Seit nunmehr hundertfünfzig Jahren zog die verwaiste IOS ihre Runden — fast auf den Monat genau. Solargespeist (und noch ziemlich rege, obwohl nahezu die Hälfte ihrer Photonenaustauscher ausgefallen war), sich regelnd und reinigend hatte sie mit scheinbar grenzenloser Geduld auf ihre Retter gewartet. Aus der Ferne sah sie unverändert aus. Aus der Nähe waren die Schäden und Altersspuren nicht mehr zu übersehen.
Zur Bergungsmannschaft gehörte Jasmin Chopra; sie war auserkoren, als Erste an Bord zu gehen. Als geborene Terrestrierin konnte sie ihre Abstammung durch beide Revolutionen zurückverfolgen. Zu ihren Vorfahren zählte Anna Chopra, die man angeklagt und als Provokatrice hatte hinrichten lassen, nach, wie es aussah, einem Leben voller Pflichterfüllung gegenüber den Familles anciennes.
Doch deswegen war Jasmin nicht hier. Sie war hier, weil sie zwei Sauveurmannschaften ohne unliebsame Zwischenfälle durch die todbringenden Ruinen von KB47 geführt und etliche Tonnen exotischer Materie in Gestalt von Higgs-Linsen-Trümmern geborgen hatte. Inzwischen war sie älter geworden, ging auf die fünfzig zu (terrestrische fünfzig), hatte sich aber schon früh für die Isis-Mission gemeldet und ihr Prestige voll in die Waagschale geworfen. Und da war sie nun, weiter von zu Hause entfernt als irgendein Mensch in diesen chaotischen anderthalb Jahrhunderten.
Nachdem man die Dichtungen der Docks für intakt befunden und den Innendruck um ein paar Hektopascal
angehoben hatte, war Jasmin Chopra also die erste der Sauveurs, die über die Schwelle trat.
Sie hatte keine Angst, sich anzustecken. Sie war mit einem Biostaten ausgestattet, der in der Lage war, jedwedes Fremdmaterial, das zufällig in ihren Körper gelangte, zu verdauen, zu vergiften, aufzulösen, zu verätzen oder sonst wie zu eliminieren. Sie schauderte förmlich bei dem Gedanken an die Abenteurer, die hier oben und auf dem Planeten ums Leben gekommen waren, nur weil ihre Monturen gegen die isische Biosphäre so wenig hatten ausrichten können wie Papierdrachen gegen Windstärke zwölf. Jasmin Chopra hatte auch keine Angst vor dem, was sie an Bord vorfinden würde. Wie nicht anders zu erwarten, hatten Haushaltsroboter jede organische Spur der ehemaligen Insassen getilgt und in den Stickstoffkreislauf gefüttert. Gemessen an dem, was sich hier zugetragen hatte, war die IOS geradezu übernatürlich sauber.
Es war schon unheimlich. Überall sah es nach Leben aus, das von einem Augenblick auf den anderen verschwunden war — Kleidung lag da, wo sie abgelegt worden war, verstreut auf den Schreibtischen diese altmodischen Palmtops, lose Papiere, an denen die Ventilation herumspielte. Lauter ausgehungerte Roboter drängten sich wie verwaiste Welpen um ihre Beine.
Die Erstbegehung des kontinuierlich mit Atmosphäre versorgten Teils der IOS führte sie schließlich auch zum terrassierten Sonnengarten.
Obwohl die Agroroboter unentwegt bei der Arbeit waren, war nicht viel übrig von den Kulturen.
Die aeroponischen Tanks für Kräuter und Gewürze mussten zu einem kritischen Zeitpunkt einen Stromausfall erlebt haben. Alles, was sie seitdem hervorgebracht hatten, war eine Menge Staub. Auf den größeren und komplexeren Gemüseterrassen war alles abgestorben bis auf den Grünkohl und die Tomatenstauden. Diese Pflanzen waren jahraus, jahrein herangereift und hatten jede atmosphärische Störung und jeden Stromausfall überlebt, hatten sich in den permanent durchspülten Mischbeeten ausgesät, waren mit dem Rückgang der Spurennährstoffe gelb und schilfrig und spröde geworden — aber sie lebten.
Das Leben ist hartnäckig, dachte Jasmin. Wie kommt so was zustande?
Die richtige Wildnis lag da unten, auf der Oberfläche des Planeten.
Jasmin war allerdings nicht die Erste, die ihren Fuß auf den Planeten setzte (auch wenn man die ursprünglichen Forschungsteams außen vor ließ). Das war das Privileg der Jungen und Fotogenen: in diesem Fall der Zwillinge Jak und Elu Reys, marsianischen Paläontologen, die wie hagere Engel aussahen, als sie zum ersten Mal die isische Luft einsogen, die so reich war an seltsamen, fremden Aromen. Dieser Augenblick wurde für einen handverlesenen terrestrischen Zuschauerkreis aufgezeichnet.
Jasmin stieg als Letzte aus dem Shuttle. Aus Respekt und weil sie es so wollte. Sie war Sauveur, nicht Wissenschaftlerin. Ihre Aufgabe war es, zu entscheiden, ob man die verwitterten Überreste von Yambuku für eine neue Arbeitsplattform verwerten konnte oder ob man besser ganz von vorne begann. Schließlich haben wir im Vergleich zu damals einen unschätzbaren Vorteil, überlegte sie. Wir können uns unbekümmert im Freien aufhalten, ihn wirklich anfassen, den Planeten. Wir sind so gründlich nachgebessert, dass wir sogar das hiesige Wasser trinken könnten — wobei es unvernünftig wäre, zuvor nicht wenigstens die zweifelsfreien Toxine herauszufiltern. Wir könnten uns, wenn nötig, Holzhütten bauen und hier wie Pioniere leben.
Doch für den Augenblick war sie zufrieden, unter einem heißen Mittagshimmel die Shuttlerampe hinunterzurutschen und in einer Wiese mit lauter rotbackigen Samenkapseln zu landen. Ein böiger Wind zupfte an ihrem Haar. Einen euphorischen Moment lang war sie versucht, ihre Kleidung abzuwerfen und splitternackt den Hang hinunter in den Waldstreifen zu laufen. Sie war so impulsiv wie jene arme Hochverräterin unter ihren Vorfahren.
Bis jetzt war noch kein Wort gefallen. Zu hören war nur der Wind. Wind, der eine sanfte Dünung ins Gras brachte, auffrischender Westwind.
Jasmin Chopra schloss die Augen, und ihr war, als trage der Wind Stimmen herbei — das Raunen einer sprachlosen Unterhaltung. Wir sind da, dachte sie, und der Wind raunte: Wir sind da. Das alles kommt mir irgendwie bekannt vor, dachte sie, und der Wind sagte: Wir kennen euch. Wir erinnern uns.
Seltsam.
Sie ging über die Wiese, bis sie einen Teil der alten Konzernstation sah. Die Kuppel des Shuttledocks ragte aus dem Wald, sie hatte Risse bekommen und war mit grünen Ranken überwuchert; die Wildnis hatte Yambuku zurückerobert.
Ein brüchiges Echo menschlicher Präsenz auf Isis. Das Leben, dachte Jasmin, ist bärenstark. Wir haben ein Menge zu lernen.