TEIL III Die dunkle Lady

Zwischenspiel

Sylvanas Windläufer, ehemaliger Waldläufergeneral von Quel’Thalas, Banshee und Dunkle Lady der Verlassenen, eilte mit den gewohnt schnellen, geschmeidigen Schritten wie zu Lebzeiten aus den königlichen Gemächern. Sie bevorzugte ihr normales Aussehen für normale, alltägliche Aktivitäten. Ihre ledernen Stiefel verursachten kein Geräusch auf dem Steinboden der Unterstadt, doch alle Gesichter wandten sich ihr zu, als die Lady vorbeirauschte. Sie war einzigartig und unverwechselbar.

Einst war ihr Haar golden gewesen, ihre Augen blau, die Haut von der Farbe eines frischen Pfirsichs. Einst war sie auch noch lebendig gewesen.

Jetzt bedeckte eine blauschwarze Kapuze ihr nachtschwarzes Haar, das mit weißen Strähnen durchzogen war. Ihre ehemals pfirsichfarbene Haut war mittlerweile von einem blassen Blaugrau. Sie hatte eine Rüstung gewählt, die sie auch im Leben getragen hatte; gut verarbeitetes Leder, das viel von ihrem muskulösen Körper zeigte. Sie spitzte die Ohren, um das Gemunkel ihrer Untergebenen im Vorbeigehen aufzuschnappen.

Sie verließ ihre Gemächer nicht oft. Schließlich war sie die Herrscherin dieser Stadt und die Welt kam normalerweise zu ihr.

Neben ihr hielt Apothekermeister Faranell, der Vorsteher der königlichen Apothekervereinigung, mit ihr Schritt und sagte in lebhaftem Tonfall: »Ich bin sehr froh, dass Ihr gekommen seid, Milady.« Dabei versuchte er gleichzeitig, neben ihr herzugehen und sich zu verneigen. »Ihr hattet mir aufgetragen, Euch zu informieren, sobald die Experimente erfolgreich verlaufen sind. Ihr wolltet selbst sehen, wenn wir erst…«

»Mir sind meine Befehle noch sehr bewusst, Herr Doktor«, zischte Sylvanas, ohne ihr Tempo zu drosseln.

»Natürlich, natürlich. Hier sind wir schon.« Sie betraten einen Raum, der auf empfindsamere Gemüter wie ein Schreckenskabinett wirken musste. Auf dem großen Tisch nähte eine Untote mehrere Leichenteile zusammen. Dabei summte sie leise vor sich hin.

Sylvanas lächelte. »Es ist gut, wenn jemand seine Arbeit so liebt«, sagte sie verschmitzt.

Die Untote fuhr zusammen und verneigte sich.

Über einem tiefen Summen waren knisternde energetische Entladungen zu hören. Andere Alchimisten wuselten herum, mischten Tränke, wogen Zutaten ab und machten sich Notizen. Es roch nach Fäulnis, Chemikalien und dem unpassend reinen Aroma verschiedener Kräuter.

Sylvanas erschreckte sich bei diesem Gedankengang. Das Aroma der Kräuter erzeugte bei ihr merkwürdigerweise ein Gefühl von… Heimweh. Glücklicherweise hielt sich dieser Eindruck nicht lange. Das taten solche Gefühle nie.

»Zeigt es mir«, verlangte sie.

Faranell verneigte sich und führte sie durch den Hauptbereich an verschiedenen Leichenteilen vorbei, die in einem Nebenraum an Haken hingen.

Ein leises Schluchzen erreichte ihre Ohren. Als sie den Raum betrat, erblickte Sylvanas mehrere Käfige auf dem Boden, andere schaukelten bedächtig an Ketten. In allen saßen Versuchsobjekte. Einige waren Menschen, andere Verlassene. Allen gemeinsam war die Angst, die sie so tief durchdrang und die wohl schon so lange anhielt, dass sie davon fast schon gefühllos geworden waren.

Doch das würde nicht mehr lange so bleiben.

»Wie Ihr Euch vorstellen könnte, Milady«, sagte Faranell, »ist es schwer, Angehörige der Geißel als Versuchsobjekte zu bekommen. Für experimentelle Zwecke reichen auch die Verlassenen, sie sind ja nicht anders als die Geißelkrieger. Doch ich kann stolz verkünden, dass unsere Experimente mit ihnen im Feld gut dokumentiert wurden und zudem recht erfolgreich waren.«

Sylvanas begann die Aufregung zu spüren und sie bedachte den Apotheker mit einem ihrer seltenen und immer noch schönen Lächeln. »Ich bin sehr erfreut«, sagte sie.

Der untote Doktor bebte vor Entzücken. Er gab seinem Assistenten Keifer ein Zeichen. Er war ein Verlassener, dessen Gehirn offensichtlich bei seinem ersten Tod verletzt worden war und der deshalb mit sich selbst in der dritten Person plapperte, während er zwei Versuchsobjekte holte. Eins war eine Menschenfrau, die offensichtlich noch nicht so sehr von Angst und Verzweiflung gezeichnet war, dass sie nicht stumm hätte weinen können, als Keifer sie aus dem Käfig zog. Der Mann, ein Verlassener, war dagegen völlig passiv und stand stumm daneben.

Sylvanas beobachtete ihn. »Ein Krimineller?«

»Natürlich, Milady.« Sie fragte sich, ob das stimmte. Doch eigentlich war es egal. Der Mann würde den Verlassenen auf die eine oder andere Art dienen. Das Menschenmädchen lag auf den Knien. Keifer drückte sie nieder und hob ihren Kopf an, indem er sie an den Haaren zog. Als sie ihren Mund öffnete und vor Schmerz schrie, flößte er ihr den Inhalt eines Bechers ein und hielt ihr den Mund zu, damit sie schluckte.

Sylvanas beobachtete, wie die junge Frau dagegen ankämpfte. Der männliche Verlassene neben ihr nahm den Becher ohne Protest entgegen und trank ihn aus.

Es geschah schnell. Das Menschenmädchen hörte plötzlich auf zu kämpfen, ihr Körper war zuerst angespannt und verfiel dann in Krämpfe. Keifer ließ es zu und beobachtete fast neugierig, wie ihr das Blut aus Mund, Nase, Augen und Ohren lief.

Sylvanas wandte ihren Blick dem Verlassenen zu. Er beobachtete sie immer noch stumm. Sie runzelte die Stirn. »Vielleicht ist es nicht so effektiv wie Euer…«

Der Verlassene erschauderte plötzlich. Er kämpfte einen Augenblick lang darum, aufrecht zu stehen, doch dann gab sein schnell schwächer werdender Körper nach. Er taumelte und fiel zu Boden. Sie traten beide zurück. Sylvanas beobachtete den Vorgang verzückt, ihre Lippen öffneten sich vor Erregung.

»Dieselbe Dosis?«, fragte sie Faranell. Die Menschenfrau wimmerte kurz und war dann still, ihre Augen standen offen.

Der Alchemist nickte glücklich. »Allerdings«, sagte er. »Wie Ihr Euch vorstellen könnt, sind wir recht…«

Der Untote zuckte, seine Haut platzte auf und schwarzer Eiter quoll daraus hervor. Doch dann war auch er still.

»… zufrieden mit den Ergebnissen.«

»In der Tat«, sagte Sylvanas. Sie war sehr darum bemüht, ihr eigenes Hochgefühl zu verbergen. »Zufrieden« war in der Tat ein schwaches Wort dafür. »Eine Seuche, die sowohl die Menschen als auch die Geißel tötet. Und offensichtlich auch unsere eigenen Leute trifft, weil sie ebenfalls untot sind.« Sie warf ihm einen Blick aus ihren leuchtenden silbernen Augen zu. »Wir müssen darauf achten, dass dieses Mittel niemals in falsche Hände gerät. Die Folgen wären… katastrophal.«

Er schluckte. »Allerdings, Milady, das wären sie in der Tat.«

Sie zwang sich zu einem neutralen Gesichtsausdruck, als sie in die königlichen Gemächer zurückkehrte. So vieles ging ihr durch den Sinn. Doch ein Gedanke in ihr loderte heller als alle anderen, so hell, wie der Strohmann in der Schlotternacht.

Endlich, Arthas, wirst du für das bezahlen, was du mir angetan hast. Die Menschen, deren Volk du entstammst, werden ausnahmslos getötet. Und deine Geißelkrieger werden aufgehalten. Du kannst dich nicht länger hinter deiner Armee aus hirnlosen untoten Marionetten verstecken. Und wir werden dir dieselbe Gnade und Hingabe erweisen, die du auch uns gewährt hast.

Trotz aller Selbstbeherrschung musste sie lächeln.

17

Es war Ironie des Schicksals, überlegte Arthas, während er auf dem Rücken des skelettierten treuen Invincible nach Andorhal ritt, dass ausgerechnet der, der den Nekromanten Kel’Thuzad getötet hatte, nun damit beauftragt war, ihn wiederzubeleben.

Frostgram flüsterte ihm Mut zu. Doch es hätte der Stimme des Schwertes nicht bedurft – die Stimme des Lichkönigs, wie sie genannt werden wollte. Es gab ohnehin kein Zurück mehr. Und Arthas wollte es auch gar nicht.

Nachdem die Hauptstadt gefallen war, war Arthas zu einer Art düsterer Pilgerreise der Paladine aufgebrochen. Er war kreuz und quer durch das Land gezogen, hatte seine Untertanen von Stadt zu Stadt gebracht und sie auf die Bevölkerung losgelassen. Er fand, dass »Geißel«, wie Kel’Thuzad die Krieger genannt hatte, ein passender Name war. Das gleichnamige Instrument der Selbstgeißelung, das manchmal von einigen eher grenzwertigen Angehörigen der Priesterschaft benutzt wurde, diente schließlich auch dazu, Unreinheiten auszumerzen.

Seine Geißel würde die Lebenden ausmerzen. Er selbst bewegte sich zwischen den Welten. Auf die eine Art war er ein Lebender. Doch die sanften Einflüsterungen des Lichkönigs nannten ihn Todesritter und der Verlust der Farbe an Haaren, Haut und Augen schien anzudeuten, dass diese Bezeichnung mehr als nur ein Titel war. Er wusste jedoch nicht, ob dem so war. Im Grunde war es ihm auch egal. Er war der Favorit des Lichkönigs und die Geißel unterstand seinem Kommando. Und auf eine seltsam verdrehte Art schien sie ihm auch etwas zu bedeuten.

Arthas diente dem Lichkönig nun über einen von dessen Abgesandten, einen Schreckenslord, der beinahe so aussah wie Mal’Ganis. Wieder so eine Ironie des Schicksals, doch auch das war ihm letztlich gleichgültig.

»Wie Mal’Ganis bin ich ein Schreckenslord. Doch ich bin nicht dein Gegner«, hatte Tichondrius ihm versichert. Seine Lippen hatten sich dabei zu einem Lächeln verzogen, das Hohn in sich barg. »Eigentlich wollte ich dir gratulieren. Indem du deinen eigenen Vater getötet und das Land der Geißel ausgeliefert hast, hast du deine erste Prüfung bestanden. Der Lichkönig ist mit deinem… Eifer hochzufrieden.«

Arthas spürte zwei widerstreitende Gefühle – Schmerz und Jubel.

»Ja«, sagte er und bemühte sich um einen festen Tonfall vor dem Dämon. »Ich habe jeden und alles, was ich jemals geliebt habe, in seinem Namen in die Verdammnis geschickt und ich spüre immer noch keine Reue. Kein Bedauern. Keine Scham.«

Doch aus seinem tiefsten Herzen meldete sich unverzüglich eine andere Stimme, die nicht Frostgram gehörte, und schalt ihn: Lügner!

Er unterdrückte das Gefühl, das in ihm aufsteigen wollte. Jene lästige Stimme würde zum Schweigen gebracht werden müssen. Er konnte sich keine Milde leisten. Die störende Stimme war wie Wundbrand und würde ihn verzehren, wenn er es zuließ.

Tichondrius schien es nicht zu bemerken. Er wies auf Frostgram. »Die Runenklinge, die du trägst, wurde vor langer Zeit von meinem Volk geschmiedet. Der Lichkönig hat sie verändert, damit sie Seelen stehlen kann. Deine war die Erste, die sie nahm.«

Zwiespältige Gefühle wallten in Arthas auf. Er blickte die Klinge an. Tichondrius’ Wortwahl war ihm nicht entgangen. Stehlen. Hätte der Lichkönig seine Seele im Austausch dafür verlangt, um sein Volk zu retten, hätte Arthas sie ihm freiwillig gegeben. Doch der Lichkönig hatte so etwas nicht verlangt, er hatte sie sich einfach genommen. Und nun war sie in der leuchtenden Waffe eingeschlossen, so nah bei Arthas, dass der Prinz – der König – sie beinahe berühren konnte. Hatte Arthas das bekommen, weswegen er ausgezogen war? War sein Volk gerettet worden?

War das wichtig?

Tichondrius beobachtete ihn genau.

»Dann werde ich eben ohne Seele leben«, sagte Arthas leichthin. »Was will der Lichkönig?«

Arthas sollte, wie sich herausstellte, die Reste vom Kult der Verdammten einsammeln, um so Unterstützung für ein größeres Unternehmen zu erhalten – die Bergung von Kel’Thuzads Überresten.

Sie lagen, so hatte man ihm berichtet, in Andorhal, wo Arthas persönlich sie zurückgelassen hatte. Eine stinkende Lache von verwesendem Fleisch. Andorhal, das war die Stadt, aus der die Lieferungen des verseuchten Korns stammten. Er erinnerte sich an seine Wut, als er den Nekromanten getötet hatte. Doch nun spürte er sie nicht mehr. Ein Lächeln bildete sich auf seinen bleichen Lippen. Es war die reine Ironie.

Die Gebäude, die einst gebrannt hatten, waren jetzt nur noch verkohltes Holz. Niemand außer den Untoten sollte hier sein… und dennoch…

Arthas furchte die Stirn und zog an den Zügeln. Invincible blieb stehen, im Tod so gehorsam, wie er es im Leben gewesen war. Arthas konnte vor sich einige Gestalten ausmachen. Das wenige Licht des düsteren Tages spiegelte sich auf…

»Rüstungen«, murmelte er. Männer in Rüstungen standen am Rand des Friedhofs. Ein weiterer wartete neben einer kleinen Gruft. Arthas blinzelte und dann weiteten sich seine Augen. Es waren keine normalen Krieger. Das waren Paladine. Und er wusste, warum sie hier waren. Kel’Thuzad schien das Interesse vieler zu erregen.

Aber er hatte den Orden doch aufgelöst. Es sollte keine weiteren Paladine mehr geben, die sich hier sammeln konnten. Frostgram wisperte in ihm, es war hungrig. Arthas zog die mächtige Runenklinge und hob sie an. Die kleine Armee von Akolythen, die ihn begleitete, sollte das Schwert sehen, damit sie davon inspiriert wurde.

Er stürmte vor. Invincible preschte los und Arthas sah den Schrecken auf den Gesichtern der Friedhofswächter, als er herandonnerte. Sie würden tapfer kämpfen, doch letztlich war ihr Einsatz sinnlos und sie wussten es auch. Er konnte es in ihren Augen lesen.

Er hatte gerade Frostgram gezogen und spürte förmlich die Vorfreude des Schwertes darauf, eine weitere Seele an sich zu reißen, als eine Stimme rief: »Arthas!«

Arthas hatte diese Stimme schon zuvor gehört, aber nicht zuordnen können. Er wandte sich dem Sprecher zu. Der Mann war groß und imposant. Er hatte seinen Helm abgenommen. Der dichte Bart rief ihn Arthas in Erinnerung.

»Gavinrad«, sagte er überrascht. »Es ist lange her.«

»Nicht lange genug. Wo ist der Hammer, den wir Euch geschenkt haben?«, sagte Gavinrad und spie die Worte beinahe aus. »Die Waffe eines Paladins. Eine Waffe der Ehre.«

Arthas erinnerte sich. Gavinrad hatte ihm seinerzeit den Hammer zu Füßen gelegt. Wie sauber, wie rein, wie einfach alles damals gewirkt hatte.

»Ich habe nun eine bessere Waffe«, sagte Arthas. Er hob Frostgram an. Es schien in seiner Hand zu pulsieren. Eine Laune überkam ihn und er gab ihr nach. »Tretet beiseite, Bruder«, sagte er, eine merkwürdige Güte lag in seiner Stimme. »Ich bin hier, um einige alte Knochen einzusammeln. Zum Wohle aller und für den Orden, dem wir beide einst angehörten, wird Euch nichts geschehen, wenn Ihr mich durchlasst.«

Gavinrads buschige Augenbrauen zogen sich zusammen und er spuckte in Arthas’ Richtung. »Ich kann nicht glauben, dass wir Euch jemals Bruder genannt haben. Warum Uther sich je für Euch eingesetzt hat, ist mir ein Rätsel. Euer Verrat hat Uther das Herz gebrochen, Junge. Er hätte jederzeit sein Leben für Euch gegeben und so vergeltet Ihr ihm seine Loyalität? Ich wusste, dass es ein Fehler war, einen verwöhnten Prinzen in unseren Orden aufzunehmen. Ihr habt die Silberne Hand zum Gespött gemacht!«

Wut stieg in Arthas auf. Es geschah so schnell und sie war so stark, dass er fast daran erstickte. Wie konnte Gavinrad es wagen? Arthas war ein Todesritter, die rechte Hand des Lichkönigs. Leben, Tod und Untote – alles fiel in seinen Bereich. Und Gavinrad spuckte auf sein Angebot. Arthas biss die Zähne zusammen.

»Nein, mein Bruder«, knurrte er leise. »Erst wenn ich Euch töte, als meinen Diener wiedererwecke und Ihr schließlich nach meiner Pfeife tanzt, Gavinrad, mache ich die Silberne Hand zum Gespött.«

Er lächelte ihn höhnisch an. Die Untoten und die Kultisten, die Arthas begleiteten, warteten stumm ab. Gavinrad stürmte nicht vor, doch er sammelte sich, betete zum Licht, das ihn nicht retten würde.

Arthas ließ ihn sein Gebet beenden, wartete, bis Gavinrads Waffe leuchte, wie es Arthas’ eigener Hammer einst getan hatte. Mit Frostgram in seiner Hand und den Kräften des Lichkönigs, die durch seinen toten-und-auch-nicht-toten Körper strömten, als Reserve, war er Gavinrad haushoch überlegen.

Der Paladin kämpfte mit allem, was er hatte, doch es reichte nicht aus. Arthas spielte ein wenig mit ihm und reagierte dabei die Wut ab, die Gavinrads Worte verursacht hatte. Doch schnell war er des Spiels überdrüssig und tötete seinen einstigen Waffenbruder mit einem einzigen mächtigen Schlag. Er spürte, wie Frostgram erwachte und eine weitere Seele nahm. Arthas schauderte, als Gavinrads lebloser Körper zu Boden fiel. Entgegen seiner Drohung, die er dem nun besiegten Feind angekündigt hatte, belebte Arthas ihn nicht wieder.

Mit einer knappen Geste befahl er seinen Dienern, den Leichnam zu bergen. Er hatte Kel’Thuzad dort verrotten lassen, wo er gefallen war. Doch irgendjemand, zweifelsfrei die dem Nekromanten ergebenen Anhänger, hatten ihn mittlerweile in eine kleine Gruft gelegt.

Die Akolythen vom Kult der Verdammten stürmten nun vor, fanden die Gruft und schoben mit Mühe den Deckel beiseite. In der Gruft befand sich ein Sarg, der eilig herausgeholt wurde. Arthas stieß ihn mit dem Fuß an und lächelte.

»Komm mit, Nekromant«, sagte er spöttelnd, als der Sarg auf ein Gespann geladen wurde, das man »Fleischwagen« nannte. »Die Kräfte, denen du einst gedient hast, brauchen dich erneut.«

»Ich hatte Euch doch prophezeit, dass mein Tod nur wenig bedeutet.«

Arthas erstarrte. Er hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, Stimmen zu hören. Der Lichkönig sprach fast permanent durch Frostgram zu ihm. Doch das hier war anders. Er erkannte die Stimme. Er hatte sie zuvor schon gehört. Doch da war sie voller Arroganz und Spott gewesen und hatte nicht vertraulich und verschwörerisch geklungen.

Kel’Thuzad.

»Was zum… höre ich jetzt Geister sprechen?«

Er hörte den Nekromanten nicht nur. Er sah ihn auch. Kel’Thuzads Gestalt bildete sich langsam vor seinen Augen, durchscheinend und schwebend, die Augen wie schwarze Löcher. Doch er war es ganz eindeutig. Auf den geisterhaften Lippen bildete sich ein wissendes Lächeln.

»Ich hatte recht, was Euch anging, Prinz Arthas.«

»Du hast lange genug dafür gebraucht.« Der barsche, wütende Tonfall von Tichondrius’ Stimme schien aus dem Nichts zu kommen und der Geist – wenn er tatsächlich da gewesen war – verschwand. Arthas war erschüttert. Hatte er sich das nur eingebildet? Verlor er neben seiner Seele auch noch den Verstand?

Tichondrius hatte nichts bemerkt, öffnete den Sarg und Arthas blickte angewidert auf den beinahe verflüssigten Leichnam von Kel’Thuzad. Arthas fand, dass der Gestank erträglicher war, als er erwartet hatte, obwohl er immer noch schlimm roch. Es schien bereits ein ganzes Leben her zu sein, dass er den Nekromanten mit seinem Hammer getötet und die viel zu schnelle Verwesung des Mannes miterlebt hatte. »Die Überreste sind übel zersetzt. Sie werden die Reise nach Quel’Thalas nie überstehen.«

Arthas nahm die Ablenkung auf. »Quel’Thalas?« Das goldene Land der Elfen…

»Ja. Nur die Energien des Sonnenbrunnens der Hochelfen können Kel’Thuzad zurück ins Leben bringen.« Das Stirnrunzeln des Schreckenslords vertiefte sich. »Und mit jedem Augenblick, der verstreicht, zerfällt er weiter. Du musst eine sehr spezielle Urne stehlen, die die Paladine hüten. Sie bringen sie in diesem Moment hierher. Leg die Überreste des Nekromanten hinein und er ist gut für die Reise geschützt.«

Der Schreckenslord lächelte. Es steckte mehr dahinter, als es zuerst den Anschein hatte. Arthas öffnete den Mund und wollte widersprechen. Doch dann schloss er ihn wieder. Tichondrius würde es ihm ohnehin nicht sagen. Er zuckte die Achseln, stieg auf Invincible und ritt zu seinem neuen Ziel.

Hinter sich hörte er das düstere Lachen des Dämons.


Tichondrius hatte recht gehabt. Eine kleine Bestattungsprozession schritt langsam und zu Fuß die Straße entlang. Es war ein militärisches Begräbnis oder eins für einen hohen Würdenträger. Arthas erkannte die Symbole. Mehrere Männer in Rüstungen marschierten in einer Reihe, ein Mann in der Mitte trug etwas auf seinen kräftigen Armen. Die schwache Sonne spiegelte sich auf seiner Rüstung und auf dem, was er in Händen hielt – die Urne, von der Tichondrius gesprochen hatten. Und plötzlich verstand er, was Tichondrius daran so seltsam gefunden hatte.

Die Kleidung des Paladins war markant, seine Rüstung einzigartig und Arthas umfasste Frostgram fester mit den Händen, die unsicher geworden waren. Er unterdrückte die unzähligen verwirrenden, beunruhigenden Gefühle und befahl seinen Untergebenen, näher heranzurücken.

Die Beerdigungsgesellschaft war nicht groß, obwohl sie voller vornehmer Krieger war, und es war leicht, sie zu umgehen. Die Männer zogen ihre Waffen, griffen aber nicht an. Stattdessen blickten sie erwartungsvoll zu dem Mann, der die Urne trug. Uther – er war es ganz eindeutig – schien völlig beherrscht, als er seinen früheren Schüler betrachtete. Sein Gesicht war faltiger, als Arthas es in Erinnerung hatte. Seine Augen aber brannten vor gerechtem Zorn.

»Der Hund kehrt zu seinem Erbrochenen zurück«, sagte Uther und die Worte schmerzten wie ein Peitschenhieb. »Ich habe darum gebetet, dass Ihr nicht kommen würdet.«

Arthas zuckte leicht. Seine Stimme war rau, als er antwortete: »Ich bin wie gefälschte Münzen – ich komme immer wieder zurück. Wie ich sehe, nennt Ihr Euch immer noch Paladin, auch wenn ich Euren Orden aufgelöst habe.«

Uther lachte bitter. »Als ob Ihr ihn auflösen könntet. Ich bin dem Licht verpflichtet, Junge. So wie Ihr einst auch.«

Das Licht. Er erinnerte sich noch daran. Sein Herz bebte in seiner Brust und für einen Moment, nur für einen kurzen Moment, senkte er das Schwert. Dann kam das Flüstern und es gemahnte ihn an die Macht, über die er nun verfügte. Und unterstrich, dass sein Wandeln auf dem Pfad des Lichts ihm nicht das eingebracht hatte, was er wollte. Arthas umfasste Frostgram erneut fest.

»Einst habe ich viele Dinge getan«, gab er zurück. »Doch das tue ich nicht mehr.«

»Euer Vater hat dieses Land fünfzig Jahre lang regiert und Ihr habt es binnen weniger Tage zugrunde gerichtet. Aber Vernichten und Zerstören ist einfach, oder?«

»Sehr dramatische Worte, Uther. Doch so schön das auch ist, habe ich dennoch keine Zeit für Erinnerungen. Ich bin wegen der Urne hier. Gebt sie mir und ich werde Euch schnell sterben lassen.«

Diesmal würde es keine Gnade geben. Nicht einmal, wenn er darum bettelte. Erst recht nicht, wenn er bettelte. Zwischen ihnen war zu viel geschehen. Zu viele… Emotionen hatten sich aufgestaut.

Jetzt überkam Uther ein anderes Gefühl als Wut. Er starrte Arthas entgeistert an. »In der Urne befindet sich die Asche Eures Vaters, Arthas! Wollt Ihr noch einmal darauf urinieren, bevor Ihr sein Königreich verrotten lasst?«

Ein Schock durchfuhr Arthas.

Vater…

»Ich wusste nicht, was sich darin befindet«, murmelte er, genauso zu sich selbst wie zu Uther. Das war also der Grund, warum der Schreckenslord gelacht hatte, als er Arthas die Anweisungen erteilt hatte. Er zumindest hatte gewusst, was die Urne enthielt.

Eine Prüfung nach der anderen. Konnte Arthas seinen Mentor bekämpfen… konnte er die Asche seines Vaters schänden? Arthas reichte es allmählich. Er zügelte seinen Zorn, während er abstieg und Frostgram mit sich zog.

»Das ist auch egal. Ich nehme mir einfach das, was ich holen wollte – auf die eine oder andere Art.«

Frostgram summte jetzt beinahe, sowohl in seinem Geist als auch in seiner Hand. Es war bereit für den Kampf. Arthas begab sich in Gefechtsposition. Uther musterte ihn für einen Moment, dann hob er langsam seine eigene leuchtende Waffe.

»Ich wollte es nicht glauben«, sagte er, seine Stimme klang barsch und Arthas sah mit Schrecken, dass Uther weinte. »Als Ihr noch jünger wart, habe ich Eure Selbstsucht noch als den Fehler eines Kindes abgetan. Als Ihr weiter stur bliebt, habe ich geglaubt, es gehöre eben zur Jugend, sich aus dem Schatten des Vaters zu befreien. Und Stratholme – aye, das Licht vergebe mir –, ich betete dafür, dass Ihr Euren eigenen Weg finden und Euren Fehler einsehen würdet. Ich konnte mich nicht gegen den Sohn meines Königs stellen.«

Arthas zwang sich zu lächeln, als er und Uther sich umkreisten. »Doch jetzt tut Ihr es.«

»Das war mein letztes Versprechen an Euren Vater. An meinen alten Freund. Ich werde dafür sorgen, dass seine Überreste mit Respekt behandelt werden. Selbst nachdem sein eigener Sohn ihn brutal abgeschlachtet hat, obwohl er ahnungslos und unbewaffnet war.«

»Für dieses Versprechen werdet Ihr sterben.«

»Vielleicht.« Es schien Uther nicht sehr zu stören. »Ich sterbe lieber dabei, dieses Versprechen zu ehren, als dass ich durch Eure Gnade weiterlebe. Ich bin froh, dass er tot ist. Ich bin froh, dass er nicht miterleben muss, was aus Euch geworden ist.«

Diese Bemerkung… schmerzte. Arthas hatte das nicht erwartet. Er machte eine Pause. Gefühle rangen in ihm und Uther, der immer der bessere Kämpfer von ihnen beiden gewesen war, nutzte dieses kurze Zögern zum Angriff aus.

»Für das Licht!«, rief er, riss den Hammer hoch und schlug mit aller Kraft auf Arthas ein. Die leuchtende Waffe kam so schnell auf Arthas zu, dass er das Geräusch der Bewegung hören konnte.

Er sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite und spürte den Luftzug auf seinem Gesicht, als die Waffe daran vorbeizischte. Uthers Miene war ruhig und konzentriert… und tödlich. Er hielt es für seine Pflicht, den verräterischen Sohn zu töten und die Ausbreitung des Bösen zu stoppen.

So wie Arthas es für seine Pflicht hielt, den Mann zu töten, der ihn einst erzogen hatte. Er musste seine Vergangenheit auslöschen… seine ganze Vergangenheit. Sonst würde sie immer mit der trügerischen süßen Hoffnung des Mitgefühls und der Vergebung locken. Schreiend schlug Arthas mit Frostgram zu.

Uthers Hammer blockte den Schlag ab. Die beiden Männer kämpften angestrengt. Ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, die Muskeln ihrer Arme zitterten vor Anstrengung, bis Uther mit einem Grunzen Arthas zurückschubste.

Der jüngere Mann taumelte. Uther verstärkte den Angriff. Sein Gesicht war ruhig, doch seine Augen waren wild und entschlossen, und er kämpfte, als wäre sein Sieg unausweichlich. Diese äußerste Selbstsicherheit erschreckte Arthas. Seine eigenen Schläge waren kräftig, kamen aber fahrig. Er hatte es noch nie geschafft, Uther auch nur ein einziges Mal zu schlagen…

»Es endet hier, Junge!«, brüllte Uther, seine Stimme dröhnte. Plötzlich war der Paladin zu Arthas’ Schrecken in ein leuchtendes, helles Licht gehüllt. Nicht nur der Hammer allein, sondern der ganze Körper erstrahlte, weil Uther selbst die Waffe des Lichts war, die Arthas niederstrecken würde. »Für die Gerechtigkeit des Lichts!«

Der Hammer kam auf Arthas zu. Alle Luft in Arthas’ Körper wurde aus ihm herausgepresst, als der Schlag ihn direkt in den Bauch traf. Nur seine Rüstung rettete ihn und selbst sie verbeulte unter dem leuchtenden Hammer, der von dem heiligen, strahlenden Paladin geführt wurde.

Arthas fiel lang gestreckt zu Boden, Frostgram flog aus seinem Griff, Todesangst durchzuckte ihn, als er um Atem rang und sich aufrappelte. Das Licht, von dem er sich abgewandt hatte, hatte ihn betrogen. Und nun kam die Strafe durch Uther, den Lichtbringer, seinen größten Helden, und das Licht erfüllte seinen alten Lehrer mit der Reinheit seines Glanzes und der Vorhersehung.

Das Leuchten, das Uther umgab, wurde stärker und Arthas verzog das Gesicht vor Schmerz, als das Licht seine Augen ebenso verbrannte wie seine Seele. Es war ein Fehler gewesen, das Licht zu verleugnen, ein schrecklicher Fehler. Jetzt hatten sich dessen Gnade und Liebe in dieses strahlende, unerbittliche Wesen verwandelt. Er blickte in das weiße Licht, das aus Uthers Augen drang. Tränen traten in seinen Blick, als er den tödlichen Schlag erwartete.

