TEIL II Die strahlende Lady

Zwischenspiel

Es war genau einer der Tage, die Jaina Prachtmeer nicht mochte – düster, stürmisch und bitterkalt. Während die Seewinde in den heilten Sommermonaten immer erfrischende Kühle nach Theramore brachten, drang der kalte Wind, der jetzt die Stadt erreicht hatte, bis tief in die Knochen ein. Außerdem regnete es auch noch. Die See war heftig aufgewühlt, der Himmel grau und bedrohlich. Und es gab keine Anzeichen von Besserung.

Draußen verwandelte sich das Übungsgelände in Matsch, Reisende suchten Schutz in den Gasthöfen und Doktor van Howzen musste darauf achten, dass sich die Verletzten, die er behandelte, nicht auch noch erkälteten. Jainas Wachen standen ohne Murren inmitten des Wolkenbruchs; fraglos fühlten sie sich schlecht.

Jaina befahl einem ihrer Diener, den Tee, den sie gerade für sich aufgebrüht hatte, den Wachen zu bringen, die ihren Dienst so tapfer ertrugen. Sie selbst konnte warten, bis auch sie von dem wohltuenden, dampfenden Gebräu etwas abbekam.

Ein Blitz zuckte und es donnerte. Jaina, die gemütlich in ihrem Turm saß, umgeben von den Büchern und Papieren, die sie so liebte, zitterte und zog ihren Umhang enger um sich. Dann wandte sie sich zu jemandem um, dem zweifellos noch unbehaglicher zumute war.

Magna Aegwynn, die ehemalige Wächterin von Tirisfal, Mutter des großen Magiers Medivh und einst mächtigste Frau der Welt, saß auf ihrem Stuhl, der nah am Feuer stand, und nippte an ihrem Tee. Ihre knorrigen Hände schlossen sich um den Becher und suchten die Wärme. Ihr langes Haar, weiß wie frisch gefallener Schnee, hing offen auf ihre Schultern herab. Sie blickte auf, als Jaina eintrat und ihr gegenüber Platz nahm. Ihren smaragdgrünen Augen entging nichts.

»Du denkst an ihn.«

Jaina blickte finster ins Feuer und versuchte, sich von den tanzenden Flammen ablenken zu lassen. »Ich wusste gar nicht, dass man als Wächterin auch Gedanken lesen kann.«

»Gedanken? Pah. Das lese ich in deinem Gesicht. Und deine Körperhaltung verrät dich vollends, Kind. Diese Stirnfalte bekommst du nur, wenn du über etwas nachdenkst. Außerdem bist du immer in dieser Stimmung, wenn das Wetter umschlägt.«

Jaina fühlte einen Kälteschauer. »Kann man mich wirklich so leicht durchschauen?«

Aegwynns harte Gesichtszüge wurden weicher und sie strich über Jainas Kopf. »Nun, ich hatte tausend Jahre Zeit, um zu üben. Ich durchschaue die Menschen ein wenig leichter als andere.«

Jaina seufzte. »Es stimmt. Wenn es kalt wird, denke ich oft an ihn. An alles, was geschehen ist. Dann überlege ich, ob ich irgendetwas hätte tun können.«

Aegwynn seufzte. »Tausend Jahre bin ich alt, doch ich glaube, ich war noch niemals richtig verliebt. Ich musste mich um zu vieles andere kümmern. Aber wenn es dir ein Trost ist – ich habe auch an ihn gedacht.«

Jaina blinzelte, überrascht und beunruhigt von dieser Bemerkung. »Du hast an Arthas gedacht?«

Die ehemalige Wächterin sah sie an. »Der Lichkönig und Arthas sind nicht dasselbe. Nicht mehr.«

»Daran musst du mich nicht erinnern«, sagte Jaina, einen Tick zu scharf. »Warum hast du…«

»Spürst du es nicht?

Langsam nickte Jaina. Sie hatte versucht, es auf das Wetter und die Anspannung zu schieben, die immer dann schlimm wurde, wenn es so feucht und ungemütlich war. Doch Aegwynn schien zu glauben, dass mehr dahintersteckte, und Jaina Prachtmeer, dreißig Jahre alt, Herrscherin über Theramore, wusste, dass die alte Frau recht hatte.

Alte Frau. Ein Lächeln blitzte über ihre Lippen. Ihre eigene Jugendzeit lag auch schon ein Weilchen zurück. Eine Jugend, in der Arthas Menethil eine bedeutende Rolle gespielt hatte.

»Erzähl mir von ihm«, sagte Aegwynn und lehnte sich im Stuhl zurück. In diesem Augenblick trat einer der Diener mit einem dampfenden Becher Tee und frisch aus dem Ofen kommenden Keksen ein. Jaina nahm beides dankbar an.

»Ich habe dir schon alles gesagt.«

»Nein«, gab Aegwynn zurück. »Du hast mir nur die Fakten genannt. Ich möchte, dass du mir von ihm erzählst. Von Arthas Menethil. Denn, was auch immer dort oben in Nordend vor sich geht – und ja, ich glaube, dass dort etwas geschieht –, hat mit Arthas zu tun, nicht mit dem Lichkönig. Zumindest noch nicht.« Die Falten im Gesicht der alten Frau verzogen sich zu einem verschmitzten Lächeln und ein mädchenhaftes Glitzern erfüllte ihre smaragdgrünen Augen: »Außerdem ist es ein kalter, regnerischer Tag, wie für Geschichten gemacht.«

6

Jaina Prachtmeer summte leise vor sich hin, während sie durch die Gärten von Dalaran schlenderte. Seit acht Jahren lebte sie nun schon hier und die Stadt hatte nichts von ihrer Faszination eingebüßt. Alles strahlte Magie aus und für sie war es fast wie ein eigenes Aroma, ein Duft nach allem, was blühte. Lächelnd nahm sie ihn in sich auf.

Natürlich stammte ein Teil des »Dufts« von echten Blumen. Die Gärten waren nicht pur voller Magie. Jaina war nie gesünder gewesen, hatte nie buntere Blumen gesehen oder mehr Köstlichkeiten – Früchte und Gemüse – gegessen als hier. Und dann erst das Wissen! Jaina glaubte, dass sie in den letzten acht Jahren mehr gelernt hatte als in ihrem ganzen Leben davor. Das meiste davon in den letzten beiden Jahren, seit Erzmagier Antonidas sie als Schülerin aufgenommen hatte. Wenige Dinge befriedigten sie mehr, als mit einem kühlen Glas Nektar und einem Stapel Bücher in der Sonne zu sitzen und zu lesen.

Natürlich mussten einige der selteneren Pergamente vor dem Sonnenlicht und verschüttetem Nektar geschützt werden. Deshalb genoss sie es auch, diese Schriften, die älter waren, als sie sich vorstellen konnte, in einem der zahlreichen Räume zu studieren. Dabei trug sie stets Handschuhe, damit das empfindliche Papier nicht beschädigt wurde.

Doch jetzt wollte sie nur durch die Gärten laufen, die vitale Erde unter den Füßen spüren, die unglaublichen Düfte in sich aufnehmen, und sobald sich der Hunger meldete, einen von der Sonne gewärmten Goldrindenapfel pflücken und genussvoll verspeisen.

»In Quel’Thalas«, sagte eine sanfte, kultivierte Stimme, »gibt es Bäume, die selbst diese Exemplare mit ihrer herrlichen weißen Kinde und den goldenen Blättern überragen. Sie singen im Abendwind. Ich bin mir sicher, dass Ihr sie eines Tages gern sehen würdet.«

Jaina wandte sich um, lächelte Prinz Kael’thas Sonnenwanderer an und machte einen tiefen Knicks. Er war der Sohn von Anasterian, des Elfenkönigs der Quel’dorei. »Euer Hoheit«, sagte sie, »ich wusste nicht, dass Ihr zurückgekehrt seid. Es ist mir ein Vergnügen, Euch zu begegnen. Und ja, das würde ich gerne.«

Auch wenn Jaina keinem königlichen Geschlecht entstammte, so war sie doch die Tochter eines adeligen Herrschers. Ihr Vater, Admiral Daelin Prachtmeer, herrschte über den Stadtstaat Kul Tiras. Jaina war also den Umgang mit Adeligen gewöhnt. Und dennoch hatte Prinz Kael’thas sie aus der Fassung gebracht. Sie war sich nicht sicher, woran es genau lag.

Er war natürlich attraktiv und hochgewachsen, mit der Anmut und der Schönheit ausgestattet, die alle Elfen auszeichneten. Sein Haar, das bis auf seinen Rücken hinabreichte, wirkte wie gesponnenes Gold. Dadurch ähnelte er eher einer Sagengestalt als einer echten und lebendigen Person. Auch wenn er derzeit die einfacheren violetten und goldenen Gewänder der Magier von Dalaran trug und nicht die aufwendigen Roben, wie zu offiziellen Anlässen, so schien er dennoch nie seine Steifheit zu verlieren. Vielleicht lag es daran, dass ihn stets eine Art altmodischer Förmlichkeit umgab. Er war auch viel älter als sie und ein sehr talentierter und mächtiger Magier. Einige der Schüler munkelten, er sei einer der sechs der geheimen Vereinigung der höchstrangigen Magier von Dalaran.

Vermutlich schüchterte er Jaina deswegen so ein, und nicht weil sie nur ein Mädchen vom Lande war.

Er pflückte sich selbst einen Apfel und biss hinein. »Die Nahrung der Menschen ist von einer gewissen Herzhaftigkeit, die ich zu schätzen gelernt habe.« Er lächelte verschwörerisch. »Manchmal hinterlässt die Elfennahrung, obwohl sie köstlich und appetitlich ist, den Wunsch nach etwas Handfesterem.«

Jaina lächelte. Prinz Kael’thas bemühte sich immer sehr, ihr die Nervosität zu nehmen. Sie wünschte nur, er hätte damit mehr Erfolg gehabt. »Nur wenige Dinge sind besser als ein Apfel und eine Scheibe Brot aus Dalaran«, stimmte sie zu. Die Stille danach dehnte sich unangenehm aus, trotz der Normalität der Situation und der Wärme der Sonne. »Seid Ihr schon länger wieder hier?«

»Ja, meine Aufgabe in Silbermond ist bis auf Weiteres beendet. Deshalb sollte ich eine Weile hierbleiben.« Er sah sie an und biss erneut in den Apfel. Seine schönen Gesichtszüge waren darin geübt, teilnahmslos zu wirken. Dennoch wusste Jaina, dass er auf eine Reaktion wartete.

