TEIL ZWEI

Zehn

Zoe war nicht allein im Wald. Sie war immer von insektengroßen Telesensorien und größeren Robotspinnen umgeben; und sie war durch eine umfassende Telemetrie mit Yambuku verbunden… aber sie fühlte sich allein, unsäglich allein, besonders nach Mitternacht.

Das konnte sie von Geburt an — allein sein. Man hatte ihr den Hang zum Einsiedlerischen in die DNS geschrieben, die gleiche Genmanipulation, die die ersten Kuiper-Kolonisten mit hinaus in die Leere jenseits des Neptuns genommen hatten — eine Rasse von Mönchen, die ihre Klausen aus gefrorenen sternhellen Gebirgsstöcken meißelten. Das Alleinsein machte ihr keine Angst.

Was nicht hieß, dass sie keine Angst hatte.

Angst machten ihr andere Dinge.

Nicht allzu lange nach Mitternacht erwachte sie in der Finsternis ihres Zeltes. Das Zelt war eine simple Kuppel aus Polymerschaum, die weniger vor den Elementen schützen sollte — dafür war der Anzug da — als vor Entdeckung. Der Schutzanzug war ein halb offenes System; sie trank und aß aus sterilen Behältern mit selbstdichtenden Mundstücken, aber sie schied die unvermeidlichen Stoffwechselprodukte aus: Urin, Kot und CO2. Prozessoren und Nanobakterien des Anzugs reinigten zwar die Ausscheidungen, doch selbst keimfreier menschlicher Abfall wirkte auf isische Raubtiere wie ein Magnet. Feste und flüssige Abfälle konnten in Behältern vergraben werden, aber Atem und Schweiß waren nicht so leicht aus der Welt zu schaffen. Das Zelt half durch einen langsamen Luftaustausch, wobei es ihren molekularen Fingerabdruck durch Osmose und HEPA-Filter verwischte.

Doch kein System war vollkommen. Der Verlust der Hochseestation vor knapp zehn Tagen war der jüngste unwiderlegbare Beweis dafür. Die Systeme waren unvollkommen oder unvollkommen an die isische Biosphäre angepasst, weshalb nicht von der Hand zu weisen war, dass Zoe eben jetzt nächtliche Räuber anlockte, die dem externen Schutzring entgangen waren.

Zum Beispiel dieses leise hölzerne Prasseln in der Ferne, es konnte der Wind in den Bäumen sein oder auch…

Schwachsinn!

Sie setzte sich auf, war sauer, den Schlaf konnte sie sich abschminken. Es war schon schlimm genug, in einem Anzug dazuliegen, der einem mit akribischer Genauigkeit jede Druckstelle vermittelte, die von Zweigen und Kieseln unter dem Gelboden rührten — aber noch schlimmer war es, sich um Mitternacht vor Angst zu bepinkeln. Eine Phalanx von Robotsensorien bewachte ihre Peripherie und hielt ununterbrochen nach Bewegung oder verräterischen molekularen Kennungen Ausschau; nichts, was größer war als eine Made, kam auch nur in die Nähe des Zeltes. Und das Zelt war vielleicht nicht vollkommen, aber madendicht war es bestimmt.

Zum Teufel also mit den nagenden Ängsten. Sie konnte nicht schlafen, das war alles. Sie zog die schützenden Gamaschen über, öffnete die Zelttür und trat in die windige Düsternis des isischen Zykadeenwaldes[20] hinaus.

Das wenige diffuse Licht rührte von einem Dutzend Sterne über dem Walddach, Futter genug für den Restlichtverstärker des Anzugs. Durch die Irislinsen erschien ihr der Wald wie ein Scherenschnitt von gedrungenen Baumstämmen vor einem diffusen Netzwerk aus unruhigem Laub. Ohne Tiefe, unheimlich. Sie erhöhte die Infrarotempfindlichkeit und hielt nach Wärmequellen Ausschau. Alles, was sie sah, waren ein paar Vögel, die auf Ästen saßen und schliefen, und ein paar ängstliche aasfressende Wühlmäuse, kaum größer als ihr Daumen.

Nichts, was einem den Schlaf rauben konnte. Sie legte wieder den Kopf in den Nacken.

Der hellste Stern war überhaupt kein Stern. Es war ein Planet, den irgendwelche einfallslosen terrestrischen Numerologen kurz nach seiner Entdeckung im vorigen Jahrhundert Chronos genannt hatten. Chronos war der Gasriese des isischen Systems, er war zurzeit am entferntesten Punkt seiner stark elliptischen Bahn. Er hatte zur Geschichte von Isis beigetragen, indem er das System von Eis- und Gesteinstrümmern befreit hatte; Kometen waren eine Seltenheit am isischen Himmel. Chronos war weniger ein Titan[21], dachte Zoe, als ein dicker, fetter Schutzengel.

Ihr Innenohr-Sprechfunk erwachte zum Leben, ein ganz schwaches Rauschen.

»Zoe?« Die Stimme von Tam Hayes. »Deine Telemetrie sagt, du bist nicht im Zelt, und dein Puls ist hoch. Ich nehme an, du bist wach.«

Ihr fiel ein Stein vom Herzen, als sie seine Stimme hörte. »Ich bin kein Schlafwandler, wenn du das meinst.«

»Unruhig?«

»Ein bisschen. Ist das schlimm?«

»Nicht schlimm.«

Die Winzigkeit der Stimme brachte ihr die Situation noch schärfer zu Bewusstsein: Sie war völlig allein in einem völlig fremden Wald. Sicher, bis Yambuku war es nicht weit; doch Yambuku war ein hermetisch abgedichtetes Habitat, eine zerbrechliche Erdblase. Sie hatte diese Blase verlassen und sich dieser menschenleeren Wildnis ausgeliefert. Wo es hinter dem nächsten Horizont kein künstliches Licht, keine Straßen, keine Annehmlichkeiten gab. Hinter dem Horizont nur wieder Horizont, Parallaxe gegen Null; nichts zwischen ihr und einer planetengroßen Gefahrenzone fünften Grades als eine Membran, die nur wenige Moleküle dick war. Kein Wunder also, dass Devices & Personnel sich entschieden hatten, ihr Genom aus dem alten Diaspora-Bestand Wiederaufleben zu lassen. Isis war mindestens so einsam wie irgendein gottverlassener Kuiper-Körper. Und viel, viel weiter von zu Hause entfernt.

»Zoe?«

»Ich höre.«

»Wir haben ein großes Tier, vielleicht fünfzig Meter Nordnordwest von deiner Position. Weiter nichts Schlimmes, aber wir wollen ja nicht ›Hier!‹ rufen, also halt dich bitte für ein paar Minuten still.«

»Ins Zelt zurück?«

»Noch nicht, du bleibst beweglich. Obwohl mir wohler wäre, du würdest Bescheid sagen, bevor du rausgehst. Rühr dich einfach nicht vom Fleck, die Roboter wissen, was zu tun ist.«

»Pirscht das Ding sich an?«

»Ist wahrscheinlich nur neugierig. Still jetzt.«

Sie lauschte in die Nacht hinaus, hörte aber nichts. Ein großes Tier? Höchstwahrscheinlich ein Triraptor. Sie stellte sich den Burschen vor: acht Glieder, vier Beine, vier Arme am aufgerichteten Oberkörper und Klauen wie von gehärtetem Stahl. Ihr Anzug war widerstandsfähig genug, um sie vor den Bissen kleiner oder wirbelloser Tiere zu schützen, aber nicht vor dieser blutrünstigen Kampfmaschine.

»Zoe?«

Sie wisperte: »Ich dachte, ich soll still sein.«

»Schon okay, wir dürfen nur nicht laut werden. Mach es dir doch bequem.«

Sie musterte den Boden ringsherum, ortete einen gestürzten Baumstamm und ließ sich darauf nieder. Winzige Insekten aus einem gestörten Nest schwärmten über ihr Schuhwerk. Harmlose Tierchen. Sie ignorierte sie. »Bequem ist gut. Immerhin können wir reden. Schon wieder die Nachtschicht übernommen?«

»Mitternacht bis Tagesanbruch, so lange, wie du draußen bist.«

Sie fühlte sich geschmeichelt, und eingeschüchtert sowieso. Sie hatte daran denken müssen, wie sie Hayes im Vorbereitungsraum begegnet war, wie sie in seinen Armen geweint hatte über die Tragödie auf hoher See und wie sie in jener Nacht zu seiner Kabine gefunden hatte. Daran, wie er sie angefasst hatte, begehrlich aber sanft, wie sie noch nie angefasst worden war…

Und sie hatte es zugelassen.

Hatte ihn ermutigt.

Hatte sich davor gefürchtet.

»Bisschen gruselig da draußen? Dein Puls ist wieder gestiegen.«

Sie wurde rot — was Gott sei Dank niemand sah, es sei denn, die Telemetrie verriet auch das. »Es ist einfach… so düster hier, egal wo du hinguckst.«

»Verstehe.«

Ein Wind aus dem Westen raschelte in den Bäumen. Derselbe Wind trug natürlich ihren Geruch tiefer in den Wald hinein. Nein, denk nicht drüber nach. »Tam?«

»Ja?«

»Du bist doch im Kuiper-Gürtel aufgewachsen. Red Thorn, sagst du?«

»Richtig. Red Thorn ist ein großes Habitat in den Nahen Oorts, das ist eine der ältesten Kuiper-Siedlungen. Dreiviertel-Ge-Rotation um die lange Achse, da musste ich mich nicht lange umstellen.«

»Glückliche Kindheit?«

Er zauderte. »Glücklich genug.«

»Krippe oder Biofamilie.«

»Bio. Gibt keine Krippen in Red Thorn; wir sind konservativ.«

»Du vermisst das Habitat?«

»Oft.«

Er gab Acht, bemerkte sie. Dachte an sie, an ihre schwierige Kindheit. »Weißt du, es war nicht so schlimm für mich, wie du vielleicht denkst. Ein Heimbaby zu sein, meine ich. Vor Teheran sowieso nicht. Ich war gern mit meinen Schwestern zusammen, mit den Kindermädchen.«

»Vermisst du das Heim?«

»Es gibt Dinge, die kriegt man nicht zurück. Dieses Gefühl… am richtigen Platz zu sein.«

»Hier sind wir alle fehl am Platz.«

Die Haut ihres Schutzanzugs war äußerst sensibel, zu sensibel. Sie fuhr zusammen, als ein Blatt auf ihre Schulter fiel.

»Zoe?«

»Tut mir Leid. Falscher Alarm. Der Wind frischt auf hier. Hab so ein Gefühl, als würd es bald regnen.« Sie fragte sich, wieso es leichter fallen sollte, mit Hayes über Sprechfunk zu reden als von Angesicht zu Angesicht. »Ich kann mir schon denken, wie ich einer Kuiper-Person vorkommen muss. So wie ich aufgewachsen bin, meine ich.«

»Keiner kann sich seine Kindheit aussuchen, Zoe.«

»Wie eine von diesen altmodischen, aristokratischen Chinesinnen, die ihre Füße in winzige Schuhe zwängen — du weißt schon. Sich verbiegen, bis man in irgendeine Schablone von Schönheit oder Nützlichkeit passt.«

»Zoe…« Er hielt inne. »Alte Kuiper-Maxime: ›Ein gebrochenes Menschenwesen ist nicht mal als Werkzeug zu gebrauchen.‹ So wie du das alles überlebt hast, musst du einen soliden Kern haben, etwas, das nur dir gehört.«

Jetzt war es an ihr, innezuhalten.

Theo hatte immer gesagt: Du spielst wieder Verstecken, Zoe.

Und er hatte immer herausbekommen, was er herausbekommen wollte.

Meistens.

Hayes sagte: »Still jetzt, Zoe, ein bisschen noch. Das Objekt bewegt sich wieder in deine Richtung. Die Roboter locken es weg, aber lenk jetzt nicht die Aufmerksamkeit auf dich. Und nimm bitte die Restlichtverstärkung zurück, Zoe. Die Linsen bluten, sie glühen wie Katzenaugen.«

»Du kannst mich sehen?« Sie wusste nicht, wie sie das finden sollte.

»Ich bin eins von den Telesensorien. Pssst. Ich halte dich auf dem Laufenden.«

Sie seufzte und schaltete den Restlichtverstärker ab. Sofort herrschte absolute Finsternis. Sie schloss die Augen und lauschte.

Der Wind wehte stärker inzwischen. Wolken hatten sich vor die Sterne geschoben. Von Westen schob sich eine Kaltfront heran, so der Wetterbericht am Morgen. Regentropfen klatschten auf das Walddach.

Es raschelte im Unterholz, vielleicht ein paar Meter von ihr entfernt. Ihr Puls raste.

Hayes sagte: »Das ist ein Roboter, dein Flankenschutz. Ich weiß, du siehst nicht einmal die Hand vor Augen. Aber du musst jetzt Ruhe bewahren, still jetzt.«

Sie konnte den Triraptor nicht durch den Wald schnüffeln sehen, aber ihr Schutzanzug roch ihn und übersetzte die luftgestützten Moleküle in eine elektronische Reizung ihrer Rezeptoren: Sie hatte ein schwaches Echo von etwas Beißendem und Bitterem in der Nase.

Das Tier war jetzt ganz in der Nähe. Für Nachteinsätze getrimmte Telesensorien umschwirrten sie. Schließlich hörte sie die unverkennbaren Geräusche von etwas Lebendigem und Massivem, das sich durchs Gestrüpp bewegte.

»Ruhig Blut, Zoe.«

Theo hatte ihr mehr Disziplin beigebracht als sie jetzt bewies. Sie riss die Augen weit auf und stellte sich vor, ihn zu sehen, den Triraptor — seine Augen zumindest, den schwachen Abglanz des Sternenlichts am östlichen Himmel, klassische Raubtieraugen, Chromgelb und wachsam.

Und vorbei.

»Stillhalten, Zoe.«

Das Tier verfolgte eine Robotspinne, kein Zweifel.

»Warte noch.«

Die Geräusche entfernten sich.

Vorsichtig hob sie das Gesicht in den Sprühregen.

»Ich vermisse Elam«, flüsterte sie.

»Ich weiß, Zoe. Ich vermisse sie auch.«

»Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, oder?«

»Sag so was nicht.«

Elf

Degrandpre hatte Avrion Theophilus durch das volle Besichtigungsprogramm der IOS schleusen wollen — wann hatten sie jemals einen Besucher wie Avrion Theophilus gehabt? —, doch der Mann von Devices & Personnel hatte abgewinkt.

»Was ich mir heute Morgen ansehen möchte«, hatte Theophilus freundlich gesagt, »das ist Ihre Shuttle-Quarantäne.«

Und was für ein grandioser Spross der Familien dieser Theophilus war! Groß gewachsen, gertenschlank, grauhaarig, Adlernase und von vornehmer Blässe. Degrandpres Orchidektomie-Abzeichen, das seine Untergebenen derart beeindruckte, war für diesen Mann nichts weiter als die Tätowierung eines Dienstboten. Ohne jeden Zweifel hatte Theophilus bereits eine ganze Horde junger Aristokraten gezeugt, stramme Geschöpfe mit blauen Augen und makellosen Zähnen.

Imposant, einflussreich — und potenziell sehr gefährlich. Avrion Theophilus war ein D&P-Funktionär von unbekanntem Rang und mit der typischen Arroganz eines Kartellbeamten — was besonders zu denken gab.

Die Nachrichten von der Erde waren nicht minder beunruhigend. Hinweise auf Aufruhr zwischen Konzernen und Familien, Schauprozesse, vielleicht eine Säuberungsaktion im Kartell. Doch Nachrichten, die durch die Partikelpaar-Verbindung kamen, waren stark zensiert, und obwohl dieser Theophilus sehr viel mehr über die Krise wissen musste als irgendjemand sonst an Bord der IOS, erbot er sich nicht, darüber zu sprechen.

Und Degrandpre, aus Angst, unverschämt zu erscheinen, traute sich nicht, danach zu fragen.

Es war zum Verrücktwerden, alles hatte zwei Gesichter. Sollte er sich um die Gunst eines Avrion Theophilus bemühen? Was würden seine Sponsoren im Kartell dazu sagen? Gab es einen Mittelweg?

So sehr sich Degrandpre um das Gegenteil bemühte, die Stimmung in der IOS wurde immer gedrückter. Der Verlust der Meeresstation hatte alle miteinander schwer getroffen; nach allem was man hörte, war das Oberflächenpersonal völlig entmutigt. Manche sahen darin das Ende der menschlichen Präsenz auf Isis. Und auszuschließen war das nicht, auch wenn dieser Theophilus eine befremdende Gleichgültigkeit zur Schau trug. »Ihre Orbitalstation braucht ein bisschen mehr Wartung«, bemerkte Theophilus höflich. »Der Ringkorridor ist schmutzig und die Luft nicht minder.«

Die Wände waren dreckig, ja. Reinigungsroboter wurden neuerdings für das Interferometer-Projekt abgestellt und bis jetzt hatten die Turingfabriken noch nicht für Ersatz gesorgt. Und was den Geruch anging… »Wir hatten Probleme mit den Rieseltürmen im Recycling-Aggregat. Vorübergehend, versteht sich, doch inzwischen… Ich bitte um Nachsicht. Man gewöhnt sich daran.«

»Vielleicht nicht so leicht, wie man meinen möchte.«

Ganz der Aristokrat, dachte Degrandpre: Beleidigung und Drohung in ein und derselben Phrase. Er versprach, sich um das Problem zu kümmern, obwohl er nichts anderes tun konnte, als den Ingenieuren einmal mehr auf die Nerven zu gehen. Die Higgs-Kugel hatte keine Ersatzteile gebracht und Degrandpre stellte sich die zynische Frage, ob Ersatz zurückgestellt worden war, um Raum für die edle Masse eines Avrion Theophilus zu schaffen.

Er begleitete seinen Gast bis an die massiven Schotts, die die Shuttle-Quarantäne vom Rest der IOS trennten.

Theophilus machte sich daran, Dichtungen und Nietköpfe minutiös in Augenschein zu nehmen, und ließ Degrandpre warten. »Wie Sie sicher wissen«, gab Degrandpre zu bedenken, »sind das die Standardschotts; die sterile Zone liegt dahinter.«

»Nichtsdestoweniger wünsche ich die tägliche Inspektion dieser Schotts. Durch qualifizierte Ingenieure.« Angesichts von Degrandpres schockierter Miene, setzte er hinzu: »Ich glaube nicht, dass der Konzern etwas dagegen hat, oder?«

Degrandpre legte die Hand auf das Zugangsfeld und das Schott fuhr auf. Vor den Kontrollen saß ein kuiperscher Mediziningenieur und überwachte die Quarantäne. Die vier Überlebenden der Hochseekatastrophe, ein Shuttlepilot und drei Junior-Exomeeresbiologen, harrten jetzt schon seit zehn Tagen in ihrem Gefängnis aus. Ein Bild aus der Isolationskammer füllte den Schirm über Degrandpres Kopf: zwei Männer, zwei Frauen, alle abgespannt, die Biologen im weißen Laborzeug, die Konzernuniform des Piloten sah noch erstaunlich fesch aus.

Theophilus stellte dem Mediziningenieur gezielte und kenntnisreiche Fragen zu den Quarantäneprozeduren, freien Kapazitäten, Störfallprotokollen und Alarmsystemen. Degrandpre hörte gut zu, konnte dem Austausch aber nichts entnehmen… außer vielleicht, dass sich Devices & Personnel allmählich um den sterilen Status der IOS sorgten.

Der aber hatte immer außer Frage gestanden. Ja, ein Ausbruch an Bord der Orbitalstation wäre natürlich ein Verhängnis gewesen. Die stählerne Perlenkette der IOS beherbergte und versorgte nahezu anderthalbtausend Menschen und für die meisten gab es keinen plausiblen Fluchtweg; der Planet selbst war prinzipiell toxisch und die einzige Higgs-Schleuder, die für den Notfall reserviert war, konnte bestenfalls eine Handvoll Manager aufnehmen. Doch es hatte zu keiner Zeit auch nur den Anflug einer solchen Bedrohung gegeben. Die Shuttles, die von Isis kamen, mussten durch das sterilisierende Vakuum des Weltraums und Fracht und Passagiere wurden rigoros unter Quarantäne gestellt und untersucht. Wie der Mediziningenieur geduldig ausführte. Und eingehend erklärte. Und fortfuhr zu erläutern, bis Degrandpre sich gezwungen sah, der Befürchtung Ausdruck zu geben, der Seniormanager von der Erde könne sich womöglich von der Fülle der Details erdrückt fühlen.

»Ganz im Gegenteil«, sagte Theophilus schneidig. »Standard-Quarantäne beträgt zehn Tage?«

Der Mediziningenieur nickte.

»Und wann geht diese hier zu Ende?«

»In wenigen Stunden, und kein Anzeichen einer Kontamination, nichts. Die haben eine Menge durchgemacht, die vier; die freuen sich schon.«

»Geben Sie ihnen noch eine Woche«, sagte Avrion Theophilus.


* * *

»Master Theophilus«, fragte Degrandpre, »gibt es sonst noch etwas, das Sie zu sehen wünschen? Die Gärten vielleicht, oder die medizinischen Einrichtungen?«

»Isis«, sagte Theophilus.

Immer wollen sie ans Fenster. »Da kann ich Ihnen den Ausblick im Shuttledock empfehlen.«

»Nein, danke, ich möchte schon näher hinsehen.«

Degrandpre runzelte die Stirn. »Näher hinsehen? Sie meinen… Sie wollen eine Bodenstation besuchen?«

Theophilus nickte.

Mein Gott, dachte Degrandpre. Er wird sich umbringen. Dieser imposante, dämliche Adelige wird sich umbringen, und die Familien werden mir die Schuld geben.

Zwölf

Am letzten Morgen ihres dreitägigen Testausflugs verschlief Zoe. Seit dem Tod von Elam Mather hatte sie ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Schlaf, er war seitdem flach und strotzte vor Träumen, doch die Erschöpfung hatte sie in eine schwarze, traumlose Bewusstlosigkeit gekippt. Als sie aufwachte, war der morgendliche ›Handshake‹ mit Yambuku seit einer Stunde überfällig.

Hatte man sie einfach schlafen lassen, oder gab es schon wieder eine Krise, eine Peripherieverletzung oder sonst ein Unheil zu bewältigen? Sie schaltete ihr Hornhautdisplay um und rief einen Lagebericht ab. Das übliche Telegeschnatter von Yambuku scrollte vorbei, Roboter redeten mit Robotern, doch ihre persönliche Sprechfunkverbindung trug ein gelbes Wartesymbol. Sie befragte das System und bekam eine vorausschauende Nachricht von Tam Hayes. Er müsse an einer Konferenz mit den IOS-Kachos teilnehmen und werde sich so bald wie möglich melden; inzwischen könne sie ja schon mal ihre sieben Sachen packen für den letzten Tagesmarsch.

Sie trat aus dem Zelt in die Morgensonne hinaus und kam sich ein klein wenig verlassen vor.

Ihr Testausflug war ein einziger Erfolg gewesen. Alle Peripheriegeräte — Zelt, Roboter, Managementsysteme für Nahrung und Abfall, Telekommunikation — hatten so einwandfrei funktioniert, dass die Ingenieure von Yambuku kein Hehl aus ihrem Neid machten. Es gab also doch noch eine Zukunft für die menschliche Präsenz auf Isis, auch wenn die Außenposten der ersten Generation gravierende Schwächen zeigten. Sie erfüllte ihre Mission, und wichtiger noch, sie war auf Isis, unterwegs in der fremden Biosphäre, nur einen Steinwurf entfernt vom brausenden Copper River…

Und warum kam ihr das wie ein hohles Versprechen vor?

Irgendetwas stimmt nicht mit mir, dachte Zoe.

Sie ließ die Luft aus den Zeltwänden, rollte die Gelmatten sorgfältig zusammen und schnallte sie auf einen hundegroßen Packroboter. Sie packte auch ihre Abfälle ein — leere Nahrungsbehälter, einen entladenen Akku; alles war keimfrei, aber es hier zu vergraben, kam ihr wie eine Entweihung vor, eine Beleidigung von Isis.

Irgendetwas stimmte nicht. Oh, es war nichts Physisches; ihre Grenzflächen waren intakt; sie war so gefeit gegen die Biosphäre wie ein Mensch nur gefeit sein konnte. Es war etwas weniger Greifbares als ein Virus oder ein Prion, das sich da in ihrem Innern breit machte.

Der Wald glitzerte vom nächtlichen Regen. Das Wasser rann von Stufe zu Stufe, aus vollen Blattmulden in überlaufende Blütenkelche. Im Schattenreich der Baumstämme waren über Nacht die Fruchtkörper der verschiedensten Pilze aus dem Boden geschossen. Der leichte Westwind wirbelte Schimmelpilzsporen auf, ein feiner, klebriger Staub, wie Holzascheteufelchen.

Ob sie mit einem Arzt reden sollte? Wenn alles nach Plan verlief, war sie bis zum Einbruch der Dunkelheit wieder in Yambuku. Doch ihre Beschwerden waren nicht so dramatisch — Ruhelosigkeit, Schlafstörungen und eine ganze Reihe von befremdlichen Gefühlen, von denen einige mit ihrer sexuellen Beziehung zu Tam Hayes zusammenhingen. Wenn sie das einem Arzt von Yambuku offenbarte, hatte sie endlose endokrine und Neurotransmitter-Tests zu erwarten — wollte sie das? »Nein«, sagte sie, ihre Stimme wurde von den Anzugfiltern gedämpft, klang aber wie ein Paukenschlag auf der wispernden Lichtung. Nein, das wollte sie auf keinen Fall, und nicht bloß wegen der physischen Ungelegenheiten. Um ehrlich zu sein, sie veränderte sich auf eine ebenso quälende wie beunruhigende Weise.

Ihre Gefühle für Hayes zum Beispiel. Sie kannte sich aus mit menschlicher Sexualität; sie hatte sie eingehend studiert. Ihre Bioregulatoren sorgten für einen ausgeglichenen chemischen Haushalt, was aber nicht hieß, dass sie geschlechtslos war; die Tantralehrer auf der Mittelschule hatten sie für ihre Geschicklichkeit gelobt. Nein: Das Schockierende war, dass sie ihm tatsächlich erlaubt hatte, sie anzufassen, das sogar gewollt hatte, genossen hatte. Die Kliniker von Devices & Personnel hatten ihr erklärt, durch Zutun eines anderen könne sie nie zu einem befriedigenden Orgasmus kommen. Die Jahre in Teheran hätten zu viele assoziative Barrieren aufgebaut, und außerdem dämpfe die Bioregulation die erforderlichen hormonellen Feedback-Schleifen. Sie könne nun mal keinen vergnügten Geschlechtsverkehr mit einem Mann haben.

So ähnlich jedenfalls hatte es geheißen.

Also stimmte etwas nicht. Also müsste sie einen Arzt konsultieren.

Aber das wollte sie nicht. Denn ein Arzt würde sie eventuell wieder einstellen und das Sonderbare — das wirklich Sonderbare — war, dass sie gar nicht eingestellt werden wollte.

Wenn sie wieder eingestellt war, dann spürte sie vielleicht beim Klang von Tams Stimme den Schauer der Vorfreude nicht mehr, die plötzliche Schwerelosigkeit, wenn er ihr ein Kompliment machte, die schockierende Vertraulichkeit seiner Hand auf ihrem Leib.

Das war verrückt, was sonst, doch es hatte auch etwas Himmlisches. Sie fragte sich, ob sie da auf einen Schatz gestoßen war, über den die Moderne nicht mehr verfügte, einen archaischen emotionalen Quell, der unter dem rigiden Sexualraster der Familien oder unter den schimpansenartigen Kopulationen der Kuiper-Clans verschüttet lag.

So liebte sich das unregulierte Proletariat vielleicht. Fühlte sich in Afrika und Asien, den Treibhäusern der Seuchen, so die ›Liebe‹ an?

Sie hatte Angst vor diesem Gefühl. Und sie hatte Angst, es könne eines Tages aufhören.


* * *

Gegen Mittag hatte sie fertig gepackt. Yambuku schwieg sich aus. Sie musste vor Ablauf einer Stunde aufbrechen oder sie ging das Risiko ein, die Station erst bei Dunkelheit zu erreichen.

