? Bloß um deine Neugierde zu befriedigen?«

Walt sah ihn verletzt an. »Verdammt noch mal, eine solche Kleinigkeit ist das nicht. Das ist nicht nur Neugierde.«

»Was ist es dann?«

»Einer meiner Männer ist tot!«

Lem lehnte den Kopf gegen den Sitz, schloß die Augen und seufzte. Walt mußte wissen, warum er auf die Rache für die Ermordung eines seiner eigenen Männer zu verzichten hatte. Sein Pflichtgefühl und seine Ehre verlangten wenigstens das, wenn man von ihm einen Rückzieher erwartete. Der Standpunkt, den er einnahm, war nicht unvernünftig.

»Also, was ist - soll ich mit den Reportern reden?« fragte Walt ruhig.

Lem schlug die Augen auf und strich sich mit der Hand über das schweißnasse Gesicht. Im Inneren des Wagens war es unangenehm warm und stickig. Er wollte sein Fenster herunterkurbeln. Aber gelegentlich kamen Männer auf dem Weg zum Haus oder zurück draußen vorbei, und er durfte wirklich nicht riskieren, daß jemand hörte, was er Walt jetzt sagen würde. »Du hattest recht, als du dich auf Banodyne eingeschossen hast. Die führten dort seit einigen Jahren auf die Verteidigung gerichtete Forschungen durch.«

»Biologische Kriegsführung?« fragte Walt. »Gen-Manipulation, um häßliche neue Viren zu machen?«

»Das vielleicht auch«, sagte Lem. »Aber Bakterienkriegsführung hat mit diesem Fall nichts zu tun, und ich werde dir nur von den Forschungsarbeiten erzählen, die unser Problem hier berühren.«

Die Fenster fingen an zu beschlagen. Walt startete den Motor. Der Wagen war nicht klimatisiert, und der Beschlag an den Fenstern breitete sich weiter aus. Aber selbst der schwache, feuchtwarme Luftstrom aus den Düsen war willkommen.

Lem sagte: »Sie arbeiteten an einigen Forschungsprogrammen, die die Bezeichnung Francis-Projekt bekamen. Benannt nach dem heiligen Franz von Assisi.«

Walt blinzelte überrascht und sagte; »Ein Kriegsprojekt benennen die nach einem Heiligen?«

»Das paßt schon«, versicherte ihm Lern. »Franz von Assisi konnte mit Vögeln und Tieren reden. Und bei Banodyne leitete Dr. Davis Weatherby ein Projekt, das darauf abzielte, eine Kommunikation zwischen Mensch und Tier zu ermöglichen.« »Die Sprache der Delphine erlernen - so etwas Ähnliches?«

»Nein. Die Idee war die, das allerneueste Wissen der Gentechnologie einzusetzen, um Tiere mit wesentlich höherer Intelligenz zu schaffen. Tiere, die zu fast menschlichem Denken fähig sein sollten. Tiere, mit denen wir uns möglicherweise verständigen könnten.«

Walt starrte ihn mit offenem Mund an.

Lem fuhr fort: »Unter dem Generalbegriff des Francis-Projekts haben einige Teams von Wissenschaftlern an sehr verschiedenen Experimenten gearbeitet, und zwar seit wenigstens vier Jahren. Da waren zum einen Dr. Weatherbys Hunde ... «

Dr. Weatherby hatte mit den Samen und Eizellen von Golden Retrievers gearbeitet, die er ausgewählt hatte, weil diese Rasse seit mehr als hundert Jahren sorgfältig gezüchtet worden war, Zum einen bedeutete diese sorgfältige Züchtung, daß alle erblichen Krankheiten weitestgehend aus dem Gencode getilgt waren, wodurch Weatherby sicher sein konnte, daß ihm für seine Experimente gesunde und intelligente Tiere zur Verfügung standen. Außerdem konnte Weatherby, falls Welpen mit Abnormitäten zur Welt kamen, diese natürlichen Mutationen leicht von allen anderen unterscheiden, die sich als ungewollte Nebeneffekte seiner eigenen Manipulationen am Erbgut des Tieres einstellten; auf diese Weise würde er aus seinen eigenen Fehlern lernen können.

Im Laufe der Jahre hatte Davis Weatherby, einzig und allein bemüht, die Intelligenz der Zucht zu steigern, ohne eine Änderung im physischen Erscheinungsbild herbeizuführen, Hunderte genetisch veränderte Retriever-Eizellen in vitro befruchtet und die befruchteten Eier dann Hündinnen eingepflanzt, die als >Leihmütter< dienten: Die Hündinnen trugen die Reagenzglaswelpen aus, und Weatherby studierte diese jungen Hunde auf Anzeichen gesteigerter Intelligenz.

»Es gab eine verdammt große Zahl von Fehlschlägen«, sagte Lem. »Groteske physische Mutationen, die vernichtet werden mußten. Totgeborene Welpen. Welpen, die normal aussahen, aber weniger intelligent waren als gewöhnlich. Schließlich kreuzte Weatherby auch mit den Gencodes anderer Gattungen, also kannst du dir vorstellen, daß es zu ein paar recht schrecklichen Resultaten kam.«

Walt starrte auf die Windschutzscheibe, die jetzt völlig undurchsichtig war. Dann sah er Lern mit gerunzelter Stirn an. »Andere Gattungen? Was meinst du damit?«

»Nun, siehst du, er isolierte diese genetischen Intelligenzdeterminanten in den Gencodes von Gattungen, die intelligenter waren als der Retriever.«

»Affen zum Beispiel? Die sind doch intelligenter als Hunde, oder nicht?«

»Ja. Affen ... und Menschen.«

»Du lieber Gott!« sagte Walt.

Lem drehte eine Düse im Armaturenbrett so, daß der lauwarme Luftstrom sein Gesicht traf. »Weatherby hat das fremde genetische Material in den Gencode des Retriever eingebracht und gleichzeitig jene Gene, die seine Intelligenz auf die des Hundes beschränkten, eliminiert.«

Jetzt reichte es Walt. »Das ist doch nicht möglich! Dieses genetische Material; wie du es nennst, kann doch ganz sicherlich nicht von einer Spezies zur anderen weitergegeben werden.«

»In der Natur geschieht das die ganze Zeit«, sagte Lern. »Genetisches Material wird von einer Gattung auf die andere übertragen, und der Träger ist gewöhnlich ein Virus. Sagen wir einmal, ein Virus würde in Rhesusaffen gedeihen. Solange er sich in dem Affen befindet, nimmt er genetisches Material aus den Zellen des Affen auf. Diese aufgenommenen Affengene werden ein Teil des Virus selbst. Später, nachdem dieser Virus einen menschlichen Wirt infiziert hat, besitzt er die Fähigkeit, das genetische Material des Affen in seinem menschlichen Wirt zu hinterlassen. Denke beispielsweise einmal an den AIDS-Virus. Man nimmt an, daß AIDS über Jahrzehnte ein Krankheitskeim war, dessen Träger gewisse Affen und menschliche Wesen waren, obwohl keine der beiden Gattungen für die Krankheit selbst anfällig war; ich meine, wir waren einzig und allein Träger - wir wurden von dem, was wir trugen, nie krank. Aber dann passierte irgendwie etwas an den Affen, eine negative genetische Veränderung, die sie nicht bloß zu Trägern, sondern zu Opfern des AIDS-Virus machte. Affen fingen an, an der Krankheit zu sterben. Als dann der Virus auf die Menschen überging, brachte er dieses neue genetische Material mit, das die Anfälligkeit für AIDS spezifizierte, und von diesem Augenblick an dauerte es nicht mehr lange, bis sich auch Menschen die Krankheit zuziehen konnten. So funktioniert das in der Natur. Und im Labor geschieht es noch sehr viel effizienter.«

Der Beschlag auf den Seitenfenstern wurde immer dichter. Walt sagte: »Also ist es Weatherby wirklich gelungen, einen Hund mit menschlicher Intelligenz zu züchten?«

»Das war ein langer, äußerst langwieriger Prozeß, aber im Laufe der Zeit machte er Fortschritte. Und vor etwas mehr als einem Jahr kam die Wunderwelpe zur Welt.«

»Und die denkt wie ein menschliches Wesen?«

»Nicht wie ein menschliches Wesen, aber vielleicht ebensogut wie.«

»Und sieht doch wie ein gewöhnlicher Hund aus?«

»Das ist es, was das Pentagon haben wollte. Und was Weatherbys Aufgabe vermutlich erschwerte. Anscheinend hat die Größe des Gehirns zumindest ein wenig mit der Intelligenz zu tun, und Weatherby hätte seinen Durchbruch vielleicht viel eher geschafft, hätte er einen Retriever mit einem größeren Gehirn entwickeln können. Aber ein größeres Gehirn hätte einen neu konfigurierten, viel größeren Schädel bedeutet, also hätte der Hund verdammt ungewöhnlich ausgesehen.«

Alle Fenster waren jetzt beschlagen. Weder Walt noch Lern versuchten den Beschlag wegzuwischen. Unfähig, aus dem Wagen hinauszusehen, auf dessen feuchtes, beengendes Innere beschränkt, schienen sie von der wirklichen Welt abgeschlossen, in Raum und Zeit dahinzutreiben - ein Zustand, der dem Nachdenken über die wundersamen und empörenden Schöpfungsakte, die die Gentechnologie möglich machte, seltsam förderlich war.

Walt sagte: »Das Pentagon wollte einen Hund, der wie ein Hund aussah, aber wie ein Mensch denken konnte? Warum?« »Stell dir bloß einmal die Spionagemöglichkeiten vor«, sagte Lem. »In Kriegszeiten würde es Hunden nicht schwerfallen, tief in feindliches Territorium einzudringen und Anlagen und Truppenstärken auszukundschaften. Intelligente Hunde, mit denen wir uns irgendwie verständigen könnten, würden zurückkehren und uns berichten, was sie gesehen und gehört haben.«

»Uns berichten? Willst du sagen, daß man Hunde zum Reden bringen kann, wie im Märchen? Jetzt reicht's aber. Lem!« Lem konnte seinem Freund durchaus nachfühlen, daß es ihm Schwierigkeiten bereitete, diese erstaunlichen Möglichkeiten geistig nachzuvollziehen. Die moderne Wissenschaft schritt so rasch vorwärts, machte so viele revolutionäre Entdeckungen, daß für den Laien in Zukunft der Unterschied zwischen Wissenschaft und Zauberei immer geringer werden würde. Nur wenige Nichtwissenschaftler konnten sich auch nur entfernt ausmalen, wie sehr sich die Welt der nächsten zwanzig Jahre von der Welt der Gegenwart unterscheiden würde; ein Unterschied vielleicht wie der zwischen der Zeit um 1980 und der Zeit um 1780. Die Veränderung vollzog sich in unvorstellbarem Tempo, und tat jemand einen Blick in das, was vielleicht kommen würde - wie Walt soeben -, dann war das ebenso ermutigend wie erschreckend, ebenso anregend wie furchteinflößend.

Lem sagte: »Tatsächlich könnte man einen Hund genetisch so verändern, daß er sprechen kann. Vielleicht wäre das sogar leicht - ich weiß es nicht. Aber um ihm den erforderlichen Sprechapparat zu liefern, die erforderliche Zunge und die erforderlichen Lippen ... das würde eine drastische Veränderung seines Aussehens bedeuten, und das taugt nichts für die Zwecke des Pentagon. Diese Hunde werden also nicht sprechen. Die Verständigung wird ohne Zweifel vermittels einer komplizierten Zeichensprache erfolgen müssen.«

»Du lachst ja gar nicht«, sagte Walt. »Das ist doch ganz bestimmt ein beschissener Witz - warum lachst du also nicht?« »Denk darüber nach«, sagte Lem geduldig. »In Friedenszeiten ... stell dir bloß vor, der Präsident der Vereinigten Staaten übergibt dem sowjetischen Generalsekretär einen einjährigen Golden Retriever als Geschenk des amerikanischen Volkes. Stell dir vor, der Hund lebt im Haus und im Büro des Generalsekretärs, hört die geheimsten Gespräche der höchsten Parteispitzen der UdSSR mit an. Und hin und wieder, alle paar Wochen oder Monate, schleicht sich der Hund nachts davon und trifft sich mit einem US-Agenten in Moskau und berichtet.« »Berichtet? Das ist doch Wahnsinn«, sagte Walt und lachte. Aber sein Lachen hatte einen scharfen, hohlen und irgendwie nervösen Klang, was Lem zeigte, daß die Skepsis des Sheriffs im Begriff war, diesem davonzugleiten, obwohl er sie festhalten wollte.

»Ich sage dir, daß es möglich ist. Ein solcher Hund ist tatsächlich durch die Befruchtung einer genetisch veränderten Eizelle mit genetisch verändertem Sperma erzeugt und von einer Leihmutter ausgetragen worden. Und nach einem Jahr des Eingesperrtseins in den Banodyne-Labors, irgendwann in den frühen Morgenstunden des siebzehnten Mai, entkam dieser Hund durch eine Reihe unglaublich geschickter Handlungen, durch die er auf raffinierte Weise das Sicherheitssystem der Anlage umging.«

»Und jetzt ist der Hund auf freiem Fuß?«

»Ja.«

»Und das hat all die Morde ...«

»Nein«, sagte Lem. »Der Hund ist harmlos, liebenswert, ein wunderbares Tier. Ich war in Weatherbys Labor, während er mit dem Retriever arbeitete. In beschränkter Weise habe ich mich mit ihm verständigt. Ehrlich, Walt. Wenn du dieses Tier in Aktion siehst, wenn du siehst, was Weatherby geschaffen hat, dann gibt dir das ungeheure Hoffnung für die armselige Gattung Mensch, der wir angehören.«

Walt starrte ihn verständnislos an.

Lem mußte nach Worten suchen, um ihm zu vermitteln, was er fühlte. Als er dann die Sprache fand, zu beschreiben, was der Hund für ihn bedeutete, spürte er, wie die innere Erregung ihm die Brust abschnürte. »Nun... ich meine, wenn wir zu diesen erstaunlichen Dingen fähig sind, wenn wir ein solches Wunder in die Welt setzen können, dann muß doch etwas sehr Wertvolles in uns sein, ganz gleich, was die Pessimisten und Schwarzseher glauben. Wenn wir zu solchem fähig sind, dann haben wir die Macht und potentiell auch die Weisheit Gottes. Wir sind nicht nur Erzeuger von Waffen, sondern auch Erzeuger von Leben, Wenn wir die Angehörigen einer anderen Spezies auf unsere Ebene heben können, wenn wir eine Rasse erschaffen können als Gefährten für uns, um die Welt mit uns zu teilen ... dann wird das unser Denken und unseren Glauben für immer verändern. Indem wir den Retriever verändert haben, haben wir uns selbst verändert. Indem wir den Hund auf ein neues Bewußtseinsniveau gehoben haben, hat sich unvermeidbar auch unser eigenes Bewußtsein auf ein höheres Niveau begeben.«

»Du lieber Gott, Lem, du redest ja wie ein Prediger.«

»Tu' ich das? Das ist, weil ich mehr Zeit gehabt habe, darüber nachzudenken als du. Die Zeit wird kommen, wo auch du verstehen wirst, wovon ich jetzt rede. Auch du wirst es langsam bekommen, dieses unglaubliche Gefühl, daß die Menschheit auf dem Weg zur Göttlichkeit ist - und daß wir es verdienen, dorthin zu kommen.«

Walt Gaines starrte das beschlagene Glas an, als könne er in den sich zu Mustern formenden Wassertröpfchen etwas von großem Interesse lesen. Dann meinte er: »Vielleicht stimmt das, was du sagst. Vielleicht stehen wir an der Schwelle einer neuen Welt. Aber für den Augenblick müssen wir in der alten leben und uns mit ihr auseinandersetzen. Wenn es also nicht der Hund war, der meinen Hilfssheriff umgebracht hat - was war es dann?«

»Es ist noch etwas anderes aus Banodyne entkommen, in derselben Nacht, in der der Hund entkam«, sagte Lem. Plötzlich wurde seine Euphorie gedämpft durch die Notwendigkeit, zugeben zu müssen, daß das Francis-Projekt auch seine dunklere Seite gehabt hatte. »Sie nannten es den Outsider.«

5

Nora hielt die Zeitschrift mit der Anzeige, die ein Automobil mit einem Tiger verglich und den Wagen in einem eisernen Käfig zeigte, in der Hand. Zu Einstein sagte sie: »Also gut, dann laß uns sehen, was du noch für uns klarstellen kannst. Wie ist's mit dem hier? Was hat dich an diesem Foto interessiert - das Auto?«

Einstein bellte einmal. Nein,

»War es der Tiger?« fragte Travis.

Ein Bellen.

»Der Käfig?« fragte Nora.

Einstein wedelte mit dem Schweif: Ja.

»Hast du dieses Bild gewählt, weil sie dich in einem Käfig gehalten haben?« fragte Nora.

Ja.

Travis suchte auf allen vieren kriechend, bis er das Foto des armen Unglücklichen in der Gefängniszelle fand. Er brachte es, zeigte es dem Retriever und sagte: »Und hast du dieses hier gewählt, weil die Zelle wie ein Käfig ist?«

Ja.

»Und weil der Gefangene auf dem Bild dich daran erinnert, wie du dich fühltest, als du in einem Käfig warst?«

Ja.

»Die Violine«, sagte Nora. »Hat jemand im Laboratorium dir auf der Violine vorgespielt?«

Ja.

»Warum sie das wohl getan haben mögen?« sagte Travis.

Darauf konnte der Hund nicht mit einem einfachen Ja oder Nein antworten.

»Hat dir das Violinspiel gefallen?« fragte Nora.

Ja.

»Magst du Musik?«

Ja.

»Magst du Jazz?«

Der Hund bellte weder, noch wedelte er mit dem Schweif.

Travis meinte: »Er weiß nicht, was Jazz ist. Ich nehme an, sie haben ihn so etwas nie hören lassen.«

»Magst du Rock and Roll?« fragte Nora.

Ein Bellen und gleichzeitig ein Schweifwedeln.

»Was soll das jetzt bedeuten?« fragte Nora.

»Das bedeutet wahrscheinlich >ja und nein«, sagte Travis. »Er mag einige Rock-and-Roll-Stücke, aber nicht alles.«

Einstein wedelte mit dem Schweif, um Travis' Interpretation zu bestätigen.

»Klassische Musik?« fragte Nora.

Ja.

»Wir haben es also hier mit einem Hund zu tun, der ein Snob ist, hm?« sagte Travis.

Ja, ja, ja.

Nora lachte vor Begeisterung und Travis ebenfalls. Und Einstein drängte sich zuerst an sie, dann an ihn und leckte ihnen glücklich die Hände.

Travis sah sich nach einem anderen Bild um und schnappte sich das mit dem Mann auf dem Tretwerk. »Ich kann mir vorstellen, daß sie dich nicht aus dem Labor rauslassen wollten, und doch müssen sie dich irgendwie fitgehalten haben. Haben sie dich so trainieren lassen? Auf einer Tretmühle?«

Ja.

Das Gefühl, eine Entdeckung gemacht zu haben, war erhebend. Travis hätte nicht faszinierter sein können, nicht aufgeregter und mehr von Ehrfurcht und Scheu ergriffen, wenn er mit einer extraterrestrischen Intelligenz Verbindung aufgenommen hätte.

6

Ich falle in ein Finsteres Loch, dachte Walt Gaines beklommen, während er Lem Johnson zuhörte.

Diese neue High-Tech-Welt des Weltraumfluges, der Heimcomputer, der von Satelliten übertragenen Telefongespräche, der Fabrikroboter und jetzt der Gentechnologie schien ohne jede Beziehung zu der Welt zu sein, in der er geboren und aufgewachsen war. Um Himmels willen, im Zweiten Weltkrieg war er ein Kind gewesen, und damals hatte es noch nicht einmal Düsenflugzeuge gegeben. Er kam aus einer einfacheren Welt, in der die Chryslers mit ihren Schwanzflossen wie Boote aussahen, die Telefone Wählscheiben statt Tasten, die Uhren Zeiger statt digitaler Anzeigen hatten. Als er geboren wurde, gab es noch kein Femsehen, und die Möglichkeit eines nuklearen Armageddon, während seines Lebens Realität geworden, hatte damals niemand vorhersehen können. Er fühlte sich, als wäre er durch eine unsichtbare Barriere aus einer Welt in eine andere übergetreten, die sich auf einer schnelleren Bahn bewegte. Dieses neue Reich der Technik konnte herrlich oder schrecklich sein - und gelegentlich beides zugleich.

Wie jetzt.

Die Vorstellung eines intelligenten Hundes sprach das Kind in ihm an und erzeugte in ihm den Wunsch zu lächeln.

Aber aus jenen Labors war auch noch etwas anderes entflohen, der Outsider, und der machte ihm eine Heidenangst.

»Der Hund hatte keinen Namen«, sagte Lem Johnson. »Das ist nicht besonders ungewöhnlich. Die meisten Wissenschaftler, die mit Versuchstieren arbeiten, geben diesen nie Namen. Wenn man einem Tier einen Namen gegeben hat, fängt man unvermeidlich an, ihm eine Persönlichkeit zuzuschreiben, und dann verändert sich die Beziehung, die man zu ihm hat, man kann in seinen Beobachtungen nicht mehr so objektiv sein, wie man das sein muß. Also hatte der Hund nur eine Nummer, bis klar war, daß dies der Erfolg war, für den Weatherby so hart gearbeitet hatte. Aber selbst dann, als feststand, daß man den Hund diesmal nicht als Versager würde töten müssen, gab man ihm keinen Namen. Jeder nannte ihn einfach >den Hund<, was durchaus genügte, um ihn von allen anderen Welpen Weatherbys zu unterscheiden, weil man diese mit Nummern bezeichnet hatte. Jedenfalls arbeitete zur gleichen Zeit Frau Dr. Yarbeck im Rahmen des Francis-Projekts an anderen, völlig anderen, Forschungsvorhaben, und auch sie hatte schließlich einigen Erfolg.«

Frau Dr. Yarbecks Ziel war es gewesen, ein Lebewesen mit sehr gesteigerter Intelligenz zu schaffen - aber auch dafür angelegt, den Menschen in den Krieg zu begleiten; so wie Polizeihunde die Polizisten in gefährliche Stadtregionen begleiten. Sie wollte ein Tier konstruieren, das schlau, aber auch tödlich war, ein Schrecken auf dem Schlachtfeld: wild, verstohlen und raffiniert und intelligent genug, daß man es im Dschungelkrieg ebenso wirksam einsetzen konnte wie bei Straßenkämp-fen. Nicht ganz so intelligent wie menschliche Wesen natürlich, nicht so schlau wie der Hund, den Weatherby entwickelte. Es wäre schierer Wahnsinn gewesen, eine Killermaschine von der gleichen Intelligenz wie die Menschen, die sie würden benutzen und lenken müssen, zu erschaffen. Jeder hatte Frankenstein gelesen oder einen der alten Boris-Karloff-Filme gesehen, und niemand unterschätzte die Gefahren, die in Yar-becks Arbeit schlummerten.

Frau Dr. Yarbeck wollte mit Affen und Menschenaffen arbeiten, und zwar wegen ihrer natürlichen hohen Intelligenz und weil sie bereits über menschenähnliche Hände verfügten. Am Ende entschied sie sich für Paviane als Basisgattung für ihre dunklen Schöpfungsakte. Die Paviane gehören zu den klügsten der Primaten und stellten daher gutes Rohmaterial dar. Sie sind von Natur aus tödliche Kämpfer mit eindrucksvollen Klauen und Fängen, vom territorialen Imperativ in höchstem Maße motiviert und darauf erpicht, jeden anzugreiten, den sie als Feind ansehen.

»Dr. Yarbecks erste Aufgabe bezüglich der physischen Veränderung des Pavians bestand darin, ihn größer zu machen, groß genug, um einem ausgewachsenen Mann gefährlich zu werden«, sagte Lem. »Sie kam zu dem Schluß, ihr Produkt müsse wenigstens einen Meter fünfzig groß und vierzig bis fünfzig Kilo schwer sein.«

»So besonders groß ist das gar nicht«, wandte Walt ein.

»Groß genug.«

»Einen Mann von der Größe könnte ich mit einem Schlag kampfunfähig machen.«

»Einen Menschen ja, nicht aber dieses Ding. Es besteht nur aus Muskeln, überhaupt keinem Fett und ist viel schneller als ein Mensch. Denk einmal darüber nach, wie ein fünfundzwanzig Kilo schwerer Bullterrier aus einem erwachsenen Menschen Hackfleisch machen kann, dann wird dir klar, wie gefährlich Yarbecks Krieger mit fünfzig Kilo wäre.«

Die vom Dampf silbrige Windschutzscheibe des Streifenwagens schien wie eine Leinwand, auf der Walt die projizierten Bilder brutal hingemordeter Männer sah: Wes Dalberg, Teel Porter... Er schloß die Augen, aber er sah die Leichen immer noch. »Okay, ja, ich versteh' schon, was du meinst. Fünfzig Ki

- lo würden reichen, wenn wir von etwas reden, was dazu gebaut ist, zu kämpfen und zu töten.«

»Also schuf Yarbeck eine Zucht von Pavianen, die größer wurden als ihre >normalen< Gattungsgenossen. Dann machte sie sich daran, die Samen- und Eizellen ihrer Riesenprimaten auf andere Weise abzuändern, teils durch Veränderung des genetischen Materials, teils durch Einbringung von Genen anderer Gattungen.«

Walt meinte: »Die gleiche Art Flickwerk zwischen den Gattungen, die zu dem schlauen Hund führte.«

»Ich würde das nicht Flickwerk nennen ... aber, ja, im wesentlichen dieselbe Technik. Yarbeck brauchte ein großes, bösartiges Kinn für ihren Krieger, etwas, das eher an einen deutschen Schäferhund oder an einen Schakal erinnerte, um Platz für mehr Zähne zu haben, und sie wollte, daß die Zähne größer und schärfer und vielleicht etwas gebogen waren, und das bedeutete, daß sie den Kopf des Pavians vergrößern und sein Gesicht total verändern mußte, um dafür Platz zu schaffen.

Der Schädel mußte ohnehin wesentlich vergrößert werden, um ein größeres Gehirn zuzulassen. Dr. Yarbeck arbeitete nicht mit der Einschränkung wie Davis Weatherby, das Aussehen ihres Objekts unverändert zu lassen. Tatsächlich zog Yarbeck ins Kalkül, daß, wenn ihre Schöpfung häßlich war, abstoßend, wenn sie fremdartig war - nicht von dieser Welt -, sie dann als Krieger nur noch effektiver sein werde, weil sie dann Feinde nicht nur angriff und tötete, sondern sie auch in Angst und Schrecken versetzte.«

Trotz der warmen, stickigen Luft spürte Walt Gaines etwas Eisiges in seinem Körper, so als hätte er große Eisbrocken verschluckt. »Hat denn Dr. Yarbeck oder sonst jemand überhaupt nicht daran gedacht, wie unmoralisch das ist, Herrgott? Hat denn von denen keiner >Die Insel des Dr. Moreau< gelesen? Lem, du hast die gottverdammte moralische Pflicht, das die Öffentlichkeit wissen zu lassen, das ans Tageslicht zu zerren. Und ich auch.«

»Ganz und gar nicht«, sagte Lem. »Die Vorstellung, es gebe gutes und böses Wissen ... hm, ist eine rein religiöse Betrachtungsweise. Was man tut, kann moralisch oder unmoralisch sein, stimmt. Aber das Wissen kann man nicht so kategorisieren. Für einen Wissenschaftler, für jeden gebildeten Menschen, ist alles Wissen im moralischen Sinn neutral.«

»Aber, verdammt noch mal, wie man dieses Wissen im Falle Yarbecks eingesetzt hat, das war moralisch doch nicht neutral.«

Wenn sie am Wochenende auf der Terrasse beisammensaßen, Corona-Bier tranken und sich mit den wichtigen Problemen der Welt auseinandersetzten, bereitete es ihnen häufig Spaß, über solche Dinge zu reden. Hinterhofphilosophen.

Weise im Bierdunst, denen ihre Weisheit selbstgefälliges Vergnügen bereitete. Und manchmal waren die moralischen Dilemmas, die sie an den Wochenenden diskutierten, genau die, die sich später im Laufe ihrer Polizeiarbeit ergaben; aber Walt konnte sich an keine Diskussion erinnern, die so eindringlich ihre Arbeit anging wie diese hier.

»Die Anwendung von Wissen ist ein Teil des Prozesses, weiteres Wissen zu erlangen«, sagte Lem. »Der Wissenschaftler muß seine Entdeckungen anwenden, um zu sehen, wohin iede Anwendung führt. Die moralische Verantwortung lastet auf den Schultern derer, die eine Technologie aus dem Labor herausnehmen und sie für unmoralische Ziele einsetzen.«

»Und den Bockmist glaubst du?«

Lem überlegte einen Augenblick. »Ja, ich denke schon. Ich glaube, wenn wir die Wissenschaftler für alle schlimmen Dinge verantwortlich machten, die sich bei ihrer Arbeit ergeben, würden sie die Arbeit von vornherein nicht beginnen, und es würde überhaupt keinen Fortschritt geben. Wir würden dann immer noch in Höhlen leben.«

Walt zog ein sauberes Taschentuch heraus, tupfte sich das Gesicht ab und verschaffte sich damit einige Augenblicke, um nachzudenken. Es waren gar nicht sosehr die Hitze und die Feuchtigkeit, die ihm zu schaffen machten. Der Gedanke an Yarbecks Krieger, der durch die Hügel von Orange County zog, war es, der ihm den Schweiß aus den Poren trieb.

Er wollte sich an die Öffentlichkeit wenden, wollte die Welt warnen, daß etwas Neues, Gefährliches auf die Erde losgelassen worden war. Aber damit würde er nur jenen neuen Maschinenstürmern in die Hände spielen, die Yarbecks Krieger dazu benutzen würden, öffentliche Hysterie zu erzeugen und damit jeder Art von DNS-Forschung ein Ende zu machen. Dabei hatten solche Forschungsarbeiten bereits Mais- und Weizensorten hervorgebracht, die mit weniger Wasser auskamen, in kargen Böden gediehen und den Hunger der Welt linderten.

Und vor Jahren hatten sie einen Virus künstlich erzeugt, der als Nebenprodukt billiges Insulin produzierte. Wenn er die Welt von Yarbecks Monstrosität in Kenntnis setzte, rettete er vielleicht auf kurze Sicht ein paar Leben, wirkte aber vielleicht auch daran mit, daß der Welt die nützlichen Wunder der DNS-Forschung künftig versagt blieben. Und das würde auf lange Sicht Zehntausende von Leben kosten.

»Scheiße!« sagte Walt. »Hübsch in Schwarzweiß läßt sich das nicht entscheiden, wie?«

»Das macht ja das Leben so interessant«, sagte Lem.

Walt lächelte säuerlich. »Im Augenblick ist es mir zu interessant, verdammt. Okay, ich kann ja begreifen, daß es klüger ist, auf dieser Geschichte den Deckel zu lassen. Außerdem, wenn wir an die Öffentlichkeit gehen, schwärmen sofort tausend verrückte Abenteurer in der Gegend rum, die nach dem Ding suchen, und am Ende liegen sie entweder als seine Opfer herum oder knallen sich gegenseitig ab.«

»Genau.«

»Aber meine Männer könnten mithelfen, indem sie an der Suchaktion teilnehmen.«

Lem berichtete ihm von den hundert Mann Marineabwehr, die noch immer in Zivilkleidung die Gebirgsausläufer durchkämmten und modernste Peilgeräte und teilweise Bluthunde benützten. »Ich habe bereits weitaus mehr Männer im Einsatz, als du liefern könntest. Wir tun bereits alles, was getan werden kann. Also wie steht's jetzt mit dir - wirst du dich raushalten?«

Walt runzelte die Stirn und nickte dann. »Für den Augenblick. Aber ich möchte informiert werden.«

Lem nickte ebenfalls. »Geht in Ordnung.«

»Und ich habe noch ein paar Fragen. Zunächst einmal: Warum nennen die es den Outsider?«

»Nun, der Hund war der erste Durchbruch, das erste Labortier, das ungewöhnliche Intelligenz an den Tag legte. Der Outsider war der nächste. Das waren die zwei einzigen Erfolge: der Hund und der andere. Zuerst war das der Name, den sie ihm gaben - der >Andere<. Aber mit der Zeit wurde >0utsider< daraus, weil er besser zu passen schien. Es handelte sich nicht um eine Verbesserung einer der Schöpfungen Gottes, wie das bei dem Hund der Fall war; es lag völlig außerhalb der Schöpfung, abseits davon; eine Scheußlichkeit, obwohl das niemand so ausdrückte. Und das Ding war sich seines Status als Außenseiter bewußt, im höchsten Maße bewußt.«

»Warum hat man es nicht einfach Pavian genannt?«

»Weil... nun; es sieht einem Pavian überhaupt nicht mehr ähnlich. Es hat überhaupt mit nichts, was du je gesehen hast

- außer vielleicht in einem Alptraum - Ähnlichkeit.«

Walt gefiel der Ausdruck im Gesicht und in den Augen seines Freundes nicht. Er beschloß, keine genauere Beschreibung des Outsiders zu fordern; vielleicht war das etwas, was er nicht wissen mußte.

Statt dessen sagte er: »Was ist mit den Morden an Hudston, Weatherby und Yarbeck? Wer steckt hinter alldem?«

»Wir kennen nicht den Mann, der abdrückte, aber wir wissen, daß die Sowjets ihn dafür bezahlt haben. Sie haben noch einen Banodyne-Mann getötet, der auf Urlaub in Acapulco war.«

Walt hatte wieder das Gefühl, durch eine jener unsichtbaren Barrieren gestoßen zu werden, hinein in eine noch kompliziertere Welt. »Die Sowjets? Haben wir je von den Sowjets geredet? Wie kommen die da rein?«

»Wir dachten nicht, daß sie vom Francis-Projekt wüßten«, sagte Lem. »Aber das war der Fall. Offenbar hatten sie sogar einen Maulwurf bei Banodyne, der ihnen über unsere Fortschritte berichtete. Als der Hund und kurz darauf der Outsider entkamen, informierte der Maulwurf die Sowjets, und daraufhin beschlossen die Sowjets allem Anschein nach, das Chaos zu nutzen und uns noch mehr Schaden zuzufügen. Sie haben alle Projektleiter getötet - Yarbeck, Weatherby und Haines -sowie Hudston, der früher einmal Projektleiter gewesen war, aber inzwischen nicht mehr für Banodyne arbeitete. Wir glauben, daß sie das aus zwei Gründen getan haben: zum einen, um das Francis-Projekt zum Stillstand zu bringen, zum anderen, um es uns zu erschweren, den Outsider aufzuspüren.« »Inwiefern würde es das erschweren?«

Lem sackte in seinem Sitz zusammen, als ob er sich, indem er über die Krise sprach, der Bürde noch bewußter wäre, die auf seinen Schultern lastete. »Indem sie Hudston, Haines und ganz besonders Weatherby und Yarbeck eliminierten, schnitten die Sowjets uns von den Leuten ab, die vermutlich die beste Vorstellung davon hätten, wie der Outsider und der Hund denken, die sich am ehesten eine Meinung darüber bilden könnten, wo diese Lebewesen vielleicht hingehen würden und wie man sie wieder einfangen kann.«

»Habt ihr es den Sowjets tatsächlich beweisen können?«

Lem seufzte. »Nicht ganz. Ich bin in erster Linie darauf konzentriert, den Hund und den Outsider zurückzuholen. Wir haben deshalb eine weitere komplette Einsatzgruppe darauf angesetzt, die Sowjetagenten aufzuspüren, die hinter den Morden, der Brandstiftung und dem Datenraub stecken. Unglücklicherweise scheinen die Sowjets freiberufliche Hintermänner außerhalb ihres eigenen Netzes eingesetzt zu haben, und wir haben deshalb keine Ahnung, wo wir suchen sollen. Dieser Teil der Ermittlungen ist weitestgehend zum Stillstand gekommen.«

»Das Feuer, das ein oder zwei Tage darauf in Banodyne ausbrach?« fragte Walt.

»Eindeutig Brandstiftung. Eine weitere Aktion der Sowjets. Dabei sind sämtliche Aufzeichnungen über das Francis-Projekt

- auf Papier und in den elektronischen Anlagen - zerstört worden. Natürlich hat es an einem anderen Ort noch Computer-Disketten gegeben ... aber die Daten auf diesen Disketten sind irgendwie gelöscht worden.«

»Wieder die Sowjets?«

»Das nehmen wir an. Die führenden Köpfe des Francis-Projekts und deren sämtliche Aufzeichnungen sind ausgelöscht, wir tappen daher völlig im dunkeln, wenn es darum geht, uns eine Meinung darüber zu bilden, wie der Hund oder der Outsider etwa denken, wohin sie gehen könnten und wie man sie wieder einfangen kann.«

Walt schüttelte den Kopf. »Ich hätte nie gedacht, ich könnte einmal auf der Seite der Russen stehen. Aber dieses Projekt zum Stillstand zu bringen scheint mit eine gute Idee.«

»Die sind weit davon entfernt, eine weiße Weste zu haben. Nach allem, was ich höre, haben sie in einem Labor in der Ukraine ein ähnliches Projekt laufen. Ich bezweifle nicht, daß wir eifrig daran arbeiten, ihre Aufzeichnungen und ihre Leute genauso zu vernichten. Jedenfalls wäre den Sowjets nichts lieber, als den Outsider in irgendeiner netten, friedlichen Vorstadt Amok laufen zu lassen, Hausfrauen den Bauch aufzu-schlitzen und kleinen Kindern den Kopf abzubeißen. Wenn das nämlich ein paarmal passiert... nun, dann fliegt uns die ganze Chose ins Gesicht.«

Kleinen Kindern den Kopf abzubeißen? Herrgott im Himmel!

Walt schauderte und sagte: »Könnte es dazu kommen?«

»Das glauben wir nicht. Der Outsider ist höllisch aggressiv

- schließlich ist er dafür konstruiert, aggressiv zu sein - und ist von besonderem Haß auf seine Schöpfer erfüllt. Yarbeck hatte damit nicht gerechnet und gehofft, das in künftigen Generationen korrigieren zu können. Dem Outsider bereitet es großes Vergnügen, uns hinzumetzeln. Aber er ist auch raffiniert und weiß, daß er uns mit jeder Mordtat wieder einen Hinweis darauf gibt, wo er gerade ist. Also wird er seinem Haß nicht so oft nachgeben. Er wird sich die meiste Zeit von den Menschen fernhalten und sich vorwiegend nachts bewegen. Hier und da könnte er aus reiner Neugierde an der östlichen Flanke des Bezirks in Wohngegcnden hineinschnuppern ...«

»So, wie er das bei den Keeshans getan hat?«

»Ja. Aber ich wette, daß er nicht dorthin gegangen ist, um iemanden zu töten. Reine Neugierde, behaupte ich. Er will sich nicht fangen lassen, ehe er sein Hauptziel erreicht hat.«

»Und was für ein Ziel ist das?«

»Den Hund finden und töten«, sagte Lem.