Er hatte das Schwert ergriffen, ohne es bemerkt zu haben, oder war es aus eigenem Willen in seine Hand gelangt? In dem wirbelnden mentalen Chaos, das momentan herrschte, konnte Arthas es nicht einschätzen. Er wusste nur, dass sich seine Hände plötzlich um Frostgrams Griff legten und dessen Stimme in seinen Gedanken erklang.

Jedes Licht hat seinen Schatten, jeder Tag hat seine Nacht. Und selbst die hellste Kerze kann gelöscht werden.

Und das gilt auch für das strahlendste Leben.

Er schluckte, sog Atemluft in seine Lungen, und nur eine Sekunde lang sah Arthas, wie das Licht, das Uther umgab, schwächer wurde. Dann erhob Uther den Hammer erneut, bereit zum finalen Hieb.

Doch Arthas war plötzlich fort.

Wenn Uther ein riesiger und mächtiger Bär war, dann war Arthas ein Tiger, stark, gewandt und flink. Und so stark und vom Licht gesegnet der Hammer und sein Träger auch sein mochten, war er doch keine schnelle Waffe, noch war Uthers Kampfstil sonderlich gewandt. Frostgram dagegen, obwohl ein riesiges zweihändig geführtes Schwert, schien von allein kämpfen zu können.

Arthas bewegte sich erneut vorwärts, diesmal gab es kein Zögern, und er begann ernsthaft zu kämpfen. Er war gnadenlos, als er Uther Lichtbringer angriff, verschwendete keinen Atem, um den Paladin daran zu hindern, den tödlichen Schlag auszuführen. Uthers Augen weiteten sich vor Schreck, dann zogen sie sich vor Entschlossenheit zusammen. Doch das Licht, das gerade noch so hell aus ihm gestrahlt hatte, wurde mit jeder verstreichenden Sekunde schwächer.

Es schwand vor der Macht, die ihm der Lichkönig gegeben hatte.

Immer wieder traf Frostgram. Mal den leuchtenden Kopf des Hammers, dann den Stiel. Schließlich erwischte das Schwert Uthers Schulter und drang tief zwischen Hals und Schulterpanzer ein.

Uther grunzte und taumelte zurück. Blut floss aus der Wunde. Frostgram verlangte nach mehr und Arthas war bereit, es ihm zu geben.

Knurrend wie ein Tier, mit wehendem weißen Haar, verstärkte er den Angriff. Der Hammer, groß und leuchtend, fiel aus Uthers gefühllosen Fingern, als Frostgram ihm beinahe den Arm abtrennte. Ein Schlag dellte Uthers Brustpanzer ein, das Blau und Gold der Allianz, für die er einst gekämpft hatte, fiel in Stücken auf die schneebedeckte Erde. Uther, der Lichtbringer, sank auf die Knie. Er blickte auf. Sein Atem kam stoßweise. Blut tropfte aus dem Mund, lief in seinen Bart, doch in seinem Gesicht war kein Anzeichen von Kapitulation zu erkennen.

»Ich hoffe von Herzen, dass es einen besonderen Ort in der Hölle für Euch gibt, Arthas.« Uther keuchte, sein Blutdruck stieg an.

»Das werden wir niemals erfahren, Uther«, sagte Arthas kalt und hob Frostgram zu einem letzten Schlag. Das Schwert sang förmlich aus Vorfreude. »Ich beabsichtige, für immer zu leben.«

Er stieß mit dem Runenschwert durch Uthers Kehle, ließ die trotzigen Worte verstummen, durchtrennte das große Herz. Uther starb fast augenblicklich. Arthas zog die Klinge heraus, trat zurück und zitterte.

Gewiss nur wegen der nachlassenden Anspannung und der Freude.

Er kniete sich hin und hob die Urne auf. Dann hielt er sie einen Augenblick lang fest, brach langsam das Siegel, drehte den Behälter um und goss seinen Inhalt aus. Die Asche von König Terenas fiel wie grauer Regen, wie verdorbenes Mehl in den Schnee hinab.

Augenblicklich drehte der Wind. Das graue Pulver, alles, was von dem König übrig geblieben war, wurde plötzlich verweht, wirbelte herum und drohte den Todesritter zu bedecken. Erschrocken trat Arthas zurück. Er hielt automatisch die Hände vors Gesicht und ließ die Urne fallen, die mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden landete.

Er schloss die Augen und wandte sich ab, doch er war nicht schnell genug und begann zu husten. Die Asche war beißend und erstickend. Augenblicklich ergriff ihn Panik. Seine gepanzerten Hände versuchten sein Gesicht zu reinigen, versuchten das feine Pulver, das in seinen Mund, in Nase und die Augen eingedrungen war, wegzuwischen. Er spuckte und einen Augenblick lang drohte sein Magen zu revoltieren.

Arthas atmete tief ein und versuchte sich zu beruhigen. Einen Augenblick später stand er auf und war wieder ganz gefasst. Wenn er überhaupt etwas spürte, dann hatte er es so tief begraben, dass er es selbst nicht wusste. Mit versteinerter Miene ging er zu dem Wagen zurück, der die stinkenden, beinahe flüssigen Überreste von Kel’Thuzad enthielt, und übergab die Urne einem Mitglied der Geißel.

»Legt den Nekromanten hier hinein«, befahl er.

Er stieg auf Invincible.

Quel’Thalas war schon ganz nah.

18

Während der sechs Tage, die sie benötigten, um das Land der Hochelfen zu erreichen, sprach Arthas mit dem Schatten von Kel’Thuzad und scharte viele neue Untertanen um sich.

Er zog, die Fleischwagen in seinem Schlepp, von Andorhal nach Osten, an den kleinen Dörfern des Teufelssteinfelds vorbei, sowie an Dalsons Obstgarten und Gahronns Trauerfeld. Dann ging es über den Thondroril bis in die östlichen Teile Lordaerons hinein. Überall gab es wiederbelebte Seuchenopfer und ein einfacher mentaler Kontakt ließ sie wie treue Hunde folgen. Sie mussten nicht eigens versorgt werden, sie lebten von den Toten. Woran man sich erst einmal gewöhnen musste…

Von den Opfern der Seuche, den Monstrositäten, die aus vielen Leichenteilen zusammengenäht worden waren, und den Geistern der Gefallenen hatte Arthas erwartet, dass sie sich ihm anschließen würden. Dann aber kam noch ein Verbündeter zu ihm, den er nicht auf der Rechnung hatte. Einer, der ihn zuerst erschreckte, ja entsetzte, schließlich aber doch froh machte.

Seine Armee hatte den halben Weg nach Quel’Thalas zurückgelegt, als er sie zum ersten Mal erblickte. Weit in der Ferne erschien es zuerst, als würde die Erde selbst sich bewegen. Nein, das stimmte nicht. Es handelte sich um irgendeine Tierart. Waren es Rinder oder Schafe, die aus ihren Gattern entkommen waren, nachdem ihre Besitzer sich in lebende Tote verwandelt hatten? Oder waren es Bären oder Wölfe, die nach Nahrung suchten und die Leichen fraßen? Schließlich rang Arthas um Fassung und umklammerte Frostgram fester, die Augen vor Unglauben geweitet.

Sie bewegten sich nicht wie Vierbeiner. Sie krabbelten, trippelten, wuselten über die Hügel und das Gras wie…

»Spinnen«, murmelte er.

Jetzt strömten sie schwarz und gefährlich auf ihren zahllosen Beinen, die sie schnell zu Arthas bringen sollten, die Abhänge herab. Sie kamen seinetwegen. Sie…

»Das sind die neuen Krieger, die der Lichkönig seinem Favoriten schickt«, sagte Kel’Thuzads Stimme. Der Geist konnte offenbar nur von Arthas gesehen und gehört werden und er hatte in den letzten Tagen oft gesprochen. Er hatte versucht, den Samen des Zweifels in den Geist des Todesritters zu säen. Kein Zweifel an ihm selbst, sondern an Tichondrius und den anderen Dämonen. »Den Schreckenslords kann man nicht trauen«, hatte er gesagt. »Sie sind die Aufpasser des Lichkönigs. Ich werde Euch alles dazu verraten… wenn ich erst wieder auf dieser Welt wandele.«

Sie hatten genügend Zeit gehabt. Arthas fragte sich, ob Kel’Thuzad ihm die Informationen wie einen Köder präsentierte, um sicherzustellen, dass Arthas seine Aufgabe auch erfüllte.

Jetzt fragte Arthas: »Hat er mir diese Monster geschickt? Was weißt du über sie?«

»Einst waren sie Neruber«, sagte Kel’Thuzad. »Abkömmlinge einer alten und stolzen Rasse, die sich Aqir nannte. Als sie noch lebten, waren sie wild und intelligent, bestrebt, alles zu vernichten, was nicht so war wie sie.«

Arthas beobachtete die spinnenartigen Kreaturen angeekelt. »Großartig. Und nun?«

»Sie sind im Kampf gegen unseren Herrn gefallen. Er hat sie und ihren Anführer Anub’arak wiederbelebt, in Untote verwandelt und jetzt sind sie hier, um Euch zu helfen, Prinz Arthas. Damit sie seinem und Eurem Ruhme dienen.«

»Untote Spinnen«, überlegte Arthas. Sie waren groß, hässlich, tödlich. Sie zirpten und krabbelten und schlossen sich den wandelnden Leichen, Geistern und Monstrositäten an. »Unterwegs, um die Elfen von Quel’Thalas zu bekämpfen.«

Jener Lichkönig, wer immer er auch sein mochte, hatte einen Hang zum Dramatischen.

Arthas Annäherung an Quel’Thalas war natürlich bemerkt worden. Die Elfen hatten schon immer gute Kundschafter besessen. Es war sehr wahrscheinlich, dass ihnen zu dem Zeitpunkt, da Arthas die Kundschafter bemerkte, seine Ankunft längst bekannt war. Mochte es ruhig so sein. Seine versammelte Streitmacht war auf wahrlich imposante Größe angewachsen und er hatte keinen Zweifel, in dieses wundersame, ewige Land einzudringen und den Sonnenbrunnen zu erreichen – entgegen Kel’Thuzads ärgerlichen Warnungen.

Sie hatten einen Gefangenen gemacht, einen jungen Priester, der in einer Trotzreaktion irrtümlicherweise einige wichtige Informationen preisgegeben hatte. Arthas würde diese Informationen klug und gut nutzen. Außerdem gab es noch jemanden, nicht jenen Priester, der im Austausch für die Macht, die Arthas und der Lichkönig ihm versprochen hatten, sein Volk und Land willentlich verraten würde.

Es überraschte den Todesritter, wie bereitwillig dieser Elfenmagier übergelaufen war. Gleichzeitig beunruhigte es ihn. Arthas war einst von seinem Volk geliebt worden, so wie schon sein Vater vor ihm. Er hatte es genossen, sich in der warmen Zuneigung seiner Untergebenen zu sonnen. Arthas hatte sich die Zeit genommen, sich ihre Namen zu merken und die Geschichten ihrer Familien anzuhören. Er hatte gewollt, dass sie ihn liebten.

Und das hatten sie, waren ihm loyal gefolgt, so wie Hauptmann Falric.

Doch die Anführer der Elfen würden von ihrem Volk ebenfalls geliebt werden. Auch sie konnten davon ausgehen, dass es sich loyal verhielt. Dennoch hatte dieser Magier sein Volk für das bloße Versprechen von Macht verraten.

Sterbliche konnte man korrumpieren. Sterbliche konnte man beeinflussen oder kaufen.

Er blickte zu seiner Armee und lächelte. Ja… so war es besser. Er musste sich nicht um die Loyalität seiner Untertanen sorgen, denn sie konnten gar nicht anders als gehorchen.


»Es stimmt«, keuchte der Kundschafter. »Alles.«

Sylvanas Windläufer, Waldläufergeneral von Silbermond, kannte diesen Elfen gut. Kelmarins Informationen waren stets präzise und detailliert. Sie hörte zu, konnte ihm jedoch nicht glauben – weil sie es nicht glauben wollte.

Sie hatten natürlich alle die Gerüchte gehört. Dass eine Art Seuche begonnen hatte, sich über die Länder der Menschen auszubreiten. Doch die Quel’dorei hatten sich in ihrer Heimat in Sicherheit gewähnt. Sie hatten über die Jahrhunderte Angriffen von Drachen, Orcs und Trollen standgehalten und hofften deshalb, dass die Vorkommnisse in den Ländern der Menschen sie nicht betreffen würden.

Bis es dann doch geschah.

»Bist du dir sicher, dass es Arthas Menethil ist? Der Prinz?«

Kelmarin nickte und versuchte immer noch, zu Atem zu kommen. »Aye, Milady. Ich habe gehört, wie er von seinen Untertanen so genannt wurde. Ich glaube nicht, dass die Gerüchte, er habe seinen Vater ermordet und stecke hinter den Problemen in Lordaeron, übertrieben sind. Nicht, nach allem, was ich gesehen habe.«

Sylvanas hörte ihm zu. Ihre blauen Augen weiteten sich, als der Kundschafter von Dingen berichtete, die einfach zu fantastisch klangen, um wahr sein zu können: wiederauferstandene Leichen, sowohl frische als auch bereits verweste; riesige hirnlose, aus verschiedenen Körperteilen zusammengeflickte Kreaturen; merkwürdige Tiere, die fliegen konnten und aussahen, als bestünden sie aus Stein; riesige spinnenähnliche Wesen, die an die Geschichten über die verschwunden geglaubten Aqir erinnerten.

Und dann der Geruch – Kelmarin, der nicht zu Übertreibungen neigte, sprach in unsicherem Tonfall über den Gestank, der der Armee vorauseilte. Die Wälder, die erste Verteidigungslinie des Landes, fielen unter den merkwürdigen Kriegsmaschinen, die dieses monströse Heer mitgebracht hatte.

Sylvanas dachte an die roten Drachen zurück, die vor nicht allzu langer Zeit das Holz entflammt hatten. Dabei hatten die Wälder schrecklich gelitten. So wie sie nun litten…

»Milady«, schloss Kelmarin, hob den Kopf und warf ihr einen erschütterten Blick zu. »Wenn er durchbricht – dann glaube ich nicht, dass wir ausreichend Leute haben, um ihn aufzuhalten.«

Diese bittere Feststellung schürte die Wut in ihr, die sie brauchte. »Wir sind die Quel’dorei«, zischte sie und richtete sich auf. »Unser Land ist uneinnehmbar. Er wird hier nicht hereinkommen. Hab keine Furcht. Dazu müsste er zuerst einmal wissen, wie genau er die Zauber brechen muss, die Quel’Thalas schützen. Außerdem müsste er in der Lage sein, diese Handlung vornehmen zu können. Bessere und klügere Gegner als er haben über die Zeiten versucht, unser Reich einzunehmen. Doch vergeblich. Hab Vertrauen, mein Freund. In die Kraft des Sonnenbrunnens… und in die Stärke und die Entschlossenheit unseres Volkes.«

Als Kelmarin weggeführt wurde, damit er trinken, essen und sich erholen konnte, bevor er auf seinen Posten zurückkehrte, wandte sich Sylvanas ihren Waldläufern zu. »Ich möchte diesen Menschenprinz selbst sehen. Ruft die ersten Trappen zusammen. Wenn Kelmarin recht hat, sollten wir einen Präventivschlag führen.«


Sylvanas lag oben auf dem großen Tor, das ihr Land zusammen mit dem schroffen Bergring schützte. Sie trug eine vollständige, aber bequeme Lederrüstung und den Bogen hatte sie geschultert. Sie sowie Sheldaris und Vor’athil, die beiden anderen Kundschafter, die vorausgeeilt waren und darauf gewartet hatten, dass sie mit der Hauptmacht der Waldläufer nachkam, tauschten entsetzte Blicke. Wie Kelmarin ihnen prophezeit hatte, rochen sie den Gestank der verfaulenden Armee schon lange, bevor sie die Geißel selbst zu Gesicht bekamen. Doch nun war es so weit.

Prinz Arthas ritt auf einem Skelettpferd mit feurigem Blick. Das große Schwert, das er über dem Rücken trug, erkannte sie sofort als Runenklinge. Menschen in dunkler Kleidung eilten hin und her, um seine Befehle auszuführen. Das taten auch die Toten. Sylvanas spürte, wie ihr die Galle hochkam, als ihr Blick über die Schar verfaulender Leichen glitt. Im Stillen war sie dankbar, dass der Wind sich gedreht hatte und nun den Gestank entführte.

Mit Gebärden übermittelte sie ihren Plan. Ihre langen Finger bewegten sich schnell und die Kundschafter nickten. Sie verschwanden leise wie Schatten. Sylvanas wandte ihren Blick wieder Arthas zu. Er schien nichts davon bemerkt zu haben. Er sah immer noch menschlich aus, obwohl er bleich und sein Haar nun weiß statt blond war, genau so, wie man es ihr beschrieben hatte. Wie konnte er es nur aushalten, von den Toten umgeben zu sein, dem schrecklichen Gestank, den grotesken Bildern…?

Sie erschauderte und konzentrierte sich nur mühsam. Die Untoten, die ihm gehorchten, standen einfach herum und erwarteten seine Befehle. Die Menschen – Nekromanten, Sylvanas spürte eine Woge von Abscheu – waren damit beschäftigt, neue Monstrositäten zu erschaffen, statt Wachen zu postieren. Sie zogen eine Niederlage überhaupt nicht in Betracht.

Ihre Arroganz würde ihr Verderben werden.

Sie wartete und beobachtete den Feind, bis ihre Bogenschützen in Position gegangen waren. Von Kelmarin vorgewarnt, hatte sie zwei Drittel der Waldläufer zusammengerufen. Sie glaubte fest daran, dass Arthas die magischen Elfentore, die Quel’Thalas beschützten, nicht durchbrechen konnte. Es gab zu viel, was er unmöglich darüber wissen konnte. Dennoch… sie hatte sich auch das nicht vorstellen können, was sie nun mit eigenen Augen sah. Es war besser, der Bedrohung hier und jetzt entgegenzutreten und sie zu beseitigen.

Sie schaute zu Sheldaris und Vor’athil. Sie deuteten ihren Blick richtig und nickten. Beide waren bereit. Sylvanas hätte ihre Feinde am liebsten mit einem schnellen Angriff überrascht, doch die Ehre verbot es ihr. Niemand sollte später behaupten können, dass Waldläufergeneral Sylvanas Windläufer ihre Heimat hinterhältig verteidigt hatten.

»Für Quel’Thalas«, flüsterte sie und stand dann auf. »Ihr seid hier nicht willkommen!«, rief sie. Ihre Stimme war klar, melodisch und stark.

Arthas wandte sein Skelettpferd um – Sylvanas nahm sich einen Augenblick, um das arme Tier zu bedauern – und blickte sie durchdringend an. Die Nekromanten verstummten, wandten sich an ihren Herrn und warteten auf Anweisungen.

»Ich, Sylvanas Wildläufer, Waldläufergeneral von Silbermond, befehle Euch, sofort umzukehren.«

Arthas’ Lippen, grau in einem weißen Gesicht, das doch noch irgendwie lebendig wirkte, verzogen sich zu einem Lächeln. Er schien belustigt.

»Ihr solltet Euch zurückziehen, Sylvanas«, sagte er und ließ absichtlich ihren Titel weg. Seine Stimme hätte wie ein angenehmer Bariton geklungen, wäre da nicht dieser merkwürdige Unterton gewesen. Selbst ihr tapferes Herz setzte für einen Moment lang aus. Sie unterdrückte einen Schauder. »Der Tod ist in Euer Land gekommen.«

Ihre blauen Augen zogen sich zusammen. »Dann tut Euer Schlimmstes«, forderte sie ihn heraus. »Das Elfentor zum inneren Königreich wird von unseren mächtigsten Zaubern beschützt. Ihr kommt hier nicht vorbei.«

Sie legte einen Pfeil auf den Bogen auf – das Zeichen zum Angriff. Einen Augenblick später war die Luft plötzlich vom Zischen Dutzender Geschosse erfüllt. Sylvanas hatte auf den Menschen gezielt – oder besser: ehemaligen Menschen – und sie war dabei so präzise wie immer. Der Pfeil sang, als er auf Arthas ungeschützten Kopf zuschoss. Doch einen Augenblick, bevor er sein Ziel traf, sah sie einen blauweißen Blitz.

Sylvanas erstarrte. Schneller, als sie schauen konnte, hatte Arthas sein Schwert gezogen. Die Runen darauf erstrahlten blauweiß. Die Klinge teilte den Pfeil in zwei Hälften.

Der Prinz lächelte sie an und zwinkerte ihr zu. »Zum Angriff, meine Truppen – tötet sie alle, damit sie mir und meinem Herrn dienen können!«, brüllte er. Seine Stimme war vom merkwürdigen Dröhnen der Macht durchdrungen.

Sylvanas knurrte tief in ihrer Kehle und zielte erneut. Doch Arthas bewegte sich nun, das tote Pferd trug ihn mit unnatürlicher Schnelligkeit, und sie erkannte, dass seine schrecklichen Truppen jetzt zum Angriff übergingen.

Arthas’ Armee erinnerte Sylvanas an einen Schwarm Insekten, der sich perfekt in seiner geistlosen Eintracht auf die elfischen Waldläufer zubewegte. Die Bogenschützen hatten ihre Anweisungen – tötet zuerst die Lebenden, dann entzündet die Toten mit Brandpfeilen. Die erste Wucht an Pfeilen traf beinahe jeden Einzelnen der Kultisten. Die zweite Welle ließ Dutzende wandelnde Leichen in Flammen aufgehen. Doch obwohl die Untoten herumtaumelten, manche dabei so trocken wie Zunder, andere feucht und verfault, begann ihre schiere Menge das Blatt zu wenden.

Irgendwie schafften sie es, die beinahe senkrechten Wände aus Erde und Stein hinaufzuklettern, auf denen ihre Waldläufer postiert waren. Einige der wandelnden Toten waren glücklicherweise derart zerfallen, dass sie nicht weit kamen. Ihre verrottenden Glieder fielen von ihren Körpern und sie stürzten. Doch das hielt die untote Flut nicht auf. Sie rückte immer weiter nach oben vor, auf die Waldläufer zu, die nun mit Schwertern statt Pfeilen kämpfen mussten. Die Elfen waren auch im Nahkampf geübte Krieger. Allerdings nur gegen Feinde, die durch den Verlust von Blut oder Gliedmaßen gestoppt oder zumindest beeinträchtigt werden konnten. Aber gegen diese…

Tote Hände, eher Klauen als Finger, griffen nach Sheldaris. Mit grimmigem Gesicht kämpfte die rothaarige Waldläuferin verbissen dagegen an. An ihren Lippen konnte Sylvanas ihre trotzigen Schreie erkennen, hören konnte sie sie nicht. Doch die Untoten kamen immer näher und Sylvanas spürte einen tiefen Schmerz, als sie sah, wie Sheldaris unter dem Ansturm der Untoten starb.

Sylvanas legte Pfeile auf und feuerte immer wieder, fast schon schneller, als sie denken konnte. Dabei konzentrierte sie sich auf ihr Ziel. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie eine groteske geflügelte Kreatur mit grauer Haut, die so fest wie Stein wirkte. Keine drei Meter von ihr entfernt setzte sie auf. Das fledermausähnliche Gesicht quiekte vor Freude, als das geflügelte Monster sich so beiläufig, als pflücke es eine reife Frucht, Vor’athil schnappte und ihn mit sich riss. Die Klauen der Bestie gruben sich tief in die Schulter des Kundschafters ein und sein Blut spritzte auf Sylvanas.

Vor’athil kämpfte gegen den Griff der Kreatur an und zog einen Dolch heraus. Sylvanas wandte sich von ihrem vorherigen Ziel, einem Untoten unter ihr, ab und feuerte auf das Monster über ihr. Sie schoss genau in den Hals des Tieres.

Der Pfeil prallte harmlos davon ab. Die Kreatur warf ihren Kopf herum, knurrte und war des Herumspielens mit Vor’athil müde. Sie hob eine Hand und kratzte mit der Klaue über seine Kehle. Dann ließ sie ihn gedankenlos fallen und suchte nach weiteren Gegnern.

Still trauernd sah Sylvanas, wie ihr umgebrachter Freund zu Boden fiel. Sein Körper traf auf einen Haufen toter Kultisten, die ihre Waldläufer erst kurz zuvor getötet hatten.

Und dann… keuchte sie.

Die Kultisten bewegten sich.

Unzählige Pfeile ragten aus den Leichen hervor. Manchmal steckten über ein Dutzend der bunt gefiederten Geschosse in einem einzigen Körper – und dennoch bewegten sie sich.

»Nein«, flüsterte sie und fühlte sich schlecht. Ihr erschrockenes Gesicht wandte sich Arthas zu.

Der Prinz blickte sie an, zeigte sein verfluchtes Lächeln. Eine mächtige, gepanzerte Hand umfasste die Runenklinge. Die andere war zu einer lockenden Geste erhoben und sie sah, wie sich ein weiterer getöteter Mensch bewegte und auf die Beine kam. Er zog sich den Pfeil aus dem Auge, als wäre es eine Klette an der Kleidung.

Sylvanas Angriff hatte Arthas nichts gekostet. Jeder getötete Elf war durch schwarze Magie neu belebt worden. Arthas bemerkte ihr Begreifen, sah die Wut in ihren Augen und das Lächeln wurde zum Gelächter.

»Ich habe versucht, es Euch zu sagen«, rief er. Seine Stimme erhob sich über das Toben der Schlacht. »Und dennoch versorgt Ihr mich mit neuen Rekruten…«

Er machte erneut eine Geste und ein weiterer Leichnam zuckte, als er angehoben und gezwungen wurde, auf seinen eigenen Füßen zu stehen. Er war schlank, aber muskulös, mit langem schwarzem Haar, das zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden war, mit gebräunter Haut und spitzen Ohren. Das Blut strömte immer noch aus den vier Wunden an seinem Hals und der Kopf schaukelte, als wäre der Hals derart stark verletzt, dass er ihn nicht länger tragen konnte. Tote Augen, die einst so blau wie der Sommerhimmel gewesen waren, suchten Sylvanas. Und dann, zuerst nur langsam, begann er, sich auf sie zuzubewegen.

Vor’athil.

In diesem Augenblick spürte Sylvanas, wie das Tor unter ihr leicht erzitterte. Sie hatte sich vom Töten und Wiederbeleben derart ablenken lassen, dass ihr nicht aufgefallen war, wie Arthas’ Belagerungsmaschinen in Position gegangen waren. Die Monster, groß wie ein Oger, die aus verschiedenen Leichenteilen zusammengesetzt zu sein schienen, schlugen ebenfalls gegen das Tor. Und auch die riesigen spinnenartigen Kreaturen griffen es an.

Dann traf etwas mit einem leisen, ploppenden Geräusch die Mauer. Feuchtigkeit spritzte auf Sylvanas. Für den Bruchteil einer Sekunde weigerte sich ihr Geist zu akzeptieren, was sie gerade gesehen hatte, dann aber brach die Erkenntnis über sie herein.

Arthas erweckte die Leichen der gefallenen Elfen nicht nur. Er schleuderte ihre Körper – oder Teile davon – auch auf Sylvanas zurück.

Sylvanas schluckte schwer, dann gab sie einen Befehl, von dem sie noch vor wenigen Augenblicken niemals geglaubt hätte, ihn jemals geben zu müssen.

»Shindu fallah na! Lasst euch zum zweiten Tor zurückfallen! Zurückfallen lassen!«

Wer noch übrig geblieben war – es waren erbärmlich wenige, die zumindest noch lebten und unter ihrem Kommando kämpften –, gehorchte sofort. Die Elfen sammelten die Verwundeten ein und warfen sie sich über die Schultern. Ihre Gesichter waren bleich und schweißüberströmt und von dem Schreck ebenso gezeichnet wie auch Sylvanas selbst. Sie flohen. Es gab kein anderes Wort dafür. Es geschah nicht geordnet oder geplant. War kein taktischer Rückzug, sondern eine wilde Flucht. Sylvanas rannte mit dem Rest von ihnen davon und barg die Verwundeten, so gut es ging.

Hinter sich hörte sie den einst unvorstellbaren Klang der aufbrechenden Tore und das Gebrüll der Untoten, als sie ihren Sieg hinausschrien. Ihr eigenes Herz schien vor Schmerz zu zerspringen.

Er hatte es getan – aber wie? Wie?

Seine Stimme, stark, wohlklingend, mit diesem unterschwelligen dunklen und schrecklichen Tonfall, erhob sich über den Lärm. »Das Elfentor ist gefallen! Vorwärts, meine Krieger! Vorwärts zum Sieg!«

Irgendwie war für Sylvanas das Schrecklichste und Schlimmste an dem schadenfrohen Gejohle die… Warmherzigkeit… die da durchklang.

Sie riss einen jungen Mann an der Schulter herum, der neben ihr rannte. »Tel’kor«, rief Sylvanas. »Lauf zum Sonnenbrunnenplateau. Berichte, was hier geschehen ist. Sag ihnen – dass sie sich vorbereiten sollen.«

Tel’kor war jung genug, um bei dem Gedanken daran, nicht zu kämpfen, Enttäuschung zu zeigen. Doch er nickte einsichtig mit seinem blonden Kopf. Sylvanas zögerte.

»Milady?«

»Sagt ihnen – dass wir vielleicht verraten wurden.«

Tel’kor blickte sie an, nickte aber erneut. Flink wie ein Pfeil eilte er davon. Er war ein guter Bogenschütze, doch Sylvanas gab sich nicht der Illusion hin, dass einer mehr oder weniger einen Unterschied in der anstehenden Schlacht ausmachen würde. Doch wenn die Magier, die die Energien des Sonnenbrunnens kontrollierten und steuerten, wussten, wem sie gegenüberstanden, könnte es sehr wohl etwas ausmachen.

Die Elfen rannten jetzt nach Norden, und als ihre Truppen eine Brücke überquerten, blieb Sylvanas urplötzlich stehen, wirbelte herum und blickte zurück.

Sie keuchte. Auf Arthas und seine dunkle Armee war sie vorbereitet gewesen. Dieser Anblick allein wäre schon schlimm genug gewesen. Die Untoten, die Monstrositäten, die fliegenden fledermausähnlichen Dinger, die grotesken Spinnenwesen. Hunderte näherten sich mit unerbittlicher Entschlossenheit.

Doch damit, was dahinter kam, hatte sie nicht gerechnet.

Wie die Schleimspur einer Schnecke, wie eine Furche, die ein Pflug hinterließ, wurde das Land überall dort, wohin die Untoten ihren Fuß gesetzt hatten, schwarz und unfruchtbar. Schlimmer noch: Sylvanas erinnerte sich an den brennenden Wald, den die Orcs hinterlassen hatten, und wusste, dass die Natur sich schließlich erholen würde. Aber dies hier war eine schreckliche schwarze Linie des Todes. Als wenn die unnatürlichen Energien, die Arthas nutzte, um die Untoten voranzutreiben, die Erde selbst töten würden, auf der sie wandelten. Sie waren wie Gift, es war schwarze Magie der schlimmsten Art.

Diese Untoten mussten aufgehalten werden.

Sie war nur einen Augenblick stehen geblieben, obwohl es ihr vorkam, als würde sie schon ein ganzes Leben lang hier stehen.

»Stehen bleiben!«, rief sie, ihre Stimme klar, stark und entschlossen. »Wir werden hier gegen sie antreten.«

Die Elfen waren nur kurz verwirrt, dann verstanden sie es. Schnell erteilte Sylvanas Anweisungen und ihre Leute gehorchten. Viele von ihnen warteten. Sie waren schockiert, als sie den ersten Blick auf die schmerzliche Wunde warfen, die Sylvanas derart erschreckt hatte. Doch sie erholten sich schnell von dem Schock. Später war noch genügend Zeit, sich Gedanken um die Heilung der geschändeten Erde zu machen. Jetzt mussten sie die fürchterliche Narbe an der Ausbreitung hindern.

Der Gestank eilte der Armee voraus, doch Sylvanas und ihre Waldläufer hatten sich inzwischen auf schreckliche Weise daran gewöhnt. Er störte sie nicht mehr so, wie er es ursprünglich getan hatte.