Bei Dieter Franklin, der ihre physische Telemetrie überwachte, hinterließ sie eine kurze Aufforderung für Hayes, sich zu melden. Zum Glück war der Wald heute friedlich, keine Raubtiere im Messbereich, weiße Wolken ritten auf dem Meridian wie herrenlose Boote auf der Strömung.

Sie rief ihre Gesellschaft von sechsbeinigen Robotern zusammen und brach nach Westen auf. Den Pfad hatten Maschinen im Voraus gebahnt, er folgte auf einer Länge von etwa fünfhundert Metern dem Ufer des Copper. In dieser Jahreszeit führte der Fluss wenig Wasser. Es hatte sich von den Böschungen zurückgezogen und hinterließ steinige Furten, bewegungslose, grüne Tümpel und Schlickdünen, auf denen ein paar verwegene Gräser Fuß gefasst hatten. Vollautomatisierte, insektoide Telesensorien folgten ihr wie ein Mückenschwarm, ein paar flogen voraus und sicherten den Weg. Das feine Gesumm der Sensorien ging in einer Kakophonie aus Vogel- und Insektenrufen unter, die für ihre Ohren allesamt gleich klangen, wie Überlandleitungen, die in einer Hitzewelle summten.

Der Außenanzug tunnelte Schweißperlen von der Haut an die Oberfläche der Membran, um Zoe zu kühlen. Unter der Einwirkung der Sonne wurde die Membran weiß. Zoe besah sich die Arme. Sie war so blass wie die reinblütige Tochter einer nordischen Adelsfamilie, aristokratisch weiß.

Sie war kaum einen Kilometer vorangekommen, als Tam Hayes eine Direktverbindung schaltete. Wurde auch Zeit, dachte sie.

»Zoe? Wir hätten gerne, dass du vorläufig Halt machst.«

»Geht nicht«, sagte sie. »Nicht, wenn ich vor Dunkelheit zurück sein will. Du hast den ganzen Morgen mit der IOS geredet. Die Zeit steht nicht still, bloß weil es Kenyon Degrandpre gefällt, euch in Trab zu halten.«

»Darum geht es ja. Man will den Ausflug ausdehnen.«

Man, registrierte sie. Nicht wir. Hayes war dagegen. »Was meinst du mit ausdehnen?«

»Man möchte, dass du kehrtmachst, den Copper auf der mobilen Brücke überquerst und am Ostufer losmarschierst. Telesensorien werden eine Route zur Gräberkolonie auskundschaften und Roboter werden dir den Weg bahnen. In zwei Tagen müsstest du es bis zur Grenze ihres Einzugsbereichs schaffen.«

Was absurd war. »Ich soll Feldarbeit machen? Wir sind doch noch in der Testphase!«

»Auf der IOS ist man der Meinung, dass deine Ausrüstung alle Tests bestanden hat.«

»Der Zeitplan wird um gut einen Monat gekürzt.«

»Jemand muss es sehr eilig haben.«

Sie ahnte, warum. Die Laborinsel war kollabiert und alle anderen isischen Außenposten meldeten Besorgnis erregende Dichtungsdefizite. Ihr Schutzanzug konnte noch so hervorragend funktionieren, ohne eine Basis wie Yambuku war er so nützlich wie ein Regenhut in einem Hurrikan. Bevor man Yambuku evakuieren musste, wollte das Kartell maximalen Nutzen aus ihr schlagen.

Den Copper River in Richtung Vorgebirge überqueren? Tiefer in die Biosphäre vordringen, während Yambuku dem Kollaps entgegenschlitterte? War sie so tapfer?

»Ich persönlich«, sagte Hayes, »bin absolut dagegen. Ich habe zwar nicht die Autorität, die Anweisungen zu ignorieren, aber wir können jederzeit eine Anomalie in deiner Ausrüstung entdecken, die einen sofortigen Rückruf erfordert.«

»Aber der Anzug funktioniert tadellos. Das hast du selbst gesagt.«

»Oh, ich glaube, Kwame Sen wäre durchaus bereit, die eine oder andere Kurve zu korrigieren, wenn wir in Beweisnot kämen.«

Sie überlegte. »Tam, wer hat das angeordnet? Degrandpre?«

»Er war einverstanden, nein, angeordnet hat das dein D&P-Mann — Avrion Theophilus.«

Theo!

Theo würde auf keinen Fall in Kauf nehmen, dass ihr etwas Schlimmes zustieß.

Sie deckelte ihre Zweifel. »Du brauchst Kwame nicht anzustiften. Ich gehe über den Fluss.«

»Zoe? Bist du dir ganz sicher?«

»Ja.«

Nein.

»Na gut… ich schicke dir noch drei Roboter mit Proviant und Ausrüstung. Bis Einbruch der Dunkelheit müssten sie dich eingeholt haben. Und wenn es nach mir geht, kommst du beim ersten Anzeichen eines Defekts sofort zurück. Egal was es ist. Gib mir dein Wort, ich werde das von der IOS absegnen lassen.«

Er fügte hinzu: »Ich werde aufpassen«, wodurch sie sich gleichermaßen gestärkt und geschwächt fühlte, dann unterbrach er die Verbindung.

Zoe starrte über den friedlichen Copper. Die Packroboter bestätigten den neuen Befehlssatz aus Yambuku, indem sie einen Bogen um Zoe machten und mit der verhaltenen Ungeduld von Hunden den Pfad hinunterstrebten und darauf warteten, dass sie ihnen folgte.


* * *

Die Brücke war eine Art Jalousie aus dicken Ästen oder jungen Stämmen, die durch hoch belastbare Monofaserseile aneinander geknüpft waren; sie war hüben wie drüben mit Eisendornen verankert, die tief in den kiesigen Boden getrieben waren. Die Konstruktion war stabil genug, fand Zoe, aber ein Provisorium, das nicht von Dauer war. So mild die Jahreszeiten auf Isis waren, in wenigen Wochen würde der Monsunregen einsetzen und den Copper über die Ufer treten lassen und dieses von Robotern vollbrachte Kunststückchen hinwegspülen und in seine Einzelteile zerlegen.

Die Brücke überquerte den Copper an einer breiten, seichten Stelle, wo man durch die Zwischenräume die glatt gewaschenen Felsen sah und die stillen Tümpel, in denen es zappelte und laichte; die Tiere erinnerten eher an übergroße Kaulquappen als an Fische. Man hätte hier durchwaten können, dachte Zoe, im Grunde war die Brücke überflüssig. Ein paar Packroboter taten genau das, wobei man den Eindruck hatte, dass ihre Stelzbeine besser mit dem Wasser zurechtkamen als mit den schlingernden Querhölzern der Brücke.

Auf der anderen Seite des Flusses war der Pfad weniger ausgeprägt; er war längst nicht so gründlich vorgebahnt worden. Ihrer Statur nach bewegten sich die Roboter sehr leichtfüßig durch die Landschaft; einen Flecken Gras einzuebnen, bedurfte schon großer mechanischer Anstrengungen, und noch mehr, dichtes Unterholz beiseite zu räumen. Hier musste sie ihre Schritte vorsichtiger wählen. Die Membran des Anzugs würde unter gewöhnlichen Belastungen nicht reißen — doch eine Messerklinge mit Druck dahinter, die Klaue eines großen Raubtiers oder ein Sturz aus ein, zwei Metern Höhe — wer weiß?

Probleme mit Messern konnte sie getrost ausschließen. Und was Raubtiere betraf, so gaben die Roboter und insektoiden Sensorien schon Acht. Die Gebirgsausläufer waren jedenfalls kein so einladendes Jagdrevier wie die Savanne, die sich nach Süden und Westen erstreckte. Triraptoren waren hier eher eine Seltenheit, und die kleineren, flinkeren Fleischfresser hatten etwa die Größe von Hauskatzen und waren leicht zu verscheuchen durch ein Wesen so groß und so fremd wie ein Mensch. Das war vielleicht einer der Gründe, warum sich die Gräberkolonie hier so erfolgreich etabliert hatte.

Und was ein, zwei Meter Höhe anging — naja, sie würde nur ungern das Einzugsgebiet der Gräber verlassen und weiter ins Gebirge vorstoßen, wo der Copper River in schmalen Rinnen zwischen schieferscharfem Felsgestein dahinschoss. Davor und bis da vertraute sie voll und ganz ihren Füßen.

Was also machte ihr noch Angst?

Irgendeines von zehntausend unerwarteten Ereignissen, dachte Zoe. Ganz zu schweigen von ihrer Gemütsverfassung.

Nicht, dass es ihr schlecht ging. Im Gegenteil. So wechselhaft ihr zumute gewesen war, im Moment fühlte sie sich überraschend fit, schritt aus im Sonnenschein und ließ die Arme schwingen mit einem Gefühl von Freiheit, wie sie es seit der Kinderkrippe nicht mehr empfunden hatte. Der Pfad folgte einem niedrigen Hügelkamm Richtung Osten. Manchmal trug er sie so hoch hinauf, dass sie das grüne Dach des Waldes sehen konnte, das sich gen Westen senkte, so dicht und geschlossen wie ein wohl gehütetes Geheimnis. Das alles berührte sie — sie hatte kein besseres Wort dafür —, berührte sie, wie sie es nicht für möglich gehalten hätte; gerade so als hätte sie Yambuku verlassen und zuvor keine schützende Membran angelegt, sondern eine abgestreift. Sie war wie ein offener Nerv; beim schieren Anblick des blauen Himmels hätte sie vor Freude weinen mögen.

Sie fand keine Erklärung für diese Stimmungsschwankungen… es sei denn, sie lief aus dem Ruder. War das denkbar? Thymostaten waren einfache homöostatische Maschinen; sie arbeiteten absolut wartungsfrei und zuverlässig. Eine gestörte Bioregulation musste doch Spuren in der medizinischen Telemetrie hinterlassen?

Egal, raunte irgendein separatistischer Teil von ihr. Sie lebte — sie war lange nicht mehr so lebendig gewesen — und das gefiel ihr.

Gefiel ihr fast so sehr wie es ihr Angst machte.

Lange vor Einbruch der Dunkelheit machte sie Halt; die Roboter erkannten die potenziellen Lagerplätze durch Mustervergleich. Der Hügelkamm erweiterte sich hier zu einem felsigen Plateau, im Mutterboden zwischen den glazialen Felsplatten saßen Büschel grüner Fettpflanzen. Das Zelt aufzuschlagen war ein Kinderspiel — es war so intelligent, dass es die meiste Arbeit selbst besorgte —, die Verankerung war da schon schwieriger. Zoe trieb Pflöcke in Steinspalten und in ausgefüllte Hohlräume und vertäute das Zelt auf altmodische Weise. Sie rief den Wetterbericht ab, nichts hatte sich geändert seit heute Morgen: wolkenlos, windstill. Isis zeigte sich von der besten Seite.

Nach einem hastigen Imbiss meldete sie sich bei Dieter. Alles wie gehabt, meinte Dieter, außer dass Avrion Theophilus, dieser mysteriöse Mensch von Devices & Personnel, den nächsten Shuttle nach Yambuku gebucht hatte.

Theo in Yambuku, dachte Zoe.

So wie sie drauf war, hätte sie sich freuen müssen.

Warum tat sie es bloß nicht?


* * *

Die Sonne versank hinter den Copper Mountains. Zoe beendete die umständliche Prozedur der Nahrungsaufnahme durch den Anzug hindurch und wollte eben einen neuen Angriff auf die Zitadelle des Schlafs starten, als ein Alarmsignal in ihr Hornhautdisplay platzte. Diesmal gehörte die Stimme Lee Reisman, Dieters Ablösung. »Wir haben ein großes Tier in Ihrer Nähe«, sagte Lee, dann: »Wau! Das ist ja ein Gräber!«

Sie war sofort hellwach. »Kommt er näher?«

»Nein… nach den Telesensorien hält er etwa hundert Meter Abstand. Roboter sind positioniert, um ihn abzufangen, aber…«

»Lassen Sie ihn mal in Ruhe.«

»Zoe? Das ist jetzt nicht der Augenblick, um Kontakt aufzunehmen.«

»Ich will nur einen Blick auf ihn werfen.«

Sie krabbelte aus dem Zelt in den dunklen Abend hinaus. In dem Maße, wie sie ihre Sehkraft aufdrehte, glühten die Schieferfelsen auf; das Gestein gab ab, was es tagsüber an Wärme aufgenommen hatte. Sie hatte befürchtet, den Gräber kaum noch ausmachen zu können, doch sie sah ihn sofort und optimierte die Einstellung ihrer Membranlinsen.

Sie erkannte ihn an den langen, weißen Schnurrhaaren, diesen abgespreizten Tastorganen unter den Augen: Das war der Alte, wie Hayes ihn genannt hatte.

Sie betrachtete den Alten, und der Alte betrachtete sie.

Es war beim besten Willen nicht möglich, in dieses Gesicht etwas hineinzulesen. Wir projizieren unsere Emotionen auf andere Lebewesen, überlegte Zoe; Katzen und Hunden glauben wir anzusehen, was in ihnen vorgeht; doch dieser Gräber war so unergründlich wie ein Hummer. Die Augen zum Beispiel. Bei jeder Kreatur, die größer war als ein Käfer, waren die Augen das eigentliche Orakel; doch die Augen des Gräbers waren einfache, schwarze Ellipsoide in einem Bett aus körnigem Fleisch. Tintenblasen. Fenster, aus denen Zoe sich von einem trüben Dreiviertelbewusstsein kühl beobachtet fühlte.

»Alter«, sagte sie leise. Neugieriger Alter.

Der Alte blinzelte — ein silbriger Funke auf schimmerndem Schwarz —, dann wandte er sich ab und trottete davon.

Dreizehn

Was Hayes wirklich in Schach gehalten und wovon er Zoe nichts erzählt hatte, war eine Kaskade von Dichtungspannen. Er wünschte sich unwillkürlich Mac Feya zurück — Mac hatte sich auf das Flicken von Dichtungen verstanden. Abgesehen von der einen, die ihn umgebracht hatte.

Lee, Sharon und Kwame waren ungemein tüchtige Ingenieure, aber sie waren physisch überfordert, versuchten, mit einem Minimum an Schlaf auszukommen. Momentan schien die Lage stabil — die Dichtungen waren ausgetauscht und Proben des erodierten Materials warteten im Glove-Box-Archiv. Hayes hatte die Arbeiten minutiös verfolgt. Dieter Franklin nahm Hayes mit in sein Labor, um ihm zu zeigen, wie sich die Bakterien auf dem Dichtungsmaterial veränderten. Die zunehmende Dichte der fibrillären Substanz im Zellkörper, Mikrotubuli, die sich wie DNS ringelten, wo vor einem Monat nur ein paar vereinzelte Fäden gewesen waren. Auch die körnigen Strukturen auf der Zelloberfläche waren neu, die höchst gegensätzlichen Moleküle, die sie synthetisierten und absonderten, gruben sich ringsherum in das Dichtungsmaterial. Dieter wies auf den Bildschirm, der eben zum Leben erwachte. »Das ist nicht mehr der Organismus, mit dem wir es vor sechs Monaten zu tun hatten.«

»Selbes Genom, selber Organismus«, sagte Hayes.

»Dasselbe Genom, aber es drückt sich radikal anders aus.«

»Reagiert also auf die Umwelt.«

»Und nicht zu knapp. Man könnte meinen, es versucht regelrecht in die Station einzubrechen.«

Der Übertreibung nach müsste Dieter zum Gamma Stone-Clan gehören. »Sie wachsen, weil wir sie füttern.«

»Sie sterben so rasch wie sie wachsen.«

Das stimmte. Verpackt in seiner Außenmontur hatte auch Hayes mit Hand angelegt, um den Filz aus abgestorbenen Bakterien von der Außenwand der Station zu schrubben. Kamikaze-Bakterien? »Ich glaube nicht, dass sie die Absicht haben, uns zu töten, Dieter.«

»Eine Annahme, die uns zum Verhängnis werden könnte.«


* * *

Hayes arbeite von früh bis spät, hieß es. Er kenne keinen Schlaf.

In letzter Zeit war das nur allzu wahr gewesen. Er hatte persönlich einen Großteil von Zoes erweitertem Außenaufenthalt überwacht, ganz zu schweigen von der Koordination der Dichtungsreparaturen und einem kompletten Filteraustausch in einem der großen Klimaaggregate. Er schlief durchschnittlich vier bis fünf Stunden pro Nacht und war manchmal überglücklich, wenn er so lange schlafen durfte. Der Schlafentzug hatte ihn reizbar und überempfindlich gemacht. Zum ersten Mal in seinem Leben beneidete er die Terrestrier um ihre Thymostaten. Er musste mit koffeinhaltigen Getränken und seiner Willenskraft auskommen, den Bioreglern des kleinen Mannes.

Es war spät, als er Dieter Franklins Labor verließ. Mit Ausnahme der zweiten Nachtschicht war so gut wie niemand mehr auf den Beinen. Nachts schien die Station zu groß und gleichzeitig zu klein zu sein — das Echo der Schritte kam wie aus weiter Ferne, doch das Geräusch an sich war flach, eingeengt: ein abgeschlossener Raum. Jede Gasse eine Sackgasse.

Yambuku war ihm nie so verletzlich erschienen.

Seine biologischen Aufzeichnungen lagen unangetastet in seiner Kabine. Er war versucht, sich dorthin zurückzuziehen, doch eine letzte Aufgabe wartete noch auf ihn. Morgen früh kam dieser terrestrische D&P-Kacho an und brauchte ein Quartier. Aber es gab in Yambuku nur eine einzige Kabine, die nicht belegt war, und das war die Kabine, in der Elam Mather gewohnt hatte.

Die Kabine für Avrion Theophilus herzurichten war keine große Arbeit. Niemand auf Isis besaß irgendetwas Materielles. Der Witz war, man kam nach Isis, wie man auf die Welt kam: nackt und bange. Und so ging man auch wieder.

Elam war ganz anders gegangen, aber mitgenommen hatte sie auch nichts. Trotzdem, das Bettzeug musste gewaschen und die Wandschirme mussten geleert werden.

Nicht viel Arbeit, aber Arbeit, die ihm nicht gefiel. Sie durfte nicht delegiert werden. Es war immer der leitende Manager, der sich der Kabine eines Verstorbenen annahm. Er hatte das Gleiche für Mac Feya getan. Jeder von den alten Hasen hier würde das tun — eine von den wenigen Sitten, die das Isis-Projekt hervorgebracht hatte.

Er schloss mit dem Hauptschlüssel auf.

Elams Pultlampe flackerte auf, als er eintrat, dann erwachte ein Wandschirm zum Leben — ein Livebild von Isis, das aus dem Orbit übertragen wurde. Hatte Elam sich vorgestellt, da oben, über der toxischen Biosphäre, in ihrem Wolkenkuckucksheim zu wohnen? Oder hatte sie ganz einfach den Fernblick vorgezogen?

Er schaltete den Schirm ab und löschte Elams Präferenzen. Dann zog er das Bettzeug ab, faltete es zusammen und nahm die Kleiderzuteilung aus dem Regal, alles war aus dem einheitlichen, ultraleichten, aschegrauen Stoff, der von der Erde importiert wurde. Er legte alles vor die Tür, wo ein Roboter es auflesen würde. Elams Wäsche würde frisch und anonym in der Ausgabe des Haushaltssystems landen; irgendwann mochte er selbst auf genau diesem Kopfkissenbezug schlafen.

Schließlich benutzte er seinen Palmtop, um Elams persönliches Schließfach im Zentralspeicher von Yambuku zu öffnen. Mac hatte einen Haufen Memos, Briefe an zu Hause und andere, unleserliche Notizen hinterlassen. Elam hatte besser aufgeräumt; es sah so aus, als gebe es nur Listen, Pläne und Zugangscodes zu löschen…

Doch als er den Löschbefehl gab, meldete sich eine rot markierte Datei.

Der Brief war noch unvollendet und an ihn adressiert.


Tam,

bin momentan über dem Ozean auf dem Weg zu Freeman Li. Wir hatten in letzter Zeit kaum Gelegenheit zu reden. Wir holen das nach, sobald ich zurück bin, ja? Bis dahin ein paar Gedanken.

Du weißt sicher noch, wie ich gesagt habe, du sollst diese Fisher nicht zu nah an dich ranlassen. Vielleicht war das falsch. (Da kannst du mal sehen, was meine mütterlichen Ratschläge wert sind.) Dieses Mädchen ist was Besonderes, zugegeben, aber du musst auch sehen, Tam — dass darin eine Gefahr liegt. Vielleicht sogar eine große Gefahr.

Sie selbst ist natürlich keine Intrigantin, aber sie ist und bleibt ein Werkzeug in irgendeinem komplizierten Machtpoker von Devices & Personnel. Das ist schlimm für sie, weiß Gott, und könnte auch schlimm werden für jemanden, der sie so gern hat wie du. Sei bitte nicht naiv! Der Konzern benutzt Zoe Fisher und ihresgleichen wie unsereins Klosettpapier benutzt. Unser einziger Schutz ist die Entfernung, fragt sich nur, wie lange noch. Isis ist keine Kuiper-Republik; Isis ist Konzernbesitz. Vergiss das nicht.

Avrion Theophilus — der Name erscheint urplötzlich auf einer Frachtliste. Teil eines Plans — oder schlimmer noch: eines fehlgeschlagenen Plans. Er ist mit Vorsicht zu genießen, Tam. Der Einsatz muss schon sehr hoch sein, wenn eine Konzern-Familie einen so kostbaren verwandten auf eine so gefährliche Heise schickt, vielleicht will er sich nur davon überzeugen, dass Zoe ihre Sache gut macht — dass die Außenmontur hält, was sie verspricht — aber das heißt auch, dass es genauso einflussreiche Leute gibt, die wollen, dass die Sache schief geht.

Doch hier ist die wirklich unangenehme Nachricht: Ich glaube, man hat an Zoe herumgepfuscht.

Letzte Nacht, gut eine Stunde nach Mitternacht, fand ich sie im Frachtraum. Sie wähnte sich allein und weinte. Stille, hilflose Krokodilstränen — du weißt schon. Als ich sie fragte, was denn los sei, da wurde sie rot und murmelte etwas von einem Albtraum. Stutzig machte mich, wie sie es sagte: Sie versuchte es herunterzuspielen, wollte mich ganz klar abwimmeln, war aber auch seltsam offenherzig, als sei ein Albtraum eine komplett neue Erfahrung für sie, etwas, das sie nur aus Büchern kannte. Was gut sein kann, wenn man an ihren Werdegang denkt.

Frag dich selbst, Tam: wieso sollte ein perfekt durchreguliertes Retortenbaby wie Zoe Fisher plötzlich unter Albträumen leiden? (Oder sich, so gesehen, verlieben?)

Nachdem ich sie beruhigt und zurück ins Bett gescheucht hatte, weckte ich Shel Kyne. Shel ist ein fähiger Arzt aber hoffnungslos terrestrisch. Er wunderte sich nicht mal, warum ich so viel über Zoes Bioregulation wissen wollte — tischte mir einfach die ganzen Kurven und Tabellen auf, sauer ob der Uhrzeit aber froh, dass man ihn zu Rate zog. (Ich weiß nicht, wie ihr Red Thorns das haltet, aber im Rider-Clan wird die unbefugte Weitergabe patientenbezogener Daten mit der sofortigen Entziehung der Bürgerrechte geahndet. Erdlinge!)

Als Erstes wollte ich wissen, ob emotionale Labilität auf eine Störung des Thymostaten hinweist.

Ja, meinte Shel, das sei gut möglich, obwohl thymostatische Gleichgewichtsstörungen anfangs kaum wahrnehmbar seien; emotionale Unbeständigkeit zeige sich normalerweise erst nach Wochen oder Monaten, nachdem der Thymostat sich abgeschaltet habe.

Also wollte ich wissen, ob es irgendeine Unstimmigkeit mit Zoes Bioregler gebe.

Er lächelte und zuckte die Achseln.

Zoe ist offenbar randvoll mit nagelneuer Bloodware[22], die hauptsächlich in künstlichen Drüsensäcken entsteht, die rings um die Bauchaorta lagern. Diese Apparate sind derart neumodisch, dass Shels Instrumente sie nicht einlesen können, und D&P hat keine Blaupausen geschickt. Shel kann nur eins, nämlich das Vorkommen relevanter Neurotransmitter und chemischer Regulatoren in ihren Stoffwechselprodukten überwachen. Zoes Serotonin-, Noradrenalin- und Substanz-P-Spiegel sehen wohl allesamt ein bisschen seltsam aus und was ihr auch fehlt, sind die meisten normalen Wiederaufnahmehemmer. Aber die Bloodware ist so ungewöhnlich, dass Shel nicht sagen kann, ob das nun Resultate einer funktionierenden oder einer fehlerhaften Regulierung sind.

Shel meinte, wir bekämen doch Gelegenheit, Avrion Theophilus zu fragen. (Ich log, als ich ihm beipflichtete; ich habe ihm auch geraten, den Mund über unser Gespräch zu halten, bis ich mich wieder bei ihm melden würde. Vielleicht wirfst du mal einen Blick in seine allernächsten Berichte an die IOS.)

Was hat das nun zu bedeuten?

Vermutlich, dass ihr Thymostat schweigt. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Lieben. Mit kuiperschen Worten: Sie ist praktisch wie neugeboren. Sie muss mit einem ganzen Rudel an neuen und zwiespältigen Emotionen fertig werden, und sie versteht nicht eine davon. Die Zoe Fisher, in die du dich so unmissverständlich verliebt hast, Tam, ist eine nagelneue Zoe Fisher. Zerbrechlich. Wahrscheinlich verängstigt. Und sehr darauf aus, den Job zu tun, für den sie ausgebildet wurde.

Wie sollen wir auf all das reagieren? Keine Ahnung.

Mein einziger Rat: Halt die Augen offen.

Halt dir den Rücken frei.

Ich halte es genauso. Ich verwahre diesen Brief in meinem Schließfach, weil ich nicht will, dass er durch Yambukus Cyberspace geistert. Wenn alles gut geht und ich wieder zurück bin, dann reden wir lieber.

- Elam

P.S. Natürlich mag sie dich, du Blödmann! Das tun viele hier. Ich auch. Warst du nun zu vernagelt, um es zu bemerken, oder warst du zu artig, um es dir anmerken zu lassen?

Pure Neugier.


Hayes las den Brief ein zweites Mal.

Saß eingekapselt in der Stille dieses Kokons, der einmal Elams Kabine gewesen war, und las, derweil der Terminator über die lang gestreckten Täler und bewaldeten Hügel kroch.

Vierzehn

Als der rote Notruf des Shuttle-Quarantänemoduls auf seinem Palmtop zu blinken begann, war Corbus Nefford gelinde gesagt empört. Unter seiner ärztlichen Aufsicht hatte es an Bord der IOS noch nie eine gesundheitsgefährdende Krise gegeben, und er war fest entschlossen, es nie dazu kommen zu lassen.

Das sah zugegebenermaßen nicht gut aus — Ken Kinsolving, der für die Tagwache eingeteilte Quarantänemediziner, hatte aus einem unerfindlichen Grund am Shuttlelift einen Notruf der Stufe eins ausgelöst. Das war vermutlich harmloser als es aussah, Kinsolving hatte sich vielleicht nur ins Bockshorn jagen lassen — hatte bei einem Anfall von Gastritis oder Migräne unter den Shuttleleuten überreagiert. Die Alternative war nicht auszudenken.

Doch vor dem Schott des Quarantänemoduls war eine Wache postiert und drinnen…

Drinnen herrschte Chaos.

Zwei Pfleger saßen da, den Kopf im Pilotgeschirr für Telesensorien, und redeten in einem leisen, drängenden Tonfall in ihre Mikrophone. Kinsolving, hager und in Weiß gekleidet, winkte Nefford zu einem unbesetzten Kontrollpult. »Rios und Soto sind tot«, sagte er ohne Umschweife. »Raman liegt im Koma und Mavrovik ist zeitweilig bei klarem Verstand. Wir brauchen Hilfe bei der palliativen Behandlung und beim Entnehmen von Gewebeproben — wenn Sie das übernehmen, Manager.«

Einem Juniormediziner stand es nicht an, Corbus Nefford derart schroff anzugehen, doch es handelte sich immerhin um einen Notfall. Nefford klemmte sich in den Kontrollsessel. Er hatte ein bisschen zugenommen, seit er das letzte Mal so ein Geschirr angelegt hatte.