Walt war überrascht. »Warum sollte der Hund ihm so wichtig sein?«

»Das wissen wir wirklich nicht«, sagte Lem. »Aber bei Banodyne war er von ungeheurem Haß auf den Hund erfüllt, einem Haß, der viel schlimmer war als der auf die Menschen. Als Yarbeck mit dem Outsider arbeitete und eine Zeichensprache entwickelte, um komplizierte Gedanken übermitteln zu können, brachte er einige Male den Wunsch zum Ausdruck, den Hund zu töten und zu verstümmeln. Aber den Grund dafür hat er nie erklärt. Er war von dem Hund förmlich besessen.«

»Du meinst also, daß er jetzt hinter dem Retriever her ist?« »Ja. Die Spuren deuten darauf hin, daß der Hund in jener Mainacht als erster aus den Labors ausbrach und seine Flucht den Outsider rasend machte. Der Outsider wurde in einem großen Gehege im Labor von Dr. Yarbeck gehalten, und alles, was dazugehörte - die Schlafstelle, viele Erziehungsgeräte, Spielsachen - wurde zerfetzt und in Stücke gerissen. Als er dann begriff, daß der Hund seinem Zugriff für immer entzogen war, falls er nicht seinerseits floh, setzte der Outsider seinen Verstand ein, um das Problem zu lösen, und fand tatsächlich seinen eigenen Weg in die Freiheit.«

»Aber der Hund hat doch einen guten Vorsprung ...«

»Es gibt eine Verbindung zwischen dem Hund und dem Outsider, die niemand versteht - eine geistige Brücke. Instinktive Wahrnehmung. Wir wissen nicht, wie weit sie reicht, aber wir können die Möglichkeit nicht ausschließen, daß sie stark genug ist, daß einer von beiden dem anderen über beträchtliche Distanzen folgen kann. Es handelt sich allem Anschein nach um eine Art sechsten Sinns, irgendwie als eine Art Bonus bei der Technik der Intelligenzsteigerung entstanden, sowohl bei Weatherbys als auch bei Yarbecks Arbeit. Aber das sind reine Vermutungen. Genau wissen wir es nicht. Es gibt überhaupt verdammt viel, was wir nicht wissen!« Beide Männer schwiegen eine Weile.

Die feuchte Enge des Wagens war nicht länger unbehaglich. Angesichts all der Gefahren, die in der modernen Welt lauerten, schien dieses dampfende Gefängnis vergleichsweise sicher und bequem - eine Zuflucht.

Walt wollte keine Fragen mehr stellen, hatte Angst vor den Antworten, sagte aber schließlich doch: »Banodyne ist ein Gebäude, das unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen steht. Es ist dafür gebaut. Unbefugten den Zutritt zu verwehren, und es ist sicherlich auch schwierig; aus dem Gebäude nach draußen zu kommen. Und doch sind sowohl der Hund als auch der Outsider entkommen.«

»Ja.«

»Wobei ganz bestimmt niemand daran gedacht hat, daß sie das könnten. Und das wiederum bedeutet, daß sie beide schlauer sind, als irgend jemand sich vorstellte.«

»Ja.«

»Was den Hund betrifft...«, sagte Walt, »... nun, wenn der schlauer ist, als man dachte, was macht das schon? Der Hund ist friedlich.«

Lem, der die ganze Zeit die beschlagene Windschutzscheibe angestarrt hatte, wandte schließlich den Blick zu Walt. »Das stimmt. Aber wenn der Outsider schlauer ist, als wir gedacht haben ... wenn er beinahe so schlau ist wie ein Mensch, dann wird es noch schwieriger werden, ihn zu fangen.«

»Beinahe so schlau... oder genau so schlau wie ein Mensch.«

»Nein, unmöglich.«

»Oder sogar noch schlauer«, sagte Walt.

»Nein, das gibt es nicht.«

»Wirklich nicht?«

»Nein.«

»Ganz bestimmt nicht?«

Lem seufzte, rieb sich müde die Augen und sagte nichts. Er würde nicht wieder anfangen, seinen besten Freund zu belügen.

7

Nora und Travis gingen die Fotografien eine nach der anderen durch und erfuhren etwas mehr über Einstein. Indem er einmal bellte oder heftig mit dem Schweif wedelte, beantwortete der Hund Fragen und konnte bestätigen, daß er die Anzeigen der Computerfirma gewählt hatte, weil sie ihn an die Computer in dem Labor erinnerten, wo man ihn gehalten hatte. Das Foto der vier jungen Leute mit dem gestreiften Wasserball hatte sein Interesse erweckt, weil einer der Wissenschaftler im Labor allem Anschein nach bei einem Intelligenztest, der Einstein besonderes Vergnügen bereitet hatte, Bälle verschiedener Größe benutzt hatte. Weshalb er sich so für den Papagei, die Schmetterlinge, Mickey Mouse und viele andere Dinge interessierte, konnten sie nicht herausfinden, aber das lag nur daran, daß sie nicht die richtigen Ja- oder Nein-Fragen stellten, die zu Erklärungen geführt hätten.

Aber selbst wenn hundert Fragen nicht dazu führten, die Bedeutung einer Fotografie zu klären, waren sie doch alle drei allein von dem Entdeckungsprozeß entzückt, weil sie in genügend anderen Fällen Erfolg hatten, so daß die Mühe sich lohn-te. Ein einziges Mal verschlechterte sich die Stimmung, nämlich als sie Einstein nach dem Magazinbild des Dämons aus dem Horrorfilm befragten. Er geriet in hochgradige Erregung, zog den Schweif ein, legte die Zähne frei und knurrte tief in der Kehle. Einige Male trottete er davon, wich vor dem Foto zurück und verzog sich hinter das Sofa oder in ein anderes Zimmer, wo er ein oder zwei Minuten blieb, ehe er widerstrebend zurückkehrte, um sich weiteren Fragen auszusetzen.

Und er zitterte fast andauernd, solange er bezüglich des Dämons ausgefragt wurde.

Als sie schließlich beinahe zehn Minuten lang versucht hatten, den Grund für die panische Angst des Hundes herauszufinden, wies Travis auf das Filmmonstrum mit seinen bösartigen Fängen und den gleißenden Augenbällen und sagte: »Vielleicht verstehst du das nicht, Einstein. Das ist kein Bild eines wirklichen Lebewesens. Das ist ein unechter Dämon aus einem Film. Verstehst du, was ich meine, wenn ich unecht sage?«

Einstein wedelte: Ja.

»Nun, das hier ist ein unechtes Monstrum.«

Ein Bellen: Nein.

»Nachgemacht, unecht, nicht wirklich, bloß ein Mensch in einem Gummianzug«, sagte Nora.

Nein.

»Ja«, sagte Travis.

Nein.

Einstein versuchte erneut hinter das Sofa zu flüchten, aber Travis packte ihn am Halsband und hielt ihn fest. »Behauptest du etwa, du hättest ein solches Ding gesehen?«

Der Hund hob den Blick von dem Bild, sah Travis in die Augen, schauderte und fing zu winseln an.

Die abgrundtiefe Furcht in Einsteins leisem Winseln und etwas unbeschreiblich Verstörtes in seinen dunklen Augen vereinten sich und wirkten in einer Art und Weise auf Travis, die ihn überraschte. Indem er mit einer Hand das Halsband hielt und die andere Hand Einstein auf den Rücken legte, spürte Travis die Schauder, die den Hund durchliefen - und plötzlich schauderte er selbst. Die nackte Furcht des Hundes übertrug sich auf ihn, und er dachte: Bei Gott, er hat wirklich so etwas gesehen.

Nora fühlte die Veränderung, die sich in Travis vollzogen hatte, und sagte: »Was ist denn?«

Anstatt zu antworten, wiederholte er die Frage, die Einstein bis jetzt noch nicht beantwortet hatte: »Behauptest du, du hättest ein solches Ding gesehen?«

Ja.

»Etwas, das genau wie dieser Dämon aussieht?«

Ein Bellen und ein Wedeln: Ja und nein.

»Etwas, was dem da zumindest etwas ähnelt?«

Ja.

Travis ließ das Halsband los, strich dem Hund über den Rücken und versuchte ihn zu besänftigen, aber Einstein hörte nicht zu zittern auf. »Hältst du deshalb manchmal nachts am Fenster Wache?«

Ja.

Von der Angst des Hundes sichtlich verwirrt und beunruhigt, begann auch Nora ihn zu streicheln. »Ich dachte, du hättest Sorge, die Leute aus dem Labor würden dich finden.«

Einstein bellte einmal.

»Du hast nicht Angst, daß die Leute aus dem Labor dich finden?«

Ja und nein.

Und Travis: »Aber du hast mehr Angst, daß ... dieses andere Ding dich findet.«

Ja, ja, ja.

»Ist das dasselbe Ding, das an jenem Tag im Wald war, das Ding, das uns verfolgt hat, das Ding, auf das ich geschossen habe?« fragte Travis.

Ja, ja, ja.

Travis sah Nora an. Sie runzelte die Stirn. »Aber es ist doch nur ein Filmmonster. Nichts in der wirklichen Welt sieht ihm auch nur entfernt ähnlich.«

Einstein trottete durchs Zimmer und beschnüffelte die Fotos; dann blieb er wieder vor der Anzeige der Blue-Cross-Ver-sicherung stehen, auf der der Arzt, die Mutter und das Baby in einem Krankenhauszimmer abgebildet waren. Er brachte ihnen die Zeitschrift und ließ sie auf den Boden fallen. Dann legte er seine Nase auf den Arzt in dem Bild und sah zuerst Nora,

dann Travis an, legte die Nase wieder auf den Doktor und blickte erwartungsvoll auf.

»Vorher hast du uns gesagt, der Doktor ist ein Wissenschaftler in jenem Labor«, sagte Nora.

Ja.

Und Travis sagte; »Du sagst mir also, der Wissenschaftler, der mit dir gearbeitet hat, weiß auch, was dieses Ding im Wald ist?«

Ja.

Einstein machte sich wieder über die Fotografien her und kam diesmal mit der Anzeige zurück, die den Wagen im Käfig zeigte. Er tippte den Käfig mit der Nase an und dann nach einigem Zögern das Bild des Dämons.

»Sagst du damit, daß das Ding im Wald in einen Käfig gehört?« fragte Nora.

Ja.

»Mehr als das«, sagte Travis. »Ich denke, er will uns sagen, daß es einmal in einem Käfig war, daß er es in einem Käfig gesehen hat.«

Ja.

»In demselben Labor, wo du in einem Käfig warst?«

Ja, ja, ja.

»Ein anderes Versuchstier in einem Labor?« fragte Nora.

Ja.

Travis starrte das Foto des Dämons mit zusammengekniffenen Augen an, musterte die fliehende Stirn, die tiefliegenden gelben Augen, die deformierte, an eine Schnauze erinnernde Nase und das Maul mit seinen spitzen, gebogenen Zähnen. Schließlich sagte er: »War es ein Experiment... das gescheitert ist?«

Ja und nein, sagte Einstein.

Der Hund war jetzt sichtlich hochgradig erregt, rannte ans Fenster, sprang hoch, stemmte die Vorderpfoten auf den Fenstersims und blickte auf das abendliche Santa Barbara hinaus. Nora und Travis saßen inmitten der aufgeschlagenen Zeitschriften und Bücher auf dem Boden, waren mit den erzielten Fortschritten zufrieden und begannen die Erschöpfung zu spüren, von der sie wegen ihrer Erregung bisher nichts gemerkt hatten, und schauten einander verblüfft und mit gerunzelter Stirn an.

»Meinen Sie, Einstein ist imstande zu lügen?« fragte sie leise. »Schauermärchen zu erfinden, wie Kinder das tun?«

»Ich weiß nicht. Können Hunde lügen, oder ist das nur eine reine menschliche Fähigkeit?« Er lachte über die Absurdität seiner eigenen Frage. »Können Hunde lügen? Kann man einen Elch zum Präsidenten wählen? Können Kühe singen?«

Nora lachte auch und sah reizend dabei aus. »Können Enten steppen?«

In einem Anfall von Albernheit, als Reaktion auf die geistige wie emotionelle Anstrengung, sich der schieren Vorstellung von einem Hund von der Intelligenz Einsteins zu stellen, sagte Travis: »Ich habe einmal eine Ente steppen sehen.«

»So, wirklich?«

»Ja, wirklich. In Vegas.«

»Und in welchem Hotel?« fragte sie lachend.

»Caesar's Palace. Und singen konnte sie auch.«

»Die Ente?«

»Mhm. Fragen Sie mich nach ihrem Namen.«

»Wie hieß sie?«

»Sammy Davis Duck, jr.«, sagte Travis, und dann lachten sie beide wieder. »Er war ein so großer Star, daß sie nicht einmal seinen ganzen Namen über den Eingang zu schreiben brauchten, um die Leute wissen zu lassen, wer dort auftrat.«

»Sie haben wohl bloß >Sammy< hingeschrieben, hm?«

»Nein. Bloß >Jr.<.«

Einstein kehrte vom Fenster zurück, stand da und musterte sie, den Kopf leicht seitlich gelegt. Er versuchte sich sichtlich einen Reim darauf zu machen, weshalb sie sich so seltsam benahmen.

Der konsternierte Gesichtsausdruck des Retrievers erschien Travis und Nora als das Komischeste, was sie je gesehen hatte. Sie lehnen sich aneinander, hielten einander fest und lachten wie die Narren.

Der Retriever schnaubte beleidigt und kehrte zum Fenster zurück.

Als sie langsam die Kontrolle über sich selbst zurückgewannen und ihr Gelächter verstummte, wurde Travis bewußt, daß er Nora festhielt, daß ihr Kopf auf seiner Schulter lag, daß der physische Kontakt zwischen ihnen stärker war als alles, was sie sich bisher gestattet hatten. Ihr Haar roch sauber und frisch. Er konnte die Körperwärme spüren, die von ihr ausging. Plötzlich sehnte er sich nach ihr und wußte, daß er sie küssen würde, wenn sie den Kopf von seiner Schulter hob. Im nächsten Augenblick sah sie auf, und er tat das, was er gewußt hatte, das er tun würde - er küßte sie, und sie küßte ihn. Ein oder zwei Sekunden lang schienen sie nicht wahrzunehmen, was geschah, was es bedeutete; einen kurzen Augenblick lang war es ohne Bedeutung, süß und völlig unschuldig, nicht ein Kuß der Leidenschaft, sondern nur einer, der Freundschaft und große Zuneigung ausdrückte. Dann veränderte sich der Kuß, ihr Mund wurde weich. Ihr Atem begann schneller zu gehen, ihre Hand spannte sich um seinen Arm, sie versuchte ihn zu sich heranzuziehen, murmelte etwas in ihrem Verlangen, und der Klang ihrer Stimme brachte sie wieder zu sich. Abrupt verspannte sich etwas in ihr, sie wurde sich seiner als Mann bewußt, ihre schönen Augen weiteten sich voll Staunen -und Furcht - über das, was beinahe geschehen wäre. Travis zog sich sofort zurück, weil er instinktiv wußte, daß nicnt die Zeit dafür war, noch nicht. Wenn es einmal soweit war, daß sie sich liebten, dann mußte es genau richtig sein, ohne Zögern, ohne Ablenkung, weil sie sich den Rest ihres Lebens immer an ihr erstes Mal erinnern würden und weil die Erinnerung eine freudige und schöne sein sollte, wert, daß sie sie immer wieder hervorholten, tausendmal vorbeiziehen ließen, während sie zusammen alt wurden. Obwohl die Zeit noch nicht ganz gekommen war, ihre Zukunft in Worte zu kleiden, sie mit einem Gelübde zu bestätigen, hatte Travis doch keinen Zweifel, daß er und Nora Devon ihr künftiges Leben gemeinsam verbringen würden. Und er erkannte, daß er, im Unterbewußtsein, zumindest in den letzten Tagen, gewußt hatte, daß es unvermeidlich so kommen werde.

Nach einem Augenblick der Verlegenheit, in dem sie sich voneinander lösten und sich darüber klarzuwerden versuchten, ob sie über diesen plötzlichen Wandel in ihrer Beziehung etwas sagen sollten, sagte Nora schließlich: »Er ist immer noch am Fenster.«

Einstein preßte die Nase ans Glas und starrte in die Nacht hinaus.

»Könnte es sein, daß er die Wahrheit sagt?« überlegte Nora. »Könnte noch etwas aus dem Labor entflohen sein, ein so bizarres Wesen?«

»Wenn sie einen so klugen Hund hatten wie ihn, dann könnte ich mir vorstellen, daß sie auch noch andere, noch eigenartigere Dinge hatten. Und an jenem Tag damals war etwas im Wald.«

»Aber es besteht doch keine Gefahr, daß es ihn findet?

Nicht, nachdem Sie ihn so weit nach Norden gebracht haben.«

»Keine Gefahr«, stimmte Travis ihr zu. »Ich glaube nicht, daß Einstein begreift, wie weit wir uns von der Stelle entfernt haben, wo ich ihn gefunden habe. Was immer dort im Wald war, kann ihn jetzt nicht aufspüren. Aber ich wette, die Leute aus dem Labor haben eine riesige Suchaktion veranstaltet. Um die mache ich mir Sorgen. Und Einstein auch, deshalb spielt er gewöhnlich in der Öffentlichkeit den dummen Hund und zeigt seine Intelligenz nur mir und jetzt auch Ihnen. Er will nicht zurück.«

»Wenn sie ihn finden ...«, sagte Nora.

»Das werden sie nicht.«

»Aber wenn doch - was dann?«

»Ich werde ihn nie mehr hergeben«, sagte Travis. »Nie mehr.«

8

Um elf Uhr in jener Nacht hatten die Männer der Gerichtsmedizin den kopflosen Leichnam von Hilfssheriff Porter und den verstümmelten Körper des Vorarbeiters der Baugesellschaft aus Bordeaux Ridge abtransportiert. Man hatte sich eine geeignete Story einfallen lassen und sie den Reportern an den Polizeiabsperrungen geliefert. Und die Presseleute hatten sich allem Anschein nach damit abgefunden, hatten ihre Fragen gestellt, ein paar hundert Fotos gemacht und ein paar hundert Meter Videoband mit Bildern gefüllt, die in den Fernsehnachrichten morgen auf etwa hundert Sekunden zusammengeschnitten werden würden. (In diesem Zeitalter des Massenmordes und des Terrorismus waren zwei Opfer nicht mehr als zwei Minuten Fernsehzeit wert: zehn Sekunden für die Ansage, hundert Sekunden für den Film, zehn Sekunden für die zurechtgemachten Moderatoren, um Respekt und Betroffenheit zu zeigen - und dann weiter zu einer Story über einen Bikini-Wettbewerb, eine Zusammenkunft der Besitzer alter Ford-Modelle oder einem Mann, der behauptete, ein Raumschiff gesehen zu haben, das wie ein Frisbee aussah.) Die Reporter waren jetzt abgezogen, ebenso die Laborleute, die uniformierten Hilfssheriffs und sämtliche Agenten Lemuel Johnsons, ausgenommen Cliff Soames.

Wolken verdeckten den Halbmond. Die Scheinwerfer waren verschwunden; das einzige Licht kam jetzt von den Scheinwerfern von Walt Gaines' Wagen. Er hatte ihn herumgedreht, so daß die Scheinwerfer auf Lems Wagen gerichtet waren, der am Ende der ungepflasterten Straße parkte, so daß Lem und Cliff nicht im Finstern herumsuchen mußten. Im tiefen Dunkel hinter den Scheinwerfern ragten halbfertige Häuser wie fossile Skelette prähistorischer Reptilien auf.

Während Lem auf seinen Wagen zuging, fühlte er sich so wohl, wie es den Uniständen nach möglich war. Walt hatte sich einverstanden erklärt, den Bundesbehörden ohne Einspruch die Zuständigkeit zu überlassen. Obwohl Lem ein Dutzend Vorschriften übertreten und seinen Geheimhaltungseid verletzt hatte, indem er Walt die Einzelheiten des Francis-Projekts preisgab, war er sicher, daß Walt den Mund halten würde. Er hatte es geschafft, den Deckel auf dem Fall zu lassen; ein wenig lockerer vielleicht als vorher, aber immerhin noch an Ort und Stelle.

Cliff Soames erreichte den Wagen als erster, öffnete die Tür und stieg auf der Beifahrerseite ein. Und als Lem die Tür auf der Fahrerseite öffnete, hörte er Cliff im Wagen sagen: »O Jesus, o Gott.« Cliff rappelte sich vom Sitz hoch und wich zurück ins Freie, und als Lem auf der anderen Seite ins Wageninnere schaute, erkannte er, was Cliff so erschreckt hatte. Ein Kopf.

Ohne Zweifel der Kopf Teel Porters.

Er lag auf dem Fahrersitz, so abgestützt, daß das Gesicht Lem zugewendet war, wenn dieser die Tür öffnete. Der Mund war in einem lautlosen Schrei geöffnet. Die Augen waren verschwunden.

Lem taumelte zurück, griff unter sein Jackett und zog den Revolver.

Auch Walt Gaines war bereits aus dem Wagen, ebenfalls den Revolver in der Hand, und rannte auf Lem zu. »Was ist los?«

Lem deutete wortlos.

Walt hatte inzwischen den NSA-Wagen erreicht, schaute durch die offene Tür und stieß einen dünnen, angsterfüllten Laut aus, als er den Kopf sah.

Cliff kam von der anderen Seite um den Wagen herum, die mit der Mündung nach oben gerichtete Waffe in der Hand. »Das verdammte Killer-Ding war noch hier, als wir ankamen, während wir im Haus waren.«

»Vielleicht ist es immer noch da«, sagte Lem und sah sich besorgt in der Finsternis um, die sie von allen Seiten außerhalb der Scheinwerferbündel bedrängte.

Walts Blick wanderte über die nächtliche Baustelle. »Wir rufen meine Männer und starten eine Suchaktion.«

»Das hat keinen Sinn«, meinte Lem. »Das Ding haut sofort ab, sobald es deine Männer zurückkommen sieht... wenn es nicht bereits das Weite gesucht hat.«

Sie standen am Rand von Bordeaux Ridge; dahinter lag meilenweit offenes Land, Hügel und dahinter die Berge, aus denen der Outsider gekommen war und in die er wieder verschwinden konnte. Jene Hügel, Kämme und Schluchten waren im mageren Schein des Halbmondes nur unbestimmte Silhouetten, die man mehr fühlte als sah.

Von irgendwo weiter unten auf einer unbeleuchteten Straße war ein lautes Klappern zu hören, als wäre ein Stapel Bauholz oder Schindeln umgestoßen worden.

»Es ist hier«, sagte Walt.

»Vielleicht«, sagte Lem. »Aber wir werden nicht in der Dunkelheit nach ihm suchen, nicht bloß wir drei. Genau das will es nämlich.«

Sie lauschten.

Nichts mehr.

»Wir haben die ganze Baustelle abgesucht, als wir zuerst hier eintrafen, bevor ihr ankamt«, sagte Walt.

»Es muß euch immer einen Schritt voraus gewesen sein«, sagte Cliff. »Vielleicht hat es sich ein Spiel daraus gemacht,

euren Männern auszuweichen. Dann sah es uns kommen und hat Lem erkannt.«

»Ja, von den paarmal, die ich Banodyne besucht habe«, pflichtete Lem ihm bei. »Ja, kann sein ... Wahrscheinlich hat der Outsider hier auf mich gewartet. Wahrscheinlich versteht er die Rolle, die ich in der Sache spiele, und weiß, daß ich die Suche nach ihm und dem Hund leite. Also wollte er den Kopf des Hilfssheriffs für mich hinterlassen.«

»Um dich zu verhöhnen?« sagte Walt.

»Um mich zu verhöhnen.«

Sie schwiegen und suchten nervös die Schwärze in den halbfertigen Häusern und rund um diese ab.

Die heiße Juniluft stand still.

Eine Weile war das einzige, was man hören konnte, der lautende Motor des Sheriff-Wagens.

»Es beobachtet uns«, sagte Walt.

Wieder ein Klappern von umgeworfenem Baumaterial. Diesmal näher.

Die drei Männer erstarrten, jeder blickte suchend in eine andere Richtung.

Diesmal dauerte die Stille fast eine Minute.

Als Lem gerade etwas sagen wollte, kreischte der Outsider.

Es war ein fremdartiger Schrei, der ihnen eisige Schauer über den Rücken jagte. Diesmal konnten sie die Richtung feststellen, aus der er kam: von draußen, aus dem offenen Land, aus der Nacht hinter Bordeaux Ridge.

»Jetzt entfernt er sich«, sagte Lem. »Er hat erkannt, daß wir uns nicht zu einer Suchaktion verleiten lassen, nur wir drei, deshalb verschwindet er, ehe wir Verstärkung holen können.«

Wieder ein Kreischen, diesmal aus größerer Entfernung. Der unheimliche Schrei war wie scharfe Fingernägel, die über Lems Seele kratzten.

»Am Morgen werden wir unsere Teams von der Marineabwehr in die Vorberge östlich von hier verlegen«, sagte er. »Wir werden das verdammte Ding festnageln. Bei Gott, das werden wir.«

Walt wandte sich Lems Wagen zu, offensichtlich mit dem Gedanken befaßt, wie er sich an die unangenehme Pflicht machen solle, Teel Porters abgerissenen Kopf zu versorgen. »Warum die Augen?« fragte er. »Warum reißt er immer die Augen heraus?«

Lem beantwortete die Frage: »Zum Teil, weil das Monstrum verdammt aggressiv und blutrünstig ist; das steckt in seinen Genen. Und zum Teil, weil es ihm einfach Freude macht, Schrecken zu verbreiten, glaube ich. Und außerdem ...«

»Was?«

»Ich wünschte, ich würde mich nicht daran erinnern, aber das tue ich doch - sehr deutlich sogar ...«

Bei einem seiner Besuche bei Banodyne war Lem Zeuge einer beunruhigenden Unterhaltung - sofern man das Unterhaltung nennen konnte - zwischen Dr. Yarbeck und dem Outsider gewesen. Yarbeck und ihre Helfer hatten den Outsider eine Zeichensprache gelehrt, die der ähnelte, die man für die ersten Experimente mit höheren Primaten, etwa Gorillas, Mitte der siebziger Jahre entwickelt hatte. Es hieß, das erfolgreichste Versuchstier, ein Gorillaweibchen namens Koko, das im letzten Jahrzehnt häufig in den Nachrichtensendungen erwähnt worden war, habe ein Vokabular von etwa vierhundert Wörtern in Zeichensprache beherrscht. Als Lem den Outsider das letztemal gesehen hatte, verfügte dieser über ein wesentlich größeres Vokabular als Koko, wenngleich immer noch auf primitiver Ebene. Lem hatte in Yarbecks Labor zugesehen, wie die von Menschen geschaffene Monstrosität in dem großen Käfig mit dem Wissenschaftler eine komplizierte Folge von Handsignalen austauschte, während ein Assistent im Flüsterton übersetzte. Der Outsider zeigte heftige Feindseligkeit gegenüber jedermann und unterbrach seinen Dialog mit Yarbeck häufig, um in seinem Käfig in ungebändigter Wut herumzurennen, gegen die Eisenstangen zu schlagen und wütend zu kreischen. Für Lem war der Anblick abstoßend und erschreckend gewesen, aber gleichzeitig hatten ihn auch furchtbare Traurigkeit und Mitleid über das schlimme Los des Outsiders ergriffen. Das Tier würde immer in einem Käfig sein, stets eine Mißgeburt, allein in dieser Welt, wie kein anderes Geschöpf, nicht einmal Weatherbys Hund, es je gewesen war. Das Erlebnis hatte ihn so tief berührt, daß ihm fast jedes >Wort< des in Zeichen geführten Dialogs zwischen dem Outsider und Yarbeck in Erinnerung geblieben war. Und jetzt drängte sich ein bestimmter Teil jener unheimlichen Konversation wieder in sein Bewußtsein:

An einem Punkt hatte der Outsider signalisiert: Deine Augen ausreißen.

Du willst meine Augen ausreißen ?

Jedem die Augen ausreißen.

Warum ?

Damit mich nicht sehen können.

Warum willst du nicht gesehen werden ?

Häßlich.

Du denkst, du bist häßlich ?

Viel häßlich.

Woher hast du die Idee, daß du häßlich bist?

Von Leuten.

Was für Leute?

Jeder, der mich erstes Mal sieht.

Wie dieser Mann, der heute bei uns ist? signalisierte Yarbeck und deutete auf Lem.

Ja. Alle denken, ich häßlich. Mich hassen.

Niemand haßt dich.

Alle.

Niemand hat dir je gesagt, daß du häßlich bist. Wie weißt du, daß sie das denken ?

Ich wissen.

Woher weißt du das ?

Ich wissen, ich wissen, ich wissen! Das Monstrum rannte in seinem Käfig herum, rüttelte an den Stangen, kreischte und kehrte dann zurück, um Yarbeck anzustarren. Meine eigenen Augen ausreißen.

Damit du dich selbst nicht anzuschauen brauchst?

Damit ich Leute nicht anschauen muß, die mich anschauen, hatte das Geschöpf signalisiert, und da hatte es Lem zutiefst leid getan. Doch durch dieses Mitleid wurde seine Furcht vor ihm nicht kleiner.

Jetzt stand er in der heißen Juninacht da und erzählte Walt Gaines von jenem Vorfall in Yarbecks Labor, und der Sheriff schauderte.

»Jesus!« sagte Cliff Soames. »Er haßt sich selbst, sein Anderssein, also haßt er seinen Schöpfer um so mehr.«

»Jetzt, wo du mir das sagst«, ließ Walt sich vernehmen, »überrascht mich, daß keiner von euch je verstanden hat, weshalb er den Hund so leidenschaftlich haßt. Dieses arme, verdammte, verdrehte Ding und der Hund sind im wesentlichen die zwei einzigen Kinder des Francis-Projekts. Der Hund ist das geliebte Kind, das vorgezogene Kind, und das hat der Outsider immer gewußt. Der Hund ist das Kind, mit dem die Eltern prahlen wollen, der Outsider das Kind, das sie am liebsten im Keller unter Verschluß halten würden. Und deshalb ist er dem Hund böse, kocht vor Wut seinetwegen, und das jede Minute eines jeden Tages.«

»Natürlich«, sagte Lem, »du hast recht. Natürlich.«

»Das erklärt jetzt auch die zwei zerschlagenen Spiegel in den Badezimmern im Obergeschoß des Hauses, in dem Teel Porter getötet wurde«, sagte Walt. »Das Ding konnte seinen eigenen Anblick nicht ertragen.«

In der Ferne, jetzt schon sehr weit entfernt, kreischte etwas - etwas, das keine Schöpfung Gottes war.

SIEBEN

1

Während der restlichen Junitage malte Nora ein wenig, verbrachte viel Zeit mit Travis und versuchte Einstein das Lesen beizubringen.

Sie und Travis waren beide nicht sicher, ob es möglich sei, den Hund trotz seiner Klugheit so etwas zu lehren; aber den Versuch war es wert. Wenn er gesprochene Sprache verstand, wie es der Fall zu sein schien, dann folgte daraus, daß man ihn auch lehren konnte, das gedruckte Wort zu lesen.

Natürlich konnten sie nicht absolut sicher sein, ob Einstein tatsächlich gesprochenes Englisch verstand, obwohl seine Reaktionen darauf passend und durchaus spezifisch waren. Es bestand die entfernte Möglichkeit, daß der Hund nicht die präzise Bedeutung der Wörter selbst verstand, sondern mittels einer schwach ausgeprägten Form von Telepathie die Wortbilder im Bewußtsein der Personen lesen konnte, wenn diese die entsprechenden Worte aussprachen.

»Aber ich glaube nicht, daß das der Fall ist«, sagte Travis eines Nachmittags, als er und Nora auf seiner Terrasse saßen, Eiswein tranken und Einstein dabei zusahen, wie er um den Rasensprenger herumtollte. »Vielleicht sage ich das nur, weil ich es nicht glauben will. Die Vorstellung, daß er so klug ist wie ich und telepathische Fähigkeiten hat, ist mir einfach zuviel. Wenn das der Fall wäre, dann sollte vielleicht ich das Halsband tragen und er die Leine halten.«

Ein Spanisch-Test schien zu ergeben, daß der Retriever tatsächlich auch nicht andeutungsweise über telepathische Kräfte verfügte.

Auf der Oberschule hatte Travis drei Jahre lang Spanisch gelernt. Als er sich später für die militärische Laufbahn und dort für die legendäre Delta Force entschieden hatte, hatte man ihn dazu ermutigt, seine Sprachstudien fortzusetzen; seine Vorgesetzten waren der Ansicht gewesen, die eskalierende politische Instabilität in Mittel- und Südamerika sei praktisch eine Garantie dafür, daß Delta immer häufiger Anti-TerroristenOperationen in spanischsprachigen Ländern werde durchführen müssen. Delta lag jetzt viele Jahre zurück, aber der Kontakt mit dem ziemlich großen Spanisch sprechenden Bevölkerungsteil Kaliforniens hatte es mit sich gebracht, daß er die Sprache immer noch relativ flüssig beherrschte.

Wenn er jetzt Einstein in Spanisch Befehle gab oder Fragen stellte, starrte der Hund ihn dumm an, wedelte mit dem Schweif, reagierte aber ansonsten nicht. Blieb Travis beim Spanischen, legte der Retriever den Kopf schief und wuffte, als wollte er fragen, ob das ein Witz sein solle. Falls der Hund geistige Bilder entziffern konnte, die im Bewußtsein des Sprechenden entstanden, dann würde er sie doch sicher unabhängig von der Sprache entziffern können, die diese Bilder inspirierte.

»Er ist kein Gedankenleser«, sagte Travis. »Sein Genie hat Grenzen - Gott sei Dank!«

Tag für Tag saß Nora auf dem Boden in Travis' Wohnzimmer oder auf der Terrasse, erklärte Einstein das Alphabet und versuchte ihm klarzumachen, wie aus jenen Buchstaben Wörter gebildet würden und in welcher Beziehung die gedruckten Wörter zu den gesprochenen stünden, die er bereits beherrschte. Hier und da übernahm Travis die Unterrichtsstunden, um Nora eine Ruhepause zu verschaffen, aber die meiste Zeit saß er nur daneben und las, weil er von sich behauptete, er besäße nicht die Geduld, um ein Lehrer zu sein.

Sie benutzte ein Ringbuch, um für den Hund ein eigenes Lesebuch zusammenzustellen. Auf die linke Seite klebte sie jeweils ein aus einer Zeitschrift ausgeschnittenes Bild und setzte dann auf der rechten Seite in Blockbuchstaben den Namen des abgebildeten Gegenstandes ein, alles einfache Wörter: BAUM, AUTO, HAUS, MANN, FRAU, STUHL ... Während sie neben Einstein saß, der das >Lesebuch< gelehrig anstarrte, deutete sie dann immer zuerst auf das Bild und anschließend auf das Wort und wiederholte es einige Male deutlich.

Am letzten Tag des Juni bereitete Nora ein gutes Dutzend nicht mit Aufschrift versehener Bilder auf dem Boden aus. »Jetzt machen wir wieder Prüfung«, erklärte sie Einstein.

»Wir wollen sehen, ob du es heute besser kannst als am Montag.«

Einstein saß ganz aufrecht da, die Brust vorgeschoben, den Kopf erhoben, als wäre er voll Vertrauen in seine Fähigkeiten.

Travis saß im Lehnsessel und schaute zu. »Wenn du versagst, Pelzgesicht, tauschen wir dich gegen einen Pudel ein«, meinte er, »einen, der Purzelbaum schlagen, sich totstellen und um Essen betteln kann.«

Nora freute, daß Einstein Travis ignorierte. »Jetzt ist nicht die Zeit für leichtfertige Reden«, tadelte sie.

»Ich bitte um Nachsicht, Professor«, sagte Travis.

Nora zeigte dem Hund eine Karte, auf der in Blockbuchstaben BAUM stand. Der Retriever ging ohne Fehl auf das Foto einer Fichte zu und deutete darauf, indem er es mit der Nase berührte. Als sie eine Karte hob, auf der AUTO stand, legte er eine Pfote auf das Foto des Wagens, und als sie HAUS hochhob, beschnüffelte er das Bild einer Villa im Kolonialstil. Auf diese Weise arbeiteten sie fünfzig Wörter durch, und der Hund ordnete zum erstenmal jedes gedruckte Wort dem Bild richtig zu, das es darstellte; Dieser Fortschritt entzückte Nora, und Einstein wollte nicht aufhören, mit dem Schweif zu wedeln. Travis meinte: »Nun, Einstein, aber bis du Proust lesen kannst, ist es noch weit.«

Nora ärgerte es, daß er ihren Musterschüler verspottete, und sie sagte: »Er macht das gut! Großartig! Schließlich können Sie nicht erwarten, daß er über Nacht Oberschulniveau erreicht. Er lernt schneller, als ein Kind lernen würde.« »Wirklich?«

»Ja, wirklich! Viel schneller, als ein Kind lernen würde.« »Nun, dann hat er sich vielleicht ein paar Hundekuchen verdient.«

Einstein rannte sofort in die Küche, um die Schachtel mit den Hundekuchen zu holen.

2

Der Sommer verging, und Travis kam aus dem Staunen nicht heraus, wie rasch Nora bei ihrem Leseunterricht mit Einstein Fortschritte machte.