Sie stand auf der Brücke, den Kopf hoch erhoben. Die schwarze Kapuze war ein wenig zurückgeschoben und zeigte ihr helles blondes Haar. Die Armee der Toten wurde langsamer und kam völlig zum Stillstand, verwirrt Von dem Anblick. Die hässlichen Wagen und Katapulte blieben rumpelnd stehen. Arthas’ Skelettpferd wieherte und er streichelte den knochigen Hals, als wäre es ein lebendiges Tier. Sylvanas spürte Übelkeit ob der Widernatürlichkeit, als das Ding auf die Berührung seines Herrn reagierte.

»Meine Güte«, sagte Arthas belustigt und seine Worte strahlten sogar so etwas wie Wärme aus. »Das können doch nicht die ach so imposanten Elfentore sein, über die ich so viel gehört habe.«

Sylvanas zwang sich zurückzulächeln. »Wer weiß. Zumindest werdet Ihr feststellen, dass sie eine tatsächliche Herausforderung sind.«

»Es ist nur eine einfache Brücke, Milady. Doch die Elfen sind ja schon immer versessen darauf gewesen, ihre Katzen mit Papiermähnen zu verkleiden und Löwen zu nennen.«

Sie beobachtete die Armee einen Moment lang. Ihre Wut durchdrang ihren Schild aus erzwungener Selbstsicherheit. »Ihr seid durch dieses eine Tor gekommen, Schlächter. Doch Ihr werdet nicht durch das zweite gelangen. Die inneren Tore nach Silbermond können nur mit einem speziellen Schlüssel geöffnet werden und der wird Euch niemals gehören!«

Sie nickte ihren Begleitern zu, als sie über die Brücke rannte, um zu ihren Kameraden auf der anderen Seite zu gelangen.

Arthas’ Humor schwand und sein bleiches Gesicht lief vor Wut rot an. Seine gepanzerte Hand umfasste sein Schwert fester. Die Runen darauf glühten. »Ihr verschwendet Eure Zeit, Weib. Ihr könnt dem Unausweichlichen nicht entkommen. Obwohl ich zugeben muss, dass es amüsant ist, Euch beim Weglaufen zuzusehen.«

Jetzt lachte Sylvanas. Es war ein wütender, zufriedener Ton, der tief aus ihrer Seele kam. »Ihr denkt, ich laufe vor Euch weg? Offensichtlich habt Ihr noch nie gegen Elfen gekämpft.«

Einige Dinge, überlegte sie, waren wunderbar simpel. Sylvanas hob die Hand und warf den extrem unmagischen, aber überaus praktischen Brandsatz. Dann wandte sie sich um, während die Brücke explodierte. Die Bäume nahmen sie auf, umgaben sie mit ihrem leuchtenden Gold und Silber und verbargen sie vor den Augen des Feindes. Bevor sie außer Hörweite kam, hörte sie etwas, was sie wild Lächeln ließ.

»Diese Waldläuferfrau macht mich langsam richtig böse!«

Und sie wird dich weiter ärgern. Ärgern wird sie dich wie der Spatz den Falken. Der Elrendar teilt den Immersangwald und du wirst so schnell keine Überquerungsmöglichkeit für deine monströsen Kriegsmaschinen finden.

Sie wusste, dass dies alles nur hinauszögerte, ihnen eine zusätzliche Frist verschaffte, mehr nicht. Doch wenn die Armee lange genug aufgehalten werden konnte, konnten sie vielleicht einen Boten durch ihre Reihen schleusen.

Sorge durchdrang ihren Geist. Arthas hatte extrem zuversichtlich gewirkt, die Magie der Elfentore überwinden zu können. Er hatte bereits einiges Wissen besessen, als er das erste Elfentor zerstört hatte. Natürlich war das erste magisch auch nicht so gut geschützt wie das zweite. Und so, wie sie ihn einschätzte, schien er im Allgemeinen sehr arrogant zu sein.

Und dennoch – war es möglich, dass er durchbrach? Die nagende Unsicherheit, die sie dazu getrieben hatte, Tel’kors Nachricht an die Magier eine abschließende Warnung zuzufügen, begann wieder in ihr zu rumoren.

Kannte Arthas den Schlüssel?

19

Der Verräter, ein Zauberer namens Dar’Khan Drathir, hätte die Dinge vereinfachen sollen. Und bis zu einem gewissen Grad hatte er das auch. Ansonsten hätte Arthas niemals von dem Schlüssel der drei Monde erfahren, einem magischen Gegenstand, der in drei einzelne Mondkristalle zerteilt worden war. Sie ruhten in schwer bewachten Verstecken, die über Quel’Thalas verstreut lagen.

Jeder Tempel war auf dem Schnittpunkt von Leylinien errichtet, ähnlich wie der Sonnenbrunnen selbst. Das hatte der bestechliche Elf, der so bereitwillig sein Volk verraten hatte, Arthas berichtet. Die Leylinien waren wie die Blutadern der Erde. Nur transportierten sie statt des roten Saftes Magie. Derart verbunden, erschufen die Kristalle ein Energiefeld, das als Ban’dinoriel – Torwächter bekannt war.

Arthas musste nur diese Orte finden, An’telas, An’daroth und An’owyn, die Wachen töten und die Mondkristalle in seinen Besitz bringen.

Doch die bei aller Anmut überraschend kampferprobten Elfen stellten eine Herausforderung dar.

Arthas saß auf Invincible, fingerte untätig an Frostgram und überlegte, wie es möglich war, dass eine derart zerbrechlich wirkende Rasse sich seiner Armee entgegenstellen konnte. Denn jetzt war es wirklich eine Armee – viele Hundert Soldaten, allesamt bereits tot und deshalb viel schwerer zu besiegen.

Der schlaue Trick des Waldläufergenerals, die Brücke in die Luft zu sprengen, hatte Arthas tatsächlich wertvolle Zeit gekostet. Der Fluss verlief quer durch Quel’Thalas, bis er an den Fuß mehrerer Hügel im Osten stieß. Allesamt Vorberge, die das Vorankommen der Kriegsmaschinen ebenso behinderten wie das Wasser.

Es hatte eine Weile gedauert, aber schließlich hatte er den Fluss doch überquert. Während er über einer Lösung brütete, hatte irgendetwas in seinem Hinterkopf gezwickt, ein Kribbeln, das er nicht zuordnen konnte.

Verärgert hatte er das seltsame Gefühl verdrängt und einigen seiner loyalen Soldaten befohlen, eine Brücke zu bauen. Eine Brücke, die aus verfaulendem Fleisch bestand.

Dutzende Untote wateten in den Fluss und legten sich dort einfach hin. So bildeten sie Schicht auf Schicht, bis es genug waren, damit die Fleischwagen und Katapulte über sie hinwegfahren konnten.

Einige der Untoten waren danach nicht mehr zu gebrauchen. Die Knochen in ihren Körpern waren zermalmt, ihre Gliedmaßen zerfetzt, hatten jeden Zusammenhalt verloren. Diese Toten entließ Arthas fast schon sanft aus der Kontrolle und gewährte ihnen den endgültigen Tod. Der letzte Nutzen, den sie für ihn hatten, bestand darin, dass ihr verwesendes Fleisch das Flusswasser verseuchen würde – eine zusätzliche Waffe.

Er selbst setzte natürlich mühelos über. Invincible sprang ohne zu zögern ins Wasser und Arthas erinnerte sich unwillkürlich an den fatalen Sprung mitten im Winter, als Invincible, über vereisten Fels rutschend, gehorsam dem Willen seines Herrn gefolgt war.

Die Erinnerung kam unerwartet und einen Moment lang konnte er vor Schmerz nicht mehr atmen. Tiefe Schuld überkam ihn.

Es war so schnell vorbei, wie es gekommen war. Alles war jetzt besser. Er war nicht mehr länger ein emotional gestörtes Kind, von Schuld und Scham durchdrungen, das im Schnee weinte, als es das Schwert hob, um es durch das Herz seines treuen Freundes zu stoßen. Nein, auch Invincible war kein lebendiges Tier mehr, das von so etwas verletzt werden konnte. Sie beide waren jetzt mächtiger. Stärker. Invincible würde für immer existieren, seinem Herrn dienen, wie er es immer getan hatte. Er würde keinen Durst kennen, keinen Schmerz, Hunger oder Erschöpfung. Und er, Arthas, würde sich das nehmen, was er wollte, und zwar wann immer er es wollte. Es gab keine stumme Missbilligung seines Vaters mehr, keine Schelte des viel zu frommen Uther. Keine merkwürdigen Blicke mehr von Jaina, ihre Stirn gefurcht in diesem tödlichen Ausdruck von…

Jaina…

Arthas schüttelte den Kopf. Jaina hatte ihre Chance gehabt, sich ihm anzuschließen. Sie hatte sie zurückgewiesen. Ihn abgelehnt, obwohl sie geschworen hatte, dass sie das niemals tun würde. Er schuldete ihr nichts. Nur der Lichkönig befehligte ihn nun.

Der plötzliche Gedankensprung beruhigte ihn. Und Arthas lächelte und tätschelte den hervorstehenden Rückenwirbel des untoten Tieres. Wie zur Antwort warf es seinen knochigen Schädel hoch. Natürlich hatte die schöne und willensstarke Waldläuferin ihn beunruhigt und dazu gebracht, seinen selbst gewählten Pfad zu hinterfragen. Auch sie hatte ihre Chance vergeben. Arthas war aus einem Grund hier und der lautete, Quel’Thalas und seine Bevölkerung auszulöschen. Hätte sie sich ihm nicht entgegengestellt, hätte er davon abgesehen. Ihre scharfe Zunge und ihr aufsässiges Gehabe hatten den Untergang ihres Volkes besiegelt, nicht er.

Das Wasser drang durch die Verbindungsstücke in die Rüstung hinein und sein Hemd und die Schutzkleidung, die er darunter trug, wurden nass und kalt. Doch Arthas spürte es nicht. Einen Augenblick später trabte Invincible weiter und kletterte am gegenüberliegenden Ufer aus dem Fluss heraus. Der letzte der Fleischwagen rumpelte ebenfalls ans Ufer und die noch kampffähigen Leichen arbeiteten sich an Land. Der Rest blieb liegen, wo er gefallen war, das einst kristallklare Wasser floss über sie und um sie herum.

»Vorwärts«, sagte der Todesritter.


Die Waldläufer hatten sich nach Morgenluft zurückgezogen. Nachdem der Schock vorbei war, taten die Bürger alles, was in ihrer Macht stand, um zu helfen. Das reichte vom Versorgen der Verwundeten bis hin zur Ausstattung mit Waffen und was sie sonst noch tun konnten. Sylvanas befahl denen, die nicht kämpfen konnten, sich so schnell wie möglich nach Silbermond zu retten.

»Nimm nichts mit«, sagte sie einer Frau, die nickte und dennoch eine Treppe ersteigen wollte.

»Aber unsere Räume oben haben…«

Sylvanas wirbelte herum, ihre Augen glühten. »Hast du nicht verstanden? Die Toten kommen! Sie werden nicht müde, sie werden nicht langsamer, sie nehmen unsere Gefallenen und verleiben sie ihrer Armee ein. Nimm deine Familie und geh!«

Die Frau schien vor der Antwort des Waldläufergenerals zurückzuweichen. Doch sie gehorchte und verlor nur ein paar Minuten, um ihre Familie zusammenzurufen, bevor sie die Straße hinunter in Richtung der Hauptstadt lief.

Arthas konnte nicht lange aufgehalten werden. Sylvanas warf einen abschätzenden Blick über die Verwundeten. Keiner von ihnen durfte hierbleiben. Auch sie mussten nach Silbermond evakuiert werden. Von den Gesunden, so wenige es auch sein mochten, musste sie noch mehr verlangen. Vielleicht alles, was sie geben konnten. Sie alle hatten, wie Sylvanas selbst auch, geschworen, ihr Volk zu verteidigen.

Heute war der Tag der Abrechnung.

Ein Turm lag in der Nähe, zwischen Elrendar und Silbermond. Irgendwie war sie sich sicher, dass Arthas daran vorbeikommen musste, auf seinem Weg, das Land mit der violettschwarzen Narbe zu verderben. Der Turm wäre ein guter Ort, um eine Verteidigungslinie zu errichten. Die Aufgänge waren schmal und verhinderten den Ansturm der Untoten, der zuvor so katastrophal verlaufen war. Und es gab mehrere Ebenen, die zu dem Gebäude führten, alle offen. Sie und ihre Bogenschützen konnten großen Schaden anrichten, bevor sie…

Sylvanas Windläufer, Waldläufergeneral von Silbermond, atmete tief ein, spritzte Wasser auf ihr erhitztes Gesicht und trank einen tiefen Schluck der erfrischenden Flüssigkeit. Dann erhob sie sich, um die Unverletzten und kampffähigen Verwundeten auf das Gefecht vorzubereiten, das ohne Zweifel ihre letzte Schlacht sein würde.


Sie kamen beinahe schon zu spät.

Während die Waldläufer auf den Turm zumarschierten, der ihre Bastion bilden sollte, stank die Luft, die einst so rein und frisch gewesen war, nach der kranken Fäulnis. Über ihnen flogen Bogenschützen auf Drachenfalken. Die großen Tiere, golden und rot, zerrten mit ihren schlangenartigen Hälsen bekümmert an den Zügeln. Auch sie rochen den Tod und es störte sie. Niemals waren die schönen Tiere in so einem entsetzlichen Gefecht eingesetzt worden. Einer der Reiter gab Sylvanas ein Zeichen und sie signalisierte zurück.

»Die Untoten wurden gesichtet«, informierte sie die Truppen ruhig. Sie nickte. »Auf die Positionen. Beeilung.«

Wie eine gut geölte Gnomenmaschine gehorchten die Elfen. Die Drachenfalkenreiter flogen gen Süden, auf die anrückende Armee zu. Ein Trupp Bogenschützen und ein paar Nahkämpfer eilten ebenfalls voraus, sie bildeten die erste Verteidigungslinie. Ihre besten Bogenschützen liefen die Wendeltreppe des Turms hinauf. Der Rest verteilte sich am Fuß des Gebäudes.

Sie mussten nicht lange warten.

Sylvanas’ schwache Hoffnung, dass durch die Verzögerung die Zahl der Feinde irgendwie geringer geworden war, zersprang wie feines Kristallglas, das zu Boden fiel. Sie konnte die schreckliche Vorhut jetzt sehen: verfaulende Untote, gefolgt von Skeletten und großen Monstrositäten, deren drei Arme jeweils eine schwere Waffe trugen. Über ihnen kreuzten die steinähnlichen Kreaturen wie Bussarde.

Sie brechen durch…

Wie seltsam die Gedankenwelt doch war, überlegte Sylvanas mit einer Spur von Zynismus. Jetzt, da die Stunde ihres Todes zweifelsfrei nahte, fiel in ein altes Lied ein. Eins, das sie und ihre Geschwister geliebt hatten, als die Welt in Ordnung und sie alle noch zusammen gewesen waren. Alleria, Vereesa und ihr jüngster Bruder Lirath hatten in der Dämmerung gesessen, wenn die sanften lavendelfarbenen Schatten ihren warmen Mantel ausbreiteten und der süße Duft des Ozeans und der Blumen über das Land zog.

Anar’alah, anar’alah, qual’dorei, shindu fallah na… Beim Licht, beim Licht der Sonne, Ihr Hochelfen, brechen die Feinde durch…

Ohne es bewusst wahrzunehmen, berührte sie mit der Hand die Kette, die sie um ihren schlanken Hals trug. Sie war ein Geschenk ihrer ältesten Schwester Alleria. Doch nicht Alleria selbst hatte sie ihr überbracht, sondern einer ihrer Offiziere, Verana. Alleria war fort, durch das Dunkle Portal verschwunden, beim Versuch, die Horde davon abzuhalten, Azeroth und andere Welten erneut zu plündern.

Sie war niemals zurückgekommen. Alleria hatte eine Kette umschmelzen lassen, die sie von ihren Eltern geerbt hatte, und aus den drei Steinen neue Anhänger gefertigt, einen für jede Windläuferschwester. Sylvanas bekam den Saphir. Sie kannte die Inschrift auswendig: Für Sylvanas. In ewiger Liebe, Alleria.

Sie wartete, umfasste die Kette und spürte die Verbindung mit ihrer toten Schwester, die das Schmuckstück immer auslöste. Dann ließ sie langsam los. Sylvanas atmete tief ein und rief: »Zum Angriff! Für Quel’Thalas!«

Sie würden die Untoten nicht aufhalten können. In Wahrheit hatte sie das auch gar nicht erwartet. Am Ausdruck auf den grimmigen, blutigen Gesichtern um sie herum erkannte Sylvanas, dass ihre Waldläufer das genauso gut wussten wie sie selbst. Schweiß lief über ihr Gesicht. Ihre Muskeln schmerzten vor Erschöpfung und immer noch kämpfte Sylvanas Windläufer. Sie feuerte, legte einen Pfeil nach und feuerte erneut. Das alles geschah so schnell, dass ihre Hände fast vor ihren Augen verschwammen. Als die Untoten und Monster zu nah herankamen, warf sie den Bogen weg und zog Kurzschwert und Dolch. Sie wirbelte herum, stach zu und schrie, während sie kämpfte.

Wieder starb ein Gegner, sein Kopf fiel von den Schultern und wurde zertrampelt. Er platzte wie eine Melone unter den Sohlen eines seiner Kameraden. Zwei weitere Monstrositäten stürmten vor und nahmen seinen Platz ein.

Immer noch kämpfte Sylvanas wie ein wilder Luchs in den Immersangwäldern. Sie wandelte ihren Schmerz und ihre Entrüstung in Kampfesgeist um. Sie würde so viele Feinde mitnehmen, wie sie konnte, bevor sie fiel.

Sie brechen durch…

Sie kamen immer näher, der Gestank der Verwesung überwältigte sie fast. Es waren jetzt zu viele. Sylvanas wurde nicht langsamer. Sie würde kämpfen, bis sie völlig vernichtet war, bis…

Der Ansturm der Toten wurde plötzlich schwächer. Sie traten zurück und blieben stehen. Um Atem ringend blickte Sylvanas den Hügel hinunter.

Arthas war dort und wartete auf seinem untoten Pferd. Der Wind spielte mit seinem langen weißen Haar, als er sie durchdringend anstarrte. Sie richtete sich auf und wischte sich Blut und Schweiß aus dem Gesicht. Einst war er ein Paladin gewesen. Ihre Schwester hatte einen wie ihn geliebt.

Plötzlich war Sylvanas froh, dass Alleria tot war und dies hier nicht miterleben musste. Nicht erleben musste, was ein ehemaliger Kämpfer des Lichts all denen antat, die die Windläufer liebten und schätzten.

Arthas hob das leuchtende Runenschwert zu einer förmlichen Geste. »Ich schätze Euren Mut, Elfe, doch die Jagd ist vorbei.« Seltsamerweise klang das wie ein Kompliment.

Sylvanas schluckte, ihr Mund war knochentrocken. Sie umfasste ihre Waffe fester. »Dann sollten wir es hier beenden, Schlächter. Anar’alah belore.«

Seine grauen Lippen verzogen sich. »Wie Ihr wünscht, Waldläufergeneral.«

Er stieg nicht ab. Stattdessen wieherte das Skelettpferd und galoppierte direkt auf sie zu. Arthas umfasste die Zügel mit der linken Hand, die rechte holte mit der riesigen Waffe aus. Sylvanas schluchzte auf. Kein Angstschrei oder Bedauern kam über ihre Lippen. Nur ein kurzes, barsches Schluchzen vor Wut und Hass, erfüllt von gerechtem Zorn. Sie war wütend, dass sie ihn nicht aufhalten konnte, nicht einmal, nachdem sie alles gegeben hatte, nicht einmal ihr eigenes Blut hatte gereicht.

Alleria, Schwester, ich komme.

Die tödliche Klinge stieß auf sie zu und Sylvanas wehrte sich mit ihren eigenen Waffen, die jedoch beim Aufprall zerbrachen.

Und dann hatte die Runenklinge sie durchbohrt. Kalt, es war so kalt und das Schwert glitt durch sie hindurch, als bestünde sie aus reinem Eis.

Arthas beugte sich zu ihr vor, sein Blick war auf ihre Augen geheftet. Sylvanas hustete und feine Bluttropfen sprühten über sein bleiches Gesicht. War es nur ihre Einbildung oder gab es da eine Spur von Bedauern auf seinen immer noch feinen Gesichtszügen?

Er zog seine Waffe zurück und sie stürzte, Blut strömte aus ihr heraus. Sylvanas erschauderte auf dem kalten Steinboden. Diese Bewegung verursachte einen Schmerz, der sie förmlich zerriss. Sie presste ihre Hand auf die klaffende Wunde auf dem Bauch, was sehr dumm war, denn Hände konnten das Blut nicht aufhalten.

»Bringt es zu Ende«, flüsterte sie. »Ich verdiene… einen sauberen Tod.«

Seine Stimme kam von irgendwoher zu ihr, als sie die Augen schloss. »Nach allem, was Ihr mir angetan habt, Weib, ist ein friedlicher Tod das Letzte, was ich Euch gewähren werde.«

Einen Herzschlag lang durchfuhr sie die reine Angst, dann schwand sie wieder, so wie alles andere auch dahinschwand. Würde Arthas sie als eine seiner grotesken, taumelnden Kreaturen wiederbeleben?

»Nein«, murmelte sie und ihre Stimme klang, als käme sie von sehr weit weg. »Ihr würdet nicht… wagen…«

Und dann war es weg. Alles war weg. Die Kälte, der Gestank, der ziehende Schmerz. Es war weich und warm, dunkel, ruhig und tröstend. Doch Sylvanas verbot sich, in die willkommene Finsternis zu sinken.

Aber vielleicht konnte sie sich ja ausruhen, konnte die Arme senken, die sie so lange im Dienst für ihr Volk benutzt hatte. Und dann…

Schmerz durchfuhr sie, ein Schmerz, wie sie ihn nie zuvor erlebt hatte, und Sylvanas wusste plötzlich, dass kein physischer Schmerz, den sie jemals erlitten hatte, sich mit der Folter messen konnte, die sie jetzt durchlebte. Dies war ein Schmerz des Geistes, der Seele, die ihren leblosen Körper verließ und gefangen wurde.

Etwas riss sie von dem warmen Schutz der Stille weg. Die Brutalität dieser Tat verstärkte die schwere Folter und Sylvanas spürte, wie ein Schrei in ihrer Kehle aufstieg, der sich den Weg von tief drinnen nach draußen bahnte. Ein Schrei, von dem sie irgendwie wusste, dass er nicht mehr allein physisch war und nicht nur von ihr allein stammte. Ein Schrei, der das Blut gefrieren und Herzen stocken ließ.

Die Schwärze schwand, doch die Farben kamen nicht zurück. Sie brauchte kein Rot, Blau oder Gelb, um ihren Foltermeister zu erkennen. Er war selbst in einer farbigen Welt weiß, grau und schwarz. Die Runenklinge, die ihr das Leben genommen und ihre Seele verschlungen hatte, leuchtete und Arthas’ freie Hand war zu einer lockenden Geste erhoben, als er sie aus der beruhigenden Umarmung des Todes riss.

»Eine Banshee«, sagte er. »Das habe ich aus Euch gemacht. Ihr könnt Eure Qualen herausschreien, Sylvanas, so viel erlaube ich Euch. Das ist mehr, als die anderen bekommen haben. Doch damit sollt Ihr anderen Schmerz zufügen. Von nun an, Ihr lästige Waldläuferin, sollt Ihr mir dienen.«

Bis an den Rand des Wahnsinns getrieben und entsetzt, schwebte Sylvanas über ihrem blutigen, erschlagenen Leichnam, blickte in ihre eigenen toten Augen und dann wieder zu Arthas.

»Nein«, sagte sie, ihre Stimme klang hohl und schaurig, war aber immer noch erkennbar.»Ich werde dir niemals dienen, Schlächter.«

Er machte eine Geste. Sie war kaum zu erkennen, eher ein Zucken mit dem Finger. Ihr Rücken krümmte sich vor Schmerz, ein weiterer Schrei wurde ihr entrissen und sie erkannte betrübt, dass sie völlig machtlos war. Sie war nun sein Werkzeug, so wie die verfaulenden Leichname und die bleichen, stinkenden Monstrositäten seine Werkzeuge waren.

»Eure Waldläufer dienen mir ebenfalls«, sagte er. »Sie sind jetzt in meiner Armee.« Er zögerte und es lag ein ehrliches Bedauern in seiner Stimme, als er fortfuhr: Es hätte nicht so weit kommen müssen. Euer Schicksal, ihr Schicksal und das Eures ganzen Volkes lag allein in Euren Händen. Doch ich muss nun zum Sonnenbrunnen vorrücken. Und Ihr werdet mir dabei helfen.«


Der Hass schwoll in Sylvanas feinstofflichem Körper an, als wäre er ein lebendes Wesen. Sie schwebte neben Arthas, war sein leuchtendes neues Spielzeug. Ihren Körper hatte man auf einen der Fleischwagen geworfen. Wer wusste schon, welch krankes Ende Arthas für ihn vorgesehen hatte. Als wäre sie an ihn gebunden, war sie niemals mehr als ein paar Meter von dem Todesritter entfernt.

Und sie hörte ein Flüstern.

Zuerst hatte Sylvanas sich gefragt, ob sie in diesem neuen, abscheulichen Körper verrückt wurde. Doch schnell wurde klar, dass ihr selbst die Flucht in den Wahnsinn verstellt war. Die Stimme in ihrem Geist war zuerst unverständlich und in ihrem bemitleidenswerten Zustand wollte sie sie nicht hören. Doch bald erkannte sie, wem sie gehörte.

Arthas warf ihr Seitenblicke zu, als er unerbittlich den Marsch nach Silbermond fortsetzte. Er beobachtete sie genau. Während die Armee, der sie jetzt als Gefangene angehörte, vorwärtsdrängte und das Land zerstörte, hörte sie es plötzlich ganz deutlich: Du wirst mir zu meinem Ruhme dienen, Sylvanas. Für die Toten wirst du dich plagen. Du wirst dich nach Gehorsam verzehren. Arthas ist der erste und mir der liebste der Todesritter. Er wird für immer über dich befehligen und dir wird es gefallen.

Arthas sah, wie sie erschauderte, und er lächelte.

Sie hatte geglaubt, ihn zu hassen, als sie ihn das erste Mal vor den Toren von Quel’Thalas gesehen hatte. Als das wundersame Land dahinter immer noch rein und pur gewesen war, nichts ahnend von der tödlichen Berührung. Hatte geglaubt, ihn zu hassen, als seine Schergen ihre Leute getötet und die Toten wiederbelebt hatten, die sich in menschliche Puppen verwandelten. Hatte geglaubt, ihn zu hassen, als er sie mit einem einzigen Schlag der monströsen Runenklinge tötete… Doch all das war nichts gegen den Zorn, den sie jetzt verspürte – eine Kerze verglichen mit der Sonne, ein Flüstern im Vergleich zum Schrei einer Banshee.

Niemals, erwiderte sie der Stimme in ihrem Kopf. Er bestimmt meine Handlungen, doch Arthas kann meinen Willen nicht brechen.

Die Antwort war ein hohles, kaltes Gelächter.

Sie rückten weiter vor, an Morgenluft und dem Sanktum des Ostens vorbei. Vor den Toren von Silbermond hielten sie an. Arthas’ Stimme hätte nicht so weit reichen sollen, wie sie es tat. Doch Sylvanas wusste, dass sie in jedem Winkel der Stadt gehört wurde.

»Bürger von Silbermond! Ihr hattet ausreichend Gelegenheit, euch zu ergeben. Doch ihr habt abgelehnt. Wisset, dass heute euer ganzes Volk und euer altes Erbe enden wird. Der Tod selbst ist gekommen, um das hohe Heim der Elfen zu fordern!«

Sie, Waldläufergeneral Sylvanas Windläufer, wurde vor ihrem Volk als Beispiel vorgeführt, was geschehen würde, wenn man sich nicht ergab. Doch die Elfen taten es nicht und Sylvanas liebte sie innig dafür, selbst als sie zum Dienst für ihren dunklen Herrn gezwungen wurde.

Und so fiel sie, die leuchtende, schöne Stadt der Magie, ihr Ruhm wurde zerstört und zu Geröll reduziert, als die Armee der Untoten – die Geißel, wie Arthas sie mit verquerer Zuneigung in der Stimme genannt hatte – weiter vorrückte. Wie zuvor belebte Arthas die Gefallenen, damit sie ihm dienten. Hätte Sylvanas immer noch ein Herz besessen, wäre es spätestens beim Anblick von so vielen Freunden und geliebten Elfen gebrochen, die schließlich hirnlos und gehorsam neben ihr hertrotteten. Sie marschierten weiter durch die Stadt und teilten sie mit der abscheulichen violettschwarzen Spur in zwei Hälften auf. Die ehemaligen Bürger folgten ihnen willig mit zertrümmerten Schädeln oder heraushängenden Eingeweiden, die sie hinter sich herschleiften.

Sylvanas hatte gehofft, dass der Kanal zwischen Silbermond und Quel’Danas eine unüberwindliche Barriere bilden würde, und einen Augenblick lang schien sich diese Hoffnung zu erfüllen. Arthas zügelte sein Pferd, starrte auf das blaue Wasser, das in der Sonne glitzerte, und furchte die Stirn. Einen Moment lang saß er unbeweglich auf seinem unnatürlichen Pferd, seine weißen Brauen waren zusammengezogen. »Ihr könnt den Kanal nicht mit Leichen anfüllen, Arthas«, hatte Sylvanas hämisch gesagt. »Nicht einmal die ganze Stadt würde dazu ausreichen. Hier werdet Ihr aufgehalten und Euer Fehler ist für mich wie süße Musik.«

Doch dann wandte sich das Wesen, das einst ein Mensch, ein guter Mann, gewesen war, um und lächelte sie an. Sie wurde von einem schmerzhaften Krampf erfasst und ein weiterer Schrei drang über ihre feinstofflichen Lippen, der die Seele zu zerreißen schien.

Arthas hatte eine Lösung gefunden.

Er warf Frostgram auf das Ufer und beobachtete, wie es sich fast überschlug und mit der Spitze im hellen Sand stecken blieb.

»Frostgram spricht…«

Sylvanas hörte es auch, die Stimme des Lichkönig drang aus der unheiligen Waffe, als das Wasser sich in Eis zu verwandeln begann. Eis, das seine Wagen und seine Krieger überqueren konnten.

Arthas hatte ihr das Leben genommen. Er nahm ihr das geliebte Quel’Thalas und Silbermond und er nahm Sylvanas ihren König, bevor er seine letzte Schandtat ausführte.

Sie hatten auf Quel’Danas widerstanden, hatten alles aufgeboten, was sie hatten. Als Anasterian vor Arthas erschien, hatte seine Magie die eisige Brücke des Todesritters schwer beschädigt. Doch Arthas erholte sich. Er runzelte die Stirn, seine Augen leuchteten, er zog Frostgram und schlug damit auf den Elfenkönig ein.

Obwohl sie verzweifelt hoffte, dass Anasterian Arthas besiegen würde, wusste Sylvanas, dass er es nicht tun würde. Drei Jahrtausende lasteten auf seinen Schultern, seine Haare, die fast bis zu den Füßen reichten, waren weiß vom Alter. Einst war er ein mächtiger Kämpfer gewesen und immer noch war er ein mächtiger Magier. Doch ihre neue, geisterhafte Sicht offenbarte ihr eine Schwäche an ihm, die sie zuvor nicht bemerkt hatte. Immer noch stand er da, mit seiner alten Waffe, Felo’melorn, »Flammenstoß«, in einer Hand, in der anderen einen Stab mit einem mächtigen glitzernden Kristall an der Spitze.

Arthas griff an, doch Anasterian stand plötzlich nicht mehr vor dem heranstürmenden Pferd. Irgendwie, schneller, als dass Sylvanas es erkennen konnte, kniete er auf einmal, führte Felo’melorn in einem sauberen horizontalen Schlag über die Vorderläufe des Pferdes und durchtrennte sie beide. Das Pferd kreischte und stürzte, sein Reiter mit ihm.