Aber man tut, was getan werden muss. Wozu man ausgebildet war, und danke Gott für die Ausbildung; sie verdrängte die Panik. Er stellte sich vor, wie sein Thymostat die Sturzbäche von Adrenalin registrierte und alle Register zog, um ihn zu beruhigen, ohne seine gesteigerte Wachsamkeit zu dämpfen. Erreger, kreiselte es in seinem Kopf, isische Erreger an Bord der IOS: ein Albtraum, den er immer weit von sich geschoben hatte…

Sein Kopfgeschirr erwachte zum Leben, und er war plötzlich mitten in der Quarantänezone bei den Opfern. Seine Arme waren die Arme eines medizinischen Roboters und seine Augen waren die hoch empfindlichen Sensoren des Geräts. Er orientierte sich rasch. Die Quarantänekammer war beklemmend klein, viel zu klein für eine Krankenstation. Roboter und Telesensorien standen sich gegenseitig im Weg; Kinsolvings Sensorium fuhr neben ihm auf.

Nefford identifizierte die Shuttlebesatzung auf ihren Feldbetten. Mavrovik, Soto, Raman und Rios. Zwei Männer, zwei Frauen. Sie waren die einzigen Überlebenden der Hochseetragödie gewesen, ein Pilot und drei Wissenschaftler, die sich abgesetzt hatten, kurz bevor die Station endgültig kollabiert war.

Und sie hatten anscheinend etwas mitgebracht, obwohl sie seit — wie lange schon? — fast einem Monat in Quarantäne waren und keinerlei Anzeichen einer Erkrankung gezeigt hatten. Und war es nicht so, dass isische Erreger sofort zuschlugen? Ein ansteckendes isisches Agens mit langer Inkubationszeit war ein absolutes Novum — eine Bedrohung, fast zu schrecklich, um es in Betracht zu ziehen.

Nefford folgte dem medizinischen Sensorium des Juniormediziners. Man hatte Mavrovik ausgezogen und ans Bett geschnallt. Vom geschorenen Schädel sickerten faulig riechende, gelbliche Schweißperlen ins Kopfkissen. Kinsolving hatte ihm Lösungen und Hämostaten in den nackten Arm gestöpselt. Nefford legte noch eine Lungendrainage an.

Was Kinsolving bei dem Mann erreicht hatte, war eine momentane Homöostase. Nefford schloss seine eigenen Messgeräte an den Piloten an, und der diensthabende Mediziner begann mit der Übertragung. In einem ruhigen Augenblick fragte Nefford: »Seit wann sind die Leute krank?«

»Die ersten deutlichen Symptome zeigten sich vor knapp drei Stunden. Es gab keine richtige Vorwarnung. Die Blutgase sahen vorher merkwürdig aus, ja, aber nicht merkwürdig genug.«

Nefford sah sich um, als zwei Roboter die erstarrenden Körper von Rios, einer Frau, und Soto, einem Mann, auf fahrbare Tragen verluden und hinausrollten. Tief im Quarantänebereich gab es einen Kühlraum samt Autopsiekammer — ausschließlich von Robotern und Telesensorien bemannt. Die Einrichtung war sorgfältig gewartet und wurde jetzt zum ersten Mal benutzt.

Als er sich wieder umdrehte, standen Mavroviks Augen offen, die Pupillen übermäßig geweitet. Nefford, der unter dem Kopfgeschirr schwitzte, rief einen Überblick über die lebensbedrohenden Umstände ab. Die Auflistung war erschreckend. Schwere Ödeme, innere Blutungen infolge katastrophaler Gewebeerweichung, Nekrose der Nieren, Nachlassen der Leberfunktion, unregelmäßiger Puls, Blutdruck so vage, dass selbst die Hämostaten keinen akzeptablen Wert erzielten. Resümee: Der Mann starb. Und zwar unaufhaltsam.

Kinsolving rollte zurück, die Robotarme erschlafften, als er das Kopfgeschirr ablegte. »Tun Sie für ihn, was Sie können«, sagte er ohne Umschweife. »Ich rede mit Degrandpre.«

Besser du als ich, dachte Nefford.

Als das medizinische Sensorium von Kinsolving verstummte, veranlasste Nefford das komplette Paket an lebenserhaltenden Maßnahmen.

Mavrovik war zwar einigermaßen stabil, aber das war nicht mehr als eine Atempause. Nefford kannte keine erfolgversprechende Therapie — er kannte nicht einmal den Erreger. Alles, was er zu bieten hatte, waren Linderungsmittel und Beutel mit frischem Kunstblut und gerinnungsfördernde Nanobakterien, um die schlimmsten inneren Läsionen abzudichten.

Auf lange Sicht war das alles nutzlos. Mavrovik wurde von einer Entität verschlungen, für die Nefford nicht einmal einen Namen hatte, die bald schon Herz oder Hirn irreparabel schädigen würde und — aus der Traum.

Als hätte Mavrovik den Gedanken gelesen, röchelte er plötzlich und bäumte sich gegen die Fesseln. Nefford war zusammengefahren. Zum Glück ignorierten Telesensorien solche unwillkürlichen Reaktionen, andernfalls hätte er leicht einen intravenösen Schlauch aus dem Patienten reißen können. Wie muss ich für ihn aussehen, dachte Nefford: wie ein Roboterkopf, wie ein verchromter Rinderschädel, der ihn aus rubinroten Objektiven beäugt. Aber Mavroviks Augen waren wieder geschlossen; seine Lippen bewegten sich, er redete mit jemandem, der nicht anwesend war.

»Wer bist du?«, röchelte er durch einen Pfropfen aus blutigem Granulat.

»Nicht reden«, sagte Nefford. Das Telesensorium gab seine Stimme fast originalgetreu wieder — mehr Menschenähnlichkeit hatte er dem Todkranken nicht zu bieten. Er spritzte noch einen Tranquilizer in die Chemikalienbrühe des Tropfs.

Doch Mavrovik gab keine Ruhe. »Da sind sie!« Die Lippen waren mit Blut gesprenkelt. »Da sind sie!«

»Beruhigen Sie sich, Mr. Mavrovik. Nicht reden. Sparen Sie Ihre Kräfte.«

»Es sind so viele!«

Nefford seufzte und zurrte die Riemen fester. Das jetzt war vielleicht — nein, höchstwahrscheinlich — die finale Krise. Er beschleunigte die Zufuhr von Opiaten.

»Sie reden. Alle reden, reden…«

Seit seiner Lehrjahre in Paris war Corbus Nefford nicht mehr bei einem Sterbenden gewesen. Der Tod war Sache der Sterbekliniken und Bauerndoktoren, nicht der erfolgreichen Ärzte adliger Herkunft. Er hatte vergessen, wie haarsträubend dieser Prozess sein konnte. Er schob Mavroviks linkes Augenlid hoch und erwartete eine starre und weite Pupille; stattdessen reagierte die Pupille prompt auf den Lichteinfall und zog sich zusammen. Dann klappte auch das andere Auge auf, und Mavrovik blickte Nefford mit jäher, beängstigender Klarheit an.

»Sie müssen das verstehen«, sagte Mavrovik. Er krächzte die Worte durch eine Klöppelspitze aus rotem Sputum. So reden Tote, dachte Nefford. Der hier war so gut wie tot. »Da sind Tausende, Abertausende. Sie reden miteinander. Reden mit mir!«

Was Nefford in den Bann schlug, war der schiere Ernst in diesen Worten. Er registrierte den abstürzenden Gefäßdruck des Patienten, die erodierten Kapillaren bluteten in Windeseile dem Totalzusammenbruch entgegen. Durch Mavroviks Gesicht liefen blaue und schwarze Streifen, als sei er mit einem Stock verprügelt worden. Das Weiße in seinen Augen war scharlachrot durchschossen. Mavroviks Gehirn musste inzwischen bluten, überlegte Nefford; dieser Monolog hatte weder Hand noch Fuß. Trotzdem hörte er sich fragen: »Abertausende wovon, Mr. Mavrovik?«

»Welten«, sagte Mavrovik ganz ohne Anstrengung, wie zu sich selbst.

Corbus Nefford glaubte natürlich nicht an Gespenster. Er war ein Spezialist von Adel — auf seine Weise ein Wissenschaftler. Nur das gemeine Volk und die Bauern fürchteten sich vor Gespenstern und Geistern. Nefford fürchtete sich nur vor dem Kartell. Er wusste aus eigener Anschauung, was für ein Unheil die Konzerne anrichten konnten.

Nichtsdestoweniger ertappte er sich dabei, den Sterbenden mit einer nahezu abergläubischen Furcht zu betrachten.

Mavrovik lachte — ein entsetzliches, gurgelndes Geräusch unter einer pinkrosa Schaumkrone. Aspirationsgeräte saugten Mund und Kehle aus. Seine Arme wehrten sich gegen die Fesseln, gerade so, als wollte er hochlangen, um Nefford — bzw. Neffords Telesensorium — zu packen und näher heranzuziehen.

Ein grausiger Gedanke.

»Wir sind ihre Waisenkinder!«, erklärte Mavrovik.

Das waren seine letzten Worte.


* * *

Etwa um die gleiche Zeit starb auch Raman, friedlicher allerdings. Die Tode brachten eine gewisse Ruhe in das Quarantänemodul, obwohl weiterhin eine hektische Aktivität herrschte — das Entnehmen von Blut- und Gewebeproben, die Eindämmung der Körper, periodische Wolkenbrüche aus flüssigen Desinfektionsmitteln und Gasen.

Als Mavroviks Leichnam endgültig verpackt und fortgeschafft war, gönnte Nefford sich eine kurze Atempause. Dann fuhr er sein Sensorium in die Parkposition und nahm das Kopfgeschirr ab.

Er war so lange mit dem Telesensorium zugange gewesen, dass ihm der eigene Körper geradezu plump und fremd erschien. Die Kleidung war durchgeschwitzt, er rümpfte unwillkürlich die Nase. Was er jetzt brauchte, war ein großes Glas Wasser und ein warmes Bad. Eigentlich hätte er Appetit haben müssen — das Frühstück hatte er verpasst —, doch der Gedanke an Essen war ihm zuwider.

Neben dem Hauptschott wartete Kinsolving. »Haben Sie mit Degrandpre gesprochen?«, fragte Nefford.

»Via Palmtop, ja…«

»Via Palmtop?« Was hier passiert war, schrie nach einer persönlichen Unterredung. Nefford hatte Wichtigeres zu tun gehabt, sonst hätte er…

»Manager Degrandpre wusste bereits von unserer Notlage. Ich bat ihn um eine Unterredung. Aber er hatte bereits angeordnet, die Quarantänezone zu erweitern.« Kinsolving wirkte kleinlaut wie ein geprügelter Hund.

»Die Quarantänezone erweitern? Was soll das heißen?«

»Das ganze Modul ist jetzt abgeschottet.« Kinsolving senkte den Kopf. »Bis auf Weiteres darf hier niemand raus. Auch wir nicht.«

Fünfzehn

Die Träume waren furchtbar.

Der Regen fegte in trommelnden Böen über das Polyplexzelt. Die Packroboter, durch die Windstöße aus dem Konzept gebracht, weckten Zoe regelmäßig auf, weil sie die peitschenden Luftbewegungen für ein gespenstisches Raubtier hielten. Zoe nickte ein und fuhr aus dem Schlaf, nickte ein und fuhr aus dem Schlaf…

Natürlich war sie noch allein. Sie war so allein wie der erste Lungenfisch, der sich aus dem seichten Wasser an Land schleppte. So weit, so gut. Die Männer und Frauen, die als Erste zu den Riffen des Sonnensystems gefahren waren, um ihr Leben in lichtlosen Eishöhlen zu fristen — die waren auch allein gewesen.

Aber Isolation hatte viele Gesichter.

Zoe kannte Leute, die sich nach Einsamkeit sehnten, und solche, die Angst davor hatten. Auf der Erde war man nie richtig allein, und es fiel leicht, ein ganzes Spektrum von Ängsten und Hoffnungen in die unerreichbare Leere zu projizieren, in ein Vakuum, das ›ich‹ sagte. Das Freiheit oder Schamlosigkeit oder Absolution bedeutete oder schlicht den Verzicht auf alle Orientierungshilfen.

Oder das Phantasie bedeutete.

Einsam sein, dachte Zoe, heißt dem Regen lauschen, der die dünne Membran zwischen ihr und der toxischen Natur geißelte. Einsam sein heißt, dass sich Erinnerungen zu Nachtmahren aufblähen.

In ihren Träumen war sie in Teheran.

Wenn es nach den Konzernärzten ging, dann hätten diese Erinnerungen ein für alle Mal gebannt sein müssen. Doch was immer mit ihr nicht stimmte, schien diesen Bann gebrochen zu haben. Immer, wenn sie die Augen schloss, stürmten diese schrecklichen Bilder auf sie ein.


* * *

Die Waisenkrippe war ein Kerker aus Schlackenstein, der sich über ein weites Areal aus öligem Schotter erstreckte und von tödlichen Glasdrahtzäunen umgeben war. Dieser Komplex war wie die meisten der über Asien und Europa verstreuten Wohlfahrtseinrichtungen ein Relikt aus dem Jahrhundert der Seuchen. Vielleicht war das Heim früher einmal ein menschenfreundliches Unterfangen gewesen, eine der sozialen Großtaten der ersten Konzerne, doch es war zu einem Nachwuchsbecken für die staatlichen Bordelle verkommen. In jüngster Zeit hatten seine Betreiber bemerkt, dass sie ihren ganz persönlichen Profit maximieren konnten, wenn sie ihre Schützlinge auf dem öffentlichen Markt anboten, genau genommen auf dem Teil des Marktes, der zu verarmt oder krank war, um die lizensierten Vergnügungspaläste zu konsultieren.

Der Nachteil war, dass die Insassen des Tehran West Quad Educational Collective — wie es über dem Tor hieß — nicht in den Genuss jener medizinischen Prophylaxe kamen, die selbst für Niedrigpreisabteilungen lizensierter Bordelle vorgeschrieben war. Dasselbe galt für die Kundschaft, hauptsächlich Handwerker aus den sorgfältig abgeschirmten Konzernfabriken am Rande der Stadt.

Zoe war zusammen mit ihren genetisch identischen Geschwistern, also mit Francesca und Poe und Avita und Lin, per Orbitalfrachter von ihrer Geburtskrippe nach Teheran gebracht worden. Hungrig und verwirrt waren sie dort eingetroffen. Zuerst hatte das Farsi sprechende Kindermädchen sie mit Proteinsuppen gefüttert, sie in warme wenn auch lieblose Kittelkleidchen gesteckt und geduldig ihre endlosen Ich-will-aber-nach-Hause-Tiraden ertragen. Doch nach ein, zwei Tagen wurden sie bereits in die Schlafsäle überstellt.

Und das Martyrium nahm seinen Lauf.

Das Erinnern fegte wie ein Wintersturm durch ihre Träume.

Alle wurden sie sexuell missbraucht und alle starben.

Zuerst starb Francesca, das Fieber hatte fünf lange Februartage gebraucht, um sie zu Grunde zu richten, dann hatte sie ihren ausgemergelten Leib zur Steinwand gedreht und einfach zu atmen aufgehört.

Das kann nicht sein, hatte Zoe gedacht. Wir sollten doch zu den Sternen fahren. Das kann nicht sein.

Poe und Lin starben, als eine ansteckende hämorrhagische Krankheit — die Kindermädchen sagten Brazzaville 3 dazu — in den Schlafsälen wütete. Zoe hatte in ihrer Verzweiflung gar nicht viel Leid beim Tod von Francesca, Poe und Lin empfunden. Sie war sogar dankbar gewesen, als das Gewerbe aus schierer Angst vor einer Seuche gesundgeschrumpft wurde. Leider schrumpften auch die Küchenvorräte, und das war gar nicht gut. Von Quarantäne war die Rede; das ganze Westviertel war wie ausgestorben.

Nach sechs Monaten gab die Krankheit auf. Zoe und Avita blieben verschont.

Zoe rückte näher an ihre einzige verbleibende Schwester heran; als dann Avita mehr zufällig einer Krankheit erlag, die sich aus Unterernährung und Vernachlässigung ergab, da war sie erschüttert. Sie ist mein Spiegel, dachte Zoe, die stundenlang auf Avita stierte, bis die Hygienebeauftragten kamen, um die Leiche wegzuschaffen. Wenn ich sterbe, dachte Zoe — und das war ja nur eine Frage von Monaten —, wenn ich sterbe, dann will ich so aussehen wie sie. Wie eine Statue aus Lehm, blass und glänzend und teilnahmslos.

Sie vermisste Avita und Francesca und Lin und Poe. Die anderen Insassen waren oft grausam zu ihr, und die weiß maskierten Aufseherinnen begegneten ihr mit freimütiger Verachtung; den Tod fand sie gar nicht mehr so schrecklich, nein wirklich, der Tod konnte nicht schlimmer sein als in diesen Wänden fortzuleben.

Dann kam Theo nach Teheran.

Es war etwas passiert, etwas Politisches, etwas in den Hochfamilien. Sie kannte Avrion Theophilus von der Krippe her. Er hatte jeden Monat vorbeigeschaut, um nach den D&P-Viellingen zu sehen; er hatte eine Schwäche für die fünf kleinen Schwestern gehabt und Zoe oft übers Haar gestrichen, derweil die Kindermädchen sich vor ihm duckten und man ihm stumpfsinnige Roboter mit Tee und Zuckerplätzchen schickte — Zoe wusste noch, wie sie geschmeckt hatten. In seiner schwarzen Uniform hatte er immer so strahlend ausgesehen und strahlend sah er auch jetzt aus, in Teheran, aber auch dunkler, ärgerlicher, fuhr die Betreuer an, die vor ihm zurückwichen. Er wetterte über die Widerwärtigkeiten des Schlafsaals, die eiskalten Duschen und die ›gewerblichen‹ Räume mit ihren groben Decken und schmutzigen Matratzen.

Er schwenkte Zoe und nahm sie in die Arme — vorsichtig, denn sie war zerbrechlich geworden. Die Uniform an ihrer Wange roch nach frischer Wäsche, nach Seifenpulver und Dampfpresse.

Er war in ihren Augen so etwas wie ein König oder Prinz. War er natürlich nicht — überhaupt gehörte er nur periphär zu den Familien, der Vetter eines Neffen eines Vetters, aber immerhin ein hoher Funktionär bei Devices & Personnel. Er war ein Theophilus, kein Melloch oder Quantrill oder Mitsubishi. Aber das machte nichts. Er war gekommen, um sie hier rauszuholen. Zu spät für Poe und Lin und Avita und Francesca. Aber nicht zu spät für Zoe.

»Eins von meinen Mädchen hat überlebt«, murmelte er und brachte sie hinaus in eine Mobilklinik des Departments für Gesundheit und Soziales. »Eins von meinen Mädchen hat überlebt.«

Als er sie den Ärzten übergeben wollte, da hatte sie sich an ihn geklammert und erst losgelassen, nachdem man sie ruhig gestellt hatte.


* * *

Zoe fuhr jählings aus dem Schlaf, sie war zu Tode erschrocken… doch es war bloß das kehlige Schnarren eines Gewitters, das zwischen den hohen Gipfeln der Copper Mountains hin und her geworfen wurde. Der Regen war kaum noch zu hören.

Trübes Licht sickerte in das Polyplexzelt. Es war Morgen.

Sie war fahrig und unausgeschlafen. Sie öffnete das Zelt und bückte sich in den Nieselregen hinaus. Das Wasser kam in Schlieren von den Granitfelsen und badete die stechginsterartigen Sträucher in den tiefen glazialen Klippen. Die Packroboter boten ein komisches Bild: Sie staksten und schlingerten auf dem Lagerplatz umher und ließen die Beine, die in der Nässe nicht immer den nötigen Widerstand fanden, von Zeit zu Zeit einknicken, um sich wie müde Hunde auszuruhen.

Unstete Nebelschwaden zogen bergan. Der Wald dampfte.

Sie langte nach einer Tagesration aus dem ›Bauchladen‹ des nächstbesten Roboters und ging ins Zelt zurück. Der Regen bildete Perlen auf ihrem Anzug. Es juckte darunter. Die Membran besorgte die Körperpflege, beförderte sogar die Hautschuppen nach draußen, um sie als keimfreien Staub freizusetzen; trotzdem war da dieses Jucken. Der Juckreiz kam und ging, war auf Rippen und Oberschenkel beschränkt und war kein wirkliches Problem — noch nicht. Wenn es allerdings schlimmer wurde… naja, es sollte vorgekommen sein, dass Leute sich blutig gekratzt hatten, um einen Juckreiz zu beseitigen. Was unter den gegebenen Umständen nicht möglich war. Und sowieso nicht funktionierte.

Essen war eine umständliche Prozedur. Die Tube musste mit der Gesichtsmaske des Anzugs verbunden werden, wodurch ein keimfreier Durchlass zum Mund entstand — die Nahrungsaufnahme gestaltete sich quälend langsam. Zoe drückte die Tube von Hand zusammen. Die Paste, die auf ihre Zunge kroch, war ausgesprochen unappetitlich und so amorph wie Schlamm. Und das Quantum war so klein, dass sie nie das Gefühl hatte, wirklich etwas gegessen zu haben.

Die Verdauung hatte allzu leichtes Spiel mit den Rationen, was Zoe mit einem weiteren nervtötenden Problem konfrontierte.

Bis sie mit alledem fertig war, hatte der Himmel schon aufgeklart. Der Wind war allerdings wieder böig geworden; er zerrte an den Polyplexplanen und würde Robotern und Telesensorien zweifellos zu schaffen machen.

Sie überlegte, ob sie Yambuku rufen sollte. Ihr ›Handshake‹ war fällig.

Sie dachte über Theo nach, daran, wie er sie aus dem Waisenheim gerettet hatte, Erinnerungen, die wie Glasscherben durch ihre Träume purzelten…

Und an ihre unerfindliche Angst vor ihm.


* * *

Sie rief Yambuku und bat um das tägliche Update; Cai Connor, der Diensthabende am Kontrollpult, fasste sich kurz. Nichts Neues und nicht von der Stelle rühren: Der Wind würde sich über Nacht legen und dann könne sie immer noch die Gräberkolonie erkunden, bevor sie sich auf den Rückweg mache.

Was okay war, aber auch hieß, dass sie nichts weiter zu tun hatte, als ihre eigenen Messgeräte zu überwachen, die Funktionstüchtigkeit der Packroboter zu testen und zuzusehen, wie die Kumuluswolken Kränze um die fernen Gipfel flochten.

Der Finsternis einer weiteren Nacht sah sie mit gemischten Gefühlen entgegen.

Im Laufe des Nachmittags meldete sich Tam Hayes per Schmalstrahl. Das war einigermaßen seltsam. Die Punktstrahlantenne war für den äußersten Notfall reserviert, auf Blickrichtung und schmale Bandbreite beschränkt. Eine sperrige nur-audio Verbindung, uralte Telephonie im Grunde.

»Das ist inoffiziell«, begann Hayes. »Niemand hört mit und nichts, was wir sagen, kommt in den Zentralspeicher. Zoe, bist du an einem sicheren Ort? Ich bin im Shuttlehangar; ich habe kein Telesensorium.«

»Sitze im Zelt und warte, dass der Wind sich endlich legt.«

»Gut. Wir haben eine Menge zu reden.«

»Du fängst an«, sagte Zoe.


* * *

Zuerst las er ihr den Brief von Elam Mather vor.

Über manches hatte sie selbst schon gegrübelt. Vor allem über den Thymostaten. »Aber als ich von Phoenix fort bin, da muss er noch funktioniert haben. Die medizinische Kontrolle war extrem pingelig.«

Sie dachte an Anna Chopra, die terrestrische Ärztin, die in den langen Vorlaufmonaten ihren Gesundheitszustand überwacht hatte. Eine groß gewachsene Frau, graues Haar, eine nicht-adlige Funktionärin aus… ja, aus Djakarta. Grimmig und wortkarg und ziemlich engagiert.

»Vielleicht ein Sabotageakt«, mutmaßte Hayes. »Irgendein Revierkampf zwischen Familien, der hier sichtbar wird.«

Gut möglich, aber Familienfehden waren selten so raffiniert eingefädelt. Wohl doch eher eine Panne.

»Es geht mir darum«, fuhr Hayes fort, »dass du da draußen nicht allein sein solltest — nicht mit einem kaputten Thymo.«

»Wenn das alles ist, was du mir zu sagen hast, dann hättest du auch über Breitband gehen können.«

»Dachte, vielleicht willst du das lieber für dich behalten.«

»Vielleicht will ich ja so bleiben. Unreguliert. Wie eine Kuiper-Frau.«

Feines weißes Rauschen. »Ja«, sagte er schließlich, »vielleicht. Das liegt natürlich bei dir, Zoe.«

Bei mir, dachte sie. Ich kann es mir aussuchen.

Aber es warf zu viele Fragen auf. Ein Thymostat regulierte die Persönlichkeit: Bin ich noch dieselbe Person, die ich vor drei Monaten war?

Gar nicht so leicht, dachte Zoe, aus sich herauszutreten, sich kritisch zu betrachten und dann ein Urteil zu fällen. Ging es ihr nun besser oder ging es ihr schlechter? Sie sagte zu Hayes: »Du musst dich doch gewundert haben…«

»Manchmal, ja, aber ich bin ein Red Thom; wir tragen keine Thymostaten und ich war mir nie sicher, was von Leuten zu erwarten ist, die welche tragen. Elam war mal für längere Zeit auf der Erde; sie kannte sich da besser aus.«

»Es gibt verschiedene Sorten von Thymostaten. Sie regeln in erster Linie die Stimmung, aber der meine tat mehr, Tam. Er unterdrückte unerfreuliche Erinnerungen. Er verdrängte auch sexuelle Impulse und lenkte diese Energie in meine Arbeit.«

»Aber du kommst doch gut zurecht.«

Sie musste sich vergegenwärtigen, dass keiner sie hören konnte. Niemand außer Tam. »Ich stehe immer auf der Kippe, Tam. Ich schlafe nicht mehr richtig. Ich bin launisch. Manchmal kommt mir der ganze Ausflug hier so sinnlos vor. Sinnlos und gefährlich. Manchmal… ist mir angst und bange.«

Wieder das feine weiße Rauschen. Der Wind rüttelte am Zelt.

»Zoe, wir haben medizinischen Ersatz. Wir können dich wieder auf Vordermann bringen.«

»Nein. Das will ich nicht.«

»Bist du sicher?«

»Nichts ist sicher. Aber ich will nicht mehr so sein… wie ich mal war.«

Wie Theo mich haben wollte. Und das Kartell.

Hayes sagte: »Ich tue alles, was in meiner Macht steht, um es zu vertuschen. Gefährlich wird es, wenn Avrion Theophilus einen Blick in deine medizinische Telemetrie wirft und von alleine draufkommt.«

Besser so, als ihm unter die Augen treten, dachte Zoe. Ein Blick, und er würde Bescheid wissen. Ihre Augen würden sie verraten.

»Jedenfalls bist du nicht in der Verfassung, um noch einen Tag draußen zu bleiben. Ich will dich hier haben, wo ich auf dich aufpassen kann.«

»Nein«, sagte Zoe. »Das hier möchte ich zu Ende bringen.«

»Es ist nicht bloß der Thymo. Es könnte sein, dass wir gezwungen sind, die Station zu räumen.«

»Wie, Yambuku aufgeben? Tam, ist es wirklich so schlimm?«

»Die Dinge ändern sich rasch.«

Er beschrieb ihr die Serie von Dichtungspannen und Filterproblemen. Alles zerbröselt, dachte Zoe. Alles fällt auseinander. »Gib mir einen Tag zum Nachdenken.«

»Jeder Tag ist riskant.«

»Alles, was wir hier tun, ist riskant. Gib mir einen Tag, Tam.«

»Du musst nichts beweisen.«

»Den einen Tag.«

Ein frischer sintflutartiger Regen beutelte das Zelt. Sie stellte sich vor, wie sich die Roboter draußen an den glitschigen Boden kauerten. Konnten Roboter leiden? Unter der Nässe, der Kälte? Taten ihnen die verkapselten Gelenke weh?

»Zoe, ich bekomme eben einen dringenden Ruf. Wir reden später.«

Hoffentlich bald. Ohne seine Stimme fühlte sie sich doppelt einsam.