Mitte Juli stiegen sie von ihrem selbstgemachten Lesebuch zu Bilderbüchern für Kinder auf und nahmen sich solche von Dr. Seuss, Maurice Sendak, Phil Parks, Susi Bohdal, Sue Drea-mer, Mercer Mayer und vielen anderen vor. Einstein schien an allen ungeheuren Spaß zu haben, aber am liebsten hatte er die Bücher von Parks, und ganz besonders - aus Gründen, die weder Nora noch Travis finden konnten - mochte er die reizenden Frosch-und-Kröte-Bücher von Arnold Loebel. Sie brachten aus der Stadtbibliothek Berge von Kinderbüchern nach Hause und kauften zusätzliche Stapel im Buchladen. Zuerst las Nora sie laut vor und legte dabei bedächtig den Finger unter jedes Wort, während sie es aussprach, und Einsteins Augen folgten ihrem Finger, während er sich mit ungeteilter Aufmerksamkeit über das Buch beugte. Später las sie das Buch nicht mehr laut, sondern hielt es dem Hund offen hin und blätterte für ihn um, wenn er - durch ein Winseln oder irgendein anderes Zeichen - zu erkennen gab, daß er mit dem Teil des Textes fertig war und sich an die nächste Seite machen wollte.

Einsteins Bereitschaft, stundenlang dazusitzen und sich auf die Bücher zu konzentrieren, schien ein Beweis dafür, daß er sie tatsächlich las und sich nicht nur die hübschen Zeichnungen ansah. Trotzdem beschloß Nora, ihn hinsichtlich des Inhalts einiger Bände zu prüfen, indem sie ihm eine Anzahl Fragen über die darin enthaltenen Geschichten stellte.

Nachdem Einstein >Frosch und Kröte im ganzen Jahr< gelesen hatte, klappte Nora das Buch zu und sagte: »Also schön. Und jetzt beantworte meine Fragen mit ja oder nein.«

Sie waren in der Küche, wo Travis für das Abendessen einen Auflauf aus Kartoffeln und Käse machte. Nora und Einstein saßen am Küchentisch. Travis unterbrach seine Küchenarbeit, um dem Hund bei der Prüfung zuzusehen.

Nora sagte: »Zuerst einmal - als Frosch Kröte an einem Wintertag besuchte, war Kröte im Bett und wollte nicht hinauskommen. Stimmt das?«

Einstein, der ebenfalls auf einem Küchenstuhl Platz genommen hatte, mußte auf dem Stuhl etwas zur Seite rücken, um den Schwanz freizubekommen, damit er damit wedeln konnte. Ja.

Nora fuhr fort; »Aber am Ende brachte Frosch Kröte dazu, daß sie hinausging, und da gingen sie eislaufen.«

Ein Bellen. Nein.

»Sie gingen schlittenfahren«, sagte sie.

Ja.

»Sehr gut. Später im gleichen Jahr, als Weihnachten war, gab Frosch Kröte ein Geschenk. War es ein Pullover?«

Nein.

»Ein neuer Schlitten?«

Nein.

»Eine Uhr für seinen Kamin?«

Ja, ja, ja.

»Ausgezeichnet!« sagte Nora. »Was wollen wir - jetzt als nächstes lesen? Was hältst du von dem hier: >Der phantastische Mr. Fox

Einstein wedelte heftig.

Travis hätte es Spaß gemacht, eine aktivere Rolle bei der Erziehung des Hundes zu übernehmen, aber er konnte erkennen, daß die intensive Arbeit mit Einstein eine ungemein wohltuende Wirkung auf Nora hatte, und wollte das nicht beeinträchtigen. Statt dessen spielte er manchmal den Brummbär, stellte in Frage, ob es sich lohne, dem Köter das Lesen beizubringen, und machte geringschätzige Bemerkungen über das Tempo, mit dem der Hund Fortschritte machte, oder über seinen literarischen Geschmack. Dieses sanfte Genörgel reichte aus, um Nora in ihrer Entschlossenheit zu bestärken, an dem Unterricht festzuhalten, noch mehr Zeit mit dem Hund zu verbringen und zu beweisen, daß Travis unrecht hatte. Einstein reagierte nie auf solche negativen Bemerkungen, und Travis argwöhnte, der Hund übe Nachsicht, weil er das kleine Spiel durchschaute.

Warum Nora durch ihre Lehrtätigkeit aufblühte, wurde nicht klar. Vielleicht kam es daher, weil sie sich nie - auch nicht mit Travis oder ihrer Tante Violet - mit etwas so intensiv auseinandergesetzt hatte wie mit dem Hund und weil allein schon der Vorgang intensiver Verständigung sie dazu ermutigte, weiter aus ihrem Schneckenhaus herauszukommen. Vielleicht war es auch in hohem Maße befriedigend für sie, dem Hund das Geschenk der Bildung zu vermitteln. Sie war von Natur aus ein gebender Mensch, dem es Freude bereitete, das, was sie hatte, mit anderen zu teilen. Dabei hatte sie ihr ganzes Leben in mönchischer Abgeschiedenheit verbringen müssen, ohne ein einziges Mal Gelegenheit gehabt zu haben, diese Seite ihrer Persönlichkeit zu zeigen. Jetzt hatte sie die Chance, zu geben, und sie war mit ihrer Zeit und Energie großzügig und fand Freude an der eigenen Großzügigkeit. Außerdem argwöhnte Travis, daß sie durch ihre Beziehung zu dem Retriever ihre natürliche Gabe der Mutterschaft zum Ausdruck brachte. Ihre große Geduld war die der guten Mutter, die sich mit einem Kind abgab, und sie sprach häufig so zart und voller Zuneigung zu Einstein, daß es klang, als spräche sie zu einem eigenen, vielgeliebten Kind.

Was auch immer der Grund sein mochte, Nora wurde bei ihrer Arbeit mit Einstein immer gelockerter, ging immer mehr aus sich heraus. Mit der Zeit vertauschte sie ihre formlosen dunklen Kleider gegen sommerliche weiße Baumwollhosen, bunte Blusen, Jeans und T-Shirts und schien zehn Jahre verjüngt. Sie ließ ihr herrliches Haar im Schönheitssalon neu frisieren und bürstete diesmal nicht wieder alles aus. Sie lachte häufiger und gewinnender. Im Gespräch sah sie Travis in die Augen und wandte nur mehr selten scheu den Blick ab, wie sie das früher getan hatte. Sie war auch eher bereit, ihn zu berühren, ihm den Arm um die Hüfte zu legen, und es machte ihr Freude, wenn er sie an sich drückte und sie küßte, wenn auch ihre Küsse mehr die eines unsicheren Teenagers in der Zeit der ersten Liebe waren.

Am 14. Juli erhielt Nora eine Nachricht, die ihre Stimmung weiter hob. Das Büro der Staatsanwaltschaft in Santa Barbara rief sie an, um ihr mitzuteilen, daß sie vor Gericht keine Zeugenaussage gegen Arthur Streck machen müsse. Angesichts seines Vorstrafenregisters hatte Streck sich inzwischen überlegt, daß es wohl wenig Sinn habe, sich unter der Anklage der versuchten Vergewaltigung, der Körperverletzung und des Einbruchs nichtschuldig zu bekennen. Er hatte seinen Anwalt angewiesen, mit der Staatsanwaltschaft einen Handel abzuschließen, demzufolge sie alle Anklagen mit Ausnahme der Körperverletzung fallenließen, während Streck eine Gefängnisstrafe von drei Jahren akzeptierte, mit dem Vorbehalt, daß er wenigstens zwei Jahre verbüßen müsse, ehe eine Haftentlassung in Frage käme. Nora hatte sich vor dem Gerichtsverfahren gefürchtet. Plötzlich war sie frei, und als sie das feierten, wurde sie zum erstenmal in ihrem Leben leicht beschwipst.

Als Travis am selben Tag einen neuen Stapel Lesestoff nach

Hause brachte, entdeckte Einstein, daß Mickey-Mouse-Bücher und Comics darunter waren, und die Freude des Hundes über diese Entdeckung war ebenso groß wie die Noras über die Beschlüsse des Gerichts im Verfahren gegen Streck. Was ihn an Mickey, Donald Duck und den übrigen Angehörigen der Dis-ney-Bande so faszinierte, blieb ein Rätsel, doch daß es so war, konnte niemand leugnen. Einstein hörte nicht auf, mit dem Schweif zu wedeln, und besabberte Travis in seiner Dankbarkeit von oben bis unten.

Alles wäre bestens gewesen, hätte Einstein aufgehört, mitten in der Nacht im Haus von Fenster zu Fenster zu gehen und mit unverhohlener Angst in die Dunkelheit hinauszusehen.

3

Am Morgen des 15. Juli, einem Donnerstag, fast sechs Wochen nach den Morden in Bordeaux Ridge und zwei Monate nach der Flucht des Hundes und des Outsiders aus Banodyne, saß Lemuel Johnson allein in seinem Büro in einem der Obergeschosse im Bundesgebäude in Santa Ana, dem Sitz der Kreisbehörde von Orange County. Er starrte durchs Fenster hinaus in den von Schadstoffen gesättigten Dunst, der unter einer Inversionsschicht festsaß, die westliche Hälfte des Bezirks zudeckte und die Qual der fünfunddreißig Grad Hitze noch erhöhte. Der gallgelbe Tag paßte zu seiner sauren Stimmung.

Seine Pflichten beschränkten sich nicht auf die Suche nach den Laborflüchtlingen; dieser Fall beunruhigte ihn ohne Unterlaß, auch wenn er mit anderer Arbeit beschäftigt war. Er war nicht imstande, die Banodyne-Affäre aus seinen Gedanken zu verdrängen, auch nicht, wenn er schlief, und in letzter Zeit bekam er ohnehin nur vier oder fünf Stunden Schlaf. Er konnte Mißerfolge nicht ertragen.

Nein, in Wahrheit war er in diesem Punkt noch viel extremer: Er war davon besessen, keine Mißerfolge zu erleiden. Sein Vater, der sein Leben in Bettelarmut begonnen und ein erfolgreiches Geschäft aufgebaut hatte, hatte Lem den fast religiösen Glauben eingepflanzt, man müsse weiterkommen, Erfolg haben und alles vollenden, was man sich vorgenommen habe. Ganz gleich, wieviel Erfolg man gehabt habe, hatte sein Dad oft gesagt, das Leben könne einem jederzeit den Teppich unter den Füßen wegziehen, wenn man nicht fleißig sei. »Für einen Schwarzen ist es noch schlimmer, Lem. Für einen Schwarzen ist der Erfolg wie ein Drahtseilakt über dem Grand Canyon. Er ist da ganz hoch oben, und alles ist in Butter, aber wenn er einen Fehler macht, wenn er versagt, dann ist das ein meilentiefer Absturz in den Abgrund. Ja, in den Abgrund. Denn Mißerfolg bedeutet Armut. Und in den Augen vieler Menschen, selbst in dieser aufgeklärten Zeit, ist ein armer Schwarzer, der versagt hat, überhaupt kein Mann - er ist einfach bloß ein Nigger.« Das war das einzige Mal, daß sein Vater je das verhaßte Wort gebraucht hatte. Lem war mit der Überzeugung aufgewachsen, daß jeder Erfolg, den er für sich buchte, auf der Klippe des Lebens nur einen unsicheren Halt für die Zehen bedeutete; daß er stets in Gefahr war, von widrigen Winden von jener Klippe geblasen zu werden, und es einfach nicht wagen durfte, nachzulassen in seiner Entschlossenheit, sich festzuhalten und zu einem breiteren, sicheren Felsband emporzuklettern.

Er schlief schlecht, sein Appetit war gestört. Wenn er aß, hatte er nach der Mahlzeit unweigerlich Verdauungsstörungen. Seine Leistungen beim Bridge waren eine Katastrophe, weil er sich nicht mehr auf die Karten konzentrieren konnte; bei ihren wöchentlichen Zusammenkünften mit Walt und Audrey Gaines waren die Johnsons regelmäßig die Verlierer.

Er wußte, warum er so besessen war, jeden Fall erfolgreich abzuschließen, aber dieses Wissen half ihm nicht, seine Besessenheit loszuwerden.

Wir sind, was wir sind, dachte er, und vielleicht ist die einzige Chance, das zu ändern, dann, wenn das Leben uns eine Überraschung beschert, etwa so, als würde man mit einem Baseballschläger eine Scheibe einschlagen und damit den festen Griff der Vergangenheit zerschlagen.

Also starrte er in den grellen Julitag hinaus und brütete über seinen Problemen.

Im Mai hatte er vermutet, irgend jemand habe den Retriever aufgenommen und ihm ein Zuhause gegeben. Schließlich war er ein schönes Tier, und wenn er jemandem auch nur einen Bruchteil seiner Intelligenz offenbarte, war er geradezu unwiderstehlich. Er würde also bestimmt einen Zufluchtsort finden. Deshalb rechnete Lem damit, daß es wesentlich schwieriger sein würde, den Hund zu finden, als den Outsider aufzuspüren. Eine Woche, um den Outsider zu finden, hatte er gedacht, und vielleicht einen Monat, um den Retriever in die Hand zu bekommen.

Er hatte an jedes Tierheim und jeden Veterinär in Kalifornien, Nevada und Arizona Rundschreiben geschickt und eindringlich um Unterstützung bei der Auffindung des Golden Retrievers gebeten. In dem Rundschreiben behauptete er, das Tier wäre aus einem medizinischen Forschungslabor entkommen, in dem wichtige Krebsexperimente durchgeführt würden. Wenn der Hund nicht mehr wiederaufgefunden werde, so stand in dem Rundschreiben, bedeute das den Verlust von einer Million Dollar an Forschungsgeldern und unzähligen Stunden Arbeitszeit - und könnte ernstlich die Entwicklung eines Heilmittels für bestimmte bösartige Wucherungen behindern. Das Rundschreiben enthielt ein Foto des Hundes und den Hinweis, daß er innen am rechten Ohr eine Labortätowierung trage: die Nummer 33-9. In einem Begleitschreiben bat Lem nicht nur um Unterstützung, sondern auch um vertrauliche Behandlung. Die Aussendung war unterdessen alle acht Tage wiederholt worden, und ein Dutzend NSA-Agenten hatten nichts anderes getan, als Tierheime und Tierärzte in den drei Staaten anzurufen, um sicher sein zu können, daß man sich an das Flugblatt erinnerte und weiterhin nach einem Retriever mit einer Tätowierung Ausschau hielt.

Unterdessen konnte die eindringliche Suchaktion nach dem Outsider mit einigem Vertrauen auf wenig besiedelte Gebiete Deschränkt werden, weil er ohne Zweifel zögern würde, sich zu zeigen. Und die Gefahr, daß jemand ihn für so nett hielt, daß er ihn mit nach Hause nahm, bestand wirklich nicht. Außerdem, der Todesfährte, die der Outsider hinterließ, war leicht zu folgen.

Im Anschluß an die Morde in Bordeaux Ridge östlich von Yorba Linda war die Kreatur in die unbesiedelten Chino-Hügel geflohen. Von dort war er nach Norden gegangen und am 9. Juni am Ostrand des County Los Angeles aufgetaucht, wo seine Anwesenheit in dem halb ländlichen Diamond Bar auf-gefallen war. Bei der Tierbehörde des County Los Angeles waren zahlreiche - und hysterische - Berichte von Bewohnern von Diamond Bar bezüglich Angriffen wilder Tiere auf Haustiere eingegangen. Andere riefen die Polizei an, weil sie glaubten, das Gemetzel sei das Werk eines Verrückten. In zwei Nächten waren in Diamond Bar mehr als zwei Dutzend Haustiere in Stücke gerissen worden, und der Zustand der Kadaver ließ bei Lem keine Zweifel offen, daß der Outsider der Täter war. Dann blieb die Spur mehr als eine Woche eiskalt, bis zum Morgen des 18. Juni, als zwei junge Camper am Fuße des Johnstone Peak an der Südflanke des ausgedehnten Angeles National Forest berichteten, sie hätten etwas gesehen, von dem sie fest behaupteten, es stamme >aus einer anderen Welt<. Sie hätten sich in ihrem Wohnwagen eingeschlossen, aber das Geschöpf habe mehrere Male versucht, sich Zutritt zu verschaffen, und sei sogar so weit gegangen, ein Seitenfenster mit einem Stein einzuschlagen. Glücklicherweise hatten die beiden eine .32-Pistole im Wagen, und einer von ihnen eröffnete das Feuer auf den Angreifer und verjagte ihn damit. Die Presse behandelte die beiden Camper als zwei Verrückte, und in den Abendnachrichten machte der Moderator sich über die Geschichte lustig.

Lem glaubte dem jungen Paar. Auf einer Landkarte folgte er dem dünnbesiedelten Landkorridor, durch den der Outsider vermutlich von Diamond Bar in die Gegend des Johnstone Peak gelangt war: über die San Jose-Berge, durch den Bonelli-Park, zwischen San Dimas und Glendora hindurch und dann in die Wildnis; dazu war es nötig gewesen, drei Autobahnen, die die Gegend durchschnitten, zu überqueren. Aber wenn er sich nach Mitternacht fortbewegt hatte, wo es wenig oder gar keinen Verkehr gab, konnte er durchaus ungesehen geblieben sein. Lem verlegte hierauf die hundert Mann Marineabwehr in diesen Teil des Waldes, wo sie ihre Suche in Zivilkleidung in Dreier- und Vierergruppen fortsetzten.

Er hoffte, die jungen Leute hätten den Outsider wenigstens mit einem Schuß getroffen. Aber rund um ihr Lager war kein Blut zu finden gewesen.

Er fing an, die Befürchtung zu hegen, der Outsider könnte sich längere Zeit der Gefangennahme entziehen. Der Angeles National Forest nördlich der Stadt Los Angeles war entmutigend weitläufig.

»Fast so groß wie der ganze Staat Delaware«, sagte Cliff Soames, nachdem er die Gegend auf der Landkarte in Lems Büro abgemessen und das Areal ausgerechnet hatte. Cliff stammte aus Delaware. Er war relativ neu im Westen und kriegte immer noch das Staunen des Neuankömmlings angesichts der gigantischen Dimensionen in diesem Teil des Kontinents. Auch er war jung, mit der Begeisterungsfähigkeit der Jugend, und von fast gefährlichem Optimismus. Cliffs Erziehung war radikal anders gewesen als die Lems; er fühlte sich nicht auf einem Hochseil oder dem Risiko ausgesetzt, ein einziger Fehler, ein einziges Versagen könnte sein Leben zerstören. Manchmal beneidete Lem ihn deswegen.

Lem starrte Cliffs hingekritzelte Berechnungen an. »Wenn er in den San-Gabriel-Bergen Zuflucht sucht, sich dort von wilden Tieren ernährt und sich mit der Einsamkeit abfindet und nur gelegentlich auszieht, um seine Wut an den Leuten an der Peripherie des Reservats auszulassen ..., dann könnte es sein, daß man ihn nie findet.«

»Vergessen Sie nicht«, erinnerte Cliff ihn, »er haßt den Hund mehr, als er die Menschen haßt. Er will den Hund und hat die Fähigkeit, ihn ausfindig zu machen.«

»Das glauben wir.«

»Ob er wohl eine Existenz völlig in der Wildnis wirklich aushalten könnte? Ich meine, zugegeben, er ist zum Teil wild, aber dann ist er auch intelligent. Vielleicht zu intelligent, um sich mit einem anstrengenden Leben in so rauhem Gebiet abzufinden.«

»Vielleicht«, sagte Lem.

»Die werden ihn bald finden, oder er liefert uns selbst einen Hinweis auf seinen Aufenthaltsort«, prophezeite Cliff.

Das war der 18. Juni.

Als sie im Laufe der nächsten zehn Tage keine Spur des Outsiders fanden, waren die Kosten für den Einsatz von hundert Mann nicht mehr zu vertreten. Am 29. Juni schließlich mußte Lem die Marines abgeben, die man ihm zur Verfügung gestellt hatte, und sie auf ihre Stützpunkte zurückschicken.

Mit dem Ausbleiben neuer Entwicklungen stieg Cliffs Mut mit jedem Tag, er war immer bereiter, zu glauben, dem Outsi-der sei etwas widerfahren, er sei tot, und sie würden nie wieder von ihm hören.

Im selben Maße wuchs Lems Bedrücktheit. Er war sicher, er habe die Kontrolle über die Lage verloren, und der Outsider werde auf höchst dramatische Art wieder auftauchen und sich der Öffentlichkeit in Erinnerung bringen. Versagen.

Einziger Lichtblick war, daß die Bestie sich jetzt im County Los Angeles befand, außerhalb der Zuständigkeit von Walt Gaines. Wenn es weitere Opfer gab, würde Walt möglicherweise nicht einmal davon erfahren und man würde ihn nicht aufs neue dazu überreden müssen, sich aus dem Fall herauszuhalten.

Am Donnerstag, dem 15. Juli, genau zwei Monate nach dem Ausbruch von Banodyne und fast einen Monat nachdem ein mutmaßlicher Außerirdischer zwei Camper erschreckt hatte, war Lem überzeugt, er werde sich bald über eine andere berufliche Laufbahn Gedanken machen müssen. Niemand hatte behauptet, er sei dafür verantwortlich, wie die Dinge sich entwickelt hatten. Er stand unter Druck, aber unter keinem größeren Druck als bei anderen umfangreichen Ermittlungen. Tatsächlich sahen einige seiner Vorgesetzten das Ausbleiben weiterer Schreckensmeldungen im selben positiven Licht wie Cliff Soames. Aber in pessimistischen Anwandlungen malte Lem sich eine Zukunft als uniformierter Sicherheitswächter aus, der Nachtschicht in einem Lagerhaus schob und den einzig und allein die Wächteruniform und eine Messingplakette an seine Vergangenheit im Polizeidienst erinnerten.

Während er in seinem Bürosessel saß und durchs Fenster schaute, hinaus auf die dunstiggelbe Luft des brütendheißen Sommertages, sagte er laut: »Verdammt, ich bin dafür ausgebildet, mich mit menschlichen Verbrechern auseinanderzusetzen. Wie, zum Teufel, kann man von mir erwarten, daß ich mit einer in die Realität entflohenen Alptraumfigur fertigwerde?«

Es klopfte an seiner Tür. Während er sich in seinem Sessel herumdrehte, öffnete sich die Tür. Cliff Soames kam rasch herein, aufgeregt und bestürzt. »Der Outsider«, sagte er. »Wir haben wieder eine Spur... aber zwei Leute sind tot.«

Vor zwanzig Jahren, in Vietnam, hatte Lems Hubschrauberpilot gelernt, wie man in unebenem Gelände aufsetzte und abhob. Jetzt, in dauerndem Funkkontakt mit den Hilfssheriffs des L.A. County, die bereits am Tatort eingetroffen waren, hatte er daher keine Schwierigkeiten, den Schauplatz durch Sichtnavigation ausfindig zu machen, wobei er sich anhand natürlicher Landmarken orientierte. Wenige Minuten nach ein Uhr setzte er seine Maschine auf einem kahlen Felskamm auf, der den Ausblick auf den Boulder Canyon im Angeles National Forest bot, knappe hundert Meter von der Stelle entfernt, wo man die Leichen gefunden hatte.

Als Lem und Cliff aus dem Hubschrauber stiegen und den Kamm entlang auf die versammelten Hilfssheriffs und Waldhüter zueilten, schlug ihnen ein heißer Wind entgegen, der den Duft von trockenem Buschwerk und Fichten mit sich trug. Nur einzelne Büschel von wildem Gras, von der Julisonne ausgedörrt und brüchig gemacht, hatten es geschafft, in dieser Höhenlage Wurzeln zu schlagen. Niedriges Buschwerk, darunter auch Wüstenpflanzen wie Mesquite, markierten die oberen Bereiche der Canyonflanken, die rechts und links von ihnen zu den unteren Hängen und der Canyonsohle abfielen, wo es Bäume und grünere Gewächse gab.

Sie befanden sich weniger als sechs Kilometer Luftlinie nördlich der Ortschaft Sunland, zweiundzwanzig Kilometer Luftlinie nördlich von Hollywood und dreißig Meilen nördlich des dichtbesiedelten Herzens der Großstadt Los Angeles, und doch schien es, als befänden sie sich inmitten der Wildnis, einer Einöde von tausend Kilometer Durchmesser, beunruhigend weit weg von jeder Zivilisation. Die Hilfssheriffs hatten ihre allradgetriebenen Fahrzeuge in einem Kilometer Entfernung auf einem primitiven Feldweg geparkt - Lems Helikopter hatte die Fahrzeuge beim Anflug überflogen - und waren zu Fuß mit den Männern vom Forstdienst zu der Stelle gegangen, wo man die Leichen gefunden hatte. Jetzt waren um die Leichen vier Hilfssheriffs, zwei Männer des gerichtsmedizinischen Bezirkslabors und drei Waldhüter versammelt, und sie alle machten den Eindruck, als wären sie ebenfalls an einem urzeitlichen Ort ausgesetzt worden.

Als Lem und Cliff eintrafen, waren die Männer des Sheriffs gerade damit fertig, die Überreste in Leichensäcke zu stopfen. Die Reißverschlüsse waren noch nicht zugezogen, und so konnte Lem erkennen, daß ein Opfer männlichen, das andere weiblichen Geschlechts war, beide jung und für eine Bergwanderung gekleidet. Ihre Wunden waren entsetzlich - die Augen fehlten.

Fünf Unbeteiligte waren bis jetzt gestorben, und das Gefühl schuldhafter Verstrickung ob dieses Blutzolls verfolgte Lem. In Situationen wie dieser wünschte er sich, sein Vater hätte ihn ohne jedes Gefühl der Verantwortung erzogen.

Hilfssheriff Hal Bockner, groß und gebräunt, aber mit erstaunlich dünner Stimme, informierte Lem über die Identität und den Zustand der Opfer: »Nach dem Ausweis, den der Mann bei sich hatte, hieß er Sidney Tranken, achtundzwanzig Jahre alt, aus Glendale. Der Körper weist mehr als ein Dutzend häßlicher Bißwunden auf, dazu Spuren von Klauen und Reißwunden. Die Kehle, wie Sie selbst gesehen haben, aufgerissen. Die Augen ...«

»Ja«, sagte Lem, der keine Notwendigkeit sah, sich mit den gräßlichen Einzelheiten länger zu befassen.

Die Männer aus dem gerichtsmedizinischen Labor zogen die Reißverschlüsse an den Säcken zu; in der heißen Juliluft klang das, als würden Eiszapfen gegeneinanderschlagen.

Hilfssheriff Bockner sagte: »Zuerst glaubten wir, irgendein Verrückter hätte Tranken mit dem Messer erledigt. Man hat es ja hier und da mit Spinnern zu tun, die sich in den Wäldern statt auf den Straßen herumtreiben und es auf Wanderer abgesehen haben. Also dachten wir... zuerst mit dem Messer getötet, und dann müßte all der andere Schaden von Tieren, Aasfressern, angerichtet worden sein, nachdem der Mann schon tot war. Aber jetzt... sind wir nicht mehr so sicher.«

»Auf dem Boden hier sehe ich aber kein Blut«, sagte Cliff Soames leicht erstaunt. »Da müßte doch eine ganze Menge sein.

»Sie sind nicht hier getötet worden«, sagte Bockner und fuhr dann, ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen, mit seinem Bericht fort. »Die Frau, siebenundzwanzig, Ruth Kasa-varis, ebenfalls aus Glendale, ebenfalls scheußliche Bißspuren, Reißwunden. Ihre Kehle ...«

Lem unterbrach ihn erneut und fragte: »Wann sind sie getötet worden?«

»Nun, ich schätze, ohne den Labortests vorgreifen zu wollen, daß sie am späten Abend des gestrigen Tages gestorben sind. Wir glauben, daß man die Leichen hier heraufgetragen hat, weil man sie auf der Kuppe leichter findet. Hier entlang führt ein stark begangener Bergweg. Aber von anderen Bergwanderern sind sie nicht gefunden worden. Es war ein routinemäßiger Flug der Feuerstreife. Der Pilot schaute nach unten und sah sie hier auf dem kahlen Boden liegen.«

Das Gelände hier oberhalb des Boulder Canyon lag mehr als vierzig Kilometer Luftlinie nordnordwest von Johnstone Peak, wo die jungen Leute in ihrem Camper vor dem Outsider Zuflucht gesucht und später mit einer .32-Pistole auf ihn geschossen hatten. Das war am 18. Juni gewesen, vor achtundzwanzig Tagen. Der Outsider mußte also, dem reinen Instinkt folgend, nordnordwestliche Richtung eingeschlagen haben und hatte ohne Zweifel häufig kehrtmachen müssen, wenn ihm ein Canyon den Weg versperrte; deshalb hatte er höchstwahrscheinlich in diesem bergigen Gelände zwischen neunzig und hundertdreißig Kilometer zurückgelegt, um die fünfzig Kilometer Luftlinie zu bewältigen. Trotzdem entsprach das nur einer Geschwindigkeit von fünf Kilometern pro Tag, höchstenfalls, und Lem fragte sich, was das Geschöpf während dieser Zeit getan hatte, wenn es nicht unterwegs war, schlief oder Nahrung jagte.

»Sie werden sehen wollen, wo diese zwei getötet wurden«, sagte Bockner. »Wir haben die Stelle gefunden. Und den Bau werden Sie auch sehen wollen.«

»Bau?«

»Das Versteck«, sagte einer der Waldhüter.

Die Hilfssheriffs, die Waldhüter und die Männer vom gerichtsmedizinischen Labor hatten Lem und Cliff seit ihrer Ankunft mit eigenartigen Blicken gemustert. Das überraschte Lem nicht. Die lokalen Behörden begegneten ihnen stets mit Argwohn und Neugier, weil sie es nicht gewohnt waren, daß eine mächtige Bundesbehörde wie die NSA auftauchte und die Zuständigkeit an sich zog. So etwas war eine Seltenheit. Jetzt aber wurde ihm bewußt, daß ihre Neugierde von anderer Art und anderem Ausmaß war als üblicherweise. Zum erstenmal spürte er ihre Furcht. Sie hatten etwas gefunden - den Bau, das Versteck, von dem sie sprachen -, was ihnen Anlaß zu der Annahme gab, daß dieser Fall noch eigenartiger war, als das plötzliche Auftauchen der NSA normalerweise bedeutete.

In Anzug, Krawatte und geputzten Straßenschuhen waren weder Lem noch Cliff für einen Fußmarsch in den Canyon passend angezogen, aber keiner von beiden zögerte, als die Waldhüter vorangingen. Zwei Hilfssheriffs, die Laborleute und einer der drei Waldhüter blieben bei den Leichen, so daß die Gruppe, die jetzt den Abstieg begann, aus sechs Personen bestand. Sie folgten einem flachen Flußbett, das der Regen aus dem Boden gewaschen hatte, und bogen dann in eine Art Wildpfad. Nachdem sie bis zum Grunde des Canyons hinabgestiegen waren, wandten sie sich gegen Südosten und gingen einen knappen Kilometer weiter. Bald war Lem verschwitzt und mit einer dünnen Staubschicht bedeckt. Seine Socken und Hosenbeine waren mit Kletten übersät.

»Hier sind die beiden getötet worden«, sagte Hilfssheriff Bockner, während er sie auf eine von Pappeln, Zwergpinien und Büschen umgebene Lichtung führte.

Auf der fahlen, sandigen Erde und dem von der Sonne gebleichten Gras waren riesige dunkle Flecken auszunehmen: Blut.

»Und da hinten«, sagte einer der Waldhüter, »haben wir das Versteck gefunden.«

Es war eine seichte Höhle am Ansatz der Canyonwand, vielleicht drei Meter tief und sechs Meter breit, höchstens ein Dutzend Schritte von der kleinen Lichtung entfernt, wo die Wanderer ermordet worden waren. Die Höhlenöffnung war vielleicht zweieinhalb Meter breit, aber sehr niedrig, so daß Lem sich beim Betreten bücken mußte. Als er drinnen war, konnte er sich aufrichten, denn die Decke war hoch. Ein unangenehmer Modergeruch erfüllte den Raum. Das Licht fiel durch den Eingang und durch ein einen halben Meter weites, vom Wasser ausgehöhltes Loch in der Decke. Aber zum größten Teil lag der Raum im Dunkel, und es war hier bestimmt um acht Grad kälter als draußen im Canyon.

Nur Hilfssheriff Bockner hatte Lem und Cliff begleitet. Lem fühlte, daß die anderen nicht etwa deshalb draußenblieben, weil es sonst in der Höhle zu eng geworden wäre, sondern eher wegen des Gefühls des Unbehagens, das diese Behausung erzeugte.

Bockner hatte eine Taschenlampe. Jetzt knipste er sie an und ließ den Scheinwerferkegel über die Gegenstände wandern, die er ihnen zeigen wollte. Der Lichtstrahl vertrieb einige Schatten, ließ andere fledermausartig durch den Raum flitzen, bis sie sich anderswo wieder niederließen.

In einer Ecke war fünfzehn oder zwanzig Zentimeter hoch getrocknetes Gras aufgeschichtet, um auf dem Sandsteinboden eine Art Lager zu bilden. Neben dem Lager stand ein verzinkter Eimer, gefüllt mit relativ frischem Wasser, das vom nächsten Bach herbeigetragen worden war. Der Eimer stand offenbar deshalb da, damit der Schläfer einen Schluck trinken sonnte, wenn er mitten in der Nacht aufwachte.

»Er war hier«, sagte Cliff leise.

»Ja«, pfichtete Lem ihm bei.

Er fühlte instinktiv, daß der Outsider dieses Bett hier gemacht hatte; irgendwie hing seine fremde Wesenheit noch im Raum. Lem starrte den Eimer an und fragte sich, woher die Kreatur ihn hatte. Höchstwahrscheinlich hatte er auf dem Weg von Banodyne hierher beschlossen, sich schließlich irgendwo eine Höhle zu suchen und sich in ihr eine Weile zu verstecken. Dabei war ihm klargeworden, daß er ein paar Dinge brauchen würde, um sich das Leben in der Wildnis angenehmer zu machen. Wahrscheinlich hatte er eine Scheune, einen Stall oder ein leeres Haus aufgebrochen und dort den Eimer und verschiedene andere Dinge gestohlen, die Bockner jetzt mit seiner Taschenlampe anleuchtete.

Eine karierte Flanelldecke für kälteres Wetter, dem Aussehen nach eine Pferdedecke. Was Lem auffiel, war, wie ordentlich zusammengefaltet die Decke auf einem schmalen Felsvorsprung in der Wand neben dem Eingang lag.

Eine Taschenlampe. Sie lag auf demselben Sims wie die Decke. Der Outsider verfügte über ausnehmend gute Nachtsichtigkeit; das war eine der Konstruktionsvorschriften, nach denen Dr. Yarbeck gearbeitet hatte: In der Dunkelheit würde ein genetisch hergestellter guter Krieger so gut sehen können wie eine Katze. Wozu also die Taschenlampe? Es wäre denn ... Vielleicht hatte sogar ein Geschöpf der Nacht gelegentlich Angst vor der Dunkelheit.

Der Gedanke rührte Lem, und plötzlich tat die Bestie ihm leid, so wie sie ihm an jenem Tage leidgetan hatte, als er sie dabei beobachtet hatte, wie sie sich in primitiver Zeichensprache mit Yarbeck verständigt hatte, an jenem Tag, als sie sagte, sie wolle sich die eigenen Augen herausreißen, um sich nie wieder ansehen zu müssen.

Bockner ließ den Scheinwerferkegel wandern und richtete ihn auf zwanzig Schokoladenpapiere. Offenbar hatte der Outsider irgendwo unterwegs ein paar Großpackungen gestohlen. Das seltsame war, daß die Hüllen nicht zerknittert waren, sondern sorgfältig geglättet an der hinteren Wand lagen - zehn von Reese's Erdnußschokolade und zehn Bounty-Stangen. Vielleicht hatten dem Outsider die bunten Farben der Hüllen gefallen. Oder er hatte sie behalten, damit sie ihn an die Freuden erinnerten, die die Schokolade ihm bereitete, denn nach solchen Leckerbissen hatte das harte Leben, in das man ihn getrieben hatte, nicht mehr viele solcher Freuden zu bieten.

In der vom Bett am weitesten entfernten Ecke, tief im Schatten, war ein Haufen Knochen zu sehen; die Knochen von kleinen Tieren. Als die Schokolade aufgezehrt war, war der Outsider gezwungen gewesen, auf die Jagd zu gehen, um sich Nahrung zu verschaffen. Und ohne die Mittel, ein Feuer anzuzünden, hatte er sich wie ein Wilder von rohem Fleisch ernährt. Vielleicht hatte er die Knochen deshalb in der Höhle behalten, weil er Angst hatte. Hinweise auf sein Versteck zu geben, wenn er sie draußen wegwarf. Daß er sie in der dunkelsten, entferntesten Ecke seines Zufluchtsortes verstaute, deutete auf ein Gefühl für Ordnung hin, aber Lem erschien es zugleich, als habe der Outsider die Knochen deshalb im Schatten versteckt, weil er sich seiner eigenen Wildheit schämte.

Am mitleiderregendsten war wohl eine seltsame Sammlung von Dingen, die in einer Felsnische der Wand über dem Grasbett abgelegt waren. Nein, entschied Lem - nicht einfach abgelegt: Die Gegenstände waren sorgfältig angeordnet, wie um sie zur Schau zu stellen, ganz so, wie ein Liebhaber von Glaskunst, Keramik oder Maya-Töpferarbeiten vielleicht seine wertvolle Sammlung zur Schau stellen würde. Da gab es ein rundes Gebilde aus farbigem Glas, wie Leute es manchmal an ihr Terrassendach hängten, damit es die Sonne reflektiere; das Ding war vielleicht zehn Zentimeter im Durchmesser und zeigte eine blaue Blume vor blaßgelbem Hintergrund. Daneben glänzte ein Kupfertopf, der vielleicht einmal auf derselben - oder einer anderen - Terrasse eine Pflanze enthalten hatte. Neben dem Topf standen zwei Dinge, die sicherlich aus dem

Inneren eines Hauses stammten, vielleicht aus demselben Haus, in dem der Outsider die Schokolade gestohlen hatte: zunächst eine hübsche Porzellanplastik eines rotgefiederten Kardinalsvogelpärchens, das auf einem Zweig saß, wobei jede Einzelheit auf das Feinste herausgearbeitet war; sodann ein Briefbeschwerer aus Kristall. Offenbar wohnten selbst in der fremdartigen Brust von Yarbecks monströser Schöpfung ein Sinn für Schönheit und das Bestreben, nicht wie ein Tier zu leben, sondern als denkendes Wesen in einer Umgebung zu sein, die wenigstens entfernt an die Zivilisation erinnerte.

Lem spürte einen Stich im Herzen bei dem Gedanken an die einsame, gequälte, sich selbst hassende, nicht menschliche und doch der eigenen Wesenheit bewußten Kreatur, die Yar-beck in die Welt gesetzt hatte.

Zuallerletzt stand in der Nische über dem Grasbett eine Spardose in Form einer fünfundzwanzig Zentimeter hohen Micky-Maus-Figur.