»Invincible!«, schrie Arthas, er erschien geschlagen, als das untote Pferd sich abrollte und auf die Hufe zu kommen versuchte, obwohl seine beiden Vorderläufe fehlten. Der Kriegsschrei erschien Sylvanas sehr merkwürdig, wenn man bedachte, dass Anasterian gerade einen Vorteil errungen hatte. Doch das Gesicht, das Arthas dem Elfenkönig zuwandte, war voll nackter Wut und voller Schmerz. Er wirkte jetzt fast menschlich, ein menschlicher Mann, der erlebte, wie etwas, was er liebte, gequält wurde. Er kam auf die Beine, schaute abgelenkt zu dem Pferd und einen Moment lang glaubte Sylvanas, dass er vielleicht, nur vielleicht…

Die alte Elfenwaffe war kein Gegner für die Runenklinge, wie Sylvanas wusste. Es konnte nicht sein. Es krachte, als die beiden Klingen aufeinandertrafen. Die zerschmetterten Teile flogen durch die Luft. Anasterian fiel, seine Seele wurde ihm entrissen und von Frostgram verschlungen, wie so viele andere davor.

Er lag lang ausgestreckt auf dem Eis, erschlafft, und Blut sammelte sich neben ihm. Das weiße Haar war wie ein Leichentuch ausgebreitet, während Arthas zu dem untoten Pferd lief und die abgetrennten Beine heilte. Er klopfte die Knochen ab, während das Pferd tänzelte und ihn anschnaubte. Und obwohl Sylvanas wusste, dass es alle verletzen würde, die sie immer noch liebte, konnte sie die Last des Schmerzes und der Angst nicht mehr ertragen. Der pure Hass auf Arthas und auf alles, was er getan hatte, brannte in ihr. Sie legte den Kopf in den Nacken, breitete die Arme aus, öffnete den Mund und stieß den Schrei aus, so schön und schrecklich zugleich, der aus ihrer feinstofflichen Seele erklang.

Sie hatte schon geschrien, als er sie gefoltert hatte. Doch das war nur ihr eigener Schmerz gewesen, ihre eigene Verzweiflung. Dies hier war so viel mehr. Folter und Qual steckten darin, doch es ging noch darüber hinaus.

Ein Hass, der so tief saß, dass er fast schon rein war.

Sie hörte andere Schmerzensschreie, die sich in ihren Ohren zu einem einzigen vereinigten, sah Elfen, die auf die Knie fielen, sich die Ohren zuhielten, die zu bluten begannen. Ihre Stimmen verstummten und ihre Zauber wurden unterbrochen. Aus Worten der Magie wurden Schreie reinen Kummers und verängstigten Schmerzes. Einige fielen zu Boden, ihre Rüstungen zerbrachen. Ihre Knochen barsten unter der Haut.

Selbst Arthas betrachtete sie abschätzend. Sie wollte aufhören, wollte sich selbst zum Schweigen bringen, den Schrei der Zerstörung dämpfen, der nur dem Mann nutzte, den sie so leidenschaftlich hasste.

Schließlich schwand ihr Schmerz und die Banshee Sylvanas verstummte wieder.

»Was für eine feine Waffe Ihr doch seid«, murmelte Arthas. »Doch vielleicht werdet Ihr ein zweischneidiges Schwert für mich. Ich werde Euch im Auge behalten.«

Die schreckliche Armee rückte weiter vor. Arthas erreichte das Plateau. Er tötete die Wächter des Sonnenbrunnens und zwang sie danach, an der Metzelei teilzunehmen. Und dann brachte er den ultimativen Schrecken über ihr Volk. Er ging zu dem herrlichen leuchtenden See, der die Quel’dorei seit Jahrtausenden versorgte. Neben ihm wartete eine Gestalt, die Sylvanas erkannte – Dar’Khan Drathir.

Er war es also gewesen, der Quel’Thalas verraten hatte. Ihm klebte, mehr noch als dies bei Arthas der Fall war, das Blut von Tausenden Elfen an den gut manikürten Händen. Wut stieg in ihr auf. Sie beobachtete das Leuchten, von dem sie wusste, dass es Arthas’ Gesichtszüge in ein goldenes Licht tauchen, sie sanfter machen und ihnen künstliche Wärme spenden würde. Dann schüttete er den Inhalt einer schön gearbeiteten Urne ins Wasser und das Leuchten änderte sich. Es begann zu pulsieren und zu wirbeln und in der Mitte des magischen Leuchtens…

… entstand ein Schatten…

Selbst nach allem, was sie an diesem dunklen Tag erlebt hatte, selbst nach allem, was aus ihr geworden war, war Sylvanas wie vom Donner gerührt, als sie erkannte, was dem besudelten Sonnenbrunnen entstieg, sich erhob und die Arme zum Himmel streckte. Ein lächelndes Skelett mit Hörnern, dessen leere Augenhöhlen loderten. Ketten wanden sich um es herum und eine violette Robe flatterte um die bleichen Knochen.

»Ich bin wiedergeboren, wie es mir verheißen war. Der Lichkönig hat mir ewiges Leben versprochen!«

War das alles deswegen geschehen? Um ein einziges Wesen wiederzubeleben? All das Töten, die Folter, der Terror… War der unaussprechlich kostbare und vitale Sonnenbrunnen korrumpiert, eine Lebensart, die seit tausenden Jahren bestand, zerstört worden… nur dafür?

Sie starrte auf den kichernden Lich und das Einzige, was ihr ein wenig Linderung verschaffte, war, mitzuerleben, wie Dar’Khan, der versucht hatte, seinen neuen Herrn ebenso zu hintergehen wie sein Volk, unter Frostgrams scharfer Klinge starb.

20

Der kalte Wind zerzauste Arthas’ Haar und umschmeichelte sein Gesicht. Er lächelte, denn es tat gut, wieder im kälteren Teil dieser Welt zu sein. Das Elfenland mit seinem ewigen Frühsommer, die Luft schwer von Blütenduft und Wachstum, weckte ungute Erinnerungen. An die Gärten von Dalaran beispielsweise, wo er so viel Zeit mit Jaina verbracht hatte. Oder an die Löwenmäulchen auf Balnirs Hof.

Er genoss den harschen Wind, der ihn reinigte, und die Kälte, die die ungeliebten Erinnerungen zurückdrängte. Sie waren zu nichts mehr nütze, wollten ihn nur schwächen – und dafür gab es keinen Platz mehr im Herzen von Arthas Menethil.

Er saß wie immer auf seinem treuen Pferd Invincible und durchlebte noch einmal den Moment in Quel’Thalas, als dieser Bastard von einem König, Anasterian, feige das unschuldige Pferd angegriffen hatte statt den Reiter. Er hatte die Beine des Tieres auf dieselbe Art abgetrennt, wie es schon einmal Invincibles Tod gewesen war.

Dieser Zwischenfall hatte Arthas in jenen schrecklichen Moment zurückversetzt, ihn bis ins Mark erschüttert und im Kampf mit Anasterian eine eisige Wut freigesetzt, die ihm letztlich zugute gekommen war.

Vor und hinter ihm marschierte seine Armee über den verschneiten Pass, unermüdlich und unbeeindruckt von der Kälte. Irgendwo in ihrer gespenstischen Mitte schwebte eine Banshee.

Arthas würde Sylvanas für den Augenblick in Ruhe lassen. Er war mehr an Kel’Thuzad interessiert, der beinahe heiter neben ihm schritt – wenn man einen Lich überhaupt mit Attributen wie Heiterkeit belegen konnte. Er war derjenige gewesen, der die Geißel zu diesem entlegenen, frostigen Ort geleitet hatte, und Arthas hatte bis jetzt keine Fragen gestellt. Doch die Reise wurde langweilig und er war neugierig. Der Prinz spürte, wie sich auf seinen Lippen ein Lächeln bildete.

»So«, witzelte er, »du bist mir also nicht mehr böse, dass ich dich damals tötete?«

»Seid kein Narr«, antwortete der untote Nekromant. »Der Lichkönig hatte mir gesagt, wie unsere Begegnung enden würde.«

Das überraschte Arthas. »Der Lichkönig wusste, dass ich dich töte?« Er runzelte die Stirn und blickte auf die Klinge, die über seinem Schoß lag. Sie war jetzt still, schlief. Kein Flüstern kam von ihr und ebenso wenig pulsierten die Runen.

»Natürlich«, antwortete Kel’Thuzad. Ein Hauch von Überheblichkeit lag in seiner dunklen Stimme.

Arthas’ Unwohlsein verstärkte sich. Niemand hatte ihn gefragt oder ihm auch nur seine Bestimmung erklärt. Doch hätte er sie auch gutgeheißen, wenn er gewusst hätte, dass er zuerst geschmiedet werden musste, um schließlich zu einer vorzüglichen Waffe zu werden? Er hatte sich Schritt für Schritt in sein Schicksal fügen müssen, denn sonst hätte er sich ihm verweigert. Dann wäre er immer noch mit Jaina und Uther zusammen und sein Vater würde…

»Wenn er so allwissend ist, wie können ihn dann die Schreckenslords derart kontrollieren?«

»Sie sind die Abgesandten der Schöpfer unseres Herrn: der feurigen Lords der Brennenden Legion.«

Arthas erschauderte bei diesen Worten. Brennende Legion. Nur zwei Worte, doch die Macht, die sie verhießen, war berauschend. Auf seinem Schoß flackerte Frostgram.

»Das ist eine riesige Armee von Dämonen, die bereits zahllose Welten vor Eurer eigenen verschlungen hat.« Kel’Thuzads Stimme war beinahe hypnotisch und Arthas schloss einen Augenblick lang die Augen. In seinem Geist erhoben sich Bilder, während der Lich sprach. Er sah einen roten Himmel über einer roten Welt. Über einen Hügel strömte eine Woge von Kreaturen. Sie bewegten sich wie Hunde, doch es waren keine natürlichen Geschöpfe – sie hatten furchterregende Mäuler voller spitzer Zähne und merkwürdige Tentakel entsprangen ihren Schultern. Steine krachten zu Boden und hinterließen Spuren grünen Feuers, die zum Leben erwachten, als der lebendig gewordene Fels auf die Feinde zumarschierte.

»Jetzt muss diese Welt für die Flamme bereit gemacht werden. Unser Herr wurde erschaffen, um den Weg für ihre Ankunft zu ebnen. Die Schreckenslords sollen seinen Erfolg sichern.«

Die Bilder in Arthas’ Kopf änderten sich. Er blickte nun auf ein mit Ornamenten verziertes Tor. Er wusste, dass es das Dunkle Portal war, obwohl er es nie mit eigenen Augen gesehen hatte. Grünes Feuer loderte darin und eine Schar von Dämonen stand um es herum.

Arthas schüttelte den Kopf und die Vision löste sich auf. »Also diente die Seuche in Lordaeron, die Zitadellen von Nordend, das Abschlachten der Elfen… nur der Vorbereitung auf die groß angelegte Invasion der Dämonen?«

»Ja. Mit der Zeit werdet Ihr herausfinden, dass unsere ganze Geschichte auf den anstehenden Konflikt hin zugeschnitten war.«

Arthas dachte darüber nach. Frostgram erwachte und er entfernte den Handschuh von seiner rechten Hand, um es zu liebkosen. Es war so bitterkalt, dass selbst er als Todesritter, der für solch eine Aufgabe geschaffen worden war, stöhnte, als er es berührte. Er hörte erneut das Flüstern und lächelte.

»Es steckt aber noch mehr dahinter, Lich, oder?«, fragte er und blickte Kel’Thuzad an. »Du hast gesagt, dass die Schreckenslords unseren Herrn eingekerkert haben. Erzähl mir etwas darüber.«

Weil er nicht mehr aus Fleisch bestand, hatte Kel’Thuzad auch keinen Gesichtsausdruck mehr, mit dem er seine Gefühle zeigen konnte. Doch Arthas konnte an der leichten Krümmung seines untoten Körpers erkennen, dass der Lich sich dabei unwohl fühlte. Dennoch antwortete er.

»In der ersten Phase des Plans sollte die Geißel geschaffen werden, um jeden Widerstand zu beseitigen, der sich der Legion eventuell entgegenstellen würde.«

Arthas nickte. »Wie die Streitkräfte von Lordaeron… und die Hochelfen.« Er spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Doch er ignorierte das Gefühl.

»Genau. In der zweiten Phase wird ein Dämonenlord beschworen, der die Invasion anführt.« Der Lich hob einen knochigen Finger und wies in die Richtung, in die sie reisten. »Ein Lager der Orcs liegt in der Nähe. Dort gibt es ein funktionierendes Dämonentor. Über dieses Tor werde ich die Anweisungen des Dämonenlords erhalten.«

Arthas saß einen Moment lang unbeweglich auf Invincible. Seine Gedanken wanderten zurück zu der Zeit, als er die Orcs gemeinsam mit Uther bei Strahnbrad bekämpft hatte. Er erinnerte sich daran, dass die Orcs den Dämonenlords Menschen geopfert hatten. Er und Uther waren darüber entsetzt gewesen. Arthas war so zornig geworden, dass Uther ihn nur mit Mühe dazu überreden konnte, nicht mit Wut im Herzen zu kämpfen. »Wenn wir unseren Gefühlen nachgeben und zulassen, dass sie sich in Blutdurst verwandeln, sind wir nicht besser als die Orcs«, hatte Uther ihn gescholten.

Doch Uther war tot, und obwohl Arthas immer noch Orcs tötete, arbeitete er jetzt auch gleichzeitig mit den Dämonen zusammen. Ein Muskel nahe seinem linken Auge zuckte.

»Worauf warten wir dann noch?«, fauchte er und trieb Invincible an.


Die Orcs kämpften tapfer, doch schließlich war ihr Mühen ebenso aussichtslos wie alle Versuche, die Geißel aufzuhalten, aussichtslos waren. Arthas galoppierte vorwärts, Invincible sprang flink über die gefallenen Orcs hinweg. Der Prinz betrachtete das Tor eine Weile. Es bestand aus drei steinernen Platten, die für ein so plumpes Volk erstaunlich anmutig gearbeitet waren. In der Nähe waren große Tierknochen aufgestellt worden, die hellrot leuchteten. Zwischen den Steinplatten wirbelte träge die grüne Energie und bildete den Durchgang in eine andere Welt. Jaina wäre fasziniert gewesen – doch zu verängstigt, um ihre Neugierde zu stillen. Das machte sie schwach.

Es… war das, was sie zu Jaina machte…

»Die Orcs wurden besiegt«, zischte Arthas. »Das Dämonentor gehört dir, Lich.«

Das Skelett erschauderte vor Genugtuung, schwebte vorwärts und hob flehentlich die Arme. Einige Stufen führten zu dem Durchgang. Arthas bemerkte, dass der Lich nicht eine von ihnen hinaufstieg. Stattdessen blieb er unten stehen, entweder aus Respekt… oder aus der deutlich pragmatischeren Absicht heraus, Verletzungen zu vermeiden. Arthas blieb zurück und beobachtete ihn eindringlich von Invincibles Rücken aus.

»Ich rufe dich an, Archimonde! Dein demütiger Diener ersucht um eine Audienz!«

Der grüne Nebel wirbelte weiter. Dann konnte Arthas einen Umriss – Gesichtszüge – erkennen, die gleichermaßen anders wirkten und dann doch wieder denen der Schreckenslords glichen.

Arthas meinte, blaugraue Haut zu erkennen, doch er war sich nicht sicher. Dennoch war der Körper des Dämons fraglos kräftig. Er verfügte über einen mächtigen Brustkorb, lange, starke Arme und einen Unterleib, der wie der einer Ziege geformt war. Archimondes Beine endeten in Hufen. Sein Schwanz zuckte und strafte die vorgebliche Gelassenheit des Dämonenlords Lügen. Er trug eine goldene, strahlende Rüstung, die mit Schädeln und Dornen verziert war. Zwei lange, dünne Tentakel hingen von seinem Kinn herab. Doch der atemberaubendste Teil seines länglichen Gesichts waren die Augen. Sie leuchteten in einem hellen Grün, das hypnotischer wirkte als der grüne Nebel, der den Dämon umgab. Obwohl Archimonde noch nicht einmal auf dieser Welt war, war Arthas von der Präsenz des Dämons beeindruckt.

»Du hast mich gerufen, unwürdiger Lich, und ich bin gekommen«, sagte der Dämon.

Seine Stimme klang wohltönend und erschütterte Arthas bis ins Mark. »Du bist Kel’Thuzad, nicht wahr?«

Kel’Thuzad verneigte sein gehörntes Haupt. Er kroch vor Archimonde, wie Arthas bemerkte. »Ja, großes Wesen. Ich habe dich gerufen. Ich bitte dich, sag mir, wie kann ich deine Reise in diese Welt beschleunigen? Ich existiere nur, um dir zu dienen.«

»Es gibt ein besonderes Buch, das du finden musst«, donnerte der Dämonenlord. Sein Blick fiel auf Arthas. Er überprüfte ihn einen Moment lang, dann wandte er sich von ihm ab. Arthas stellte fest, dass der Angerufene allmählich ärgerlich wurde. »Das einzige noch vorhandene Zauberbuch von Medivh, dem letzten Wächter. Nur seine verlorenen Beschwörungen sind mächtig genug, um mich in diese Welt zu bringen. Geh nach Dalaran in die Stadt der Sterblichen. Dort wird das Buch aufbewahrt. In der Abenddämmerung in drei Tagen wirst du mit der Beschwörung beginnen.«

Das Bild schwand. Arthas blickte auf die Stelle, wo der Dämon noch vor einem Augenblick gewesen war.

Dalaran. Der Ort der größten Konzentration von Magie auf Azeroth neben Quel’Thalas.

Dalaran. Wo Jaina Prachtmeer studiert hatte. Wo sich Jaina vielleicht immer noch aufhielt. Einen Augenblick lang blitzte der Schmerz erneut in ihm auf.

»Dalaran wird von den mächtigsten Magiern von ganz Azeroth verteidigt«, sagte er langsam zu Kel’Thuzad. »Es gibt keine Möglichkeit, um unser Kommen zu verbergen. Sie werden auf uns vorbereitet sein.«

»So wie Quel’Thalas es war?«, lachte Kel’Thuzad. Es war ein hohler Klang. »Denkt daran, wie leicht unsere Armee die Elfen vernichtet hat. So etwas kann sie auch wieder tun. Und vergesst nicht, dass ich selbst einst ein Mitglied der Kirin Tor war und Erzmagier Antonidas nahegestanden habe. Dalaran war meine Heimat, als ich noch nicht mehr als sterbliches Fleisch war. Ich kenne seine Geheimnisse, seine schützenden Zauber. Ich weiß von Schleichwegen, die niemals richtig bewacht wurden. Es ist so süß, Furcht über all diejenigen zu bringen, die dabei waren, als ich meinen Weg und meine Bestimmung verließ. Fürchtet Euch nicht, Todesritter. Wir können nicht versagen. Nichts und niemand kann die Geißel aufhalten.«

Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte Arthas eine Bewegung. Er wandte sich um und sah den schwebenden Geist, der einst Sylvanas Windläufer gewesen war. Sie war offensichtlich dem gesamten Gespräch gefolgt und hatte seine Reaktion auf die neuen Befehle mitbekommen.

»Dieses Gerede von Dalaran bewegt Euch«, sagte sie mit einem verschmitzten Lächeln.

»Seid still, Geist«, murmelte er, obwohl er sich gut daran erinnerte, wie er das erste Mal durch die Tore Dalarans gezogen war, als er Jaina begleitet hatte. Die Unschuld dieser Zeit machte es ihm fast unmöglich, sie noch richtig zu erfassen.

»Denkt Ihr vielleicht an jemanden, der Euch etwas bedeutet? Sind es angenehme Erinnerungen?«

Diese verdammte Banshee würde nicht aufhören. Er gab sich seiner Wut hin, hob eine Hand und sie wand sich vor Schmerzen, bis er die Folter beendete.

»Ihr werdet nicht mehr darüber reden«, warnte er sie. »Konzentrieren wir uns auf unsere Aufgabe.«

Sylvanas war still. Doch auf ihrem bleichen, geisterhaften Gesicht lag die reine Freude.


»Ich kann Euch helfen.« Jainas Stimme war ruhig, ruhiger, als sie selbst erwartet hätte. Sie stand mit ihrem Meister Antonidas in dem vertrauten, geliebten, wundervoll unorganisierten Studierzimmer und blickte ihn durchdringend an. »Ich habe so viel gelernt.«

Der Erzmagier blickte aus dem Fenster, seine Hände waren locker hinter dem Rücken verschränkt, als würde er nichts Wichtigeres tun, als seinen Schülern bei deren Übungen zusehen.

»Nein«, sagte er leise. »Du hast andere Aufgaben.« Er wandte sich um, blickte sie an und ihr Herz sank beim Anblick seines Gesichtsausdruckes. »Aufgaben, die ich… und Terenas… das Licht schütze seine Seele… beide versäumt haben. Weil er sich geweigert hat, dem Propheten zuzuhören. Weil er von seinem Sohn getötet wurde und sein Königreich nun in Schutt und Asche liegt und nur noch von Toten bevölkert wird.«

Selbst jetzt noch erschauderte Jaina bei der Feststellung.

Arthas…

Sie konnte es immer noch nicht glauben. Sie hatte ihn so sehr geliebt… liebte ihn immer noch. Ihre letzte Hoffnung, die sie in ihrem Herzen bewahrte, war, dass er unter irgendeinem fremden Einfluss stand, dem er sich nicht widersetzen konnte. Denn sollte er das alles aus freiem Willen getan haben, dann…

»Auch zu mir ist er gekommen und auch ich war so arrogant anzunehmen, dass ich es besser wüsste. Und so, meine Liebe, sind wir hier. Wir alle müssen mit unseren Entscheidungen leben – oder sterben.« Antonidas lächelte traurig.

Ihre Augen waren voller Tränen, die sie zu unterdrücken versuchte. »Lasst mich bleiben. Ich kann…«

»Kümmere dich um die Sicherheit deiner Untertanen, wie du es gelobt hast, Jaina Prachtmeer«, sagte Antonidas mit Ernst in Stimme und Miene. »Einer mehr oder weniger hier… macht keinen Unterschied aus. Andere brauchen dich jetzt.«

»Antonidas…« Ihre Stimme brach bei dem Wort. Sie lief auf ihn zu und legte die Arme um ihn. Sie hatte es nie zuvor gewagt, ihn zu umarmen. Er hatte sie immer viel zu sehr eingeschüchtert. Doch nun wirkte er so… alt. Alt und gebrechlich. Und, was am schlimmsten war, resigniert.

»Kind«, sagte er liebevoll, klopfte ihr auf den Rücken und lachte. »Nein, du bist nicht länger ein Kind. Du bist eine Frau und eine Anführerin. Dennoch… gehst du am besten.«

Von draußen erklang eine Stimme, stark, klar und vertraut. Jaina fühlte sich, als hätte man sie geschlagen. Sie keuchte unter der Erkenntnis und löste sich aus der Umarmung ihres Mentors.

»Zauberer der Kirin Tor! Ich bin Arthas, der oberste Todesritter des Lichkönigs! Ich verlange, dass Ihr Eure Tore öffnet und Euch der Macht der Geißel ergebt!«

Todesritter? Jaina wandte ihren schockierten Blick Antonidas zu, der sie anlächelte. »Ich hätte dir dieses Wissen gern erspart… zumindest jetzt.«

Sie taumelte. Arthas… hier…

Der Erzmagier ging zum Balkon. Eine leichte Bewegung der altersknorrigen Hände reichte und seine eigene Stimme wurde so verstärkt wie die von Arthas.

»Seid gegrüßt, Prinz Arthas«, rief Antonidas hinab. »Wie geht es Eurem edlen Vater?«

»Lord Antonidas«, antwortete Arthas.

Wo war er nur? Auch hier draußen? Würde sie ihn sehen, wenn sie neben Antonidas auf den Balkon trat?

»Es gibt keinen Grund zum Spott.«

Jaina wandte ihren Kopf ab und wischte sich die Tränen fort. Sie rang nach Worten, doch sie schienen in ihrer Kehle stecken zu bleiben.

»Wir haben uns auf Euer Kommen vorbereitet, Arthas«, fuhr Antonidas ruhig fort. »Meine Brüder und ich haben Auren erschaffen, die jeden Untoten vernichten, der sie durchqueren will.«

»Eure kleinen Magier werden mich nicht aufhalten, Antonidas. Vielleicht habt Ihr gehört, was in Quel’Thalas geschehen ist. Auch dort glaubten einige Magier, sie wären unverwundbar.«

Quel’Thalas.

Jaina spürte, wie ihr übel wurde. Sie war hier in Dalaran gewesen, als die Nachricht eingetroffen war, überbracht von einer Handvoll Überlebender, denen die Flucht gelungen war. Und so hatte es auch der Prinz der Quel’dorei erfahren. Sie hatte Kael’thas niemals derart… wütend, erschüttert und barsch erlebt. Sie war zu ihm gegangen, hatte ihm ihr Mitgefühl ausgesprochen und wollte ihm Trost spenden. Doch er hatte sie mit solcher Wut angeblickt, dass sie instinktiv zurückgewichen war.

»Sagt nichts«, hatte Kael gezischt. Seine Fäuste waren geballt gewesen. Zu ihrem Schrecken erkannte sie, dass er sich mühsam beherrschen musste, um sie nicht physisch anzugreifen. »Dummes Mädchen. Dieses Monster hättet Ihr in Euer Bett gelassen?«

Jaina blinzelte, sprachlos angesichts der harten Worte, die aus seinem kultivierten Mund kamen. »Ich…«

Doch er hatte kein Interesse daran, irgendetwas von dem zu hören, was sie zu sagen hatte. »Arthas ist ein Schlächter! Er hat Tausende Unschuldige getötet! Es klebt so viel Blut an seinen Händen, dass ein ganzer Ozean ihn nicht reinwaschen könnte. Und Ihr habt ihn geliebt? Ihn mir vorgezogen?«

Seine Stimme, die normalerweise so einschmeichelnd und kontrolliert war, dröhnte bei dem letzten Wort.

Jaina begann zu weinen, als sie plötzlich verstand. Er griff sie an, weil er den wahren Feind nicht angreifen konnte. Er fühlte sich hilflos, ohnmächtig und prügelte deshalb auf das naheliegendste Ziel ein. Auf sie, Jaina Prachtmeer, deren Liebe er gewollt und nicht bekommen hatte.

»Oh… Kael’thas«, sagte sie leise. »Er hat… schreckliche Dinge getan«, begann sie. »Was Eure Leute erleiden mussten…«

»Ihr wisst nichts vom Leiden!«, brüllte er. »Ihr seid ein Kind, mit dem Geist eines Kindes und dem Herzen eines Kindes. Euer Herz, das Ihr diesem… diesem… Er hat sie alle abgeschlachtet, Jaina. Und dann hat er ihre Leichen geschändet, indem er sie wiederbelebte!«

Jaina blickte ihn stumm an. Seine Worte verletzten sie nicht mehr, nun, nachdem sie wusste, warum er es tat. »Er hat meinen Vater ermordet, Jaina, so wie er seinen eigenen Vater ermordet hat. Ich… ich hätte dort sein sollen.«

»Um mit ihm zu sterben? Mit dem Rest Eures Volkes? Was hätte es genützt, wenn Ihr Euer Leben weggeworfen hättet, um…«

Kaum hatte sie gesprochen, als sie erkannte, dass sie genau das Falsche gesagt hatte. Kael’thas verkrampfte sich und schnitt ihr das Wort ab.

»Ich hätte ihn aufhalten können, ich hätte es tun müssen.« Er richtete sich auf und Kälte ersetzte plötzlich das Feuer in ihm. Er verneigte sich lang und übertrieben. »Ich werde Dalaran so schnell wie möglich verlassen. Hier gibt es nichts mehr für mich zu tun.«

Jaina war angesichts der Leere und der Resignation in seiner Stimme schockiert.

»Ich war ein Narr, zu glauben, dass ihr Menschen mir helfen könntet. Ich verlasse diesen Ort schlottriger alter Magier und ehrgeiziger Jünglinge. Niemand kann mir helfen. Mein Volk braucht mich jetzt, da mein Vater…« Er verstummte und schluckte schwer. »Ich muss zu ihnen. Zu den erbärmlich wenigen Elfen, die es noch gibt. Zu denen, die es überlebt haben, wiedergeboren durch das Blut derjenigen, die nun Eurem Geliebten dienen.«

Dann war er gegangen. Jaina spürte, wie er mit jeder Faser seines großen, eleganten Körpers Wut ausstrahlte und wie gleichzeitig ihr eigenes Herz vor Schmerz pochte.

Und nun war er hier. Arthas war hier, als Anführer einer Armee von Untoten, als Todesritter. Antonidas’ Stimme riss sie aus den Gedanken. Sie blinzelte und versuchte in die Gegenwart zurückzufinden.

»Zieht Eure Truppen zurück oder wir sind gezwungen, Euch unsere ganze Macht entgegenzuwerfen! Trefft Eure Wahl, Todesritter.« Antonidas trat vom Balkon zurück und wandte sich Jaina zu. »Jaina«, sagte er mit normaler Stimme, »wir werden Teleportationsbarrieren errichten. Du musst weg, bevor du hier eingeschlossen bist.«

»Vielleicht kann ich ja mit ihm reden… vielleicht kann ich…« Sie wurde still, erkannte den unrealistischen Wunsch in ihrer eigenen Stimme. Sie hatte Arthas nicht einmal davon abhalten können, die Unschuldigen in Stratholme zu verschonen oder nach Nordend zu reisen. Er hatte damals nicht auf sie gehört. Wenn Arthas tatsächlich unter einem dunklen Einfluss stand, wie konnte sie ihn jetzt von etwas abhalten?

Sie atmete tief ein und Antonidas nickte sanft. Es gab noch so vieles, was sie diesem Mann sagen wollte, ihrem Mentor. Doch sie konnte ihm nur ein zittriges Lächeln schenken, bevor er seine wahrscheinlich letzte Schlacht schlug. Ihnen beiden war das bewusst. Sie stellte fest, dass sie sich nicht einmal mehr verabschieden konnte.

»Ich kümmere mich um unsere Leute«, sagte sie mit belegter Stimme, sprach den Teleportzauber und verschwand.


Der erste Teil der Schlacht war gewonnen und Arthas hatte das Zauberbuch von Medivh erhalten. Es war groß, aber auch auf wundersame Weise zu schwer für seine Größe. Es war in rotes Leder gebunden, mit Goldschnitt an den Seiten. Auf der Vorderseite war ein vorzüglich gearbeiteter Rabe mit ausgestreckten Flügeln abgebildet. Antonidas’ Blut befand sich immer noch auf dem Buch. Arthas fragte sich, ob es dadurch mächtiger wurde.

Invincible stand neben ihm, trampelte mit den Hufen und schüttelte den Kopf, als könnten ihn Mücken immer noch stechen. Sie standen auf einer Anhöhe über Dalaran, dessen Türme immer noch das Licht einfingen und weißgolden leuchteten, während in den Straßen Blut vergossen wurde. Viele der Magier hatten Arthas stundenlang bekämpft, bevor sie nun an seiner Seite stritten. Die meisten waren zu schwer verwundet und dienten nur noch als Kanonenfutter, das man den Angreifern entgegen warf.

Doch einige… konnten immer noch entsprechend ihrer Fähigkeiten eingesetzt werden. Im Tod dienten sie dem Lichkönig.

Kel’Thuzad benahm sich wie ein Kind am Morgen des Winterhauchfestes. Er durchstöberte die Seiten von Medivhs Zauberbuch und war von dem neuen Spielzeug völlig fasziniert. Das irritierte Arthas.