»Wir sind alle sehr froh, dass Ihr zurück seid, Euer Hoheit.«

Er drohte ihr mit dem Finger. »Ich habe Euch doch gesagt, dass Ihr mich bitte einfach Kael nennen sollt.«

»Es tut mir leid, Kael.«

Er blickte sie an und ein Hauch von Bedauern glitt über seine perfekten Gesichtszüge. Doch dieser Anflug eines Gefühls war so schnell wieder verschwunden, dass Jaina sich fragte, ob sie sich ihn nur eingebildet hatte. »Wie kommen Eure Studien voran?«

»Sehr gut«, sagte sie und erwärmte sich mehr für das Gespräch, nun, da es um schulische Dinge ging. »Seht!« Sie wies auf ein Eichhörnchen, das auf einem hohen Ast saß und an einem Apfel knabberte. Sie murmelte einen Zauber. Augenblicklich verwandelte sich das possierliche Tierchen in ein Schaf; ein komischer Ausdruck der Überraschung lag auf seinem Gesicht, als der Ast unter dem Gewicht brach und es hinunterfiel. Augenblicklich streckte Jaina die Hand aus und das Eichhörnchen-Schaf blieb mitten in der Luft hängen. Sanft ließ sie es unverletzt zu Boden sinken. Es blökte sie an, zuckte mit den Ohren und kurze Zeit später war es wieder ein höchst verwirrt blickendes Eichhörnchen. Es saß auf dem Hintern, schnatterte sie wütend an, klopfte mit dem buschigen Schwanz auf den Boden und sprang dann hinauf in den Baum.

Kael’thas lachte. »Gut gemacht! Ihr setzt keine Bücher mehr in Brand, hoffe ich doch mal?«

Jaina lief rot an und erinnerte sich an den Zwischenfall. Als sie noch neu gewesen war, war sie nicht sonderlich geschickt im Umgang mit Feuer gewesen. Sie hatte versehentlich ein Buch entzündet, während sie mit Kael’thas arbeitete – ein Buch, das er in Händen gehalten hatte. Danach hatte er angeordnet, dass sie für die nächsten Monate alle Feuerzauber in der Nähe der Teiche üben musste, die beim Gefängnis lagen. »Ähm… nein, das ist schon eine Weile nicht mehr passiert.«

»Ich bin froh, das zu hören, Jaina…« Er trat vor, warf den halb gegessenen Apfel weg und lächelte freundlich. »Das war übrigens ernst gemeint, als ich Euch nach Quel’Thalas eingeladen habe. Dalaran ist eine wundervolle Stadt und einige der besten Magier von Azeroth leben hier. Ich weiß, dass Ihr hier viel lernt. Doch ich glaube, es würde Euch gefallen, ein Land zu besuchen, wo die Magie ein fester Bestandteil der Kultur ist. Nicht nur Teil einer Stadt oder begrenzt auf eine Handvoll elitärer, ausgebildeter Magier. Wir sind von Geburt an mit Magie vertraut. Der Sonnenbrunnen durchdringt uns alle. Das interessiert Euch doch sicherlich, oder?«

Sie lächelte ihn an. »Das stimmt. Und ich würde gern eines Tages dorthin reisen. Doch im Augenblick schreiten meine Studien am besten hier voran.« Ihr Lächeln vertiefte sich. »Wo die Leute wissen, was zu tun ist, wenn ich mal wieder Bücher in Brand setze.«

Er lachte darüber, doch dann seufzte er traurig: »Vielleicht habt Ihr recht. Und nun, wenn Ihr mich entschuldigen würdet…« Er warf ihr ein schiefes Grinsen zu. »Erzmagier Antonidas verlangt einen Bericht über meine Zeit in Silbermond. Dennoch würde ich mich sehr über weitere Demonstrationen Eurer Ausbildungsfortschritte freuen… und gern mehr Zeit mit Euch verbringen.«

Kael’thas legte eine Hand auf sein Herz und verneigte sich. Jaina wusste nicht, wie sie reagieren sollte, und machte einen Knicks. Er bewegte sich wie das Sonnenlicht durch den Garten. Den Kopf hoch erhoben, jeder Zoll von ihm strahlte Selbstsicherheit und Anmut aus. Selbst der Schmutz schien nicht gewillt zu sein, seine Stiefel oder Gewänder zu besudeln.

Jaina aß den letzten Bissen vom Apfel, dann warf auch sie den Rest weg. Das Eichhörnchen, das sie zuvor verwandelt hatte, huschte kopfüber den Baumstamm hinab, um sich eine Beute zu sichern, die greifbarer war als der Apfel, der immer noch am Baum hing.

Zwei Hände bedeckten plötzlich ihre Augen.

Sie erschreckte sich, doch der Schrecken war nur von kurzer Dauer. Niemand, der eine Bedrohung darstellte, wäre in der Lage, die mächtigen Zauber zu überwinden, die die Stadt der Magier umgaben.

»Wer bin ich?«, flüsterte eine männliche Stimme, in der ein Hauch von Fröhlichkeit mitschwang. Jaina dachte mit zugehaltenen Augen nach und kämpfte gegen ein Lächeln an.

»Hm… Eure Hände sind schwielig, nicht die eines Zauberers«, sagte sie. »Ihr riecht nach Pferd und Leder…« Ihre eigenen kleinen Hände fuhren sanft über starke Finger und berührten einen großen Ring. Sie spürte einen Stein, die Form war… das Siegel von Lordaeron.

»Arthas!«, rief sie, Überraschung und Entzücken in der Stimme, als sie sich zu ihm umwandte. Er zog die Hände zurück und lächelte sie an. Er war körperlich nicht so vollkommen wie Kael’thas. Sein Haar war wie das des Elfenprinzen blond. Doch es war von einem einfacheren Gelb und wirkte nicht wie gesponnenes Gold. Er war groß, gut gebaut und wirkte eher kräftig als anmutig. Und trotz der Tatsache, dass er denselben Rang wie Kael’thas besaß, war eine Leichtigkeit an ihm, auf die Jaina augenblicklich reagierte. Außerdem vermutete sie, dass Kael’thas Arthas keineswegs als gleichrangig betrachtete. Die Elfen schienen sich allen Menschen überlegen zu fühlen, ganz gleich, welchen Rang sie bekleideten.

Dann erinnerte sie sich an die Regeln des Anstands und sie machte einen Knicks. »Euer Hoheit, welch unerwartete Überraschung. Was macht Ihr hier, wenn ich fragen darf?« Ein plötzlicher Gedanke durchzuckte sie. »Es ist doch alles in Ordnung in der Hauptstadt, oder?«

»Nenn mich bitte einfach Arthas. In Dalaran herrschen die Magier und einfache Männer müssen dem Respekt zollen.« Seine meergrünen Augen leuchteten vor gutmütigem Spott. »Und wir sind schließlich Leidensgenossen, nachdem wir zusammen weggeschlichen sind, um uns das Internierungslager anzusehen, oder?«

Sie entspannte sich und lächelte: »Ich glaube, das sind wir.«

»Als Antwort auf deine Frage: Alles ist in Ordnung. Es ist sogar so wenig los, dass mein Vater mir erlaubt hat, zwei Monate hier zu lernen.«

»Lernen? Aber – du bist ein Mitglied des Ordens der Silbernen Hand. Du willst doch kein Magier werden, oder?«

Er lachte und hakte ihren Arm bei sich unter, als sie gemeinsam zu den Schülerunterkünften zurückgingen. Sie hielt leicht Schritt mit ihm.

»Kaum. Solch intellektuelle Hingabe liegt mir nicht, fürchte ich. Aber mir ist aufgefallen, dass einer der besten Orte, um sich mit der Geschichte Azeroths vertraut zu machen, die Natur der Magie zu verstehen und einige andere Dinge, die ein König wissen muss, zu erlernen, hier in Dalaran ist. Glücklicherweise hat Vater und euer Erzmagier zugestimmt.«

Während er sprach, bedeckte er Jainas Hand, die auf seinem Arm lag, mit seiner eigenen. Es war eine freundliche und höfliche Geste, doch Jaina spürte, wie ein kleiner Funke auf sie übersprang. Sie blickte zu ihm auf. »Ich bin beeindruckt. Der Junge, der mit mir mitten in der Nacht zu den Orcs geschlichen ist, war nicht so sehr an Geschichte und Wissen interessiert.«

Arthas lachte und neigte den Kopf verschwörerisch hinab zu ihrem. »Soll ich ehrlich sein? Ich bin es noch immer nicht. Ich meine, ich bin es, doch das ist nicht der wahre Grund, aus dem ich hier bin.«

»In Ordnung, jetzt bin ich verwirrt. Warum bist du denn nach Dalaran gekommen?« Sie hatten die Unterkünfte erreicht. Jaina blieb stehen, wandte Arthas ihr Gesicht zu und ließ seinen Arm los.

Zuerst antwortete er nicht, hielt nur ihrem Blick stand und lächelte wissend. Dann nahm er ihre Hand und küsste sie – eine höfische Geste, eine, die sie schon oft bei adeligen Herren erlebt hatte. Seine Lippen verweilten nur einen Augenblick länger, als es erlaubt war, und er ließ die Hand nicht sofort los.

Ihre Augen weiteten sich. Was sollte das bedeuten… hatte er wirklich diesen Plan entworfen, ein paar Monate nach Dalaran zu kommen – was im Übrigen eine beachtliche Leistung war, denn Antonidas war Außenstehenden gegenüber sehr misstrauisch –, nur… um sie zu treffen? Bevor sie sich genug gesammelt hatte, um ihn danach zu fragen, winkte er ihr zu und verneigte sich.

»Ich sehe Euch heute Abend beim Essen, Milady.«


Das Abendessen war sehr förmlich. Die Rückkehr von Prinz Kael’thas und die Ankunft von Prinz Arthas am selben Tag hatte die Dienerschaft der Kirin Tor zu hektischer Aktivität gedrängt. Es gab einen großen Speisesaal, der für solche Gelegenheiten vorgesehen war, und hier wurde auch das Abendessen serviert.

Ein Tisch, groß genug, dass zwei Dutzend Leute daran Platz landen, erstreckte sich von einer Seite des Raumes zur anderen. An der Decke hingen drei Kronleuchter, die mit hell brennenden Kerzen bestückt waren. Dazu standen auch noch mehrere Lichter auf dem Tisch. In den Wandleuchtern steckten Fackeln, und um die Atmosphäre angenehm zu halten, schwebten zusätzlich mehrere Kugeln an den Seiten des Raums, bereit dazu, herbeigerufen zu werden, wenn zusätzliches Licht benötigt wurde.

Die Diener kamen, außer zum Abräumen, selten herein. Die Weinflaschen schenkten selbstständig auf das Schnippen eines Fingers hin nach. Flöte, Harfe und Laute spielten etwas Hintergrundmusik. Ihre anmutigen Töne entsprangen reiner Magie statt menschlicher Hände oder Atemluft.

Erzmagier Antonidas saß der Tafel vor, was selten vorkam. Er war groß und wirkte noch größer, weil er so extrem dünn war. Sein langer Bart war mittlerweile eher grau als braun und auf dem Schädel war er völlig kahl. Doch seine Augen waren wach und stechend. Auch Erzmagier Krasus war anwesend, aufrecht und aufmerksam. Der Kerzenschein spiegelte sich auf seinem Haar und ließ es silbern wirken, mit roten und schwarzen Strähnen darin. Es waren noch viele andere Personen anwesend, alle von hohem Rang. Jaina hatte mit Abstand die niedrigste Stellung inne, doch sie war die Schülerin des Erzmagiers.