Lems Mitleid wuchs, weil er wußte, weshalb diese Spardose das Interesse des Outsiders geweckt hatte: Bei Banodyne hatte man Experimente durchgeführt, um Ausmaß und Eigenart der Intelligenz des Hundes und des Outsiders zu bestimmen und festzustellen, inwieweit ihre Wahrnehmungen denen eines menschlichen Wesens glichen. Dem Hund und dem Outsider hatte man von Zeit zu Zeit getrennt Videobänder vorgeführt, Filmausschnitte aller Art: Passagen aus alten John-Wayne-Fil-men, eine aus >Krieg der Sterne<, Nachrichten, Szenen aus einer Vielzahl von Dokumentarfilmen - und alte Micky MausZeichentrickfilme. Die Reaktionen des Hundes und des Outsiders wurden gefilmt, und später prüfte man, ob sie begriffen, welche Teile der Videobänder echte Ereignisse und welche solche der Fantasie zeigten. Beide Kreaturen hatten mit der Zeit gelernt, Fantasie zu erkennen; aber seltsamerweise war die Fantasie, an die sie am liebsten glauben wollten und an die sie sich am längsten festklammerten, Mickymaus. Mickys Abenteuer mit ihren Freunden zogen sie in ihren Bann. Nachdem er aus Banodyne entflohen war, war der Outsider irgendwie auf diese Sparbüchse gestoßen und hatte sie haben wollen, weil durch sie das arme, verdammte Geschöpf an das einzige echte Vergnügen erinnert wurde, das es im Labor gekannt hatte.

Im Scheinwerferkegel von Hilfssheriff Bockners Taschenlampe glitzerte etwas auf dem Regal. Es lag dicht neben der Sparbüchse, und sie hätten es fast übersehen. Cliff stieg auf das Graslager und holte den blitzenden Gegenstand aus der Wandnische: eine acht mal zehn Zentimeter große, dreieckige Scherbe von einem Spiegel.

Hier verkroch er sich, dachte Lem. Hier versuchte er sich an seinen armseligen Schätzen zu freuen, sich eine Art Heim zu schaffen, so gut es ging. Hier nahm er gelegentlich dieses Spiegelfragment in die Hand und starrte sich an, suchte vielleicht voller Hoffnung nach wenigstens einem Zug in seinem Gesicht, der nicht häßlich war, versuchte vielleicht, sich mit dem abzufinden, was er sah, und schaffte es nicht. Schaffte es ganz sicher nicht.

»Du lieber Gott!« sagte Cliff Soames leise, dem offenbar dieselben Gedanken durch den Kopf gegangen waren. »Das arme Schwein.«

Noch etwas hatte der Outsider besessen: ein Exemplar des >People<-Magazins. Robert Redford war auf dem Umschlag abgebildet. Mit einer Klaue, einem scharfen Stein oder irgendeinem anderen Instrument hatte der Outsider Redfords Augen herausgeschnitten.

Das Magazin war zerknittert und zerfetzt, als wäre hundertmal in ihm geblättert worden. Hilfssheriff Bockner reichte es ihnen jetzt und meinte, sie sollten es noch einmal durchblättern. Als er das tat, sah Lem, daß die Augen jeder einzelnen abgebildeten Person entweder herausgekratzt, ausgeschnitten oder auf rohe Weise herausgerissen worden waren.

Die Gründlichkeit, mit der diese symbolische Verstümmelung vorgenommen worden war - nicht ein Bild in der Zeitschrift war verschont geblieben -, ließ es einem eisig über den Rücken laufen.

Der Outsider war armselig, ja, und bedauernswert.

Aber er war auch zu fürchten.

Fünf Opfer - einigen der Bauch aufgerissen, einige geköpft.

Man durfte die unschuldigen Toten nicht vergessen, keinen Augenblick lang. Weder die Liebe zur Mickymaus noch die Freude an schönen Dingen konnte solches Gemetzel entschuldigen.

Aber, Herrgott... Man hatte die Kreatur mit ausreichender Intelligenz ausgestattet, daß sie die Bedeutung und die Segnungen der Zivilisation erkannte, sich danach sehnte, akzeptiert zu werden und eine sinnvolle Existenz führen zu können. Gleichzeitig hatte man ihr die Lust an der Gewalttätigkeit eingepflanzt, einen Killerinstinkt, der keinem anderen im Tierreich nachstand, sollte dieses Wesen doch, gleichsam als vernunftbegabter Killer an der langen, unsichtbaren Leine, in den Krieg geführt werden. Ganz gleich, wie lange der Outsider in friedlicher Einsamkeit in seiner Canyonhöhle blieb, ganz gleich, wie viele Tage oder Wochen er seinem Drang zur Gewalt Widerstand leistete, er konnte sich nicht ändern. Der Stau in seinem Inneren würde wachsen, bis er nicht länger an sich halten konnte, bis das Hinmetzeln kleiner Tiere nicht genug psychische Erleichterung verschaffte, und dann würde er wieder größere, interessantere Opfer suchen. Es mochte durchaus sein, daß er sich für seine Wildheit verdammte, aber er war machtlos, es zu ändern. Noch vor Stunden hatte Lem darüber nachgedacht, wie schwer es für ihn selbst war, ein anderer zu werden als der, den sein Vater aufgezogen hatte, wie schwer es für jeden Menschen war, zu verändern, was das Leben aus ihm gemacht hatte. Aber möglich war es zumindest, sofern man die Entschlossenheit, die Willenskraft und die nötige Zeit hatte. Für den Outsider hingegen war ein Wandel unmöglich; Mord steckte in seinen Genen, war in ihn eingeschlossen, und er durfte sich keine Hoffnung auf Neugeschaffenwerden oder Erlösung machen.

»Was, zum Teufel, hat das alles zu bedeuten?« fragte Hilfssheriff Bockner, der seine Neugierde nicht länger bezähmen konnte.

»Glauben Sie mir«, sagte Lem, »Sie wollen das nicht wissen.«

»Was war in dieser Höhle?« fragte Bockner.

Lem schüttelte nur den Kopf. Wenn schon zwei weitere Menschen hatten sterben müssen, dann war es wenigstens ein Glücksfall, daß sie in einem Nationalpark ermordet worden waren. Hier war Bundesterritorium, womit der Dienstweg vereinfacht war, weil die NSA die Zuständigkeit für die Ermittlungen an sich ziehen konnte.

Cliff Soames drehte immer noch das Spiegelfragment in der Hand und starrte es nachdenklich an.

Nach einem letzten Blick in die Runde gab Lem Johnson sich und seiner gefährlichen Jagdbeute ein Versprechen: Wenn ich dich finde, werde ich nicht überlegen, ob ich dich lebend kriege; kein Fangnetz, keine Tranquillizergewehre, wie es die Wissenschaftler und die Typen vom Militär vorziehen würden; nein, ich werde dich schnell und sauber abschießen.

Das war so nicht nur am sichersten. Es würde auch ein Akt des Mitgefühls und der Barmherzigkeit sein.

4

Bis ersten August verkaufte Nora sämtliche Möbel und andere Habseligkeiten Tante Violets. Sie hatte einen Mann angerufen, der mit Antiquitäten und Möbeln aus zweiter Hand handelte, und er hatte ihr für das Ganze einen Pauschalpreis angeboten, den sie freudig akzeptierte.

Jetzt waren die Räume - mit Ausnahme des Geschirrs, des Tafelsilbers und der Möbel im Schlafzimmer, die sie selbst ausgewählt hatte - von Wand zu Wand leer. Das Haus schien jetzt gesäubert, gereinigt, exorziert. Alle bösen Geister waren ausgetrieben, und sie wußte, daß sie jetzt den Willen aufbringen würde, es völlig neu zu gestalten. Aber sie wollte das Haus nicht mehr haben, also rief sie einen Immobilienmakler an und ließ es zum Verkauf anbieten.

Auch ihre alten Kleider waren weg, alle; sie besaß jetzt eine völlig neue Garderobe mit Hosen, Röcken und Blusen, Jeans, Kleidern, wie jede andere Frau. Hier und da kam sie sich in leuchtenden Farben zu auffällig vor, aber sie widerstand stets dem Drang, etwas Dunkles, Eintöniges anzuziehen.

Den Mut, ihr künstlerisches Talent auf den Markt zu bringen und zu sehen, ob ihre Arbeit etwas wert war, hatte sie immer noch nicht gefunden. Travis gab ihr hier und da kleine, sehr zarte Anstöße, aber sie war noch nicht soweit, ihr zerbrechliches Ego auf den Amboß zu legen und jedem Gelegenheit zu geben, mit dem Hammer darauf einzuschlagen. Bald, aber noch nicht jetzt.

Manchmal, wenn sie sich im Spiegel betrachtete oder ihr Spiegelbild in einem in der Sonne silbrig glänzenden Schaufenster sah, wurde ihr bewußt, daß sie tatsächlich hübsch war. Nicht schön vielleicht, nicht umwerfend wie irgendein Filmstar, aber einigermaßen hübsch. Doch schien sie unfähig zu sein, diese für sie revolutionäre Wahrnehmung bleibend zur Kenntnis zu nehmen, wenigstens nie für längere Zeit, denn die Anmut ihres Gesichts überraschte sie alle paar Tage aufs neue, wenn es ihr aus einem Spiegel entgegenblickte.

Am fünften August saßen sie und Travis am späten Nachmittag am Küchentisch und spielten Scrabble, und sie hatte das Gefühl, gut auszusehen. Vor ein paar Minuten hatte sie vor dem Badezimmerspiegel wieder eine jener Entdeckungen gemacht; sie schaute in den Spiegel - und war mit ihrem Aussehen mehr denn je zufrieden. Jetzt, wieder am ScrabbleBrett sitzend, fühlte sie sich voll Schwung und Glück, wie sie das früher nie für möglich gehalten hätte. Sie fing an, unsinnige Wörter aus ihren Spielsteinen zu bilden und sie dann stimmgewaltig zu verteidigen, wenn Travis ihre Zulässigkeit in Zweifel zog.

»Dofnup?« sagte er und musterte das Spielbrett mit gerunzelter Stirn. »Ein solches Wort gibt es nicht.«

»Das ist eine dreieckige Kappe, wie sie die Holzfäller tragen«, sagte sie.

»Holzfäller?«

»Wie Paul Bunyan[3]

»Holzfäller tragen Strickmützen, ähnlich wie die Schimützen, oder runde Ledermützen mit Ohrenkappen.«

»Ich rede nicht von den Mützen, die sie zur Arbeit in den Wäldern tragen«, erklärte sie geduldig. »>Dofnup< - das ist der Name der Mütze, die sie im Bett tragen.«

Er lachte und schüttelte den Kopf. »Du willst mich wohl auf den Arm nehmen?«

Sie sah ihn an, ohne eine Miene zu verziehen. »Nein. Das ist wahr.«

»Holzfäller tragen also im Bett eine besondere Mütze?«

»Ja, den Dofnup.«

Allein der Gedanke, daß Nora ihn veräppeln könnte, war ihm fremd, also fiel er darauf herein. »Dofnup? Warum heißt die so?«

»Keine Ahnung«, sagte sie.

Einstein lag auf dem Boden, schaute sich ein Bilderbuch an und mühte sich auch mit dem Text ab. Er konnte von Büchern einfach nicht genug kriegen. Vor zehn Tagen, als die Besessenheit des Hundes für Bücher Noras Geduld, ihm die Bücher zu halten und umzublättern, überstrapaziert war, hatten sie versucht, sich eine Vorrichtung auszudenken, die es Einstein erlaubte, die Seiten selbst umzulegen. In einem Geschäft für Krankenhausbedarf hatten sie ein Gerät gefunden, das für Patienten bestimmt war, die weder ihre Arme noch ihre Beine gebrauchen konnten. Es handelte sich um ein Gestell aus Metall, an dem man die Umschlagdeckel des Buches festklammerte; elektrisch betriebene mechanische Arme, die von drei Druckknöpfen in Bewegung gesetzt wurden, legten die Seiten um und hielten sie fest. Ein Querschnittgelähmter konnte sie mit einem Stift, den er zwischen den Zähnen hielt, bedienen; Einstein benutzte dazu seine Nase. Dem Hund schien das Ding riesiges Vergnügen zu bereiten. Jetzt winselte er leise über irgend etwas, das er gerade gesehen hatte, drückte einen der Knöpfe und wandte sich der nächsten Seite zu.

Travis legte >gemein< auf und sammelte eine Menge Punkte, weil er ein doppelwertiges Feld benutzt hatte, worauf Nora ihre Steine dazu benutzte, >Treis< aufzulegen, was sogar noch mehr Punkte wert war.

>»Treis

»Das ist eine beliebte Speise«, sagte sie.

»Tatsächlich?«

»Ja. Dabei wird sowohl Truthahn als auch Reis verwendet, deshalb heißt es so ...« sie konnte nicht weiterreden und brach in Gelächter aus.

Er starrte sie verblüfft an. »Du veräppelst mich also doch.

Du veräppelst mich! Nora Devon, was ist nur aus dir geworden? Als ich dich das erstemal sah, sagte ich mir: >Das ist die ernsteste, verbissenste junge Lady, die mir je untergekommen ist.<«

»Und verschroben wie ein Eichhörnchen.«

»Nun, verschroben nicht.«

»Doch«, beharrte sie. »Du dachtest, ich sei ein Eichhörnchen.«

»Also schön, ja, ich hielt dich für eines und dachte, du hättest wahrscheinlich den Dachboden voller Walnüsse.«

Sie grinste und meinte: »Wenn Violet und ich im Süden gelebt hätten, dann wären wir wahrscheinlich Gestalten aus einem Faulkner-Roman gewesen, nicht wahr?«

»Selbst für Faulkner zu absonderlich. Aber sieh dich doch jetzt an! Du erfindest dumme Wörter und noch dümmere Witze, bringst mich dazu, daß ich drauf reinfalle, weil ich einfach nicht erwarte, daß ausgerechnet Nora Devon so etwas tut. Du hast dich in den letzten Monaten wirklich verändert.«

»Das verdanke ich dir«, sagte sie.

»Vielleicht mehr Einstein als mir.«

»Nein, am meisten dir«, sagte sie. Und plötzlich hielt wieder jene alte Scheu sie gefangen. Sie wandte den Blick ab, schaute auf ihr Scrabble-Brett und sagte leise: »Dir vor allem. Einstein wäre ich nie begegnet, wenn ich nicht dir begegnet wäre. Und du ... du hast dich für mich interessiert ... warst um mich besorgt ... hast etwas in mir gesehen, das ich selbst nicht sehen konnte. Du hast einen anderen Menschen aus mir gemacht.« »Nein«, sagte er. »Da schreibst du mir zuviel zu. Man brauchte keinen anderen Menschen aus dir zu machen. Diese Nora hat es immer gegeben, in der alten Nora, so wie eine Blume verborgen und zusammengekauert im jämmerlich kleinen Samen wartet. Man brauchte dich bloß zu ermutigen, damit du ... nun, damit der wächst und blüht.«

Sie konnte ihn nicht ansehen. Ihr war, als hätte man ihr einen riesigen Stein auf den Nacken gelegt und sie gezwungen, den Kopf zu senken; sie spürte, wie ihr Gesicht sich rötete. Dennoch fand sie die Courage zu sagen: »Es ist so verdammt schwer zu blühen ... sich zu verändern. Selbst wenn man sich verändern will, es sich mehr wünscht als alles andere in der Welt, ist es schwer. Der Wunsch, sich ändern zu wollen, reicht nicht. Und die Verzweiflung reicht auch nicht. Ohne ... Liebe geht es nicht.« Ihre Stimme war ganz leise geworden, nur noch ein Flüstern, und sie brachte es nicht fertig, lauter zu werden. »Liebe ist wie das Wasser und die Sonne, die den Samen wachsen lassen.«

Er sagte: »Nora, sieh mich an.«

Der Stein in ihrem Nacken wog hundert Pfund, tausend. »Nora?«

Eine Tonne wog er.

»Nora, ich liebe dich auch.«

Irgendwie, unter großer Anstrengung, hob sie den Kopf. Sie sah ihn an. Seine braunen Augen, so dunkel, daß sie beinahe schwarz waren, warm und freundlich und schön. Sie liebte diese Augen. Sie liebte seine schmale Nase. Jede Einzelheit in seinem hageren, asketischen Gesicht liebte sie.

»Ich hätte es dir zuerst sagen sollen«, sagte er, »weil es für mich leichter ist als für dich. Vor Tagen hätte ich es sagen müssen, vor Wochen: Nora, bei Gott, ich liebe dich. Aber ich habe es nicht gesagt, weil ich Angst hatte. Jedesmal, wenn ich es zulasse, jemanden zu lieben, verliere ich ihn. Aber diesmal, denke ich, wird es vielleicht anders sein. Vielleicht wirst du das für mich so ändern, wie ich dir geholfen habe, dich zu ändern. Und vielleicht ist diesmal das Glück auf meiner Seite.« Ihr Herz schlug wie wild. Sie konnte kaum atmen. Aber sie sagte: »Ich liebe dich.«

»Wirst du mich heiraten?«

Sie war wie betäubt. Sie wußte nicht, was sie erwartet hatte, aber das sicherlich nicht. Einfach ihn sagen zu hören, daß er sie liebte; einfach fähig zu sein, ihm gegenüber dieselben Gefühle auszudrücken - das hätte schon gereicht, um sie Wochen, ja Monate glücklich zu machen. Sie hatte erwartet, genug Zeit zu haben, um ihre Liebe zu umkreisen, als wäre sie ein großes, geheimnisvolles Bauwerk, das man wie irgendeine neuentdeckte Pyramide von jedem Blickwinkel aus studieren und über das man nachgrübeln mußte, ehe man es wagte, an die Erforschung des Inneren zu gehen.

»Wirst du mich heiraten?« wiederholte er.

Das war zu schnell, unbesonnen schnell. Sie saß auf dem Küchenstuhl, wurde schwindlig, als hätte sie auf einem Karussell gesessen, das sich zu schnell drehte. Sie hatte Angst, wollte ihm sagen, er solle langsamer werden, versuchte zu sagen, daß sie genügend Zeit hätten, über den nächsten Schritt nachzudenken, ehe sie ihn taten. Aber zu ihrer eigenen Überraschung hörte sie sich sagen: »Ja. ja.«

Er streckte die Hände aus und ergriff die ihren. Dann weinte sie, aber es waren gute Tränen.

In sein Buch versunken, hatte Einstein dennoch wahrgenommen, was sich da anbahnte. Er kam zum Tisch, beschnüf felte sie beide, rieb sich an ihren Beinen und winselte glücklich.

Travis sagte: »Nächste Woche?«

»Heiraten? Aber es braucht doch Zeit für die Lizenz und das Aufgebot und alles.«

»Nicht in Las Vegas. Ich kann dort anrufen und in einer Hochzeitskapelle in Vegas alle Vorbereitungen treffen. Wir können nächste Woche hinfahren und heiraten.«

Weinend und lachend sagte sie: »Ja, gut.«

»Großartig!« sagte Travis und grinste.

Einstein wedelte wie wild mit dem Schweif: Ja, ja, ja, ja, ja.

5

Am Mittwoch, dem vierten August, erledigte Vince Nasco im Auftrag der Tetragna-Familie aus San Francisco eine kleine Küchenschabe namens Lou Pantangela. Die Küchenschabe hatte sich bereit erklärt, den Kronzeugen zu spielen, und sollte im September vor Gericht gegen Angehörige der Tetragna-Or-ganisation aussagen.

Johnny der Draht Santani, Computerhacker der Mafia, hatte seine technischen Fähigkeiten eingesetzt, die Computer der Bundesbehörden angezapft und Pantangela ausfindig gemacht. Die Küchenschabe lebte unter dem Schutz zweier Marshals der Bundesbehörde in einem abgesicherten Haus, ausgerechnet in Redondo Beach, südlich von L.A. Es war vorgesehen, daß er nach seiner Zeugenaussage im Herbst eine neue Identität und eine neue Existenz in Connecticut bekäme; aber so lange würde er natürlich nicht leben.

Weil Vince, um an Pantangela heranzukommen, wahrscheinlich einen oder auch beide Marshals würde erledigen müssen, war es eine ziemlich heiße Sache, und deshalb boten die Tetragnas ihm ein sehr hohes Honorar an - 60.000 Dollar. Sie konnten nicht wissen, daß die Notwendigkeit, mehr als einen Mann zu töten, für Vince ein Bonus war und den Reiz des Auftrags - erhöhte, nicht etwa verminderte.

Er beobachtete Pantangela fast eine Woche lang und benutzte dabei jeden Tag ein anderes Fahrzeug, um nicht den Leibwächtern der Küchenschabe aufzufallen. Sie ließen Pantangela nicht oft hinaus, trotzdem vertrauten sie dem Unterschlupf mehr, als gut für sie war, und ließen ihn drei- oder viermal die Woche in der Öffentlichkeit ein spätes Mittagessen einnehmen, wozu sie ihn zu einer kleinen Trattoria, vier Straßen von dem Haus entfernt, begleiteten.

Sie hatten Pantangelas Aussehen so weit wie möglich verändert. Er hatte einmal dichtes schwarzes Haar gehabt, das er sich ziemlich lang über den Jackettkragen hatte wachsen lassen. Jetzt war sein Haar kurzgeschnitten und hellbraun gefärbt. Er hatte einen Schnurrbart gehabt, aber sie hatten ihn dazu veranlaßt, ihn abzurasieren. Er hatte dreißig Kilo Übergewicht gehabt, aber nach zwei Monaten in der Obhut der Marshals hatte er etwa zwanzig Kilo verloren. Nichtsdestoweniger erkannte Vince ihn.

Am Mittwoch, dem vierten August, brachten sie Pantangela wie stets um ein Uhr in die Trattoria. Um zehn nach eins schlenderte Vince in das Lokal, um ebenfalls zu Mittag zu essen.

Das Restaurant hatte nur acht Tische in der Mitte und sechs Nischen an jeder der beiden Seitenwände. Es sah recht sauber aus, enthielt aber für Vinces Geschmack zuviel italienischen Kitsch: rotweiß-karierte Tischtücher, schreiende Wandgemälde, römische Ruinen zeigend, leere Weinflaschen, die als Kerzenständer dienten, gut tausend Plastikweintrauben, die, Gott sei's geklagt, von einem an der Decke befestigten Gitter hingen und dem Lokal Gartenatmosphäre verleihen sollten. Da die Kalifornier dazu neigen, früh zu Abend zu essen, wenigstens nach den Begriffen der Ostküste, aßen sie auch früh zu Mittag, und um zehn nach eins hatte die Zahl der Gäste bereits ihren Höhepunkt überschritten und nahm ab. Um zwei würden wahrscheinlich die einzigen noch im Lokal verbliebenen Gäste Pantangela, seine zwei Leibwächter und Vince sein. Und damit war dies der ideale Ort für den Hit.

Die Trattoria war zu klein, für den Lunch eine eigene Platzanweiserin zu beschäftigen, und eine kleine Tafel forderte am

Eingang die Gäste auf, sich ihre Plätze selbst zu suchen. Vince ging durch das Lokal nach hinten, an Pantangela und seiner Begleitung vorbei und zu einer leeren Nische gleich dahinter. Vince hatte gründlich über seine Kleidung nachgedacht. Er trug Hanfsandalen, rote Baumwollshorts und ein weißes T-Shirt, auf dem blaue Wellen, eine gelbe Sonne und die Aufschrift CALIFORNIA zu sehen waren. Seine Fliegerbrille war undurchsichtig. Er trug eine offene Strandtasche aus Segeltuch, auf der in großen Lettern MEIN ZEUG zu lesen war. Schaute man im Vorbeigehen in die Tasche, sah man ein eingerolltes Handtuch, Flaschen mit Sonnenöl, ein kleines Radio und eine Haarbürste; die darunter versteckte vollautomatische, mit Schalldämpfer ausgestattete Uzi-Pistole mit vierzigschüs-sigem Magazin blieb einem verborgen. Mit seiner Sonnenbräune, die zum Rest seiner Ausstaffierung paßte, vermittelte er genau den Eindruck, den er wollte: der alternde Surfer, topfit, vom Nichtstun leicht verblödet, bemüht, jung auszusehen, der auch mit sechzig noch von sich selbst berauscht sein würde.

Er warf Pantangela und den Marshals einen desinteressierten Blick zu, merkte aber, daß sie ihn scharf musterten und dann als harmlos abtaten. Ausgezeichnet.

Die Nischen hatten hohe, gepolsterte Lehnen, so daß er von seinem Standort aus Pantangela nicht sehen konnte.

Aber hier und da konnte er die Küchenschabe und die Marshals reden hören, größtenteils über Baseball und Weiber.

Nach einer Woche Beschattung wußte Vince, weshalb Pantangela die Trattoria nie vor halb drei, gewöhnlich sogar erst um drei Uhr, verließ: weil er nämlich auf Vorspeise, Salat, Hauptgericht und Nachtisch bestand - die komplette Tour.

Das ließ Vince Zeit für einen Salat und Linguini mit Muschelsoße.

Die Kellnerin, die ihn bediente, war etwa zwanzig, weißblond, hübsch und ebenso braungebrannt wie Vince. Sie sah wie der Typ aus, der alles mitmacht, das typische Beachgirl, und tat auch gleich verliebt, während sie seine Bestellung aufnahm. Er vermutete in ihr eines jener Sandnymphchen, deren Gehirn von der Sonne ebenso verbrannt war wie ihr Körper. Wahrscheinlich verbrachte sie jeden Sommerabend am Strand, nahm Dope jeder Art und machte für jeden Hengst, der sie auch nur entfernt interessierte - und vermutlich interessier-ten die meisten sie - die Beine breit. Was wiederum bedeutete, daß sie, egal, wie gesund sie aussah, alle möglichen Krankheiten hatte. Die bloße Idee, es mit ihr zu treiben, erzeugte ihm bereits Brechreiz, aber er mußte die Rolle spielen, die er sich zugedacht hatte. Also flirtete er mit ihr und versuchte so zu wirken, als hätte er alle Mühe, beim Gedanken an ihren nackten, sich unter ihm windenden Körper nicht den Geifer zu verlieren.

Um fünf nach zwei war Vince mit seinem Lunch fertig, und die einzigen anderen Gäste im Lokal waren Pantangela und die zwei Marshals. Eine der Kellnerinnen war schon gegangen, die beiden anderen waren in der Küche. Besser hätte es nicht sein können.

Die Strandtasche stand neben ihm in der Nische. Er griff hinein und holte die Uzi-Pistole heraus.

Pantangela und die Marshals unterhielten sich gerade über die Chancen der Dodgers, diesmal in die Endrunde zu kommen.

Vince stand auf, umkreiste die Rückwand und besprühte sie mit zwanzig, dreißig Schuß aus der Uzi. Der stummelartige, hypermoderne Schalldämpfer funktionierte traumhaft, die Schüsse hörten sich an wie ein Stotterer, dem ein Wort, das mit einem Zischlaut beginnt, Schwierigkeiten macht. Alles lief so schnell ab, daß die Marshals keine Chance hatten, nach ihren Waffen zu greifen. Sie hatten nicht einmal Zeit, überrascht zu sein.

Sssnappp.

Sssnappp.

Sssnappp.

Pantangela und seine Beschützer waren innerhalb von drei Sekunden tot.

Vince schauderte vor Verzückung, einen Augenblick lang übermannte ihn die Fülle von Lebensenergie, die er soeben in sich aufgenommen hatte. Er konnte nicht sprechen. Dann sagte er mit heiserer, zitternder Stimme: »Danke.«

Als er sich von der Nische abwandte, sah er das Mädchen, das ihn bedient hatte, vor Schreck erstarrt mitten im Lokal stehen. Ihre geweiteten blauen Augen waren auf die toten Männer gerichtet, aber jetzt wanderte ihr Blick langsam zu Vince.

Ehe sie schreien konnte, entleerte er den Rest des Magazins auf sie, vielleicht zehn Schuß, und sie ging in einem Regen von Blut zu Boden.

Sssnappp.

»Danke«, sagte er. Und dann sagte er es noch einmal, weil sie jung und voll Leben gewesen war und deshalb für ihn nützlicher.

In Sorge, noch jemand würde aus der Küche kommen oder jemand vielleicht an dem Restaurant vorbeigehen, einen Blick hereinwerfen und die Kellnerin auf dem Boden liegen sehen, trat Vince schnell an seine Nische, schnappte sich seine Strandtasche und stopfte die Uzi-Pistole unter das Handtuch.

Er setzte sich seine undurchsichtige Sonnenbrille auf und ging hinaus.

Wegen Fingerabdrücken machte er sich keine Sorgen. Er hatte seine Fingerspitzen mit Klebstoff bestrichen. Die Sorte, die er benutzte, trocknete und war dann fast durchsichtig, fiel also nur dann auf, wenn er die Handflächen nach oben drehte und die Leute darauf aufmerksam machte. Die Klebstoffschicht war dick genug, um die winzigen Linien in der Haut auszufüllen, so daß die Fingerspitzen glatt waren.

Draußen ging er bis ans Ende des Blocks, bog um die Ecke und stieg in sein Wohnmobil, das am Randstein parkte. Soweit er feststellen konnte, würdigte ihn niemand eines Blicks.

Er fuhr ans Meer, freute sich auf ein wenig Sonne und ein erfrischendes Bad. Nach Redondo Beach zu fahren, das nur zwei Straßen entfernt war, schien ihm etwas riskant, also fuhr er auf der Küstenstraße in südlicher Richtung nach Bolsa Chi-ca, ein Stück nördlich von seinem Haus in Huntington Beach gelegen.

Während der Fahrt dachte er über den Hund nach. Er bezahlte Johnny den Draht immer noch, damit er Tierheime, Polizeireviere und alle anderen Leute im Auge behielte, die vielleicht in die Suchaktion nach dem Retriever hineingezogen wurden. Er wußte über das Rundschreiben der National Security Agency an Tierärzte und Tierheime in drei Staaten Bescheid und außerdem, daß die NSA bisher keinen Erfolg gehabt hatte.

Vielleicht war der Hund überfahren worden, vielleicht hatte ihn die Kreatur, die Hudston den >Outsider< genannt hatte, ge-tötet oder auch ein Rudel Kojoten in den Bergen. Aber Vince wollte nicht glauben, daß er tot war. Denn das hätte das Ende seines Traums bedeutet, mit dem Hund das große Geld zu verdienen - entweder indem er die Behörden erpreßte, ihn von ihm zurückzukaufen, oder indem er ihn an irgendeinen reichen Typen aus dem Showbusiness verkaufte, der eine Nummer mit ihm einstudieren konnte, oder indem er selbst sich etwas einfallen ließ, die geheime Intelligenz des Tieres für irgendwelche lukrative Tricks zu nützen.

Er zog es vor, zu glauben, jemand habe den Hund gefunden und ihn als Haustier mitgenommen. Wenn er die Leute ausfindig machte, die den Hund hatten, konnte er ihn ihnen abkaufen - oder sie umlegen und sich den Köter einfach nehmen. Aber wo, zum Teufel, sollte er suchen? Wie sollte er sie finden? Wenn sie auffindbar waren, würde die NSA sie sicherlich vor ihm finden.

Falls der Hund nicht bereits tot war, war die beste Methode, an ihn heranzukommen, höchstwahrscheinlich die, zuerst den Outsider zu finden und sich dann von der Bestie zu dem Hund führen zu lassen, wie Hudston das als möglich angenommen hatte. Aber auch das war nicht einfach.

Johnny der Draht belieferte ihn außerdem immer noch mit Informationen darüber, wo Menschen oder Tiere in Südkalifornien auf ganz besonders gewalttätige Weise getötet worden waren. Vince wußte über das Blutbad in dem kleinen Zoo von Irvine Park Bescheid, über den Mord an Wes Dalberg und den zwei Männern in Bordeaux Ridge. Johnny hatte auch die vorschnellen Veröffentlichungen über verstümmelte Haustiere in Diamond Bar aufgetan, und Vince selbst hatte im Fernsehen den Bericht über das junge Paar gesehen, das sich einbildete, unterhalb von Johnstone Peak einem >Außerirdischen< begegnet zu sein. Vor drei Wochen hatte man im Angeles National Forest zwei schrecklich verstümmelte Wanderer gefunden. Johnny hatte die Computer der NSA angezapft und bestätigte, daß die NSA auch in diesem Fall die Zuständigkeit an sich gezogen hatte, was darauf hindeutete, daß auch dies das Werk des Outsiders war.

Seitdem - nichts.

Vince war nicht bereit aufzugeben. Noch lange nicht. Er war ein geduldiger Mann. Geduld war Teil seines Berufs. Er würde warten, aufpassen, Johnny den Draht weiterarbeiten lassen und über kurz oder lang das bekommen, hinter dem er her war, dessen war er sicher. Er hatte für sich entschieden, der Hund sei ebenso wie die Unsterblichkeit Teil des ihm persönlich Bestimmten.

Am öffentlichen Strand von Bolsa Chica stand er eine Weile da und ließ die Brandung gegen seine Schenkel prallen, starrte in die großen, dunklen Massen aufgewühlten Wassers. Er fühlte sich kraftvoll wie die See. Er war angefüllt mit Dutzenden von Leben. Er würde ihn nicht überrascht haben, wäre plötzlich Elektrizität aus seinen Fingerspitzen gesprungen, so wie in der Mythologie Donnerkeile aus den Händen der Götter fuhren.

Schließlich warf er sich nach vorn ins Wasser und schwamm gegen die mächtig hereindrängenden Wellen an. Er schwamm weit hinaus, ehe er einschwenkte und parallel zum Ufer schwamm, zuerst nach Süden, dann nach Norden, bis er sich schließlich erschöpft von der Flut zurück ans Ufer tragen ließ. Er döste eine Weile in der heißen Nachmittagssonne. Er träumte von einer schwangeren Frau mit geschwollenem, großem, gerundetem Leib, und in seinem Traum erwürgte er sie. Er träumte oft davon, Kinder zu töten, oder noch besser die ungeborenen Kinder schwangerer Frauen, weil das etwas war, wonach er sich im wahren Leben sehnte. Kindsmord war natürlich viel zu gefährlich, ein Vergnügen, das er sich versagen mußte, obwohl die Lebensenergie eines Kindes am stärksten und reinsten war, am meisten wert, aufgesogen zu werden.

Aber viel zu gefährlich. Dem Kindesmord durfte er sich so lange nicht hingeben, bis er sicher war, die Unsterblichkeit erreicht zu haben; von da an würde er weder die Polizei noch sonst jemanden zu fürchten brauchen.

Obwohl er häufig solche Träume hatte, kam ihm der, aus dem er am Strand von Bolsa Chica erwachte, bedeutungsvoller vor als andere dieser Art. Irgendwie war er... anders. Prophetisch. Er saß da, gähnte, blinzelte in die Sonne und tat so, als bemerke er die Bikinimädchen nicht, die ihn verstohlen betrachten. Er sagte sich, daß dieser Traum der Blick voraus auf ein Vergnügen sei, das ihm bevorstehe. Eines Tages würde er wahrhaftig seine Hände am Hals einer schwangeren Frau spüren, genau so, wie das in dem Traum gewesen war, würde den höchsten Nervenkitzel erfahren, das letzte, größte Geschenk empfangen: nicht allein ihre Lebensenergie, sondern auch die reine, unberührte des Ungeborenen in ihrem Leib.

In einem Hochgefühl kehrte er zu seinem Wohnmobil zurück, fuhr nach Hause, duschte und ging zum Abendessen in das nächstgelegene Stuart-Anderson-Steakhaus, wo er sich ein Filet Mignon genehmigte.

6

Einstein schoss an Travis vorbei, hinaus aus der Küche, durchquerte das kleine Eßzimmer und verschwand im Wohnzimmer. Travis ging mit der Leine in der Hand hinter ihm her. Einstein versteckte sich hinter dem Sofa.

»Hör zu, es tut gar nicht weh«, sagte Travis.

Der Hund beobachtete ihn argwöhnisch.

»Wir müssen das erledigen, ehe wir nach Vegas fahren. Der Tierarzt gibt dir ein paar Spritzen, impft dich gegen Staupe und Tollwut. Das ist gut für dich, und es tut wirklich nicht weh. Wirklich nicht. Und dann besorgen wir dir eine Hundemarke, was wir eigentlich schon lange hätten tun sollen.«

Ein Bellen. Nein.

»Doch, das werden wir.«

Nein.

Etwas gebückt und die Leine am Karabinerhaken haltend, mit dem er sie am Halsband befestigen wollte, ging Travis einen Schritt auf Einstein zu.

Der Retriever wieselte davon, sprang auf den Sessel und beobachtete Travis von dieser Beobachtungsplattform aus aufmerksam.

Travis kam langsam hinter dem Sofa hervor und sagte:

»Jetzt hör mir gut zu. Pelzgesicht. Ich bin dein Herrchen ...« Ein Bellen.

Travis runzelte die Stirn. »O doch, ich bin dein Herrchen. Du magst ja ein verdammt schlauer Hund sein - aber du bist immer noch der Hund und ich der Mensch, und ich sage dir, daß wir jetzt zum Tierarzt gehen.«

Ein Bellen.

Nora lehnte mit verschränkten Armen an dem Durchgang zum Speisezimmer und lächelte. »Ich glaube, er will dir jetzt zeigen, wie es mit Kindern ist, für den Fall, daß wir je welche haben sollten.«

Travis machte einen Satz auf den Hund zu.

Einstein war mit einen weiten Sprung von seinem Hochsitz und bereits aus dem Zimmer, als Travis, der nicht mehr bremsen konnte, über den Sessel fiel.

»Ungeheuer unterhaltsam ist das«, sagte Nora lachend.

»Wo ist er hin?« wollte Travis wissen.

Sie deutete in den Flur, der zu den zwei Schlafzimmern und dem Bad führte.

Er fand den Retriever im Schlafzimmer, wo er auf dem Bett stand und zur Tür blickte. »Du kannst nicht gewinnen«, sagte Travis. »Das ist doch zu deinem eigenen Nutzen, verdammt noch mal, und du wirst jetzt diese Spritzen bekommen, ob es dir paßt oder nicht.«

Einstein hob ein Hinterbein und pinkelte auf das Bett.

Erstaunt sagte Travis: »Was, zum Teufel, soll das?«

Einstein hörte zu pinkeln auf, entfernte sich von der Pfütze, die bereits in die gesteppte Zudecke einsickerte, und starrte Travis herausfordernd an.