»Der Kreis der Macht wurde nach deinen Anweisungen erstellt, Lich. Bist du bereit für die Beschwörung?«

»Fast«, antwortete der Untote. Seine Skelettfinger blätterten eine Seite weiter. »Es gibt viel zu lernen. Medivhs Wissen über Dämonen ist erstaunlich. Ich vermute, dass er viel mächtiger war, als irgendjemand ahnte.«

Ein schwarzgrüner Wirbel manifestierte sich, während Kel’Thuzad sprach, und Tichondrius erschien. Arthas Verwirrung wuchs, als der Schreckenslord mit der für ihn typischen Arroganz zu Kel’Thuzad sagte: »Du warst nicht mal mächtig genug, um dem Tod aus eigener Kraft zu entrinnen. Also werden wir die Arbeit, die du begonnen hast, beenden. Und zwar… heute. Lasst die Beschwörung beginnen!«

Und dann verschwand er plötzlich. Kel’Thuzad schwebte in den Kreis, der von vier kleinen Obelisken eingegrenzt wurde. Dazwischen waren arkane Markierungen gezeichnet worden. Kel’Thuzad trug das Buch bei sich. Nachdem er seine Position erreicht hatte, erwachten die Linien des Kreises zu leuchtend violettem Leben. Im selben Moment knisterte und zischte es und acht Flammensäulen erschienen um ihn herum. Kel’Thuzad wandte sich mit leuchtenden Augen Arthas zu.

»Alle, die noch in Dalaran leben, werden die Macht dieses Zaubers spüren können«, warnte Kel’Thuzad ihn. »Ich darf nicht unterbrochen werden oder wir werden versagen.«

»Ich werde deine Knochen schützen, Lich«, versicherte Arthas ihm.

Wie Kel’Thuzad versprochen hatte, war es vergleichsweise einfach gewesen, nach Dalaran hineinzukommen, alle zu töten, die spezielle Zauber gegen sie einsetzten, und sich ihre Beute zu nehmen. Arthas hatte sogar Erzmagier Antonidas töten können, der sich einst für so mächtig gehalten hatte.

Wenn Jaina dort gewesen wäre, hätte sie sich ihm sicherlich entgegengestellt. Sie hätte auch diesmal nicht mehr Erfolg gehabt, als damals, außer…

Er war froh, dass er nicht gegen sie hatte kämpfen müssen.

Arthas’ Gedanken wurden wieder in die Gegenwart zurückgebracht. Das Tor öffnete sich und Arthas’ graue Lippen lächelten. Bislang hatte die Geißel stets das Element der Überraschung auf ihrer Seite gehabt. Viele mächtige Magier hatten zu allen Zeiten in Dalaran gelebt. Doch es gab kein ausgebildetes Heer noch waren alle Zauberer der Kirin Tor vor Ort. Aber nun hatten die Magier einige Stunden Zeit gehabt und sie waren nicht untätig gewesen.

Sie hatten eine Armee herbeiteleportiert.

Ein ordentlicher Kampf war genau das, was er brauchte, um Jaina Prachtmeer und den Jungen, der er einst gewesen war, aus seinen Gedanken zu verdrängen.

Er hob Frostgram an, fühlte, wie es in seiner Hand prickelte, hörte, wie die sanfte Stimme des Lichkönigs seine Gedanken umschmeichelte.

»Frostgram hat Hunger«, sagte er seinen Truppen und wies mit dem Schwert auf die Angreifer der großen Magierstadt. »Lasst uns seinen Appetit stillen.«

Die Armee der Geißel stürmte heran. Sylvanas’ schmerzvolles Heulen erhob sich über das Schlachtengetümmel und ließ Arthas noch breiter Lächeln. Selbst im Tod, selbst wenn sie seine Befehle befolgte, forderte sie ihn immer noch heraus. Doch er genoss es, sie dazu zu zwingen, ihre ehemaligen Verbündeten anzugreifen. Invincible stürmte in vollem Galopp vorwärts und wieherte.

Einige der geisterhaften Truppen blieben zurück, um Kel’Thuzad zu schützen. Doch die meisten begleiteten ihren Anführer. Arthas erkannte den Wappenrock der Streitkräfte, die die Kirin Tor herbeiteleportiert hatten, um die Stadt zu verteidigen. Einst waren sie Freunde gewesen, aber das lag weit in der Vergangenheit. Es war für ihn so unwichtig wie das Wetter von gestern.

Es war jetzt leichter, die Freude zu spüren, als Frostgram sich leuchtend und singend an den Seelen labte, immer wieder zuschlug und sich durch Plattenpanzer genauso leicht wie durch Fleisch fraß.

Nachdem die erste Welle der Soldaten gefallen und wiederbelebt worden war, um fortan der Geißel zu dienen, stürmte die zweite Angriffswelle der Gegner heran. Diesmal waren Magier dabei, die in die violetten Roben von Dalaran gehüllt waren, mit dem eingestickten Symbol des großen Auges darauf. Doch auch Arthas hatte zusätzliche Hilfe bekommen.

Die Dämonen schienen die Ihren beschützen zu wollen.

Riesige Steine stürzten vom Himmel herab, ihre Schweife glühten vor grünem Teufelsfeuer. Die Erde bebte, wo sie aufschlugen, und aus den Kratern, die der Einschlag geschaffen hatte, kletterten Gestalten, die wie steinerne Golems aussahen. Sie wurden von der verderbten grünen Energie zusammengehalten und geleitet.

Arthas blickte über die Schulter. Kel’Thuzad schwebte mit ausgestreckten Armen. Sein gehörnter Kopf war zurückgeworfen. Energie knisterte und jagte aus ihm heraus und eine grüne Kugel bildete sich. Plötzlich senkte der Lich abrupt die Arme und trat aus dem Kreis heraus.

»Komme herbei, Lord Archimonde!«, rief Kel’Thuzad. »Betritt diese Welt und lass uns in deiner Macht baden!«

Die grüne Kugel pulsierte, wurde größer und leuchtete noch heller. Plötzlich schoss eine Feuersäule nach oben, und wie zur Antwort schlugen mehrere Lichtblitze außerhalb des Kreises ein. Wo vorher nichts gewesen war, stand eine Gestalt – groß, mächtig, anmutig auf ihre eigene düstere und gefährliche Weise.

Arthas wandte seine Aufmerksamkeit dem Schlachtfeld zu. Der Ruf zum Rückzug erklang – sicherlich hatten die Magier gesehen, was geschehen war. Ihre Soldaten wendeten die Pferde und flohen in die trügerische Sicherheit von Dalaran. Dabei dröhnte eine tiefe, machtvolle Stimme über den Schlachtenlärm.

»Erzittert, Sterbliche, und verzweifelt! Der Untergang ist über diese Welt gekommen!«

Arthas hielt eine Hand hoch und diese einfache Geste bedeutete den Streitkräften der Geißel, stehen zu bleiben und sich ebenfalls zurückzuziehen. Als Arthas sich Kel’Thuzad näherte und dabei die ganze Zeit den Dämonenlord beobachtete, teleportierte Tichondrius herbei. Wie üblich, nachdem die Gefahr vorbei war.

Der Schreckenslord machte eine tiefe Verbeugung. Arthas zügelte sein Pferd in einiger Entfernung und schaute nur zu.

»Lord Archimonde, alle Vorbereitungen wurden getroffen.«

»Sehr gut, Tichondrius«, antwortete Archimonde und nickte dem niederen Dämon zu. »Weil ich den Lichkönig ab sofort nicht mehr benötige, werdet ihr Schreckenslords jetzt die Geißel befehligen.«

Arthas war plötzlich sehr dankbar für die vielen Stunden, die er mit disziplinierter Meditation verbracht hatte. Nur diese Ausbildung hielt ihn davon ab, dass er Wut und Schrecken zeigte. Auch Invincible bemerkte die Änderung in ihm und tänzelte nervös. Er zog an den Zügeln und das untote Tier wurde ruhig.

Der Lichkönig wurde nicht mehr gebraucht? Warum? Wer genau war das und was war mit ihm geschehen? Was sollte aus Arthas selbst werden?

»Bald schon werde ich anordnen, dass die Invasion beginnen soll. Doch zuerst werde ich an diesen erbärmlichen Zauberern ein Exempel statuieren… indem ich ihre Stadt in den Staub der Geschichte trete.«

Der Dämon ging fort, sein Körper war hoch aufgerichtet, stolz und befehlend. Jeder stampfende Schritt seiner Hufe wirkte sicher, seine Rüstung leuchtete golden und tiefrot in der aufkommenden Dämmerung. Neben ihm, immer noch tief verneigt, ging Tichondrius. Arthas wartete, bis beide ein Stück weit weg waren, bevor er schließlich zu Kel’Thuzad herumfuhr und sagte: »Das ist doch wohl ein Scherz! Was wird denn jetzt aus uns?«

»Seid geduldig, junger Todesritter. Der Lichkönig hat das sehr wohl vorausgesehen. Ihr mögt noch eine Rolle in seinem großen Plan spielen.«

Mögt? Arthas näherte sich dem Nekromanten, seine Nasenflügel bebten, doch er hielt seine Wut zurück. Wenn jemand – egal ob Dämon oder der Lichkönig persönlich – einen Moment lang glaubte, dass Arthas nur ein Werkzeug war, das man benutzen und dann wegwerfen konnte, würde er schon bald erkennen müssen, dass er einen Fehler begangen hatte. Er hatte zu viel getan – zu viel verloren, zu viel von sich geopfert –, um einfach beiseitegeschoben zu werden.

Es konnte nicht alles umsonst gewesen sein.

Es würde nicht alles umsonst gewesen sein.

Die Erde bebte. Invincible tänzelte unbehaglich, hob seine Hufe, als wollte er den Kontakt zum Boden vermeiden. Arthas blickte zur Stadt der Magier. Die Türme waren um diese Tageszeit herrlich. Stolz und schön glitzerten sie im schwindenden Licht der Dämmerung. Doch während er noch hinsah, hörte er ein tiefes, knackendes Geräusch. Die Spitze des höchsten Turms, des schönsten Turms der Stadt, fiel langsam und unausweichlich in sich zusammen, als würde eine riesige, unsichtbare Hand sie zerquetschen.

Der Rest der Stadt stürzte schnell ein. Der Lärm der Zerstörung war laut und dröhnte in Arthas’ Ohren. Er zuckte ob der Lautstärke zusammen, wandte seinen Blick aber nicht von dem Bild der Vernichtung ab.

Er war für den Untergang von Silbermond verantwortlich. Er hatte die Geißel gegen die Elfen geführt. Doch das hier… geschah beiläufig, wie nebenbei. Silbermond hingegen war ein hart errungener Sieg gewesen. Archimonde schien die größten menschlichen Städte zerstören zu können, ohne selbst anwesend sein zu müssen.

Arthas dachte über Archimonde und Tichondrius nach. Er rieb sich gedankenverloren das Kinn.

Auf seinem Schoß leuchtete Frostgram.

21

Kel’Thuzad war eigentlich ein sehr nützlicher Lich, überlegte Arthas, als er auf dem grünen Hügel auf seine Verabredung wartete. Er war dem Lichkönig gegenüber äußerst loyal und spielte sogar brav den Schoßhund von Archimonde und Tichondrius, wenn es Arthas’ Interessen diente.

Arthas hielt sich von den Dämonen fern. Er traute sich nicht zu, so überzeugend zu lügen wie Kel’Thuzad. Die beiden Dämonen hatten ihn und Kel’Thuzad für überflüssig befunden. Doch schon bald würden sie erkennen müssen, wie falsch diese Einschätzung war. Sorglos hatten sie dem knochigen Lich sogar Medivhs Zauberbuch gelassen. Der beherrschte zudem einige andere Zauber und eine derart mächtige Magie, wie Arthas sie niemals in vollem Umfang verstehen würde.

»Der dritte Teil«, hatte Kel’Thuzad, nachdem die Dämonen fort waren, so leichthin gesagt, als würde er über das Wetter sprechen, »war das eigentliche Herzstück des Plans der Legion.«

Arthas erinnerte sich daran, was Kel’Thuzad ihm zuvor schon verraten hatte. Zuerst kam die Erschaffung der Geißel, dann die Beschwörung Archimondes. Er hörte mit gesteigertem Interesse zu, als Kel’Thuzad fortfuhr.

»Die Legion will alle Magie auf dieser Welt für sich und alles Leben verschlingen. Deshalb plant sie, die konzentrierten Energien aus dem Brunnen der Ewigkeit aufzunehmen. Doch dazu müssen sie das zerstören, was die wahrste und reinste Essenz an Lebensenergie auf ganz Azeroth enthält. Der Brunnen der Ewigkeit liegt jenseits der Großen See auf dem Kontinent Kalimdor. Und das Einzige, was die Legion noch aufhalten könnte, ist Nordrassil… der Weltenbaum. Er gewährt den Kaldorei Unsterblichkeit und sie sind an ihn gebunden.«

»Kaldorei?« Arthas war verwirrt. »Ich kenne die Quel’dorei. Ist das auch ein Volk der Elfen?«

»Das ursprüngliche Volk«, erklärte Kel’Thuzad. Er winkte ab. »Doch diese Details sind unwichtig. Wir müssen dafür sorgen, dass die Legion ihr Ziel nicht erreicht. Und es gibt einen Kaldorei, der uns dabei helfen kann.«

Und so hatte Kel’Thuzad Arthas mittels Magie auf diesen fernen Kontinent teleportiert, auf diesen Hügel, der den Blick weit ins Land ermöglichte. Die Wälder waren üppig und gesund, doch Arthas konnte bereits erkennen, was die Legion in der Ferne angerichtet hatte. Wo das Land, die Bäume und die Tiere nicht tot waren, waren sie korrumpiert worden. Die Dämonen verschlangen in der Tat alles Leben.

Eine Gestalt erklomm die Anhöhe und Arthas lächelte in sich hinein. Darauf hatte er gewartet.

Diese »Nachtelfen« waren anders. Ihre Haut war leicht lavendelfarben. Sie hatten Tätowierungen und schmückende Narben, die in religiösen Mustern in die Haut geritzt waren. Der Elf trug ein schwarzes Tuch um die Augen, doch er schien keine Schwierigkeiten zu haben, sich durch das Gelände zu bewegen. Er hatte eine Waffe bei sich, wie Arthas sie nicht kannte. Statt eines traditionellen Schwertes, das aus einem Griff mit einer daraus hervorstehenden Klinge bestand, hatte diese Waffe zwei gezackte Klingen, die grün leuchteten und von dämonischer Energie durchdrungen schienen.

Der Nachtelf war also schon auf die Dämonen gestoßen.

Arthas wartete eine Weile und beobachtete ihn. Der Nachtelf – Illidan Sturmgrimm, hieß er laut Kel’Thuzad – schimpfte mit sich selbst. Offensichtlich hatte man ihm einiges angetan und er schien sich so sehr nach Rache und Macht zu verzehren, wie Kel’Thuzad es vermutet hatte.

Arthas lächelte.

»Nach zehntausend Jahren bin ich endlich freigekommen und dennoch glaubt selbst mein eigener Bruder, dass ich ein Bösewicht bin!«, zeterte Illidan. »Ich werde ihm meine wahre Macht zeigen. Ich beweise ihm, dass die Dämonen mich nicht mehr kontrollieren!«

»Seid Ihr Euch dessen sicher, Dämonenjäger?«, fragte Arthas.

Der Nachtelf wirbelte herum und hob die Waffe.

»Seid Ihr sicher, dass Euch Euer Wille gehört?«

Der Elf mochte im traditionellen Sinne blind sein. Dennoch fühlte Arthas, dass er ihn wahrnahm. Illidan schnüffelte und knurrte. »Ihr stinkt nach Staub, Mensch. Ihr werdet es bereuen, an mich herangetreten zu sein.«

Arthas lächelte. Ein guter Kampf Mann gegen Mann reizte ihn. »Dann kommt«, lud er ihn ein. »Ihr werdet feststellen, dass wir gleichwertig sind.« Invincible bäumte sich auf und ritt den Hügel hinab, ebenso begierig auf den Kampf wie sein Herr.

Illidan knurrte und lief ihm entgegen.

Es war fast wie ein Tanz, dachte Arthas, als die beiden Kämpfer sich gegenüberstanden. Illidan war stark und anmutig, seine Fähigkeiten waren dämonisch verstärkt. Doch Arthas war auch kein normaler Kämpfer noch war Frostgram eine normale Klinge. Der Kampf war heftig und schnell. Arthas hatte recht gehabt. Sie waren sich wirklich ebenbürtig. Schon nach kurzer Zeit lösten sich beide Kombattanten keuchend voneinander.

»Wir könnten noch ewig so weiterkämpfen«, sagte Illidan. »Was wollt Ihr wirklich von mir?«

Arthas senkte Frostgram. »Aus Eurem Gemurmel von vorhin entnehme ich, dass Ihr und Eure Verbündeten von den Untoten bedrängt werdet. Der Schreckenslord, der die Armee der Untoten befehligt, heißt Tichondrius. Er kontrolliert ein mächtiges Zauberartefakt, den Schädel von Gul’dan. Der ist dafür verantwortlich, dass diese Wälder korrumpiert werden.«

Illidan legte den Kopf schief. »Und Ihr wollt, dass ich ihn für Euch stehle? Warum?«

Arthas weiße Augenbrauen hoben sich. Der Kerl war tatsächlich clever. Er verdiente zumindest die halbe Wahrheit, entschied Arthas. »Sagen wir mal, weil ich Tichondrius nicht sonderlich mag und der Herr, dem ich diene… davon profitieren würde, wenn die Legion versagt.«

»Warum sollte ich irgendetwas von dem glauben, was Ihr sagt, Mensch?«

Arthas zuckte mit den Achseln. »Eine gute Frage. Lasst sie mich beantworten. Mein Herr sieht alles, Dämonenjäger. Er weiß, dass Ihr schon Euer ganzes Laben lang nach Macht strebt, Macht gesucht habt. Jetzt liegt sie für Euch in greifbarer Reichweite!« Seine gepanzerte Hand bildete eine Faust vor Illidans verbundenen Augen und der Kopf des Nachtelfen wandte sich, wie erwartet, seiner Geste zu. »Nehmt mein Angebot an und Eure Feinde werden erledigt sein.«

Illidan hob langsam den Kopf und blickte Arthas an. Dieser blinde Mann wirkte beunruhigend, weil er offensichtlich doch irgendwie sehen konnte. Der Elf trat zurück und nickte gedankenverloren. Ohne ein weiteres Wort wendete Arthas Invincible und ritt davon.

Kel’Thuzad würde ihn schon bald wieder rufen. Alles war nach dem Plan des Lichkönigs verlaufen. Er hoffte nur, dass Illidan so fügsam war, wie er gewirkt hatte. Falls nicht… konnte es zu Komplikationen kommen.


Sie war nicht mehr am Leben. Noch hatte sie die Kraft, den Befehlen des Mannes zu trotzen, der sie unter Schmerzen in dieses neue Dasein geführt hatte.

Doch Sylvanas Windläufer hatte einen eigenen Willen. Offensichtlich hatte Arthas ihn nicht gebrochen. Er hatte es bei anderen getan. Warum war sie also scheinbar die Einzige, die nicht völlig zusammengebrochen war? Lag es an ihrer eigenen Stärke oder genoss er es nur, sie zu foltern? Die Banshee, die sie nun war, würde es wahrscheinlich nie erfahren. Aber wenn sie ihren Willen nur deshalb behalten hatte, weil Arthas seinen Spaß daran hatte, würde sie am Ende doch noch triumphieren.

Das hatte sie sich selbst geschworen und Sylvanas hielt ihre Versprechen.

Einige Zeit war ins Land gezogen, seit Arthas Menethil und die Geißel durch ihre geliebte Heimat gezogen waren. Und viel war seitdem geschehen.

Ihr sogenannter »Meister« hatte sich geweigert, wie ein Werkzeug benutzt zu werden. Zusammen mit dem arroganten Knochensack Kel’Thuzad – der den herrlichen Sonnenbrunnen korrumpiert hatte –, hatte Arthas sich gegen den Schreckenslord Tichondrius und den Dämonenlord Archimonde verschworen, dem Kel’Thuzad selbst dabei geholfen hatte, nach Azeroth zu gelangen. Sylvanas hatte währenddessen gut aufgepasst. Sie hatte sich alles gemerkt, was Arthas offenbarte, wie er dachte und wie er kämpfte. Das alles war nützlich für sie.

Er hatte nicht versucht, Tichondrius selbst zu töten, so wie er es mit Mal’Ganis getan hatte. Der verschlagene, einst menschliche Prinz hatte jemand anderen die Drecksarbeit erledigen lassen. Illidan, das glücklose Wesen, war ausersehen worden. Arthas hatte Illidans Hunger nach Macht gespürt und gegen ihn benutzt. Er hatte ihn aufgestachelt, den Schädel von Gul’dan zu stehlen, der einst ein legendärer orcischer Zauberer gewesen war. Um das zu tun, musste Illidan Tichondrius töten.

Arthas war den Dämonenlord los und Illidan wurde mit einem Artefakt belohnt, das seine Gier nach Macht befriedigte. Vermutlich war alles nach Plan verlaufen. Arthas und dadurch auch Sylvanas hatten seitdem nichts mehr von Illidan gehört.

Archimonde… der einst so mächtig gewesen war, dass er Dalaran, die große Stadt der Magier, mit einem einzigen Zauber hatte zerstören können, war ausgerechnet der Macht des Lebens zum Opfer gefallen, die er ursprünglich selbst vereinnahmen wollte. Sylvanas hasste die Lebenden mit derselben Leidenschaft, wie es die Legion getan hatte, und deshalb nahm sie es mit gemischten Gefühlen auf, als sie von seinem Tod erfuhr. Die Nachtelfen hatten ihre Unsterblichkeit geopfert, um ihn zu besiegen. Die reine, konzentrierte Kraft der Natur hatte den Dämon von innen heraus zerstört. Und dann hatte der Weltenbaum eine Katastrophe ausgelöst, die eine riesige Schockwelle aussandte. Als Archimonde gefallen war, blieb nur das Skelett von ihm übrig, und so war auch der Versuch der Legion gescheitert, sich auf dieser Welt festzusetzen.

Sylvanas löste sich aus ihren Gedanken und kam in die Gegenwart zurück, als sie den Namen des verstorbenen Dämonenlords hörte.

»Es ist bereits Monate her, dass wir zuletzt etwas von Lord Archimonde gehört haben«, sagte Detheroc, der Anführer. Er stampfte ungeduldig mit dem Huf auf. »Ich bin es leid, auf diese verfaulenden Untoten aufzupassen. Was machen wir noch hier?«

Sie befanden sich in den ehemaligen Gärten des Palastes, die Arthas vor gar nicht allzu langer Zeit durchquert hatte, um seinen eigenen Vater zu ermorden und sein Volk dem Untergang zu weihen. Die Gärten verrotteten ebenso wie die Bevölkerung.

»Wir sollen dieses Land verwalten, Detheroc«, schalt ihn ein anderer Schreckenslord namens Balnazzar. »Es ist unsere Pflicht, hierzubleiben und sicherzustellen, dass die Geißel zum Einsatz bereit ist.«

»Das stimmt«, dröhnte ein dritter namens Varimathras. »Obwohl wir mittlerweile schon neue Befehle erhalten haben sollten.«

Sylvanas konnte kaum glauben, was sie gerade hörte, und blickte zu Kel’Thuzad. Sie verachtete den Lich ebenso sehr wie den Todesritter, dem er so pflichtbewusst diente. Doch sie verbarg ihre Abneigung gut. »Die Legion wurde bereits vor Monaten besiegt«, sagte sie leise. »Wie können sie das nicht wissen?«

»Das kann man unmöglich sagen«, antwortete der Lich. »Doch je länger sie das Kommando haben, desto mehr richten sie die Geißel zugrunde. Wenn nicht etwas…«

Er wurde von einem Geräusch unterbrochen, das Sylvanas niemals an diesem Ort erwartet hätte. Es war der markante Klang eines Tores, das eingeschlagen und aufgebrochen wurde. Beide Untote wandten sich dem Lärm zu und die Dämonen knurrten wutentbrannt. Alarmiert spannten sie die schwarzen Flügel auf.

Sylvanas leuchtende, geisterhafte Augen weiteten sich, als Arthas höchstpersönlich durch das Tor geritten kam. Sein getreues, untotes Pferd tänzelte. Er trug keinen Helm und ließ sein weißes Haar offen über sein bleiches Gesicht fallen. Dafür zeigte er dieses selbstzufriedene Lächeln, das Sylvanas so sehr hasste. Ihre feinstofflichen Hände versuchten, sich zu Fäusten zu ballen. Doch seine Macht über sie war so groß, dass die Banshee nur ein kurzes Zucken der Finger zustande brachte.

Arthas Stimme klang kraftvoll und froh. »Seid gegrüßt, werte Schreckenslords«, sagte er. Sie starrten ihn an und mussten sich sichtlich beherrschen, angesichts seiner Unverfrorenheit. »Ich sollte euch danken, weil ihr in meiner Abwesenheit so gut auf mein Königreich aufgepasst habt. Doch jetzt brauche ich eure Dienste nicht mehr.«

Eine Sekunde lang schauten sie ihn einfach nur an. Schließlich besann sich Balnazzar als Erster und sagte: »Dieses Land gehört uns. Die Geißel gehört zur Legion!«

Ah, dachte Sylvanas, jetzt fängt es an.

Arthas Lächeln wurde breiter. Seine Stimme klang schadenfroh. »Nicht mehr, Dämon. Euer Herr wurde besiegt. Die Legion ist besiegt. Eure Tode werden den Kreis schließen.«

Immer noch lächelnd hob er Frostgram an. Die Runen entlang der Klinge tanzten und leuchteten. Er zog an den Zügeln und das Skelettpferd preschte auf die drei Dämonen zu.

»Es ist noch nicht vorbei, Mensch!«, schrie Detheroc aufsässig. Die Schreckenslords waren schneller als Arthas’ Pferd. Frostgram sang vor Frustration, als er durch die leere Luft schnitt.

Die Dämonen hatten ein Portal erschaffen und flohen. Arthas blickte finster, doch schnell fand er seine gute Laune wieder. Sylvanas vermutete, dass es daran lag, weil der Tod der Schreckenslords nur noch eine Frage der Zeit war.

Arthas blickte hoch, erspähte Sylvanas und winkte sie zu sich. Sie musste ihm gehorchen. Kel’Thuzad brauchte keinen Zwang, er schwebte, wie ein gehorsamer Hund, froh an die Seite seines Herrn.

»Wir wussten, dass du zu uns zurückkehren würdest, Prinz Arthas!«, sagte der Lich begeistert.

Arthas würdigte seinen treuen Diener kaum eines Blickes. Seine Augen waren auf Sylvanas gerichtet. »Ich bin sehr gerührt«, sagte er sarkastisch. »Wusstet auch Ihr, dass ich zurückkehren würde, kleine Banshee?«

»Ja, das wusste ich«, antwortete Sylvanas kalt. Das meinte sie wirklich. Denn wenn er nicht zurückgekehrt wäre, hätte sie nie ihre Rache bekommen.

Er zuckte mit dem Finger, verlangte mehr von ihr und sie keuchte, als der Schmerz sie peinigte. »Prinz Arthas«, fügte sie hinzu.

»Ah, aber Ihr werdet mich ab sofort mit König ansprechen. Das ist immerhin mein Land. Ich wurde geboren, um es zu regieren, und das werde ich auch. Wenn erst…«

Er brach ab und sog die Luft scharf ein. Seine Augen weiteten sich und dann verzerrte sich sein Gesicht vor Schmerz. Er krümmte sich über den knochigen Hals seines Pferdes, seine gepanzerten Hände umfassten die Zügel fest. Verzweifelt stieß er einen Schmerzensschrei aus.

Sylvanas sah zu und spürte eine Freude, wie sie sie seit dem schrecklichen Tag, als Quel’Thalas gefallen war, nicht mehr erlebt hatte. Sie trank seine Qual wie Nektar. Sie wusste nicht, warum er so litt, doch sie kostete jede Sekunde davon aus.

Grunzend hob er den Kopf. Seine Augen starrten auf etwas, was sie nicht sehen konnte, und er streckte flehend eine Hand danach aus. »Der Schmerz… ist unerträglich«, knurrte Arthas durch zusammengebissene Zähne. »Was geschieht mit mir?« Er schien einer unhörbaren Stimme zu lauschen, die ihm antwortete.

»König Arthas!«, schrie Kel’Thuzad. »Braucht Ihr Hilfe?«

Arthas antwortete nicht sofort. Er schnappte nach Luft, setzte sich dann langsam auf und riss sich sichtlich zusammen. »Nein… nein, der Schmerz ist vorbei, aber… meine Kräfte… sind geschwächt.« Seine Stimme war voller Verwunderung. Hätte Sylvanas noch ein schlagendes Herz besessen, es wäre bei diesen Worten gehüpft. »Etwas läuft hier schrecklich verkehrt. Ich…«

Der Schmerz erwischte ihn erneut. Sein Körper zuckte, der Kopf fiel zurück, der Mund öffnete sich und er stieß einen geräuschlosen Schrei aus, als die Venen an seinem Hals hervortraten. Kel’Thuzad huschte wie ein besorgtes Kindermädchen um seinen verehrten Meister herum. Sylvanas beobachtete ihn nur kalt, bis die Zuckungen vorbei waren.

Langsam und vorsichtig stieg Arthas von Invincible ab. Seine Füße kamen auf den Steinfliesen auf, rutschten unter ihm weg und er stürzte schwer. Der Lich streckte seine Skeletthand aus, um dem Prinzen – dem selbst ernannten König – auf die Beine zu helfen.

»Zu meinen alten Räumen!«, keuchte Arthas. »Ich brauche Ruhe – und dann muss ich mich auf eine lange Reise vorbereiten.«

Sylvanas sah zu, wie er fortging. Er schwankte ein wenig, als er in die Richtung seiner Gemächer, in denen er aufgewachsen war, verschwand. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln…

… und ihre geisterhaften Finger zuckten einen Moment lang und ballten sich dann grimmig zu Fäusten.


Es war merkwürdig friedlich im Silberwald. Nebel wirbelten sanft über der feuchten, nadelbedeckten Erde. Sylvanas wusste, dass sie, wenn sie noch richtige Füße und alle Sinne besessen hätte, den Boden weich und federnd unter sich gespürt hätte. Dazu hätte sie den aromatischen Nadelgeruch in der feuchten Luft gerochen.

Doch sie fühlte nichts mehr, roch nichts. Sie schwebte feinstofflich zum Treffpunkt. Und sie war so begierig auf das Treffen, dass sie in diesem Augenblick nicht einmal den Verlust ihrer früheren Sinne bedauerte.

Arthas hatte es genossen, nach dem »Erfolg« mit ihr auch andere schöne, stolze und eigenwillige Frauen der Quel’dorei in Banshees zu verwandeln. Diese hatte er ihr, die im wahren Leben ihr Waldläufergeneral gewesen war, unterstellt. So hatte er ihr einen Knochen hingeworfen, als wäre sie ein treuer Hund.

Er würde schon bald erleben, wie treu sein Hund wirklich war.

Nachdem sie das Gespräch der Schreckenslords zuvor mit angehört hatte, hatte sie eine ihrer Banshees zu den Dämonen geschickt, um mit ihnen zu reden und Informationen zu sammeln.

Die Dämonen hatten mit Freude einer Zusammenarbeit zugestimmt und sie zu einem Treffen am heutigen Abend gebeten. Dort wollten sie etwas besprechen, was allen Parteien »einen Vorteil« bringen würde.

In der Tiefe des Waldes konnte sie ein schwaches grünes Leuchten erkennen und sie schwebte darauf zu. Sicherlich erwarteten sie sie schon – drei große Dämonen wandten sich ihr zu, ihre Flügel schlugen und verrieten ihre Rastlosigkeit.