Jaina kam aus einem militärischen Haushalt und eins der Dinge, die ihr Vater ihr beigebracht hatte, war das Verständnis für Stärken und Schwächen. »Es ist genauso ein großer Fehler, sich selbst zu unterschätzen, wie sich zu überschätzen«, hatte Daelin ihr einst gesagt. »Falsche Bescheidenheit ist genauso schlimm wie falscher Stolz. Du musst zu jedem Zeitpunkt genau wissen, was du kannst, und danach handeln. Alles andere ist Torheit – und kann im Gefecht tödlich sein.«

Sie wusste, dass sie geschickt im Umgang mit den magischen Künsten war. Sie war intelligent und zielstrebig und hatte in der kurzen Zeit, die sie hier war, viel gelernt. Sicherlich nahm Antonidas keine Schüler aus Mildtätigkeit an. Und es war kein falscher Stolz, vor dem ihr Vater sie so gewarnt hatte, der sie annehmen ließ, dass sie eine mächtige Magierin werden konnte. Sie wollte aus eigener Kraft Verdienste erwerben und nicht vorankommen, weil ein Elfenprinz ihre Gesellschaft schätzte. Jaina bemühte sich, damit man ihr die Irritation nicht ansah, als sie einen weiteren Löffel Schildkrötensuppe aß.

Die Unterhaltung drehte sich um die Orcs, was wenig verwunderlich war, denn die Internierungslager lagen nah bei Dalaran. Außerdem glaubte man in der Magierstadt gern, über solchen Dingen zu stehen.

Kael griff mit seiner langen, eleganten Hand nach einer weiteren Brotscheibe und bestrich sie mit Butter. »Lethargie oder nicht«, sagte er, »sie sind gefährlich.«

»Mein Vater, König Terenas, sieht das genauso, Prinz Kael’thas«, sagte Arthas und lächelte den Elfen charmant an. »Deshalb gibt es die Lager ja. Es ist nur schade, dass sie so viel Unterhalt kosten. Doch sicherlich ist ein wenig Gold ein geringer Preis für die Sicherheit der Menschen von Azeroth.«

»Es sind brutale Tiere«, sagte Kael’thas. Seine übliche Tenorstimme kippte vor Ekel über. »Die Orcs und ihre Drachen haben Quel’Thalas übel zugerichtet. Nur die Energie des Sonnenbrunnens hielt sie davon ab, mehr Schaden anzurichten. Ihr Menschen könntet das Problem lösen und gleichzeitig eure Leute schützen, ohne sie so hoch besteuern zu müssen, indem ihr diese Kreaturen einfach tötet.«

Jaina erinnerte sich an den flüchtigen Eindruck, den sie von den Orcs erhalten hatte. Sie hatten müde ausgesehen, gebrochen und entmutigt. Und sie hatten Kinder.

»Wart Ihr schon in den Lagern, Prinz Kael’thas?«, fragte sie spitzzüngig und redete weiter, bevor sie sich selbst daran hindern konnte. »Habt Ihr tatsächlich gesehen, was aus ihnen geworden ist?«

Einen Augenblick lang erröteten Kael’thas Wangen, doch er behielt seinen gleichmütigen Gesichtsausdruck. »Nein, Lady Jaina, das habe ich nicht. Ich sehe auch keinen Grund dazu. Ich weiß, was sie getan haben. Das sehe ich jedes Mal, wenn ich die verbrannten Stämme der herrlichen Bäume in meiner Heimat betrachte und meinen Respekt denen zolle, die bei diesem Angriff getötet wurden. Und sicherlich habt Ihr auch noch keinen Orc selbst gesehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass so eine kultivierte Dame wie Ihr sich durch die Lager hat führen lassen.«

Jaina bemühte sich, nicht zu Arthas zu blicken, als sie antwortete: »Auch wenn Euer Hoheit mir ein schönes Kompliment gemacht hat, glaube ich nicht, dass Kultiviertheit irgendetwas damit zu tun hat, ob man sich für Gerechtigkeit interessiert. Ich glaube viel eher, dass ein kultivierter Mensch nicht will, dass empfindsame Wesen wie Tiere abgeschlachtet werden.« Sie lächelte ihn freundlich an und fuhr fort, ihre Suppe zu essen.

Kael’thas warf ihr einen prüfenden Blick zu, verwirrt von ihrer Reaktion.

»Das hat Lordaeron zu entscheiden und König Terenas kann tun, was er in seinem Königreich für richtig hält«, fiel Antonidas ein.

»Dalaran und alle anderen Königreiche der Allianz müssen für ihren Unterhalt aufkommen«, sagte ein Magier, den Jaina nicht kannte. »Sicherlich haben wir in dieser Sache auch ein Wörtchen mitzureden, wenn wir schon dafür zahlen.«

Antonidas winkte mit der knochigen Hand ab. »Es geht doch nicht darum, wer für die Lager zahlt oder ob sie nötig sind. Es ist diese merkwürdige Lethargie der Orcs, die mich interessiert. Ich habe das wenige, was wir von der Geschichte der Orcs wissen, recherchiert und glaube nicht, dass ihre Befindlichkeit mit der Gefangenschaft zu tun hat. Ich glaube auch nicht, dass es eine Krankheit ist – zumindest keine, mit der wir uns anstecken könnten.«

Weil Antonidas sich niemals müßigem Geplauder hingab, verstummte das Streitgespräch sofort und jeder hörte ihm zu. Jaina war überrascht. Es war das erste Mal, dass sie von einem Magier etwas über die Lage der Orcs gehört hatte. Sie hatte keine Zweifel, dass Antonidas diese Information bewusst gerade jetzt preisgab. Weil Arthas und Kael’thas anwesend waren, würde sich die Nachricht schnell über Lordaeron und Quel’Thalas ausbreiten. Antonidas tat nichts unbedacht.

»Wenn es keine Krankheit ist und auch nichts mit der Gefangenschaft zu tun hat«, sagte Arthas freundlich, »was ist es denn dann, Erzmagier?«

Antonidas wandte sich an den jungen Prinzen. »Ich glaube, dass die Orcs nicht immer so blutrünstig waren. Khadgar berichtete mir, was er von Garona erfahren hat, die…«

»Garona ist das Halbblut, das König Liane ermordet hat«, sagte Arthas, jede Spur von Gutmütigkeit war verschwunden. »Bei allem Respekt, ich glaube nicht, dass wir einer solchen Kreatur trauen können.«

Antonidas hob beschwichtigend die Hand, als einige der anderen Zustimmung zu signalisieren begannen. »Diese Information erhielten wir, bevor sie zur Verräterin wurde«, sagte er. »Und sie wurde mittlerweile bestätigt – von anderen Quellen.« Er lächelte ein wenig und weigerte sich geflissentlich zu sagen, welche »anderen Quellen« er zurate gezogen hatte. »Sie gaben sich einem dämonischen Einfluss hin. Ihre Haut wurde grün, ihre Augen färbten sich rot. Ich glaube, sie wurden zur Zeit der ersten Invasion von einer Finsternis, die von außen kam, durchdrungen. Jetzt sind sie von dieser Quelle abgeschnitten. Vermutlich erleben wir hier keine Krankheit, sondern die Folgen eines Entzugs. Dämonische Energie ist eine mächtige Sache. Wenn sie einem verweigert wird, kann das schlimme Konsequenzen haben.«

Kael’thas winkte ab. »Selbst wenn diese Theorie stimmt, warum sollten wir uns um sie kümmern? Die Orcs waren dumm genug, Dämonen zu vertrauen. Sie waren gedankenlos genug, nach diesen korrumpierenden Energien süchtig zu werden. Ich jedenfalls glaube nicht, dass es klug wäre, ihnen ein ,Heilmittel’ für diese Sucht anzubieten, selbst wenn es sie friedlich machen würde. Momentan sind sie machtlos und gebrochen. So sind sie mir – und jedem Mann rechten Geistes – am liebsten, nach allem, was sie uns angetan haben.«

»Aber wenn wir sie wieder friedlich machen könnten, dann müssten wir sie nicht in Lagern einsperren und das Geld könnte für etwas anderes verwendet werden«, sagte Antonidas sanft, bevor am Tisch eine ausschweifende Diskussion entbrennen konnte. »Ich bin mir sicher, dass König Terenas diese Steuern nicht eintreibt, um sich selbst die Taschen zu füllen. Wie geht es übrigens Eurem Vater, Prinz Arthas? Und Eurer Familie? Es tut mir leid, dass ich nicht bei Eurer Aufnahmezeremonie dabei sein konnte, aber ich habe gehört, dass es eine große Feier war.«

»Sturmwind war sehr großzügig zu mir«, sagte Arthas, lächelte warm und nahm sich eine zweite Portion der köstlichen Forelle mit gebratenem Gemüse. »Es war schön, König Varian wiederzutreffen.«

»Seine reizende Königin hat ihm gerade einen Erben geschenkt, wie ich höre.«

»Das stimmt. Und wenn die Art, wie der kleine Anduin meinen Finger gepackt hat, ein Hinweis darauf ist, wie er eines Tages das Schwert führt, dann wird er ein guter Krieger.«

»Während wir alle dafür beten, dass der Tag Eurer Krönung noch lange hin sein mag, darf ich doch sagen, dass uns eine königliche Hochzeit sehr willkommen wäre«, fuhr Antonidas fort. »Habt Ihr schon eine junge Dame ins Auge gefasst oder seid Ihr immer noch Lordaerons begehrtester Schwiegersohn?«

Kael’thas wandte seine Aufmerksamkeit dem Teller vor sich zu, doch Jaina wusste, dass er dem Gespräch interessiert folgte. Sie selbst bemühte sich, gelassen zu wirken.

Arthas blickte nicht zu ihr, als er lachte und nach dem Wein griff. »Ah, das wäre mal eine Neuigkeit, oder? Doch wo wäre da der Spaß? Für solche Dinge ist noch viel Zeit.«

Gemischte Gefühle überkamen Jaina. Sie war ein wenig enttäuscht, doch gleichzeitig auch erleichtert. Vielleicht war es das Beste, wenn sie und Arthas einfach Freunde blieben. Immerhin war sie hierhergekommen, um die beste Magierin zu werden und nicht, um zu turteln. Ein Schüler der Magie brauchte Disziplin, musste logisch handeln, nicht emotional. Sie hatte Pflichten und musste sie mit voller Aufmerksamkeit erfüllen.

Sie musste lernen.

»Ich muss lernen«, lehnte Jaina einige Tage nach dem Essen ab, als Arthas mit zwei Pferden an den Zügeln zu ihr kam.