* * *

Im Laufe des Tages flauten die Sturmböen ab, und es kam eine kühle Westbrise auf. Im geschützten Kern von Yambuku hatte sie sich alle möglichen Wetterkonstellationen angesehen — aber nur wenn man sich dem Wetter auch aussetzte, gab es all seine Launen und Feinheiten preis.

Oder war sie durch den Ausfall des Thymostaten sensibler geworden?

Verletzlicher?

Erlebte so der unregulierte Pöbel die Welt? Wo sie auch hinsah, schien sie einen Schatten oder ein Echo ihrer selbst zu entdecken. In den schäumenden Bäumen, den Wasserkaskaden von Blatt zu Blatt; den trüben Reflexen auf dem triefnassen Stechginster, im Funkeln des Glimmer. Lauter Spiegel.

Wir werden nicht mit einer Seele geboren, dachte Zoe; sie dringt von außen in uns ein, geboren aus Schatten und Licht, aus Mittag und Mitternacht.

Sie fragte sich, ob Theo schon gelandet war; vielleicht durchlief er bereits die Dekontamination.

Hatte Theo eine Seele? Hatte sich in dem vollkommenen Körper eines Avrion Theophilus je eine Seele eingenistet?

Im Laufe des Nachmittags erkundete sie ihre nähere Umgebung; obwohl der Lagerplatz weniger als einen Kilometer von der Gräberkolonie entfernt war, bekam sie keines der Wesen zu Gesicht. Sie mied ihr Nahrungsrevier, auch ihren Friedhof. Sie wollte sie nicht verschrecken; nur vielleicht einen Hauch ihres Geruchs hinterlassen, ein Zeichen ihrer Anwesenheit.

Bevor die Sonne auch nur Anstalten machte unterzugehen, traf sie mit ihrem Gefolge aus spinnenähnlichen Robotern wieder im Lager ein. Die Maschinen waren voller Schlammspritzer und trugen Schleifspuren aus gelben Pollen. Eine hinkte erbärmlich hinterher. Eine mechanische Störung, die unterwegs eingetreten war.

Zoe hatte sich in ihr Zelt zurückgezogen, schaltete ihr Hornhautdisplay um und ließ ihre medizinische Telemetrie Revue passieren, dann ließ sie sich vom Sanitätsroboter ein Analgetikum gegen verschiedene Wehwehchen und den Juckreiz geben.

Ein hoher Anteil an Korpuskeln in der Luft — von Waldbränden tief im Westen — führte zu einem ausgedehnten und farbenprächtigen Sonnenuntergang. Zoe tippte ein paar Notizen in ihr Logbuch, absolvierte ihr ›Farewell‹ mit Yambuku und versuchte aufs Neue zu schlafen.


* * *

Ein Alarm riss sie knapp nach Mitternacht aus dem Schlaf. Sie saß, Tams Stimme im Ohr, in der orientierungslosen Finsternis: »Zoe?«

»Ja, hier bin ich, ich suche die Lampe…« Sie fand die winzige SB-Lampe[23] neben ihrem ausgerollten Bettzeug. Eine so genannte Glühwürmchenlampe. Die heller auch nicht war.

Hayes fuhr fort: »Wir bekommen größere Fehlfunktionen bei deinen Robotern gemeldet — zwei Packroboter sind gestört und drei Grenzwachen.«

»Wurden sie angegriffen?«

»Anscheinend nur mechanische Probleme, aber ein Zufall ist das nicht. Ich mache mir Sorgen um deine Sicherheit.«

»Hardware-Probleme? Bist du sicher?«

»Rein mechanisch.«

»Ich hole Werkzeug und schalte ein paar Außenleuchten ein. Wo sind die Roboter jetzt?«

»Vor deinem Zelt. Wir haben sie sofort aus dem Verkehr gezogen. Zoe, jetzt bekommen wir merkwürdige Telemetrie von den übrigen Grenzwachen.«

»Bekomme ich Gesellschaft?«

»Schwer zu sagen. Nichts Großes. Wir haben Sensorien, die für die Roboter einspringen. Aber halt die Augen offen, hörst du?«

Die Luft draußen war frisch und feucht. Ein paar Sterne schmückten den Himmel. Der Unauffällige hoch oben in nördlicher Richtung war Sol, wenn Zoe die isischen Sternbilder noch richtig erinnerte. Chronos ritt auf dem dunstigen Horizont.

Außenlampen flammten auf, blendeten sie für einen Moment. Sie atmete tief ein. Der Anzugfilter sterilisierte die freie Luft, wärmte sie aber nicht vor. Ein Hauch von Isis kühlte die Kehle.

Einer von den defekten Packrobotern trug ihr Werkzeug. Sie rollte den Gürtel auseinander, schnallte ihn um und rief den Status des Roboters ab. Ihr Hornhautdisplay listete gleich mehrere Störungen an den Gelenken auf. Ein Schmiermittel-Problem? Sie baute ein Kugelgelenk auseinander und fand die Teile senfgelb verschleimt.

»Irgendwas dringt in die Gelenke«, erklärte sie Hayes. »Etwas Organisches. Scheint Teflon zu fressen.«

Hayes sagte nicht gleich etwas. Sie reinigte das Gelenk mit einem stark absorbierenden Tuch und setzte es wieder zusammen. Nichts von Dauer, aber vielleicht konnte sie den einen oder anderen Roboter so flicken, dass sie es mit dem wichtigsten Gepäck bis nach Yambuku schaffte…

»Achtung, Zoe.«

Ihr Kopf flog in den Nacken.

Die Außenlampen badeten das Lager in grelles, weißes Licht, das sich jenseits der Wiese im Dunkel des Waldes verlor. Sie beschattete die Augen und musterte die Umgebung. Halbvertraute Schemen schälten sich aus Finsternis.

Gräber hatten das Lager umzingelt.

Sie standen am Rand der Wiese, immer fünf Meter auseinander — wenigstens zwanzig von ihnen, manche auf allen vieren, andere auf den Hinterbeinen. Ein paar waren mit feuergehärteten Speeren bewaffnet. Die schwarzen Augen glitzerten im grellen Schein der Lampen.

Zoes erste Reaktion war Furcht. Ihr Puls schnellte hoch und die Handflächen wurden feucht. Die Gräber waren nichts weiter als Tiere, größer allerdings und viel fremder als die Löwen, die sie damals in einem Konzernreservat gesehen hatte. Die Gräber waren schlau und unberechenbar. Der Anflug von Intelligenz, der sie sonst so menschlich erscheinen ließ, kam in dieser zugigen Finsternis nicht zum Tragen. Sie besaßen Intelligenz, keine Frage, aber ebenso fraglos ein Kaleidoskop an Instinkten, ganz und gar isischen, unergründlichen Instinkten.

Gott sei Dank kamen sie nicht näher. Das Licht musste sie angelockt haben. (Was aber, wenn auch die Lampen versagten? Und die Restlichtverstärkung? Wenn sie durch eine neue Serie von Funktionsstörungen völlig nachtblind wurde?)

Vielleicht waren diese Ängste aber auch nur Ausfluss ihrer thymostatischen Verwirrung. Drinnen und draußen versagen die Systeme, dachte Zoe. Aber genau das ist mein Metier, dazu bin ich geschaffen. Jetzt wissen sie, dass ich da bin, und ich weiß, dass sie es wissen. Morgen ist auch noch ein Tag.

Hayes Stimme platzte in ihr Ohr. »Keinen Mucks, Zoe. Wir schicken einen intakten Roboter in den Wald, vielleicht können wir sie so ablenken. Wir haben zwar Sensorien in der Nähe, müssen aber mit dem Wind kämpfen.«

»Nein, Tam, nicht.«

»Wie bitte?«

»Sie sind nicht feindselig.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich werde nicht angegriffen. Etwas Ähnliches musste früher oder später passieren.«

»Aber nicht diese Nacht. Und morgen kommst du zurück.«

»Tam, vielleicht bekomme ich nie wieder eine Chance. Das ist ihre erste richtige Begegnung mit einem Menschen. Höchstwahrscheinlich beobachten sie mich eine Weile und verlieren dann das Interesse. Halte die intakten Roboter in Bereitschaft, aber mach uns keine Feinde.«

»Ich habe nicht vor, sie abzuschlachten, Zoe. Nur…«

»Warte mal.«

Bewegung an der Peripherie. Zoe drehte den Kopf. Einer der Gräber war vorgetreten. Er kam auf den Hinterbeinen, die anderen Glieder erhoben, eine Haltung, die beides bedeuten konnte: Kampf- oder Fluchtbereitschaft.

Er trug einen kräftigen Ast in der Hand und trat näher an das Polyplexzelt heran. Zoe bemerkte die Fächer aus weißen Schnurrhaaren auf beiden Seiten der Schnauze. »Der Alte! Es ist der Alte.«

»Zoe…«

»Sei still!«

Ein zerbrechlicher Moment. Zoe richtete sich langsam aus der Hocke neben dem Roboter auf und tat selbst einen unendlich kleinen Schritt auf den Alten zu. Für was hielt er sie? Für ein Tier, einen Feind? Ein launisches Spiegelbild seiner selbst?

Sie streckte die Arme aus — leere Hände, keine Waffen, keine Klauen.

Hayes musste wenigstens ein Telesensorium in der Nähe haben, denn er hatte die Bewegung auch gesehen. »Drei Meter, Zoe. Kommt ihr euch näher, dann scheuche ich ihn weg. Für den Fall, dass sich noch jemand rührt, will ich dich beim Zelt haben, wo wir dich schützen können. Verstanden?«

Sie verstand viel zu viel. Sie verstand, dass sie an der Schwelle ihrer Bestimmung stand, dass sich Zeit und Lebensumstände verabredet hatten, sie hier und jetzt abzusetzen. Einen ekstatischen Moment lang war sie die Achse, um die sich die Sterne drehten.

Sie tat mehrere kühne Schritte nach vorn. Der Gräber bäumte sich auf wie ein erschrockener Hundertfüßer. Die schwarzen Augen rollten in ihren Höhlen. Zoe bewegte sich langsamer, blieb aber nicht stehen. Sie hielt die Hände vor sich, immer noch weit genug von dem Tier entfernt.

Aber nahe genug, um es zu riechen. Nahe genug, um ihn dampfen zu sehen, den warmen Bauch. Vier Milliarden Jahre einer unirdischen Evolution hatten dieses Aggregat aus Zellen geformt, dieses Tier. Sie betrachtete es. Und wurde zu ihrer Verblüffung betrachtet. Unvorstellbar weit vom Planeten ihrer Geburt entfernt war das Wunder geschehen: Der Lehm war zu Leben erwacht. Leben betrachtete Leben. Erstes Licht, dachte Zoe.

Der Gräber war verdammt flink. Ehe sie auch nur mit der Wimper zucken konnte, zog er den Ast zurück, den er in der Hand wog.

Nein, nicht so, dachte sie. So sollte es…

»Zoe?«

Hayes Stimme war fern und bedeutungslos.

Keine Zeit zurückzuweichen, Schutz hinter den Robotern zu suchen. Die Roboter kamen zwar, aber wie in Zeitlupe. Noch mehr Funktionsstörungen? Der Gräber hob den linken oberen Arm, eigentlich nur den Unterarm, an dem die Hand saß, die den Knüppel hielt. Mit unerbittlicher Klarheit verfolgte Zoe den Abschwung.

Der Schlag ließ alles verschwimmen. Sie fiel durch die zugige Nacht.

Sechzehn

Obschon Kenyon Degrandpre gehofft hatte, dieser Kelch werde an ihm vorübergehen, hatte seine Ausbildung vor allem der einen Aufgabe gegolten: fertig zu werden mit einer organischen Kontamination an Bord der Isis-Orbitalstation. Die Krise und ihre tausend Details beanspruchten seine ganze Aufmerksamkeit. Und das war allemal besser als über die langfristigen Folgen dieser Katastrophe zu grübeln.

Er rief alle fünf Seniormanager zusammen, darunter Leander für Medizin (der für den in Quarantäne befindlichen Corbus Nefford einsprang) und Sullivan für Lebensmittel, Flora und Fauna. Sie waren eine bunte Mischung aus Vorreitern des Konzerns — allesamt tüchtige Manager, keiner von Adel, es sei denn über sieben fragwürdige Ecken. Wie Degrandpre zum Beispiel, dessen Urgroßvater mütterlicherseits ein Corbille gewesen war. Aber die Geburt war nicht aktenkundig, also zählte sie nicht.

Als Erstes hatte er angeordnet, die Quarantänekapsel abzuschotten. Bis heute war die IOS eine sterile Zone gewesen, abgeschottet durch das natürliche Vakuum zwischen ihr und Isis. Jetzt war sie gemischtes Territorium, ein Apfel, in dem ein gefährlicher Wurm nistete.

Der Quarantänebezirk war zur kontaminierten Zone fünften Grades geworden, lückenlos umgeben von Ermessenszonen vierten Grades, als da waren die äußeren medizinischen Kontrolleinrichtungen, wo Corbus Nefford zur Zeit festsaß; daran schlossen sich die Vorkehrungszonen dritten, zweiten und ersten Grades an, als da waren die Kapsel für Maschinen- und Gerätebau und ein Wartungsbereich, wo Turing-Monteure auf den Transfer vorbereitet wurden.

Das Problem war, es gab sehr wenig Redundanz an Bord der IOS. Die Tatsache, dass Volumen und Masse durch die Technik des Higgs-Transfers drastisch beschnitten waren, verengte den Spielraum für technisches Versagen auf Strichbreite. Die IOS war selbst in ihren besten Zeiten nur ein, zwei kritische Pannen vom totalen Bankrott entfernt gewesen. Ohne Maschinenwerkstatt und solange nur Turing-Katapulte hinein durften…

Halt — das war ein Problem von morgen.

Solen für Technik sagte: »Wir prüfen, wie sich die Entfernung zwischen kritischen Funktionen und der kontaminierten Kapsel maximieren lässt. Die Farmen sind Gott sei Dank so weit von der Quarantäne entfernt, wie es weiter nicht geht, hundertachtzig Grad. Wir sind dabei, jenseits der landwirtschaftlichen Peripherie eine Ambulanz einzurichten; Krankheitsfälle, sollte es welche geben, werden direkt an die Peripherie der Quarantäne gelegt.«

Degrandpre vergegenwärtigte sich die Raumstation: eine rotierende Halskette mit zehn grauen Perlen. Nein, neun grauen Perlen und einer schwarzen — die virulent war. Er würde mit seinem Quartier auf Abstand gehen müssen.

Die neuen Turing-Generatoren mussten natürlich warten; eine erneute Verzögerung des D&P-Interferometer-Projekts war nicht zu vermeiden. Das Großziel, Isis als Etappenbasis für weiter reichende Higgs-Transfers zu benutzen, war nur mit einem stabilen isischen Vorposten zu erreichen — der, koste es, was es wolle, verteidigt werden musste. Ohne die IOS, dachte Degrandpre, konnte das Kartell die Sterne vergessen, auf absehbare Zeit zumindest.

Das Problem, das ihm am meisten auf den Nägeln brannte, war aber nicht die Ansteckungsgefahr als solche, sondern die Angst davor. Was in der Quarantäne passiert war, konnte man schwerlich fünfzehnhundert Leuten verheimlichen, so groß etwa war die Belegschaft der Orbitalstation; und jeder Einzelne wusste nur zu genau, dass er oder sie in einem Metallcontainer steckte, aus dem es so gut wie kein Entrinnen gab. Die für den Notfall reservierte Higgs-Schleuder, erklärte Solen geflissentlich, könne vielleicht zehn oder zwölf Fliegengewichte retten.

»Motivieren Sie Ihre Mitarbeiter«, sagte Degrandpre, »aber machen Sie ihnen nicht die Hölle heiß. Betonen Sie, dass wir außergewöhnlich umsichtige Vorkehrungen treffen und dass es außerhalb von Zone Fünf zu keinerlei Kontamination gekommen ist.«

Leander für Medizin sagte: »Das wissen die Leute, Manager, aber sie sehen auch, was mit den Bodenstationen passiert. Man hat das Gefühl, dass es bei erfolgter Kontamination keine verlässliche Methode gibt, sie aufzuhalten.«

»Betonen Sie, dass es hier und jetzt um einen einzelnen Organismus geht und nicht um die ganze isische Biosphäre.«

»Es handelt sich nur um einen Organismus? Stimmt das?«

»Gut möglich. Die öffentliche Ordnung ist mir jedenfalls wichtiger als die Wahrheit.«

Die Besprechung ging zügig voran, folgte Punkt für Punkt der von Degrandpre vorbereiteten Tagesordnung. So weit, so gut: der Ansteckung war Einhalt geboten, Lebensmittel und Wasser lagerten in sicherem Abstand und alle lebensnotwendigen Prozesse funktionierten wie immer. Die IOS war nach wie vor eine sichere Zuflucht.

Was ihnen durch die tragischen Ereignisse in der Quarantäne abhanden gekommen war, war ein Gefühl von Geborgenheit. Zerbrechlich waren wir immer, dachte Degrandpre. Aber nicht so zerbrechlich wie jetzt.


* * *

Degrandpre hielt die Kommunikationsmanagerin zurück.

»Ich wünsche, dass alle auslaufenden Nachrichten zur Freigabe über mein Büro geleitet werden, auch alle den Haushalt betreffenden Routinemeldungen. Es wäre verfrüht, jetzt schon Alarm zu schlagen.«

Die Managerin, eine knochige Terrestrierin namens Nakamura, verlagerte peinlich berührt ihr Gewicht. »Das ist äußerst ungewöhnlich«, sagte sie — womit sie ihm vermutlich zu verstehen geben wollte, dass sie nicht den Kopf hinhalten würde, falls das Kartell einen Schuldigen suchte.

Junge Frau, dachte er, wenn Sie keine anderen Probleme haben. Er notierte ihren Einwand und entließ sie.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gab es nichts, worüber man die Familien hätte unterrichten müssen. Das Kartell fürchtete nichts mehr als die Verschleppung eines isischen Erregers zur Erde. Ein Alarm konnte ohne Weiteres bedeuten, dass man eine ausgedehnte Quarantäne verhängte — oder sich weigerte, ein Higgs-Modul aus der IOS andocken zu lassen, was bedeuten würde, dass die Überlebenden nicht überleben würden.

Degrandpre fand keinen Gefallen an der Vorstellung, Teil eines winzigen, gefrorenen Himmelskörpers zu werden, eingesargt in einer Art künstlichem Kuiper-Körper, einem kometenähnlichen Mausoleum, das endlose Bahnen um die Sonne zog.


* * *

Er unterhielt sich über Sichtfunk mit Corbus Nefford.

Der Chefarzt der Station litt Angst, das war deutlich zu sehen. Die Uniform trug Schweißringe, das Gesicht war blass und teigig, die Augen geweitet. Degrandpre versuchte sich vorzustellen, wie der Thymostat dieses Mannes auf Hochtouren arbeitete und in fieberhafter Eile molekulare Ordnungshüter synthetisierte…

»Es ist absurd«, beharrte Nefford, »mich ausgerechnet jetzt hier anzuketten…«

»Sicher, Corbus, Sie haben ja Recht. Aber so steht es nun mal in der Notverordnung.«

»Die sich pedantische Theoretiker ausgedacht haben, die offenbar keine Ahnung…«

»Die sich das Kartell ausgedacht hat. Nehmen Sie Ihre Zunge in Acht, Doktor.«

Die schmalen Augenbrauen und der schmale Mund des Arztes zogen sich gereizt zusammen, als ob, dachte Degrandpre, von innen jemand die Nahtfäden straffe. Der bisherige Manager für Medizin schien den Tränen nahe, kein gutes Omen. »So begreifen Sie doch. Diese Leute sind so rasch gestorben.«

»Sie starben in Zone Fünf, richtig?«

»Ja, aber…«

»Wozu dann die Panik?«

»Ich will doch nur ein bisschen mehr Abstand von der Kontamination. Ist das zu viel verlangt? Alle anderen zieht es zu den Gärten, wie man hört. Warum soll ich diese Arbeit machen, ausgerechnet ich?«

»Das entscheiden nicht Sie, Doktor.«

»Ich habe ein Leben lang in ästhetischer Umgebung gearbeitet. Ich gehöre zum Adel! Ich erhalte die Gesundheit! Ich führe keine Autopsien durch! Diese… diese Art von Arbeit ist mir fremd.«

Neffords Stimme verlor sich, er hieb die Stirn auf seinen Ärmel. Der Arzt war krank.

Vor Angst.

Hoffentlich, dachte Degrandpre. Diesmal beneidete er seinen Vater. Um dessen sture Religiosität. Um den Propheten, zu dem er gebetet hatte. Hier gab es keinen Propheten, kein Mekka, kein Jerusalem. Kein Paradies und keine Vergebung, keinen Spielraum für Fehler.

Nur einen Teufel. Und der Teufel war fruchtbar, der Teufel lebte.

Siebzehn

Die Evakuierung von Marburg nahm anderthalb Tage in Anspruch.

Die Forschungsstationen Marburg und Yambuku sahen sich zum Verwechseln ähnlich, erstere hatte sich tief im gemäßigten Wald des Kleineren Nordkontinents etabliert. Auch sie lag mitten in einer Rodung, der streng sterile Kernbereich enthielt Innenschichten, die eine wachsende Gefahr für Leib und Leben bedeuteten. Die organisch kontaminierten Außenwände wurden täglich abgeschrubbt — allerdings weniger gründlich, seit die Wartungsroboter erste Störungen gezeigt hatten; die Hangars standen voller Maschinen, die repariert werden mussten, und ein dünner bakterieller Belag hatte drei Luftschleusen unbrauchbar gemacht. Als sich ein ähnlicher Befall an den Dichtungen des Shuttledocks zeigte, hatte Weber, der leitende Manager, ein Virologe aus dem Shoe-Clan, die totale Evakuierung verlangt.

Seine Forderung stieß bei der IOS auf wenig Gegenliebe. Anscheinend wollte man den Shuttle von Marburg auf ein zweites Dock umlenken, das für eine längere Quarantäne eingerichtet war. Weber führte das auf terrestrische Paranoia zurück, auch wenn es Schlimmeres bedeuten konnte. Aber ein Aufschub kam nicht infrage. Weber liebte Isis und hatte geschuftet, um aus Marburg ein florierendes Unternehmen zu machen. Doch er war Realist. Die Evakuierung noch länger hinauszuzögern, hieß, den Tod von Menschen in Kauf zu nehmen.


* * *

Die Hochseestation war bereits kollabiert. Die Polarstation, verankert in der Eiswüste der nördlichen Polkappe, meldete keine besonderen Vorkommnisse und fuhr fort, von der Hand in den Mund zu leben.

Yambuku allerdings stand am Rande des totalen Zusammenbruchs.


* * *

Avrion Theophilus stürmte aus der Dekontamination durch die Schotts des Shuttlebereichs, vergaß alle Regeln der Höflichkeit und marschierte direkt zur Teleleitstelle von Yambuku.

Seine Galauniform von Devices & Personnel zog ein paar Blicke auf sich. Er hatte sich daran gewöhnt, zumindest wenn es sich um Kuiper-Leute handelte. In der zivilisierten Welt galt es als tölpelhaft, diesem bäuerlichen Impuls zu folgen. Doch Yambuku war nicht die zivilisierte Welt.

Er stieß beinahe mit Tam Hayes, dem leitenden Manager, zusammen, der eben von einer längeren telesensorischen Sitzung kam. Hayes sah erschöpft aus, war nicht rasiert. Theophilus nahm ihn beiseite. »Wo können wir reden?«


* * *

»Sie ist also verletzt«, sagte Theophilus.

»Wie es aussieht.«

»Wir haben keine Verbindung.«

»Keine Verbale. Wir empfangen noch Telemetrie, aber mit Unterbrechungen. Das könnte an unserer Antennenanlage liegen. Die Telesensorien sind ausgefallen, und die Roboter sind tot. Ausnahmslos.«

»Aber Zoe nicht.«

»Nein. So viel wir wissen, nicht.«

»Wir haben also gute Telemetrie bis zum Augenblick des Angriffs?«

»Ja.«

»Weitergeleitet zur Erde?«

»Weitergeleitet zur IOS. Degrandpre kontrolliert den Datenstrom zur Erde.«

»Darüber würde ich mir keine Sorgen machen.«

Hayes blinzelte. »Da hab ich ganz andere, das können Sie mir glauben.«

»Haben die Satelliten sie lokalisiert?«

»Ganz dicht an der Gräberkolonie, aber es ist zu bewölkt für eine visuelle Bestätigung.«

»Nicht so gut«, sagte Theophilus.

Sie erreichten die Shuttle-Kontrollkabine über dem Kern von Yambuku. Sie war nur beim Starten besetzt — wie geschaffen für ein Gespräch unter vier Augen. Hayes stand auf heißen Kohlen; Zoe lebte, und er wollte sie zurück nach Yambuku holen. Avrion Theophilus war im Moment nur ein lästiges Hindernis und angesichts der gebieterischen Art des Mannes ballte Hayes die Fäuste.

Er sagte: »Sind sie besorgt wegen Zoe oder wegen ihres Equipments?«

»Das Equipment hat mit summa cum laude bestanden, finden Sie nicht? Die Tatsache, dass sie den Angriff einer Bestie überlebt hat, spricht doch für sich.«

»Ich meine, wenn Sie wegen Zoe besorgt sind, dann sollte ich mich jetzt besser darum kümmern, sie zurückzuholen.«

»Die neue Technik, Dr. Hayes, sie manifestiert sich nicht nur in diesem Anzug.«

»Wie bitte?«

»Zoe ist sozusagen ein Paket. Es geht nicht bloß um das Interface. Sie ist intern optimiert, verstehen Sie? Sie verfügt über ein künstliches Immunsystem, das ihrem natürlichen aufgepfropft ist. Mikroskopisch kleine Nanofabriken liegen an ihrer Bauchaorta. Falls der Anzug leck ist, müssen wir das unbedingt wissen. Wir können noch viel von ihr lernen, selbst wenn sie uns da draußen stirbt.«

»Heißt das, sie könnte womöglich überleben, auch wenn der Anzug nicht mehr dicht ist?«

»Eine Zeit lang, durchaus. Unter den gegebenen Umständen könnte es zum Problem werden, ihre Leiche zu bergen. Aber wenn wir…«

»Scheren Sie sich zum Teufel!«, sagte Hayes.

Er wollte nicht ihre Leiche bergen. Er hatte eine bessere Idee.


* * *

Dieter Franklin kam in den Bereitstellungsraum, wo Hayes sich mit seiner Montur abmühte.

Die Standardrüstung war klobig und ein Ungetüm im Vergleich zu Zoes Anzug. Ein steriler Kern, umhüllt von Stahl und Flexiglas und Nanofiltern. Hayes hatte eben die massiven Gamaschen versiegelt, als das innere Schott aufglitt.

»Das ist nicht dein Ernst«, sagte Franklin. »Lee Reisman meinte, du würdest von einer Bergungsaktion phantasieren. So dumm wärst du nicht, hab ich gesagt. Sag mir, dass ich nicht gelogen hab.«

»Ich hole sie zurück.«

»Nun mach mal halblang! Du willst den Copper überqueren in einer Rüstung, die — falls sie einwandfrei funktioniert — höchstens für zwei Tage reicht. Und das in einer Situation, wo jede Maschine, die draußen war, entweder den Geist aufgegeben hat oder verrückt spielt, in einer Situation, wo wir nicht mal die eigenen Dichtungen in Schuss halten können.«

»Sie ist am Leben, sie ist vielleicht verletzt.«

»Wenn sie noch lebt, braucht sie eine intakte Bodenstation, zu der sie zurück kann. Hier kannst du ihr mehr nützen. Nicht da draußen im Schlamm mit einem heißgelaufenen Servomotor, wo du uns, was noch schlimmer ist, nicht aus dem Kopf gehst — wo du mehr Ressourcen verschlingst, als wir uns leisten können.«

»Ich bin es ihr schuldig…«

»Du schuldest ihr keinen Selbstmord. Und nichts anderes wird das, das weißt du. Wahrscheinlich wirst du als Kompost in einem geknackten Stahltresor enden. Und Zoe wird genau da enden, wo sie gerade ist.«

Hayes wickelte sich eine Lage Isoliermaterial um die Taille, zwang sich zur Ruhe, um das, was er machte, auch richtig zu machen. »Sie war eine Art Testpilot, Dieter. D&P interessieren sich einen Scheißdreck für die Gräber. Zoe dachte, sie war hier, um soziale Studien zu treiben, dabei war sie bloß ein gottverdammter Testpilot.«

Dieter Franklin nickte bedächtig. »Testpilot für den neuen Außenanzug. Wie Elam vermutete.«

»Elam hat es geahnt. Aber ich wusste es.«

Franklin schwieg. Hayes versuchte, sich auf seinen Biopanzer zu konzentrieren, werkelte sich durch die Prozeduren, versiegelte die Brustbänder aus pneumostatischem Kunststoff. Er wünschte, Elam wäre da und könnte mit ihm die Checkliste durchgehen.