Travis hatte Geschichten von Hunden und Katzen gehört, die ihr extremes Mißvergnügen durch solche Aktionen zum Ausdruck brachten. Als er noch die Immobilienagentur geführt hatte, hatte eine seiner Angestellten ihren Zwergcollie zwei Wochen in eine Hundepension gebracht, während sie Urlaub machte. Als sie zurückkam und den Hund wieder abholte, bestrafte der sie, indem er auf ihren Lieblingssessel und ihr Bett urinierte.

Aber Einstein war kein gewöhnlicher Hund. In Anbetracht seiner bemerkenswerten Intelligenz war es noch empörender, daß er das Bett beschmutzt hatte.

Travis wurde jetzt zornig und sagte, während er auf den Hund zuging: »Das ist wirklich unverzeihlich.«

Einstein sprang von der Matratze. Travis begriff, daß der Hund versuchen würde, um ihn herum aus dem Zimmer zu schlüpfen, deshalb zog er sich hastig zurück und knallte die Tür zu. Da ihm der Fluchtweg abgeschnitten war, wechselte

Einstein schnell die Richtung und hetzte zum anderen Ende des Schlafzimmers, wo er vor der Kommode stehenblieb.

»Jetzt ist Schluß mit dem Unsinn«, sagte Travis streng und schwang die Leine in der Hand.

Einstein zog sich in die Ecke zurück.

Während er geduckt näher rückte, die Arme ausgebreitet, um zu verhindern, daß der Hund wieder an ihm vorbeihuschte, gelang es ihm schließlich, dem Tier die Leine am Halsband einzuhaken. »Ha!«

Einstein kauerte besiegt in der Ecke, ließ den Kopf hängen und fing zu zittern an.

Travis' Triumphgefühl war nur von kurzer Dauer. Bedrückt starrte er auf den gesenkten, zitternden Kopf und die fliegenden Flanken des Tieres. Einstein gab ein fast unhörbares, klägliches Winseln der Angst von sich.

Während er den Hund streichelte, ihn zu beruhigen und aufzumuntern suchte, sagte Travis: »Das ist doch wirklich gut für dich, das weißt du doch. Staupe, Tollwut - das willst du doch nicht. Es tut gar nicht weh, mein Freund. Das schwör' ich dir.«

Der Hund wich seinem Blick aus und ließ sich nicht beruhigen.

Unter Travis' Hand fühlte der zitternde Hundekörper sich an, als würde er gleich in Stücke zerfallen. Er starrte den Retriever an, überlegte und meinte dann: »In dem Labor... haben die dich da oft mit Nadeln gestochen? Haben sie dir damit weh getan? Hast du deshalb Angst vor der Impfung?«

Einstein winselte nur.

Travis zog den widerstrebenden Hund aus der Ecke heraus. um seinen Schwanz für eine Frage-und-Antwort-Sitzung freizumachen. Er ließ die Leine fallen, nahm Einsteins Kopf in beide Hände und zwang ihn aufzublicken, um so Auge in Auge mit ihm zu sein.

»Haben sie dir im Labor mit Nadeln weh getan?«

Ja.

»Hast du deshalb vor dem Tierarzt Angst?«

Obwohl der Hund nicht zu zittern aufhörte, bellte er einmal: Nein.

»Die Nadeln haben dir weh getan, aber du hast vor ihnen keine Angst?«

Nein.

»Warum bist du dann so?«

Einstein starrte ihn bloß an und gab wieder diese schrecklichen Klagelaute von sich.

Nora öffnete die Schlafzimmertür einen Spalt weit und spähte herein. »Hast du ihn jetzt an die Leine bekommen?« Dann sagte sie: »Puh! Was ist denn hier passiert?«

Ohne den Kopf des Hundes loszulassen oder den Blick von ihm zu wenden, sagte Travis: »Er hat sein Mißvergnügen sehr selbstbewußt zum Ausdruck gebracht.«

»Selbstbewußt - das kann man wohl sagen«, pflichtete sie ihm bei, trat ans Bett und fing an, die besudelte Überdecke, die Decke und die Laken zu entfernen.

Immer noch bemüht, den Grund für das Verhalten des Hundes zu finden, sagte Travis: »Einstein, wenn du nicht vor den Nadeln Angst hast - ist es dann der Tierarzt?«

Ein Bellen. Nein.

Entmutigt brütete Travis über seiner nächsten Frage, während Nora den Matratzenschoner vom Bett zog.

Einstein zitterte.

Plötzlich stellte sich bei Travis blitzartig eine Erkenntnis ein, die die Widerspenstigkeit und die Angst des Hundes verständlich machte. Er ärgerte sich über seine eigene Schwerfälligkeit. »Zum Teufel, natürlich ist es das! Du hast keine Angst vor dem Tierarzt - sondern daß der Tierarzt dich an jemanden melden könnte.«

Einsteins Zittern ließ etwas nach, er wedelte kurz mit dem Schweif. ]a.

»Wenn die Leute aus diesem Labor auf dich Jagd machen -und wir wissen, daß sie das ganz bestimmt mit allem Nachdruck tun, weil du sicher das wichtigste Versuchstier der Geschichte bist -, dann werden die sich an jeden Tierarzt im ganzen Staat wenden, nicht wahr? Jeden Tierarzt... und jedes Tierheim... und auch jede Behörde, die Hundemarken ausgibt.«

Wieder ein heftiges Schweifwedeln.

Nora kam um das Bett herum und kauerte sich neben Travis nieder. »Aber Golden Retriever gehören doch zu den beliebtesten Rassen. Tierärzte und Hundelizenzbürokraten haben doch die ganze Zeit mit solchen Hunden zu tun. Wenn unser Hundegenie hier sein Licht unter den Scheffel stellt und den blöden Köter spielt...«

»Was er recht gut kann.«

»... dann können die unmöglich wissen, daß er der Flüchtling ist.«

Ja, beharrte Einstein.

»Was meinst du damit?« fragte Travis den Hund. »Soll das heißen, sie können dich identifizieren?«

Ja.

»Wie?« wollte Nora wissen.

»Irgendeine Markierung?« fragte Travis.

Ja.

»Irgendwo unter dem Fell?« fragte Nora.

Ein Bellen. Nein.

»Wo dann?« überlegte Travis.

Einstein zog den Kopf aus Travis' Händen und schüttelte ihn so heftig, daß seine Schlappohren flogen.

»Vielleicht an den Fußballen«, sagte Nora.

»Nein«, sagte Travis, während Einstein einmal bellte. »Als ich ihn fand, bluteten seine Pfoten, weil er so weit gelaufen war, und ich mußte ihm die Wunden mit Borwasser säubern. Da wäre mir eine Markierung aufgefallen.«

Wieder schüttelte Einstein heftig den Kopf, daß die Ohren flogen.

»Vielleicht an der inneren Lippe«, vermutete Travis. »Rennpferde tätowiert man an der Innenlippe, um sie zu identifizieren und um zu verhindern, daß bei den Rennen geschwindelt wird. Laß mich deine Lippen zurückschieben und nachsehen, Junge.«

Einstein bellte einmal - nein - und schüttelte heftig den Kopf.

Jetzt begriff Travis endlich. Er schaute ins rechte Ohr und fand nichts. Aber im linken Ohr war etwas. Er bedeutete dem Hund, mit ihm ans Fenster zu kommen, wo die Beleuchtung besser war, und entdeckte, daß die Markierung aus zwei Ziffern, einem Strich und einer dritten Ziffer bestand, die in purpurner Farbe in das rosabraune Fleisch eintätowiert waren: 33-9.

Nora blickte über Travis' Schulter und meinte: »Die haben wahrscheinlich mit einer ganzen Anzahl von Welpen experi-mentiert, aus verschiedenen Würfen, und mußten sie identifizieren können.«

»Du lieber Gott! Wenn ich mit ihm zum Tierarzt ginge und der die Anweisung hat, nach einem tätowierten Retriever Ausschau zu halten ... «

»Aber geimpft muß er werden.«

»Vielleicht ist er schon geimpft«, sagte Travis hoffnungsvoll. »Darauf dürfen wir nicht bauen. Er war ein Labortier; das in einer Umgebung lebte, die unter Kontrolle stand. Vielleicht brauchte er die Impfung nicht. Vielleicht hätten diese üblichen Impfungen die Experimente gestört.«

»Den Tierarzt können wir unmöglich riskieren.«

»Wenn die ihn finden und wiederhaben wollen«, sagte Nora, »geben wir ihn einfach nicht her.«

»Sie können uns zwingen«, sagte Travis betrübt.

»Verdammt, wenn sie das können.«

»Verdammt, wenn sie das nicht können. Ich wette, die Forschungsarbeiten werden von der Regierung finanziert, und die können uns zermalmen. Wir dürfen das Risiko nicht eingehen. Einstein hat einfach Angst davor, wieder ins Labor zurückzumüssen.«

Ja, ja, ja.

»Aber wenn er sich mit Tollwut oder Staupe ansteckt...«

»Wir lassen ihn später impfen«, sagte Travis. »Später. Wenn die Lage sich abgekühlt hat. Wenn er keine so heiße Ware mehr ist.«

Der Retriever winselte glücklich und zeigte seine feuchte Dankbarkeit, indem er Travis' Hals und Gesicht leckte.

Nora meinte mit gerunzelter Stirn: »Einstein ist so ziemlich das Wunder Nummer eins des zwanzigsten Jahrhunderts. Glaubst du wirklich, daß er je abkühlen wird, daß die je aufhören, nach ihm zu suchen?« ,

»Vielleicht jahrelang nicht«, räumte Travis ein und streichelte den Hund. »Aber mit der Zeit werden sie mit weniger Enthusiasmus und weniger Hoffnung auf Erfolg suchen. Und die Tierärzte werden nicht mehr jedem Retriever, den man ihnen bringt, in die Ohren schauen. Bis dahin muß es einfach ohne Impfung gehen, schätze ich. Was bleibt uns denn anderes übrig?«

Nora zerzauste Einstein mit einer Hand das Fell und meinte:

»Hoffentlich hast du recht.«

»Das habe ich.«

»Hoffentlich.«

»Ganz sicher.«

Es ging Travis schwer unter die Haut, daß er nahe daran gewesen war, Einsteins Freiheit aufs Spiel zu setzen, und so brütete er die nächsten paar Tage über dem schrecklichen Fluch, der auf den Cornells lastete. Vielleicht fing es jetzt wieder von vorn an. Die Liebe, die er für Nora und diesen unmöglichen, verdammten Köter empfand, hatte sein Leben gewandelt und lebenswert gemacht. Und jetzt würde ihm vielleicht das Schicksal, das immer auf äußerst feindselige Art mit ihm umgesprungen war, Nora und den Hund wieder entreißen.

Er wußte, daß der Schicksalsgedanke eine rein mythologische Vorstellung war. Er glaubte nicht wirklich, daß es ein Pantheon übelwollender Götter gab, die durch ein himmlisches Schlüsselloch auf ihn herunterschauten und Komplotte gegen ihn schmiedeten - und blickte doch hier und da unwillentlich argwöhnisch zum Himmel. Jedesmal, wenn er etwas auch nur andeutungsweise Optimistisches über die Zukunft sagte, ertappte er sich dabei, daß er auf Holz klopfte, um ein ihm feindselig gesonnenes Schicksal nicht herauszufordern. Wenn er beim Abendessen den Salzstreuer umwarf, nahm er sich sofort eine Prise davon und warf sie über seine Schulter, dann kam er sich albern vor und wischte sich hastig die Finger ab. Aber sein Herz begann schneller zu schlagen, eine lächerliche, abergläubische Furcht erfüllte ihn, und er fühlte sich so lange nicht wohl, bis er eine zweite Prise Salz genommen und hinter sich geworfen hatte.

Obwohl Travis' exzentrisches Verhalten Nora nicht entging, verzichtete sie barmherzig darauf, seine Ängste zu erwähnen. Statt dessen arbeitete sie seiner Stimmung entgegen, indem sie ihn jede Minute des Tages auf ihre stille Art liebte, voll Begeisterung über ihre Reise nach Vegas redete, nie übellaunig war und nicht auf Holz klopfte.

Sie wußte nichts von den Alpträumen, weil er ihr nichts darüber erzählt hatte. Zwei Nächte hintereinander hatte er denselben Traum.

Er wanderte durch die waldigen Canyons der Santa-Ana-Berge im Orange County, dieselben Wälder, in denen er Einstein das erstemal begegnet war. Er war mit Einstein und Nora wieder hingegangen, doch jetzt hatte er sie verloren. Voll Angst kletterte er steile Abhänge hinab, arbeitete sich hinauf, kämpfte sich durch dichtes Buschwerk und rief verzweifelt nach Nora und dem Hund. Manchmal hörte er Nora antworten oder Einstein bellen, und es klang, als wären sie in Gefahr; also wandte er sich in die Richtung, aus der die Stimmen kamen, aber wenn er sie wieder hörte, waren sie jedesmal weiter weg und in anderer Richtung, und wie eindringlich er auch lauschte, wie schnell er sich den Weg durch den Wald bah-nen mochte, er war daran, sie zu verlieren, sie zu verlieren ..

... bis er außer Atem erwachte, mit wild schlagendem Herzen und einem lautlosen, in der Kehle sitzenden Schrei.

Der 6. August, ein Freitag, war ein gesegnet geschäftiger Tag, daß Travis wenig Zeit hatte, über ein feindseliges Schicksal nachzudenken. Als erstes rief er am frühen Morgen in Las Vegas an und traf unter Benutzung seiner American-Express-Nummer die Vorkehrungen für eine Trauungszeremonie am Mittwoch, den 11. August, um elf Uhr. In einer Anwandlung von Romantik bestellte er zwanzig Dutzend rote Rosen, zwanzig Dutzend weiße Nelken, einen guten Orgelspieler - keine verdammte Tonbandmusik - der Musik nach alter Tradition spielen konnte, so viele Kerzen, daß der Altar ohne grelles elektrisches Licht hell sein würde, eine Flasche Dom Perignon, um damit den Abschluß zu feiern, und einen erstklassigen Fotografen, um die Feierlichkeiten festzuhalten. Als diese Details erledigt waren, rief er das Circus Circus Hotel in Las Vegas an, das als Familienhotel hinter dem Hotelgebäude über einen Abstellplatz für Campingfahrzeuge verfügte, und bestellte dort, beginnend mit der Nacht von Sonntag, dem 8. August, einen Platz für seinen Camper. Dann rief er einen Campingplatz in Barstow an und reservierte dort für Samstagabend einen Platz, damit sie auf halbem Wege nach Vegas Station machen könnten. Anschließend begab er sich in ein Juweliergeschäft, sah sich das gesamte Angebot an und kaufte schließlich einen Verlobungsring mit einem großen, lupenreinen dreikarätigen Diamanten und einen Ehering mit zwölf viertelkarätigen Steinen. Er versteckte die Ringe unter dem Sitz seines Pick-up und fuhr dann mit Einstein zu Noras Haus, holte sie ab und brachte sie zu einer Verabredung mit ihrem Anwalt Garrison Dilworth.

»Heiraten wollen Sie! Das ist ja herrlich!« sagte Garrison und schüttelte Travis die Hand. Er küßte Nora auf die Wange. Er schien echt entzückt. »Ich hab' mich nach Ihnen erkundigt, Travis.«

»So?« sagte Travis überrascht.

»Um Noras willen.«

Das ließ Nora rot werden und protestieren, aber Travis freute sich, daß Garrison so besorgt um sie war.

Der Anwalt musterte Travis mit einem wachsamen Blick und sagte: »Wie ich höre, haben Sie ganz gut in der Immobilienbranche verdient, ehe Sie Ihre Firma verkauft haben.«

»Ja, das kann man sagen«, bestätigte Travis bescheiden und hatte dabei das Gefühl, als spräche er mit Noras Vater und wäre dabei bemüht, einen guten Eindruck zu machen.

»Sehr gut«, sagte Garrison. »Ich höre auch, daß Sie Ihre Gewinne recht gut investiert haben.«

»Nun, pleite bin ich nicht«, gab Travis zu.

Garrison lächelte. »Außerdem höre ich, daß Sie ein guter, verläßlicher Mensch sind, der für seine Mitmenschen mehr als die nötige Portion Freundlichkeit übrig hat.«

Jetzt war Travis mit Erröten an der Reihe. Er zuckte die Achseln.

Garrison wandte sich jetzt Nora zu: »Meine Liebe, ich bin entzückt für Sie. Glücklicher, als ich Ihnen sagen kann.«

»Ich danke Ihnen.« Nora schaute Travis liebevoll und mit strahlendem Gesicht an, was in ihm zum erstenmal an diesem Tag den Wunsch weckte, auf Holz zu klopfen.

Da sie beabsichtigten, nach der Hochzeit wenigstens eine Woche oder zehn Tage auf Flitterwochen zu gehen, wollte Nora, falls ihr Immobilienmakler einen Käufer für Violet Devons Haus finden sollte, nicht deswegen nach Santa Barbara zurückfahren müssen: Sie bat Garrison Dilworth also, ein Vollmacht schreiben abzufassen, das es ihm erlaubte, während ihrer Abwesenheit alle mit einem solchen Verkauf zusammenhängenden Formalitäten zu erledigen. Das war in weniger als einer halben Stunde getan, unterschrieben und beglaubigt. Nach einer weiteren Runde von Gratulationen und Glückwünschen machten sie sich auf den Weg, um ein Wohnmobil zu kaufen.

Sie hatten vor, Einstein nicht nur zu ihrer Hochzeit nach Las Vegas, sondern auch in die Flitterwochen mitzunehmen. Dort, wo sie hinfuhren, würde es möglicherweise nicht immer einfach sein, gute, saubere Motels zu finden, die auch Hunde aufnahmen, und deshalb war es klug, ein Motel auf Rädern mitzunehmen. Außerdem hätten weder Travis noch Nora sich unbefangen lieben können, wenn der Retriever im selben Raum gewesen wäre. »Das wäre, wie wenn eine andere Person dabei ist«, sagte Nora und wurde dabei rot wie eine Tomate. Im Motel würden sie zwei Zimmer nehmen müssen - eines für sie beide und eines für Einstein -, und das war doch wohl zu ausgefallen.

Bis vier Uhr hatten sie gefunden, was sie suchten: einen mittelgroßen, silberfarbenen, in Form einer Nissenhütte gebauten Airstream mit Miniküche, Eßnische, einem Wohnraum, einem Schlafraum und Bad, Wenn sie schlafengingen, konnten sie Einstein im vorderen Teil des Wagens lassen und die Schlafraumtür hinter sich schließen. Da Travis' Pick-up bereits über eine gute Anhängevorrichtung verfügte, konnten sie den Airstream, gleich nachdem der Kauf abgeschlossen war, anhängen und mitnehmen.

Einstein, der zwischen Travis und Nora im Pick-up mitfuhr, drehte die ganze Zeit den Kopf nach hinten, um durch das Fenster auf den blitzenden, zylindrischen Wohnwagen zu sehen, als bewundere er die Erfindungsgabe der Menschheit.

Sie kauften Vorhänge, Plastikgeschirr, Gläser, weiters Lebensmittel, die sie in den Wandschränken der Kochnische verstauten, und eine Menge anderer Dinge, die sie brauchten. Als sie schließlich wieder in Noras Haus waren und für ein spätes Abendessen Omeletten zubereiteten, waren sie geschafft. Diesmal war Einsteins Gähnen keine Affektiertheit; er war einfach müde.

Als Travis in jener Nacht zu Hause im eigenen Bett lag, fiel er in einen tiefen Schlaf, einen Schlaf uralter, versteinerter Bäume und Dinosaurier-Fossilien. Die Träume der letzten zwei Nächte wiederholten sich nicht.

Am Samstagmorgen begannen sie ihre Reise nach Vegas und in die Ehe. Da sie vorwiegend breite, mehrspurige Highways benützen wollten, auf denen der Wohnwagen keine Behinderung darstellte, fuhren sie zuerst auf Route 101 nach Süden und weiter nach Osten, bis sie zur Route 134 wurde, der sie dann folgten, bis daraus die Interstate 210 wurde und Los Angeles und seine Vororte im Süden und der große Angeles National Forest im Norden lagen Später, auf der Fahrt durch die weite Mojave-Wüste, faszinierte Nora das karge und doch unvergleichliche Panorama aus Sand, Stein, Tumbleweed, Mesquite, Josuabäumen und Kakteen. Die Welt erscheine ihr plötzlich um vieles größer, als sie sich je vorgestellt habe, meinte sie, und Travis genoß ihr Staunen.

Barstow, Kalifornien, war ein riesiger Boxenstop inmitten der endlosen Wüste. Sie trafen um drei Uhr nachmittags an dem großen Trailerpark ein. Frank und Mae Jordan, ein Paar in mittleren Jahren, das den Platz neben ihnen besetzt hielt, waren aus Salt Lake City; sie reisten mit Hund, einem schwarzen Labrador namens Jack.

Zu Travis' und Noras großer Überraschung machte es Einstein einen Riesenspaß, mit Jack zu spielen. Sie jagten rund um die Wohnwagen, schnappten verspielt nach einander, wälzten sich kämpfend auf dem Boden, sprangen auf und jagten weiter. Frank Jordan warf ihnen einen roten Gummiball hin, und sie hetzten hinterher, jeder bemüht, der Sieger zu sein. Dann versuchten die Hunde einander den Ball wegzunehmen und ihn so lange wie möglich zu behalten. Allein vom Zusehen wurde Travis müde.

Einstein war zweifellos der klügste Hund der Welt, der klügste Hund aller Zeiten, ein Phänomen, ein Wunder, mit der Auffassungsgabe eines Menschen - aber er war auch ein Hund. Manchmal vergaß Travis das, war aber jedesmal von neuem entzückt, wenn Einstein etwas tat, das einen daran erinnerte.

Später, nachdem sie mit den Jordans auf dem Holzkohlenfeuer gegrillte Hamburger und Maiskolben gegessen und danach in der klaren Wüstennacht ein paar Dosen Bier geleert hatten, verabschiedeten sie sich von den Salt-Lakers, und Einstein schien auch Jack Lebewohl zu sagen. Als sie im Inneren des Airstream waren, tätschelte Travis Einsteins Kopf und sagte: »Das war sehr nett von dir.«

Der Hund hob herausfordernd den Kopf und fixierte Travis. als wollte er fragen, was, zum Teufel, das eigentlich heißen solle.

»Du weißt genau, wovon ich rede. Pelzgesicht«, sagte Travis.

»Ich weiß es auch«, sagte Nora. Sie drückte den Hund an sich. »Als du mit Jack gespielt hast, hättest du einen Narren aus ihm machen können. Wenn du das gewollt hättest. Aber du hast ihn auch ein paarmal gewinnen lassen, nicht wahr?« Einstein hechelte und grinste selig.

Nach einem letzten Schlummertrunk bezog Nora den Schlafraum, und Travis schlief auf dem Klappsofa im Wohn-raum. Travis hatte mit dem Gedanken gespielt, mit ihr zu schlafen, und vielleicht hatte auch sie überlegt, ihn in ihr Bett zu lassen. Schließlich waren es keine vier Tage bis zur Hochzeit. Travis wollte es, weiß Gott. Und mochte sie auch sicher ein wenig Angst vor dem ersten Mal haben, sie wünschte es sich ebenfalls, daran zweifelte er nicht. Sie berührten einander jeden Tag, küßten sich häufiger - und intimer -, und die erotische Spannung zwischen ihnen nahm zu. Aber warum es nicht machen, wie es sich gehörte, wo der Tag doch so nahe war? Warum nicht jungfräulich ins Hochzeitsbett steigen - sie als Jungfrau in den Augen aller, er als jungfräulicher Partner für sie?

In der Nacht träumte Travis, Nora und Einstein hätten sich in den endlosen Weiten der Mojave verlaufen. Aus irgendeinem Grund hatte er keine Beine und war gezwungen, qualvoll langsam zu kriechen und nach ihnen zu suchen, und das war entsetzlich, denn er wußte, daß sie, wo immer sie auch waren, von ... von etwas ... angegriffen wurden ...

Sonntag, Montag, und Dienstag trafen sie in Las Vegas Vorbereitungen für die Hochzeit, sahen Einstein zu, wie er enthusiastisch mit den Hunden anderer Campingplatzbesucher spielte, und unternahmen Ausflüge nach Charleston Peak und Lake Mead. An den Abenden ließen Nora und Travis Einstein mit seinen Büchern allein und besuchten Shows. Travis hatte deshalb Schuldgefühle, aber Einstein ließ auf mehrfache Weise erkennen, daß er nicht wollte, daß sie nur deshalb im Wohnwagen blieben, weil die Hotels am Strip derart kurzsichtig und voreingenommen waren, manierlichen Hundegenies nicht zu erlauben, die Casinos und Revuetheater zu betreten.

Am Mittwochmorgen zog Travis einen Smoking an, Nora ein schlichtes, wadenlanges weißes Kleid mit etwas Spitze an Ärmeln und Ausschnitt. Mit Einstein zwischen sich auf der Sitzbank fuhren sie im Pick-up zur Trauung. Den Airstream ließen sie auf dem Campingplatz stehen.

Die keiner Konfession zugehörige, rein kommerziellen Zwecken dienende Kapelle war so ziemlich das Komischste, was Travis je gesehen hatte. Die Innenausstattung war ernsthaft um Romantik bemüht, feierlich und geschmacklos zugleich. Auch Nora fand es erheiternd, und sie hatten beim Betreten Mühe, nicht in Gelächter auszubrechen. Der Bau befand sich am Las Vegas Boulevard, eingezwängt zwischen neontriefenden kitschigen Hotelwolkenkratzern, hatte die Größe eines einstöckigen Hauses, war hellrosa verputzt und hatte weiße Türen. Über den Türen war in Messing eingraviert: ZU ZWEIEN SOLLT IHR SCHREITEN ... Die farbigen Glasfenster zeigten nicht etwa religiöse Motive, sondern farbenfreudig ausgemalte Szenen aus berühmten Liebesgeschichten, darunter >Ro-meo und Julia<, >Abelard und Heloise<, >Aucassin und Nicolet-te<, >Vom Winde verweht<, >Casablanca< und sogar >I Love Lucy<. Seltsamerweise konnten ihnen diese Geschmacklosigkeiten nicht die Stimmung verderben. Nichts sollte diesem Tag Abbruch tun. Selbst die scheußliche Kapelle war etwas, woran sie sich bis in jedes ihrer geschmacklosen Details erinnern wollten, und stets mit angenehmen Gefühlen, denn es war ihre Kapelle an ihrem Tag und daher auf eigene, seltsame Weise etwas Besonderes.

Hunde hatten gewöhnlich keinen Zutritt. Aber Travis hatte dem gesamten Mitarbeiterstab im voraus reichlich Trinkgeld gegeben, um sicherzustellen, daß man Einstein nicht nur hineinließ, sondern er sogar das Gefühl haben würde, so willkommen zu sein wie jeder andere.

Der Priester, Reverend Dan Dupree - »Bitte, nennen Sie mich Reverend Dan« - war ein rotgesichtiger, dickbäuchiger Bursche, immer strahlend und leutselig tuend, der wie ein Gebrauchtwagenhändler aussah. Zwei bezahlte Trauzeugen flankierten ihn - seine Frau und deren Schwester -, die sich für den Anlaß helle Sommerkleider angezogen hatten.

Travis nahm vorne Platz.

Die Organistin stimmte den Hochzeitsmarsch an.

Nora hatte sich sehr gewünscht, durch den Mittelgang zu schreiten und vorne auf Travis zu treffen, statt einfach mit der Zeremonie am Altargeländer zu beginnen. Außerdem wollte sie ihm >übergeben< werden, wie andere Bräute auch; solches hätte natürlich Ehrenpflicht eines Vaters sein sollen, aber sie hatte keinen Vater. Es war auch niemand anderer zur Hand, der als Kandidat hierfür geeignet gewesen wäre, und zunächst schien es, daß sie den Weg allein oder am Arm eines Fremden würde zurücklegen müssen. Aber während der Fahrt zur Zeremonie im Pick-up war ihr plötzlich klargeworden, daß ja Einstein zur Verfügung stand, und sie kam zur Überzeugung, daß niemand auf der Welt besser geeignet war, sie durch den Mittelgang zu geleiten, als der Hund.

Als die Organistin jetzt spielte, betrat Nora mit dem Hund an ihrer Seite den hinteren Teil des Kirchenschiffs, Einstein war sich der großen Ehre, sie begleiten zu dürfen, bewußt und ging mit aller Würde und allem Stolz, deren er fähig war, mit hocherhobenem Kopf neben ihr einher, gemessenen Schritts, ganz wie sie.

Niemand schien es zu stören - oder auch nur zu überraschen -, daß ein Hund Nora ihrem Bräutigam zuführte. schließlich war dies Las Vegas.

»Eine der reizendsten Bräute, die ich je gesehen habe«, flüsterte Reverend Dans Frau Travis zu, und er hatte das Gefühl, daß sie es ehrlich meinte und dieses Kompliment nicht routinemäßig verabreichte.

Das Blitzlicht des Fotografen blitzte wiederholt, aber Travis war zu sehr in Noras Anblick versunken, als daß ihn das gestört hätte.

Von Rosen und Nelken überquellende Vasen füllten das kleine Kirchenschiff mit ihrem Duft, hundert Kerzen flackerten weich, einige in Votivschalen aus klarem Glas, andere auf Messingkandelabern. Als Nora schließlich bei ihm anlangte, hatte Travis die geschmacklose Dekoration vergessen. Seine Liebe erschuf die Kapelle architektonisch völlig neu, machte aus ihr eine Kathedrale, die an Größe keiner auf der Welt nachstand.

Die Zeremonie war kurz und wider Erwarten erhebend und feierlich. Travis und Nora tauschten die Ehegelübde, dann die Ringe, Travis sah das Kerzenlicht, das von ihren Tränen reflektiert wurde, und fragte sich, warum ihre Tränen vor seinen Augen verschwammen. Und dann wurde ihm bewußt, daß auch er am Rande der Tränen war. Ein dramatisches Orgelgebraus begleitete ihren ersten Kuß als Mann und Frau, und es war der süßeste Kuß seines Lebens.

Reverend Dan ließ den Dom Perignon knallen und schenkte auf Travis' Anweisung jedem, auch der Organistin, ein Glas ein. Für Einstein fand sich eine Untertasse. Laut schlabbernd schloß der Retriever sich ihren Wünschen für ein langes Leben, Glück und ewige Liebe an.

Einstein verbrachte den Nachmittag im vorderen Teil des Wohnwagens mit einem seiner Bilderbücher. Travis und Nora verbrachten den Nachmittag am anderen Ende des Wohnwagens im Bett.

Nachdem Travis die Tür des Schlafraums versperrt hatte, stellte er eine zweite Flasche Dom Perignon in einen Eiskübel und legte ein Compact-Disc mit George Winstons sanftester Klaviermusik ein.

Nora zog die Gardine vor das einzige Fenster und knipste die kleine Lampe mit dem goldenen Lampenschirm an. Das weiche Bernsteinlicht verlieh dem Raum eine traumähnliche Atmosphäre.

Eine Weile lagen sie auf dem Bett, redeten, lachten, streichelten einander, küßten sich immer inniger. Die Worte verebbten.

Behutsam zog Travis ihr die Kleider aus. Er hatte sie nie zuvor nackt gesehen. Sie war noch schöner und feingliedriger. als er sich vorgestellt hatte. Der schlanke Hals, die zarten Schultern, die vollen Brüste, die Rundung der Hüften, die langen, wohlgeformten Beine - jede gerade verlaufende Linie, jeder Knick, jede Kurve erregten ihn, erfüllten ihn aber mit großer Zärtlichkeit.

Nachdem er sich selbst entkleidet hatte, führte er sie geduldig und sanft in die Kunst der Liebe ein. Vom tiefen Wunsch getrieben, ihr Vergnügen zu bereiten, sich stets bewußt, daß ihr all dies neu war, zeigte er Nora - manchmal nicht ohne feinen Spott - all die Empfindungen, die seine Zunge, seine Finger und seine Männlichkeit in ihr auslösen konnten.

Er war darauf vorbereitet, daß sie widerstrebend, verlegen, ja ängstlich sein werde, weil sie die ersten dreißig Jahre ihres Lebens nicht dieses Maß an Intimität erfahren hatte. Aber in ihr war keine Spur von Frigidität, sie beteiligte sich eifrig an allem, was ihm, ihr oder ihnen beiden Vergnügen bereitete.

Ihre leisen Schreie, ihr atemloses Gemurmel der Erregung entzückten ihn. Jedesmal, wenn sie sich seufzend einem Schauder der Ekstase hingab, erregte das Travis noch mehr. Als er endlich seinen warmen Samen in sie fließen ließ, begrub er sein Gesicht an ihrem Hals, rief ihren Namen, sagte ihr, daß er sie liebe, sagte es immer wieder, und der Augenblick der Erlösung schien so lange anzudauern, daß er schon glaubte, die Zeit sei stehengeblieben oder er habe eine unerklärliche, nie versiegende Quelle aufgetan.

Lange hielten sie einander stumm umfangen, brauchten keine Worte. Sie lauschten der Musik, nach einer Weile sprachen sie über das, was sie empfanden, geistig und körperlich. Sie tranken etwas Champagner, und nach einiger Zeit liebten sie sich wieder. Und wieder.

Obwohl der beständige Schatten unabwendbaren Todes über jedem Tag aufragt, können die Freuden des Lebens so schön und tief sein, daß das staunende Herz beinah zu schlagen aufhört.

Von Las Vegas fuhren sie mit dem Airstream im Schlepp in nördlicher Richtung auf Route 95 über die weiten Ödländer Nevadas. Zwei Tage später, am Freitag, dem 13. August, erreichten sie den Lake Tahoe und schlossen den Wohnwagen auf der kalifornischen Seite an das Elektrizitätsnetz und die Wasserleitung eines Campingplatzes an.

Nora war von neuen landschaftlichen Panoramen und neuen Erfahrungen nicht mehr so leicht überwältigt wie früher. Dennoch war der Lake Tahoe so erdrückend schön, daß der Anblick sie doch wiederum mit kindlichem Staunen erfüllte. Vierunddreißig Kilometer lang und neunzehn Kilometer breit, mit der Sierra Nevada an der Westflanke und der Carson Range im Osten, dem klarsten Wasser der Welt, wie es hieß: ein in hundert irisierenden Schattierungen von Blau und Grün schimmerndes Juwel.

Sechs Tage lang durchwanderten Nora, Travis und Einstein die Nationalparks von Eldorado, Tahoe und Toiyabe, riesige, urtümliche Wälder von Fichten, Rottannen und Föhren. Sie mieteten sich ein Boot, ruderten auf den See hinaus und erforschten paradiesische kleine Strande und weite Buchten: Sie sonnten sich, schwammen, und Einstein genoß das Wasser mit der Begeisterung, die seiner Art angeboren war. Manchmal liebten sich Nora und Travis am Morgen, manchmal am späten Nachmittag, häufiger aber in der Nacht. Ihr körperliches Verlangen überraschte sie; sie konnten voneinander nicht genug bekommen.

»Ich liebe deinen Geist und dein Herz«, sagte sie, »aber Gott stehe mir bei, deinen Körper liebe ich fast genauso! Bin ich verworfen?«

»Du lieber Himmel, nein! Du bist nur eine junge, gesunde Frau. Tatsächlich bist du, wenn man bedenkt, was für ein Leben du geführt hast, geistig gesünder, als du eigentlich sein dürftest. Wirklich, Nora, ich falle aus einer Überraschung in die andere.«

»Ich werde auch gleich fallen - auf dich drauf.«

»Vielleicht bist du wirklich verworfen«, sagte er und lachte.

Am heiterblauen Morgen des 20. August, einem Freitag verließen sie den Lake Tahoe und fuhren quer durch den Staat zur Halbinsel von Monterey. Dort, wo Kontinentalschelf und See aufeinandertrafen, war, falls das überhaupt möglich war die Natur noch schöner als am Lake Tahoe. Sie blieben vier Tage und traten am Nachmittag des Mittwochs, dem 25. August die Rückreise an.

Während der ganzen Fahrt waren die Freuden des Ehelebens so allesverzehrend, daß das Wunder von Einsteins menschenähnlicher Intelligenz ihre Gedanken lange nicht so beschäftigte wie früher. Aber Einstein erinnerte sie an seine Einmaligkeit, als sie sich am späten Nachmittag Santa Barbara näherten. Sechzig oder siebzig Kilometer vor ihrem Ziel wurde er unruhig. Er wälzte sich ein paarmal auf dem Sitz zwischen Nora und Travis ruhelos hin und her, setzte sich eine Minute lang auf, legte dann Nora den Kopf in den Schoß, setzte sich wieder auf. Er begann seltsam zu winseln. Als sie schließlich nur noch fünfzehn Kilometer von zu Hause entfernt waren zitterte er am ganzen Leib.

»Was ist los mit dir. Pelzgesicht?« fragte sie.

Mit seinen ausdrucksvollen braunen Augen gab Einstein sich redliche Mühe, eine komplizierte und wichtige Nachricht zu übermitteln, aber sie konnte ihn nicht verstehen.

Eine halbe Stunde vor Einbruch der Abenddämmerung, als sie die Stadt erreichten und die Autobahn verließen, begann Einstein abwechselnd zu winseln und tief in der Kehle zu knurren.

»Was hat er?« fragte Nora.

Travis runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht.«

Als sie in die Einfahrt von Travis' gemietetem Haus bogen und im Schatten der Dattelbäume parkten, begann der Retriever zu bellen. Er hatte nie im Wageninneren gebellt, kein einziges Mal auf der langen Reise. In dem engen Raum klang es ohrenbetäubend laut, aber er wollte und wollte nicht aufhören. Als sie ausstiegen, schoß Einstein aus dem Wagen, bezog auf halbem Wege zwischen ihnen und dem Haus Position und fuhr fort zu bellen.

Nora ging auf die Eingangstür zu, und Einstein sprang sie knurrend an. Er packte sie am Hosenbein und versuchte sie zu Fall zu bringen. Sie schaffte es, auf den Beinen zu bleiben, und erst als sie sich in Richtung Vogelbecken zurückzog, ließ er sie los.

»Was nur in ihn gefahren ist?« sagte sie.

Travis starrte nachdenklich das Haus an und meinte: »Damals im Wald, an jenem ersten Tag, war er genauso ... als er nicht wollte, daß ich in den dunklen Pfad hineingehe.«

Nora versuchte den Hund zu sich herauszulocken, um ihn zu streicheln.

Aber Einstein ließ sich nicht locken. Als Travis den Hund auf die Probe stellte, indem er auf das Haus zuging, knurrte Einstein und zwang ihn zum Rückzug.