»Komm schon, Jaina.« Arthas lächelte. »Selbst der fleißigste Schüler muss ab und zu mal eine Pause machen. Es ist ein schöner Tag und du solltest rausgehen und ihn genießen.«

»Das tue ich«, sagte sie. Es stimmte, sie saß mit ihren Büchern im Garten, statt abgeschieden in einem der Lesesäle.

»Ein wenig körperliche Anstrengung hilft dir dabei, klarer zu denken.« Er streckte ihr seine Hand entgegen, während sie unter einem Baum saß.

Sie lächelte gegen ihren Willen. »Arthas, du wirst eines Tages ein großartiger König werden«, sagte sie neckend, nahm seine Hand und ließ sich auf die Beine helfen. »Offensichtlich kann dir niemand etwas abschlagen.«

Er lachte und hielt ihr Pferd, während sie aufstieg. Sie trug heute Hosen, leichte leinene Reithosen, und konnte rittlings im Sattel sitzen statt wie sonst im Damensitz, wenn sie lange Kleider trug. Er schwang sich einen Augenblick später mühelos auf sein eigenes Pferd.

Jaina schaute sich das Tier an – es war ein simples Arbeitspferd, nicht der weiße Hengst, den das Schicksal für ihn auserkoren hatte. »Ich glaube, ich habe dir nie gesagt, wie leid es mir um Invincible getan hat«, sagte sie leise. Das Lächeln auf seinem Gesicht verschwand, als würde ein Schatten die Sonne verdunkeln. Dann kam das Lachen zurück, wenn auch leicht ernüchtert.

»Es geht schon, aber danke. Ich habe einen Picknickkorb dabei und der Tag wartet auf uns. Los geht’s!«

Es wurde ein Tag, an den sich Jaina für den Rest ihres Lebens erinnern würde. Einer dieser perfekten Spätsommertage, an denen das Sonnenlicht satt und golden wie Honig strahlte. Arthas legte ein hohes Tempo vor, doch Jaina war eine erfahrene Reiterin und hielt leicht Schritt mit ihm. Er führte sie weit weg von der Stadt, entlang ausgedehnter grüner Wiesen. Die Pferde hatten genauso viel Spaß wie die Reiter. Sie hatten ihre Ohren aufgerichtet, und die Nüstern bebten, als hätten sie aromatische Düfte gewittert.

Das Picknick war einfach, aber köstlich – Brot, Käse, Obst und etwas leichter Weißwein. Arthas lehnte sich zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und döste ein wenig, während Jaina die Schuhe auszog, ihre Füße in das dicke, weiche Gras vergrub und eine Zeit lang las. Das Buch war interessant – Eine Abhandlung über die Natur der Teleportation –, doch die träge machende Hitze des Tages, die Anstrengung und das sanfte Summen der Zikaden sorgten dafür, dass auch sie in einen Schlummer fiel.


Jaina erwachte einige Zeit später und fröstelte leicht. Die Sonne ging gerade unter. Sie setzte sich auf, rieb sich den Schlaf aus den Augen und stellte fest, dass sie Arthas nirgendwo sehen konnte. Auch sein Pferd war fort. Ihr eigener Wallach graste hingegen friedlich, die Zügel um einen Ast geschlungen.

Mit gefurchter Stirn stand sie auf. »Arthas?«

Keine Antwort. Vielleicht war er zu einer kurzen Erkundung aufgebrochen und kehrte jeden Moment zurück. Angestrengt lauschte sie auf das Geräusch von Hufgetrappel, doch da war nichts.

Es trieben sich immer noch Orcs herum. Zumindest gab es Gerüchte darüber. Und Berglöwen und Bären – weniger fremd, doch nicht minder gefährlich. Im Geiste ging Jaina all ihre Zauber durch. Sie war sicher, sich verteidigen zu können, sollte sie angegriffen werden.

Zumindest – ziemlich sicher.

Der Angriff erfolgte plötzlich und leise.

Ein Aufprall auf ihrem Hals und kalte Feuchtigkeit waren der erste und einzige Hinweis, den sie bekam. Sie keuchte und wirbelte herum. Ihr Angreifer war kaum zu erkennen. Flink wie ein Hirsch, sprang er zu einem weiteren Versteck. Er pausierte nur kurz, um dann ein neues Geschoss auf sie abzufeuern. Das erwischte sie am Mund und sie begann vor lauter Lachen zu husten. Sie berührte den Schnee und keuchte, als ein wenig davon unter ihre Bluse rutschte.

»Arthas! Du kämpfst nicht fair!«

Die Antwort waren vier Schneebälle, die in ihre Richtung rollten, und sie bückte sich, um sie aufzuheben. Er war offensichtlich in die Berge geklettert, um einen Ort zu finden, wo der Winter früh kam, und war mit Schneebällen als Beute zurückgekommen. Wo war er? Da – eine rote Tunika blitzte…

Die Schlacht tobte noch eine Weile, bis beide keine Munition mehr hatten.

»Waffenstillstand!«, rief Arthas, und als Jaina zustimmte, lachte sie so heftig, dass sie nichts mehr sagen konnte. Er sprang aus seinem Felsenversteck und rannte zu ihr. Dann drückte er sie, lachte ebenfalls und sie stellte zufrieden fest, dass auch er Schnee im Haar hatte.

»Ich habe es doch all die Jahre gewusst«, sagte er.

»W-was wusstest du?« Jaina hatte so viele Schneebälle abbekommen, dass ihr trotz der Jahreszeit kalt war. Arthas spürte, wie sie zitterte, und er legte die Arme um sie. Jaina wusste, dass sie zurückweichen sollte, eine freundliche und spontane Umarmung war eine Sache, aber in seiner Umarmung zu verweilen, eine ganz andere. Doch sie blieb, wo sie war, ließ ihren Kopf an seine Brust gelehnt, ihr Ohr gegen sein Herz gedrückt und hörte, wie es rhythmisch und schnell schlug. Sie schloss die Augen, als er mit der Hand ihr Haar streichelte und die Schneereste entfernte.

»Schon als ich dich das erste Mal gesehen habe, wusste ich, dass du ein Mädchen bist, mit dem man Spaß haben kann. Eins, das kein Problem damit hat, an einem warmen Sommertag schwimmen zu gehen oder…« Er trat ein wenig zurück, wischte sich die letzten Reste des schmelzenden Eises aus dem Gesicht und lächelte. »Oder einen Schneeball ins Gesicht zu bekommen. Ich habe dir doch nicht wehgetan, oder?«

Sie lächelte zurück, spürte eine plötzliche Wärme. »Nein. Nein, das hast du nicht.« Ihre Blicke trafen sich und Jaina merkte, wie ihre Wangen heiß wurden. Sie wollte sich von ihm lösen, doch sein Arm hielt sie fest wie ein eisernes Band. Er berührte immer noch ihr Gesicht und fuhr mit seinen starken, festen Fingern über ihre Wange.

»Jaina«, sagte er leise und sie erschauderte. Daran war aber nicht die Kälte schuld, nicht dieses Mal. Sie konnte sich einfach nicht lösen. Stattdessen hob sie den Kopf und schloss die Augen.

Der Kuss war sanft, weich und süß, der erste, den Jaina jemals erlebte. Wie von selbst legten sich ihre Arme um seinen Hals, sie presste sich gegen ihn und vertiefte die Liebkosung. Sie fühlte sich, als würde sie ertrinken, und er war der einzige Halt auf der Welt.

Das war es, was – wen – sie wollte. Diesen jungen Mann, der trotz seines Titels ihr Freund war, der ihren wissensdurstigen Charakter erkannte und verstand, der aber auch wusste, wie er das verspielte und abenteuerlustige Mädchen hervorlocken konnte, das nicht oft die Gelegenheit dazu bekam.

Er hatte gesehen, wer sie wirklich war, hatte hinter die Fassade geblickt, die sie der Welt zeigte.

»Arthas«, flüsterte sie, als sie sich an ihn schmiegte. »Arthas...«

7

Nach ein paar Monaten in Dalaran stellte Arthas zu seiner Überraschung fest, dass er tatsächlich etwas lernte, was einem König von Nutzen war. Es gab auch ausreichend Gelegenheit, den anhaltenden Sommer und die ersten kühlen Vorboten des Herbstes zu genießen. Er liebte es, auszureiten, obwohl er jedes Mal, wenn er ein Pferd sattelte, einen Stich in der Brust verspürte, weil es nicht Invincible war.

Und dann war da noch Jaina.

Er hatte eigentlich nicht vorgehabt, sie zu küssen. Doch als sie in seinen Armen gelegen hatte, er in ihre Augen blickte, die vor Lachen und Gutmütigkeit leuchteten, hatte er es einfach getan. Und sie hatte den Kuss erwidert. Ihr Stundenplan war fordernder und strenger als seiner und die beiden hatten sich bei Weitem nicht so oft gesehen, wie sie es gewollt hätten. Die meisten ihrer Treffen hatten bei öffentlichen Veranstaltungen stattgefunden. Und sie beide waren wortlos übereingekommen, dass sie den Gerüchten nicht noch mehr Nahrung liefern sollten.

Das verlieh ihrer Beziehung einen zusätzlichen Reiz. Sie stahlen sich Momente, wann immer sie konnten – einen Kuss in einer Laube, einen flüchtigen Blick bei einem förmlichen Abendessen. Ihr erster gemeinsamer Ausflug war völlig unschuldig gewesen. Doch nun vermieden sie solche Dinge geflissentlich. Er merkte sich ihren Zeitplan, sodass er wie zufällig auf sie traf. Sie erfand Ausreden, um in die Ställe oder auf den Hof zu gehen, wo Arthas und seine Männer trainierten, damit sie nicht aus der Übung kamen.

Arthas liebte jede riskante und gewagte Minute davon.

Jetzt wartete er in einem wenig benutzten Gang vor einem Bücherregal und gab vor, die einzelnen Titel durchzugehen. Jaina perfektionierte hier in der Nähe ihre Feuerzauber. Aus Gewohnheit, hatte sie ihm mit einem verlegenen Lächeln verraten, blieb sie dabei immer noch in der Nähe des Gefängnisses und der zahlreichen Teiche. Sie musste auf dem Weg zu ihrem Zimmer bei ihm vorbeikommen.

Seine Ohren lauschten auf ein Geräusch von ihr. Da war es – das leise Tappen ihrer Schuhe, die sich über den Boden bewegten. Er wandte sich um, nahm ein Buch, tat, als würde er es sich ansehen, und suchte aus dem Augenwinkel heraus nach ihr.

Jaina war wie üblich in das traditionelle Gewand der Schüler gekleidet. Ihr Haar leuchtete wie der Sonnenschein und sie zeigte den für sie typischen konzentrierten Blick. Eine Furche hatte sich auf ihrer Stirn gebildet, die Nachdenklichkeit andeutete, keine Verärgerung. Sie hatte ihn noch nicht bemerkt. Schnell stellte er das Buch weg und schoss in den Gang, bevor sie zu weit entfernt war, fasste sie am Arm und zog sie in die Schatten.