Balnazzar sprach als Erster. »Lady Sylvanas, wir sind froh, dass Ihr gekommen seid.«

»Wie hätte ich es ablehnen können?«, erwiderte sie. »Aus irgendeinem Grund höre ich nicht mehr die Stimme des Lichkönigs in meinem Kopf. Ich habe wieder einen freien Willen.« Und so war es tatsächlich. Dabei bemühte sie sich, die Freude in ihrer Stimme zu verbergen. Sie wollte nicht, dass die Dämonen mehr von ihr wussten, als sie zuließ. »Ihr Schreckenslords scheint zu wissen, warum.«

Sie tauschten untereinander Blicke aus, auf ihren Gesichtern bildete sich ein boshaftes Grinsen. »Wir haben entdeckt, dass der Lichkönig seine Kraft verliert«, sagte Varimathras mit höllischem Leuchten in den Augen. »Und wenn sie schwindet, dann gilt das auch für seine Fähigkeit, Untote wie Euch zu befehligen.«

Das waren wahrhaftig gute Neuigkeiten, so es denn stimmte. Doch es reichte Sylvanas nicht. »Und was ist mit König Arthas?«, fragte sie weiter, unfähig, die Verachtung aus ihrer Stimme herauszuhalten, als sie den Titel des Todesritters benutzte. »Was ist mit seinen Kräften?«

Balnazzar wedelte abschätzig mit seiner schwarzen, klauenförmigen Hand. »Er wird uns nicht mehr stören. Er ist wie eine Fliege, deren Zeit gekommen ist. Er wird verschwinden. Obwohl seine Runenklinge, Frostgram, mächtige Zauber birgt, werden Arthas’ eigene Kräfte mit der Zeit schwinden. Das ist unausweichlich.«

Sylvanas war sich da nicht so sicher. Auch sie hatte Arthas unterschätzt und mit ihrem kalten Hass in ihrem Herzen trug sie mit Schuld an seinem blutigen Sieg. »Ihr wollt ihn stürzen und braucht dazu meine Hilfe«, sagte sie knapp.

Detheroc, der der Anführer zu sein schien, hatte bislang stumm daneben gestanden, während seine Brüder mit Sylvanas geredet hatten. Sie waren wütend und ungeduldig gewesen. Doch sein Gesichtsausdruck war neutral geblieben. Jetzt sprach er im kühlen Tonfall äußersten Ekels.

»Die Legion mag geschlagen sein, doch wir sind die Nathrezim. Wir lassen uns von keinem Emporkömmling der Menschen vorführen.« Er machte eine Pause und sah sie alle der Reihe nach an. »Arthas muss stürzen!« Der leuchtende grüne Blick lag auf Sylvanas. »So, wie Ihr uns beobachtet habt, kleiner Geist, so haben wir auch Euch beobachtet. Es ist offensichtlich, dass der Lich, Kel’Thuzad, viel zu sehr ergeben ist, um seinen Herrn zu verraten. Es scheint… eine gewisse Zuneigung zwischen den beiden zu geben.« Seine grauen Lippen verzogen sich zu einem gefährlichen Grinsen. »Doch Ihr dagegen…«

»Ich hasse ihn.« Sie glaubte nicht, dass sie diese Wahrheit verbergen konnte, selbst wenn sie es wollte. Zu feurig brannte der Zorn in ihr. »Wir sind uns so weit einig, Schreckenslord. Ich habe meine eigenen Gründe für die Rache. Arthas hat mein Volk ermordet und mich in diese… Monstrosität verwandelt.« Sie machte eine Pause. Die Abscheu gegen Arthas und alles, was er ihr angetan hatte, war so stark, dass sie nicht weiterreden konnte.

Die Dämonen warteten geduldig und ein wenig selbstgefällig. Sie glaubten, Sylvanas benutzen zu können. Damit lagen sie falsch.

»Ich werde vielleicht an Eurem blutigen Spiel teilnehmen, aber ich mache es auf meine eigene Art.« Sie wollte die Dämonen als Verbündete, doch die Schreckenslords sollten wissen, dass sie kein Spielzeug war. »Ich werde nicht einen Herrn gegen den anderen austauschen. Wenn Ihr meine Hilfe wollt, dann müsst Ihr das akzeptieren.«

Detheroc lächelte. »Dann werden wir also den Todesritter gemeinsam töten?«

Sylvanas nickte und langsam legte sich Genugtuung auf ihr geisterhaftes Gesicht.

Deine Tage sind gezählt, König Arthas Menethil. Und ich… ich bin das Stundenglas.

22

Arthas rieb sich die Schläfen und ging die Visionen, die er gehabt hatte, immer wieder durch. Bislang hatte die Kommunikation mit dem Lichkönig immer nur über Frostgram stattgefunden. Doch in der Sekunde, als ihn der Schmerz durchfuhr, hatte Arthas tatsächlich zum ersten Mal das Wesen selbst gesehen, dem er diente.

Der Lichkönig saß allein in der Mitte einer großen Höhle, gefangen im künstlichen Eis. So ähnlich war es bei Frostgram gewesen. Doch das Eis war gesprungen, als hätte jemand ein Stück herausgebrochen. Deshalb konnte man den Lichkönig nur unvollständig erkennen, aber seine Stimme drang tief in den Geist des Todesritters ein, der sich vor Schmerz krümmte.

»Dem vereisten Thron droht Gefahr! Die Macht schwindet… Die Zeit verrinnt… Du musst sofort nach Nordend zurückkehren!« Und dann durchfuhr es Arthas wie eine Lanze: »Gehorche!«

Jedes Mal, wenn das geschah, fühlte sich Arthas benommen und schlecht. Die Kraft, die wie Adrenalin durch seine Adern jagte, entzog ihm mittlerweile mehr Energie, als sie ihm einst gegeben hatte. Er war schwach und verwundbar…

Das hatte er sich nicht vorstellen können, als er Frostgram das erste Mal berührt, sich von allem abgewandt hatte, an was er glaubte. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, als er mühsam auf Invincible kletterte und zu dem Treffen mit Kel’Thuzad ritt.

Der Lich wartete bereits auf ihn. Seine flatternde Robe und sein ganzes Auftreten strahlte Besorgnis aus.

»Sind die Krämpfe noch schlimmer geworden?«, fragte er.

Arthas zögerte. Sollte er den Lich ins Vertrauen ziehen? Würde Kel’Thuzad versuchen, ihm die Kraft zu entreißen? Nein, entschied er. Der ehemalige Nekromant hatte ihn niemals irregeführt. Stets galt seine volle Loyalität dem Lichkönig und Arthas selbst.

Der König nickte. Ihm war, als drohe sein Kopf durch diese Geste abzufallen. »Ja. Nachdem meine Kräfte schwinden, kann ich kaum mehr meine eigenen Krieger befehligen. Der Lichkönig hat mich gewarnt, dass alles verloren sein könnte, wenn ich nicht bald nach Nordend komme. Wir müssen unverzüglich aufbrechen.«

Wenn die brennenden, leeren Augenhöhlen Besorgnis zeigen konnten, dann taten sie es jetzt. »Natürlich, Euer Majestät. Ihr habt nicht versagt und werdet nicht versagen. Wir brechen auf, sobald Ihr meint, dass Ihr…«

»Es gibt eine Änderung der Pläne, König Arthas. Du gehst nirgendwohin.«

Es war der Beweis für seine schwindenden Kräfte, dass er die Angreifer nicht einmal gespürt hatte. Arthas blickte höchst überrascht auf, als die drei Schreckenslords ihn umzingelten.

»Meuchelmörder!«, schrie Kel’Thuzad. »Das ist eine Falle! Verteidigt euren König vor diesen…«

Doch das Geräusch eines zuschlagenden Tors übertönte des Lichs Ruf zu den Waffen.

Arthas zog Frostgram. Zum ersten Mal, seit er es berührt und sich mit dem Schwert verbunden hatte, fühlte es sich schwer und fast leblos in seinen Händen an. Die Runen entlang der Klinge leuchteten nur schwach und das Schwert wirkte wie ein totes Stück Metall, nicht wie die ausbalancierte, schöne Waffe, die es immer gewesen war.

Die Untoten stürmten auf ihn zu und einen Moment lang fühlte sich Arthas in der Zeit zurückversetzt zu seinem ersten Aufeinandertreffen mit den wandelnden Toten. Er stand wieder vor dem kleinen Bauernhaus, angewidert von dem Gestank nach Verwesung und erstarrt vor Schreck, als Kreaturen, die tot hätten sein müssen, ihn angriffen. Seitdem hatte er seine Abscheu gegen diese Wesen längst abgelegt. Eigentlich dachte er inzwischen mit einer gewissen Zuneigung an sie. Es waren seine Untertanen, er hatte sie vom Leben befreit, damit sie dem höheren Wohl des Lichkönigs dienten. Arthas störte weniger der Gedanke, dass die Untoten nun kämpften. Schlimm war lediglich, dass sie gegen ihn kämpften. Sie standen vollständig unter der Kontrolle der Schreckenslords. Grimmig, mit all der Kraft, die er noch besaß, setzte er sich zur Wehr. Ein seltsames, Übelkeit erregendes Gefühl stieg in ihm auf. Er hatte niemals erwartet, dass seine Untoten sich gegen ihn stellen würden.

Über den Schlachtenlärm hörte Arthas Balnazzars schadenfrohe Stimme. »Du hättest niemals zurückkommen dürfen, Mensch. Schwach, wie du bist, haben wir die Kontrolle über die meisten deiner Krieger übernommen. Offensichtlich war deine Herrschaft nur von sehr kurzer Dauer, König Arthas.«

Arthas biss die Zähne zusammen und von irgendwoher tief in seinem Innern strömte neue Energie hervor, neuer Kampfeswille. Er würde hier nicht sterben.

Doch es waren viele – so viele, die er einst beinahe mühelos geführt und befehligt hatte. Und sie stellten sich jetzt unerbittlich gegen ihn. Er wusste, dass sie geistlos waren, dass sie nur dem Stärksten gehorchten. Und dennoch… schmerzte es irgendwie. Er hatte sie schließlich erschaffen…

Er wurde immer schwächer und schließlich konnte er einen direkten Schlag auf seinen Bauch nicht mehr rechtzeitig abblocken. Das stumpfe Schwert schepperte gegen seine Rüstung, doch er erlitt keine größere Wunde. Aber dass der Ghoul seine Abwehr überhaupt hatte durchdringen können, alarmierte ihn.

»Es sind zu viele, mein König!«, sagte Kel’Thuzad düster. Die Loyalität, die in diesen Worten mitschwang, rührte Arthas zu Tränen. »Lauft – flieht aus der Stadt! Ich finde schon selbst heraus und treffe Euch in der Wildnis. Das ist unsere einzige Chance, mein König!«

Er wusste, dass der Lich recht hatte. Mit einem Aufschrei stieg Arthas plump aus dem Sattel. Auf einen Wink seiner Hand hin wurde Invincible feinstofflich, war nun ein Geisterpferd statt eines Skelettrosses, und verschwand. Arthas würde es erneut rufen, wenn er in Sicherheit war.

Er griff an, nahm das geschwächte Frostgram in beide Hände und schlug damit zu. Er versuchte nicht mehr, seine Gegner zu töten oder auch nur zu verletzen – es waren tatsächlich zu viele. Er wollte einfach einen Weg durch sie hindurch bahnen.

Die Tore waren geschlossen. Doch dieser Palast war der Ort, an dem er aufgewachsen war, und er kannte ihn gut. Kannte jedes Tor, jede Wand und jeden Geheimgang. Statt zu den Toren zu eilen, die er allein gar nicht öffnen konnte, drang er tiefer in den Palast ein. Die Untoten folgten ihm. Arthas rannte durch dunkle Korridore, die zu den privaten Gemächern der königlichen Familie führten. Durch die Gänge war er einst Hand in Hand mit Jaina geschritten.

Er stolperte und ihm wurde schwindelig.

Wie war er in diese Lage geraten? Er floh durch einen leeren Palast vor seinen eigenen Schöpfungen, seinen Untertanen, die zu beschützen er geschworen hatte. Doch nein – er hatte sie getötet. Er hatte seine Untertanen für die Macht, die der Lichkönig ihm versprochen hatte, verraten. Diese Macht strömte nun aus ihm wie aus einer Wunde heraus, die nicht geschlossen werden konnte.

Vater… Jaina…

Er verschloss seinen Geist gegen die Erinnerungen. Ablenkungen waren ihm nicht dienlich. Nur Tempo und List.

Die engen Gänge begrenzten die Anzahl der Untoten, die ihm folgen konnten. Außerdem konnte er die Türen schließen und blockieren und sie dadurch weiter aufhalten.

Schließlich kam er zu den Gemächern und dem Geheimausgang, der in eine Wand eingelassen war. Er, seine Eltern und Calia hatten einen Gang gehabt, von dem nur sie selbst, Uther und der Bischof wussten. Außer ihm waren nun alle fort. Arthas schob den Wandteppich beiseite, um die kleine Tür dahinter freizulegen. Er ging hindurch und blockierte sie hinter sich.

Arthas rannte und taumelte die enge Wendeltreppe hinunter, die in die Freiheit führte. Die Tür war optisch und magisch getarnt, sodass sie genauso aussah wie die Hauptmauern des Palastes. Arthas keuchte, rüttelte am Schloss und stürzte in das schwache Licht von Tirisfal hinaus. Der Kampfeslärm erreichte seine Ohren. Er blickte auf und schnappte nach Luft. Er blinzelte, war verwirrt. Die Untoten… bekämpften einander.

Natürlich – einige von ihnen standen immer noch unter seinem Kommando. Waren immer noch seine Untertanen…

Seine Werkzeuge. Seine Waffen. Doch nicht seine Untertanen.

Er beobachtete sie einen Augenblick lang und lehnte sich dann gegen den kalten Stein. Eine Monstrosität unter der Kontrolle des Feindes riss einen langohrigen Kopf ab und schmiss ihn weg. Ekel ergriff Arthas beim Anblick der beiden untoten Parteien. Es waren verfaulende, madenverseuchte Wesen. Egal, wer sie auch kontrollierte, sie waren widerlich.

Plötzlich erblickte er einen Schimmer. Ein einsamer kleiner Geist, der einst ein halbwüchsiges Mädchen gewesen war, schwebte ängstlich vor ihm. Er hatte auch dieses Kind getötet, egal, ob nun direkt oder indirekt. Es gehörte zu seinen Untertanen. Dennoch schien es immer noch mit der Welt der Lebenden verbunden zu sein. Schien sich zu erinnern, was es einst bedeutet hatte, ein Mensch zu sein. Das konnte er ausnutzen. Er strecke die Hand zu dem schwebenden Geist aus, in den er das Mädchen aus Machtgier verwandelt hatte.

»Ich brauche deine Hilfe, kleiner Schatten«, sagte er und hob dabei seine Stimme an, um so freundlich wie möglich zu klingen. »Wirst du mich unterstützen?«

Ihr Gesicht erhellte sich und sie schwebte an seine Seite. »Ich lebe nur, um Euch zu dienen, König Arthas«, sagte sie. Ihre Stimme klang immer noch süß, trotz des hohlen Echos.

Er zwang sich zurückzulächeln. Es war leichter, wenn sie einfach nur verfaulendes Fleisch waren. Doch diese Methode hatte auch ihre Vorteile.

Durch reine Willenskraft rief er immer mehr Untote. Dabei strengte er sich derart an, dass er keuchte. Und sie kamen. Die wandelnden Toten würden dem Stärkeren dienen. Brüllend stürzte sich Arthas auf alle, die es wagten, sich seiner Bestimmung in den Weg zu stellen, für die er so teuer bezahlt hatte. Doch selbst als sich einige Untote an seiner Seite sammelten, erschienen andere, um ihn anzugreifen. Er war so schwach und hatte nur diese wandelnden Fleischklumpen, die ihn beschützten.

Arthas zitterte und keuchte, hob Frostgram mit Armen, die immer mehr ermatteten. Plötzlich bebte der Boden. Arthas wirbelte herum und sah drei Monstrositäten, die auf ihn zutaumelten.

Grimmig hob er Frostgram. Er, Arthas Menethil, König von Lordaeron, würde nicht kampflos fallen.

Plötzlich nahm er eine huschende Bewegung wahr und hörte schmerzerfüllte Schreie. Wie die Geister von Vögeln stürzten sich die Neuankömmlinge auf die Monstrositäten, die in ihrem Angriff auf Arthas innehielten und brüllend nach den geisterhaften Gestalten schlugen, während diese einfach in sie einzudringen schienen.

Die schleimigen weißen, madenhaften Kreaturen verharrten einen Augenblick und dann wandten sie sich gegen die wankenden Ghoule, die Arthas angriffen. Ein Lächeln breitete sich über das bleiche Gesicht des Todesritters aus. Dahinter steckten die Banshees. Er hatte vermutet, dass Sylvanas ihn zu sehr hasste, um ihm zu helfen, oder dass sie, wie so viele seiner Krieger, zum Feind übergelaufen war.

Doch scheinbar hatte der ehemalige Waldläufergeneral seinen Hass verdrängt.

Mithilfe der von den Banshees besessenen Monstrositäten wandte sich das Schlachtenglück und wenig später stand Arthas, von einer plötzlichen Schwäche durchdrungen, über einem Haufen Leichen, die wirklich tot waren. Die Monstrositäten griffen einander an und zerfetzten sich gegenseitig. Arthas fragte sich, ob ihre Schöpfer jemals wieder zusammennähen konnten, was von ihnen übrig geblieben war. Als sie zu Boden stürzten, wurden die Geister, die von ihnen Besitz ergriffen hatten, freigesetzt.

»Mein Dank ist Euch gewiss, Miladies. Ich bin froh, dass Ihr und Eure Herrin meine Verbündeten seid.«

Sie schwebten vor ihm, ihre Stimmen waren sanft und eindringlich. »In der Tat, großer König. Sie hat uns geschickt, um Euch zu helfen. Wir werden Euch über den Fluss geleiten. Danach werden wir in der Wildnis Zuflucht suchen.«

Die Wildnis – derselbe Begriff, den Kel’Thuzad benutzt hatte. Arthas entspannte sich noch mehr. Seine beiden Helfer waren offensichtlich einer Meinung. Er hob die Hand und konzentrierte sich. »Invincible, zu mir!«, rief er. Einen Augenblick später erschien ein kleiner, wirbelnder Nebelfleck, der schließlich die Gestalt des Skelettpferdes annahm. Einen Herzschlag später war Invincible tatsächlich da.

Arthas stellte zufrieden fest, dass der Zauber ihn nur wenig Anstrengung gekostet hatte. Invincible liebte ihn. Das war die eine Sache gewesen, die er im Leben völlig richtig gemacht hatte. Das einzige tote Wesen, das sich niemals gegen ihn stellen würde. Vorsichtig stieg er auf und tat sein Bestes, um seine Schwäche vor den Banshees und den anderen Untoten zu verbergen.

»Führt mich zu Eurer Herrin und Kel’Thuzad und ich werde Euch folgen«, sagte er.

Sie geleiteten ihn vom Palast tief in das Herz von Tirisfal hinein. Arthas bemerkte mit einer plötzlichen Beklemmung, dass der Pfad, den sie nahmen, unangenehm nah an Balnirs Hof vorbeiführen würde. Glücklicherweise drehten die Banshees rechtzeitig in einen hügeligeren Bereich ab und führten ihn dann durch ein weites, offenes Feld.

»Hier ist der Ort, Schwestern. Wir werden hier rasten, großer König.«

Von Sylvanas oder Kel’Thuzad war nichts zu sehen. Arthas zügelte Invincible und blickte sich um. Plötzlich ergriff ihn Besorgnis. »Warum hier?«, wollte er wissen. »Wo ist Eure Herrin?«

Der Schmerz kehrte plötzlich wieder. Er schrie und fasste sich an die Brust. Invincible tänzelte verängstigt und Arthas kämpfte um sein kostbares Leben. Die graugrüne Lichtung wurde vom blauweißen Licht des vereisten Thrones durchdrungen. Die Stimme des Lichkönigs erreichte sein Herz und Arthas unterdrückte ein Wimmern.

»Du wurdest betrogen! Komm sofort an meine Seite! Gehorche!«

»Was… geht hier vor?«, zischte Arthas durch zusammengebissene Zähne. Er blinzelte, zwang sich zu einem klaren Blick, hob die Hand und keuchte vor Anstrengung.

Sie trat hinter den Bäumen hervor und trug einen Bogen. Eine Sekunde lang glaubte Arthas, dass er zurück in Quel’Thalas sei und den lebenden Elfen gegenüberstand. Doch ihr Haar war nicht mehr golden, sondern schwarz wie die Nacht, von weißen Strähnen durchzogen. Ihre Haut war bleich, mit einem bläulichen Ton, und ihre Augen leuchteten silbern. Es war Sylvanas und doch war sie es nicht. Weil diese Sylvanas nicht lebendig, aber auch nicht feinstofflich war. Irgendwie hatte sie ihren Körper zurückerhalten. Dabei hatte er ihn doch sicher verschlossen in einem eisernen Sarg aufbewahrt, um ihn als zusätzliches Folterinstrument gegen sie zu verwenden.

Doch sie hatte den Spieß umgedreht.

Während er noch um Verständnis rang, hob Sylvanas ihren biegsamen schwarzen Bogen und zielte. Sie lächelte.

»Ihr seid mir genau in die Falle getappt, Arthas.«

Sie schickte den Pfeil los.

Er drang in seine linke Schulter ein, durchschlug die Rüstung einfach, als wäre sie dünn wie Papier, und fügte ihm so neue Schmerzen zu. Er war für einen Augenblick verwirrt – Sylvanas war eine meisterhafte Bogenschützin. Sie konnte ihn unmöglich auf diese Entfernung verfehlt haben. Warum also nur der Schuss in die Schulter? Arthas hob die rechte Hand, doch er stellte fest, dass er den Schaft nicht mit den Fingern umfassen konnte. Sie waren taub – genauso wie seine Beine, seine Füße…

Er schwang sich auf Invincibles Rücken und bemühte sich, auf dem Pferd sitzen zu bleiben, obwohl seine Gliedmaßen schnell nutzlos wurden. Er konnte kaum den Kopf drehen, um Sylvanas anzublicken und die Worte herauspressen: »Verräterin! Was habt Ihr mir angetan?«

Sie lächelte. Sie war glücklich. Langsam, beinahe schon träge, kam sie auf ihn zu. Sie trug dieselbe Kleidung wie an dem Tag, als er sie getötet hatte, und die viel von ihrer bleichen, blauweißen Haut enthüllte. Merkwürdigerweise waren keine Narben von den unzähligen Wunden zu sehen, die sie an jenem Tag erhalten hatte.

»Es ist ein speziell vergifteter Pfeil, den ich nur für Euch angefertigt habe«, sagte sie. Sie schob den Bogen auf den Rücken und zog einen Dolch. »Die Lähmung, die Ihr gerade spürt, ist nur ein Bruchteil der Qualen, die Ihr mir bereitet habt.«

Arthas schluckte. Sein Mund war staubtrocken. »Dann erledigt mich.«

Sie warf den Kopf zurück und lachte, hohl und gespenstisch. »Ein schneller Tod… so wie der, den Ihr mir zugestanden habt?« Ihre Fröhlichkeit verschwand so schnell, wie sie gekommen war, und ihre Augen funkelten rot. Sie kam immer näher, bis sie nur noch eine Armlänge von ihm entfernt war. Invincible tänzelte unsicher in ihrer Nähe und Arthas schlug das Herz bis zum Hals, als das Pferd beinahe ausrutschte.

»Oh nein. Ihr wart mir ein guter Lehrmeister, Arthas Menethil. Ihr habt mir beigebracht, wie närrisch es ist, seinen Feinden Gnade zu erweisen, und welche Freude es sein kann, sie zu foltern. Und so, mein Lehrer, werde ich Euch zeigen, dass ich diese Lektionen verstanden habe. Ihr werdet so sehr leiden, wie ich es getan habe. Und dank meines Pfeils könnt Ihr nicht einmal davonlaufen.«

Arthas’ Augen schienen das Einzige zu sein, was er bewegen konnte, und er musste hilflos mitansehen, wie sie den Dolch hob. »Grüßt mir die Hölle, Ihr Hurensohn.«

Nein. Nein, nicht so – nicht paralysiert und hilflos… Jaina…

Sylvanas taumelte plötzlich zurück. Die bleiche Hand, die den Dolch hielt, drehte und öffnete sich. Der Blick auf ihrem Gesicht zeigte äußerstes Erstaunen. Einen Herzschlag später materialisierte ein kleiner Schatten neben ihr, der bereits zuvor zu Arthas’ Rettung gekommen war, und lächelte bei dem Gedanken, dass sie bei der Rettung ihres Königs geholfen hatte. Sie war froh, dienen zu dürfen.

»Zurück, ihr hirnlosen Kreaturen! Ihr sollt heute nicht sterben, mein König!«

Kel’Thuzad. Er war wie versprochen gekommen und hatte Arthas gefunden, der von den verräterischen Banshee hierher gelockt worden war. Und er war nicht alleine erschienen. Über ein Dutzend Untote begleiteten ihn und warfen sich jetzt auf Sylvanas und ihre Banshees. Arthas fasste wieder Mut, doch er war immer noch paralysiert, konnte sich immer noch nicht bewegen. Er sah zu, wie der Kampf um ihn herum tobte, und nach wenigen Augenblicken war es offensichtlich, dass Sylvanas sich zurückziehen musste.

Sie warf ihm noch einen Blick zu und wieder leuchteten ihre Augen rot. »Es ist noch nicht vorbei, Arthas! Ich werde niemals aufhören, Euch zu jagen.«

Arthas blickte sie durchdringend an, als sie mit den Schatten zu verschmelzen schien. Das Letzte, was er von ihr sah, waren ihre roten Augen.

Nachdem ihre Herrin fort war, verschwanden die anderen Banshees unter Sylvanas’ Kontrolle ebenfalls. Kel’Thuzad eilte an Arthas’ Seite.

»Hat sie Euch etwas angetan, Herr?«

Arthas konnte ihn nur ansehen, die Paralyse war so weit fortgeschritten, dass er nicht einmal mehr die Lippen bewegen konnte. Knochige Hände legten sich mit überraschender Sachkenntnis um den Pfeil und zogen daran. Arthas unterdrückte einen Schmerzensschrei, als der Pfeil freikam. Sein rotes Blut war mit einer klebrigen schwarzen Substanz vermischt, die Kel’Thuzad sorgfältig untersuchte.

»Die Wirkung des Giftes wird mit der Zeit vergehen. Offensichtlich sollte es Euch nur paralysieren.«

Natürlich, überlegte Arthas. Ansonsten hätte sie den Dolch nicht gebraucht. Erleichterung durchfuhr ihn und machte ihn noch erschöpfter. Er war dem Tode nah – zu nah – gekommen. Wenn der Lich nicht so loyal gewesen wäre, hätte die Elfe ihn hier erledigt. Er versuchte, erneut zu sprechen, und schaffte es mit Mühe. »Ihr… habt mich… gerettet.«

Kel’Thuzad neigte den gehörnten Kopf. »Ich bin dankbar, dass ich Euch helfen konnte, mein König. Doch Ihr müsst schnellstens fort von hier, nach Nordend. Alle Vorbereitungen für die Reise wurden bereits getroffen. Braucht Ihr sonst noch etwas von mir?«

Kel’Thuzad hatte recht gehabt. Schon spürte Arthas, wie das Leben in seine Glieder zurückkehrte. Es reichte aber noch nicht aus, dass er aus eigener Kraft gehen konnte.

»Ich muss so schnell wie möglich den Lichkönig finden. Wenn noch mehr Zeit vergeht… Ich weiß nicht, was die Zukunft noch alles bereithält oder ob ich jemals zurückkomme. Doch ich möchte, dass du über dieses Land wachst. Kümmere dich darum, dass mein Erbe überdauert.«

Er vertraute dem Lich, nicht aus Zuneigung oder Loyalität, sondern aus kalter, harter Notwendigkeit. Kel’Thuzad war ein Untoter, an einen Herrn gebunden, dem sie beide dienten. Arthas’ Augen huschten zu dem kleinen Geist, der in seiner Nähe schwebte, und er lächelte. Dann blickte er zu den schlaffgesichtigen, verfaulenden Leichen, die ohne zu zögern über eine Klippe gesprungen wären, wenn er es ihnen befohlen hätte.

Sie waren nur totes Fleisch und stumpfe Geister. Keine Untertanen. Und sie waren es auch nie gewesen. Egal, was das Lächeln des kleinen Schattens auch verhieß.

»Ihr ehrt mich, mein Herr. Ich werde tun, was Ihr verlangt, König Arthas. Das werde ich.«


Sie hatte nun einen Körper, wie sie ihn einstmals ihr Eigen nannte, auch wenn er natürlich verändert war – so wie sie verändert worden war. Sylvanas bewegte sich mit demselben leichtfüßigen Schritt, den sie auch zu Lebzeiten hatte, und trug dieselbe Rüstung. Doch es war nicht dasselbe. Sie war für immer und unwiderruflich verändert.

»Ihr wirkt besorgt, Herrin.«

Sylvanas kam aus ihren Gedanken zurück und wandte sich der Banshee zu. Sie war eine von vielen. Sylvanas hätte ebenfalls leicht dahinschweben können, doch sie bevorzugte die Schwere der körperlichen Gestalt, die sie sich selbst zurückgestohlen hatte.

»Seid Ihr es nicht, Schwester?«, erwiderte sie knapp. »Erst vor ein paar Tagen waren wir noch die Sklaven des Lichkönigs. Wir existierten nur, um in seinem Namen zu töten. Und jetzt sind wir… frei.«

»Ich verstehe nicht, Herrin.« Die Stimme der Banshee klang hohl und verwirrt. »Unsere Willen gehören nun uns selbst. Habt Ihr nicht dafür gekämpft? Ich dachte, Ihr wärt überglücklich.«

Sylvanas lachte und war sich bewusst, dass sie gefährlich nah der Hysterie war. »Welche Freude läge in diesem Fluch? Wir sind immer noch untot, Schwester – immer noch Monstrositäten.« Sie streckte eine Hand aus, untersuchte das blaugraue Fleisch und bemerkte die Kälte, die sie wie eine zweite Haut umgab. »Was anderes sind wir, wenn nicht Sklaven dieser Folter?«

Arthas hatte so viel genommen. Selbst wenn sie seinen Tod in die Länge gezogen hätte, über einen Zeitraum von Tagen… Wochen… wäre es ihr doch nicht gelungen, Arthas angemessen leiden zu lassen. Sein Tod würde die Toten nicht zurückbringen, den Sonnenbrunnen nicht reinigen oder ihr einst helles Gemüt retten.

Doch es würde sich gut anfühlen… sehr gut.

Er war ihrer Falle bereits vor mehreren Tagen entkommen. Sein Lakai, der Lich, war genau im falschen Augenblick aufgetaucht. Arthas befand sich nun nicht mehr in ihrer Reichweite und versuchte, sich selbst zu heilen. Sie hatte erfahren, dass er Kel’Thuzad das Kommando über die verseuchten Länder gegeben hatte. Doch das war in Ordnung. Sie war tot. Sie hatte alle Zeit der Welt, um eine ausgefeilte Rache zu planen.

Aus den Augenwinkeln erspähte sie eine Bewegung und sie erhob sich anmutig, spannte den Bogen und legte traumwandlerisch sicher einen Pfeil auf. Das Portal öffnete sich und Varimathras stand dort und lächelte sie gönnerhaft an.

»Seid gegrüßt, Lady Sylvanas.« Der Dämon verneigte sich tatsächlich vor ihr. Sylvanas hob eine Augenbraue. Sie glaubte nicht einen Moment lang, dass er es ernst meinte. »Meine Brüder und ich wissen die Rolle zu würdigen, die Ihr beim Sturz von Arthas gespielt habt.«

Die Rolle, die sie gespielt hatte. Als wäre es eine Art von Theaterstück gewesen.

»Sturz? Ich vermute, so könnte man es nennen. Er ist geflohen, so viel steht fest.«

Das mächtige Wesen zuckte die Achseln, seine Flügel breiteten sich bei der Geste aus. »Wie auch immer. Er wird uns keine Schwierigkeiten mehr machen. Ich bin hier, um Euch eine förmliche Einladung zu überbringen, unserem neuen Bund beizutreten.«

Ein »neuer Bund«. Das war nichts wirklich Neues, überlegte sie. Dasselbe Joch, nur neue Herren. Sie hätte kaum weniger interessiert sein können.