»Warte hier«, sagte Travis zu Nora. Er ging zum Wohnwagen in der Einfahrt zurück und stieg hinein.

Einstein trottete vor dem Haus auf und ab, sah zu Tür und Fenstern hinauf und knurrte und winselte.

Die Sonne war eben dabei, am westlichen Himmel niederzugehen und die See zu küssen, die Wohnstraße lag still und friedlich da, in jeder Hinsicht normal und alltäglich. Und doch spürte Nora, daß irgend etwas Fremdes in der Luft lag. Ein warmer Wind vom Pazifik ließ Palmen und Eukalyptusbäume flüstern, Geräusche, die an jedem anderen Tag angenehm gewesen wären, jetzt aber bedrohlich wirkten. Auch die länger werdenden Schatten im letzten orange-purpurfarbenen Licht des Tages waren wie eine Drohung. Abgesehen vom Verhalten des Hundes, hatten sie keinen Anlaß, an irgendeine Gefahr zu denken; ihre Unruhe war rein instinktiv.

Als Travis aus dem Wohnwagen zurückkam, trug er einen großen Revolver in der Hand. Er hatte während der ganzen Flitterwochenreise ungeladen in der Nachttischschublade gelegen. Jetzt schob Travis Patronen in die Trommel und klappte die Waffe zu.

»Ist das nötig?« fragte sie besorgt.

»An jenem Tag war etwas im Wald«, sagte Travis, »und obwohl ich es nie tatsächlich gesehen habe,... nun, haben sich mir die Haare im Nacken gesträubt. Ja, ich glaube, der Revolver könnte nötig werden.«

Ihre eigene Reaktion auf das Geflüster der Bäume und die abendlichen Schatten waren für sie Andeutung genug für das was Travis im Wald gefühlt haben mußte, und sie mußte sich eingestehen, daß ihr angesichts der Waffe etwas wohler war.

Einstein hatte aufgehört, auf und ab zu patrouillieren, wieder seine Wachposition am Zugangsweg eingenommen und versperrte ihnen den Weg zum Haus.

»Ist jemand drinnen?« fragte Travis den Retriever.

Ein schnelles Schweifwedeln. Ja.

»Männer vom Labor?«

Ein Bellen. Nein.

»Das andere Versuchstier, von dem du uns erzählt hast?«

Ja.

»Das Ding, das im Wald war?«

Ja.

»Also gut. Ich gehe jetzt hinein.«

Nein.

»Ja«, beharrte Travis. »Das ist mein Haus, und wir werden vor diesem Ding nicht davonlaufen, was auch immer es sein mag.«

Nora erinnerte sich an das Zeitschriftenfoto des Filmmonsters, auf das Einstein so heftig reagiert hatte, aber sie konnte sich nicht denken, daß tatsächlich etwas existieren sollte, da? auch nur annähernd jenem Geschöpf ähnelte. Einstein übertrieb, oder sie hatten vielleicht mißverstanden, was er ihnen bezüglich des Fotos mitzuteilen versucht hatte. Dennoch wünschte sie sich plötzlich, sie hätten nicht nur einen Revolver, sondern auch eine Schrotflinte.

»Das hier eine .357 Magnum«, sagte Travis zu dem Hund »Ein Schuß, selbst wenn er einen Arm oder ein Bein trifft haut den größten, bösartigsten Mann um und sorgt dafür, daß er liegenbleibt. Er wird sich fühlen, als hätte ihn eine Kanonenkugel getroffen. Mich haben die besten Leute im Gebrauch von Schußwaffen ausgebildet, und ich habe all die Jahre immer wieder trainiert, um in Übung zu bleiben. Ich weiß wirklich, was ich tue, und ich werde dort drinnen zurechtkommen. Außerdem können wir nicht einfach die Bullen rufen, oder? Denn was immer sie dort drinnen finden, wird zu Kopfzerbrechen führen, zu einer Menge Fragen, und über kurz oder lang holen die dich wieder in dieses verdammte Labor zurück.«

Travis' Entschlossenheit war Einstein sichtlich unangenehm, aber der Hund tappte dennoch die Eingangsstufen bis zur kleinen Veranda hoch und schaute dann zurück, als wollte er sagen. In Ordnung. Okay. Aber allein laß ich dich da nicht hinein.

Nora wollte mit ihnen gehen, aber Travis bestand darauf, daß sie im Vorgarten bleibe. Widerstrebend mußte sie sich eingestchen, daß sie - da sie weder eine Waffe besaß noch damit umgehen konnte - ihm wirklich nicht helfen konnte und wahrscheinlich nur im Weg sein würde.

Den Revolver in Hüfthöhe haltend, trat Travis neben Einstein auf die Veranda und schob den Schlüssel ins Schloß.

7

Travis sperrte auf, steckte den Schlüssel ein, stieß die Tür auf und brachte die .357er in Anschlag, so daß der Raum dahinter im Schußfeld war. Vorsichtig trat er über die Schwelle, Einstein folgte ihm bei Fuß.

Das Haus war still, ganz wie es sein sollte, aber ein übler Gestank hing in der Luft, der nicht hergehörte.

Einstein knurrte leise.

Nur ein schwacher Schimmer des schnell verblassenden Abendlichts drang durch die Fenster, von denen viele ganz oder teilweise mit Gardinen verhängt waren. Aber es war hell genug, daß Travis erkennen konnte, daß die Polsterung des Sofas aufgeschlitzt war. Zerfetzter Schaumstoff überall auf dem Fußboden verstreut. Ein Zeitungsständer aus Holz war gegen die Wand geschmettert und in Stücke geschlagen worden. Dabei waren Löcher im Verputz entstanden. Die Bildröhre des Femsehers war mit einer Stehlampe eingeschlagen worden, die immer noch aus dem Gerät ragte. Bücher waren von den Regalen genommen, auseinandergerissen und im Wohnzimmer verteilt worden.

Trotz des Luftzugs, der durch die Tür hereinkam, schien der Gestank schlimmer zu werden.

Travis knipste den Wandschalter an. Eine Stehlampe in der Ecke leuchtete auf. Sie verbreitete nicht viel Licht, aber es reichte, um weitere Einzelheiten der Verwüstung zu erkennen. Sieht aus, als hätte jemand sich mit einer Motorsäge hier ausgetobt und wäre anschließend noch einmal mit einem Rasenmäher drübergegangen, dachte er.

Das Haus blieb still.

Er ließ die Tür hinter sich offen und trat ein paar Schritte weiter in den Raum. Die zerknitterten Seiten der ruinierten Bücher raschelten unter seinen Füßen. Jetzt entdeckte er auf einigen Buchseiten und dem knochenweißen Schaumstoff dunkle, rostfarbene Flecken, und plötzlich stockte er, weil er begriff, daß die Flecken Blut waren.

Im nächsten Augenblick entdeckte er die Leiche; die eines großen Mannes, der nahe beim Sofa lag, zur Hälfte mit Seiten aus Büchern, Umschlagdeckeln und Umschlägen, die alle mit geronnenem Blut beschmiert waren, bedeckt.

Einsteins Knurren wurde lauter, aggressiver.

Travis trat näher an die Leiche heran, die nur einen halben Meter vom Türbogen entfernt war, der ins Eßzimmer führte, und erkannte jetzt, daß es sein Vermieter war, Ted Hockney.

Neben ihm lag sein Werkzeugkasten. Ted besaß einen Schlüssel für das Haus, und Travis hatte nichts dagegen, wenn er, wann immer es ihm paßte, hereinkam, um Reparaturen durchzuführen. In letzter Zeit waren einige Reparaturen notwendig geworden, darunter ein tropfender Wasserhahn und die defekte Spülmaschine. Offenbar war Ted einen Block weit von seinem Haus hierhergekommen, um etwas zu richten. Jetzt war auch Ted kaputt - so kaputt, daß man ihn nicht mehr reparieren konnte.

Wegen des durchdringenden Gestanks dachte Travis zuerst, der Mann müsse mindestens vor einer Woche getötet worden sein. Aber bei näherem Hinsehen zeigte sich, daß die Leiche weder aufgedunsen war noch irgendwelche Spuren der Verwesung zeigte. Also konnte sie noch nicht lange hier liegen. Möglicherweise nur einen Tag, vielleicht nicht einmal das. Der scheußliche Gestank hatte zwei andere Ursachen: Zum einen hatte man dem Mann den Bauch aufgeschlitzt, darüber hinaus hatte sein Mörder allem Anschein nach auf der Leiche und in ihrem Umkreis seinen Urin und Kot hinterlassen.

Ted Hockney s Augen waren verschwunden.

Travis empfand Übelkeit, und dies nicht nur, weil er Ted gemocht hatte. Angesichts dieser irren Grausamkeit wäre ihm, egal, wer der Tote war, schlecht geworden. Ein solcher Tod ließ dem Opfer keinerlei Würde, tat irgendwie der ganzen Menschheit Abbruch.

Einsteins leises Knurren wurde lauter, eindringlicher, bösartiger, war unterbrochen von kurzem, scharfem Bellen.

Travis zuckte zusammen, sein Herz begann plötzlich wie wild zu hämmern. Er wandte sich von der Leiche ab und sah, daß der Retriever seine Aufmerksamkeit auf das angrenzende Eßzimmer richtete. Der Raum lag in tiefer Düsternis, weil die Vorhänge vor beide Fenster gezogen waren und von der Küche dahinter nur schwaches graues Licht hereinfiel.

Raus hier, verschwinde! befahl ihm seine innere Stimme.

Aber er drehte sich nicht um, rannte nicht weg, weil er in seinem ganzen Leben noch nie vor etwas davongelaufen war. Nun ja, ganz stimmte das nicht. In den letzten paar Jahren war er praktisch vor dem Leben selbst davongelaufen. Sein Abstieg in die Isolation war die größte Feigheit gewesen, zu der ein Mensch fähig war. Aber das lag jetzt hinter ihm; er war ein neuer Mensch, von Einstein und Nora umgeformt, und er würde nicht wieder weglaufen, hol's der Teufel.

Einstein wurde starr. Er krümmte den Rücken, senkte den Kopf, reckte ihn nach vorn und bellte so wütend, daß ihm der Geifer aus dem Maul flog.

Travis machte einen Schritt auf den Durchgang zum Eßzimmer zu. Der Retriever blieb an Travis' Seite, bellte noch heftiger. Den Revolver vor sich haltend und bemüht, an der schweren Waffe sein Selbstvertrauen wiederzugewinnen, schob sich Travis einen Schritt weiter, inmitten des trügerischen Unrats alle Vorsicht gebrauchend. Er war nur zwei oder drei Schritte von der Türöffnung entfernt, spähte mit zusammengekniffenen Augen in das düstere Eßzimmer.

Einsteins Bellen hallte durchs Haus, daß es klang, als wäre eine ganze Meute los.

Travis machte noch einen Schritt und sah, daß sich etwas im Schatten bewegte.

Er erstarrte.

Nichts. Nichts bewegte sich. War es bloß ein Trugbild gewesen? Hinter dem Bogen hingen die Schatten schichtweise wie grauer und schwarzer Krepp.

Zurück, hinaus jetzt! sagte die innere Stimme.

Und wie um sich ihr zu widersetzen, hob Travis einen Fuß, in der Absicht, durch den Bogen zu treten.

Das Ding im Eßzimmer bewegte sich wieder. Diesmal war an seiner Anwesenheit nicht zu zweifeln, denn es schoß jetzt aus der tiefen Dunkelheit am unteren Ende des Raumes heraus, sprang auf den Eßzimmertisch und schoß direkt auf Travis zu. Dabei stieß es einen Schrei aus, daß einem das Blut in den Adern gefror. Travis sah Augen wie Laternen und eine fast menschengroße Gestalt, mißgebildet, soviel war selbst im schwachen Licht zu erkennen. Das Ding war jetzt vom Tisch herunter und kam geradenwegs auf ihn zu.

Einstein sprang vorwärts, um es anzugehen. Travis aber versuchte zurückzuweichen und Zeit für einen Schuß zu gewinnen. Als er abdrückte, glitt er auf den Bücherresten aus und fiel rückwärts. Der Revolver dröhnte, aber Travis wußte, daß er sein Ziel verfehlt hatte und der Schuß in die Decke gegangen war. Einen Augenblick lang, während Einstein auf den Gegner losging, sah Travis das laternenäugige Ding deutlicher, sah, wie sich Alligatorkinnladen bewegten, einen unglaublich breiten Mund in einem klumpigen Gesicht öffneten und gefährlich gekrümmte Zähne freilegten.

»Einstein, nein!« schrie Travis, weil er wußte, daß der Hund in jeder Auseinandersetzung mit diesem Höllengeschöpf in Stücke gerissen werden würde, und feuerte wieder; zweimal, vom Boden aus.

Sein Schrei und die Schüsse brachten nicht nur Einstein zum Stehen, sondern ließen den Feind offenbar darüber nachdenken, ob es sich lohnte, einen bewaffneten Mann anzugreifen. Das Ding drehte sich um, es war schnell, viel schneller als eine Katze, und huschte durch das unbeleuchtete Eßzimmer zur Küchentür. Einen Augenblick lang sah er seine Silhouette im trüben Licht, das von der Küche einfiel, hatte den Eindruck von etwas, das nie dazu bestimmt gewesen war, aufrecht zu stehen, aber dennoch aufrecht stand, mit einem mißgestalteten Kopf, zweimal so groß, als er hätte sein dürfen; einem gekrümmten Rücken und mit Armen, die zu lang waren und in Klauen ausliefen wie die Zinken eines Gartenrechens.

Er feuerte wieder, diesmal knapper am Ziel vorbei. Die Kugel riß Fetzen aus dem Türstock.

Mit einem kreischenden Schrei verschwand die Bestie in der Küche.

Was, in Gottes Namen, war das? Wo war es hergekommen? War es wirklich aus demselben Labor entsprungen, das Einstein hervorgebracht hatte? Aber wie hatten sie diese Monstrosität geschaffen? Und warum? Warum ?

Er war ein belesener Mann. Er hatte in den letzten Jahren den größten Teil seiner Zeit Büchern gewidmet, deshalb fielen ihm jetzt einige Möglichkeiten ein. Gentechnologie ganz zuoberst.

Einstein stand mitten im Eßzimmer, bellte, blickte auf die Tür, durch die das Ding verschwunden war.

Travis kam im Wohnzimmer schwankend auf die Beine, rief den Hund zu sich, und Einstein gehorchte willig.

Er brachte den Hund zum Schweigen, lauschte gespannt. Draußen im Hof rief Nora verzweifelt seinen Namen. Aber aus der Küche war nichts zu hören.

Um Nora zu beruhigen, schrie er: »Ich bin schon in Ordnung! Alles okay! Bleib draußen!«

Einstein zitterte.

Travis konnte das laute Pochen seines Herzens hören, der Schweiß rann ihm fast hörbar über Gesicht und Rücken. Aber er hörte nichts, woraus zu schließen gewesen wäre, wo sich diese Ausgeburt eines Alptraums aufhielt. Er glaubte nicht, daß das Monstrum durch die Hintertür in den Hof entwichen sei. Teils, weil er annahm, die Kreatur werde sich nicht von zu vielen Leuten sehen lassen wollen und deshalb nur nachts ins Freie gehen, sich ausschließlich im Dunkeln von Ort zu Ort bewegen, sofern es ihr gelang, in eine Stadt wie Santa Barbara zu schleichen, ohne entdeckt zu werden. Draußen war es noch hell genug, um den Argwohn des Dings zu erregen. Außerdem spürte Travis seine Nähe, so wie man vielleicht fühlt, daß lemand einen von hinten anstarrt, oder man an einem stickig heißen Tag das Herannahen eines Gewitters fühlen kann. Ja, es war dort draußen, wartete in der Küche, war bereit und wartete.

Vorsichtig kehrte Travis zu einem Mauerbogen zurück und trat in das halbdunkle Eßzimmer.

Einstein blieb dicht neben ihm, winselte jetzt nicht und knurrte und bellte auch nicht. Der Hund schien zu begreifen. daß Travis völlige Stille brauchte, um jedes Geräusch zu hören das die Bestie vielleicht machte.

Travis machte zwei weitere Schritte.

Vor sich konnte er durch die Küchentür eine Ecke des Küchentisches sehen, den Ausguß, den Teil einer Anrichte und zur Hälfte die Spülmaschine. Die untergehende Sonne stand am anderen Ende des Hauses, das Licht in der Küche war schwach, grau, und ihr Widersacher würde deshalb keinen verräterischen Schatten werfen. Vielleicht wartete er neben der Tür oder war auf einen Schrank geklettert, um sich auf Travis. zu stürzen, wenn dieser den Raum betrat.

Jetzt versuchte er, die Bestie auszutricksen. In der Hoffnung sie werde ohne Zögern auf das erste Anzeichen einer Bewegung unter der Tür reagieren, schob Travis den Revolver in den Gürtel, griff sich lautlos einen der Eßzimmerstühle, brachte ihn bis auf zwei Meter an die Küche heran und schleuderte ihn durch die offene Tür. Dann riß er den Revolver aus dem Gürtel und nahm, während der Stuhl in die Küche flog Schießhaltung ein. Der Stuhl krachte gegen den kunststoffbelegten Tisch, knallte zu Boden und gegen die Spülmaschine. Der laternenäugige Feind ging nicht darauf ein. Nichts bewegte sich. Als der Stuhl schließlich zur Ruhe gekommen war, lag wieder erwartungsvolle Stille über der Küche.

Einstein gab ein seltsames Geräusch von sich, ein leises, unregelmäßiges Schnauben, und nach einer Weile begriff Travis, daß das Geräusch die Folge des unkontrollierten Zitterns des Hundes war.

Es stand außer Zweifel: Der Eindringling in der Küche war das Ding, das sie vor mehr als drei Monaten durch den Wald verfolgt hatte. In den Wochen dazwischen hatte die Kreatur sich nach Norden durchgeschlagen, hatte sich wahrscheinlich die meiste Zeit in der Wildnis östlich der besiedelten Abschnitte des Staates weiterbewegt, den Hund vermittels irgendwelcher Travis unverständlicher Fähigkeiten und aus Gründen, die er nicht kannte, unerbittlich verfolgt.

Als Antwort auf den Stuhl, den er geworfen hatte, krachte letzt ein großer weißemaillierter Behälter dicht hinter der Küchentür zu Boden. Travis sprang überrascht zurück und gab einen ungezielten Schuß ab, ehe ihm klarwurde, daß er damit nur verhöhnt werden sollte. Der Deckel flog von dem Behälter, als dieser auf dem Boden aufprallte, Mehl staubte über die Fliesen.

Wieder Stille.

Indem er auf Travis' Herausforderung seinerseits reagierte, hatte der Eindringling enervierende Intelligenz unter Beweis gestellt. Plötzlich wurde Travis bewußt, daß die Kreatur, die ja schließlich aus demselben Forschungslabor wie Einstein kam und das Produkt ähnlicher Experimente sein mußte, möglicherweise ebenso klug war wie der Retriever. Was Einsteins Furcht erklärlich machte. Hätte Travis sich nicht bereits mit der Existenz eines Hundes mit menschenähnlicher Intelligenz vertraut gemacht, er wäre außerstande gewesen, dieser Bestie mehr als bloß tierische Schläue zuzubilligen; aber die Ereignisse der letzten paar Monate hatten ihn darauf vorbereitet, fast alles zu akzeptieren - und sich jeder Situation blitzschnell anzupassen.

Stille.

Nur noch ein Schuß in der Waffe.

Tiefe Stille.

Der Mehlbehälter hatte ihn so erschreckt, daß er gar nicht gemerkt hatte, von welcher Seite der Tür er geworfen worden war, und er war so auf dem Boden aufgeprallt, daß man daraus nicht auf die Position der Kreatur, die ihn geschleudert hatte, schließen konnte. Er wußte immer noch nicht, ob der Eindringling links oder rechts von der Tür stand.

Er war auch gar nicht mehr sicher, ob das für ihn wichtig war. Selbst mit der .357er war es wohl nicht klug, die Küche zu betreten. Nicht, wenn das verdammte Ding so klug war wie ein Mensch. Um Himmels willen, ebenso hätte man sich auf einen Nahkampf mit einer intelligenten Motorsäge einlassen mögen.

Das Licht in der nach Osten gewandten Küche wurde immer schwächer, war jetzt fast verschwunden. Im Eßzimmer, in dem Travis und Einstein standen, nahm die Dunkelheit zu. Selbst hinter ihnen wuchsen im Wohnzimmer trotz offener Tür, Fenster und Stehlampe die Schatten.

In der Küche gab der Eindringling ein lautes Zischen von sich, ein Geräusch wie entweichendes Gas, dem gleich darauf ein Klick, klick, klick folgte, vielleicht von seinen mit scharfen Klauen versehenen Füßen oder Händen, die an eine harte Oberfläche tappten.

Einsteins Zittern hatte jetzt Travis angesteckt. Er fühlte sich als wäre er eine Fliege am Rand eines Spinnennetzes, im Begriff, jeden Augenblick ins Gespinst zu treten.

Ted Hockeys zerbissenes, blutiges, augenloses Gesicht fiel ihm ein.

Klick, klick.

Bei der Antiterroristenausbildung hatte man ihm beigebracht, wie man Menschen beschlich, und er hatte sich dabei recht geschickt angestellt. Aber das Problem hier war, daß der gelbäugige Eindringling vielleicht genauso klug war wie ein Mensch, nur daß man nicht darauf zählen konnte, daß er auch wie ein Mensch dachte. Also hatte Travis keine Ahnung, was er als nächstes tun, wie er auf irgendeine Initiative seinerseits reagieren würde. Also konnte Travis ihn nicht überlisten, ja wegen seiner völlig fremdartigen Natur hatte das Monstrum ihm gegenüber den dauernden und tödlichen Vorteil der Überraschung.

Klick.

Travis trat schnell einen Schritt von der offenen Küchentür zurück, dann noch einen, bewegte sich mit übertriebener Vorsicht, weil er nicht wollte, daß das Ding entdeckte, daß er sich zurückzog. Nur Gott allein wußte, was er tun würde, wenn es merkte, daß er im Begriff war, ihm zu entwischen. Einstein tappte lautlos ins Wohnzimmer, jetzt ebenso darauf bedacht Abstand zwischen sich und den Eindringling zu legen.

Als er Ted Hockneys Leiche erreichte, wandte Travis den Blick vom Eßzimmer ab, suchte nach einer möglichst nicht mit Unrat besudelten Route zur Haustür - und sah Nora neben dem Lehnsessel stehen. Durch die Schüsse erschreckt, hatte sie ein Fleischermesser aus der Küche im Wohnwagen geholt und war gekommen, um zu sehen, ob er Hilfe brauchte.

Ihr Mut beeindruckte ihn; trotzdem erschrak er, sie im Schein der Lampe stehen zu sehen. Plötzlich schien ihm, als wären seine Alpträume, Einstein und Nora zu verlieren, nahe daran, sich zu bewahrheiten. Wieder der Cornell-Fluch! Beide. Nora und Einstein, waren im Haus, beide so gut wie wehrlos, beide in Reichweite des Monstrums in der Küche.

Sie setzte zum Reden an.

Travis schüttelte den Kopf und hob eine Hand an den Mund.

Sie biß sich auf die Unterlippe, ihr Blick wanderte zwischen ihm und dem toten Mann am Boden hin und her.

Während Travis lautlos durch den Unrat am Boden trat, überfiel ihn plötzlich die Angst, der Eindringling sei hinten hinausgegangen, käme jetzt außen um das Haus herum auf die Eingangstür zu, selbst auf die Gefahr hin, im Dämmerlicht von den Nachbarn gesehen zu werden, in der Absicht, blitzschnell hinter ihnen ins Haus zu kommen. Nora stand zwischen Travis und dem Eingang; er würde also kein klares Schußfeld haben, falls es auf diesem Weg hereinkam. Himmel, das Monster würde in Sekundenschnelle Nora packen. Bemüht, nicht in Panik zu geraten und nicht an Hockneys augenloses Gesicht zu denken, bewegte sich Travis jetzt schneller durch das Wohnzimmer, riskierte dabei, daß die Blätter unter seinen Füßen raschelten, hoffte, die Geräusche würden nicht in die Küche dringen, falls der Eindringling noch dort sein sollte. Jetzt hatte er Nora erreicht, packte sie am Arm und schob sie auf die Haustür zu, hinaus und die Stufen hinunter. Er blickte nach links und rechts, rechnete damit, daß der lebende Alptraum sie anspränge. Aber er war nirgends zu sehen.

Die Schüsse und Noras Rufe hatten die Nachbarn der ganzen Umgebung an die Haustüren geholt. Ein paar waren sogar vor ihre Häuser getreten. Ganz sicher hatte jemand auch die Polizei gerufen. Wegen Einsteins Status als vielgesuchter Flüchtling war die Polizei im Augenblick eine fast ebenso große Gefahr wie das gelbäugige Ding im Haus.

Die drei zwängten sich in den Pick-up. Nora verriegelte ihre Tür, Travis die seine. Er ließ den Motor an und fuhr den Wagen - mitsamt dem Anhänger - im Rückwärtsgang zurück auf die Straße. Er wußte, daß die Leute sie anstarrten.

Die Dämmerung würde hier, in Meereshöhe, nur von kurzer Dauer sein. Der sonnenlose Himmel war im Osten bereits schwarz, purpurn über ihnen und im Westen von einem beständig dunkler werdenden Blutrot. Travis war für den nahenden Schutz der Nacht dankbar, obwohl er wußte, daß die gelbäugige Kreatur dieses Schutzes ebenso teilhaftig wurde wie sie.

Er fuhr an den neugierig starrenden Nachbarn vorbei, von denen er in den Jahren seiner selbstauferlegten Einsamkeit keinen kennengelernt hatte, und bog an der ersten Ecke ab. Nora hielt Einstein fest an sich gedrückt, und Travis fuhr, so schnell der Wagen konnte. Der Wohnwagen hüpfte und tanzte hinter ihnen, als er die nächsten paar Kurven mit zu großer Geschwindigkeit nahm.

»Was ist dort drinnen passiert?« fragte sie.

»Es hat Hockney heute oder vielleicht auch gestern getötet... «

»Es?«

»... und gewartet, daß wir nach Hause kommen.«

»Es?« wiederholte sie.

Einstein winselte jämmerlich.

»Ich muß dir das später erklären«, sagte Travis. Dann fragte er sich, ob er es wohl würde erklären können. Keine Beschreibung, die er von dem Eindringling lieferte, würde der Wahrheit gerecht werden; er verfügte nicht über die Worte, das Fremdartige begreiflich zu machen.

Sie hatten höchstens acht Blocks zurückgelegt, als sie Sirenen aus der Richtung hörten, aus der sie kamen. Travis fuhr vier Straßen weiter und parkte auf dem leeren Parkplatz einer Schule.

»Was jetzt?« fragte Nora.

»Wir lassen den Wohnwagen und den Pick-up stehen«, sagte er. »Danach werden sie suchen.«

Er steckte den Revolver in ihre Handtasche. Sie bestand darauf, auch das Fleischermesser hineinzugeben, wollte es keineswegs zurücklassen.

Sie stiegen aus und gingen, während sich die Nacht herabsenkte, an der Schule entlang, über einen Sportplatz, durch ein Tor in einem Drahtzaun auf eine Wohnstraße hinaus, die von Bäumen gesäumt war.

Jetzt, da es Nacht geworden war, verstärkte sich die Brise zu heftigem Wind, heiß und trocken. Er blies ihnen ein paar ausgedörrte Blätter entgegen und jagte Staubteufel über das Pflaster.

Travis wußte, daß sie auch ohne Wohnwagen und Pick-up auffielen. Die Nachbarn würden den Polizisten sagen, sie sollten nach einem Mann, einer Frau und einem Golden Retrievcr Ausschau halten - ein Trio, dem man nicht gerade täglich be-gegnete. Man würde nach ihnen fahnden, um sie bezüglich des Todes von Ted Hockney zu verhören; also würde man die Suchaktion nach ihnen mit allem Nachdruck betreiben. Sie mußten schleunigst verschwinden.

Er hatte keine Freunde, bei denen sie Zuflucht suchen konnten. Nach dem Tode Paulas hatte er sich von seinen wenigen Freunden zurückgezogen und auch mit den Immobilienmaklern, die einmal für ihn tätig gewesen waren, keine Beziehungen aufrechterhalten. Nora hatte dank Violet Devon ebenfalls keine Freunde.

Die Fenster der Häuser, an denen sie vorbeikamen, waren zumeist erleuchtet, und das warme Licht, unerreichbare Zuflucht, schien ihrer zu spotten.

8

Garrison Dilworth wohnte an der grenze zwischen Santa Barbara und Montecito auf einem üppig angelegten Grundstück von zweitausend Quadratmetern in einem stattlichen Tudor-Bau, der nicht besonders gut zu der kalifornischen Flora paßte, dafür aber perfekt zu dem Anwalt. Als er ihnen die Tür öffnete, trug er schwarze Mokassins, graue Hosen, ein marineblaues Sportjackett, ein weißes Strickhemd und eine schildpattgefaßte Halbbrille, über die hinweg er sie überrascht, aber zum Glück nicht mißvergnügt musterte. »Ah, sieh mal an, das junge Paar!«

»Sind Sie allein?« fragte Travis, als er, Nora und Einstein die weitläufige, mit Marmor ausgelegte Halle betraten.

»Allein? Ja.«

Unterwegs hatte Nora Travis informiert, daß die Frau des Anwalts vor drei Jahren gestorben sei und sich jetzt eine Haushälterin namens Gladys Murphy um ihn kümmere.

»Mrs. Murphy?« fragte Travis.

»Sie ist schon nach Hause gegangen«, sagte der Anwalt und schloß die Tür hinter ihnen. »Sie sehen mitgenommen aus. Was, in aller Welt, ist passiert?«

»Wir brauchen Hilfe«, sagte Nora.

»Aber«, warnte Travis, »jemand, der uns hilft, könnte mit dem Gesetz in Konflikt kommen.«

Garrison hob die Brauen. »Was haben Sie angestellt? So wie Sie dreinsehen - nun, würde ich sagen. Sie haben den Präsidenten entführt.«

»Wir haben nichts Unrechtes getan«, versicherte ihm Nora. »Doch - das haben wir«, widersprach Travis. »Und wir tun es immer noch - wir gewähren dem Hund Unterschlupf.«

Verwirrt blickte Garrison mit gerunzelter Stirn auf den Retriever.

Einstein winselte, dabei gleichermaßen jämmerlich und liebenswert wirkend.

»Und in meinem Haus liegt ein Toter«, sagte Travis.

Garrisons Blick löste sich von dem Hund und wanderte zu Travis. »Ein Toter?«

»Travis hat ihn nicht getötet«, sagte Nora.

Garrison sah wieder Einstein an.

»Der Hund auch nicht«, sagte Travis. »Aber man wird mich sicherlich als wichtigen Zeugen haben wollen, ganz sicher sogar.«

»Hmmmm«, machte Garrison. »Warum gehen wir nicht in mein Arbeitszimmer und bringen da etwas Ordnung hinein?«

Er führte sie durch ein riesiges, nur halbbeleuchtetes Wohnzimmer und einen kurzen Flur in ein Arbeitszimmer mit reichlicher Teakvertäfelung und einer Kupferdecke. Die schweren Ledersessel und die Couch sahen teuer und bequem aus. Der polierte Teakschreibtisch war groß und schwer, auf einer der Ecken der Tischplatte stand ein genaues Modell eines fünfmastigen Schoners, der alle Segel gesetzt hatte. Seemännische Gegenstände - ein Schiffssteuerrad, ein Sextant aus Messing, ein mit Talg gefülltes Büffelhorn, in dem Nadeln steckten, wahrscheinlich Segelmachernadeln, sechs Arten von Schiffslaternen, die Glocke eines Rudergängers und Seekarten - dienten als Raumschmuck. Travis sah Fotos von einem Mann und einer Frau auf verschiedenen Segelbooten; der Mann war Garrison.

Auf einem kleinen Tischchen neben einem der Sessel lag ein aufgeschlagenes Buch, daneben stand ein halbgeleertes Glas Scotch. Offenbar hatte sich der Anwalt nach der Arbeit der Muße hingegeben, als sie läuteten. Jetzt bot er ihnen zu trinken an, und beide sagten, sie würden dasselbe nehmen wie er.

Einstein überließ Travis und Nora die Couch und belegte den zweiten Sessel. Er setzte sich aufrecht hin, anstatt sich einzurollen, als habe er vor, an der bevorstehenden Diskussion teilzunehmen.

An einer Bar in der Ecke goß Garrison Chivas Regal in zwei Gläser, in die er vorher Eiswürfel getan hatte. Nora war Whisky nicht gewöhnt, und Travis schaute verdutzt, als sie ihren Drink mit zwei langen Schlucken hinunterkippte und einen neuen erbat. Er entschied, sie habe recht getan, also machte er es ebenso und trug sein leeres Glas zur Bar, während Garrison damit beschäftigt war, das Noras aufzufüllen.

»Ich möchte Ihnen gerne alles erzählen und Ihren Rat hören«, sagte Travis, »aber Sie müssen wirklich wissen, daß Sie sich damit vielleicht mit dem Gesetz anlegen.«

Garrison schraubte den Chivas zu und sagte: »Sie sprechen jetzt als Laie. Als Anwalt kann ich Ihnen versichern, daß das Gesetz keine in Marmor gravierte Linie ist, die über die Jahrhunderte hinweg unbeweglich und unveränderbar wäre. Vielmehr ... ist das Gesetz wie eine Schnur, an beiden Ecken befestigt, aber mit ziemlich viel Bewegungsspielraum - sehr lok-ker also -, so daß man sie dahin und dorthin spannen, sie stärker oder weniger stark durchhängen lassen kann. Und fast immer - abgesehen von eindeutigem Diebstahl oder kaltblütigem Mord - steht man mit Sicherheit auf der richtigen Seite. Das festzustellen ist etwas entmutigend, aber es ist eine Tatsache. Ich habe keine Angst, daß mich irgend etwas, was Sie mir sagen könnten, geradenwegs in eine Zelle bringt, Travis.«

Eine halbe Stunde später hatten Travis und Nora ihm alles über Einstein erzählt. Für einen Mann, dessen einundsiebzigster Geburtstag in wenigen Monaten bevorstand, hatte der silberhaarige Anwalt eine ausgesprochen schnelle Auffassungsgabe und wenig Vorurteile. Er stellte die richtigen Fragen, machte keine spöttischen Bemerkungen. Nach einer zehnminütigen Demonstration von Einsteins unheimlichen Fähigkeiten warf er nicht ein, das alles wären doch nur Tricks, er akzeptierte, was er sah, paßte seine Vorstellungen von dem, was in dieser Welt normal und möglich sei, der neuen Realität an. Damit legte er größere geistige Beweglichkeit und Agilität an den Tag als viele Männer, die nur halb so alt waren wie er. Garrison, der Einstein auf dem großen Ledersessel im Schoß hielt und ihn sanft hinter den Ohren kratzte, meinte; »Wenn Sie zu den Medien gehen, eine Pressekonferenz abhalten und die ganze Geschichte platzen lassen, könnten wir vor Gericht klagen und verlangen, daß Sie den Hund in Ihrem Gewahrsam behalten dürfen.«

»Glauben Sie wirklich, daß das funktionieren würde?« fragte Nora.

»Nun, die Chance ist bestenfalls fifty-fifty«, mußte Garrison zugeben.

Travis schüttelte den Kopf. »Nein. Das riskieren wir nicht.«

»Und was haben Sie vor?« fragte Garrison.

»Abhauen«, sagte Travis. »In Bewegung bleiben.«

»Und was bringt das?«

»Das bringt, daß Einstein in Freiheit bleibt.«

Der Hund wuffte zustimmend.

»Frei - aber wie lange?« fragte Garrison.

Travis stand auf und begann auf und ab zu gehen. Er war zu erregt, um länger zu sitzen. »Die werden nicht aufhören, nach ihm zu suchen«, räumte er ein. »Ein paar Jahre lang nicht.« »Sie werden nie damit aufhören«, sagte der Anwalt.

»Also schön. Es wird schwierig sein. Aber was bleibt uns sonst übrig? Verdammt will ich sein, wenn wir zulassen, daß sie ihn wieder bekommen. Er hat Angst vor dem Labor. Außerdem hat er mich mehr oder weniger ins Leben zurückgeholt ...«

»Und mich hat er vor Streck gerettet«, sagte Nora.

»Er hat uns zusammengebracht«, sagte Travis.

»Unser Leben verändert.«

»Uns radikal verändert. Jetzt ist er genauso ein Teil von uns, wie das unser eigenes Kind wäre«, sagte Travis. Er spürte einen Klumpen in der Kehle, als er den dankbaren Blick des Hundes sah. »Wir kämpfen für ihn, so wie er für uns kämpfen würde. Wir sind eine Familie. Wir leben zusammen... oder sterben zusammen.«

Garrison, der immer noch den Retriever streichelte, sagte: »Nicht nur die Leute aus dem Labor werden nach Ihnen suchen. Und nicht nur die Polizei.«

»Das andere Ding«, sagte Travis und nickte.

Einstein zitterte.

»Ja, ist ja gut, schon gut«, sagte Garrison beruhigend und tätschelte den Hund. Und zu Travis: »Was ist das für eine Kreatur, glauben Sie? Ich habe Ihre Beschreibung gehört, aber das hilft nicht weiter.«

»Was auch immer es ist«, sagte Travis, »Gott hat das nicht geschaffen. Das waren Menschen. Und das bedeutet, daß es ein Produkt der Gentechnologie sein muß, irgendwelche DNS-Forschung - Gott weiß, warum. Gott weiß, was die sich dabei dachten und warum sie so etwas schaffen wollten. Jedenfalls haben sie es getan.«

»Und es scheint die unheimliche Fähigkeit zu besitzen. Sie aufzuspüren.«

»Einstein aufzuspüren«, sagte Nora.

»Also bleiben wir in Bewegung«, sagte Travis. »Und wir werden weit gehen.«

»Das wird Geld erforderlich machen, aber die Banken öffnen erst in zwölf Stunden«, sagte Garrison. »Wenn Sie fliehen wollen, dann sagt mir mein Gefühl, daß Sie noch heute nacht losziehen müssen«.

»Und an dem Punkt könnten wir Ihre Hilfe gebrauchen«, erklärte Travis.