Wie immer erschreckte sie sich nicht, kam ihm entgegen, drückte die Bücher mit dem einen Arm an die Brust, während sie den anderen um seinen Hals legte und ihn küsste.

»Hallo, Milady«, murmelte er, liebkoste ihren Hals und schmiegte sich an ihre Haut.

»Hallo, mein Prinz«, murmelte sie glücklich und seufzte. ,

»Jaina«, sagte eine Stimme, »warum habt Ihr…«

Sie sprangen schuldbewusst auseinander, blickten den Eindringling an. Jaina keuchte leise und errötete. »Kael…«

Das Gesicht des Elfen war mühsam beherrscht, doch die Wut loderte in seinen Augen und sein Kinn war energisch vorgereckt. »Ihr habt das Buch fallen lassen, als Ihr gegangen seid«, sagte er und reichte es ihr. »Ich wollte es Euch bringen.«

Jaina blickte zu Arthas auf und biss sich auf die Unterlippe. Er war genauso erschrocken wie sie, doch er zwang sich zu einem lässigen Lächeln. Trotzig ließ er den Arm um Jaina liegen, als er sich zu Kael’thas umdrehte.

»Das ist sehr nett von Euch, Kael«, sagte er. »Danke.«

Einen Augenblick lang glaubte er, dass Kael’thas ihn angreifen würde. Wut und Empörung tobten in dem Magier. Er war mächtig und Arthas wusste, dass er keine Chance gegen ihn hatte. Dennoch hielt er dem Blick des Elfenprinzen stand und wich keinen Zoll zurück. Kael’thas ballte die Fäuste und blieb stehen, wo er war.

»Schämt Ihr Euch für sie, Arthas?«, zischte Kael’thas. »Ist sie Eure Zeit nur wert, wenn niemand es weiß?«

Arthas Augen verengten sich. »Ich wollte die Gerüchteküche nicht anheizen«, sagte er ruhig. »Ihr wisst doch, wie das funktioniert, Kael, oder? Jemand sagt etwas und als Nächstes glaubt man es dann. Ich wollte ihren Ruf schützen, indem…«

»Schützen?« Kael’thas spie das Wort aus. »Wenn sie Euch etwas bedeuten würde, würdet Ihr offen um sie werben. Jeder Mann würde das.« Er blickte Jaina an und seine Wut war verflogen, ersetzt worden von einem flüchtigen Ausdruck des Schmerzes. Jaina blickte zu Boden. »Ich lasse Euch jetzt allein bei Eurem… Stelldichein. Und keine Angst, ich werde nichts verraten.«

Mit einem wütenden Zischen warf er Jaina verächtlich das Buch zu. Ein Buch, das wahrscheinlich unbezahlbar war, landete krachend vor Jainas Füßen und sie zuckte bei dem Geräusch zusammen. Dann verschwand er mit wirbelnden violetten und goldenen Gewändern.

Jaina stieß einen Seufzer aus und legte den Kopf an Arthas’ Brust.

Arthas tätschelte ihr sanft den Rücken. »Es ist alles in Ordnung, er ist jetzt fort.«

»Es tut mir leid. Ich schätze, ich hätte es dir sagen sollen.«

Seine Brust zog sich zusammen. »Mir was sagen? Jaina – sind du und er…«

»Nein!«, antwortete sie sofort und sah zu ihm auf. »Nein. Aber – ich glaube, er wollte es. Ich habe nur… er ist ein guter Mann und ein mächtiger Magier. Und ein Prinz. Aber er ist nicht…« Ihre Stimme verlor sich.

»Er ist nicht was?« Die Worte klangen schärfer, als er es beabsichtigt hatte. Kael war so vieles, was Arthas nicht war. Älter, gebildet, erfahren, mächtig und von fast unmöglicher körperlicher Perfektion. Er spürte, wie die Eifersucht in ihm zu einem kalten, festen Klumpen wurde. Wenn Kael in diesem Augenblick zurückgekommen wäre, hätte Arthas ihm womöglich einen Hieb verpasst.

Jaina lächelte sanft, die Falte auf ihrer Stirn verschwand. »Er ist nicht wie du.«

Der eisige Knoten in ihm schmolz wie der Winter in der Wärme des Frühlings. Sie zog ihn an sich und küsste ihn erneut.

Wen interessierte schon, was ein verstaubter Elfenprinz dachte?


Das Jahr verging ohne weiteren Zwischenfall. Als der Sommer dem frischen Herbst wich und dann der Winter kam, wurden die Beschwerden über die Kosten für die Orc-Lager lauter. Doch sowohl Terenas als auch Arthas hatten das erwartet. Arthas übte weiter mit Uther. Der ältere Mann war felsenfest davon überzeugt, dass es neben dem Umgang mit der Waffe ebenfalls wichtig war, zu beten und zu meditieren. »Natürlich müssen wir unsere Feinde niederringen können«, sagte er. »Doch wir müssen auch in der Lage sein, unsere Freunde und uns selbst zu heilen.«

Arthas dachte an Invincible. Im Winter schweiften seine Gedanken immer wieder zu dem Pferd, und Uthers Bemerkung erinnerte ihn nur wieder an den größten Fehler seines Lebens. Wenn er bloß früher mit der Ausbildung begonnen hätte, wäre der große weiße Hengst noch am Leben. Er hatte niemandem je verraten, was an diesem schneebedeckten Tag genau geschehen war. Alle glaubten, es wäre ein Unfall gewesen. Und das war es auch, redete sich Arthas selber ein. Er hatte nicht vorgehabt, Invincible etwas anzutun. Er liebte das Pferd, eher hätte er sich selbst verletzt. Und wenn er die Ausbildung zum Paladin eher begonnen hätte, so wie Varian es beim Schwertkampf gemacht hatte, hätte er Invincible retten können. Er schwor sich, dass so etwas nie wieder geschehen würde. Er würde stets alles tun, was notwendig war. Niemals wieder würde er derart hilflos und unvorbereitet sein.

Der Winter verging, wie es alle Winter taten, und der Frühling kam wieder nach Tirisfal. Genauso wie Jaina Prachtmeer, die, jung und schön, für Arthas ein ebenso willkommener Anblick war wie die neuen Blüten, die auf den Bäumen erwachten. Sie war gekommen, um an den offiziellen Feierlichkeiten von Nobelgarten teilzunehmen, dem wichtigsten Frühlingsfest von Lordaeron und Sturmwind. Arthas stellte fest, dass langes Aufbleiben bis spät in die Nacht, Weintrinken und Eier mit Süßigkeiten zu füllen, nicht so langweilig war, wenn Jaina dabei war. Ihre Stirn furchte sich in der liebenswerten Weise, die er an ihr entdeckt hatte und die nur sie beherrschte. Mit Sorgfalt und Präzision füllte sie die Eier und stellte sie beiseite.

Obwohl es noch keine öffentliche Ankündigung gab, hatten Arthas’ und Jainas Eltern bereits miteinander gesprochen und es gab eine stillschweigende Übereinkunft, dass die Werbung gestattet wurde. Deshalb wurde Arthas, den sein Volk bereits liebte, immer öfter ausgeschickt, um Lordaeron bei öffentlichen Auftritten anstelle von Uther und Terenas zu vertreten. Im Laufe der Zeit hatte sich Uther immer mehr auf den spirituellen Aspekt des Lichts zurückgezogen und Terenas schien froh zu sein, dass er nicht reisen musste.

»Wenn man jung ist, ist es aufregend, tagelang auf dem Rücken eines Pferdes zu reisen und unter den Sternen zu schlafen«, sagte er zu Arthas. »Wenn du aber in meinem Alter bist, sollte Reiten der Entspannung dienen und die Sterne, die man beim Blick aus dem Fenster sehen kann, reichen dann völlig aus.«

Arthas hatte gelächelt und mit Freude die neuen Aufgaben übernommen. Admiral Prachtmeer und Erzmagier Antonidas waren offenbar zu demselben Schluss gekommen. Immer öfter begleitete Lady Jaina Prachtmeer; die Boten von Dalaran, wenn sie in die Hauptstadt kamen.

»Komm zum Sonnenwendfest im Mittsommer«, sagte er plötzlich. Sie sah zu ihm auf, hielt in einer Hand vorsichtig ein Ei und wischte sich mit der anderen eine Locke ihres goldenen Haars aus dem Gesicht.

»Ich kann nicht. Der Sommer ist eine sehr arbeitsreiche Zeit für uns Schüler in Dalaran. Antonidas hat mir bereits gesagt, dass ich die ganze Zeit dort bleiben muss.« Bedauern lag in ihrer Stimme.

»Dann besuche ich dich im Mittsommer und du kommst zu den Schlotternächten«, sagte Arthas.

Sie schüttelte den Kopf und lachte ihm zu. Gar so ablehnend klang sie aber nicht, als sie sagte: »Du bist hartnäckig, Arthas Menethil. Ich versuche es.«

»Nein, du wirst kommen.« Er griff über den Tisch voller sorgfältig ausgeblasener und bunt bemalter Eier und kleiner Süßigkeiten und legte seine Hand über ihre.

Sie lächelte, was auch nach all der Zeit immer noch ein wenig schüchtern wirkte, und ihre Wangen röteten sich. Sie würde kommen.


Es gab mehrere kleinere Feste, die in die Schlotternächte mündeten. Eins war eher düster, ein anderes eine strahlende Feier und dieses war ein bisschen von beidem. Man hielt die Schlotternächte für die Zeit, in der die Grenze zwischen den Lebenden und den Toten schmal war und die Lebenden die Verstorbenen spüren konnten. Traditionell war es das Ende der Erntezeit, bevor die Winterwinde kamen, und vor dem Palast wurde ein Strohmann aufgebaut. Bei Sonnenuntergang am Abend der Feier würde er angezündet werden. Es war ein großartiger Anblick – ein riesiger brennender Strohmann, der sich lodernd der einbrechenden Nacht entgegenstellte.

Jeder, der wollte, konnte an den Strohmann herantreten, einen Zweig in die knisternden Flammen werfen und so metaphorisch »alles verbrennen«, was er nicht in die stille, nachdenkliche Zeit der winterlichen Ruhe mitnehmen wollte.

Es war ein bäuerliches Ritual, das aus uralter Zeit stammte. Arthas vermutete, dass nur noch wenige heutzutage wirklich glaubten, einen Zweig ins Feuer zu werfen, würde ihre Probleme lösen. Noch weniger Menschen glaubten an den Kontakt mit den Toten.

Er glaubte es jedenfalls nicht. Aber es war ein beliebtes Fest und es brachte Jaina nach Lordaeron, und aus diesem Grund freute er sich darauf.

Er hatte eine kleine Überraschung für sie geplant.