»Varimathras«, sagte sie kalt. Sie verneigte sich nicht vor ihm. »Mein einziger Wunsch ist, Arthas zu töten. Nachdem ich bei meinem ersten Versuch versagt habe, werde ich nun meine Anstrengungen darauf konzentrieren, es beim nächsten Mal zu schaffen. Ich habe keine Zeit für belanglose Machtspielchen.«

Der Dämon beherrschte sich merklich. »Seid vorsichtig, Milady. Es wäre unklug, unseren Zorn zu wecken. Wir sind die Zukunft dieser… Pestländer. Ihr könnt Euch uns entweder anschließen oder beiseitegedrängt werden.«

»Ihr? Die Zukunft? Kel’Thuzad ist nicht mit Arthas fortgegangen. Er wurde aus einem Grund hier zurückgelassen. Doch vielleicht ist ein Lich, der aus der Essenz des mächtigen Sonnenbrunnens wiedergeboren wurde, nichts für Wesen, die so machtvoll wie Ihr seid.« Ihre Stimme troff vor Zorn und der Schreckenslord runzelte die Stirn.

»Ich habe lange genug als Sklave gelebt, Schreckenslord.« Es war nicht ohne Komik, jemanden das Wort »gelebt« benutzen zu hören, der eigentlich tot war. Alte Angewohnheiten starben nur langsam, so schien es. »Ich habe mich mit Zähnen und Klauen gewehrt, um etwas Besseres zu werden als das, was dieser Bastard aus mir gemacht hat. Nun habe ich meinen eigenen Willen und ich gehe meinen eigenen Weg. Ihr seid die letzten kümmerlichen Überreste Eures Volkes. Ihr seid eine aussterbende Art. Ich werde meine Freiheit nicht aufgeben, indem ich mich an Euch Narren kette.«

»So sei es«, zischte Varimathras. Er war wütend. »Unsere Antwort wird schon bald kommen.«

Er teleportierte sich weg, sein Gesicht war finster verzerrt.

Ihre Spitze hatte ihn getroffen und er bebte vor Wut, wie sie für sich vermerkte. Man konnte ihn leicht wütend machen. Man hatte den Dämon zu ihr geschickt, weil man sie für keine große Gefahr hielt.

Sylvanas würde mehr als eine Handvoll Banshees benötigen, um Arthas zu bekämpfen. Sie würde eine Armee brauchen, eine Stadt der Toten… sie würde Lordaeron brauchen.

Sie würde die Seelen, die wie sie nicht mehr atmeten, aber dennoch ihren eigenen Willen hatten, die Verlassenen nennen. Und ebenso schnell brauchte sie mehr geisterhafte Schwestern, um die drei dämonischen Brüder zu bekämpfen.

Oder vielleicht musste sie sich nur gegen zwei von ihnen stellen.

Sylvanas Windläufer überlegte erneut, wie leicht Varimathras manipuliert werden konnte.

Vielleicht war er ja noch nützlich… Ja. Sie und die Verlassenen würden ihren Weg in dieser Welt gehen… und jeden töten, der sich ihnen dabei in den Weg stellte.

23

Nordend. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Als würde man heimkehren.

Kaum dass die Küste in Sicht kam, erinnerte sich Arthas daran, wie er das erste Mal hergekommen war. Sein Herz war voller Schmerz gewesen wegen Jainas und Uthers Verrat, Schmerz wegen der Notwendigkeit des Massakers bei Stratholme. So viel war seitdem passiert, dass es sich anfühlte, als läge es ein ganzes Leben lang zurück.

Er war damals mit Rache im Herzen gekommen, um den Dämonenlord zu töten, der sein Volk in lebende Tote verwandelt hatte. Jetzt beherrschte er selbst die wandelnden Toten und war mit Kel’Thuzad verbündet.

Die Wege des Schicksals waren unergründlich.

Er spürte die Kälte nicht, wie er es damals getan hatte. Und ebenso erging es den Männern, die ihm so loyal folgten. Der Tod betäubte derartige Gefühle. Nur in den menschlichen Nekromanten sträubte sich alles gegen den eisigen, seufzenden Wind und den Schnee, der träge fiel, als sie Anker warfen und anlegten.

Arthas bewegte sich steif aus dem Ruderboot an den Strand. Zwar spürte er die Kälte dieses Ortes nicht, doch seine Kraft und sein physisches Selbst waren schwach. Sobald er den Boden berührte, spürte Arthas die Präsenz des Lichkönigs. Doch diesmal nicht in seinem Geist, nicht indem der Lichkönig durch Frostgram zu ihm sprach – obwohl das schwache Leuchten von Frostgram sich leicht verstärkte. Nein, Arthas spürte ihn, spürte seinen Herrn hier, wie er es noch nie zuvor getan hatte.

Es war das prickelnde Gefühl der aufziehenden Gefahr.

Er wandte sich an alle, die ihm an Land folgen würden – Ghoule, Geister, Schatten, Monstrositäten, Nekromanten. »Wir müssen uns beeilen«, rief er. »Etwas da draußen bedroht den Lichkönig. Wir müssen die Eiskrone schnellstens erreichen.«

»Milord!«, rief einer der Nekromanten und wies auf etwas.

Arthas wirbelte herum und zog Frostgram.

Durch den dicht fallenden Schnee konnte er rotgoldene Gestalten erkennen. Sie kamen näher und seine Augen verengten sich vor Überraschung und Wut, als er die Kreaturen erkannte. Ihm war klar, wer ihr Herr sein musste.

Drachenfalken.

Er war erstaunt. Er hatte die Elfen fast vollständig vernichtet. Wie konnte es sein, dass so viele überleben und sich auch noch neu organisieren konnten? Und wie hatten sie herausgefunden, wo er sich gegenwärtig befand? Ein Lächeln bildete sich auf seinen schönen Zügen und er empfand Bewunderung.

Die Drachenfalken kamen näher. Er hob Frostgram zum Gruß.

»Ich muss zugeben«, rief er, »dass ich überrascht bin, die Quel’dorei hier anzutreffen. Ich dachte immer, dass die Kälte für so ein feinfühliges Volk unerträglich sei.«

»Prinz Arthas!«, rief einer der Reiter, die Stimme klang klar, hell und stark. Sein Tier schwebte über Arthas. »Wir sind auch keine Quel’dorei. Wir sind die Sin’dorei – die Blutelfen! Wir haben geschworen, die Geister von Quel’Thalas zu rächen. Dieses tote Land… wird von Euch gereinigt werden! Die abscheulichen Wesen, die Ihr geschaffen habt, werden schließlich doch noch ruhen, wie es ihnen bestimmt ist. Und Ihr, Schlächter, werdet Eure gerechte Strafe erhalten.«

Einen Moment lang war Arthas amüsiert. Ihre Anzahl war nicht unerheblich. Arthas erkannte, dass er wohl auf die letzten Vertreter eines beinahe ausgestorbenen Volkes blickte. Und sie alle waren nur seinetwegen hier. Dann verschwand dieser selbstgefällige Gedanke und verwandelte sich in Wut. Trotz seines geschwächten Zustands war seine Stimme zornerfüllt, als er rief: »Nordend gehört der Geißel, Elf, und Ihr werdet Euch ihr bald anschließen. Ihr habt einen schrecklichen Fehler gemacht, herzukommen!«

Weitere Drachenfalken erschienen, zusammen mit Waldläufern. Pfeile flogen durch die Luft, zahllos wie Schneeflocken, und durchstießen die Untoten, als die Elfen angriffen. Dennoch richtete dieser Angriff nur wenig aus. Solange ein Pfeil keine lebenswichtige Stelle traf, wurden die Skelette davon nicht aufgehalten.

Ohne auch nur Invincible zu besteigen, stürmte Arthas vor. Frostgram hatte Hunger. Es schien mit jeder hell leuchtenden Seele, die es verschlang, Energie und Stärke zu sammeln, so wie auch Arthas. In der Mitte der Schlacht hörte er eine Stimme, so tief und kalt wie Nordend selbst, vom Hügel her erklingen.

»Vorwärts mit der Geißel! Schlagt sie in Ner’zhuls Namen!«

Trotz allem, was er bereits erlebt hatte, erschauderte Arthas beim Klang der eiskalten Stimme. Er wagte einen Blick nach oben und seine Augen weiteten sich.

Neruber! Nordend war ihre Heimat. Arthas’ Herz hob sich, als sie heranströmten. Er konnte ihre Körper deutlich durch den Schneefall erkennen. Er erkannte die vertraute und dennoch beunruhigende Geschwindigkeit, mit der sich die Spinnenwesen auf ihre Beute stürzten. Arthas musste diese sogenannten Sin’dorei bewundern – sie kämpften tapfer. Doch sie waren hoffnungslos in der Unterzahl und bald stand Arthas in einem Meer von rotgolden gekleideten Leichen. Er hob die Hand und ein toter Elf nach dem anderen kam auf die Beine und schaute ihn mit glasigem Blick an.

»Weitere Soldaten für unseren Herrn«, sagte Arthas. Er blickte erneut auf und entdeckte den Anführer der Neruber.

Er war größer als seine Untergebenen, überragte sie, als er sich leichtfüßig über die schneebedeckte Landschaft auf Arthas zubewegte. Er bewegte sich wie der König, der er war, mit Besonnenheit und Präzision. Arthas versuchte, etwas Vertrautes in einem derart fremden Wesen zu erkennen. Anub’arak wirkte wie eine Kreuzung aus einem Käfer und einem der normalen, spinnenähnlichen Neruber. Arthas stellte fest, dass er einen unbewussten Schritt zurück getan hatte, und zwang sich dort stehen zu bleiben, wo er war.

Anub’arak kam näher, bis er direkt vor ihm stehen blieb. Er blickte den Prinzen gleichzeitig aus mehreren Augen an, ein schreckliches Wesen. »Danke für die Hilfe, oh Mächtiger.«

Die Kreatur neigte den Kopf, die Mandibeln klackten leise, als sie in einem tiefen, düsteren Tonfall sprach, der bei Arthas Unbehagen auslöste. »Der Lichkönig hat mich geschickt, um dir zu helfen, Todesritter. Ich bin Anub’arak, der uralte König von Azjol-Nerub. Wo ist der andere?« Er stellte sich auf die Hinterbeine und sah sich um.

»Welcher andere?«

»Kel’Thuzad«, zischte Anub’arak wieder mit seufzender, nachhallender Stimme. Er beugte sich herab und fixierte Arthas mit seinem vieläugigen Blick. »Ich kenne ihn. Ich hieß ihn willkommen, als er sich dem Lichkönig anschloss, so wie ich Euch jetzt willkommen heiße.«

Arthas fragte sich, ob Kel’Thuzad sich bei seiner ersten Begegnung mit diesem untoten, insektoiden König eines alten Volkes auch so unwohl gefühlt hatte. Sicherlich hatte er das, beruhigte Arthas sich selbst. Jeder würde so empfinden.

»Euer Volk war eine willkommene Stärkung unserer Reihen, als wir diese Elfen das erste Mal angriffen«, sagte er und blickte auf die gefallenen Sin’dorei. Er war sehr froh, dass Anub’araks »Volk« auf seiner Seite stand. »Und ich heiße Eure Hilfe erneut willkommen. Doch wir haben wenig Zeit für Höflichkeiten. Wenn der Lichkönig Euch geschickt hat, dann wisst Ihr auch, dass er in Gefahr ist. Wir müssen so schnell wie möglich die Eiskrone erreichen.«

»So ist es«, zischte Anub’arak. Er drehte den furchterregenden Kopf ruckartig herum und streckte seine beiden Vorderbeine aus. »Ich werde den Rest meines Volkes sammeln und gemeinsam werden wir unseren Herrn beschützen.«

Die riesige Kreatur entfernte sich gebieterisch und rief ihre gehorsamen Untertanen, die eifrig zu ihr eilten. Arthas unterdrückte ein Schaudern und tippte mit der Fußspitze einen der Leichname der gefallenen Elfen an. Er war zerfetzt worden und zu stark verletzt, um noch von Nutzen zu sein. »Diese Elfen sind erbärmlich. Es ist kein Wunder, dass wir ihre Heimat so leicht vernichten konnten.«

»Eine Schande, dass ich nicht dort war, um Euch aufzuhalten. Es ist lange her, Arthas.«

Die Stimme klang so musisch, sanft, kultiviert… und war dennoch so sehr von Hass durchdrungen. Arthas wandte sich um, erkannte sie und war gleichermaßen erschreckt wie erfreut, ihn hier anzutreffen. Die Wege des Schicksals waren tatsächlich unergründlich.

»Prinz Kael’thas«, sagte er grimmig. Der Elf stand nur ein paar Meter von ihm entfernt, das Schimmern des Teleportzaubers verschwand gerade erst. Er schien alterslos zu sein und wirkte noch genauso, wie Arthas ihn in Erinnerung hatte. Nein, das stimmte nicht ganz. Die blauen Augen glommen vor unterdrückter Wut. Es war nicht die heiße Wut, die er beim letzten Mal erlebt hatte, als sie aufeinandergetroffen waren, sondern kalter, tief sitzender Zorn. Er trug nicht mehr die violetten und blauen Roben der Kinn Tor, sondern das traditionelle Rot seines Volkes.

»Arthas Menethil.«

Der Elf benutzte Arthas’ Titel nicht, offenbar, um ihn zu demütigen. Doch Arthas ließ sich davon nicht beeindrucken. Er wusste gut genug, wer er war, und bald würde dieses hübsche Prinzchen es auch wissen.

»Ich würde allein beim Gedanken an Euren Namen ausspucken. Doch Ihr seid selbst das nicht wert.«

»Ah, Kael«, sagte Arthas lächelnd. »Selbst Eure Beleidigungen sind unnötig kompliziert. Schön, dass Ihr Euch nicht geändert habt – so uneffektiv wie immer. Das bringt mich zu einer Frage: Warum wart Ihr eigentlich nicht in Quel’Thalas? Hat es Euch gereicht, dass andere für Euch starben, während Ihr sicher und geborgen in Eurer violetten Zitadelle gesessen habt? Ich glaube, das tut Ihr jetzt nicht mehr.«

Kael’thas presste die Lippen aufeinander, seine Augen zogen sich zusammen. »So viel will ich Euch sagen. Ich hätte dort sein sollen. Doch ich habe stattdessen versucht, den Menschen dabei zu helfen, die Geißel zu bekämpfen – die Geißel, die Ihr auf Euer eigenes Volk gehetzt habt. Ihr mögt Euch um Eure Untertanen nicht sorgen, doch ich sorge mich um meine. Ich habe viel zu viel dabei verloren, als ich den Menschen half. Ich stehe jetzt nur noch für die Elfen. Für die Sin’dorei – die Kinder des Blutes. Ihr werdet dafür bezahlen, Arthas. Ihr werdet teuer bezahlen für das, was Ihr uns angetan habt!«

»Wisst Ihr, beinahe genieße ich dieses Geplänkel. Es ist lange her, nicht wahr? Ich habe Euch nicht mehr gesehen, seit…« Er ließ den Satz ausklingen und sah, dass ein Muskel am Auge des Prinzen zuckte. Ja, Kael’thas erinnerte sich daran. Erinnerte sich daran, wie er Jaina und Arthas bei ihrem innigen Kuss überrascht hatte. Diese Erinnerung erschreckte Arthas jedoch selbst und die Genugtuung, die er daraus zog, dass er Kael’thas quälte, schwand. »Dennoch bin ich von Euren Elfen enttäuscht. Ich hatte auf einen besseren Kampf gehofft. Vielleicht habe ich alle schlauen Elfen bereits in Quel’Thalas getötet?«

Kael schluckte den Köder nicht. »Was Euch hier gegenübergetreten ist, war nur eine Gruppe von Kundschaftern. Keine Angst, Arthas, in Kürze bekommt Ihr Eure Herausforderung. Ich versichere Euch, dass es Euch deutlich schwerer fallen wird, Lord Illidans Armee zu besiegen.« Die vollen Lippen des Prinzen verzogen sich vor Freude, als Arthas bei dem Namen aufhorchte.

»Illidan? Er steckt hinter dieser Invasion?« Verdammt. Es wäre besser gewesen, wenn er Tichondrius selbst getötet hätte, statt die Kaldorei darin zu verwickeln. Er hatte gewusst, dass Illidan machthungrig war. Doch er hatte nicht geglaubt, dass der Nachtelf sich zu so einer großen Gefahr entwickeln würde.

»Das stimmt. Unsere Streitkräfte sind zahlreich, Arthas.« Die seidige Stimme triumphierte vor Freude. Der Bastard genoss dies wirklich. »In diesem Augenblick marschieren sie auf den Eiskronengletscher zu. Ihr werdet niemals rechtzeitig dort eintreffen, um Euren Lichkönig zu retten. Betrachtet das als den Preis für Quel’Thalas… und einige andere Beleidigungen.«

»Andere Beleidigungen«, lächelte Arthas. »Vielleicht wollt Ihr Details über diese anderen Beleidigungen hören. Soll ich Euch verraten, wie es war, sie in meinen Armen zu halten, zu hören, wie sie meinen…«

Diesmal war der Schmerz schlimmer als zuvor.

Arthas stürzte auf die Knie. Sein Blick wurde rot. Wieder sah er den Lichkönig – Ner’zhul hatte Anub’arak ihn genannt –, der in seinem eisigen Gefängnis gefangen war.

»Beeil dich!«, schrie der Lichkönig. »Meine Feinde kommen immer näher! Unsere Zeit ist beinahe abgelaufen!«

»Geht es Euch gut, Todesritter?«

Arthas blinzelte und stellte fest, dass er direkt in Anub’araks Gesicht – oder wie man es sonst nennen sollte – blickte. Ein langes spinnenartiges Bein war zu ihm ausgestreckt und bot ihm Hilfe an. Er zögerte, doch er war zu schwach, um alleine aufzustehen. Er riss sich zusammen, nahm das Bein an und erhob sich. Es fühlte sich wie ein Stock in seiner Hand an, trocken und beinahe mumifiziert. Sobald er selbst stehen konnte, ließ Arthas wieder los.

»Meine Kräfte werden schwächer, doch mir geht es gut.« Er atmete tief ein, um sich zu beruhigen, und sah sich um. »Wo ist Kael’thas?«

»Fort.« Die Stimme war kalt wie Stein. Unmut schwang darin. »Er hat seine Magie benutzt, um sich fortzuteleportieren, bevor wir ihn in Stücke reißen konnten.«

Wieder der feige Magiertrick der Teleportation. Wenn nur Arthas’ Nekromanten ihn auch beherrscht hätten, dann wäre der Lichkönig nicht mehr in Gefahr.

Arthas rief die anderen Leichname zusammen und erkannte, dass sie tatsächlich Kael’thas Untergang gewesen wären.

»Ich gebe es ungern zu«, begann er, »doch der verdammte Elf hatte recht.« Er wandte sich an seinen furchterregenden Verbündeten. »Anub’arak, ich hatte eine weitere Vision. Der Lichkönig ist in akuter Gefahr. Die Feinde – Illidan und Kael’thas – nähern sich ihm. Wir werden den Gletscher niemals rechtzeitig erreichen!«

Ich habe versagt…

Anub’arak schien das nicht im Geringsten zu stören. »Über Land vielleicht nicht«, stimmte ihm die riesige Kreatur zu. »Es ist ein langer und beschwerlicher Weg. Doch… da gibt es einen anderen Weg, den wir nehmen könnten, Todesritter. Das alte untergegangene Königreich von Azjol-Nerub liegt tief unter uns. Dort habe ich einst viele Jahre lang geherrscht. Obwohl es in dunklen Tagen gefallen ist, könnte es als Abkürzung zum Gletscher nützen.«

Arthas blickte auf. Auf dem Luftweg, den ein Rabe nehmen würde, war der Weg nicht so lang. Doch über das Eis und die Berge, die sich vor ihm auftürmten…

»Seid Ihr Euch sicher, dass wir den Gletscher durch diese Tunnel erreichen können?«, fragte er.

»Nichts ist sicher, Todesritter.« Einen Augenblick lang wirkte es so, als würde der Neruber lächeln. »Die Ruinen sind gefährlich. Doch es ist das Risiko wert.«

In dunklen Zeiten gefallen. Ein merkwürdiger Ausdruck für einen alten, toten Spinnenherrscher. Arthas fragte sich, was das wohl bedeutete.

Er vermutete, dass er es bald herausfinden würde.

Anub’arak und seine Untertanen legten ein scharfes Tempo vor und eilten nach Norden. Arthas und seine Geißelkrieger schlossen sich ihnen an und bald schon hatten sie den Ozean hinter sich zurückgelassen. Die niedrig stehende Sonne bewegte sich schnell über den fahlen Himmel. Die lange Nacht kam. Während sie weitermarschierten, schickte Arthas einige seiner Krieger aus, um Äste einzusammeln. Sie würden als Fackeln auf ihrem Weg durch das gefährliche unterirdische Königreich dienen.

Nach mehreren Stunden eines quälend langsamen Vorwärtskommens – die Untoten konnten die Kälte nicht wirklich spüren, doch der Wind und der Schnee verlangsamten sie dennoch – wusste Arthas, dass trotz Anub’araks fast ironischen Worten eine Sache tatsächlich verstand: Er hätte es niemals rechtzeitig geschafft, den Lichkönig zu retten – und so letztlich sich selbst –, wenn er über das offene Land gezogen wäre. Im Prinzip war es der reine Selbsterhalt, der ihn so hart antrieb. Der Lichkönig hatte ihn gefunden und zu dem gemacht, was er jetzt war. Er hatte ihm große Macht gegeben. Arthas wusste und schätzte es, doch seine Sorge um den Lichkönig hatte nichts mit Loyalität zu tun. Wenn dieses große Wesen getötet wurde, dann würde zweifelsfrei Arthas als Nächster sterben. Doch er wollte, wie er es bereits Uther gesagt hatte, für immer leben.

Schließlich erreichten sie die Tore. Sie waren derart von Eis und Schnee bedeckt, dass Arthas sie nicht sofort als solche erkannte. Doch Anub’arak blieb stehen, bäumte sich auf, spreizte zwei seiner acht Beine weit und zeigte, was vor ihnen lag.

Gekrümmte Steine, die wie Sicheln aussahen – oder Insektenbeine, überlegte Arthas – standen nach oben vor. Ihre Spitzen ragten aufeinander zu und bildeten eine Art Tunnel. Vor ihnen konnte er die Tore selbst erkennen. Eine riesige Spinne war darauf eingraviert. Arthas Lippen verzogen sich vor Ekel, doch dann dachte er an die Statuen, die über Sturmwind verteilt waren. War das wirklich so anders? Der »Eingangstunnel« und die Tore führten in das Herz dessen, was ein Eisberg zu sein schien. Einen Moment lang, nur einen einzigen Moment, blickte Arthas auf die stumme, riesige Gestalt von Anub’arak, dachte an Spinnen und Fliegen und fragte sich, ob er das Richtige tat.

»Seht Ihr den Eingang zu einem vormals mächtigen und uralten Ort?«, fragte Anub’arak. »Einst war ich hier der Herrscher und mein Wort galt uneingeschränkt. Ich war mächtig und stark und ich beugte mich niemandem. Doch die Dinge ändern sich. Jetzt diene ich dem Lichkönig und ich muss ihn verteidigen.«

Arthas dachte kurz an seine eigene Empörung wegen der Seuche, an das brennende Verlangen nach Rache… an den Blick in den Augen seines Vaters, als Frostgram dessen Seele verschlang.

»Die Dinge ändern sich«, sagte er leise. »Doch jetzt ist keine Zeit für Sentimentalitäten.« Er wandte sich seinem merkwürdigen neuen Verbündeten zu und lächelte kalt. »Lasst uns hinabsteigen.«

24

Arthas wusste nicht, wie lange sie sich unter der gefrorenen Oberfläche von Nordend aufgehalten hatten, in dem alten und tödlichen Königreich der Neruber. Als er blinzelnd wie eine Fledermaus hinaus ins Licht trat, wusste er nur zwei Dinge: Zum einen hoffte er, noch rechtzeitig zur Rettung des Lichkönigs zu kommen. Zum anderen war er aus tiefster Seele dankbar, dass er diesem Ort entkommen war.

Das Königreich der Neruber musste einst ein wunderbarer Ort gewesen sein. Arthas wusste nicht, was genau er erwartet hatte. Jedenfalls nicht die eindringlichen, lebendigen blauvioletten Farben und auch nicht die komplexen geometrischen Formen, die einige Räume und Gänge auszeichneten. Sie hatten sich einen Hauch ihrer ursprünglichen Schönheit bewahrt, doch wie eine getrocknete Rose wirkten sie dennoch tot. Ein merkwürdiger Geruch durchdrang den Ort, während sie weitergingen. Arthas konnte ihn nicht zuordnen, er war gleichzeitig stechend und schal. Doch nicht unangenehm. Zumindest nicht für jemanden, der an die Gesellschaft verfaulender Toter gewöhnt war.

Schließlich hatte sich der Weg tatsächlich als Abkürzung erwiesen, wie Anub’arak es vorausgesagt hatte. Doch jeder Schritt hatte einen hohen Blutzoll gefordert. Schon bald, nachdem sie eingetreten waren, waren sie angegriffen worden.

Sie kamen aus der Finsternis, ein Dutzend oder mehr Spinnenwesen fiepten wütend, während sie sich auf die Eindringlinge stürzten. Anub’arak und seine Krieger nahmen den Kampf augenblicklich auf.

Arthas hatte den Bruchteil einer Sekunde lang gezögert, dann hatte auch er seinen Trappen den Angriff befohlen. Die großen Höhlen waren erfüllt vom Kreischen und Fiepen der Neruber, dem gutturalen Grunzen der Untoten und den schmerzerfüllten Schreien der Nekromanten, als die Neruber sie mit Gift angriffen. Dicke, klebrige Gespinste fingen einige der Untoten ein und sie mussten hilflos miterleben, wie die Spinnengegner ihnen die Köpfe mit ihren Mandibeln abtrennten oder die messerscharfen Beine benutzten, um sie aufzuspießen und auszuweiden.

Anub’arak war der leibhaftige Albtraum. Er stieß ein schreckliches hohles Geräusch in seiner gutturalen Sprache aus und stürzte sich auf seine ehemaligen Untertanen – mit verheerenden Folgen. Seine Beine schienen allesamt unabhängig voneinander zu agieren und er spießte seine glücklosen Opfer damit auf. Die bösartig wirkenden Greifer trennten Gliedmaßen ab. Die ganze Zeit war die abgestandene Luft derart von Schreien erfüllt, dass selbst Arthas erzitterte.

Der Kampf war erbarmungslos und verlustreich, doch schließlich zogen sich die Neruber in die Schatten zurück, aus denen sie gekommen waren. Sie hatten mehrere der ihren zurückgelassen. Deren acht Beine zappelten wild, bevor die Spinnenwesen sich einrollten und starben.

»Worum zum Teufel geht es hier eigentlich?«, keuchte Arthas und wirbelte zu Anub’arak herum. »Diese Neruber gehören zu Eurer Art. Warum haben sie uns angegriffen?«

»Viele von uns, die während des Kriegs der Spinne fielen, wurden wiederbelebt, um dem Lichkönig zu dienen«, antwortete Anub’arak. »Diese Krieger aber«, und er wies mit dem Vorderbein auf einen der Leichname, »starben niemals. Dummerweise kämpfen sie immer noch, um Nerub von der Geißel zu befreien.«

Arthas blickte auf die toten Neruber hinab. »Wirklich dumm«, murmelte er und hob eine Hand. »Im Tod dienen sie nun demjenigen, den sie im Leben bekämpften.«

Als er schließlich in das schwache Licht der überirdischen Welt hinaustrat und die kalte, saubere Luft einatmete, war seine Armee mit neuen, frisch verstorbenen Rekruten aufgefüllt, die ihm allesamt bedingungslos gehorchten.

Arthas ließ Invincible anhalten. Er zitterte und wollte einfach nur ein Weilchen rasten und die frische Luft genießen.

Die Luft wurde schnell vom verfaulten Gestank seiner eigenen Armee verpestet. Anub’arak kam vorbei, blieb stehen und blickte ihn einen Moment lang unerbittlich an.

»Keine Zeit, um auszuruhen, Todesritter. Der Lichkönig braucht uns. Wir müssen ihm dienen.«

Arthas warf dem Gruftlord einen Blick zu. Der Tonfall des Wesens deutete auf so etwas wie Unmut hin. Diente Anub’arak dem Lichkönig nur, weil er es musste? Würde er sich gegen den Lichkönig wenden, wenn er es könnte? Oder, noch wichtiger, würde er sich gegen Arthas wenden?

Die Kräfte des Lichkönigs schwanden – und so auch die von Arthas. Wenn sie beide schwach genug waren…

Der Todesritter beobachtete, wie der Gruftlord sich entfernte. Er atmete tief ein und aus. Dann folgte er ihm.


Arthas wusste nicht mehr, wie lange sie durch den dichten Schnee und die tobenden Winde gezogen waren. Irgendwann verlor er fast das Bewusstsein, so schwach war er. Nur mit Mühe kam er weiter. Seine eigene Schwäche erschreckte ihn, doch er zwang sich zum Durchhalten. Er durfte nicht versagen, nicht jetzt.

Sie überquerten einen Hügel und Arthas sah den Gletscher in der Mitte des Tals – und die Armee, die ihn dort erwartete. Beim Anblick so vieler Krieger, die nur hier waren, um ihn und den Lichkönig zu bekämpfen, erwachten seine Lebensgeister wieder.

Anub’arak hatte zuvor zahlreiche seiner Kämpfer hier zurückgelassen und sie warteten nun auf ihn, stoisch und bereit. Weiter unten, näher am Gletscher, erblickte er ganz andere umhereilende Gestalten. Er war zu weit entfernt, um sie zu erkennen, doch er wusste, wer diese Leute sein mussten. Sein Blick wanderte nach oben und er hielt den Atem an.

Da war der Lichkönig, tief im Gletscher. Eingesperrt in seinem Gefängnis. Arthas hatte ihn in seinen Visionen gesehen. Er hörte nur mit halbem Ohr zu, als die Neruber zu Anub’arak und Arthas eilten, um sie über die Situation aufzuklären.

»Ihr seid zur rechten Zeit gekommen. Illidans Streitkräfte haben ihre Positionen am Fuß des Gletschers eingenommen und…«

Arthas schrie, als ihn der schlimmste Schmerz erfasste, den er je erlebt hatte. Erneut wurde seine Welt blutrot, als die Krämpfe durch seinen Körper fuhren. So nah beim Lichkönig war die Qual, die er mit dem großen Wesen teilte, hundertfach schlimmer.

»Arthas, mein Held. Du bist schließlich gekommen.«

»Herr«, flüsterte Arthas, seine Augen waren geschlossen und er hatte die Finger gegen die Schläfen gedrückt. »Ja, ich bin gekommen. Ich bin hier.«

»In meinem Gefängnis ist ein Riss, der vereiste Thron und meine Energien sickern daraus hervor«, fuhr der Lichkönig fort. »Deshalb schwinden deine Kräfte.«

»Doch wie kann das sein?« Hatte ihn jemand angegriffen? Arthas sah keinen unmittelbaren Feind, sicherlich war er nicht zu spät gekommen…

»Die Runenklinge, Frostgram, war einst in dem Thron eingeschlossen. Ich stieß sie aus dem Eis, damit sie ihren Weg zu dir finden konnte… und dich so letztlich zu mir führte.«

»Ich… verstehe«, hauchte Arthas.

Der Lichkönig war reglos im Eis gefangen. Er musste das große Schwert mit reiner Willenskraft durch die gefrorene Schicht bewegt und es zu Arthas gesandt haben.