Nora öffnete ihre Handtasche und holte zwei Scheckbücher heraus - das von Travis und ihr eigenes. »Garrison, wir möchten einen Scheck auf Travis' Konto und einen auf meines ausstellen, zahlbar an Sie. Er hat nur dreitausend auf dem Konto, aber bei derselben Bank ein großes Sparkonto, und die sind bevollmächtigt, Übertragungen vorzunehmen, um Überziehungen zu vermeiden. Mit meinem Konto ist es genauso. Wenn wir Ihnen einen Scheck von Travis über zwanzigtausend geben - zurückdatiert, damit es aussieht, als wäre er vor all diesen Schwierigkeiten ausgestellt - und einen von mir ebenfalls über zwanzigtausend, dann könnten Sie beides auf Ihr Konto überweisen lassen. Sobald die Gutschrift erfolgt ist, kaufen Sie acht Bankanweisungen zu je fünftausend und schicken sie uns.«

Jetzt schaltete Travis sich ein: »Die Polizei wird mich verhören wollen, aber sie wird auch wissen, daß ich Ted Hockncy nicht getötet habe, weil ihn ein Mensch einfach nicht so in Stücke gerissen haben kann. Also werden sie meine Konten nicht sperren.«

»Falls die Bundesbehörden hinter den Forschungsarbeiten stehen, durch die Einstein und diese Kreatur produziert worden sind«, sagte Garrison, »dann sind die ganz wild darauf.

Sie in die Hand zu bekommen. Und die könnten Ihre Konten einfrieren.«

»Vielleicht. Aber wahrscheinlich nicht gleich. Sie sind hier in derselben Stadt, also sollte Ihre Bank die Gutschrift für meinen Scheck spätestens am Montag vornehmen.«

»Und welche Mittel stehen Ihnen bis dahin zur Verfügung, während Sie darauf warten, daß ich Ihnen die vierzigtausend schicke?«

»Wir haben von der Reise noch etwas Bargeld und Reiseschecks übrig«, erklärte Nora.

»Und meine Kreditkarten«, fügte Travis hinzu.

»Über die Kreditkarten und Travellerschecks könnten die Ihren Aufenthaltsort rauskriegen.«

»Ich weiß«, sagte Travis. »Also werde ich sie an einem Ort benutzen, wo wir nicht vorhaben zu bleiben, und dann so schnell wie möglich von dort verschwinden.«

»Wenn ich die Bankanweisungen für die vierzigtausend habe - wo schicke ich sie hin?«

»Wir melden uns telefonisch«, sagte Travis, ging zu der Couch zurück und setzte sich neben Nora. »Wir werden uns etwas überlegen.«

»Und der Rest Ihres Besitzes - und der Noras?«

»Darüber zerbrechen wir uns später den Kopf«, sagte Nora. Garrison runzelte die Stirn. »Ehe Sie hier abreisen, Travis, könnten Sie einen Brief unterzeichnen und mir das Recht übertragen. Sie in allen juristischen Angelegenheiten zu vertreten, die sich vielleicht ergeben. Wenn jemand versucht. Ihren Besitz oder den Noras einzufrieren, dann kann ich das verhindern, falls es überhaupt möglich ist - wenn ich mich auch so lange im Hintergrund halten werde, bis man mich mit Ihnen in Verbindung bringt.«

»Noras Besitz ist vermutlich eine Weile sicher. Sie und ich haben nur Ihnen von der Hochzeit erzählt. Die Nachbarn werden der Polizei sagen, daß ich in Begleitung einer Frau weggegangenen bin, aber sie werden nicht wissen, wer sie ist. Haben Sie jemandem von uns erzählt?«

»Nur meiner Sekretärin, Mrs. Ashcroft. Aber die klatscht nicht.«

»Also gut denn«, sagte Travis. »Ich glaube nicht, daß die Behörden etwas von der Hochzeit erfahren, also dauert es vielleicht eine ganze Weile, bis sie auf Noras Namen stoßen. Dann aber werden sie auch herausfinden, daß Sie ihr Anwalt sind. Falls meine Konten überwacht werden, in der Hoffnung, über von mir ausgeschriebene Schecks herauszufinden, wohin ich gegangen bin, werden sie über die zwanzigtausend, die ich Ihnen bezahlt habe, Bescheid wissen, und man wird Sie aufsuchen ... «

»Was mich nicht im geringsten beunruhigt«, meinte Garrison.

»Mag sein«, sagte Travis. »Aber sobald man mich mit Nora und uns beide mit Ihnen in Verbindung bringt, wird man Sie scharf beobachten. Und wenn das passiert... müssen Sie uns das bei unserem nächsten Anruf sofort sagen, damit wir auflegen und allen Kontakt mit Ihnen abbrechen können.«

»Ich verstehe genau«, sagte der Anwalt.

»Garrison«, sagte Nora, »Sie brauchen sich da nicht hineinziehen zu lassen. Wir verlangen wirklich zu viel von Ihnen.« »Hören Sie, meine Liebe, ich bin fast einundsiebzig. Meine Anwaltspraxis macht mir immer noch Spaß, und ich gehe immer noch segeln ... Aber, offen gestanden, ich finde in letzter Zeit das Leben ein wenig langweilig. Diese Geschichte ist genau das, was ich brauche, um mein altes Blut wieder in Wallung zu bringen. Außerdem glaube ich, daß Sie einfach die Verpflichtung haben mitzuhelfen, daß Einstein in Freiheit bleibt; nicht nur aus den Gründen, die Sie erwähnt haben, sondern weil... weil die Menschheit nicht das Recht hat, ihr Genie zur Erschaffung einer anderen intelligenten Gattung zu benützen und diese dann wie Eigentum zu behandeln. Wenn wir so weit gekommen sind, daß wir erschaffen können, wie Gott erschafft, dann müssen wir auch lernen, mit der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit Gottes zu handeln. Und in diesem Fall erfordern Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, daß Einstein frei bleibt.«

Einstein hob den Kopf vom Schoß des Anwalts, blickte ihn bewundernd an und schob dann seine kalte Nase unter Garrisons Kinn.

In der drei Wagen Platz bietenden Garage hatte Garrison einen neuen schwarzen Mercedes 560 SEL, einen älteren weißen Mercedes 500 SEL mit hellblauer Polsterung und einen grünen Jeep stehen; den letzteren benützte er hauptsächlich dazu, zum Yachthafen zu fahren, wo sein Boot lag.

»Der weiße hat einmal Francine, meiner Frau, gehört«, sagte der Anwalt, als er sie zu dem Wagen führte. »Ich benütze ihn nicht mehr oft, aber ich halte ihn gut in Schuß und fahre gelegentlich damit, damit die Reifen nicht leiden. Ich hätte ihn loswerden sollen, als Franny starb. Schließlich war es ihr Wagen. Aber... sie hat es so geliebt, das weiße Glitzerding, und ich erinnere mich genau daran, wie sie aussah, wenn sie hinter dem Steuer saß ... Ich möchte, daß Sie ihn nehmen.«

»Einen Fluchtwagen im Wert von sechzigtausend Dollar?" sagte Travis und strich mit der Hand über die auf Hochglanz polierte Motorhaube. »Das nennt man stilgerecht abhauen.«

»Niemand wird nach dem Wagen Ausschau halten«, sagte Garrison. »Selbst wenn man mich schließlich mit Ihnen beiden in Verbindung bringt, werden sie nicht wissen, daß ich Ihnen einen meiner Wagen gegeben habe.«

»Etwas so Teures können wir unmöglich annehmen«, sagte Nora.

»Nennen Sie es eine Leihgabe«, meinte der Anwalt. »Wenn Sie ihn nicht mehr brauchen, sobald Sie einen anderen Wagen beschafft haben, parken Sie ihn irgendwo - an einem Busterminal, einem Flughafen - und rufen mich an und sagen mir wo er ist. Dann kann ich jemanden hinschicken, um ihn abzuholen.«

Einstein legte die Vorderpfoten auf die Fahrertür des Mercedes und spähte durch die Seitenscheibe in den Wagen. Er sah Travis und Nora an und wuffte, als wollte er sagen, sie müßten verrückt sein, ein solches Angebot auszuschlagen.

9

Mit Travis am Steuer verließen sie Garrison Dilworths Haus um viertel nach zehn Uhr nachts auf der Route 101 nach Norden. Um halb eins passierten sie San Luis Obispo und kamen um ein Uhr morgens an Paso Robles vorbei. Um zwei Uhr hielten sie eine Stunde südlich von Salinas an einer Selbstbedienungstankstelle, um zu tanken.

Nora kam sich überflüssig vor; nicht einmal am Steuer Konnte sie Travis ablösen, weil sie nicht fahren konnte. In gewissem Maße war das Violet Devons Schuld, nicht Noras; einfach eine weitere Folge des Lebens in Abgeschiedenheit und Unterdrückung. Dennoch fühlte sie sich völlig nutzlos und war mit sich unzufrieden. Aber sie würde nicht den Rest ihres Lebens hilflos bleiben. Verdammt noch mal, das würde sie nicht. Sie würde fahren lernen und den Umgang mit Feuerwaffen. Travis konnte sie beides lehren. Und aufgrund seiner Ausbildung konnte er sie auch in den Kriegskünsten instruie-ren, in Judo oder Karate. Er war ein guter Lehrer. Die Kunst des Liebens hatte er ihr jedenfalls großartig beigebracht. Beim Gedanken daran mußte sie lächeln, und langsam legte sich ihre selbstkritische Stimmung.

In den nächsten zweieinhalb Stunden während der Fahrt nordwärts nach Salinas und weiter nach San Jose fiel Nora gelegentlich in unruhigen Schlaf. Wenn sie nicht schlief, waren ihr die Meilen Asphalt, die sie hinter sich zurückließen, ein Trost. Zu beiden Seiten der Fernstraße schienen endlose Flächen Farmlandcs im frostbleichen Mondlicht zu ihnen herüber ins Unendliche zu ziehen. Als der Mond unterging, fuhren sie weite Strecken in völliger Dunkelheit, ehe sie gelegentlich an einer Farm oder an ein paar Geschäften an der Straße ein Licht entdeckten.

Das gelbäugige Ding hatte Einstein von den Santa-Ana-Ausläufern in Orange County bis Santa Barbara verfolgt - eine Strecke von mehr als hundertachtzig Kilometern Luftlinie, hatte Travis gesagt, und wahrscheinlich beinahe achthundert Kilometer zu Fuß in der Wildnis -, und das in drei Monaten. Nicht besonders schnell. Wenn sie daher von Santa Barbara siebenhundert Kilometer nach Norden fuhren, ehe sie sich ein Versteck irgendwo in der Umgebung von San Francisco suchten, würde der Verfolger sie vielleicht erst in sieben oder acht Monaten erreichen. Vielleicht sogar nie. Über eine wie große Distanz konnte er Einstein ausschnüffeln? Ohne Zweifel gab es auch für seine unheimliche Fähigkeit, den Hund aufzuspüren, Grenzen. Sicherlich gab es die.

10

Am Donnerstagmorgen um elf uhr stand Lemuel Johnson in-. Schlafzimmer des kleinen Hauses, das Travis Cornell in Santa Barbara gemietet hatte. Der Ankleidespiegel war zerschlagen worden. Auch der Rest des Zimmers war demoliert, als hätte den Outsider eifersüchtige Wut erfaßt, als er sah, daß der Hund in häuslicher Behaglichkeit lebte, während er gezwungen war, durch die Wildnis zu ziehen und in vergleichsweise primitiven Umständen zu leben.

In dem Unrat, der den Boden bedeckte, fand Lem vier silbergerahmte Fotografien, die wahrscheinlich auf der Kommode oder den Nachttischen gestanden hatten. Das erste zeigte Cornell und eine attraktive Blondine. Lem hatte inzwischen bereits genug über Cornell in Erfahrung gebracht, um zu wissen, daß die Blondine seine verstorbene Frau Paula sein mußte. Ein anderes Foto, die Schwarzweißaufnahme eines Mannes und einer Frau, war so alt, daß Lem annahm, die in die Kamera lächelnden Leute seien Cornells Eltern.

Das dritte, ebenfalls alt, ebenfalls in Schwarzweiß, zeigte einen etwa elf- oder zwölfjährigen Jungen; hierbei mochte es sich um eine Aufnahme von Travis Cornell selbst handeln wahrscheinlicher jedoch um die des Bruders, der in jungen Jahren gestorben war.

Das letzte der vier Fotos zeigte zehn Soldaten, die sich um die Holztreppe vor einer Baracke gruppiert hatten und in die Kamera grinsten. Einer der zehn war Travis Cornell. Auf einigen der Uniformen bemerkte Lem das auffällige Abzeichen der Delta Force, des Elitekorps zur Terroristenbekämpfung.

Dieses letzte Foto beunruhigte ihn. Lem stellte es auf die Kommode und ging ins Wohnzimmer zurück, wo Cliff noch immer in dem blutbesudelten Durcheinander jeden Fußbreit prüfte. Sie suchten nach etwas, das für die Polizei von keiner Bedeutung sein mochte, für sie aber äußerst wichtig sein könnte.

Die NSA hatte spät von dem Mord in Santa Barbara erfahren, und Lem war erst kurz vor sechs Uhr morgens alarmiert worden. Demzufolge hatte die Presse bereits über die grausigen Einzelheiten der Ermordung Ted Hockneys berichtet. Die Zeitungen ergingen sich voll Enthusiasmus in wilden Spekulationen darüber, was wohl Hockney getötet haben könnte, wobei sie sich in erster Linie auf die Theorie konzentrierten, Cornell habe irgendein exotisches, gefährliches Haustier gehalten, vielleicht einen Geparden oder einen Panther, und das Tier habe den nichtsahnenden Vermieter angegriffen, als dieser das Haus betrat. Die Fernsehkameras hatten sich liebevoll mit den zerfetzten und blutbesudelten Büchern befaßt. Das war Stoff, wie der »National Enquirer< ihn seinen Lesern servierte, was Lem nicht überraschte, weil er die Meinung vertrat, daß der Unterschied zwischen Sensationsblättern wie dem >Enquirer<

und den sogenannten >anerkannten< Medien - besonders den elektronischen - oft kleiner war, als das die meisten Journalisten sich eingestehen wollten.

Lem hatte bereits eine Desinformationskampagne geplant und in Gang gesetzt, um die in die Irre gehende Hysterie der Presse über in Freiheit befindliche Dschungelkatzen zu nähren. Von der NSA bezahlte Informanten würden auftreten, behaupten, Travis zu kennen, und sich dafür verbürgen, daß er tatsächlich außer einem Hund auch einen Panther im Hause gehalten habe. Andere, die Cornell nie begegnet waren, würden sich als seine Freunde zu erkennen geben und besorgt melden, sie hätten ihn immer wieder gedrängt, dem Panther bei Erreichen der Reife Zähne und Klauen abfeilen zu lassen. Die Polizei würde daraufhin Cornell und die unidentifizierte Frau - bezüglich des Panthers und dessen augenblicklichen Aufenthaltsortes verhören wollen.

Lem war zuversichtlich, daß es gelingen würde, die Presse auf diese Weise herrlich von allen Nachforschungen abzulenken, die sie näher an die Wahrheit heranführen könnten. Natürlich würde Walt Gaines unten in Orange County von diesem Mord hören, an die hiesigen Behörden freundliche Anfragen richten und schnell den Schluß ziehen, daß der Outsider den Hund so weit nach Norden verfolgt hatte. Lem war wohl beim Gedanken, daß Walt sich verpachtet hatte, ihn zu unterstützen.

Als Lem das Wohnzimmer betrat, in dem Cliff Soames tätig war, fragte er: »Was gefunden?«

Der junge NSA-Agcnt richtete sich auf, klopfte sich die Hände ab und sagte: »Ja. Ich hab' es auf den Eßzimmertisch gelegt.«

Lem folgte ihm ins Eßzimmer, wo als einziger Gegenstand ein dickes Ringbuch auf dem Tisch lag. Als er es aufschlug und darin blätterte, sah er aus Zeitschriften ausgeschnittene Fotos die jeweils auf die linken Seiten geklebt waren. Rechts neben jedem Foto war der Name des abgebildeten Gegenstandes in großen Blockbuchstaben zu lesen: BAUM, HAUS, WAGEN ... »Was halten Sie davon?«

Mit gerunzelter Stirn und ohne ein Wort zu sagen, fuhr Lem fort, in dem Buch zu blättern. Er wußte, das Buch war wichtig erriet aber nicht gleich, weshalb. Und dann kam ihm die Idee-»Das ist eine Fibel. Um das Lesen zu lehren.«

»Ja«, sagte Cliff.

Lem sah, daß sein Assistent lächelte. »Sie meinen, die müssen wissen, daß der Hund intelligent ist und daß er ihnen seine Fähigkeiten offenbart hat? Und dann... dann haben die beschlossen, ihm das Lesen beizubringen?«

»Sieht so aus«, sagte Cliff und lächelte immer noch. »Du lieber Gott, halten Sie das für möglich? Könnte man ihm das Lesen beibringen?«

»Ohne Zweifel«, sagte Lem. »Tatsächlich stand Leseunterricht auf Dr. Weatherbys Zeitplan für diesen Herbst.«

»Da soll mich doch der Teufel holen!« sagte Cliff und schüttelte den Kopf.

»Ehe Sie sich daran zu sehr begeistern«, meinte Lem, »sollten Sie besser die Situation bedenken. Dieser Bursche weiß daß der Hund erstaunlich klug ist. Vielleicht ist es ihm gelungen, ihm das Lesen beizubringen. Also müssen wir auch damit rechnen, daß er eine Methode entwickelt hat, sich mit ihm zu verständigen. Er weiß, daß er ein Versuchstier ist. Er muß wissen, daß eine Menge Leute nach ihm suchen.«

Cliff unterbrach ihn: »Dann muß er auch über den Outsider Bescheid wissen, weil der Hund eine Möglichkeit gefunden haben wird, es ihm mitzuteilen.«

»Ja. Und trotzdem, obwohl er das alles weiß, hat er es vorgezogen, nicht an die Öffentlichkeit zu treten. Er hätte die Geschichte dem Meistbietenden verkaufen können. Aber das hat er nicht. Oder er hätte die Presse herbeirufen und das Pentagon hochgehen lassen können, weil es diese Art Forschungen unterstützt.«

»Aber er hat es nicht getan«, sagte Cliff und runzelte die Stirn.

»Was bedeutet, vor allem anderen bedeutet, daß er eine Bindung zu dem Hund hat und ihn behalten und verhindern möchte, daß er wieder eingefangen wird.«

Cliff nickte. »Das ergibt durchaus einen Sinn, wenn stimmt, was wir über ihn gehört haben. Ich meine, dieser Typ hat als junger Mensch seine ganze Familie verloren. Und seine Frau nach weniger als einem Jahr. Und alle seine Kumpel bei der Delta Force. Also ist er zum Einsiedler geworden, hat sich von allen seinen Freunden abgekapselt. Verdammt einsam muß er gewesen sein. Und dann taucht der Hund auf...«

»Genau«, sagte Lem. »Und für einen Mann mit der Ausbildung der Delta Force dürfte es nicht zu schwierig sein, in Dek-kung zu bleiben. Und wenn wir ihn finden, dann wird er auch wissen, wie er für den Hund kämpfen muß. Herrgott, und wie er das wissen wird!«

»Das Gerücht von wegen Delta Force ist noch nicht bestätigt«, sagte Cliff hoffnungsvoll.

»Doch, ich hab's gerade bestätigt bekommen«, sagte Lem und beschrieb das Foto, das er in dem zerwühlten Schlafzimmer gesehen hatte.

Cliff seufzte. »Dann sitzen wir ganz schön in der Scheiße.« »Bis zum Hals«, pflichtete Lem ihm bei.

11

Sie hatten San Francisco um sechs Uhr früh am Donnerstagmorgen erreicht und um halb sieben ein geeignetes Motel ge-runden - eine weitläufige Anlage, die einen modernen und sauberen Eindruck machte. Tiere waren dort nicht erwünscht, aber es war nicht schwierig gewesen, Einstein ins Zimmer zu schmuggeln.

Obwohl eine gewisse Chance bestand, daß ein Haftbefehl gegen Travis ergangen war, trug er sich in dem Motel unter seinem Namen ein. Er hatte keine andere Wahl, weil Nora weder Kreditkarten noch einen Führerschein besaß. Heutzutage wurde am Empfang zwar Bargeld angenommen, aber nicht ohne Ausweis; der Computer der jeweiligen Motelkette verlangte Daten über die Gäste.

Marke und Zulassungsnummer seines Wagens gab er freilich nicht korrekt an; er hatte nämlich außer Sichtweite des Büros geparkt, weil er vor dem Angestellten diese Einzelheiten verheimlichen wollte.

Sie nahmen nur ein Zimmer und behielten Einstein bei sich Travis war so erschöpft, daß er Nora gerade noch einen Gutenachtkuß geben konnte, ehe er in tiefen Schlaf sank. Er träumte von Kreaturen mit gelben Augen, mißgestaltetem Kopf und einem Krokodilmaul voll Haifischzähnen.

Fünf Stunden später, zehn Minuten nach zwölf Uhr mittags, wachte er auf.

Nora war vor ihm aufgestanden, hatte geduscht und dann die einzigen Kleider, die sie bei sich hatte, wieder angezogen Ihr Haar war feucht und klebte bezaubernd an ihrem Nacken »Das Wasser ist schön heiß«, sagte sie.

»Das bin ich auch«, sagte er und umarmte und küßte sie. »Dann solltest du dich besser abkühlen«, sagte sie und entzog sich ihm. »Da sind kleine Ohren, die uns belauschen.« »Einstein? Der hat große Ohren.«

Im Badezimmer fand er Einstein auf dem Waschtisch Steher. und aus dem Waschbecken trinken, das Nora für ihn mit kaltem Wasser gefüllt hatte.

»Weißt du. Pelzgesicht, für die meisten Hunde ist die Toilette eine völlig ausreichende Trinkwasserquelle.«

Einstein nieste ihn an, sprang vom Waschtisch und trottete aus dem Bad.

Travis hatte kein Rasierzeug mit, fand aber, daß ein eintägiger Stoppelbart ihm genau das Aussehen liefern würde, das er für die Arbeit brauchte, die er sich für heute abend im Tender-loin-Viertel vorgenommen hatte.

Sie verließen das Motel und aßen im nächsten McDonald's das sie finden konnten. Nach dem Mittagessen fuhren sie zu einer Zweigstelle der Santa-Barbara-Bank, bei der Travis sein Scheckkonto unterhielt. Sie benutzten seine Computer-Bankkarte, seine Mastercard und zwei seiner Visa-Karten, um insgesamt vierzehnhundert Dollar in bar abzuheben. Anschließend suchten sie ein Büro von American Express auf und besorgten sich dort mit seiner Gold Card die maximal zulässigen Dollars in bar und viertausendfünfhundert in Reiseschecks. Zusammen mit den zweitausendeinhundert in bar und den Reiseschecks, die von ihren Flitterwochen übriggeblieben waren, verfügten sie jetzt über achttausendfünfhundert Dollar in flüssigen Mitteln.

Den restlichen Nachmittag bis zum frühen Abend gingen sie einkaufen. Mit den Kreditkarten kauften sie einen kompletten Satz Gepäckstücke und genügend Kleidung, um die Koffer damit zu füllen. Hinzu kamen Toilettenartikel für sie beide und ein elektrischer Rasierapparat für Travis.

Travis kaufte auch ein Scrabble-Spiel, und Nora sagte: »Du bist doch nicht in der Stimmung für Spiele, oder?«

»Nein«, erwiderte er geheimnisvoll und genoß ihre Verblüffung sichtlich. »Das erkläre ich dir später.«

Eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang, als sie die Einkäufe im geräumigen Kofferraum des Mercedes verstaut hatten, fuhr Travis ins Herz von San Franciscos Tenderloin, jenem Teil der Stadt, der unterhalb der O-Farrell Street eingezwängt zwischen Market Street und Van Ness Avenue liegt. Es war ein Viertel mit schmierigen Bars, in denen Oben-ohne-Tänze-rinnen auftraten, Go-go-Kneipen, wo die Mädchen überhaupt nichts anhatten, Salons, wo Männer pro Minute dafür bezahlten, bei nackten jungen Frauen sitzen zu dürfen und über Sex zu reden, wo man aber gewöhnlich mehr als bloß Gespräche geboten bekam.

Diese Entartungen waren für Nora eine schockierende Entdeckung, da sie doch angefangen hatte, sich für erfahren und weltoffen zu halten. Auf eine Jauchegrube wie Tenderloin war sie nicht vorbereitet gewesen. Die Augen gingen ihr über beim Anblick der grellen Neonreklamen, die Peepshows, Damenschlammringkämpfe, schwule Bäder und Massagesalons anpriesen. Einige der Aufschriften waren ihr völlig unverständlich, und sie fragte: »Was heißt das eigentlich - >mit Blick ins Himmelreich

Während er nach einem Parkplatz suchte, sagte Travis: »Das heißt, daß die Mädchen völlig nackt tanzen und während ihres Tanzes die Schamlippen auseinanderschieben, um mehr von sich sehen zu lassen.«

»Nein!«

»Ja.«

»Mein Gott. Ich glaub' es nicht. Das heißt, ich glaube es -aber ich kann's nicht glauben. Und was heißt »extreme Nah-aufnahme

»Das heißt, daß die Mädchen dicht an den Tischen der Gäste tanzen. Das Gesetz erlaubt keine Berührung, aber die Mädchen tanzen sehr nahe und schwingen den Gästen den Busen ins Gesicht. Man könnte vielleicht ein oder zwei, ganz bestimmt aber nicht drei Blatt Papier zwischen ihre Brustwarzen und die Lippen der Männer schieben«

Einstein schnaubte auf dem Rücksitz, als empfände er Ekel.

»Ganz deiner Meinung«, sagte Travis.

Sie kamen an einem krebsig aussehenden Lokal mit abwechselnd aufblitzenden roten und gelben Glühbirnen und blauen und purpurfarbenen Neonröhren vorbei, dessen Aufschrift LIVE SEX SHOW versprach.

Angewidert sagte Nora: »Mein Gott, >live sex

Travis mußte so lachen, daß er fast mit einer Wagenladung dumm glotzender Collegeknaben kollidiert wäre. »Nein, nein nein. Selbst der Tenderloin hat seine Grenzen. >Live< meint nur das Gegenteil von >auf Film<. Man kann hier eine Menge Sex auf Film sehen, Kinos, die nur Pornografie zeigen. Aber die Kneipe hier verspricht live Sex auf der Bühne. Ich weiß nicht ob sie ihr Versprechen auch halten.«

»Und ich bin nicht daran interessiert, es genauer zu wissen!« sagte Nora, und das klang, als wäre sie Dorothy aus Kansas und gerade ins unbeschreibbare, neuartige Nachbarland von Oz eingewandert. »Was machen wir hier?«

»Das hier ist das Viertel, in das man geht, wenn man Dinge finden möchte, die auf dem Nob Hill nicht verkauft werden -wie zum Beispiel ganz junge Knaben oder wirklich große Mengen Dope. Oder falsche Führerscheine und andere gefälschte Papiere.«

»Oh«, sagte sie. »O ja, jetzt verstehe ich. Dieses Viertel wird von der Unterwelt kontrolliert, von Leuten wie den Corleones im >Paten<.«

»Ich bin sicher, daß die Mehrzahl dieser Kneipen der Mafia gehört«, sagte er, während er den Mercedes in eine Parklücke manövrierte. »Aber mach bloß nie den Fehler, die echte Mafia für nette, ehrenwerte Typen wie die Corleones zu halten.«

Einstein war damit einverstanden, im Mercedes zu bleiben. »Ich will dir was sagen, Pelzgesicht. Wenn wir wirklich Glück haben«, scherzte Travis, »dann beschaffen wir auch dir eine neue Identität. Und machen einen Pudel aus dir.«

Als sich das Zwielicht über die Stadt legte, stellte Nora zu ihrer Überraschung fest, daß die Brise von der Bucht herein so kühl war, daß sie die Nylonsteppjacken brauchten, die sie am Tage gekauft hatten.

»Die Nächte können hier selbst im Sommer kühl werden«, sagte er. »Bald kommt der Nebel. Die tagsüber in der Stadt aufgestaute Hitze zieht ihn vom Wasser herein.«

Selbst wenn die Abendluft mild gewesen wäre, hätte er sein ackert getragen, denn er hatte sich den geladenen Revolver in den Gürtel gesteckt und brauchte das Jackett, um ihn zu verbergen.

»Meinst du, daß du die Waffe wirklich brauchen kannst?« fragte sie, als sie den Wagen stehenließen und zu Fuß weitergingen.

»Höchstwahrscheinlich nicht. Ich trage den Revolver hauptsächlich als eine Art Ausweis.«

»Was?«

»Wirst schon sehen.«

Sie schaute zum Wagen zurück, wo Einstein ihnen durch das Heckfenster nachstarrte und dabei wie im Stich gelassen dreinsah.

Travis schien sich nur für jene Bars zu interessieren, deren Schilder entweder sowohl englische als auch spanische oder nur spanische Aufschriften hatten. Einige Lokale waren ausgesprochen schäbig, gaben sich gar nicht die Mühe, die abblätternde Farbe und den verschimmelten Teppichboden zu verbergen, während andere Spiegel und raffinierte Beleuchtung benutzten, um zu überdecken, daß sie in Wahrheit nur Ungezieferhöhlen waren. Ein paar waren sogar sauber und hatten aufwendiges Dekor. In jedem der Lokale sprach Travis in spanischer Sprache mit dem Barkeeper, manchmal auch mit Musikern, wenn welche da waren und gerade Pause machten, und ein paarmal verteilte er zusammengefaltete Zwanzigdollarscheine. Da Nora kein Spanisch sprach, wußte sie nicht, wonach er sich erkundigte oder weshalb er diese Leute bezahlte. Als sie dann auf der Straße waren und eine weitere dieser miesen Kneipen suchten, erklärte er ihr, daß die illegalen Einwanderer großteils aus Mexiko, San Salvador und Nicaragua kämen - verzweifelte Menschen, die vor wirtschaftlichen-. Chaos und politischer Unterdrückung geflohen seien. Deshalb interessierten sich wesentlich mehr spanisch sprechende Illegale für falsche Papiere als Vietnamesen, Chinesen oder die Angehörigen aller anderen Sprachgruppen zusammengenommen. »Und deshalb bekommt man am schnellsten Zugang zu einem Lieferanten falscher Papiere, wenn man die Latino-Un-terwclt anzapft.«

»Und hast du schon einen Hinweis?«

»Bis jetzt noch nicht. Nur ein paar Bruchstücke. Und wahrscheinlich ist neunundneunzig Prozent von dem, wofür ich bisher bezahlt habe, Unsinn und Lüge. Aber keine Sorge -wir finden schon, was wir brauchen. Das ist auch der Grund weshalb der Tenderloin immer im Geschäft bleiben wird: Leute, die hierherkommen, finden immer, was sie brauchen.«

Die Leute, die man hier antraf, setzten Nora in Erstaunen Auf den Straßen und in den Oben-ohne-Bars konnte man alles finden. Asiaten, Latinos, Weiße, Schwarze und sogar Indianer vermengten sich im alkoholischen Nebel, so daß es den Anschein hatte, als wäre die Harmonie zwischen den Rassen ein wohltätiger Nebeneffekt der Jagd nach der Sünde. Da gab e? Burschen, die in Lederjacken und Jeans herumstolzierten, andere, die wie Kriminelle aussahen. Und damit hatte sie mehr oder weniger gerechnet. Aber dann gab es auch Männer in Straßenanzügen, gepflegt aussehende junge Leute, die wie Studenten wirkten, andere wiederum, die wie Cowboys gekleidet waren, daneben vor Gesundheit strotzende Surfertypen, die aussahen, als wären sie geradenwegs aus einem alten Annette-Funicello-Film herausgetreten. Landstreicher saßen auf dem Pflaster oder lungerten an den Ecken herum. Verwitterte alte Wermutbrüder in stinkenden Kleidern und selbst einige der Typen in Straßenanzügen hatten ein so komisches Flackern in den Augen, daß man nicht übel Lust hatte, vor ihnen davonzurennen. Aber es schien, als wären die meisten der Leute hier von der Art, wie sie in jeder anständigen Umgebung als ganz gewöhnliche rechtschaffene Bürger gelten konnten. Nora war verblüfft.

Frauen gab es auf den Straßen oder in Gesellschaft der Männer in den Bars nicht viele. Nein, das stimmte nicht: Es waren Frauen zu sehen, aber sie wirkten viel ordinärer als die nackten Tänzerinnen, und nur wenige von ihnen schienen nicht käuflich.

In einer Oben-ohne-Bar, die sich >Hot Tips< nannte und in der es Aufschriften in spanischer und englischer Sprache gab, war die Rockmusik aus den Lautsprechern so laut, daß Nora der Kopf dröhnte. Sechs erlesen schöne Mädchen mit makellosem Körper, nur mit hohen Absätzen und straßbestickten Bikinihöschen bekleidet, tanzten an den Tischen vor rotgesichti-gen Männern, die sie entweder wie hypnotisiert anstarrten oder grölten und klatschten. Andere Oben-ohne-Mädchen, ebenso hübsch, arbeiteten als Bedienung.

Während Travis sich in Spanisch mit dem Barkeeper unterhielt, bemerkte Nora, daß einige der Kunden sie abschätzend ansahen. Ihr wurde fast übel dabei. Sie legte die Hand auf Travis' Arm, und man hätte sie in diesem Augenblick mit einer Brechstange nicht von ihm trennen können.

Der Gestank von abgestandenem Bier und Whisky, KörperGeruch, die übereinandergelagerten Düfte verschiedener billiger Parfüms und Zigarettenrauch machten die Luft schwer, wie in einem Dampfbad, wenn auch bei weitem nicht so gesund.

Nora biß die Zähne zusammen und dachte: Mir wird jetzt nicht schlecht, ich werde mich hier nicht zum Narren machen, auf keinen Fall werd' ich das.

Nach ein paar Minuten schnell geführter Unterhaltung schob Travis dem Barkeeper ein paar Zwanziger hin und wurde in den hinteren Teil der Bar gewiesen, wo ein Bursche, groß wie Arnold Schwarzenegger, auf einem Stuhl neben einer Durchgangstür saß, die von einem dichten Perlvorhang verdeckt war. Er trug schwarze Lederjeans und ein weißes T-Shirt. Seine Arme schienen dick wie Baumstämme. Sein Gesicht sah aus, als wäre es in Zement gegossen, und er hatte, graue Augen, fast so transparent wie Glas. Travis sagte etwas in Spanisch zu ihm und schob ihm zwei Zwanziger hin.

Die Musik mäßigte sich von einem donnernden Heulen zu einem bloßen Dröhnen. Eine Frau, die in ein Mikrofon sprach. verkündete: »Also, Boys, wenn euch das gefällt, was ihr hier zu sehen bekommt, dann zeigt es - fangt an, die Muschis zu stopfen.«

Nora zuckte schockiert zusammen; aber als die Musik wieder lauter wurde, sah sie, was die ordinäre Formulierung be-deuten sollte. Man erwartete von den Gästen, daß sie den Tänzerinnen zusammengefaltete Fünf- und Zehndollarscheine in die Höschen schoben.

Der Hüne in den schwarzen Lederjeans erhob sich von seinem Stuhl und führte sie durch den Perlvorhang in einen drei Meter breiten und vielleicht sechs Meter langen Raum, in dem sich sechs weitere junge Frauen in hohen Absätzen und Bikinihöschen gerade darauf vorbereiteten, die bereits auf der Tanzfläche befindlichen Tänzerinnen abzulösen. Sie überprüften ihr Make-up im Spiegel, legten Lippenstift auf oder plauderten miteinander. Sie alle waren ebenso gut gebaut wie die Mädchen draußen. Einige hatten harte Gesichter, anziehend, aber hart, andere dagegen sahen unschuldig aus wie Lehrerinnen. Alle waren sie die Art Frau, deren Bilder in Magazinen wie >Playboy< zu finden waren und die die Männer sich gewöhnlich in die Spinde klebten.

Der Hüne führte Travis - und Travis führte Nora, indem er sie an der Hand hielt - durch den Ankleideraum zur Tür am anderen Ende. Während sie durch den Raum gingen, legte eine der Oben-ohne-Tänzerinnen - eine auffallend gutaussehende Blondine - Nora die Hand auf die Schulter und trat neben sie.

»Bist du neu hier, Honey?«

»Ich? Nein. O nein. Ich arbeite nicht hier.«

Die Blondine, angesichts deren unübersehbaren körperlichen Vorzügen Nora sich wie ein Junge vorkam, sagte: »Die Ausstattung dazu hast du, Honey.«

»O nein« war alles, was Nora darauf erwidern konnte.

»Gefällt dir meine Ausstattung?« fragte die Blondine.

»Oh, Sie sind sehr hübsch«, sagte Nora.

»Gib's auf, Schwester«, sagte Travis zu der Blondine. »Bei der Dame läuft auf die Tour nichts.«

Die Blondine strahlte ihn an. »Wenn sie's probiert, wird's ihr vielleicht gefallen.«

Sie verließen durch eine Tür die Garderobe und kamen in einen schmalen, schäbigen, spärlich erleuchteten Korridor, und erst jetzt wurde Nora klar, daß das ein Antrag gewesen war. Von einer Frau!

Sie wußte nicht, ob sie lachen oder sich übergeben sollte. Wahrscheinlich beides.

Der Koloß brachte sie in einen Büroraum am anderen Ende und ließ sie dort stehen, nachdem er ihnen angekündigt hatte: „Mr. Van Dyne ist in einer Minute bei Ihnen.«

Das Büro hatte graue Wände, graue Stahlsessel, Aktenschränke und einen grauen Schreibtisch aus Stahlblech, der zerbeult und verschrammt war. An den nackten Wänden hingen weder Bilder noch Kalender. Auf dem Schreibtisch waren weder Schreibzeug noch Papier oder irgendwelche Akten zu sehen. Der ganze Raum sah aus, als würde er nur selten benutzt.

Nora und Travis setzten sich auf die zwei Stahlsessel vor dem Schreibtisch.

Die Musik aus der Bar war immer noch zu hören, aber nicht mehr betäubend laut. Als Nora sich gefangen hatte, fragte sie: Wo kommen die alle her?«

»Wer?«

»Alle diese hübschen Mädchen mit ihren langen Beinen und kleinen Pos und all dem anderen, die alle bereit sind ... das zu tun - wo kommen so viele her?«

»Da gibt es außerhalb von Modesto eine Zuchtfarm«, sagte Travis.

Sie starrte ihn mit aufgerissenen Augen an.