»Sie wussten es?«

»Ich habe alle D&P-Memos gesehen. Kurze Kommunikees an den Yambuku-Manager. Keine Einzelheiten, aber so viel, dass ich hätte merken müssen, dass nur ihr Equipment zählt. Sie war ein gottverdammter Testpilot, Dieter, und ich hab sie da rausgehen lassen in ihrer ganzen glorreichen Naivität.«

»Überleg doch mal. Das Equipment ist gut, aber nicht unzerstörbar. Wer sagt uns, dass sie noch am Leben ist?«

Jetzt der weiche Innenhelm. »Sie hat nicht nur den Anzug. Sie selbst ist auch modifiziert, innerlich. Sie verfügt über ein enorm verbessertes Immunsystem. Kann sein, dass wir sie noch lebend bergen können, selbst wenn der Anzug beschädigt ist. Vielleicht überlebt sie ja.«

Dieter Franklin sagte lange nichts.

Dann: »Selbst wenn, Tam. Wir haben schlechte Karten.«

»Ich weiß, dass wir schlechte Karten haben.«

»Weil es schon bald kein Yambuku mehr gibt. Keiner will es wahrhaben. Erst die Laborinsel, jetzt Marburg. Es ist die Biosphäre, Tam, sie entwickelt Strategien, lernt, wie man Dichtungen verdaut, Schleusen zerstört. Mixt aggressive Agenzien und verbreitet die Rezeptur und greift bei Bedarf in die kollektive Trickkiste. Vor fünf Jahren noch war dieser Biopanzer gut genug, um uns zu schützen. Heute… ist er kaum noch zu gebrauchen.«

Hayes aktivierte die Luftschleuse. Über ihren Köpfen begannen die Ventilatoren positiven Druck zu erzeugen. Ein Alarm jaulte. Dieter Franklin nahm Reißaus.

Hayes stülpte den Helm über.

Achtzehn

Schmerz. Sie sah doppelt. Sie wurde über den Boden geschleift, die Stiefelabsätze schlugen hin und her. Entweder habe ich eine Gehirnerschütterung, dachte sie verschwommen, oder schlimmer noch eine Schädelverletzung, von der ich mich nicht mehr erholen werde. Sie roch die unmöglichsten Dinge: schwelendes Gummi, Ammoniak, Fäulnis; und wenn sie die Augen schloss, sah sie Windrädchen und Leuchtfeuer.

Sie ekelte sich schrecklich, wagte aber nicht, sich zu übergeben. Der Anzug würde die Schweinerei zwar verarbeiten, aber vielleicht nicht rasch genug.

Sie war wach oder vielleicht doch nicht: die Besinnung verebbte; die Zeit verlor sich in Böen, wie der Wind.


* * *

Sie wehrte sich — kurz nur — als sie bemerkte, dass die Gräber sie in einen ihrer Erdhügel schleppten, aus dem Sternenlicht und aus dem Feuerschein heraus in eine steinige klaustrophobische Düsternis.

Der Eingang war eng. Die Gräber streckten ihre widerlich beweglichen Leiber und flutschten einer nach dem anderen hinterher; hilflos, wie sie war, wurde Zoe an den gestreckten Armen über die kantige Schwelle in einen Tunnel geschleift, der von Exkrementen verkrustet war. Ein fremder Gestank hing in der Luft, würzig und faulig zugleich, wie eine Mischung aus Kardamom und Verwesung. Musste sie hier ersticken? In der Dunkelheit?

Zum ersten Mal in ihrem Leben spürte Zoe so etwas wie Panik.

Selbst in den kalten Schlafsälen des Waisenheims hatte sie keine Angst gehabt; der Thymostat hatte jede heftige Emotion unterdrückt und ihr nichts als eine hohle, allgegenwärtige Traurigkeit gelassen, die schmerzliche Gewissheit von Gefangenschaft und Ausgeliefertsein. Was sie jetzt spürte, war schlimmer. Sich zu wehren, war zwecklos, aber sie kam nicht umhin. Der Zwang sich zu wehren löschte das Denken aus, wurde zu einer Wut, die aus dem Fleisch kam. Sie wollte den Schrei unterdrücken, der sich aus ihrer Brust rang, doch die Anstrengung war vergeblich; er brach sich Bahn und wollte kein Ende nehmen, gegen ihren Willen und alle Vernunft. Sie strampelte und bäumte sich in den korallenscharfen Klauen, die ihre Handgelenke und Fesseln umspannten. Aber diese Tiere waren unverschämt stark. Auch der letzte Schimmer von Licht verschwand. Jetzt gab es nur noch Finsternis und zwanghafte Bewegungen und die Enge des Tunnels. Und ihr Schluchzen.


* * *

Einsam und von Panik entkräftet wachte sie auf.

War sie blind? Nein. Das war nur die Finsternis im Innern eines Erdhügels. Draußen konnte es Mittag oder Mitternacht sein. Hier drinnen war ewige Finsternis.

Aber sie war wenigstens allein, im Augenblick zumindest. Sie rührte sich, streckte sich versuchsweise… registrierte knapp über ihrem Kopf eine steinige Decke, die sich in die armweit entfernten Wänden krümmte. Der Boden hier war irgendwie weicher (und feuchter) als am Eingang. Die Stille hämmerte in den Ohren. Die einzigen Geräusche waren das Rasseln ihres Atems im Anzugfilter und das Raspeln ihrer Bewegungen. Wenn sie doch nur eine Lampe…

Aber die hatte sie doch! Mehrere sogar: die Glühwürmchenlampen an ihrem Werkzeuggürtel.

Zu blöd. Da härmte sie sich in der Finsternis, dabei hätte sie Licht machen können! Beinah ängstlich befingerte sie den Gürtel und tatsächlich waren einige der kleinen Lampen bei ihrem Tobsuchtsanfall verloren gegangen, aber nicht alle; sie waren so klein wie Gewehrpatronen und trugen im Schaft einen Aktivator. Sie zog eine heraus und schnippte sie an.

Der Lichtschein war hauchzart aber ein Geschenk des Himmels. Die Orientierung war wiederhergestellt: Sie befand sich an einem Ort mit Konturen und Proportionen — in einem gewölbten, vor Feuchtigkeit glitzernden Hohlraum aus fest gepackter Erde. Durch das blasse, beinah durchscheinende Geflecht am Boden krabbelten kleine, mit Mandibeln bewehrte Insekten und an der Wand dräute das gazeartige Nest einer spinnenähnlichen Kreatur, eine Masse wie aus Seidenbaumwolle, in der Dutzende vertrocknete Insektenkadaver hingen.

Eine Glühwürmchenlampe reichte für ein, zwei Stunden. Am Gürtel saßen noch sieben Stück; sie hatte mit den Fingern nachgezählt. Sie musste haushalten.

Andererseits konnte sie unmöglich hier bleiben. Auch nicht, wenn sie gewollt hätte. Keine Nahrung. Kein Wasser. Der Anzug, der auch ihren Urin recycelte, verfügte normalerweise über eine kleine Wasserreserve; das Ganze war aber eine offene Schleife und würde ohne Nachfuhr von außen höchstens ein, zwei Tage reichen. Es gab nur eine Rettung — sie musste zum Basislager zurück, musste Nahrung und Wasser auftreiben und vielleicht noch einen funktionierenden Roboter, um dann nach Yambuku zurückzukehren.

Ressourcen, dachte Zoe. Möglich, dass sie nicht besonders klar dachte; der Kopf tat entsetzlich weh, wo der Gräber zugeschlagen hatte, und als sie nach der Schläfe tastete, fühlte sie eine mächtige Beule unter der Membran. Ressourcen: Was hatte sie, das ihr von Nutzen sein konnte? Telemetrie, Kommunikation… die Vorstellung, mit Tam Hayes zu reden, war so verführerisch, dass ihr die Tränen kamen. Doch als sie ihr Kommunikationsprotokoll aufrief, war keine Trägerwelle da — nichts von Yambuku, weder über Breit- noch über Schmalband, was hieß, dass ihr Equipment beschädigt war. Oder das von Yambuku. Oder der Erdhügel blockierte jeden Funkkontakt.

Sie fragte sich, wie tief man sie unter die Oberfläche geschafft hatte. Kein Mensch wusste, wohin diese Tunnel führten. In der Nähe der Erdhügel hatten ferngesteuerte Roboter ein paar echographische Experimente durchgeführt, die gezeigt hatten, dass die Labyrinthe ausgedehnt und vielfältig miteinander verbunden waren. Das Graben mochte seit Jahrhunderten im Gange sein, mochte Kilometer tief unter die Oberfläche führen… Stop. Ein unzulässiger Gedanke. Panik verdichtete sich zu einem Kloß im Hals. Die Decke ihrer Kammer konnte einen Kilometer oder einen Zoll weit unter Tage liegen. Sie hatte keinerlei Anhaltspunkt, und sie verbot sich, weiter darüber nachzudenken.

Einen Moment lang hielt sie die Luft an und lauschte. War sie wirklich allein? Ein Tunnel, nicht viel breiter als ihre Schultern, war der einzige Zugang zu diesem blinden Höhlenende. Der Schein der Glühwürmchenlampe reichte kaum einen Meter weit; sie sah nur, dass der Tunnel kreisrund war und leicht anstieg — in einem Winkel von vielleicht zwanzig Grad. War da was? Doch die Stille war vollkommen. Ein Gräber, der in diesen Tunnels unterwegs war, wäre zu hören gewesen; dafür hätte der steinharte Boden unter den Klauen gesorgt. Nichts dergleichen. Gut.

Vielleicht war es Tag, dachte Zoe, und die Gräber waren auf Nahrungssuche. Sie versuchte die Uhrzeit abzurufen, doch das Hornhautdisplay belebte sich nicht.

Schon möglich, dass es den Schlag nicht überstanden hatte.

Sie zauderte einen oder hundert Augenblicke, argwöhnisch die Kriechröhre beäugend, gegen deren Enge sie ihre vergleichsweise geräumige Bleibe eintauschen sollte. Doch dann begann die Glühwürmchenlampe zu blaken — und alles, dachte Zoe, alles war besser als noch mehr Finsternis.

Sie pflückte eine andere Lampe vom Gürtel und schnippte und schnippte, aber sie ging nicht an. Sie war kaputt.

Mit bebenden Fingern befreite sie die nächste Lampe aus dem Gürtel. Als die winzige Lichtquelle zum Leben erwachte, entfloh Zoe ein Seufzer der Erleichterung.

Jetzt blieben ihr noch fünf Lampen. Was, wenn die alle nicht mehr funktionierten?

Los, dachte Zoe. Es wird Zeit.

Die Glühwürmchenlampe in der Rechten, wälzte sie sich auf den Bauch. Das Albinomoos lag kühl unter der Membran. Sie musste sich Arme voran bewegen, eine Mischung aus sich Winden und Kriechen, sich mit den Stiefeln Widerstand verschaffend. Was, wenn sie sich in diesem Labyrinth verirrte? Und alle Glühwürmchenlampen verbraucht waren? Konnte sie in dieser Enge überhaupt eine neue Lampe aus dem Gürtel nehmen?

Nein, nicht ohne sich den Arm auszukugeln.

Sie wich in den Blindsack zurück, nahm den Werkzeuggürtel ab und streifte ihn über die Schulter. So konnte sie, falls nötig, die restlichen Lampen erreichen.

Fünf Stück. Etwa sechs oder sieben Stunden Licht, wenn alle funktionierten. Und dann…?

Noch ein unzulässiger Gedanke. Sie verscheuchte ihn und wand sich erneut in den Tunnel.

Sie hatte Platz, sich über die Ellbogen zu ziehen, und robbte unter Einsatz von Stiefeln und Knien Zoll um Zoll voran. Sollte die Membran an Knien und Ellbogen diese Strapaze heil überstehen, dann war das nur dem bleichen, nicht enden wollenden Moosteppich zu verdanken.

Die Glühwürmchenlampe erhellte einen tanzenden ellipsenförmigen Bereich in knapp zwei Metern Entfernung. Ich brauche einen Plan, dachte Zoe. (Vielleicht kam das eine oder andere über ihre Lippen. Sie versuchte zu schweigen, doch der Abstand zwischen Gedanke und Wort war geschrumpft, und so hörte sie gelegentlich das Echo des eigenen heiseren Flüsterns… Sie hatte Angst sich zu verraten.)

Ich brauche einen Plan, dachte sie wieder. Sie war in einem Labyrinth und irgendwo war der Minotaurus. Wann immer sich der Tunnel gabeln sollte, sie würde den ansteigenden Ast wählen, und falls es diesen Unterschied nicht gab, den rechten. So würde sie schließlich zur Oberfläche oder (da sei Gott vor) rückwärts aus der Sackgasse heraus und zur einzigen Alternative zurückfinden.

Das funktionierte auch dann, (da sei Gott abermals vor) wenn alle Lampen aufgebraucht waren. Das funktionierte selbst im Stockdunkeln.

Die Dunkelheit kehrte zurück, als auch die momentane Lampe zu blaken begann und erstarb. Zu früh, dachte Zoe. Wie weit war sie gekommen? Es gab keinen Anhaltspunkt. Weit, hatte sie den Eindruck, aber nicht weit genug. Der Tunnel hatte sich nicht verzweigt, nicht ein einziges Mal. Oder — grausiger Gedanke — die Gräber gruben neue Tunnels und versiegelten alte; vielleicht kam sie an eine Stirnwand und…

Stop. Der Gedanke war unerwünscht.

Sie fingerte eine neue Glühwürmchenlampe aus dem Gürtel und schnippte. Als der ovale Schein aufflackerte, fiel ihr ein Stein vom Herzen.

Eine Stunde Licht weniger.

Sie verscheuchte auch diesen Gedanken.


* * *

Eben hatte sie sich lebhaft ausgemalt, wie es sein würde, wieder in Yambuku zu sein — die Membran herunterschälen, heiß duschen, Haare waschen, essen, Sprudelwasser aus einem hohen Kristallglas trinken — als sie an eine Abzweigung kam.

Die Erste. War es denn die Erste? In diesem kleinen ovalen Lichtschein fiel es schwer, die Zeit abzuschätzen und zwischen eingebildeten und wirklichen Ereignissen zu unterscheiden. Sie hatte diesen Plan gefasst, hatte sie ihn auch schon in Angriff genommen? Egal, dachte Zoe, halte dich an den Plan. Stieg der linke Ast an oder sollte sie sich rechts halten?

Schwer zu sagen.

Sie hielt inne, hoffte auf eine Eingebung. Wehte aus einem der Tunnel ein Lufthauch? Nein. Überall die gleiche abgestandene, stinkende Luft, kaum genug, um ihre Lunge zu füllen. Kein Laut. Stieg nicht der rechte Tunnel unmerklich bergan? Das gab den Ausschlag.


* * *

Sie rannte in Theos Arme.

»Eines meiner Kinder hat überlebt.«

Sie lief in die Arme von Tam Hayes…

Sie wachte unter Schmerzen auf. Arme steif, Beine steif, der Kopf pochte. Eingepfercht. Und blind…

Nein, das war die Finsternis.

Die Finsternis.

Sie war eingeschlafen.

Sie verwünschte ihre Nachlässigkeit — sie hatte kostbare Zeit vergeudet — und tastete nach der nächsten Glühwürmchenlampe. Während sie den Gürtel befingerte, hielt sie die Augen fest geschlossen, denn mit offenen Augen wäre es keinen Deut heller gewesen und mit geschlossenen konnte sie sich einbilden, die Dunkelheit selbst herbeigeführt zu haben. Vielleicht aus Müdigkeit. Obwohl sie nicht schon wieder einschlafen durfte.

Sie schnippte die Lampe an.

Das war schon besser. Es war zwar nur der endlose Tunnel zu sehen, aber das Licht war ein Segen.

Sie kroch ein paar Meter voran — es hätten auch zwanzig oder hundert sein können. Es gab keine Bezugsgrößen mehr, keine zeitlichen und keine räumlichen. Vielleicht hatte sie schon einen weiten Weg zurückgelegt, vielleicht war sie erst ein paar Schritt weit vom ursprünglichen blinden Stollenende entfernt.

Unzulässig.

Der Tunnel schien sich zu erweitern. Endlich tat sich etwas… Die Woge von Hoffnung war berauschend. Sie wappnete sich dagegen, doch Hoffnung war wie Panik, unbändig, eine gewaltige Kraft, die nicht länger von einem Thymostaten in Schach gehalten wurde.

Der Thymostat, überlegte Zoe, war auch eine Art Membran gewesen — eine weitere Barriere zwischen ihr und der Welt. Eine Barriere gegen die Viren der Panik, der Hoffnung, der Liebe und der Verzweiflung. Diese Membran hatte sie eingebüßt. Sie war jetzt nackt und infiziert.

Der Tunnel erweiterte sich immer mehr, wurde zu einer großen Höhle. Zoe füllte sie mit dem Geräusch ihres mühsamen Atmens. Sie hob die Hand und brachte das Licht zur Geltung. Hob den Blick und sah…

… das Ende des Stollens.

Dieser Hohlraum war lediglich größer als der erste.


* * *

Für ein paar kostbare Minuten ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Der Anzug würde sie schon recyceln — idiotischer Gedanke.


* * *

Stoßweise schluchzend kroch sie bis an die Stelle zurück, wo sich der Tunnel gabelte.

Wie viele Lampen waren noch übrig? Auf ihr Gedächtnis war kein Verlass; sie war gezwungen anzuhalten und mit den Fingern nachzuzählen. Eins, zwei, drei, vier. Was bedeutete, dass Stunden vergangen waren, seit sie die ursprüngliche Kammer verlassen hatte. Mit ein bisschen Verstand und wenn sie nicht eine halbe Ewigkeit verschlafen hätte, hätte sie die Zeit vermutlich berechnen können.

Sie brauchte einfach zu lange. Sackgassen kosteten Kraft und Zeit.

Sie dachte ans Freie. Die Erinnerung war so lebhaft, dass sie die Luft schmecken konnte. Himmel, dachte Zoe. Ja, und Regen. Und Wind.

Von vorne, wo die Abzweigung war, kamen schwache Geräusche. Hatte sie einen Ausgang verpasst? Geräusche von draußen? Sie musste vorsichtig sein. Sie zwang sich, ruhig durchzuatmen. Sie reckte den Kopf in den Nachbartunnel.

Wo sie dem kühlen, schwarzen Blick eines Gräbers begegnete.


* * *

Sie ließ die Glühwürmchenlampe nicht los, selbst als der Gräber ihr nachsetzte und sie bei den Fesseln packte.

Der Alte war es jedenfalls nicht. Der Name war absurd. Der Gräber war nicht mehr als ein Tier, vielleicht auf der Stufe von Insekten, lang und allzu geschmeidig in dieser engen Röhre; dünner, biegsamer Leib; riesige, kohlschwarze, schrecklich flinke Augen; Klauen, die zupackten wie gehärtete Stahlklammern. Wie hatte sie in diesen Kreaturen auch nur den schwächsten Abglanz von Menschlichkeit vermuten können? Sie waren brutal, nicht unbedingt böswillig; ihr Verstand arbeitete in fremden, nicht menschlichen Bahnen; was immer sie für Beweggründe hatten, sie würden ihr verschlossen bleiben; Gräber und Menschen lebten in verschiedenen Welten, buchstäblich wie sprichwörtlich.

Der Gräber schleifte sie in einen anderen Blindstollen — nein, mein Gott, es war derselbe, aus dem sie geflohen war; der mit dem Gespinst an der Wand — und wälzte sie auf den Rücken.

Sie hielt immer noch die Lampe fest. Ein winziger Funke Normalität. Er schien den Gräber nicht zu stören.

Sie schloss die Augen, machte sie auf.

Der Gräber rückte ihr bedrohlich nahe. Vermutlich betrachtete er sie, auch wenn seine Augen so leer waren wie zwei schwarze Ölblasen.

Sie erwiderte den Blick. Unter ihrer Panik kam eine grimmige und gänzlich unerwartete Ruhe zum Vorschein, ein emotionaler Gleichmut, der aus Erleichterung und Angst bestand. Eine Art Vortod — denn so viel schien festzustehen: Sie sah dem Tod ins Auge.

Der Gräber setzte ihr eine Kralle auf die Brust — genauer: auf ihr Brustbein.

Sie spürte den Druck — es tat weh, so weh als müsse die Stelle gleich bluten.

Dann begann der Gräber die Membran aufzuschlitzen und wie bleiche, abgestorbene Haut herunterzuschälen.

Neunzehn

Alle Wege führen nach Rom, dachte Kenyon Degrandpre, und hier draußen am Rand der menschlichen Diaspora bin ich Rom, und alle schlechten Nachrichten weltweit kamen anmarschiert, die Reihen dicht geschlossen…

Jede Krise erforderte eine angemessene Lösung. Die festgeschriebenen Notstandsprotokolle hatten sich als unzulänglich erwiesen.

Die Evakuierung von Marburg zum Beispiel. Klar, der leitende Manager war berechtigt, die Evakuierung zu fordern. Ebenso klar war, dass er, Degrandpre, mit dem begrenzten Platz an Bord der IOS haushalten musste und nicht allzu viel für eine ausgedehnte Quarantäne von fünfzehn Leuten opfern konnte, von denen jeder ein potenzieller Träger von virulenten Mikroorganismen war. Er löste den Konflikt, indem er die Marburger in einem freien Werkstattkomplex unterbrachte, der normalerweise für den Transfer von Turing-Monteuren benutzt wurde. Primitive, kalte und unbehagliche Quartiere, doch er ließ die Kaverne mit Lebensmitteln und Wasser für eine Woche bevorraten und mit Schlafmatten ausstatten und fand, dass er durchaus großzügig handelte. Er ließ außerdem die Zugänge doppelt versiegeln und erklärte den Komplex pro tempore zur Gefahrenzone fünften Grades.

Und in den seltenen freien Momenten, die er hatte, Momenten der Stille — der Stille eines fallenden Gegenstands, zum Beispiel eines Kristallpokals, der von einem Tablett gerutscht ist und noch nicht den Boden erreicht hat — in solchen Momenten, da fühlte er sich bemüßigt, den für die Erde bestimmten Partikelpaar-Verkehr zu durchforsten, um sicherzustellen, dass nicht ein Jota der gegenwärtigen Krise an die falsche Adresse geriet.

Zum Beispiel dieser paranoide Wortschwall eines Dieter Franklin aus Yambuku, seines Zeichens Planetologe:

Es mehren sich die Beweise für einen Informationsaustausch zwischen physisch nicht miteinander verbundenen lebenden Zellen. Ein solcher Mechanismus würde eine Symbiose gestatten, die den gewöhnlichen Evolutionsprozess überlagert, ein Mechanismus, der vielleicht so bedeutsam ist wie die uralte terrestrische Symbiose zwischen Einzellern und primitiven Mitochondrien…

Was immer das hieß.

Die zunehmende Effizienz von bakteriellen Attacken gegen Dichtungen der Bodenstationen und die Penetration angeblich inaktiver Barrieren (ein Phänomen, an dem enorm weit voneinander entfernte Organismen teilhaben, die ansonsten in keinem Zusammenhang stehen) führte zur Thematisierung intrazellulärer Quantenereignisse wie…

Gestrichen. Bei ›bakterieller Attacke‹ würden zu Hause die Palmtops heißlaufen. Nicht ganz ohne Gewissensbisse aber mit der kühlen Obsession eines Mannes, der sich der grimmigen Aufgabe verschrieben hat, sein eigenes Überleben zu organisieren, löschte Degrandpre den kompromittierenden Abschnitt.

Die Vermehrung strukturell überflüssiger Mikrotubuli in einer Vielzahl isischer Einzeller könnte letztlich diesen Anschein von Fernwirkung erklären. Im menschlichen Hirn vermitteln solche Strukturen Bewusstsein, indem sie als Quantenapparate fungieren, wobei praktisch die Unbestimmtheit eines einzelnen Elektrons ausgedehnt und zum zentralen Mechanismus des Wirbeltierbewusstseins gemacht wird. Erkenntnisse aus vorbereitenden Laborarbeiten (siehe Anhang) legen nahe, dass isische Einzeller nicht nur einen ähnlichen Quanteneffekt unterhalten, sondern während der Mitose in der Tat eine dem Zwillingsstatus entsprechende Partikelpaar-Kohärenz erzeugen und erhalten.

Das Ganze kam ihm verschroben und irgendwie zersetzend vor, auch wenn er sicher nicht qualifiziert war, den wissenschaftlichen Gehalt zu beurteilen.

Man mag schon jetzt Vermutungen über die Möglichkeiten anstellen, die in einem pseudoneuralen Netzwerk liegen, das alle isischen Einzeller miteinander verbindet, eine Biomasse, die (so man die ozeanische Materie und die mineralbindenden Bakterien in der Planetenkruste dazunimmt) von wahrhaft Schwindel erregender Dimension ist. In den zunehmend erfolgreichen biologischen Attacken auf die Bodenstationen könnte man demzufolge die autonome Reaktion auf die Gegenwart eines Fremdkörpers sehen, wobei die im salzigen Milieu des Meeres entwickelten und zunächst nur gegen die marine Forschungsstation eingesetzten Durchbruchsstrategien allmählich aber immer erfolgreicher für den Einsatz gegen die landgestützten Außenposten modifiziert wurden…

Nein, das Maß war voll.

Eine hereinkommende Nachricht machte sich akustisch bemerkbar — höchste Priorität, was sonst? Degrandpre veranlasste eine rasche, globale Löschung des aktuellen Dokuments. Dieter Franklins Spekulationen wurden augenblicklich aus dem RAM, dem Postausgang und dem Zentralspeicher gelöscht. Selbstverständlich wurde kein Wort davon zur Erde übertragen.


* * *

Die schlechte Nachricht — und diesmal war sie sehr schlecht — besagte, dass Corbus Nefford Fieber bekommen hatte.

Degrandpre redete mit seinem medizinischen Seniordirektor über eine visuelle Gegensprechanlage, die in natürlicher Größe abbildete. Eine Palmtopverbindung wäre unter diesen Umständen zu unpersönlich gewesen. Es verstand sich von selbst, dass er nicht einmal beiläufig die Sicherheit seiner gegenwärtigen Befehlszentrale erwähnte, die gleich bei den aeroponischen Gärten lag. Er verkniff es sich auch zu erwähnen, dass er bereits vier neue Vorkehrungszonen eingerichtet hatte, die vom Shuttledock ausgehend beide angrenzenden Kapseln und selbstverständlich die Turing-Transfer-Bereiche umfassten.

Er war entsetzt beim Anblick von Corbus Nefford. Der Arzt lag festgeschnallt auf einer fahrbaren Krankenliege, auf der einen Seite ein Kochsalztropf, auf der anderen Ken Kinsolving. Ferngesteuerte Roboter scharwenzelten um die Liege, beschnupperten Neffords Handgelenke mit biotischen und chemischen Sensoren. Nefford hatte insistiert, er habe Kenyon Degrandpre etwas Wichtiges zu sagen, und zwar nur und ausschließlich Degrandpre persönlich. Im Moment schien er nicht einmal in der Lage, etwas Unwichtiges zu sagen.

Wir sind alle verloren, raunte ein Teil von Degrandpre.

Er bot sein ganzes diplomatisches Geschick auf. Er wollte nicht, dass Nefford sah, wie er vor dem Bildschirm zurückzuckte.

»Was Sie nicht übersehen dürfen«, brachte Nefford mühsam heraus, »ist, dass es so lange dauert…«

Die Ätiologie der Krankheit oder Neffords Tod? Beides schleppend, beides qualvoll. »Ja, reden Sie weiter«, sagte Degrandpre. Alles wurde vom Zentralspeicher der IOS aufgezeichnet: zur späteren Verwendung. Vorausgesetzt, es gab dann noch jemanden, der Verwendung dafür hatte.