Jetzt erinnerte er sich wieder daran, wie das Eis, in dem Frostgram steckte, damals ausgesehen hatte – es hatte wie zerbrochen gewirkt, als würde es zu einem größeren Stück gehören. So viel Macht… gebündelt, um Arthas hierher zu bringen. Schritt für Schritt war Arthas hergeführt worden. Geleitet. Kontrolliert…

»Du musst dich beeilen, mein Held. Mein Schöpfer, der Dämonenlord Kil’jaeden, hat seine Untergebenen ausgeschickt, um mich zu vernichten. Wenn sie den vereisten Thron vor dir erreichen, ist alles verloren. Die Geißel wird vernichtet sein. Nun eile dich! Ich werde dir alle Macht überlassen, die ich erübrigen kann.«

Plötzlich begann eine eisige Kraft Arthas zu durchströmen, dämpfte die Wut, den rauen Schmerz, beruhigte seine Gedanken. Die Energie war so groß, so berauschend… sie war mächtiger als alles, was Arthas je erlebt hatte. Das war es, wofür er hier war. Um diesen eisigen Luftzug zu trinken, um die kalte Stärke des Lichkönigs in sich aufzunehmen.

Er öffnete die Augen und sein Blick war klar. Frostgrams Runen erwachten zu neuem Leben, ein kühler Nebel drang daraus hervor. Feurig lächelnd nahm Arthas die Klinge und hob sie hoch. Als er sprach, klang seine Stimme voll und klar und wurde durch die frische Luft getragen.

»Ich hatte eine weitere Vision vom Lichkönig. Er hat meine Kräfte wiederhergestellt! Ich weiß jetzt, was zu tun ist.« Er zeigte mit Frostgram auf die winzigen Gestalten in der Ferne. »Illidan hat die Geißel lang genug verhöhnt. Er versucht, Einlass zum Thronsaal des Lichkönigs zu erhalten. Er wird scheitern. Es ist an der Zeit, dass wir ihn die Furcht vor dem Tod lehren. Es ist an der Zeit, das Spiel zu beenden… ein für alle Mal.«

Mit einem leidenschaftlichen, herausfordernden Schrei schwang er Frostgram über den Kopf. Es sang, begierig nach Seelen.

»Für den Lichkönig!«, rief Arthas und stürmte seinen Feinden entgegen.

Er fühlte sich wie ein Gott, als er Frostgram mit fast nachlässiger Leichtigkeit führte. Jede Seele, die es nahm, stärkte ihn. Sollten die Pfeile der Blutelfen doch wie Schnee auf sie herabregnen. Seine Gegner fielen wie der Weizen unter der Sense.

Plötzlich blickte Arthas über das Schlachtfeld. Wo war der Mann, den er töten musste? Er konnte bislang keine Spur von Illidan entdecken. War es möglich, dass er bereits Zutritt zu dem…

»Arthas! Arthas, dreht Euch um und kämpft mit mir, verdammt sollt Ihr sein!«

Die Stimme war klar und rein und voller Hass. Und Arthas wandte sich um.

Der Elfenprinz stand nur ein paar Meter von ihm entfernt. Das Rot und Gold seiner Rüstung war gegen die gnadenlose Helligkeit des Schnees so strahlend wie Blut. Sein Blick war auf Arthas fixiert. Knisternde Magie umgab ihn.

»Euer Weg endet hier, Schlächter.«

Ein Muskel zuckte nahe Arthas’ linkem Auge. So hatte Sylvanas ihn auch genannt. »Tssss«, machte er und lächelte den Elfen an, der einst so mächtig und stark auf den jungen Menschenprinzen gewirkt hatte. Seine Gedanken wanderten zurück zu jenem Augenblick, als Kael Arthas und Jaina beim Küssen überrascht hatte. Der Junge, der Arthas damals gewesen war, hatte gewusst, dass er dem älteren, viel mächtigeren Magier unterlegen war.

Doch jetzt war Arthas kein Junge mehr.

»Nachdem Ihr bei unserer letzten Konfrontation so feige verschwunden seid, bin ich doch überrascht, Euch hier anzutreffen, Kael. Seid nicht böse, dass ich Euch Jaina gestohlen habe. Ihr solltet das vergessen und weiterleben. Immerhin gibt es noch so viele Dinge auf der Welt, die Ihr genießen könnt. Oh, wartet… nein, da ist ja gar nichts mehr.«

»Fahrt zur Hölle, Arthas Menethil«, zischte Kael’thas vor Wut bebend. »Ihr habt mir alles genommen, was mir wichtig war. Jetzt bleibt mir nur noch die Rache.«

Er verschwendete keine weitere Zeit damit, seiner Wut freien Lauf zu lassen, stattdessen hob er seinen Stab. Der Kristall an der Spitze leuchtete hell und ein Feuerball knisterte in seiner freien Hand. Einen Herzschlag später schoss er auf Arthas zu. Gleichzeitig regneten Eissplitter auf den Todesritter herab.

Kael’thas war ein Meistermagier und viel schneller als jeder, dem Arthas zuvor begegnet war. Er konnte Frostgram kaum rechtzeitig hochreißen, um die anbrandende feurige Kugel abzuwehren. Der Frostsplitter dagegen entledigte er sich mit Leichtigkeit. Er hob die große Runenklinge über den Kopf und das Schwert zog die Eissplitter wie ein Magnet an. Lächelnd wirbelte Arthas das Schwert und schickte die Eisstücke zu dem Elfenprinzen zurück. Er war von Kael’thas Geschwindigkeit überrascht worden, doch diesen Fehler würde er nicht noch einmal begehen.

»Ihr solltet noch einmal über mich und das Eis nachdenken, Kael«, sagte er lachend. Er musste den Magier reizen, damit er überhastet handelte. Kontrolle war der Schlüssel zur Manipulation von Magie. Und wenn Kael seine Geduld verlor, würde er zweifelsfrei den Kampf verlieren.

Kael zog die Augen zusammen. »Danke für den Hinweis«, knurrte er.

Arthas straffte die Zügel und bereitete sich darauf vor, seinen Gegner niederzureiten. Doch in dieser Sekunde glühte der Schnee unter ihm in hellem Goldgelb auf und wurde dann zu Wasser. Invincible sank plötzlich ein und seine Hufe rutschten über den glatten Boden.

Arthas sprang ab und entließ das Tier. Er umfasste Frostgram mit neuer Entschlossenheit und streckte seine linke Hand aus. Ein dunkler Ball aus wirbelnder grüner Energie formte sich auf der flachen Handfläche und schoss schnell wie ein Pfeil auf Kael zu. Der Magier wollte kontern, doch der Angriff kam zu plötzlich. Sein Gesicht wurde etwas bleicher und er taumelte zurück. Kael’thas fasste sich ans Herz. Arthas lächelte, als etwas von der Energie des Magiers nun ihn durchfloss.

»Ich nahm Euch Eure Frau«, sagte er und versuchte wieder, den Magier zu provozieren, obwohl er wusste, dass Jaina dem Elfen niemals gehört hatte. Das wusste der auch. »Ich hielt sie des Nachts in meinen Armen. Sie schmeckte süß, als ich sie küsste, Kael. Sie…«

»… hasst Euch jetzt«, vollendete Kael’thas den Satz. »Ihr macht sie krank und sie ist von Euch angewidert, Arthas. Alles, was sie seitdem für Euch empfunden hat, hat sich in Hass verwandelt.«

Arthas’ Brust zog sich zusammen. Ihm wurde bewusst, dass er nie darüber nachgedacht hatte, was Jaina heute für ihn empfand. Er hatte immer sein Bestes gegeben, um alle Gedanken an sie zu verdrängen. Stimmte es? Hasste Jaina ihn wirklich…?

Ein riesiger knisternder Feuerball prallte gegen seine Brust und explodierte. Arthas schrie, als er von der Explosion zurückgeschleudert wurde. Flammen züngelten an ihm empor, bevor er wieder zu sich kam, um den Zauber zu kontern. Die Rüstung hatte ihn beschützt, obwohl die Hitze auf der Haut schmerzhaft war. Doch es erstaunte ihn, dass er derart überrascht worden war. Ein zweiter Feuerball zischte heran. Dieses Mal war er jedoch darauf vorbereitet und er trat dem feurigen Angriff mit tödlichem Eis entgegen.

»Ich habe Eure Heimat vernichtet… Euren wertvollen Sonnenbrunnen verdorben. Und ich habe Euren Vater getötet. Frostgram saugte seine Seele direkt aus ihm heraus, Kael. Sie ist für immer fort.«

»Ja, Ihr seid gut darin, ehrwürdige alte Männer zu töten«, spottete Kael’thas.

Der Stich traf ihn unerwartet schmerzhaft.

»Immerhin seid Ihr meinem Vater auf dem Schlachtfeld entgegengetreten. Was ist mit Eurem eigenen, Arthas Menethil? Wie tapfer war es von Euch, Euren unbewaffneten Vater, der Euch mit ausgebreiteten Armen entgegentrat, abzustechen?«

Arthas griff an und verringerte mit wenigen Schritten den Abstand zwischen ihnen. Dann schlug er mit Frostgram zu. Kael’thas parierte mit seinem Stab. Eine Sekunde lang hielt der Stab, dann brach er unter Frostgrams Angriff. Doch die Verzögerung gab Kael ausreichend Zeit, um eine glitzernde, leuchtende Waffe zu ziehen, eine Runenklinge, die rot zu glühen schien, im Kontrast zu Frostgrams kaltem eisigem Blau.

Die Klingen prallten aufeinander. Beide Männer strengten sich an, jede Klinge hielt der anderen stand, während die Sekunden vergingen.

Kael’thas lächelte, als sich ihre Blicke trafen. »Ihr erkennt die Klinge, nicht wahr?«

Das tat Arthas. Er kannte den Namen des Schwertes und seine Abstammung – Flammenstoß, Felo’melorn, einst von Kael’thas Vorfahr Dath’Remar Sonnenwanderer, dem Begründer der Dynastie, geschmiedet. Das Schwert war beinahe unbeschreiblich alt. Es hatte den Krieg der Ahnen miterlebt, die Geburt der Hochgeborenen. Arthas gab das Lächeln zurück. Flammenstoß würde einem weiteren historischen Ereignis beiwohnen, es würde das Ende des letzten Sonnenwanderers miterleben.

»Oh, das tue ich. Ich sah, wie es in zwei Teile zerbrach, eine Sekunde, bevor ich Euren Vater tötete.«

Arthas war physisch stärker und die Energie des Lichkönigs durchfloss ihn. Mit einem rauen Grunzen schob er Kael’thas zurück und wollte ihn aus dem Gleichgewicht bringen. Doch der Magier erholte sich schnell wieder, tanzte beinahe, als er in eine andere Angriffsposition wechselte, und schwang Felo’melorn. Er ließ Arthas nicht aus den Augen.

»Und so habe ich es gefunden und neu geschmiedet.«

»Zerbrochene Schwerter sind an der Stelle schwach, wo sie repariert wurden, Elf.« Arthas umkreiste ihn und wartete auf den Moment, in dem Kael verwundbar war.

Kael’thas lachte. »Menschenschwerter vielleicht. Nicht die der Elfen. Nicht, wenn sie mithilfe von Magie neu geschmiedet wurden. Wenn sie mit Hass und dem glühenden Wunsch nach Rache vereint wurden. Nein, Arthas. Felo’melorn ist stärker als je zuvor – und ich bin es auch. Ich und die Sin’dorei. Wir sind stärker, weil wir gebrochen wurden – stärker und mit einer Bestimmung versehen. Und diese Bestimmung verlangt danach, Euch sterben zu sehen!«

Der Angriff kam plötzlich. In einem Moment beschimpfte Kael’thas ihn noch und im nächsten kämpfte Arthas um sein Leben. Frostgram schlug gegen Flammenstoß und – die alte Elfenklinge hielt.

Verdammt, der Elf hatte tatsächlich recht gehabt. Arthas flog zurück, er fühlte sich getäuscht, und dann schlug er mit Frostgram in einem mächtigen Hieb zu.

Kael sprang beiseite und wirbelte herum. Dann setzte er mit einer derartigen Gewalt und Intensität zum Gegenangriff an, dass Arthas überrascht zurückwich. Er war gezwungen, erst einen Schritt, dann zwei nach hinten zu tun. Und plötzlich rutschte er aus und stürzte. Zischend sprang Kael vor und wollte ihn mit einem finalen Schlag erledigen. Doch Arthas erinnerte sich an die Übungen mit Muradin und der Lieblingstrick des Zwerges fiel ihm mit einem Mal wieder ein. Er zog die Beine an und trat mit aller Kraft nach Kael’thas. Der Magier keuchte und wurde in den Schnee geworfen.

Schwer atmend kam der Todesritter auf die Beine, nahm Frostgram in beide Hände und stieß damit zu.

Irgendwie war plötzlich Flammenstoß da. Die Klingen prallten erneut gegeneinander. Kael’thas’ Augen brannten vor Hass.

Doch Arthas war stärker im bewaffneten Kampf, stärker mit dem stärkeren Schwert, trotz Kaels Prahlerei über Felo’melorn. Langsam, aber unausweichlich näherte sich Frostgram Kael’thas’ Kehle.

»Sie hasst Euch«, flüsterte Kael.

Arthas brüllte auf, die Wut beeinträchtigte einen Moment lang seine Sicht. Dann stieß er mit aller Kraft zu.

Und traf den Schnee und die gefrorene Erde.

Kael’thas war fort.

»Feigling!«, schrie Arthas, obwohl er wusste, dass der Prinz ihn nicht hören konnte. Der Bastard war wieder in der letzten Sekunde wegteleportiert. Wut durchfuhr ihn, drohte sein Urteilsvermögen zu trüben. Er schob sie beiseite. Es war dumm gewesen, dass er sich von Kael’thas derart hatte provozieren lassen.

Verflucht seist du, Jaina. Selbst jetzt verfolgst du mich noch.

»Invincible, zu mir!«, schrie er und erkannte, dass seine Stimme zitterte. Kael’thas war nicht tot, doch er war aus dem Weg und nur das zählte. Er bestieg das Skelettpferd, stürzte sich erneut ins Schlachtgetümmel und ritt auf den Thronsaal seines Herrn zu.

Arthas bewegte sich durch die Feinde, als wären sie nur Insekten. Wenn sie starben, belebte er sie wieder und schickte sie gegen ihre Kameraden. Die Flut der Untoten war unaufhaltsam und unerbittlich. Der Schnee unterhalb des Gipfels war aufgewühlt und mit Blut durchtränkt. Arthas blickte sich um, sah die letzten Kämpfe. Er entdeckte zwar die Blutelfen – doch kein Zeichen ihres Herrn.

Wo war Illidan?

Eine schnelle Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit. Arthas knurrte leise, als er seinen Gegner erkannte. Noch ein Schreckenslord. Dieser drehte ihm den Rücken zu. Seine schwarzen Flügel waren ausgestreckt, der Schnee schmolz unter seinen Hufen.

Arthas hob Frostgram. »Ich habe deine Art schon bei anderer Gelegenheit getötet, Schreckenslord«, zischte er. »Dreh dich um und stell dich mir, wenn du es wagst – oder fliehe in den Nether wie ein feiger Dämon.«

Die Gestalt wandte sich langsam um. Riesige Hörner ragten aus ihrem Schädel. Auf den Lippen bildete sich ein Lächeln. Und über den Augen befand sich eine zerlumpte schwarze Augenbinde. Zwei grüne leuchtende Punkte befanden sich dort, wo die Augen hätten sein sollen.

»Hallo Arthas.«

Tief und finster klang seine Stimme. Die hatte sich deutlich weniger geändert als der Körper des Kaldorei. Die Haut hatte immer noch denselben bleichen lavendelfarbenen Ton. Und er trug noch immer dieselben Tätowierungen und Narben. Doch die Beine, die Flügel, die Hörner…

Arthas verstand augenblicklich, was geschehen sein musste. Deshalb war Illidan so mächtig geworden.

»Ihr seht anders aus, Illidan. Ich schätze, der Schädel von Gul’dan vertrug sich nicht so recht mit Euch.«

Illidan warf sein gehörntes Haupt in den Nacken. Dunkles Gelächter dröhnte aus ihm hervor. »Im Gegenteil, ich habe mich nie besser gefühlt. Eigentlich müsste ich Euch für meinen gegenwärtigen Zustand danken, Arthas.«

»Zeigt Eure Anerkennung, indem Ihr mir aus dem Weg geht.« Arthas’ Stimme war plötzlich kalt und es lag keine Spur von Humor mehr darin. »Der vereiste Thron gehört mir, Dämon. Tretet beiseite. Verlasst diese Welt und kehrt niemals zurück. Wenn Ihr es doch tut, warte ich auf Euch.«

»Wir beide haben unsere Herren, Junge. Meiner verlangt die Zerstörung des vereisten Throns. Und es scheint, dass wir uns uneins sind«, antwortete Illidan und hob die Waffe, die Arthas einst bekämpft hatte. Seine mächtigen Klauen mit den scharfen schwarzen Krallen schlossen sich darum und er führte sie mit Anmut und trügerischer Gelassenheit.

Arthas verspürte einen Hauch von Unsicherheit. Er hatte gerade erst einen Kampf mit Kael’thas beendet. Und obwohl er der Sieger gewesen wäre, wenn der feige Elf sich nicht in letzter Sekunde wegteleportiert hätte, hatte das Gefecht ihn doch erschöpft. Illidans Haltung hingegen verriet kein Anzeichen von Müdigkeit.

Illidans Lächeln wurde breiter, als er das Unbehagen seines Feindes bemerkte. Er gestattete sich eine Demonstration seines meisterhaften Umgangs mit der ungewöhnlichen dämonischen Waffe. Dann ging er in Position und bereitete sich auf den Kampf vor. »Es muss getan werden!«

»Eure Truppen sind entweder vernichtet oder Teil meiner Armee.« Arthas zog Frostgram. Seine Runen leuchteten hell, Nebel stieg aus dem Griff auf. Hinter der Augenbinde leuchteten Illidans Augen viel heller und grüner, als Arthas sie in Erinnerung hatte.

Diese Augen verengten sich, als er die Runenklinge erkannte. Wenn der dämonisch veränderte Kaldorei eine mächtige Waffe hatte, so hatte Arthas auch eine. »Ihr endet auf die eine oder andere Weise.«

»Das bezweifle ich«, höhnte Illidan. »Ich bin stärker als Ihr glaubt und mein Herr hat Euren erschaffen! Kommt, Junge. Ich beseitige den Diener, bevor ich Euren erbärmlichen…«

Arthas griff an. Frostgram leuchtete und summte in seinen Händen, so begierig auf Illidans Tod wie er selbst. Der Elf schien von dem plötzlichen Angriff nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Mit größter Leichtigkeit hob er seine Doppelklinge, um zu parieren. Frostgram hatte schon zuvor alte und mächtige Schwerter vernichtet. Doch dieses Mal schlug die Runenklinge nur gegen das glühende grüne Metall und knirschte.

Illidan lächelte. Arthas spürte erneut Unbehagen. Die Kraft aus Gul’dans Schädel hatte Illidan tatsächlich verändert. Unter anderem war er physisch viel stärker geworden. Illidan lachte. Es war ein tiefes, hässliches Geräusch, dann drängte er kräftig gegen Arthas.

Arthas wurde zurückgetrieben, fiel auf die Knie und versuchte sich zu verteidigen, während der Dämon ihn niederrang.

»Es ist schön, die Positionen so zu tauschen«, knurrte Illidan. »Ich könnte Euch schnell töten, Todesritter, wenn Ihr mir einen guten Kampf bietet.«

Arthas verschwendete keinen Atem für Beleidigungen. Er biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich darauf, die Schläge abzuwehren, die auf ihn einprasselten. Die Waffe war ein Wirbel leuchtenden Grüns. Arthas konnte die Macht der dämonischen Energie spüren, die davon ausging. Genauso würde Illidan Frostgrams grimmige Dunkelheit spüren können.

Plötzlich war Illidan fort und Arthas taumelte vorwärts. Sein eigener Schwung raubte ihm das Gleichgewicht. Er hörte ein flatterndes Geräusch, wirbelte herum und sah Illidan über sich. Seine großen ledrigen Flügel wirbelten die Luft auf, als er außer Reichweite flog.

Sie blickten einander an. Arthas kam zu Atem. Er konnte erkennen, dass auch Illidan nicht unbeeindruckt von dem Kampf geblieben war. Schweiß glitzerte auf dem riesigen lavendelfarbenen Körper. Arthas beruhigte sich, Frostgram hielt er bereit für den Zeitpunkt, wenn Illidan zu einem neuerlichen Angriff herabstürzen würde.

Dann tat Illidan etwas völlig Unerwartetes. Er lachte und in einer blitzschnellen Bewegung schien er seine Waffe zu teilen. In jeder seiner mächtigen Hände lag jetzt ein Schwert.

»Sieh die Zwillingsklingen von Azzinoth«, höhnte Illidan. Er flog höher, wirbelte die Klingen in seiner rechten und linken Hand und Arthas erkannte, dass er mit beiden Händen gleich gut umgehen konnte. »Zwei glorreiche Kriegslanzen. Sie können als eine einzige verheerende Waffe eingesetzt werden… oder, wie Ihr seht, als zwei. Es war die bevorzugte Waffe der Verdammniswache – und gehörte einem mächtigen Dämonenhauptmann, den ich getötet habe. Vor zehntausend Jahren. Wie lange kämpft Ihr schon mit Eurem hübschen Schwert, Mensch? Wie gut kennt Ihr es?«

Die Worte sollten den Todesritter verunsichern. Stattdessen stärkten sie ihn. Illidan mochte diese zugegebenermaßen mächtige Waffe schon länger führen – doch Frostgram war an Arthas gebunden und er an Frostgram. Es war weniger ein Schwert als eher eine Erweiterung seiner Selbst. Er kannte es, seit er es das erste Mal in einer Vision gesehen hatte, als er gerade erst in Nordend eingetroffen war. Er war sich der Verbindung sicher gewesen, als er es erblickt hatte. Und nun spürte er einen Sog in seiner Hand, der ihre Einheit bestätigte.

Die Klingen des Dämons leuchteten. Illidan stürzte wie ein Stein auf Arthas herab. Arthas schrie auf und konterte, sich des Schlages sicherer als jedes anderen, den er zuvor mit der Runenklinge ausgeteilt hatte. Er riss Frostgram hoch. Und als hätte er gewusst, was geschehen würde, spürte er, wie das Schwert tief in das Fleisch des Dämons eindrang. Er zog die Klinge über Illidans Torso und spürte eine tiefe Befriedigung, als der ehemalige Kaldorei vor Schmerz schrie.

Und dennoch starb der Bastard nicht. Illidans Flügel schlugen erratisch, irgendetwas hielt ihn immer noch in der Luft. Und dann schien sein Körper sich vor Arthas’ entsetztem Blick zu verändern und zu verdunkeln… fast so, als bestünde er aus schwarzem, violettem und grünem Rauch.

»Das habe ich von Euch bekommen«, schrie Illidan. Seine Stimme war tiefer geworden. Arthas spürte, wie sie ihn bis ins Mark erschütterte. Die Augen des Dämons leuchteten feurig in der Dunkelheit. »Dieses Geschenk – diese Macht. Und sie wird Euch vernichten!«

Ein Schrei erklang aus Arthas’ Kehle und er stürzte erneut auf die Knie. Grünes Feuer lief seine Rüstung entlang, verbrannte seine Haut und dämpfte selbst Frostgrams blaues Leuchten einen Augenblick lang. Über seinen eigenen Schmerzensschrei hörte er Illidan lachen.

Wieder traf ihn das Teufelsfeuer und Arthas stürzte vornüber und keuchte. Doch als das Feuer schwand und er sah, wie Illidan sich, zum Todesstoß bereit, auf ihn herabstürzte, spürte er, wie die alte Runenklinge ihm immer noch dabei half, sich zu konzentrieren.

Frostgram gehörte ihm und er gehörte Frostgram und derart vereint waren sie unbesiegbar.

Gerade als Illidan zum Todesstoß ansetzte, hob Arthas Frostgram an und stach mit aller Kraft zu. Er spürte, wie die Klinge Kontakt bekam, das Fleisch durchbohrte und tief in seinen Gegner eindrang.

Illidan stürzte schwer zu Boden. Blut lief aus seinem Körper und schmolz mit einem zischenden Geräusch den Schnee um ihn herum. Seine Brust hob und senkte sich, er keuchte. Die hochgelobten Zwillingsklingen waren nun völlig nutzlos. Eine hatte er fallen lassen, die andere lag in seiner Hand, die nicht einmal mehr den Griff umfassen konnte.

Arthas kam auf die Beine, sein Körper prickelte noch von den Nachwirkungen des Teufelsfeuers. Er starrte den Dämon einen Moment lang an und brannte den Anblick in sein Gedächtnis ein.

Er überlegte, ob er ihm den Todesstoß versetzen sollte. Doch dann entschied er sich dafür, dass er das dem gnadenlosen kalten Ort überlassen würde. Ein größeres Bedürfnis brannte nun in ihm. Er wandte sich um und richtete den Blick zum Gipfel, der vor ihm aufragte.

Er schluckte schwer und stand einen Augenblick einfach nur da, ohne zu ahnen, woher er wusste, dass sich etwas gerade fundamental änderte. Dann atmete er tief ein und betrat die Höhle.

Arthas ging wie in Trance den Tunnel entlang, der immer tiefer ins Innere der Erde führte. Seine Schritte schienen geleitet zu werden, und obwohl es kein Geräusch gab, niemand hier war, der ihm sein Recht, hier zu sein, streitig machen konnte, spürte er die tiefe dröhnende Macht, noch bevor er sie hören konnte. Er ging weiter, spürte, wie der Ruf der Macht ihn immer näher an seine Bestimmung heranführte.

Über und vor ihm war ein kaltes blauweißes Licht. Arthas ging darauf zu, rannte fast, und der Tunnel verbreiterte sich zu einer Art Thronsaal. Vor ihm befand sich ein Gebilde, das Arthas den Atem raubte.

Das Gefängnis des Lichkönigs lag auf einem gewundenen Turm, die Spitze bestand aus blaugrün schimmerndem Eis, das eigentlich kein Eis war. Sie ragte hoch auf und schien die Decke der Höhle durchstoßen zu wollen. Ein enger Pfad wand sich serpentinenartig um die Spitze herum und führte Arthas nach oben. Immer noch von der Energie erfüllt, die der Lichkönig ihm gewährt hatte, ermüdete er nicht.

Doch unwillkommene Erinnerungen schienen ihn wie Fliegen zu piesacken, als er weiterging und einen Schritt vor den anderen setzte. Worte, Sätze, Bilder fielen ihm ein.

»Denk daran, Arthas, wir sind Paladine. Rache gehört nicht zu unseren Tugenden. Wenn wir zulassen, dass unsere Leidenschaft sich in Blutrünstigkeit verwandelt, dann werden wir genauso widerwärtig wie die Orcs.«

Jaina… oh Jaina…

»Niemand scheint dir irgendetwas abschlagen zu können. Am wenigsten ich.«

»Weise mich nicht zurück. Weise mich niemals zurück. Bitte.«

»Das würde ich niemals, Arthas. Niemals.«

Er ging unaufhaltsam weiter nach oben.

»Wir wissen so wenig – wir können sie nicht nur aus unserer eigenen Angst heraus wie Tiere abschlachten!«

»Das ist eine üble Sache, Junge. Lasst das Schwert hier, wo es verloren und vergessen ruht… Wir werden einen anderen Weg finden, Euer Volk zu retten. Wir sollten jetzt gehen, zurückgehen und diesen Weg suchen.«

Ein Schritt folgte dem anderen. Hoch, immer weiter nach oben. Das Bild schwarzer Flügel drang in seine Gedanken.

»Ich verkünde Euch eine letzte Prophezeiung. Erinnert Euch daran. Je stärker Ihr Euren Feind bekämpft, desto schneller liefert Ihr ihm Euer Volk aus.«

Selbst als diese Erinnerungen an ihm zerrten und sein Herz ergriffen, gab es ein Bild und eine Stimme, die stärker und unwiderstehlicher als alle anderen waren. Die Stimme flüsterte und ermutigte ihn. »Du nahst, mein Held. Mein Moment der Freiheit kommt… und mit ihm dein Aufstieg zu wahrer Macht.«

Er kletterte höher, sein Blick war auf die Spitze gerichtet. Auf das große Stück blauen Eises, das denjenigen einsperrte, der Arthas Fuß zuerst auf diesen Pfad gelenkt hatte. Immer näher zog es ihn heran, bis Arthas ein paar Meter davor stehen blieb. Lange betrachtete er die teilweise verborgene Gestalt, die darin gefangen war. Nebel stieg von dem großen Eisblock auf und verhüllte das Bild auch weiterhin.

Frostgram leuchtete in seiner Hand. Tief aus dem Innern trat ein schwaches Leuchten von zwei Punkten strahlend blauen Lichts.

»BRINGE DIE KLINGE ZURÜCK«, erklang eine tiefe, kratzende Stimme in Arthas’ Geist. Sie war fast unerträglich laut. »SCHLIESSE DEN KREIS. BEFREIE MICH AUS DIESEM GEFÄNGNIS!«

Arthas trat einen Schritt vor, dann einen weiteren. Er hob Frostgram an, dabei wurde er schneller, bis er rannte. Dies war der Augenblick, auf den alles hinausgelaufen war, und ohne es zu merken, brüllte er, als er mit aller Kraft zuschlug.

Ein lautes Knacken erschütterte den Saal, als Frostgram traf. Das Eis zersprang, große Stücke flogen in alle Richtungen davon. Arthas hob die Arme, um sich selbst zu schützen, doch die Splitter flogen harmlos an ihm vorbei.

Das Eis gab den gefangenen Körper frei, der Lichkönig schrie und reckte seine Arme zum Himmel. Weitere ächzende, knackende Geräusche drangen aus der Höhle, teilweise stammten sie auch von dem Wesen selbst. Sie waren so laut, dass Arthas wimmerte und seine Ohren bedeckte. Es war, als würde die Welt selbst entzwei gerissen.

Plötzlich schien die Gestalt des Lichkönigs genauso zu zerspringen wie sein Gefängnis. Vor Arthas’ gebanntem Blick löste sie sich auf.

Es war nichts – niemand – darinnen!

Nur die Rüstung, eisig und schwarz, fiel klappernd zu Boden. Der Helm, vom Kopf seines Besitzers befreit, blieb vor Arthas’ Füßen liegen.

Er starrte einen langen Moment darauf und ein tiefer Schauder durchfuhr ihn.

Die ganze Zeit… hatte er einen Geist gejagt. War der Lichkönig überhaupt jemals hier gewesen? Wenn nicht, wer hatte dann Frostgram durch das Eis bewegt? Wer hatte verlangt, befreit zu werden? Hätte er, Arthas Menethil, derjenige sein sollen, der auf dem vereisten Thron eingeschlossen war?

War der Geist, den er gejagt hatte… er selbst gewesen?

Auf diese Fragen würde er nie eine Antwort bekommen. Doch eine Sache war ihm klar. Was Frostgram für ihn gewesen war, würde auch die Rüstung für ihn sein. Er legte die Finger um den stacheligen Helm und hob ihn langsam und ehrfürchtig an. Dann schloss er die Augen und setzte ihn auf den weißhaarigen Kopf.

Er war plötzlich wie elektrisiert. Sein Körper spannte sich an, als er die Essenz des Lichkönigs spürte, die in ihn eindrang. Sie durchstieß sein Herz, stoppte seinen Atem, vereiste seine Adern. Frostig und mächtig durchspülte sie ihn wie eine Flut. Seine Augen waren geschlossen, doch er sah so vieles – alles das, was Ner’zhul, der Orc-Schamane, gewusst hatte, alles, was er gesehen und erlebt hatte.

Einen Augenblick lang fürchtete Arthas, dass er davon überwältigt werden würde. Dass ihn am Ende der Lichkönig ausgetrickst hatte, damit er hierherkam. Damit er seine Essenz in einen neuen frischen Körper stecken konnte.

Er bereitete sich auf einen Kampf um die Kontrolle seines Körpers vor.

Doch es gab keinen Kampf. Nur ein Vermischen, ein Verschmelzen. Um ihn herum stürzte die Höhle weiter ein. Arthas bekam es kaum mit. Seine Augen bewegten sich hektisch hinter den geschlossenen Lidern.

Seine Lippen bewegten sich. Er sprach.

Sie sprachen.

»Nun… sind wir eins.«

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