Er lachte und sagte: »Tut mir leid. Ich vergesse immer wieder, wie unschuldig du bist, Mrs. Cornell.« Er küßte sie auf die Wange. Seine Stoppeln kratzten ein wenig, aber trotzdem war es schön. Obwohl er die Kleidung von gestern trug und sich nicht rasiert hatte, schien er ihr, gemessen an dem Spießruten-auf, den sie hinter sich gebracht hatten, um dieses Büro zu erziehen, sauber wie ein frisch geschrubbtes Baby. Er sagte:

»Ich sollte dir ernsthaft antworten, weil du nicht weißt, wann ich Witze mache.«

Sie blinzelte. »Also gibt es keine Zuchtfarm bei Modesto?« »Nein. Alle Arten von Mädchen machen das. Mädchen, die hoffen, im Showbusiness zu landen, gehen nach Los Angeles, um da Filmstar zu werden, schaffen es aber nicht. Also geraten sie in L.A. in Lokale wie dieses. Oder sie gehen nach Norden nach San Francisco oder Vegas. Die meisten von ihnen sind in Wirklichkeit ganz anständige Mädchen. Sie sehen das als eine Art Zwischenstadium an, eine Chance, sehr schnell Geld zu machen und sich einen gewissen finanziellen Rückhalt zu schaffen, um es dann noch einmal in Hollywood zu probieren. Dann gibt es einige - die Selbsthasser - die es tun, um sich zu erniedrigen. Andere befinden sich in Aufruhr gegenüber ihren Eltern, ihren ersten Männern, der ganzen, verdammten Welt. Und manche sind Nutten.«

»Und die Nutten picken hier ihre ... Freier auf?« fragte sie. »Teilweise - teilweise auch nicht. Manche tanzen wahrscheinlich nur, um eine nachweisbare Einkommensquelle haben, wenn die Steuer an ihre Tür klopft. Sie melden ihre Einkünfte als Tänzerinnen, und damit können sie das, was sie in ihrem Nuttengeschäft verdienen, besser untergehen lassen.«

»Das ist traurig«, sagte sie.

»Ja. In manchen Fällen... in einer ziemlichen Anzahl von Fällen, ist es verdammt traurig.«

Gebannt fragte sie: »Werden wir von diesem Van Dyne falsche Ausweise bekommen?«

»Ich glaube schon.«

Sie musterte ihn ernst. »Du kennst dich wirklich gut aus, wie?«

»Stört es dich - daß ich solche Lokale kenne?«

Sie überlegte einen Augenblick, dann meinte sie: »Nein. Eigentlich ... wenn eine Frau sich einen Mann nimmt, dann meine ich, sollte das ein Mann sein, der in jeder Situation weiß was zu tun ist. Das gibt mir eine ganze Menge Vertrauen und Zuversicht.«

»Zu mir?«

»Ja, zu dir. Und die Zuversicht, daß wir alles gut hinter uns bringen und Einstein und uns retten werden.«

»Zuversicht ist etwas Gutes. Aber eine der ersten Lektionen, die man bei Delta Force lernte, war, daß es einen den Kopf kosten kann, wenn man übermäßig zuversichtlich ist.«

Die Tür öffnete sich, und der Koloß kam mit einem rundge-sichtigen Mann in einem grauen Anzug, einem blauen Hemd und einer schwarzen Krawatte zurück.

»Van Dyne«, sagte der Mann im grauen Anzug, bot ihnen aber nicht die Hand an. Er ging um den Schreibtisch herum und nahm auf einem hochlehnigen Sessel Platz. Sein blondes Haar war dünn, seine Wangen babyglatt. Er sah wie ein Aktienmakler in einem Fernsehcommercial aus: effzient, clever,

wohlmeinend und gepflegt. »Ich wollte mit Ihnen reden, weil ich gerne wissen möchte, wer diesen Unsinn über mich verbreitet.«

Travis ging darauf nicht ein. »Wir brauchen neue Ausweise - Führerscheine, Sozialversicherungskarten - eben alles. Erstklassig und voll abgesichert, keinen Schund.«

»Davon rede ich ja«, sagte Van Dyne und hob mit einem Ausdruck, der Staunen und Verblüffung zeigen sollte, die Brauen. »Wie, in aller Welt, sind Sie auf die Idee gekommen, daß ich in dieser Art von Geschäft tätig bin? Ich fürchte, man hat Sie falsch informiert.«

»Wir brauchen erstklassige Papiere mit voller Deckung«, wiederholte Travis.

Van Dyne starrte zuerst ihn und dann Nora an. »Zeigen Sie mir Ihre Brieftasche. Und Ihre Handtasche, Miss.«

Travis legte die Brieftasche auf den Schreibtisch und sagte zu Nora: »Es ist schon in Ordnung.«

Widerstrebend legte sie die Handtasche neben seine Brieftasche.

»Bitte, stehen Sie auf und lassen Sie sich von Caesar durchsuchen«, sagte Van Dyne.

Travis stand auf und bedeutete Nora mit einer Handbewegung, sie solle ebenfalls aufstehen.

Caesar, der zementgesichtige Koloß, durchsuchte Travis mit peinlicher Gründlichkeit, fand die .357 Magnum und legte sie auf den Schreibtisch. Mit Nora war er sogar noch gründlicher, knöpfte ihre Bluse auf und tastete ihren Büstenhalter nach einem Miniaturmikrofon, einer Batterie und einem Rekorder ab. Sie wurde rot und würde diese Intimitäten nicht gestattet haben, wenn Travis ihr nicht erklärt hätte, was Caesar suchte. Außerdem blieb Caesar die ganze Zeit ausdruckslos, als wäre er eine Maschine ohne jegliches Potential für eine erotische Reaktion.

Als Caesar mit ihnen fertig war, setzten sie sich, während Van Dyne Travis' Brieftasche durchsuchte und sich anschließend Noras Handtasche vornahm. Sie hatte Angst, er würde ihr Geld nehmen, ohne ihnen etwas dafür zu geben; aber ihn schienen lediglich ihre Ausweise und das Fleischermesser zu interessieren, das Nora immer noch bei sich trug.

Dann sagte Van Dyne, zu Travis gewendet: »Okay. Wenn Sie ein Bulle wären, würde man Ihnen nicht erlauben, eine Magnum zu tragen -«, er klappte den Zylinder heraus und sah sich die Munition an, »die mit Magnums geladen ist.« Er lächelte Nora zu. »Und eine Polizistin trägt kein Fleischermesser.«

Plötzlich verstand sie, was Travis gemeint hatte, als er sagte, er trage den Revolver nicht zum Schutz, sondern weil er ihn als Identifikation brauche.

Van Dyne und Travis feilschten eine Weile und einigten sich schließlich auf sechstausendfünfhundert für zwei Ausweissätze mit >voller Deckung<.

Dann erhielten sie ihr Eigentum, Fleischermesser und Revolver Inbegriffen, zurück.

Aus dem grauen Büro folgten sie Van Dyne in den schmalen Korridor, wo er Caesar entließ, zu einer schwachbeleuchteten Betontreppe, die in einen Kellerraum unter dem >Hot Tips< führte, wo die Rockmusik durch die dazwischenliegende Betondecke noch weiter gedämpft wurde.

Nora wußte nicht genau, was sie in dem Keller zu sehen erwartete: vielleicht Männer, die alle wie Edward G. Robinson aussahen, graue Augenschirme mit Gummibändern trugen und an alten Druckerpressen arbeiteten, auf denen sie nicht nur falsche Ausweispapiere, sondern auch bündelweise Falschgeld produzierten. Was sie statt dessen vorfand, überraschte sie.

Die Treppe endete in einem Lagerraum mit Steinwänden, der etwa zehn mal zwölf Meter groß war. In ihm befanden sich, bis in Schulterhöhe aufgestapelt, Vorräte für die Bar. Sie gingen durch einen schmalen Gang aus Whisky- und Bierkartons sowie Schachteln mit Papierservietten zu einer stählernen Feuertür an der hinteren Wand. Van Dyne drückte auf einen Knopf im Türrahmen, worauf eine Kamera sie mit summendem Geräusch aufnahm und auf einen Bildschirm irgendwo übertrug.

Die Tür wurde von innen geöffnet, sie traten in einen kleineren Raum mit gedämpfter Beleuchtung, wo zwei junge Männer mit Barten an zwei von sieben Computern arbeiteten, die an einer Wand auf Tischen aufgereiht waren. Der eine trug weiche Rockport-Schuhe, Safarihosen, einen breiten Gürtel mit Ösen und ein baumwollenes Safarihemd, der andere Reeboks, Jeans und ein Sweatshirt, auf dem die Three Stooges[4] abgebildet waren. Sie sahen fast wie Zwillinge aus, und beide erinnerten sie an eine junge Ausgabe von Steven Spielberg.

Sie waren so mit ihrer Arbeit an den Computern beschäftigt, daß sie Nora, Travis und Van Dyne überhaupt nicht ansahen, aber sie schienen sich immens zu amüsieren, führten Selbstgespräche, redeten mit ihren Maschinen und miteinander, und alles das in einer High-tech-Sprache, die Nora völlig unverständlich blieb.

Außerdem war noch eine Frau Anfang der Zwanzig in dem Raum tätig. Sie hatte kurzes blondes Haar und eigenartig schöne Augen in der Farbe von Kupferpennys. Während Van Dyne mit den zwei Computerfreaks redete, führte die Frau Travis und Nora ans andere Ende des Raumes, stellte sie vor eine weiße Leinwand und fotografierte sie für die falschen Führerscheine.

Als die Blondine in die Dunkelkammer verschwand, um den Film zu entwickeln, traten Travis und Nora zu Van Dyne an die Computer, wo die beiden jungen Männer sich vergnügt ihrer Arbeit widmeten. Nora sah ihnen dabei zu, wie sie sich ohne Mühe Zugang zu den angeblich völlig sicheren Computern der kalifornischen Zulassungsbehörde, der Verwaltung der Sozialversicherung und zu anderen bundesstaatlichen und Regierungsbehörden verschafften.

»Als ich Mr. Van Dyne sagte, daß ich Papiere mit voller Dek-kung haben wolle«, erklärte Travis, »meinte ich, daß die Führerscheine einer Untersuchung standhalten müßten, falls wir je von einem Streifenbeamten aufgehalten würden und dieser sie überprüfte. Die Führerscheine, die wir jetzt bekommen. sind von echten nicht zu unterscheiden. Diese Burschen hier arbeiten unsere Namen in die Unterlagen der Zulassungsbehörde ein und erzeugen tatsächlich Computeraufzeichnungen dieser Führerscheine in den staatlichen Datenbänken.«

»Die Adressen sind natürlich falsch«, meinte Van Dyne. »Aber wenn Sie sich irgendwo unter Ihrem neuen Namen niederlassen, dann beantragen Sie bei der Zulassungsbehörde einfach eine Adressenänderung, wie es das Gesetz vorschreibt, und dann ist alles völlig legal. Wir richten es so ein, daß diese Führerscheine in etwa einem Jahr auslauten, und Sie gehen dann in ein Büro der Zulassungsbehörde, legen die übliche Prüfung ab und bekommen nagelneue, weil Ihre neuen Namen ja in den Akten enthalten sind.«

»Und wie lauten unsere neuen Namen?« wollte Nora wissen.

»Sehen Sie«, sagte Van Dyne mit der ruhigen Selbstsicherheit und Geduld des Aktienmaklers, der einem neuen Anleger die Gesetze des Marktes erklärt, »wir müssen mit den Geburtsurkunden anfangen. Wir führen Computerakten von Säuglingstodesfällen überall in den westlichen Vereinigten Staaten und mindestens über die letzten fünfzig Jahre. Wir haben diese Listen bereits nach den Jahren abgesucht, in denen Sie beide geboren sind, und versucht, gestorbene Babys zu finden, die Ihre Haar- und Augenfarbe hatten - und Ihre Vornamen, einfach, weil es für Sie einfacher ist, nicht auch die Vornamen zu wechseln. Wir fanden dabei ein kleines Mädchen, Nora Jean Aimes, das am zwölften Oktober des Jahres geboren wurde, in dem auch Sie zur Welt gekommen sind, und das einen Monat später hier in San Francisco gestorben ist. Wir haben einen Laserdrucker mit buchstäblich unbegrenzter Auswahl an Typen und Größen, womit wir bereits ein Faksimile der Art von Geburtsurkunde produziert haben, wie sie zu jener Zeit in San Francisco gebräuchlich waren. Diese Urkunde trägt den Namen und die wesentlichen Daten von Nora Jean. Wir werden zwei Xeroxkopien davon herstellen und sie Ihnen beide geben. Anschließend haben wir die Akten der SozialverSicherung angezapft und uns eine Nummer für Nora Jean Aimes besorgt, die natürlich nie eine hatte, und haben dann auch Aufzeichnungen über Beitragsleistungen an die Sozialversicherung geschaffen.« Er lächelte. »Sie haben bereits genügend eingezahlt, um die Anwartschaft auf eine Pension erworben zu haben. Außerdem hat die Steuerbehörde jetzt Computerakten, die beweisen, daß Sie in einem halben Dutzend Städten als Kellnerin gearbeitet und jedes Jahr korrekt Ihre Steuern bezahlt haben.«

Travis sagte: »Mit einer Geburtsurkunde und einer richtiggehenden Sozialversicherungsnummer konnten sie anschließend einen Führerschein besorgen, hinter dem eine echte Identität steht.«

»Dann bin ich Nora Jean Aimes? Aber wenn die Geburtsurkunde in den Akten ist, dann doch auch die Sterbeurkunde. Wenn jemand nachprüfen wollte ... «

Van Dyne schüttelte den Kopf. »In jenen Tagen waren sowohl Geburts- wie auch Sterbeurkunden ausschließlich Papierdokumente, keine Computerakten. Und weil die Regierung mehr Geld vergeudet, als sie vernünftig ausgibt, hat sie nie über die Mittel verfügt, die Aufzeichnungen aus der Vorcomputerzeit in elektronische Datenbanken zu übertragen. Wenn also jemand in bezug auf Sie argwöhnisch wird, kann er sich nicht einfach auf einem Computerbildschirm die Sterbeurkunden ansehen und in zwei Minuten auf die Wahrheit stoßen.

Man müßte vielmehr ein Gericht aufsuchen, dort die Akten des Leichenbeschauers für jenes Jahr durchgehen und Nora Jeans Sterbeurkunde ausheben. Aber dazu wird es nicht kommen, denn zu unserem Service gehört auch, daß Nora Jeans Sterbeurkunde aus den öffentlichen Archiven entfernt und vernichtet wird, da Sie ja jetzt ihre Identität gekauft haben.«

»Wir haben jetzt die Kreditauskunft angezapft«, sagte einer der beiden Spielberg-Doppelgänger sichtlich entzückt.

Nora sah Daten über die grünen Schirme huschen, aber nichts, was sie sah, war ihr auch nur entfernt verständlich.

»Jetzt erzeugen sie solide Kreditreferenzen für unsere neue Identität«, erklärte ihr Travis. »Wenn wir uns schließlich irgendwo niederlassen und unseren Adressenwechsel bei der Zulassungsbehörde und den anderen Behörden melden, wird unser Briefkasten mit Kreditkartenangeboten überflutet werden. Visa, Mastercard, wahrscheinlich auch American Express und Carte Blanche.«

»Nora Jean Aimes«, sagte sie etwas benommen, bemüht, zu erfassen, wie schnell und gründlich hier ihr neues Leben aufgebaut wurde.

Weil sie keinen Säugling finden konnten, der in Travis' Geburtsjahr gestorben war und seinen Vornamen trug, mußte er sich damit abfinden, künftig Samuel Spencer Hyatt zu sein, geboren im Januar jenes Jahres und im März desselben Jahres in Portland, Oregon, ums Leben gekommen. Der Tod würde aus den öffentlichen Akten gelöscht werden, und Travis' neue Identität auch gründlicher Untersuchung standhalten.

Einfach zum Spaß - wie sie sagten - erzeugten die bärtigen Computeroperateure für Travis Militärakten, wobei sie ihm sechs Jahre bei der Marineinfanterie zubilligten und ihm das Purple Heart verliehen sowie eine Anzahl Belobigungen wegen besonderer Tapferkeit während einer Friedensmission im Nahen Osten. Zu ihrem großen Vergnügen fragte er sie, ob sie ihm auch unter seinem neuen Namen eine gültige Immobilienmakler-Lizenz beschaffen könnten, worauf sie binnen fünfundzwanzig Minuten die entsprechenden Datenbanken anzapften und seinen Wunsch erfüllten.

»Plätzchenbacken«, sagte einer der jungen Männer. »Plätzchenbacken«, wiederholte der andere.

Nora runzelte die Stirn, begriff aber nicht.

»Stückchen Kuchen«, erklärte einer von ihnen.

»So einfach wie das Plätzchenbacken«, sagte der andere. »Plätzchenbackcn«, sagte Nora und nickte.

Jetzt kam die Blondine mit den Kupferpennyaugen zurück und brachte die Führerscheine mit Fotos von Travis und Nora. »Sie sind beide recht fotogen«, sagte sie.

Zwei Stunden und zwanzig Minuten nachdem sie Van Dynes Bekanntschaft gemacht hatten, verließen sie das >Hot Tips< mit zwei großen Umschlägen, die eine Vielzahl vo n Dokumenten enthielten, welche ihre neue Identität darstellten. Draußen auf der Straße fühlte Nora sich etwas benommen und hielt auf dem ganzen Weg zurück zum Wagen Travis' Arm fest.

Der Nebel hatte sich in die Stadt gewälzt, während sie im »Hot Tips< gewesen waren. Die Blitzlichter und die grellen Neonreklamen des Tenderloin wurden vom Nebel weichgezeichnet und auch seltsam vergrößert, so daß es schien, als wäre jeder Kubikzentimeter der Nacht voll von seltsamem Licht, einer Art Nordlicht, das bis auf die Erde herunterreichte. Die schäbigen, verkommenen Straßen waren nach Einbruch der Dunkelheit von einem gewissen Geheimnis, einem billigen Zauber umgeben - jedoch nur, wenn man sie vorher nicht bei Tageslicht gesehen hatte und wußte, wie sie da ausgesehen hatten.

Einstein wartete geduldig im Mercedes.

»Es ließ sich doch nicht machen, dich in einen Pudel zu verwandeln«, erklärte ihm Nora, während sie sich anschnallte.

»Aber für uns selbst ist alles erledigt. Einstein, sag Hallo zu Sam Hyatt und Nora Aimes.«

Der Retriever legte den Kopf auf die Rückenlehne, schaute Travis an und schnaubte einmal, wie um zu sagen, daß sie ihn nicht täuschen könnten und daß er wisse, wer sie seien.

Zu Travis sagte Nora: »Bei deiner Antiterroristenausbildung ... hast du da von Lokalen wie dem >Hot Tips< und von Leuten wie Van Dyne gehört? Bekommen dort Terroristen neue Papiere, wenn sie sich ins Land einschleichen?«

»Ja, manche gehen zu Leuten wie Van Dyne, wenn auch nicht immer. Die Sowjets liefern die Papiere für die meisten Terroristen. Van Dyne versorgt vorwiegend simple illegale Einwanderer, wenn auch nicht die armen unter ihnen, und kriminelle Typen, gegen die Haftbefehle erlassen sind.«

Während er den Wagen anließ, meinte sie: »Aber wenn du Van Dyne finden konntest, dann können ihn vielleicht auch die Leute finden, die uns suchen.«

»Vielleicht. Eine Weile würde es wohl dauern, aber möglich wäre es.«

»Dann werden sie alles über unsere neue Identität erfahren.«

»Nein«, sagte Travis. Er schaltete das Gebläse und die Scheibenwischer ein, um die beschlagenen Scheiben klarzubekommen. »Van Dyne führt ganz bestimmt keine Aufzeichnungen. Er will nicht mit den Beweisen für das, was er tut, erwischt werden. Wenn die Behörden je auf ihn stoßen und mit einem Durchsuchungsbefehl bei ihm auftauchen, werden sie in seinen Computern außer der Buchhaltung und dem Wareneingang des >Hot Tips< nichts finden.«

Während sie in Richtung Golden-Gate-Brücke auf die Stadt zufuhren, starrte Nora fasziniert die Leute auf den Straßen und in den anderen Fahrzeugen an, nicht nur im Tenderloin, sondern in jedem Viertel, durch das sie kamen. Sie fragte sich. wie viele von ihnen wohl unter den Namen und Identitäten lebten, mit denen sie geboren worden waren, und wie viele Wechselbälger waren wie sie und Travis.

»In weniger als drei Stunden hat man uns völlig umgekrempelt«, sagte sie.

»Eine Mordswelt in der wir leben, was? Da weiß man erst, was High-tech heißt - maximale Fluktuation. Die ganze Welt wird immer beweglicher, fließender. Die meisten Finanztransaktionen werden heutzutage mit elektronischem Geld erledigt, das binnen Sekunden von New York nach Los Angeles - oder um die ganze Welt - flitzt. Das Geld überquert die Grenzen in einem Zeitraum, den man für ein Augenzwinkern braucht; man braucht es nicht länger an Wachen vorbeizuschmuggeln. Die meisten Aufzeichnungen werden in Form elektrischer Ladungen durchgeführt, die nur Computer lesen können. Also ist alles fließend: Identitäten sind etwas Fließendes und die Vergangenheit genauso.«

»Selbst die Genstruktur einer Gattung ist heutzutage etwas Fließendes«, meinte Nora.

Einstein wuffte zustimmend.

»Macht einem Angst, nicht wahr?« sagte Nora.

»Ein wenig«, sagte Travis, als sie sich der von Scheinwerfern angestrahlten südlichen Einfahrt der nebelumhüllten Gol-den-Gate-Brücke näherten, die im Dunst kaum zu sehen war. »Aber im wesentlichen hat diese maximale Fluktuation etwas Gutes. Gesellschaftliche und finanzielle Flüssigkeit garantieren die Freiheit. Ich glaube - und hoffe -, daß wir auf eine Zeit zugehen, wo die Rolle der Regierungen unvermeidbar immer bedeutungsloser wird und es keine Möglichkeit mehr gibt, Menschen so gründlich zu regulieren und kontrollieren, wie das in der Vergangenheit möglich war. Totalitäre Regierungen werden nicht an der Macht bleiben können.«

»Wieso?«

»Nun, wie kann eine Diktatur ihre Bürger in einer High-tech-Gcsellschaft von maximaler Fluktuabilität kontrollieren? Die einzige Möglichkeit dafür besteht doch darin, der Technik den Zutritt zu verwehren, die Grenzen abzudichten und voll und ganz in einer früheren Zeit zu leben. Aber das wäre für jedes Land, das das versuchte, nationaler Selbstmord. Ein solches Land könnte nicht mehr mit den anderen konkurrieren.

In wenigen Jahrzehnten wären sie moderne Eingeborene, primitiv nach den Maßstäben der zivilisierten High-tech-Welt. Im Augenblick beispielsweise versuchen die Sowjets den Einsatz von Computern auf die Verteidigungsindustrie zu beschränken, aber das kann nicht so bleiben. Sie werden ihre ganze Wirtschaft computerisieren und es den Menschen beibringen müssen, Computer zu benutzen - wie können sie aber dann die Schrauben angezogen lassen, wenn ihre Bürger doch über die Mittel verfügen, das System zu manipulieren?«

An der Einfahrt zur Brücke wurde kein Zoll eingehoben. Sie fuhren auf die Brücke, wo das Geschwindigkeitslimit wegen des Wetters drastisch herabgesetzt war.

Nora blickte an dem gespenstischen Skelett der Brücke empor, an dem das Kondenswasser glitzerte und das sich im Nebel verlor, und meinte: »Du scheinst zu glauben, daß in ein oder zwei Jahrzehnten die Welt ein Paradies sein wird.« »Kein Paradies«, sagte er. »Angenehmer, reicher, sicherer, glücklicher. Aber kein Paradies. Schließlich wird es immer noch die Probleme des menschlichen Herzens und all die potentiellen Krankheiten des menschlichen Geistes geben. Und die neue Welt wird uns mit Sicherheit nicht nur Segen, sondern auch einige neue Gefahren bringen.«

»Wie das Ding, das deinen Vermieter umgebracht hat«, sagte sie.

»Ja.«

Auf dem Rücksitz knurrte Einstein.

12

Am Donnerstagnachmittag, dem 26. August, fuhr Vince Nasco zum Haus von Johnny dem Draht Santini in San Clemente, um sich den Bericht über die vergangene Woche abzuholen. Dabei erfuhr er von der Ermordung Ted Hockneys in Santa Barbara. Der Zustand der Leiche, ganz besonders die fehlenden Augen, stellten die Verbindung zum Outsider her. Johnny hatte sich auch vergewissert, daß die NSA die Zuständigkeit für den Fall an sich gezogen hatte, was Vince überzeugte, daß eine Verbindung zu den Banodyne-Flüchtlingen bestand.

Noch am Abend besorgte er sich eine Zeitung und las bei einem Abendessen aus Enchiladas von Meeresfrüchten und einer Flasche Dos Equis in einem mexikanischen Restaurant den Bericht über Hockney und über den Mann, der Mieter des Hauses war, in dem der Mord geschah - Travis Cornell. Die Presse berichtete, Cornell, ein ehemaliger Immobilienmakler, der einmal bei der Delta Force gewesen sei, habe einen Pan-ther in seinem Hause gehalten, und die Raubkatze habe Hockney getötet. Vince wußte, daß die Geschichte mit der Raubkatze nur Tarnung war. Die Bullen sagten, sie wollten mit Cornell und einer unbekannten Frau sprechen, die in seiner Gesellschaft gesehen worden sei, hatten aber keine Anklage gegen die beiden erhoben.

In dem Bericht stand auch ein Satz über Cornells Hund: »Möglicherweise sind Cornell und die Frau mit einem Golden Retriever unterwegs.«

Wenn ich Cornell finde, dachte Vince, dann finde ich den Hund.

Dies war der erste entscheidende Fortschritt, den er machte, und er fühlte sich in seiner Überzeugung bestätigt, daß der Besitz des Retrievers Teil des ihm von der Vorsehung Bestimmten war.

Um das zu feiern, bestellte er Bier und weitere Enchiladas.

13

Travis, Nora und Einstein verbrachten die Nacht zum Freitag in einem Motel in Marin County, nördlich von San Francisco. Sie besorgten sich in einer Tankstelle eine Sechserpackung San Miguel und in einem Schnellimbiß gebratenes Huhn, Toast und Krautsalat und nahmen in ihrem Zimmer ein spätes Abendessen ein.

Einstein schmeckte das Huhn köstlich, und er zeigte auch beträchtliches Interesse an dem Bier.

Travis beschloß, eine halbe Flasche davon in die neue gelbe Plastikschüssel zu gießen, die sie auf ihrer Einkaufstour für den Retriever gekauft hatten. »Aber nicht mehr als eine halbe Flasche, egal, wie gut es dir schmeckt. Ich möchte, daß du nüchtern bleibst, um mir ein paar Fragen zu beantworten.«

Nach dem Abendessen saßen sie alle drei auf dem Doppelbett, und Travis packte das Scrabble-Spiel aus. Er legte das Spielbrett umgedreht auf die Matratze, so daß die Spielfläche verdeckt war, und Nora half ihm die Buchstabensteine in sechsundzwanzig Häufchen auseinanderzusortieren.

Einstein sah ihnen dabei interessiert zu und schien von seiner halben Flasche San Miguel nicht im geringsten beschwipst.

»Okay«, sagte Travis. »Ich brauche detailliertere Antworten, als wir mit diesen Ja-und-Nein-Fragen bisher bekommen haben. Ich habe mir gedacht, daß es vielleicht so gehen könnte.« »Genial«, pflichtete Nora ihm bei.

Wieder dem Hund zugewendet, sagte Travis: »Ich stelle dir jetzt eine Frage, und du zeigst auf die Buchstaben, die man braucht, um die Antwort zu buchstabieren, Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort. Hast du verstanden?«

Einstein blinzelte Travis zu, sah die Häufchen mit den Buchstaben an, hob den Blick wieder zu Travis und grinste.

»Also gut«, meinte der. »Kennst du den Namen des Laboratoriums, aus dem du entkommen bist?«

Einstein legte die Nase auf das Häufchen mit den B.

Nora nahm sich einen Stein und legte ihn auf das Brett.

In weniger als einer Minute hatte der Hund BANODYNE buchstabiert.

»Banodyne«, sagte Travis nachdenklich. »Davon hab' ich nie gehört. Ist das der ganze Name?«

Einstein zögerte und fing dann an, weitere Buchstaben auszuwählen, bis er BANODYNE LABORATORIES, INC. buchstabiert hatte.

Travis notierte sich die Antwort auf ein Blatt Hotelpapier und legte die einzelnen Buchstaben auf die jeweiligen Häufchen zurück. »Wo liegt Banodyne?«

IRVINE.

»Das leuchtet ein«, sagte Travis. »Ich hab' dich im Wald nördlich von Irvine gefunden. Also schön ... ich habe dich am Dienstag, den 18. Mai gefunden. Wann bist du von Banodyne entflohen?«

Einstein starrte die Buchstabenhäufchcn an, winselte, traf aber keine Wahl.

»Du hast eine Menge gelesen«, sagte Travis, »und dabei auch über Monate, Wochen, Tage und Stunden gelernt. Du hast jetzt ein Zeitgefühl.«

Der Hund sah Nora an und winselte wieder.

»Er hat jetzt ein Zeitgefühl«, sagte sie, »aber er hatte keines, als er entkam, also fällt es ihm schwer, sich zu erinnern, wie lange er auf der Flucht war.«

»Kennst du die Namen irgendwelcher Wissenschaftler bei Banodyne?« fragte Travis.

DAVIS WEATHERBY.

Travis notierte den Namen. »Noch andere?«

Gelegentlich zögerte er, weil er offenbar die Schreibweise überlegen mußte, und schließlich produzierte er LAWTON HANES, AL HUDSTUN und ein paar andere.

Nachdem Travis die Namen aller auf Hotelpapier notiert hatte, sagte er: »Das müssen einige der Leute sein, die jetzt nach dir suchen.«

JA. UND JOHNSON.

»Johnson?« sagte Nora. »Ist das einer der Wissenschaftler?«

NEIN. Der Retriever überlegte einen Augenblick, studierte die Buchstabenhäufchen und fügte schließlich hinzu: SICHERHEIT.

»Er ist Leiter der Sicherheitsabteilung von Banodyne?« fragte Travis.

NEIN. GRÖSSER.

»Wahrscheinlich eine Art FBI-Agent«, sagte Travis zu Nora, während sie die Buchstaben auf die einzelnen Häufchen zurücklegte.

Dann fragte Nora Einstein: »Kennst du den Vornamen dieses Johnson?«

Einstein schaute die Buchstaben an und winseitc, und Travis wollte gerade sagen, es mache nichts aus, wenn er Johnsons Vornamen nicht kenne; aber dann versuchte der Hund ihn zu buchstabieren: LEMOOL.

»Einen solchen Namen gibt es nicht«, sagte Nora und nahm ihm die Buchstaben weg.

Einstein versuchte es noch einmal: LAMJULL. Und dann noch einmal: LEIMUL.

»Das ist auch kein Name«, sagte Travis.

Und ein drittes Mal: LEMM JU ELL.

Travis begriff, daß der Hund sich Mühe gab, den Namen phonetisch wiederzugeben. Er wählte sechs Buchstaben aus: LEMUEL.

»Lemuel Johnson«, sagte Nora.

Einstein lehnte sich vor und drückte den Kopf an ihren Hals. Er zitterte vor Vergnügen darüber, daß er ihnen den Namen hatte vermitteln können, und die Federn des Motelbetts ächzten.

Dann ließ er von Nora ab und buchstabierte FINSTER LEMUEL.

»Finster?« sagte Travis. »Mit >finster< meinst du, daß Johnson ... böse ... ist?«

NEIN. FINSTER.

Nora räumte die Buchstaben auf und sagte: »Gefährlich?« Einstein schnaubte zuerst sie, dann Travis an, als wollte er sagen, manchmal seien sie unerträglich schwerfällig.

NEIN. FINSTER.

Einen Augenblick saßen sie stumm da und überlegten. Schließlich sagte Travis: »Schwarz! Du meinst, Lemuel Johnson ist ein Schwarzer?«

Einstein schnaubte leise, bewegte den Kopf auf und ab und versuchte auf der Bettdecke mit dem Schweif zu wedeln.

Travis erfüllte eine Freude, die in Worte zu kleiden ihm schwergefallen wäre. Sie hatten sich jetzt seit vielen Wochen mit dem Retriever verständigt, aber die Scrabble-Steine gaben dieser Verständigung eine viel größere Dimension. Mehr denn je kam Einstein ihnen wie ihr eigenes Kind vor. Aber da war auch das berauschende Gefühl, die Barrieren normaler menschlicher Erfahrung durchbrochen zu haben: ein Gefühl der Überlegenheit. Einstein war natürlich kein gewöhnlicher Hund, seine hohe Intelligenz war eher menschlich als hündisch - aber er war ein Hund, mehr als alles andere ein Hund, und seine Intelligenz unterschied sich trotz allem qualitativ von der eines Menschen. Unvermeidlich daher der Eindruck, diesen Dialog zwischen den Gattungen umgebe das Wunderbare, Geheimnisvolle.

Die nächste halbe Stunde fuhren sie fort, Einstein zu befragen, und Travis zeichnete die Antworten des Hundes auf.

Nach einer Weile kamen sie zu der gelbäugigen Bestie, die Ted Hockney getötet hatte.

»Was ist dieses verdammte Ding?« fragte Nora.

OUTSIDER.

»Outsider?« sagte Travis. »Was meinst du damit?«

HEISST OUTSIDER.

»Im Labor?« fragte Travis. »Warum haben sie ihn Outsider genannt?«

OUTSIDER IST NICHTS.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Nora.

ICH BIN HUND. OUTSIDER IST NICHTS.

»Ist es auch intelligent?« fragte Travis.

JA.

»So intelligent wie du?«

VIELLEICHT.

»Herr Jesus!« sagte Travis erschüttert.

Einstein gab einen bedrückt klingenden Laut von sich und legte den Kopf auf Noras Knie, suchte Zuspruch, den sie ihm gab, indem sie ihn streichelte.

»Warum haben sie ein solches Ding geschaffen?« fragte Travis.

Einstein wandte sich wieder dem Buchstabenhäufchen zu.

FÜR TÖTEN.

Travis lief es eisig über den Rücken. »Wen sollte es denn töten?«

FEIND.

»Welchen Feind?« fragte Nora.

KRIEG.

Mit dem Verstehen kam auch Ekel, bis fast zur Übelkeit.

Travis ließ sich gegen das Kopfteil des Bettes sinken. Er erinnerte sich daran, daß er Nora gesagt hatte, selbst eine Welt ohne Not und mit Freiheit für alle werde keineswegs ein Paradies sein, und zwar wegen der Probleme des menschlichen Herzens und der potentiellen Krankheiten des menschlichen Geistes.

Zu Einstein sagte er: »Du willst also sagen, der Outsider ist der erste mittels Gentechnologie erzeugte Soldat. Eine Art von... intelligentem, tödlichem Polizeihund, der für das Schlachtfeld konstruiert ist?«

GEMACHT FÜR TÖTEN. ER WILL TÖTEN.

Als Nora die Worte las, für die sie die Buchstaben auslegte, erfüllte sie Schrecken. »Aber das ist doch verrückt. Wie kann man ein solches Ding je unter Kontrolle halten? Wie kann man sich darauf verlassen, daß es sich nicht gegen seine eigenen Herren und Meister wendet?«

Travis beugte sich vor und sagte zu Einstein: »Warum sucht der Outsider dich?«

HASST MICH.

»Warum haßt er dich?«

WEISS NICHT.

Während Nora die Buchstaben zurücklegte, sagte Travis:

»Wird er weiter nach dir suchen?«

JA. IMMER.

»Aber wie kann er sich bewegen, ohne gesehen zu werden?«

NACHTS.

Nora blickte verwirrt und sagte: »Aber wie verfolgt er dich?«

FÜHLT MICH.

»Fühlt dich? Was meinst du damit?« fragte sie.

Der Retriever grübelte lange darüber nach und setzte ein paarmal vergebens zur Antwort an.

»Kannst du ihn auch fühlen?« fragte Travis.

MANCHMAL.

»Fühlst du ihn jetzt?«

JA. WEIT WEG.

»Sehr weit weg«, pflichtete Travis ihm bei. »Hunderte von Meilen. Kann er dich wirklich aus so großer Entfernung fühlen und aufspüren?«

WEITER.

»Ist er jetzt auch auf deiner Spur?«

KOMMT.

Der Hund zitterte jetzt am ganzen Leib.

Travis sah, daß Nora blaß geworden war. Er legte ihr die Hand aufs Knie und sagte: »Wir werden nicht bis ans Ende unserer Tage vor ihm fliehen. Verdammt will ich sein, wenn wir das tun. Wir werden einen Ort finden, an dem wir uns niederlassen und warten; einen Ort, an dem wir uns darauf vorbereiten können, uns zu wehren. Wo wir allein sind, um uns mit dem Outsider auseinanderzusetzen, wenn er kommt.«

Einstein wies zitternd mit der Nase auf weitere Buchstaben, und Travis legte die Steine aus.

ICH GEHE.

»Was meinst du?« fragte Travis und legte die Steine zurück. ICH GEFAHR.

Nora schlang die Arme um den Retriever und drückte ihn an sich. »So etwas darfst du nicht einmal denken. Du bist ein Teil von uns. Du gehörst zur Familie, verdammt. Wir alle sind eine Familie und werden das gemeinsam hinter uns bringen. Dafür sind Familien da.« Sie nahm den Kopf des Hundes in beide Hände, legte die Nase an die seine und blickte tief in seine Augen. »Wenn ich eines Morgens aufwache und feststelle, daß du uns verlassen hast, bricht mir das Herz.« Tränen schimmerten in ihren Augen, ihre Stimme zitterte. »Hast du mich verstanden. Pelzgesicht? Es wird mir das Herz brechen, wenn du uns verläßt.«

Der Hund entzog sich ihr und begann wieder Buchstaben auszuwählen.

ICH STERBEN.

„Du würdest sterben, wenn du uns verließest?« fragte Travis.

Der Hund wählte weitere Buchstaben aus und wartete, bis sie die Worte gelesen hatten, dann sah er sie beide ernst an, um sicher zu sein, daß sie verstanden hatten, was er meinte. ALLEIN STERBEN.

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