»Diese Krankheit ist nicht so wie die anderen isischen Infektionen. Nicht so virulent. Sie hat eine Inkubationszeit. Das heißt, es handelt sich wahrscheinlich um einen einzelnen Organismus. Gefährlich und hinterhältig, aber potenziell zu beherrschen. Verstehen Sie?«

»Ich verstehe. Lassen Sie diese Frage weg, Corbus.«

»Gefährlich, aber potenziell zu beherrschen. Aber die Quarantäne funktioniert nicht. Wir haben es hier mit etwas sehr Kleinem zu tun, ein Prion vielleicht, ein DNS-Stückchen in einer Proteinhülle, vielleicht so winzig, dass es einfach durch die Dichtungen tunnelt…«

»Wir werden alles berücksichtigen, Corbus.« Falls wir je dazu kommen.

»Manager«, keuchte Nefford, der sich zwischen den Silben wie ein Siphon anhörte, in dem sich eine Luftblase gebildet hatte. »Darf ich ›Kenyon‹ sagen? Wir sind doch Freunde, hm? Jeder von uns steht doch an der richtigen Stelle im Konzern?«

Wohl kaum. »Aber sicher«, sagte Degrandpre.

»Vielleicht muss ich ja nicht sterben.«

»Gut möglich.«

»Wir können die Krankheit beherrschen.«

»Ja«, sagte Degrandpre.

Nefford schien noch etwas sagen zu wollen. Doch frisches, rotes Blut sickerte ihm aus der Nase. Merklich enttäuscht schloss er die Augen und wandte das Gesicht ab. Kinsolving unterbrach die Verbindung.

»Grässlich«, murmelte Degrandpre. Er schien nicht loszukommen von dem Wort. Es klebte ihm auf der Zunge. »Grässlich. Grässlich.«


* * *

Nefford sollte Recht behalten. Wartungsroboter berichteten von mikroskopisch kleinen Löchern in den Dichtungen zwischen ursprünglicher Quarantäne und Umgebung.

Das war der wirkliche Horror, dachte Degrandpre, dieses Durchbrechen von Barrieren. Zivilisation war letztlich ein Unterteilen mit Wänden und Zäunen, um das chaotisch Wilde in kultivierte Zellen menschlicher Provenienz zu zerlegen. Wildwuchs übermannt den Garten, und die Vernunft schaut machtlos zu.

Zum ersten Mal begriff er, oder bildete sich ein zu begreifen, was es mit der Religiosität seines Vaters auf sich hatte. Die Familien und ihre Konzerne hatten die politische und naturwissenschaftliche Wildnis der Erde hübsch aufgeteilt und neurotisch geordnet, sodass jede Person und jedes Ding und jeder Prozess einen angemessenen Orbit im sozialen Planetarium fand; doch außerhalb der Familienwände dräute nach wie vor das Wilde: Proletariat, Marsianer, Kuiper-Clans; die Krankheiten, die auf den Märkten der Unterprivilegierten ausgebrütet wurden; Sieger blieben immer der Tod und die grausame Unermesslichkeit des Universums. Der verstohlene Islam seines Vaters war letztlich ein Willensakt gewesen, ein Ordnenwollen der großen Leere durch eine Geschichte und eine Hierarchie, ummauerte Gärten des Guten und des Bösen.

Die Tragödie von Isis war die Tragödie von Mauern, die nicht hielten, was sie versprachen. Das betraf nicht bloß die physischen Mauern. Er dachte daran, dass Corbus Nefford ihn als seinen ›Freund‹ bezeichnet hatte. Er dachte an die hygienischen Lügen, die er täglich zur Erde übertrug.

Vergebliche Liebesmüh. Es war nicht mehr viel, was jetzt noch zu retten war. Vielleicht nur sein Leben. Vielleicht nicht einmal mehr das.


* * *

Eine Lagebesprechung mit dem aufgeblasenen, dicken Chefingenieur Todd Solen:

»Meines Erachtens«, verkündete Solen, »haben wir nur eine Chance. Wenn wir keine physischen Barrieren zwischen uns und dem tödlichen Agens errichten können, müssen wir die Module Drei und Sechs stilllegen, die Schotts dicht machen und die Atmosphäre evakuieren. Also einen Sektor reinsten Vakuums zwischen uns und die Krankheit schieben. Eine Barriere, die ihren Zweck erfüllen müsste, immer vorausgesetzt, das so genannte Virus hat nicht schon die ganze IOS erobert.«

»In Modul Sechs sind die Marburger.«

»Ja sicher. Sie werden sterben, wenn wir die Luft ablassen. Aber sie werden ebenso sicher sterben, wenn wir es nicht tun. Mal abgesehen von der Krankheit — ohne Zugang zu unseren Turing-Bereichen oder den Haupt-Shuttledocks, ohne Ersatzteile oder einen vernünftigen Wartungssektor, mit einem improvisierten Wasserkreislauf und einer Lebensmittelversorgung, die ausschließlich von unseren Sonnengärten abhängt, ist die IOS eine unhaltbare Festung. Wir können so viele Menschen retten, wie auf eine Higgs-Schleuder passen. Nicht einen mehr.«

Das Gefühl, auf der ganzen Linie versagt zu haben, ist eine lähmende Erfahrung. »Ist es schon soweit?«, fragte Degrandpre.

Der Ingenieur schwitzte aus allen Poren. Er fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Mit allem Respekt, Manager, ja, es ist so weit.«

Ich werde, dachte Degrandpre, mich nicht zu dieser Entscheidung nötigen lassen. Er sagte: »Es ist heiß hier.«

Solen zwinkerte mit den hervorquellenden Augen. »Naja — wir recyceln Wasser aus den Kühlrippen. Mit Thermostase ist nicht mehr viel.«

»Sehen Sie zu, dass es hier drinnen kühler wird, Mr. Solen.«

»Ja, Sir«, sagte Solen kleinlaut.

Zu heiß, zu trocken. Die IOS schien zu fiebern.


* * *

Aaron Weber, der leitende Manager von Marburg, zurzeit mit seiner fünfzehnköpfigen Belegschaft im Turing-Transfer-Bereich der IOS, bekam die Hitze auch zu spüren.

Die Luft war nervtötend trocken und ließ die geräumige, aber nur dürftig beleuchtete Stahlkaverne klaustrophobisch eng erscheinen.

Bei der Hitze zu schlafen, erwies sich als schwierig. Die Hitze trocknete Kehle und Nase aus, machte Kleidung zum Ärgernis und Decken unerträglich. Etliche Wissenschaftler aus dem Kuiper-Gürtel zogen sich aus und dachten sich nichts dabei, doch Weber hatte Hemmungen. Er musste an seinen Studentenschlafsaal in Kim il Sung denken, wo in den langen Wintern der sengend heiße Luftstrom aus den Klimaanlagen seine Feuchtigkeit an die eisverkrusteten Fensterscheiben verlor. Nasenbluten in der Nacht, Blutflecken auf dem Kopfkissen. Die einzige Rettung hatte darin bestanden, das Fenster zu öffnen und eine Erkältung zu riskieren.

Komplett angezogen, wie er war, gelang es ihm trotzdem, im langen Schatten eines Frachtmanipulators zu schlafen; nach etwa einer Stunde wurde er durch das Schnarchen seiner Leidensgefährten geweckt und schlief wieder ein…

Und wachte mit einer feinen, kühlen Brise auf der Wange auf.

Er dachte an das Schlafsaalfenster. Schnee rutschte an der Scheibe entlang. Der Luftstrom war wohltuend.

Doch die Luft hier hätte sich nicht bewegen dürfen.

Die Brise frischte auf, wurde zu einem kleinen Hauswind, der mit erstaunlicher Kraft über den Boden des Turing-Bereichs fegte, lose Dinge ergriff, die man aus dem Shuttle geborgen hatte: hier ein Schaumstoffbecher, dort ein Bündel bedrucktes Papier.

Er saß kerzengerade, war hellwach.

Dieses Geräusch? Dieses gedämpfte Pochen? Er kannte es von den Shuttlestarts, obwohl er es noch nie so unmittelbar gehört hatte: So hörte sich die Hydraulik an, die die riesige Luftschleuse öffnete.

Seine Ohren explodierten vor Schmerz, als der Luftdruck jählings abstürzte. Als er den Mund aufmachte, strömte die Luft aus seinem Hals, ein nicht enden wollendes, unfreiwilliges Ausatmen. Er wollte schreien, doch die Lungen kollabierten wie leer geatmete Tüten.

Lampen erloschen ringsherum. Er sah, wie strampelnde Leiber aus der gähnenden Schleuse gerissen wurden. Kein Geräusch mehr. Nur die Sterne, rein und unvermittelt. Das starre nackte Auge. Erstes Licht.

Zwanzig

Der Regen von gestern tröpfelte vom Walddach und machte den Pfad mulchig und glitschig. Tam Hayes bewegte sich vorsichtig. Er hatte sich an das Schmatzen der Schritte in fauliger Biomasse gewöhnt, an das regelmäßige Surren der Servomotoren. Die Geräusche des schweren Biopanzers waren auf befremdende Weise friedvoll.

Den ganzen langen Tag über hatte er nicht mit Yambuku gesprochen, auch wenn das Visierdisplay immer wieder Handshakes registrierte. Das Schweigen war seltsam wohltuend. Stattdessen widmete er sich der trägen und monotonen Aufgabe, den Biopanzer zu steuern, seine Kräfte einzuteilen und die Instrumente zu überwachen. Er wollte den Copper River noch vor Einbruch der Dunkelheit erreicht und wenn möglich überquert haben. Wenn nötig, wollte er in seiner Rüstung schlafen, einfach die Servos anhalten und sein Gewicht der Gelpolsterung überlassen. Aber besser war es, in Bewegung zu bleiben. Was den Biopanzer anging, hatte Dieter natürlich Recht. Hayes traute dem Braten nicht. Früher oder später würde der Panzer auf mehr oder weniger katastrophale Weise versagen.

So sehr er sich bemühte, mit seinen Kräften zu haushalten, das hier war harte körperliche Arbeit. Der Schweiß rann in Strömen, ein kleiner Teil wurde recycelt, der größte Teil sammelte sich zwischen Körper und Kühlgelmembran und irritierte die Haut. Er hielt den Boden im Auge, mied Stellen, wo ihm der Morast zu tief erschien. In Pfützen, zwischen heruntergefallenen Blättern, spiegelte sich der Himmel, Sonne glitzerte auf schaumigem Wasser.

Und von Zeit zu Zeit stellte er sich der Frage, was er hier draußen tat.

Natürlich, er suchte nach Zoe, denn er machte sich Sorgen um Zoe. Sie war verletzlich aber gnadenlos hartnäckig — einen Moment lang verglich er sie mit einem Farn, der sich aus einer giftigen Verwehung vulkanischer Asche erhob. Sie war Misshandlungen ausgesetzt gewesen, die ihre vier Schwestern das Leben gekostet hatten, nur sie hatte überlebt — war aus ihrer Gefangenschaft nach Isis gekommen, gerade so wie Hayes seine Familie und den Clan hinter sich gelassen hatte.

Aber beide wurden wir verführt, dachte Hayes.

Ob sie so bereitwillig gekommen wäre, wenn sie gewusst hätte, dass sie nichts weiter als eine Art Versuchskaninchen für neue Konzernprodukte war? Gott sei’s geklagt, dachte Hayes, vielleicht ja; doch der Konzern hatte ihr keine Wahl gelassen. Lügen in Lügen verpackt, jeder war an der einen oder anderen Sünde beteiligt; Wissen wurde gehortet und krampfhaft festgehalten, denn Wissen war Macht. Die Erde lässt grüßen.

Und er war hier draußen, dachte Hayes, hier draußen in dieser friedvollen toxischen Wildnis, um Zoe zu retten… und, wenn er ehrlich war, sich selbst obendrein.

Das Schreckliche am Lügen war, dass es zur Gewohnheit wurde, und dann zu einem Reflex, so automatisch wie der Lidschlag oder das Entleeren der Gedärme. Lügen ist die terrestrische Krankheit, hatte seine Mutter immer gesagt. Besonnen, zurückhaltend, eine Ice Walkerin, die Potlach-Frau seines Vaters. In einem anderen Jahrhundert wäre sie vielleicht eine Quäkerin gewesen.

Er hatte sich nach den Sternen gesehnt, aber er hatte sich die terrestrische Krankheit eingefangen, das Nichtwahrhabenwollen unangenehmer Wahrheiten.

Er hatte Zoe belogen. Vielleicht nicht so krass wie Avrion Theophilus sie belogen hatte — aber er hatte diesen Lügen Vorschub geleistet.

Er war hier draußen, um Zoe zu retten — Zoe und die schäbigen Reste seiner Unschuld. Kein Grund, sich auf die Schulter zu klopfen.


* * *

Bei Sonnenuntergang erreichte er den Fluss. Der Himmel war wolkenlos, sog sich voll mit Indigo, und der kleine Mond residierte im Zenit. Hayes wollte den Fluss noch vor Einbruch der Dunkelheit überqueren.

Die jüngsten Regengüsse hatten den Copper anschwellen lassen. Wasser wallte über die primitive, von Robotern gebaute Brücke. Hayes betrat die zerbrechliche Konstruktion und spürte, wie sie unter seinem Gewicht schwankte. Wenn die Brücke zusammenbrach und das strömende Wasser über ihm zusammenschlug, saß er in der Falle: Der klobige Anzug war weder für den Einsatz unter Wasser gedacht, noch schwamm er obenauf.

Er schaltete die Helmlampe ein und tastete sich langsam voran. Das Wasser, das über die Stiefel spülte, war rot getönt vom Sonnenuntergang und schillerte von den öligen Rückständen sich zersetzender Pflanzen. Servomotoren kämpften um sein Gleichgewicht. In der Strömung zu seiner Linken zitterte das Spiegelbild des Mondes, der an ein halb geöffnetes Auge erinnerte. Er dachte an Zoes Augen, in denen der Schock über den Verlust des Thymostaten nistete, die Augen eines ausgewachsenen Neugeborenen, weit und wachsam. Er begriff allmählich, welchen Preis sie für ihre Normalität bezahlt hatte.

Er musste daran denken, wie sie sich unter ihm angefühlt hatte, wie sie, Gott sei ihr gnädig, lustvoll aufgeschrien hatte — der erste Orgasmus vermutlich, den sie mit einem Mann geteilt hatte. Sie hatte gezittert wie diese Brücke. Danach hatte er sich ein bisschen geschämt, als habe er sie ausgenutzt, ihr schlagendes Herz gewaltsam aus einer komplexen Schutzmembran herausgelöst.

Er stapfte die gegenüberliegende Böschung hinauf, die Stiefel dick mit Lehm verklebt. Der Himmel war jetzt dunkler, der Wald ein schwarzer Korridor. Hier säumten gestürzte, faulende Baumstämme den Copper; zu seiner Rechten gewahrte Hayes ein kleines Tier, das im Kegel seiner Helmlampe zauderte, ehe es sich ins Unterholz stürzte.

Er war kaum im Wald, folgte dem Schacht, den die Helmlampe aus dem Dunkel schnitt, als das Funkgerät kurz prasselte, um gleich wieder zu verstummen. Das wäre nichts Ungewöhnliches gewesen, wenn er den Schutzpanzer nicht angewiesen hätte, alle Nachrichten auszublenden, bis auf solche, die Zoes Standard- oder Notfrequenzen benutzten. In seiner Erschöpfung brauchte er einen Augenblick, um zu begreifen, was er da eben gehört hatte.

Ihr Signal musste ziemlich schwach sein. Blockiert vielleicht von einem Hindernis, sonst hätten sie es in Yambuku längst empfangen. Seine Stiefel sanken tief in den Morast, er stand mucksmäuschenstill, um Zoe nicht zu verlieren, und ging auf Sendung. »Zoe? Zoe, hier ist Tam Hayes. Hörst du mich?«

Keine Antwort.

Er wartete sechzig Sekunden — eine Ewigkeit, in der das Katzenauge des Mondes durch den Scherenschnitt der Äste kroch — und versuchte es wieder.

Diesmal erwachte ihre Trägerfrequenz zum Leben, und er hörte Zoe, unheimlich nahe und verstört, als habe er sie aus einem tiefen Schlaf geweckt. »Theo?«

»Nein, Zoe, hier ist Tam. Ich komme dich holen, aber ich muss wissen, wo du bist und wie es dir geht.«

»Innen drin…«, murmelte sie.

»Noch mal.«

»Ich bin in einem Erdhügel. Unten drunter. Unter der Erde.«

»In welchem Hügel, Zoe?«

»Keine Ahnung. Ich glaube, sie stehen alle in Verbindung. Es ist stockdunkel.«

Sie hörte sich gar nicht gut an — sie klang kraftlos, verunsichert, beinah wie im Delirium. Aber es war ihre Stimme. Sie lebte. »Zoe, wie geht es dir? Bist du verletzt?«

»Wie es mir geht?« Sie schwieg eine ganze Weile. »Heiß. Es ist heiß hier. Ich kann nichts sehen.«

»Haben sie dir wehgetan?«

»Die Gräber sind nicht hier. Nicht immer, meine ich.«

»Zoe, bleib auf Sendung. Ich hol dich da raus. Hör nicht auf zu reden, hörst du?«

Doch er verlor sie, als er sich zum nächsten Hügelkamm aufmachte.


* * *

Auf seinem Weg durch die Nacht fing er ein paarmal Bruchstücke von Zoes Trägerfrequenz auf, nie lange genug, um mit ihr in Kontakt zu treten.

Trotz der fein aufeinander abgestimmten Servomotoren und des ganzen ergonomischen Klimbims, war der Biopanzer inzwischen schrecklich schwer geworden. Hayes war sich der enormen Anstrengung bewusst, die es ihn kostete, sich bergan zu schleppen — er näherte sich den Ausläufern der Copper Mountains, der Boden wurde steinig, und wann immer Hayes nach Westen blickte, sah er das flache, mondbeschienene Land, das sich bis ans ferne Meer erstreckte. Ohne eine wehrhafte Peripherie aus Robotern und Telesensorien war ihm angst und bange, doch kein größeres Raubtier traute sich in seine Nähe; er war selbst eine furchterregende Kreatur und wenn der Panzer roch, dann bestimmt nicht wie ein Leckerbissen.

Ein einziges Mal setzte er sich mit Yambuku in Verbindung, um ihnen mitzuteilen, dass Zoe lebte und er mit ihr gesprochen hatte. Dieter Franklin saß an der Kommunikationskonsole. »Tam«, sagte er, »das ist mal eine gute Nachricht, aber wir haben trotzdem Probleme.«

Hayes wollte schon abschalten. Er konnte sich zur Zeit nur mit einem Problem befassen und dieses Problem hieß Zoe. Aber Dieter war ein Freund und Hayes ließ ihn ausreden.

»Deine Telemetrie zum Beispiel. In deiner linken Beinanlage läuft ein Motor heiß. Hast du dir die Diagnosedaten mal angesehen? Es ist noch nicht kritisch, aber ein gutes Zeichen ist das nicht. Dir bleibt nur eins, Tam, kehrtmachen und es so weit schaffen, dass wir einen der Reserveroboter schicken können, um dich, wenn nötig, abzuschleppen. Für Zoe können wir vielleicht etwas vom Orbit aus machen. Die IOS hat ein paar Telesensorien, die sie punktgenau absetzen kann.«

Hayes nahm sich Zeit, um die Informationen zu verdauen. Ein Servo im rechten Bein lief heiß… was das zusätzliche Gewicht erklären würde, das er jedes Mal spürte, wenn er diesen Fuß bewegte, und die Tendenz nach Backbord, wenn seine Aufmerksamkeit nachließ. Aber das ging ja noch angesichts von Dieters Schwarzmalerei, dass er nie und nimmer den Fluss erreichen würde. Und was Zoes Rettung betraf…

Er sagte: »Vom Orbit aus?«

»Weil nämlich Yambuku bereits evakuiert wird. Die Dichtungen versagen schneller, als wir sie ersetzen können, und die Restbestände schmelzen dahin. Außerdem sagt Theophilus, die IOS zeige sich ihm gegenüber reserviert; vielleicht ist da oben auch was schief gelaufen. Der letzte Shuttle startet in achtundvierzig Stunden.«

»Zu früh.«

»Das ist der Punkt. Ich will versuchen, Theophilus zu überreden. Aber er hat das Sagen, und er ist so sauer auf dich, dass ich mich nicht wundern würde, wenn er dich abschreibt.«

»Er will doch Zoe zurückhaben.« Die Leiche zumindest, fügte Hayes in Gedanken hinzu.

»Er will in erster Linie fort von hier. Er ist Aristokrat, und er hat viel Verantwortung. Wenn du mich fragst, bekommt er es allmählich mit der Angst.«

»Danke für die Informationen, Dieter. Halte den Kern steril. Ich komme.«

Ehe Dieter etwas erwidern konnte, unterbrach er die Verbindung.

Achtundvierzig Stunden.

Wenn er jetzt kehrtmachte, konnte er es schaffen.

Einundzwanzig

»Tam? Tam?«

Fort war er. Hatte sie sich die Stimme nur eingebildet? Die überhitzte Finsternis provozierte Einbildungen.


* * *

Der Gräber mit dem agilen, schlangengleichen Körper war auch nicht mehr da. Er hatte die Membran ihres Schutzanzugs aufgeschlitzt, und zwar mit einer einzigen, rasiermesserscharfen Kralle vom Brustbein bis zum Schritt, aber vorsichtig, sie hatte kaum geblutet. Und dann hatte er sie allein gelassen. Dem Tod überlassen, und sie hatte rücksichtslos eine Glühwürmchenlampe nach der anderen gezündet, dabei ihren Körper untersucht und auf das unausweichliche Versagen von Herz, Lunge, Leber, Hirn gewartet — immerhin war sie der isischen Biosphäre ausgeliefert, und die schmutzige Tierkralle hatte ihr zahllose Mikroben unter die Haut gepflanzt. Doch das Blut an Körper und Fingern war in der heißen, stickigen Luft rasch getrocknet. Sie wurde nicht krank und sie starb auch nicht.

Aus lauter Angst, im Dunkeln zu sterben, hatte sie allerdings ihren ganzen Vorrat an Glühwürmchenlampen verbraucht. Beim Licht der letzten Lampe, da hatte sie mit aller Macht sterben wollen. Sie war ohnmächtig geworden oder eingeschlafen, aber gestorben war sie nicht.

Und jetzt lag sie wieder da, entsetzlich wach und eingesperrt in diesem lichtlosen Loch.

Sie riss sich den Luftfilter vom Gesicht. Gab es einen triftigen Grund, die isische Luft nicht so einzuatmen, wie sie war? Vielleicht ließ sich so der unausweichliche Tod beschleunigen.

Sie starb auch jetzt nicht.

Und wieder stellte sich das triebhafte Verlangen zu fliehen ein, züngelnde Flämmchen einer schwelenden Panik. Mit der Dunkelheit fand sie sich ab; es gab noch andere Sinne, um sich zu orientieren. Und wieder einmal kroch sie aus ihrem blinden Stollen in den Tunnel hinaus. Diesmal nahm sie den fremden Moosteppich direkt mit Bauch und Brüsten wahr, ohne Vermittlung durch eine Hightech-Membran.

Sie kroch wer weiß wie lange, bog mehrmals ab, wollte das Labyrinth, das sie durchkreuzte, in Gedanken auf Pergamentpapier festhalten, doch, was aussehen sollte wie eine Seefahrerkarte aus uralten Zeiten, löste sich in Hitze und Irrtümern auf; sie konnte es nicht festhalten.

Sie bog um eine Ecke, streckte die Hand aus und berührte einen Gräber. Sie erstarrte, doch das Tier schien zu schlafen. Die fettigen, gewölbten Schuppen, dieser nützliche Schild gegen die Außenwelt, sie waren abgespreizt, um Wärme freizugeben anstatt zu horten. Ohne Verfremdung durch den Luftfilter roch der Gräber stechend und streng. Der Geruch erinnerte an ein frisch gedüngtes Feld.

Zoe wich zurück. Zum Kehrtmachen war kein Platz. Sie rechnete jeden Moment mit einer unliebsamen Begegnung zwischen ihren Füßen und wer weiß was, hatte Angst, es könne sich herausstellen, dass ihre Welt auf ein paar Meter ausgebuddelten Untergrunds reduziert worden war, derweil ihr Körper sich stur und dämlich zu sterben weigerte.

Die Filtermaske hatte sie weggeworfen, aber das übrige Kopfgeschirr nicht — zum Glück, denn eben meldete sich Tam Hayes. Vermutlich eine Halluzination, ein Fieberwahn. Und wenn. Sie trank seine Stimme wie eine Verdurstende.


* * *

Eine Zeit lang hatte sie unter den Sternen von Teheran Wäsche transportiert.

Mit dem Job hatte man sie für irgendeine Übertretung bestraft. Sie sammelte die stinkenden, zu oft recycelten Kittelchen der jüngsten Insassen ein und trug sie in einem Plastikkorb über den leeren Hof zum Wäscheschuppen — und das im Winter und nicht selten nachts.

Ihre geheime Rache bestand darin, die Strafe gar nicht mal so schlimm zu finden. So unangenehm der Job war, denn kleinere Kinder machten sich schmutzig und waren öfters mal krank, so sehr genoss sie die Minuten im Freien. Selbst bei Kälte, selbst bei Dunkelheit. Vielleicht gerade dann. Die kalte Nachtluft schien irgendwie sauberer zu sein als die Luft tagsüber, als habe ein gütiger Wind sie von einem fernen Gletscher eigens herbeigeweht. Und die kältesten Nächte waren meist auch die klarsten. Über den bleichen Lampen des Lagers standen die Sterne und blickten mit ihrer lauteren reglosen Gleichgültigkeit zur Erde. Ihr Glanz war im Feuer geboren und älter als die Meere. Wo sie war, war sie aus Versehen; sie war für die Sterne geschaffen, und sie sehnte sich danach, sie auf ihren Bahnen zu begleiten, sie, die so unnahbar waren wie die Könige des Altertums.

In manchen Nächten setzte sie ihre übelriechende Last einfach ab und gönnte sich einen Augenblick, um zitternd vor Kälte in den Himmel zu starren.

Eben jetzt war sie dort. Im Lager. Oder zwischen den Sternen. Wo denn nun? Sie hatte Hunger, sie war durcheinander.

Aber, dachte sie widerstrebend, was wenn sie zu den Sternen reiste und dort nichts weiter fand als noch mehr Morast und noch mehr stickige Hitze und klirrende Kälte und Krankheit und Fremdlinge, denen egal war, ob sie starb oder am Leben blieb? Was, wenn sie den ganzen beschwerlichen Weg zu den Sternen zurücklegte, nur um in einem Loch irgendwo in der Fremde verscharrt zu werden?

Was, wenn? Was, wenn? Was, wenn?

In manchen Nächten bildete sie sich ein, die Sterne reden zu hören. Sie bildete sich ein, sie würde, wenn sie nur angestrengt genug lauschte, ihre Stimmen hören können, Stimmen, die in einer Sprache redeten, die den Edelsteinen an Klarheit, Härte und Farbenpracht in nichts nachstand.

Sie harrte geduldig aus, um diese zeitlose Sprache zu hören und endlich auch zu verstehen.


* * *

»Zoe!«

Wieder die Stimme. Tam Hayes. Nicht die Stimme der Sterne. War er nicht von den Sternen? Oder wenigstens vom Kuiper-Gürtel, wo die Leute freimütiger redeten als es auf der Erde üblich war.

»Zoe, hörst du mich?«

Der intakte Teil ihres Kopfgeschirrs blieb auf Empfang, wartete auf eine Antwort. Sie leckte sich die Lippen. Sie waren trocken. Sie hatte den letzten Rest ihres winzigen Wasservorrats getrunken. Sie hatte begonnen, bitteres Kondenswasser vom muffigen Tunneldach zu lecken…

»Tam«, krächzte sie.