Es war kurz nach Sonnenuntergang. Die Leute hatten sich schon seit dem späten Nachmittag versammelt. Einige hatten sogar Picknickkörbe mitgebracht und machten ein kleines Fest daraus, die letzten Tage des Spätherbstes in den Hügeln von Tirisfal zu genießen. Wachen waren postiert, die auf Unglücke achten sollten, die oft passierten, wenn sich viele Menschen auf engem Raum befanden. Doch Arthas rechnete nicht mit Schwierigkeiten. Als er aus dem Palast trat, in eine Tunika gewandet, mit Reiterhose und einem Umhang in satten herbstlichen Farben, kam Jubel auf. Er wartete, winkte den Zuschauern zu, nahm den Applaus entgegen, drehte sich dann um und streckte Jaina die Hand entgegen.

Sie blickte ein wenig überrascht, lächelte aber, und ihr Name wurde in dem sich verdunkelnden Himmel genauso oft gerufen wie seiner. Arthas und Jaina gingen zu dem riesigen Strohmann und blieben davor stehen. Arthas gebot mit einer Geste Ruhe.

»Meine Landsleute, an diesem Abend erinnern wir uns an all diejenigen, die nicht mehr unter uns weilen. Und wir trennen uns von all den Dingen, die uns im Weg stehen. Wir verbrennen den Strohmann als ein Symbol des endenden Jahres, so wie die Bauern die Reste der abgeernteten Felder verbrennen. Die Asche düngt den Boden und dieses Ritual düngt unsere Seelen. Es tut gut, heute Abend so viele Menschen hier zu sehen. Und es ist mir eine Freude, die Ehre, den Strohmann anzuzünden, an Lady Jaina Prachtmeer zu übergeben.«

Jainas Augen weiteten sich. Arthas wandte sich ihr zu und grinste breit.

»Sie ist die Tochter des Kriegshelden Daelin Prachtmeer und eine angehende mächtige Zauberin. Da Magier Meister des Feuers sind, denke ich, hat sie das Recht, unseren Strohmann an diesem Abend zu entzünden. Stimmt ihr mir zu?«

Die versammelte Menge brüllte ihre Zustimmung, wie Arthas es erwartet hatte. Arthas verneigte sich vor Jaina, dann beugte er sich vor und flüsterte: »Mach ein bisschen Theater – das werden sie lieben.«

Jaina nickte unmerklich, dann wandte sie sich der Menge zu und winkte. Jubel brandete auf. Sie steckte eine Haarsträhne hinter das Ohr und zeigte damit kurz ihre Nervosität, dann setzte sie eine entschlossene Miene auf. Sie schloss die Augen, hob die Hände und murmelte eine Beschwörung.

Jaina trug feuerrote Farben, mit Gelb- und Orangetönen darin. Ein kleiner Flammenball entstand in ihren Händen. Zuerst leuchtete er nur schwach, doch dann immer heller. Für Arthas wirkte sie in diesem Moment wie das Feuer selbst. Ruhig hielt sie die Flammen in den Händen, sicher und meisterhaft, und er wusste, dass die Tage, an denen sie nur wenig Kontrolle über ihre Zauber gehabt hatte, lange vorbei waren. Sie würde eine mächtige Magierin nicht erst »werden« müssen, sie war offensichtlich schon eine, wenn auch noch nicht dem Titel nach.

Und dann streckte sie beide Hände aus. Der Feuerball schoss wie eine Kugel aus einem Gewehr vor und das Publikum rang nach Luft.

Dann brach wilder Applaus aus. Arthas lächelte. Der Strohmann fing nie so schnell Feuer, wenn eine gewöhnliche Fackel an ihn gehalten wurde.

Jaina öffnete bei dem Geräusch die Augen, winkte und lächelte erfreut. Arthas beugte sich nah zu ihr herab und flüsterte: »Spektakulär, Jaina.«

»Du wolltest ja, dass ich ihnen etwas biete«, gab sie zurück und lächelte ihn an.

»Das stimmt. Aber das war schon fast zu viel des Guten. Ich fürchte, sie werden fordern, dass du ab jetzt jedes Jahr den Strohmann anzündest.«

Sie wandte sich um und sah ihn an. »Wäre das denn ein Problem?«

Das Licht des lodernden Feuers tanzte über ihr, beleuchtete ihre lebhaften Gesichtszüge und fing sich in dem goldenen Reif, der ihre Stirn schmückte. Arthas war atemlos, als er sie beobachtete. Sie hatte schon immer attraktiv auf ihn gewirkt und er hatte sie vom ersten Augenblick an gemocht, da er sie gesehen hatte. Sie war eine Freundin gewesen, eine Vertraute und eine aufregende Gefährtin. Doch nun sah er sie buchstäblich in einem völlig neuen Licht.

Er brauchte einen Moment, bis er wieder sprechen konnte. »Nein«, sagte er sanft. »Nein, das wäre absolut kein Problem.«

Sie stürzten sich ins Getümmel und tanzten an diesem Abend um das Feuer. Dabei lösten sie bei den Wachen Bestürzung aus, als sie sich mitten unters Volk mischten, Hände schüttelten und Grüße austauschten. Und dann entwischten sie ihren pflichtbewussten Aufpassern, verloren sich in der Menge und verschwanden unbeobachtet. Arthas führte sie durch einen Hintereingang zu den Privatunterkünften des Palastes. Einmal wären sie beinahe von Dienern erwischt worden, als sie eine Abkürzung durch die Küche nahmen. Sie mussten sich gegen die Wand drücken und eine Weile ganz still stehen.

Dann waren sie in Arthas’ Räumen. Er schloss die Tür, nahm sie in die Arme und küsste sie leidenschaftlich. Doch sie war es, die schüchterne, gelehrte Jaina, die den Kuss löste und zum Bett ging.

Sie führte ihn an der Hand, das goldgelbe Licht des immer noch brennenden Strohmanns draußen tanzte auf ihrer Haut.

Er folgte ihr wie benebelt, wie in einem Traum, als sie neben dem Bett standen, und ihre Hände waren so fest ineinander verschlungen, dass Arthas befürchtete, ihre Finger würden brechen. »Jaina«, flüsterte er.

»Arthas«, hauchte sie. Es war fast ein Wimmern und sie küsste ihn erneut. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände. Er war verrückt nach ihr und fühlte sich plötzlich ihrer beraubt, als sie sich zurückzog. Ihr Atem war sanft und warm auf seinem Gesicht. »Ich… sind wir dafür bereit?«

Er wollte etwas Oberflächliches sagen, doch er wusste, was sie wirklich wissen wollte. Er konnte sich nicht vorstellen, bereiter zu sein, um dieses Mädchen noch mehr in sein Herz zu schließen. Er hatte die liebliche Taretha zurückgewiesen und das war nicht die erste Frau gewesen, zu der er Nein gesagt hatte. Jaina, so wusste er, war noch unerfahrener in solchen Dingen als er.

»Ich bin es, wenn du es bist«, flüsterte er rau, und als er sich hinabbeugte, um sie erneut zu küssen, bemerkte er die vertraute Furche der Sorge auf ihrer Stirn. Ich werde sie wegküssen, schwor er sich und legte sich zu ihr aufs Bett. Ich werde alles, was dir jemals Sorgen bereiten sollte, für immer verjagen.

Später, als der Strohmann schließlich heruntergebrannt und das einzige Licht auf Jainas schlafendem Körper der kalte blauweiße Mondschein war, lag Arthas immer noch wach, ließ seine Finger über ihren Körper gleiten und fragte sich, wohin das alles führen würde. In diesem Moment reichte es ihm, einfach nur er selbst zu sein.

Er hatte keinen Ast ins Feuer des Strohmanns geworfen, weil er nichts loswerden wollte. Das wollte er auch jetzt nicht, überlegte er und beugte sich vor, um sie zu küssen. Jaina erwachte mit einem wohligen Seufzer und griff nach ihm.

»Niemand kann dir irgendetwas verwehren«, murmelte sie und wiederholte damit die Worte, die sie ihm am Tag ihres ersten Kusses gesagt hatte, »am wenigsten ich.«

Er zog sie zu sich heran, eine plötzliche Kälte überkam ihn, obwohl er nicht wusste, warum. »Weise mich nicht zurück. Weise mich niemals zurück. Bitte.«

Sie sah zu ihm auf und ihre Augen glitzerten im kalten Mondlicht. »Das würde ich niemals tun, Arthas. Niemals.«

8

Der Palast war noch nie zum Winterhauchfest so festlich geschmückt gewesen wie in diesem Jahr. Muradin, stets ein vorbildlicher Botschafter seines Volkes, hatte diese Zwergentradition mit nach Lordaeron gebracht. Über die Jahre war sie populärer geworden und in diesem Jahr schien den Menschen das Fest wirklich am Herzen zu liegen.

Die festliche Atmosphäre war bereits ein paar Wochen früher entstanden, als Jaina sie mit ihrer bühnenreifen Show bei der Entzündung des Strohmanns entzückt hatte. Ihr war erlaubt worden, den Winter über zu bleiben, obwohl Dalaran nicht weit entfernt war für jemanden, der teleportieren konnte. Etwas hatte sich verändert und es war genauso subtil wie tiefgründig. Jaina Prachtmeer war mehr als die Tochter des Herrschers von Kul Tiras, war mehr als eine Freundin.

Sie wurde als Mitglied der königlichen Familie betrachtet.

Arthas fiel diese Veränderung zuerst auf, als seine Mutter sowohl Jaina als auch Calia mitnahm, um sie für den Ball des Winterhauchfests auszustatten. Nie zuvor hatte Lianne mit irgendwelchen Besuchern ihre Kleider oder die ihrer Tochter abgestimmt.

Auch Terenas wollte jetzt häufig, dass Jaina ihn und Arthas begleitete, wenn sie den Bitten des Volkes lauschten. Sie saß zur Linken des Königs, Arthas zu seiner Rechten, in einer Position, die fast der seines eigenen Sohnes gleichgestellt war.

Arthas nahm an, dass es die logische Konsequenz war. Oder nicht? Er erinnerte sich der Worte, die er vor einigen Jahren zu Calia gesprochen hatte. »Wir alle haben unsere Pflichten, glaube ich. Du musst heiraten, wen Vater dir aussucht, und ich muss mich im Interesse des Königreichs vermählen.«

Jaina würde gut für das Königreich sein. Und sie würde, so dachte er, auch gut für ihn sein.

Warum fühlte er sich bei dem Gedanken dann aber so unwohl?


In der Nacht vor dem Winterhauchfest fiel frischer Schnee. Arthas schaute aus dem großen Fenster zum Lordamere-See hinaus, der nun gefroren war. Seit dem Morgengrauen hatte es geschneit und erst vor einer Stunde aufgehört. Der Himmel war wie schwarzer Samt, die Sterne wie eisige Diamanten gegen die sanfte Dunkelheit, still und magisch.

Eine weiche Hand umfasste seine. »Schön, nicht wahr?«, sagte Jaina leise. Arthas nickte, ohne sie anzusehen. »Jede Menge Munition.«

»Was?«

»Munition«, wiederholte Jaina. »Für Schneeballschlachten.«

Er wandte sich schließlich zu ihr um und ihm stockte der Atem. Er hatte die Ballkleider, die sie, Calia und seine Mutter an diesem Abend beim Bankett trugen, noch nicht gesehen und nun war er von ihrer Schönheit wie gebannt. Jaina Prachtmeer sah aus wie eine Schneekönigin. Angefangen bei den Schuhen, die wirkten, als bestünden sie aus Eis, über das weiße Kleid, das durchwirkt war von einem Blau wie das des Palastes, bis hin zum silbernen Stirnreif, der die Wärme des Fackelscheins einfing. Sie war hinreißend schön. Doch sie war keine Eiskönigin, keine Statue, sie war warm, weich und lebendig. Ihr goldenes Haar floss über ihre Schultern, ihre Wangen waren rot unter ihrem hinreißenden Blick, ihre blauen Augen strahlten vor Glück.

»Du bist wie… eine weiße Kerze«, sagte er. »Ganz weiß und golden.« Er griff nach einer ihrer Haarlocken und wickelte sie sich um den Finger.

Sie lachte. »Ja«, sagte sie und fasste nach seinen eigenen blonden Haaren. »Unsere Kinder werden aller Wahrscheinlichkeit nach auch blond werden.«

Er erstarrte.

»Jaina… bist du…«

Sie lachte. »Nein. Noch nicht. Doch es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass wir keine Kinder haben werden.«

Kinder. Wieder dieses Wort, das ihn schockierte und ihn seltsam bedrängte. Sie redete von den Kindern, die sie haben würden. Sein Geist raste in die Zukunft, eine Zukunft mit Jaina als seiner Frau, ihren Kindern im Palast, ihren Eltern verstorben, ihm auf dem Thron, die Last der Krone auf seinem Haupt. Ein Teil von ihm wollte das unbedingt. Er-liebte es, Jaina bei sich zu haben, liebte es, sie nachts in seinen Armen zu halten, liebte den Geschmack und Geruch von ihr, liebte ihr Lachen, so rein wie eine Glocke und so süß wie der Duft von Rosen.

Er liebte…

Was, wenn er es verdarb?

Denn plötzlich fiel ihm in diesem Moment auf, dass alles bislang ein Kinderspiel gewesen war. Er hatte Jaina als Kameradin gesehen, so wie sie es seit seiner Kindheit gewesen war, nur dass ihre Spiele miteinander inzwischen erwachsener geworden waren. Doch etwas in ihm hatte sich verändert. Was, wenn es wirklich echt war? Was, wenn er sie wirklich liebte und sie ihn? Was, wenn er ein schlechter Ehemann war, ein schlechter König – was, wenn…

»Ich bin noch nicht bereit«, stieß er hervor.

Ihre Stirn legte sich in Falten. »Nun, wir müssen ja nicht sofort Kinder haben.« Sie drückte seine Hand in einer ganz offensichtlichen Geste der Beruhigung.

Arthas ließ ihre Hand plötzlich los und trat zurück. Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich vor Verwirrung.

»Arthas? Was stimmt denn nicht?«

»Jaina – wir sind noch zu jung«, sagte er. Er sprach schnell, seine Stimme hob sich leicht. »Ich bin zu jung. Es ist immer noch… Ich kann nicht. Ich bin nicht bereit.«

Sie erbleichte. »Du bist nicht…? Ich dachte -«

Schuld überkam ihn. Sie hatte ihn das in der Nacht gefragt, als sie Liebende geworden waren. »Bist du bereit dafür?«, hatte sie geflüstert. »Ich bin es, wenn du es bist«, hatte er geantwortet und es auch so gemeint. Er hatte es wirklich geglaubt…

Arthas umfasste ihre Hände und versuchte verzweifelt, die Gefühle auszudrücken, die ihn durchströmten. »Ich muss noch so viel lernen. So viel Ausbildung absolvieren. Und Vater braucht mich. Uther muss mir noch so vieles beibringen, und Jaina, wir sind immer Freunde gewesen. Wir haben uns immer so gut verstanden. Kannst du mich jetzt verstehen? Können wir immer noch Freunde sein?«

Ihre blutleeren Lippen öffneten sich, doch kein Wort drang zunächst daraus hervor. Ihre Hände lagen schlaff in seinen. Fast verzweifelt drückte er sie.

Jaina, bitte. Bitte versteh mich doch – selbst wenn ich es selbst nicht tue.

»Natürlich, Arthas.« Ihre Stimme klang monoton. »Wir werden immer Freunde sein, du und ich.«

Alles an ihrer Haltung, vom Gesicht bis hin zur Stimme, deutete auf ihren Schmerz und den Schock hin. Doch Arthas klammerte sich stattdessen an, die Worte. Eine Welle der Erleichterung, so stark, dass sie seine Knie weich werden ließ, brach über ihm zusammen. Es würde alles gut werden. Vielleicht war sie jetzt ein wenig bestürzt, doch sicherlich würde sie es bald verstehen. Sie kannten einander. Sie würde erkennen, dass er recht hatte, dass es zu früh war.

»Ich meine – es ist ja nicht für immer«, sagte er und spürte keine Notwendigkeit, sich zu erklären. »Nur für jetzt. Du musst noch lernen – ich bin mir sicher, ich war dabei eine ziemliche Ablenkung. Antonidas nimmt mir das sicher übel.«

Sie sagte nichts.

»Es ist das Beste. Vielleicht wird es eines Tages anders sein und wir können es noch mal versuchen. Es ist ja nicht so, dass ich nicht… dass du…«

Er zog sie in seine Arme und drückte sie. Einen Augenblick lang war sie hart wie Stein, dann spürte er, wie die Spannung von ihr abfiel, und sie legte die Arme um ihn. Sie standen eine lange Zeit lang allein in der Halle. Arthas ließ seine Wange an ihr goldenes Haar gedrückt. Die Haarfarbe, mit der zweifelsfrei ihre Kinder geboren werden würden.

»Ich möchte nicht die Tür zwischen uns zuwerfen«, sagte er ruhig. »Ich will…«

»Es ist alles in Ordnung, Arthas. Ich verstehe es.«

Er trat zurück, seine Hände lagen auf ihren Schultern, und er blickte ihr in die Augen. »Wirklich?«

Sie lachte auf. »Ehrlich? Nein. Doch es ist in Ordnung. Das wird es irgendwann einmal sein. Das weiß ich.«

»Jaina, ich will nur sichergehen, dass es richtig ist. Für uns beide.«

Ich will es nicht vermasseln. Ich kann es nicht vermasseln.

Sie nickte. Sie atmete tief ein, beruhigte sich und lächelte ihn an… ein echtes, wenn auch verletztes Lächeln. »Komm, Prinz Arthas. Du musst deine Freundin zum Ball geleiten.«

Arthas schaffte es durch den Abend und Jaina auch, obwohl Terenas ihnen merkwürdige Blicke zuwarf.

Er wollte es seinem Vater nicht sagen, noch nicht. Es war ein angespannter und unangenehmer Abend. Während einer Tanzpause sah Arthas hinaus auf den weißen Schnee und den in Mondlicht gebadeten See und fragte sich, warum alles Schlechte stets im Winter passierte.


Generalleutnant Aedelas Schwarzmoor wirkte nicht besonders glücklich darüber, zu dieser exklusiven Audienz mit König Terenas und Prinz Arthas einbestellt worden zu sein. Tatsächlich sah er aus, als wollte er im Boden versinken.

Die Jahre waren nicht gnädig zu ihm gewesen, weder im physischen Sinn noch wie das Schicksal mit ihm umgesprungen war. Arthas erinnerte sich an den gut aussehenden, recht schneidigen militärischen Kommandeur, der, obwohl er dem Trunk übermäßig zugeneigt war, zumindest die schlimmsten Auswirkungen hatte zurückhalten können.

Doch das war jetzt anders. Schwarzmoors Haar war grau durchwirkt, er hatte zugenommen und seine Augen waren blutunterlaufen. Glücklicherweise war er völlig nüchtern. Wäre er zu diesem Treffen angetrunken erschienen, hätte Terenas, der stets fest an Mäßigung glaubte, sich geweigert, ihn zu empfangen.

Schwarzmoor war vorgeladen worden, weil er versagt hatte. Irgendwie war der gefeierte Gladiatoren-Orc Thrall während eines Feuers aus Durnholde geflohen. Schwarzmoor hatte versucht, die Flucht zu vertuschen, und persönlich die Suche nach dem Orc geleitet. Alles war nur in kleinem Rahmen abgelaufen, doch ein Geheimnis, das so groß wie der riesige grüne Orc war, konnte nicht lange geheim gehalten werden.

Nachdem es bekannt geworden war, gab es natürlich wilde Gerüchte – es sei ein verfeindeter Lord gewesen, der den Orc befreit hatte, der damit seine Gewinne in der Arena sichern wollte, oder es wäre eine eifersüchtige Geliebte gewesen, die Schwarzmoor bloßstellen wollte. Manche behaupteten, eine schlaue Gruppe von Orcs, die nicht unter der merkwürdigen Lethargie litten, habe ihn befreit. Wieder andere waren sich sicher, dass Orgrim Schicksalshammer persönlich dahintersteckte oder Drachen, die als Menschen getarnt den Ort mit ihrem feurigen Odem in Brand gesetzt hatten.

Arthas hatte es genossen, den Orc kämpfen zu sehen, doch er erinnerte sich daran, dass auch ihm der Gedanke gekommen war, ob es klug war, einen Orc auszubilden. Als die Nachricht von Thralls Flucht bekannt geworden war, hatte Terenas Schwarzmoor augenblicklich zum Rapport bestellt.

»Es war schon schlimm genug, dass Ihr einen Orc zum Gladiatoren ausbilden musstet«, begann Terenas. »Doch ihm auch noch Militärstrategie und das Lesen und Schreiben beizubringen… Ich muss Euch fragen, Generalleutnant, was im Namen des Lichts habt Ihr Euch dabei gedacht?«

Arthas unterdrückte ein Lächeln, als Aedelas Schwarzmoor vor seinen Augen buchstäblich zu schrumpfen schien.

»Ihr hattet mir versichert, dass das Geld und die Materialien direkt in den Ausbau der Sicherheit gehen und dass Euer Orc gut bewacht würde«, fuhr Terenas fort. »Und dennoch ist er irgendwie dort draußen, statt sicher in Durnholde verwahrt. Wie konnte das geschehen?«

Schwarzmoor runzelte die Stirn und sammelte sich ein wenig. »Es ist sicherlich wenig erfreulich, dass Thrall fliehen konnte. Ich bin mir sicher, Ihr wisst, wie ich mich fühle.«

Das war ein Punkt für Schwarzmoor. Terenas litt immer noch darunter, dass Schicksalshammer vor seiner Nase geflohen war. Doch es war kein schlauer Schachzug des Generalleutnants.