»Zoe, ich bin etwa fünfhundert Meter von der Kolonie entfernt. Ich versuche jetzt eine trigonometrische Positionsbestimmung. Bist du da, wo du bist, in Sicherheit?«

Nein. Hier war sie überhaupt nicht in Sicherheit. Doch sie wusste, was er meinte. »Ich muss nicht weg hier. Noch nicht.«

»Gut. Ich komm dich jetzt holen.«

»Wie willst du mich denn finden?« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist stockfinster hier.«

»Schon klar, Zoe. Ich komme.«

»Stockfinster und ganz eng.«

Statisches Prasseln. Hayes fragte: »Wie ist deine körperliche Verfassung?«

Eine schwierige Frage. Sie sah nicht einmal die Hand vor Augen. Sie musste sich auf ihr Gefühl und auf den Tastsinn verlassen. Doch das Wichtigste zuerst. »Ich bin kontaminiert. Die Membran ist beschädigt. Ich atme ungefilterte Luft.«

Es gab keine unmittelbare Antwort. Sie malte sich die Bestürzung auf seinem Gesicht aus, wie die Mundwinkel absackten. Würde er um sie weinen? Ihr war zum Weinen zumute, aber sie war ausgetrocknet.

»Aber ich lebe«, setzte sie hinzu.

»Du bist besser geschützt als du denkst. Avrion Theophilus behauptet, du hättest ein tüchtig aufgerüstetes Immunsystem — kleine gut isolierte Nanokolonien, die dein Blut überwachen. Ein noch ungeprüftes System, aber es scheint zu funktionieren.«

Zoe verdaute die Information. Ein D&P-Immunsystem. Das würde erklären, warum sie nicht beim ersten ungefilterten Einatmen dieser scheußlichen und abgestandenen Luft gestorben war.

Das sollte Theo ihr nicht gesagt haben?

Das sollte er ihr verschwiegen haben? Er war es doch, der sie aus dem Waisenheim gerettet hatte, nachdem ihre Klongeschwister nach und nach erkrankt und gestorben waren.

Sie musste laut gedacht haben, denn Hayes entgegnete: »Zoe, damals in Teheran, bist du da jemals krank gewesen?«

Sie überlegte. Schwach, ja; unterernährt, sicher; abgestumpft, verängstigt, immer. Doch die Infektionen hatten einen Bogen um sie gemacht, selbst Brazzaville 3, an der so viele Heiminsassen erkrankt waren, dass man Zoe dafür eingeteilt hatte, Bettpfannen und… ja, auch Leichen zu schleppen.

Theo hatte sie gerettet.

Theo. Theo. Wer weiß, vielleicht hatte er sie schon lange vorher gerettet. Vielleicht hatte er ihr etwas gegeben, das sie schützen sollte.

Und warum hatten dann ihre Schwestern sterben müssen, jede auf ihre Weise? Im Grunde waren sie doch eineiige Fünflinge gewesen. Identische Individuen, genetisch zumindest. Hatten sie sich vielleicht innerlich unterschieden? Waren unterschiedlich nachgerüstet worden? Mit unterschiedlichen Immunmodulen? So wie man es mit geklonten Tieren machte: verschiedene Modifikationen an genetisch identischen Mäusen…

Um sie dann einer feindlichen Umgebung auszusetzen.

Nach dem Motto: Mal sehen, wer überlebt.

Eins von meinen Mädchen hat überlebt.

Böser Gedanke, schalt Zoe sich. Böser, böser Gedanke.


* * *

Zeit verstrich. Zoe hatte jeden Maßstab verloren.

Sie wurde sich immer deutlicher der Gräber bewusst, nach den Geräuschen zu urteilen waren es viele, sie kamen immer näher. Sie mochte die Geräusche nicht, den Geruch und die blinde Drohung. Die Geräusche trieben sie den Tunnel hinunter, sie gehorchte Ohren und Tastsinn, floh durchs enge Dunkel, bis sich die Geräusche der Gräber hinter ihr verloren hatten. Dann erst verschnaufte sie.

Sie wusste, die Gräber hätten sie fangen können, wenn sie gewollt hätten. In ihren Tunneln waren sie erstaunlich flink und wendig. Vermutlich hatten sie es gar nicht auf sie abgesehen, vermutlich war sie Luft für sie, vermutlich floh sie vor ihren alltäglichen und üblichen Zusammenkünften.

Doch alle Tunnels, denen sie folgte, schienen langsam aber sicher bergab zu führen und dann kam ihr ein in der Tat sehr böser Gedanke: dass man sie nämlich fast unmerklich immer tiefer in dieses unterirdische Labyrinth trieb…

Zweiundzwanzig

»Sir.« Amrit Seeger, der Junior-Nachrichtenchef, zitterte sage und schreibe wegen Degrandpre. Degrandpre war derart auf der Hut, dass er das Zittern und Schwitzen des Mannes zunächst als eine fiebrige Infektion interpretierte. Doch Seeger hatte nur Angst vor der Autorität. Vor Degrandpres Machtbefugnissen, und die hatte Degrandpre ja nun mal. »Sir, das kann ich nicht.«

Degrandpre hatte die Nachrichtenzentrale persönlich aufgesucht, was bis dato nicht oft vorgekommen war. Etwas an dem Raum erschreckte ihn, kam ihm antiquiert, zu groß vor, das ganze zwinkernde, in die Wände eingelassene Glaszeug, das an die Kontrolltafeln eines in See stechenden Schlachtschiffs erinnerte. Dieser Mordsapparat war vielleicht die großartigste Leistung der Granden von Devices & Personnel, auf seine Weise noch großartiger als die Higgs-Schleudern. Dieser Raum unterhielt eine kohärente und stabile Partikelpaar-Verbindung über Hunderte von Lichtjahren hinweg — der Gral der Gleichzeitigkeit in einem relativistischen Universum. Eine Verbindung zur Erde. Dieser Raum war die Stimme der Familien.

Doch es war eine zarte Verbindung, schmale Bandbreite, ein Flaschenhals. In der Vergangenheit hatte Degrandpre oft genug die Nachrichten zensiert, meist um seine Arbeit als leitender Manager der IOS so effizient wie möglich aussehen zu lassen. Jetzt hatte er sich entschieden, die Verbindung schlichtweg zu kappen. Die Nachrichtenzentrale lag zu dicht an der ausufernden Peripherie der Krankheit.

»Sir«, sagte der Ingenieur mit bebender Stimme, »niemand ist unterrichtet — zu Hause, meine ich —, da weiß bis jetzt niemand, dass die Quarantäne versagt hat. Wir dürfen die Verbindung nicht kappen, jedenfalls nicht, ohne vorher ein Mayday abzusetzen.«

»Und wenn wir das tun«, sagte Degrandpre, »was wird dann Ihrer Meinung nach passieren? Wir sind mit einem ansteckenden Agens kontaminiert, um dessen Isolation willen das Kartell uns liebend gerne über die Klinge springen lässt. Es wird keine Bergungsaktion geben, jedenfalls nicht, wenn wir so bescheuert sind und ein Mayday absetzen.«

Der Ingenieur staunte angesichts solcher Logik. Der Mann bebte, wie Degrandpre sich einbildete, unter der Bürde der Gotteslästerung. »Sir, die Bestimmungen…«

»… sind für die Dauer des Notstands außer Kraft.« Degrandpre nahm die Hand an den Griff der geflochtenen Reitpeitsche, was seine Worte zu einer offiziellen Verlautbarung machte.

Der Ingenieur musste schwer schlucken und verließ die Nachrichtenzentrale.

Allein im Raum, lokalisierte Degrandpre die Hauptstromschalter, eine Reihe von Unterbrechern, die seinen Daumenabdruck verlangten und anstandslos anerkannten; er schnitt dem in die Wände eingelassenen Komplex von Kommunikationsapparaten den Strom ab. Tafeln voller Kontrolllampen erloschen. Aber das reichte nicht, bei weitem nicht.

Er öffnete eine Bodenplatte, unter der eine Phalanx von Batterien zum Vorschein kam (eine Batterie von Batterien, dachte er überflüssigerweise), die den Kern des Partikelpaar-Reaktors mit einem kontinuierlichen Strom versorgten, der die empfindliche Kohäsion unterhielt. Letztere war gleichsam das schlagende Herz dieser Nachrichtenverbindung. Er klemmte die Zellen von Hand ab, systematisch, die Alarmsignale ignorierend, bis die Deckenleuchten flackerten und erloschen — ein letzter, verzweifelter Systemversuch, Energie umzuleiten, um die Kohäsion zu retten.

Im Schein einer Taschenlampe zog er die drei Koaxialkabel der letzten Energiequelle. Tief im unterkühlten Kern der Nachrichtenzentrale begannen die Wellenfunktionen der Photonen, die seit Jahren mit ihren terrestrischen Zwillingen in Resonanz gestanden hatten, zu kollabieren; Information zerstob in einem jähen entropischen Kollaps, und die IOS war endgültig abgenabelt.


* * *

Die Isis-Orbitalstation erweckte den Anschein von Normalität. Aus den lunaren Turing-Fabriken trafen mit pünktlicher Regelmäßigkeit Ersatzteillieferungen ein, machten an den wenigen Docks fest, die noch in Betrieb waren, und übergaben ihre Fracht an die wartenden Roboter. Die Lager der Station füllten sich mit Fertigwaren und Rohmaterialien, für die es keine Verwendung mehr gab.

Von den nahezu tausend Crewmitgliedern, die bislang der Quarantäne entkommen waren, konnte das einzige Rettungsmodul maximal fünfzehn aufnehmen! Eine kleine, von Turing-Robotern in einen kometenartigen Körper verpflanzte Higgs-Kugel, die in einem isischen Lagrange-Punkt parkte. Fünfzehn entsprach rein zufällig der Anzahl der Abteilungsleiter plus ihrem Generaldirektor, Kenyon Degrandpre. Zwei der ursprünglichen Abteilungsleiter, einschließlich Corbus Nefford, waren der Krankheit oder der allgemeinen Quarantäne zum Opfer gefallen. Für ihre Nachfolger war gesorgt.

Degrandpre wusste um die Möglichkeit eines Aufruhrs an Bord der IOS und ertappte seine Hand immer häufiger in der unmittelbaren Nähe der geflochtenen Reitpeitsche. Doch die allermeisten waren Terrestrier und diszipliniert genug, um auch weiterhin ihrer Arbeit nachzugehen, Katastrophe hin, Katastrophe her. Degrandpre hatte sie ermutigt, an die Möglichkeit einer Bergung zu glauben, und man schien dankbar für die Lüge.

Nachdem er die Vorbereitung des Higgs-Transfers einmal veranlasst hatte, wurde die Station von einer lähmenden Stille erfasst. Die letzte Nacht verbrachte Degrandpre in seiner Kabine; dank des außen vor postierten Wachkommandos konnte er seit zweiundsiebzig Stunden zum ersten Mal wieder durchschlafen. Er träumte von einem stählernen Labyrinth mit schrumpfenden Korridoren und dann von den Gewächshäusern seines Vaters, taufeucht und warm an den winterlichen Nachmittagen.


* * *

Seltsam, dachte er, als er durch das Fiepen seines Palmtops geweckt wurde, seltsam, wie die Psyche Ruhe aus der Katastrophe gewinnt. Traumhaft diese Nautiluskammern der Normalität, obwohl die IOS faktisch ein gelähmtes und dem Untergang geweihtes Habitat war. Die Krise war zwar akut, aber irgendwie auch träge, vergleichbar einem Segelschiff, das unter Deck beschädigt ist und sich anfangs mit der allersanftesten Schlagseite begnügt.

Der Palmtop fiepte erneut, eine hereinkommende Nachricht von hoher Priorität. Er sinnierte. Was gab es Dringendes, wenn sowieso alles den Bach runter ging? Ihn erwartete bestenfalls ein Exil im Kuiper-Gürtel. Zur Erde konnte er nie mehr zurück, die Familien würden ihn aufknüpfen; und der Mars hatte zu viele Gefängnisse und Auslieferungsabkommen. Er war kein Verbrecher, nicht in seinen Augen, wohl aber in den Augen der Familien.

Er langte nach dem Palmtop, die Finger urplötzlich taub vor Angst.

»Sir.« Es war Leander für Medizin. »Wir haben einen Stapel von Anrufen aus Yambuku, man verlangt umgehende Evakuierung. Avrion Theophilus möchte Sie unter vier Augen sprechen.«

Das Letzte, was Kenyon Degrandpre jetzt brauchen konnte, war irgendein Aristokrat, der ihm gegenüber den Vorgesetzten markierte. Gott, doch jetzt nicht. »Sagen Sie Theophilus, ich kann seinem Wunsch nicht nachkommen. Aber machen Sie Yambuku klar zur Evakuierung.«

»Und wo sollen…?«

»Im letzten Turing-Dock. Und verhängen Sie Quarantäne. Am besten, Sie lassen die Leute im Shuttle.«

»Sie meinen — auf unbestimmte Zeit?«

Ja, auf unbestimmte Zeit; genauer, bis das Rettungsmodul gestartet war — musste man denn alles aussprechen? »Sonst noch was?«

»Ja.« Leanders Stimme klang flach. »Kapsel Delta berichtet erste Symptome.« Diese Kapsel war praktisch ein Schlafsaal im Anschluss an die Kapsel für Maschinen- und Gerätebau. »Natürlich haben wir die Schotts gleich dichtgemacht, aber…«

Der Mann auf dem Bildschirm zuckte die Achseln.

Degrandpre verstand.

Eine Garantie gab es nicht.

Dreiundzwanzig

Der äußere Ring war verseucht, das meldeten die Nanosensoren in den betroffenen Wänden. Der erste Schutzwall war gefallen. Bis zum totalen Zusammenbruch, so Franklins Überzeugung, konnte es nicht mehr weit sein.

Avrion Theophilus ging mit dem Planetologen in die Shuttle-Kontrollkabine über dem Kern von Yambuku — in den ›Adlerhorst‹, wie Franklin die Kammer nannte — um die Lage zu besprechen.

Dieter Franklin hatte den leicht irren Blick eines Mannes, der zum Tode verurteilt ist und sich damit abgefunden hat. Er redete zu unbefangen. Doch Theophilus hörte ihm zu.

»Es hat immer mal wieder Dichtungsprobleme gegeben, bei allen Bodenstationen, vom ersten Tag an. Aber nicht so wie jetzt. Was wir hier erleben, ist ein massiver, konzentrierter Angriff.« Der Planetologe runzelte die Stirn. »In meinen Augen ist Isis eine Bestie. Sie will rein. Sie will uns. Sie hat alle chemischen Verbindungen durchprobiert, alle Schlüssel, um den einen zu finden, der ins Schloss passt. Ein langwieriges und frustrierendes Unterfangen, das uns in Sicherheit wiegte. Aber jetzt hat sie ihn. Die Bestie hat den Schlüssel, und sie braucht ihn nur noch zu benutzen und geduldig eine Tür nach der anderen aufzuschließen. Weil es nämlich zu spät ist, die Schlösser auszuwechseln. Kurz und gut: Wir haben verloren.«

»Sie finden also auch, dass wir räumen sollten.«

»Wenn wir weiter atmen wollen, bleibt uns keine Wahl.« Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee — ein mehr als schmeichelhafter Name für dieses bittere Gebräu. »Andererseits, wir haben zwei Leute draußen.«

»Hayes.«

»Tam Hayes und Zoe Fisher. Sie scheint noch zu leben.«

»Eingeschlossen unter diesen Erdhügeln.«

»Zugegeben.«

»Wenn ich Ihrer Logik folge, dann können wir nichts mehr für sie tun, ohne die ganze Belegschaft zu gefährden.«

»Wir sind längst so gefährdet, wie Menschen gefährdeter nicht sein können. Das ist nicht der Punkt, Sir.«

»Ich habe bereits die Evakuierung verlangt und angeboten, die Lage der beiden vom Orbit aus zu überwachen. Nennen Sie mir eine Alternative.«

»Wir müssen so viele Leute wie möglich aus dem Gefahrenbereich bringen. Also evakuieren wir die Station, lassen sie aber in Betrieb. Nano-Instrumente und Roboter können den Kern noch tagelang kontrollieren. Von der IOS aus können wir mit Hayes in Verbindung bleiben und sollten die beiden es wirklich zurück nach Yambuku schaffen, können wir immer noch den Shuttle schicken. Es würde an ein Wunder grenzen, sicher. Aber daran glauben, kostet ja nicht viel.«

Theophilus zeigte die hohlen Hände. »Für Sie ist Isis weiblich. ›Sie‹ will hinein, haben Sie gesagt. Haben Sie eine Ahnung, warum sie hinein will?«

Der groß gewachsene Planetologe zuckte die Achseln. »Vielleicht ist sie neugierig. Oder hat Hunger.«

Der Palmtop des Aristokraten schlug an; Theophilus vergewisserte sich. Ein Ruf aus der Nachrichtenzentrale. Er war schon fast aus der Tür.

»Sir?«, sagte Dieter Franklin.

Theophilus blickte über die Schulter. »Ich werde über Ihren Vorschlag nachdenken, Mr. Franklin. Die Sache ist erst mal erledigt.«

Vierundzwanzig

Tim Hayes hatte die Lichtung rings um die Kolonie erreicht. Er zog den linken Fuß nach, und die Servos malträtierten ihn mit grellgelben Überhitzungsmeldungen, die wie träges Feuerwerk in sein Hornhautdisplay platzten.

Aus dem diesigen Osten kam wässriges Sonnenlicht. Der Wald dampfte wie aus den Nüstern eines träumenden Drachen. Von den Gipfeln der Copper Mountains wanden sich die Nebelschwaden wie Geisterflüsse zu Tal.

Es war nicht leicht, den schweren Biopanzer so behutsam zu bewegen. Mindestens fünf Gräber sahen Hayes die Lichtung betreten (andere mochten ihn aus dem Schutz des Waldrands beobachten oder von irgendwo abseits der Erdhügel). Außen an seiner Montur trug Hayes eine Elektropeitsche und eine Pistole mit Hartgummigeschossen. Doch die Gräber wahrten Abstand. Sie schienen weder aufgeschreckt noch feindselig — nur wachsam. Vorausgesetzt, er deutete ihre Zurückhaltung richtig. Ihre Köpfe drehten sich wie Radarantennen. Wenn sie aufrecht standen, erinnerten sie Hayes an Photographien, die er gesehen hatte: Präriehunde, die sich sonnten. Die ausdruckslosen Augen glänzten im Sonnenschein.

Er hatte die Verbindung mit Zoe offen gehalten. Sie meldete sich nur selten, ignorierte ihn meistens, aber sie atmete — ein schwaches Geräusch, das ihn beinah glücklich machte.

Der Boden war noch aufgeweicht vom Regen. Viele Gräberspuren führten in und aus den niedrigen Hügelöffnungen. Er musste lange suchen, bevor ihm eine Spur ins Auge sprang; falls man Zoe an den Handgelenken in diese Öffnung gezerrt hatte, konnte die Doppelfurche im trocknenden Morast von ihren Absätzen stammen.

Irgendwo da unten — die inwendige Schräge hinunter in dieses Labyrinth aus uralten Aushöhlungen —, irgendwo da unten steckte Zoe.

Er verfügte über Waffen und eine starke Helmlampe. Er wäre ihr liebend gerne gefolgt.

Nur, dass der sperrige Biopanzer so gar nicht durch diese Enge passte…


* * *

Er rief Yambuku und wollte Avrion Theophilus sprechen.

Dieter Franklin meldete sich und gab Hayes einen knappen Überblick: Hülle porös, steriler Kern bedroht, Evakuierung eher heute als morgen — »wenn diese Arschlöcher auf der IOS uns nur eine Minute zuhören würden.« Bis Hayes und Zoe zurück sein könnten, sei die Bodenstation vermutlich geräumt. »Aber wir lassen das Licht brennen. So lange der Kern steril ist — und das dürfte noch ein paar Tage so sein — könnt ihr die IOS anrufen und euch ein Taxi bestellen. Verstanden, Tam?«

»Stell eine Kerze ins Fenster, Dieter.«

»Wird gemacht.«

»Jetzt gib mir Theophilus.«

»Ja, Theophilus online, was gibt’s?«

»Ich hätte da eine Frage, Theo«, sagte Hayes.

Er stellte sich vor, wie Theophilus zusammenzuckte. Zoe nannte ihn Theo, aber Zoe war privilegiert, war sein Mündel. Eigentlich hätte Hayes ihn mit ›Master Theophilus‹ anreden müssen. Theo war einer von den guten Aristokraten.

»Ich höre.«

»Zoe hat sich ab und zu gemeldet. Ich glaube nicht, dass man in Yambuku auch nur ein Wort davon gehört hat. Ihre Reichweite ist begrenzt.«

»Korrekt.«

»Sie kann von Glück sagen, dass sie über dieses aufgepfropfte Immunsystem verfügt. Sonst wäre sie längst nicht mehr am Leben, Theo.«

»Ja, sie kann sich glücklich schätzen. Stellen Sie Ihre Frage, Mr. Hayes.«

»Sie ist einfach nur neugierig, Theo… wo Sie doch so etwas wie ein Vater für die Fünflinge waren. Als sie in diese Waisenkrippe kam, hatte sie da schon dieses künstliche Immunsystem?«

Es entstand eine Pause. Vermutlich das Schweigen von Theos Gewissen. »Ja, so war es, in der Tat. Das wird ihr geholfen haben, zu überleben.«

»Aber nicht ihren Klongeschwistern.«

»Ihre Geschwister waren lediglich anders ausgestattet.«

»Ein Experiment also. Man nehme fünf Ratten, sperre sie in einen Käfig und infiziere sie mit Pocken — etwas in der Art?«

»In Anbetracht Ihrer Situation, Mr. Hayes, will ich über Ihren anmaßenden Ton hinwegsehen. Ich hätte den Mädchen wirklich etwas Besseres als diese Teheraner Einrichtung gewünscht. Politische Umstände haben uns die Hände gebunden. Allerdings, ja doch, ihre Unterbringung dort diente letztlich der Wissenschaft.«

»Sie glaubt, Sie hätten sie gerettet. Da hätten Sie sie auch gleich vergewaltigen können.«

»Wir reden hier über eine Familienangelegenheit. Als Sie Ihre Heimat verlassen haben, Mr. Hayes, hätten Sie auch Ihre Art moralischer Selbstgefälligkeit zu Hause lassen sollen. Die familiäre Wertordnung ist unanfechtbar.«

»Geben Sie Dieter das Mikro, Theo«, sagte Hayes nachdrücklich.


* * *

Jetzt erschienen immer mehr Gräber auf der Bildfläche, aber alle machten einen großen Bogen um ihn. Er wollte sie auf keinen Fall reizen. Sie hätten sich an Zoe rächen können — falls sie zu solchen Gedanken fähig waren.

Dieter Franklin meldete sich verspätet zurück. »Du machst dir das Leben nur noch schwerer, Tam.«

»Schwerer geht nicht. Hört Theo mit?«

»Master Theophilus hat die Nachrichtenzentrale verlassen, wenn du das meinst. Aber dieses Gespräch wird aufgezeichnet.«

»Dieter, ich hätte da eine Frage. Der Biopanzer — der ist doch so etwas wie eine Mini-Bodenstation, richtig? Ich meine, er hat eine Reihe von Peripherien rings um einen sterilen Kern.«

»Könnte man sagen. Dicker Panzer für Elektronik und Servomotoren, darunter Gelpolsterung, zu guter Letzt eine schützende Schicht, ungefähr so dick wie deine Haut.«

»Worauf kann ich zur Not verzichten?«

»Sag das noch mal, Tam.«

»Auf wie viel Panzer kann ich verzichten, ohne mich gleich umzubringen?«

Diesmal entstand eine größere Pause. Hayes besah sich den Eingang in den Erdhügel. Dunkel wie ein Dachsloch. Eng wie ein Abwasserkanal.

»Prinzipiell auf nichts«, sagte Dieter. »Das geht so nicht.«

»Beantworte die Frage.«

»Ich bin kein Ingenieur. Wenn du willst, ziehe ich Kwame hinzu.«

»Kwame weiß nicht mehr als du. Du kannst die Montur herunterbeten.«

»Ich übernehme keine Verantwortung…«

»Verlangt auch keiner. Die Verantwortung liegt voll und ganz bei mir. Beantworte die Frage.«

»Naja… wenn du den schweren Panzer wegnimmst, wirst du wahrscheinlich nicht gleich sterben. Den Helm brauchst du wegen der Luftreiniger. Und dann stehst du da in einer Plastikhülle, nicht dicker als Aluminiumfolie. Ja, sie hält dir die heimischen Mikroorganismen vom Leib, aber höchstens für zwei Stunden. Schürf dir vorher den Ellbogen auf und es geht verdammt schnell. Tam, das ist eine total verrückte Idee.«

»Ich muss sie da rausholen.«

»Ihr geht beide drauf dabei.«

»Wenn’s sein muss«, sagte Hayes. Seine Hände nestelten schon an den Verschlüssen der Stiefel.


* * *

Dieter Franklin holte Avrion Theophilus im Korridor ein. »Master Theophilus, ich möchte mich für Tam Hayes entschuldigen.«

»Nicht Sie haben sich zu entschuldigen, Mr. Franklin.«

»Sir, ich bin fest überzeugt, es durchkreuzt nicht unsere Pläne. Ich meine, sollte er es irgendwie nach Yambuku schaffen, dann werden wir ihm doch einen Shuttle schicken… nicht wahr?«

»Familiensache«, sagte Theophilus forsch. »Machen Sie sich keine Sorge.«

Fünfundzwanzig

Außer Zoe war keine Menschenseele im Hofraum des Waisenheims, Zoe lauschte den Wintersternen.

Sie lauschte mit geschlossenen Augen, weil es zum Sehen zu finster war. Sie lauschte mit hängenden Armen, weil die Arme zu schwer waren, um sie zu bewegen. Sie atmete durch den Mund, weil die Luft zum Schneiden dick war und nach fremden Tieren stank.

Vielleicht war sie ja gar nicht im Hofraum… aber da waren die Sterne, Stimmen wie von einem weit entfernten Kirchenchor in einer kalten Nacht, Stimmen wie das Pfeifen eines Zuges, das aus der Prärie herüberwehte. Stimmen wie Schneeflocken, die am Schlafzimmerfenster wisperten. Stimmen wie das gelbe Licht, das aus den Wohnungen der Fremden fiel.

Es tat gut, nicht allein zu sein. Zoe zitterte vor Fieber (seit wann hatte sie Fieber?) und versuchte sich auf den Klang der Sterne zu konzentrieren. Sie wusste, dass sie einem ausgedehnten und unsäglich alten Gespräch lauschte; nicht, dass sie wirklich etwas verstanden hätte, aber alles strotzte vor Bedeutung, eine fremde Sprache, so komplex und so wunderschön, dass sie Sinn absonderte wie eine Blüte den Nektar.

Es gab noch eine Stimme, die näher, aufdringlicher war, denn sie wandte sich direkt an Zoe, eine erinnerte Stimme, die Zoe berührte und bewunderte, wie Zoe die Sterne bewunderte.


* * *

»Tam?«

»Ich komme«, sagte er. Er sagte es mehr als einmal.

Und er sagte noch etwas. Über ihre Ausrüstung. Ihr Werkzeug.

Es fiel ihr schwer, den Worten zu folgen. Sie wollte lieber den Sternen lauschen.

Einmal sagte sie irrtümlich: »Theo?« Denn sie war wieder im Waisenheim, ein Traum.

»Nein«, sagte Hayes. »Nicht Theo.«


* * *

Die nahe Stimme klang herzlich und einladend, und sie gehörte Dieter Franklin, dem erinnerten Dieter Franklin.

Da stand der schlaksige Planetologe vor ihr, inwendig erleuchtet, Rippen und Ellbogen deutlich zu erkennen unter der groben, blauen Dienstmontur von Yambuku. »Das ist die Antwort«, erklärte er leidenschaftlich, »die Antwort auf all die alten Fragen. Wir sind nicht allein im Universum, Zoe. Aber wir sind nahezu einzigartig. Das Leben ist fast so alt wie das Universum. Nanozelliges Leben, denk an die uralten marsianischen Fossilien. Es hat sich über die Milchstraße verbreitet, lange bevor es die Erde gab. Es reist mit dem Staub explodierter Sterne.«

Das war nicht Dieter, der da redete, das war jemand anderes, der sich ihrer Erinnerung an Dieter bediente. Der Gedanke hatte etwas Erschreckendes, ja, aber Zoe hatte keine Angst. Sie hörte gut zu.

»Ich würde dir das noch ausführlicher erklären, mein Kind, aber dir fehlen die Worte. Sagen wir es mal so. Du bist eine lebendige, mit Bewusstsein begabte Entität. Und das sind wir alle. Aber jeder auf seine Weise. Leben gedeiht überall in der Milchstraße, sogar im heißen, brodelnden Zentrum, wo die natürliche Strahlung ein Lebewesen wie dich augenblicklich töten würde. Das Leben ist flexibel und anpassungsfähig. Bewusstsein entsteht… naja, fast überall. Nicht, wie du es kennst. Keine Lebewesen, die dumm geboren werden und für kurze Zeit leben, um dann für immer zu sterben. Das ist die Ausnahme, nicht die Regel.«

»Ich kann hören, wie die Sterne reden«, sagte Zoe.

»Ja, das können wir alle, die ganze Zeit. Es sind hauptsächlich Planeten, keine Sterne. Planeten wie Isis. Oft von sehr unterschiedlicher Beschaffenheit, aber allesamt voller Leben. Alle sehr gesprächig.«

»Aber nicht die Erde«, erriet Zoe.

»Nein. Die Erde nicht. Keiner weiß, warum. Der Lebenskeim, den eure Sonne eingefangen hat, muss irgendwie schadhaft gewesen sein. Ihr seid… ins Kraut geschossen? Ins Kraut geschossen und allein.«

»Verwahrlost.«

Dieter lächelte traurig. »Ja. Verwahrlost.«

Doch es war nicht Dieter, der da lächelte. Nicht Dieter, der da redete.

Es war Isis.


* * *

»Zoe, der Peilsender.«

Das war Tams Stimme, seine Funkstimme.

Sie schlug unwillkürlich die Augen auf, sah aber nichts. Über Stirn und Wangen lief der Schweiß in juckenden Rinnsalen. Der Mund war staubtrocken, die Zunge dick und schwerfällig.

»Zoe, hörst du mich?«

Sie bestätigte mit einem Krächzen. Sie hatte Bauchschmerzen. Die Füße waren taub. Ihr war noch nie so kalt gewesen, ihr war kälter als in den kältesten Winternächten in Teheran, kälter als im Zentrum eines Kuiper-Körpers, der durchs All wirbelte. Der Schweiß war kalt, und das Salz biss in den Augen. Sie schmeckte es auf den gesprungenen Lippen.

»Zoe, du musst mir jetzt zuhören. Hör mir genau zu!«

Sie nickte, weil sie einen Moment lang dachte, sie sei blind und er sei bei ihr. Dabei war das nur seine Funkstimme.

»Zoe, am Werkzeuggürtel müsstest du einen Peilsender haben. Den Hochfrequenzsender, erinnerst du dich? Am Werkzeuggürtel. Ungefähr so groß wie ein Palmtop. Kannst du ihn einschalten?«

Peilsender? Warum nur? Er wusste doch, dass sie hier war. Sie konnten sich sogar hören.

»Ich kann dich so nicht finden. Schalte den Peilsender ein.«

Ihr Signal, das von den stationären Satelliten abprallte und mit seinem Helm kommunizierte. Ja, das konnte funktionieren. Zusammenzuckend langte sie um den zerschundenen Anzug herum und befingerte den Gürtel. Die Finger waren so ungefügig wie Heliumballons und tasteten lauter Schleim, der vermutlich von diesem Moosbelag rührte. Bei all der vergeblichen Kriecherei war der Peilsender bestimmt verloren gegangen, aber nein, da war er, ein flaches Kästchen, ganz glitschig, als sie es aus dem Halfter zog.

»Ich hab ihn«, brachte sie heraus. Barbarisch, diese menschliche Stimme.

»Kannst du ihn einschalten?«

Sie drehte und wendete das Gerät, bis sie die kleine Mulde fand. Sie legte wiederholt den Daumen hinein und wurde durch ein kurzes Zirpen und das Aufleuchten einer winzigen roten Kontrolllampe belohnt. Der Sender arbeitete.

So winzig die Lichtquelle war, sie gab Zoe das Augenlicht zurück. Zoe hielt sich das Kontrolllämpchen vors Gesicht und badete in seinem Schein. O du kostbarer Funke! Der Funke beleuchtete, wenn auch nur schwach, alles was nicht weiter als zehn Millimeter von ihm entfernt war.

Sie hielt die Hand dicht daneben.

Was sie sah, war unerfreulich.

»Da!«, sagte Tam. »Da ist er! Laut und deutlich. Halt die Ohren steif, Zoe. Es dauert nicht mehr lange.«


* * *

Die Sterne — zumindest aber ihre Planeten — lebten und hatten seit Jahrmilliarden Selbstgespräche geführt (Selbstgesänge, verstand Zoe).

Isis, in der Maske des erinnerten Dieter Franklin, sang ihr ein wohltuendes Lied. Ein Kinderlied. Ein Lied, das ihr die Kindermädchen damals gesungen hatten, einen albernen Reim über die Meeresküste. Hält man sich ein Schneckenhaus ans Ohr, dann hört man das Meer.

Bewusstsein, erklärte ihr Isis, werde in den winzigen Dingen des Universums geboren, obwohl kein winziges Ding mit Bewusstsein begabt sei. Eines Tages, so Isis, sei das Leben auf die Idee gekommen, bei der Zellteilung einen unsichtbaren Kontakt aufrechtzuerhalten, und zwar durch eine Quantenäquivalenz von Elektronpaaren, die in Mikrotubuli geparkt wurden, »wie bei eurer Partikelpaar-Verbindung zur Erde«.

Eine Technik, die vom Leben erfunden wurde, dachte Zoe. Wie so vieles andere auch. Augen zum Beispiel: Photoneneinschläge in neurochemische Ereignisse von einer Raffinesse zu verwandeln, die Frösche Fliegen fangen und Menschen Rosen bewundern lässt. Wir sehen die Sterne, dachte Zoe. Aber hören können wir sie noch nicht.

Mit Bewusstsein begabte Lebewesen, so Isis, seien sehr selten im Universum. Sie würden wegen ihrer Seltenheit gehegt und gepflegt. Die galaktische Biosphäre sei überglücklich, dass ihre Waisenkinder heimgefunden hätten. Isis bedaure den sinnlosen Tod so vieler — kurzes Aufflackern an dieser Stelle von Macabie Feya, Elam Mather —, doch das sei unabwendbar gewesen, ein unwillkürlicher Reflex der isischen Biosphäre; ein Geschehen so autonom wie Zoes Herzschlag und genauso schwer zu bändigen. Aber Isis tue ihr Bestes.

»Ich bin nicht tot«, bemerkte Zoe.

»Du bist anders, mein Kind.«

So anders, dass ich überlebe?

Eins von meinen Mädchen hat überlebt.

Isis ging nicht weiter darauf ein.

Sechsundzwanzig

Zu spät, dachte Kenyon Degrandpre.

Er schritt hocherhobenen Hauptes den Ringkorridor der todwunden IOS hinunter.

Zu spät.

Seht her, dachte er. Sehe ich nicht fesch und adrett aus in meiner Uniform? Der Ringkorridor war wie ausgestorben — viele von der Belegschaft hatten es vorgezogen, allein in ihrer Kabine zu sterben, und die wenigen, die ihm begegneten, taten es immer noch mit schreckhafter Ehrerbietung. Er hatte die Hand an der geflochtenen Peitsche, für alle Fälle. Doch der weise Manager greift selten zur Prügelstrafe.

Er schritt steif und formell auf das letzte Dock zu, wo das Rettungsboot wartete, um ihn von der IOS zur Higgs-Schleuder zu bringen. Er lauschte seinen Schritten, Rhythmus und Gleichmaß waren ihm wichtig. Kein Schlenker nach links und keiner nach rechts. Er ging in der Mitte des Ringkorridors, die gerippten Wände gleich weit von den gestrafften Schultern entfernt. Nur an den niedrigen Schotts verzichtete er auf Haltung.

Er kam durch einen Sektor mit Mannschaftsquartieren. Jeder an Bord verfügte über ein privates Quartier, spartanische Stahlzellen, kaum größer als die Lesenischen in Bibliotheken. Ein paar Türen standen offen und Degrandpre sah den einen oder anderen auf dem Klappbett liegen, schlaff und mit glibbrigem Blut an Nase und Lippen. Gelegentlich ein Stöhnen, ein Schrei. Die meisten Türen waren geschlossen. Die meisten Menschen zogen es vor, in Abgeschiedenheit zu sterben.

Man dürfe nicht übersehen, hatte Nefford gesagt, dass es so lange dauere. Damit konnte er nur die Inkubationszeit gemeint haben, die für isische Verhältnisse völlig überzogen war. Während die letzte Phase im Zeitraffer verlief: drei bis vier Stunden von den ersten Symptomen bis zum Tod. Nicht mehr.

Den Überlebenden, an denen er vorbeikam, stand die nackte Angst im Gesicht. Sie waren nicht gestorben, aber sie waren dem Tode geweiht; manche glaubten gegen alle Vernunft an eine bevorstehende Bergungsaktion, eine wunderbare Schicksalswende.

Daran glaubte auch Degrandpre. Er war schlichtweg nicht in der Lage, seinen Tod in Betracht zu ziehen. Nicht, nachdem er so weit gegangen war, um ihn zu verhindern: die Mehrfachquarantäne, die ›endgültige Evakuierung‹ der Marburger, die Unterbrechung der Partikelpaar-Verbindung zur Erde. Nein: Er musste einfach überleben, oder alles wäre umsonst gewesen.

Also stimmte er seine Schrittlänge ab und überquerte in demonstrativer Ruhe die dicke Stahlschwelle des Notdocks. Lediglich der Schweiß, der ihm von den Wangen rollte, verriet seine wahre Gefühlslage. Der Schweiß nervte ihn und seine körperliche Schwäche nervte ihn auch. Wenn er nicht krank war, war er dann wahnsinnig? War Krankheit Wahnsinn?

Er traf knapp nach der verabredeten Zeit ein und war enttäuscht, nur drei von seinen Seniormanagern vorzufinden. Im Vorbereitungsraum, einer kleinen Kammer, die direkt mit dem Rettungsboot verbunden war, warteten Leander, Solen und Nakamura. Die anderen, erklärte Leander, seien erkrankt.

Sie aber seien verschont geblieben, gab Degrandpre zum Besten. Das Virus habe sie gemieden; falls nicht, sei der Erreger so weit geschwächt gewesen, dass ihr Abwehrsystem ihn erfolgreich geschlagen hätte.

So weit, so gut, dachte er. Da wären wir.

Er benutzte seinen Seniormanagerschlüssel, um das Boot aufzuschließen und in Betrieb zu setzen. Nichts Dramatisches. Eine schwere Tür glitt auf. Dahinter das beengte Innere des Bootes, im Kreis angeordnete Beschleunigungsliegen, kein Cockpit; das Boot war so etwas wie ein riesiger Roboter, der zu einer einzigen intelligenten Handlung fähig war — nämlich ein Rendezvous mit der Higgs-Schleuder zu bewerkstelligen.

Leander sagte: »Ich komme mir vor wie ein Feigling.«

»Das hat nichts mit Feigheit zu tun. Wir sind hier überflüssig, das ist alles.«

Nakamura zauderte an der Schwelle. »Manager«, sagte er mit zittriger Stimme. »Mir ist nicht gut.«

»Mir ist auch nicht besonders. Steigen Sie ein oder bleiben Sie draußen.«


* * *

Das Rettungsboot legte schlingernd ab und folgte einer weiträumigen Schleife zur Higgs-Schleuder, die im L-5 zwischen Isis und dem Trabanten parkte.

Die Higgs-Kugel lag eingebettet in einem kleinen, eisigen Weltraumkörper, den ein Robotschlepper vor etwa sieben Jahren hier abgesetzt hatte. Überbleibsel der Schleppertriebwerke verzierten jetzt noch die Oberfläche, verrußte Düsen, die an rostende Skulpturen in einem finsteren Steingarten erinnerten. Der völlig automatisierte Higgs-Komplex registrierte die Annäherung des Rettungsbootes, berechnete das Rendezvousmanöver und steuerte es.

Das Boot dockte an. Im Innern des Weltraumkörpers flackerte in Erwartung der Menschen die Beleuchtung auf. Die Temperatur in den engen Korridoren kletterte auf einundzwanzig Grad Celsius. An den Dockluken stellten sich Sanitätsroboter auf…

Der Higgs-Komplex stellte dem Boot immer die gleichen Fragen, bekam aber keine klare Antwort.

Nach einer Weile — als sei er enttäuscht, weil ein angekündigter Gast nicht erschienen war — löschte der Higgs-Komplex das Licht. Habitate kühlten auf Umgebungstemperatur ab. Flüssigwasser kehrte in Eisdepots zurück.

Unterkühlte Prozessoren registrierten mit grenzenloser Geduld die verstreichende Zeit. Isis kroch unbeirrt um ihre Sonne, und keines Menschen Stimme war zu hören.

Siebenundzwanzig

Die Helmlampe hatte eine Betriebsdauer von gut anderthalb Tagen. Es war mehr als wahrscheinlich, dass sie noch brannte, wenn er bereits tot war, wenn seine Leiche bereits auskühlte — oder aufgeheizt wurde von einer hungrigen Meute isischer Mikroorganismen.

Bis jetzt war er noch intakt.

Tam Hayes robbte durch die engen Gräbertunnels. Die radikal verschlankte Schutzmontur war so empfindlich und der Helm so sperrig, dass er nur langsam vorankam. Vor einem Angriff der Gräber hatte er sich am meisten gefürchtet — er war schrecklich verwundbar —, doch draußen hatten die Tiere Abstand gehalten und innerhalb des Hügelkomplexes hielten sie sich bedeckt. Viel sprach dafür, dass sie vor kurzem noch hier gewesen waren. Er kam an Kammern und blinden Stollen vorbei, die mit Nahrungsmitteln gefüllt waren, nach Kategorien geordnet — hier ein Vorrat an Saatgut, dort ein gärender Obsthaufen.

In abzweigenden Tunnels, knapp außerhalb der Reichweite seiner Lampe, gewahrte er Bewegung, ein Sich-Winden, das Kopulieren, Gebären, Kindererziehung oder Volkstanz sein mochte. Er folgte dem Peilsignal und hielt den Sprechfunk offen, hörte wie Zoes Monologe von Mal zu Mal unzusammenhängender wurden.

Der Yambuku-Shuttle musste inzwischen zur hartnäckig schweigenden IOS gestartet sein. Tam Hayes und Zoe Fisher waren die letzten Menschen auf dem Kontinent. Über der Kolonie, der weiten Steppe im Westen, dem gemäßigten Waldland und den Gipfeln der Copper Mountains brach die Nacht herein.


* * *

Trotz Fieber und obwohl sie immer wieder die Besinnung verlor, konnte Zoe die Stimme von Isis jetzt deutlicher hören.

Oder besser verstehen. Sie wusste jetzt (und versuchte es in ihren lichten Momenten Hayes zu erklären), wie sich das Bewusstsein von Isis der isischen Biosphäre bediente; wie jede lebende Zelle, von den allerältesten thermophilen Bakterien bis zu den spezialisierten Zellen eines schwarzen Gräberauges, die Entität Isis bewirtete. Zellen lebten und starben, entwickelten sich, bildeten Gemeinschaften, wurden zu Fischen, Vögeln und Landtieren; und keine von diesen Kreaturen kannte Isis oder wurde von Isis gesteuert. Isis bediente sich ihrer Mechanismen auf die Weise, wie sich der Wortlaut eines Buches der Druckerschwärze und des Papiers bedient.

»Und nur«, flüsterte sie Tam Hayes — jemandem - Theo womöglich — ins Ohr, »und nur, wenn das Bewusstsein eines Lebewesens eine bestimmte Komplexität erreicht, kann Isis es beeinflussen. Die Gräber. Man kann wirklich nicht sagen, dass sie besonders helle sind. Sie sind eigentlich noch Tiere, tragen aber schon einen Funken Isis in sich. Sie können Isis hören — wie aus weiter Ferne.«

Und:

»Deshalb hat auch kein SETI-Projekt je etwas finden können. Die Milchstraße strotzt vor Leben, und sie redet — mein Gott, Tam, wenn du die Stimmen nur hören könntest! Alte, alte Stimmen, älter als die Erde! Aber wir waren taub. Isis redet mit, aber nicht die Erde. Welche Sporen die Erde auch immer befruchtet haben, damals, als sie noch heiß und blutjung war, sie müssen defekt gewesen sein — sie hatten keine Verbindung mehr — die vom Leben ausgesäte Quantenkohärenz, sie war abgerissen, tot. Die Erde schoss ins Kraut und verwahrloste. Sie verwaiste. Als die Primaten das Bewusstsein ›erfanden‹, das Kunststück, Neuronen mit Neuronen kommunizieren zu lassen, so wie es Planeten mit Planeten tun — als sie aus Quantenereignissen Bewusstsein machten —, als das geschah, da gab es nichts, was unsere Evolution hätte befördern können, keine Erde, nur Erdlinge.«

Aber hatte sie es denn nicht geahnt? Hatte sie es denn nicht gespürt, als sie unter den Wintersternen die schmutzige Wäsche geschleppt hatte? Dass alles so schrecklich falsch war, die ganze Quälerei und das Schweigen und die Feindseligkeit und dieser ganze Schlachthof der Menschheitsgeschichte, falsch, falsch, falsch; aber was war richtig? Was fehlte ihr so sehr, dass sie sich vor Sehnsucht danach verzehrte?

»Warum verehren wir Götter, Tam?«

Weil wir ihre Nachfahren sind, dachte Zoe. Wir sind ihre stummen und verstümmelten Nachkommen, zu Abermillionen.

Sie hustete und spürte die Nässe von Blut auf dem Handrücken.

Irgendwo in den Katakomben aus Schmutz und Dung kam Tam Hayes angerobbt.


* * *

Hayes lauschte dem Kopfhörer und fragte sich, wie viel von Zoes Geplapper auf das Konto von Dieter Franklin ging und wie viel auf das Konto ihres Deliriums.

Und wie viel daran stimmen mochte.

Doch es gab zu viel Zoe in allem. Sie brauchte diese Idee von Isis, überlegte er, die Idee einer Gemeinschaft der Welten, denn in keiner ihrer Welten war sie je richtig zu Hause gewesen. Der verwahrloste Waise war Zoe, nicht die Menschheit.

Dieser lange Tunnel schraubte sich wie ein zentraler Korridor in die Erde. Hayes stellte sich eine Spirale vor, die von unzähligen Generationen in die steinige Finsternis getrieben worden war. Hindernisse umgehend und sich mit bornierter Sturheit dem kontinentalen Sockel nähernd.

Saftige, fast durchsichtige Pflanzen tranken die Feuchtigkeit am Tunnelboden. Hayes wunderte sich über ihren Metabolismus: kein Licht, nur Wasser und Mineralien. Unter dem Druck seiner Handschuhe verspritzten die Pflanzen eine klebrige Flüssigkeit.

Zoes Halluzination. Der Himmel redete mir ihr. Naja, das konnte er nachvollziehen. Er hatte so oft in den Sternenhimmel geblickt, war durch die Red Thorn-Sonnengärten in eines der gläsernen Augen geklettert, wo sich der Himmel um ihn herum gedreht hatte, die Sonne nicht mehr als ein besonders heller Stern unter all den karussellfahrenden Sternen. Das hatte zu Mutters Überzeugungen gehört, dass die Biosphären alles miteinander vernetzten, von den Kängurus bis zu den marsianischen Mikrofossilien. Eine religiöse Überzeugung, die ihrer Ice Walker-Erziehung entsprang. Er — halb Puritaner, halb Freidenker — hatte diese Ansicht zusammen mit dem Rest des ideologischen Flickwerks abgelehnt, das sich im Kuiper-Gürtel breit gemacht hatte.

Aber wenn er die Sterne betrachtet hatte, dann hatte er daran geglaubt. Er wusste, was es hieß, jenseits der Verstandesgrenzen Bedeutung zu ahnen — die Sterne eine einzige gigantische Stadt, die er nie betreten konnte, eine Republik, deren Bürgerrechte er nie reklamieren konnte.

Er spürte eine kühle Nässe unter dem linken Spann und wusste sofort, dass das empfindliche Kernstück der Schutzmembran gerissen, war. Wie bei Zoe. Nur, dass er nicht ihr optimiertes Immunsystem besaß. Jetzt durfte er keine Zeit mehr verlieren.

Vorsichtig brauchte er jetzt nicht mehr zu sein.

Vielleicht fand sie ja mit seinem Helm nach draußen.


* * *

Sie war versucht aufzugeben.

Isis konnte ihr nicht helfen — nicht ihrem natürlichen Körper, der trotz aller Nachbesserungen im Sterben lag, weil er von zu vielen fremden Mikroorganismen attackiert wurde. Mit einer singulären Infektion wäre er fertig geworden, vielleicht auch mit einer doppelten oder dreifachen; aber er war von Hunger und Durst geschwächt und wurde von einer Übermacht an Organismen belagert.

Doch der Planet wusste, was er an ihr hatte, und würde sie nicht einfach gehen lassen. Zoe — das Muster von Zoe — würde in die dichte Matrix der isischen Biosphäre eingehen. So und nicht anders kommunizierte Isis mit ihr, vermittels virueller Entitäten, die in ihr Nervensystem schlüpften und aus terrestrischen Neuronen neue isische Zellen machten. Isis tötete sie zwar, bewahrte sie aber in ihrem Gedächtnis. Behielt eine Vorstellung von ihr. Träumte von ihr.

Trotzdem wartete sie auf Tam.


* * *

Als er endlich zu ihr stieß, hatte er bereits hohes Fieber. Die ganze verzweifelte Eile hatte ihn vergessen lassen, wozu er überhaupt hier war — tief unter der Erde, in dieser schlauchförmigen Enge um Knie und Nacken, das drückende Gewicht des Erdreichs über dem Kopf… Und jedes Mal, wenn ihn die Panik zu übermannen und zu ersticken drohte, hielt er inne und zwang sich zur Ruhe.

Und wenn er nicht mehr keuchte, die Hände nicht mehr zitterten und die Beine wieder bei Kräften waren, setzte er seinen Weg fort.

Schon merkwürdig, dass sie ihm so ans Herz gewachsen war, diese terrestrische Waise mit einem defekten Thymostaten. Dass er so viele Hoffnungen und so viele Ängste in sie investiert hatte und dass es ihn ihretwegen in dieses finstere, stickige Labyrinth verschlagen hatte.

Er bildete sich ein zu klettern und nicht zu kriechen… dass die Helligkeit vorne im Korridor mehr war als nur der grelle Lichtfleck seiner Helmlampe.


* * *

Zoes Sinne streikten. Als sich der Lichtschein aus der Finsternis näherte, gewahrte sie nur mehr einen schwachen, unsteten Schimmer.

Sie blinzelte mit verklebten Augen.


* * *

Als er sie im Lichtkegel sah, fand er seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Jede Rettung kam zu spät.

Die Biosphäre hatte ihr hart zugesetzt.

Sie saß mit dem Rücken gegen die gewölbte Wand des Stollenendes gelehnt, die Schutzmembran so ramponiert wie ein alter Wischlappen. Der Bauch war blutverkrustet, von rußigem Ziegelrot. Pilz hatte die entblößte Haut befallen, zog geschwollene Kreise aus Blau und Papierweiß.

Selbst das Albinomoos hatte Appetit bekommen, langte mit saftigen Ranken nach ihrer Feuchtigkeit. Die Stiefel verschwanden bereits darin.


* * *

Sie sah zu, wie er den Helm lockerte und absetzte. Der Lichtstrahl — so grell! — vollführte einen Veitstanz. Er beschien die Decke aus Lehm und Tierkot, das hauchfeine Insektennetz voller vertrockneter Hülsen, die zarten Moosknollen.

Er hielt ihr den Helm hin, den Helm mit dem aufwändigen Gasrecycling, der Wasserreserve und dem hellen, herrlichen Licht.

Das Angebot war herzzerreißend.

Doch Zoe winkte ab. Zu spät, zu spät.


* * *

Hayes verstand die Geste. Er resignierte und legte den Helm beiseite, die Lampe blickte jetzt unverwandt zur Decke. Mit jedem Atemzug lud er mehr isische Mikroorganismen in seine Lunge; was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Er nahm seine ganze Kraft zusammen und zwängte sich neben Zoe in den engen Alkoven. Keine Berührungsängste. Leben sucht Leben, wie Elam immer gesagt hatte.

Zoe strahlte Wärme aus, die Wärme des Fiebers und die Wärme der parasitären Infektion. Aber ihre Lippen, als er sie berührte, waren kühl. Kühl wie der Rand eines Eimers voll Wasser, das aus einem tiefen bemoosten Brunnen stammte.


* * *

Er sagte: »Ich höre sie auch. Die Sterne.«

Aber sie hörte nichts mehr.


* * *

Die Gräber mieden den Bestand an fremd riechendem Fleisch, bis es sich zu einer vertrauteren Masse amorphen, enzymatischen Gewebes zersetzt hatte, das vor Leben geradezu wimmelte. Der Geruch wurde erst kräftig, dann exotisch, dann unwiderstehlich.

Einer nach dem anderen kringelten sie sich in die Fleischkammer. Sie schmausten tagelang.

Achtundzwanzig

Die Isis-Orbitalstation kreiselte um den Planeten, verstümmelt, aber nach wie vor in Betrieb.

Transportroboter pendelten zwischen der IOS und den polaren Eiskappen des Trabanten hin und her, um Wasser und Sauerstoff aus den Turing-Extraktoren zu holen und damit die kleinen aber unvermeidlichen Verluste des Recyclings auszugleichen. Auch die vielen menschlichen Leichen, die Haushaltsroboter kürzlich entdeckt hatten, waren wegen ihres hohen Nährstoffgehalts recycelt worden. Die Gärten, vollgepackt mit frischen Vorräten an Stickstoff, Phosphor, Kalium und Spurenelementen, gediehen prächtig. Sonnenkollektoren warfen ihre Glut auf dichte Grünkohl- und Kopfsalathecken und einen Überfluss an Tomaten und Gurken.

Während allerorten gestorben wurde, hatte Avrion Theophilus sich in die Gärten geflüchtet; Dieter Franklin, Lee Reisman, Kwame Sen und alle anderen, die mit dem Shuttle hierher gekommen waren, waren Opfer dieses schleppend langsamen Virus geworden, der die IOS unterwandert hatte.

Das Virus fuhr fort, durch die Dichtungen zu tunneln, fand aber bald keine Nahrung mehr; all seine Sporen schliefen inzwischen den Dornröschenschlaf.

Unten auf der Oberfläche des Planeten lagen Marburg und Yambuku verwaist und Theophilus hatte die immer verzweifelteren Hilferufe der arktischen Bodenstation ignoriert, als deren Vorpostenlinien eine um die andere überrannt wurden.

Mittlerweile waren sie alle tot — da unten und hier oben; viel schlimmer noch: das Rettungsboot war fort und die Partikelpaar-Verbindung zur Erde war unwiderruflich zerstört.

Und trotzdem war er, Avrion Theophilus, noch am Leben.

Er hatte darauf bestanden, mit der gleichen Immunsystem-Modifikation nach Isis zu reisen, die sein Konzern Zoe Fisher verpasst hatte. Die Bloodware erfüllte ihren Zweck, zumindest schützte sie ihn vor dem singulären Mikroorganismus, der die IOS kontaminiert hatte.

Er lebte und würde wahrscheinlich weiterleben. Aber er war allein. Ganz allein.

Er streifte durch das gefilterte Licht der Gärten, vorbei an stummen Robotern und saftigen Blättern, zog ruhelos seine Runden und führte Selbstgespräche, weil es sonst niemanden gab, mit dem er hätte reden können. Er spekulierte laut und wiederholt, ob überhaupt jemand kommen würde, ob man ihn bergen oder hier lassen würde; ob er bereits nach einem Monat oder erst nach einem Jahr überschnappen oder ob ihn sein sturer Thymostat für immer bei Verstand halten würde.

Die Zeit würde seine Fragen schon beantworten. Und Zeit hatte er mehr als genug.

Wie ein zugelaufener Hund folgte ihm sein Schatten durch die Korridore der IOS.

Avrion Theophilus wartete, aber niemand kam.

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