Terenas runzelte die Stirn und fuhr fort. »Ich hoffe, das ist keine beunruhigende Entwicklung. Das Geld stammt aus der Arbeit der Menschen, Generalleutnant. Es soll ihnen Sicherheit bieten. Muss ich einen Verwalter mitschicken, der dafür sorgt, dass es richtig verteilt wird?«

»Nein! Nein, nein, das wird nicht nötig sein. Ich werde jede Kupfermünze nachweisen.«

»Ja«, sagte Terenas mit trügerischer Ruhe, »das werdet Ihr.«

Als Schwarzmoor schließlich ging und sich auf dem ganzen Weg nach draußen unterwürfig verneigte, wandte sich Terenas an seinen Sohn.

»Was hältst du von der ganzen Sache? Du hast Thrall in Aktion erlebt.«

Arthas nickte. »Er war ganz anders, als ich mir einen Orc vorgestellt habe. Ich meine… er war groß. Und kämpfte wild. Doch es war offensichtlich, dass er auch intelligent war. Und gut ausgebildet.«

Terenas strich sich durch den Bart und dachte nach. »Es gibt ein paar flüchtige Orcs dort draußen. Einige, die vielleicht nicht wie die anderen unter der Mattigkeit leiden. Wenn Thrall sie findet und ihnen beibringt, was er weiß, könnte das für uns sehr schlecht sein.«

Arthas setzte sich aufrechter hin. Möglicherweise war das die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte. »Ich habe viel mit Uther geübt.« Und das hatte er wirklich. Unfähig, anderen – und sich selbst – zu erklären, warum er die Beziehung mit Jaina beendet hatte, hatte er sich in die Ausbildung gestürzt. Er kämpfte jeden Tag stundenlang, bis sein Körper schmerzte, und versuchte sich so zu verausgaben, dass ihr Bild aus seinem Kopf verschwand.

Das war es doch, was er wollte, oder? Sie hatte es gut aufgenommen. Warum lag er dann aber nachts wach, vermisste ihre Wärme und Gegenwart derart schmerzhaft, dass es schon eine Qual war? Er hatte sogar die bislang verachteten Stunden in ruhiger stiller Meditation willkommen geheißen, um sich abzulenken. Wenn er sich vielleicht auf das Kämpfen konzentrierte, darauf, zu lernen, wie man das Licht akzeptierte und kanalisierte, konnte er endlich über sie hinwegkommen. Über das Mädchen, mit dem er selbst Schluss gemacht hatte.

»Wir könnten selbst nach diesen Orcs suchen. Sie finden, bevor Thrall es schafft.«

Terenas nickte. »Uther hat mir von deiner Hingabe beim Lernen berichtet und er ist beeindruckt von deinen Fortschritten.« Er traf eine Entscheidung. »Nun gut. Sag Uther Bescheid und triff die Vorbereitungen. Es ist an der Zeit für deine ersten Kampferfahrungen.«

Arthas musste sich beherrschen, um nicht vor Freude zujubeln. Er hielt sich zurück und bemerkte den gequälten, besorgten Ausdruck im Gesicht seines Vaters. Vielleicht, nur vielleicht, würde das Töten der rebellischen Grünhäute jeden Gedanken an Jainas erschreckten Gesichtsausdruck auslöschen, den sie gezeigt hatte, als er ihre Beziehung beendete.

»Danke, ich mache dich stolz.«

Trotz des Bedauerns in den blaugrünen Augen seines Vaters, die denen von Arthas so sehr ähnelten, lächelte Terenas. »Das, mein Sohn, ist meine geringste Sorge.«

9

Jaina rannte durch die Gärten. Sie würde zu ihrem Treffen mit Erzmagier Antonidas zu spät kommen. Es war ihr schon wieder passiert – sie hatte, die Nase in einem Buch vergraben, die Zeit vergessen. Ihr Meister schalt sie immer dafür, doch sie konnte es nicht ändern. Ihre Füße trugen sie durch die Reihen der Goldrindenapfelbäume, die Früchte waren schwer und reif. Jaina spürte einen kurzen Anflug von Trauer, als sie an das Gespräch dachte, das sie erst vor wenigen Jahren hier geführt hatte. Als Arthas hinter ihr erschienen war, die Hände über ihre Augen gelegt und geflüstert hatte: »Wer bin ich?«

Arthas. Sie vermisste ihn immer noch. Sie vermutete, dass sie das wohl tun würde, solange sie lebte. Das Zerwürfnis zwischen ihnen war unerwartet gekommen und nach wie vor schmerzvoll. Und der Zeitpunkt hätte nicht schlechter gewählt sein können. Sie dachte immer noch daran, wie sie den ganzen Ball am Winterhauchfest hindurch tun musste, als sei nichts geschehen. Doch als der erste Schreck verflogen war, hatte sie begonnen, seine Gründe zu verstehen. Sie waren beide jung, und wie er damals völlig richtig ausgeführt hatte, es galt, Verpflichtungen nachzukommen und eine Ausbildung zu beenden. Sie hatte ihm versprochen, dass sie immer Freunde bleiben würden, und sie hatte es auch so gemeint – damals und auch heute noch. Doch um dieses Versprechen einzuhalten, mussten die Wunden erst heilen. Und so war es auch geschehen.

Sicherlich war viel in der Zeit passiert, da sie so über die Maßen beschäftigt gewesen war und sich auf anderes konzentriert hatte. Vor fünf Jahren hatte ein mächtiger Zauberer namens Kel’Thuzad den Zorn der Kirin Tor auf sich gezogen, weil er mit der widernatürlichen Magie der Nekromanten herumexperimentierte. Er war plötzlich und auf rätselhafte Art verschwunden, nachdem er zuvor gemaßregelt und unmissverständlich dazu aufgefordert worden war, seine Experimente augenblicklich einzustellen. Dieses Rätsel war eins der vielen Dinge gewesen, die ihr geholfen hatten, sich während der zurückliegenden drei Jahre abzulenken.

Draußen vor den Toren der Stadt der Magier war ebenfalls manches geschehen, obwohl die Informationen darüber spärlich gesät und die Gerüchte verworren waren. Wie Jaina herausgefunden hatte, hatte der geflohene Orc Thrall, der sich nun Kriegshäuptling der Horde nannte, begonnen, die Internierungslager anzugreifen und die gefangenen Orcs zu befreien. Später war Durnholde von dem selbst ernannten Kriegshäuptling zerstört und in Schutt und Asche verwandelt worden. Dazu erweckte Thrall etwas, das Jaina als alte Schamanenmagie seines Volkes kennengelernt hatte.

Schwarzmoor war ebenfalls gefallen, doch um ihn wurde nicht lange getrauert. Obwohl sie besorgt war, was diese neue Horde für ihr Volk bedeuten mochte, tat es Jaina um den Verlust der Lager nicht leid. Nicht nach allem, was sie dort gesehen hatte.

Stimmen drangen an ihr Ohr, eine vor Wut erhoben. Das war an diesem Ort so unüblich, dass Jaina augenblicklich stehen blieb.

»Wie ich Terenas bereits gesagt habe, sind Eure Leute Gefangene in ihrem eigenen Land. Ich wiederhole es – die Menschheit ist in Gefahr. Die Wogen der Finsternis sind wieder da und die ganze Welt steht am Rande eines Krieges!«

Es war eine männliche Stimme, wohlklingend und stark. Doch Jaina erkannte sie nicht.

»Ah, jetzt weiß ich, wer Ihr seid. Ihr seid der herumziehende Prophet, den König Terenas in seinem letzten Brief erwähnt hat. Und ich interessiere mich für Euer Geschwätz genauso wenig wie er.«

Der andere war Antonidas und er sprach so ruhig wie der Fremde eindringlich. Jaina wusste, dass sie sich diskret zurückziehen sollte, bevor man sie bemerkte. Doch dieselbe Neugierde, die das Mädchen gemeinsam mit Arthas zum Erkunden des Orc-Lagers getrieben hatte, drängte sie nun dazu, sich mit einem Zauber unsichtbar zu machen und zuzuhören.

Sie trat, so nah es ging, heran. Sie konnte jetzt beide sehen. Der erste Sprecher, den Antonidas sarkastisch als »Prophet« betitelt hatte, trug einen Umhang mit Kapuze, die mit schwarzen Federn geschmückt war. Ihr Meister saß auf dem Rücken eines Pferdes. »Ich dachte, Terenas wäre recht deutlich gewesen in Bezug auf Eure Vorhersagen.«

»Ihr müsst schlauer als der König sein! Das Ende ist nah!«

»Ich habe es Euch schon zuvor gesagt, ich habe kein Interesse an diesem Blödsinn.« Kurz gefasst, ruhig, endgültig. Jaina kannte diesen Tonfall.

Der Prophet war einen Augenblick lang still, ehe er seufzte: »Dann habe ich hier meine Zeit verschwendet.«

Vor Jainas erschrecktem Blick verschwamm die Gestalt des Fremden. Sie zog sich zusammen und veränderte sich, und wo eine Sekunde zuvor noch ein Mann in einer Mönchskutte gestanden hatte, befand sich nun ein großer, schwarzer Vogel. Mit einem frustrierten Krächzen sprang er hoch, schlug mit den Flügeln und war verschwunden.

Ihr Blick lag immer noch auf dem Eindringling, der nun ein verschwindender Punkt am blauen Himmel war. Antonidas sagte: »Du kannst jetzt rauskommen, Jaina.«

Jainas Gesicht wurde heiß. Sie murmelte einen Gegenzauber und trat vor. »Es tut mir leid, dass ich zugehört habe, Meister, aber…«

»Es ist deine Neugierde, auf die ich mich verlassen kann, mein Kind«, sagte Antonidas und lachte. »Der alte Narr ist davon überzeugt, dass die Welt bald enden wird. Er nimmt diese ganze Sache mit der ,Seuche’ meiner Meinung nach ein wenig zu ernst.«

»Seuche?«, fragte Jaina.

Antonidas seufzte, stieg ab und schickte sein Pferd mit einem Klaps weg. Das Pferd tänzelte ein wenig, dann trottete es gehorsam zu den Ställen, wo sich ein Stallknecht darum kümmern würde. Der Erzmagier winkte die Schülerin zu sich heran, die vortrat und seine ausgestreckte, knorrige Hand ergriff. »Du wirst dich daran erinnern, dass ich vor kurzer Zeit einige Boten in die Hauptstadt geschickt habe.«

»Ich dachte, das wäre wegen der Sache mit den Orcs.«

Antonidas murmelte eine Beschwörung und einige Augenblicke später materialisierten sie in seinen privaten Gemächern. Jaina liebte diesen Ort, liebte die Unordnung, den Geruch nach Pergament, Leder, Tinte und die alten Stühle, auf denen man es sich gemütlich machen und sich in Wissen verlieren konnte. Antonidas bedeutete ihr, Platz zu nehmen, und mit der Krümmung eines Fingers ließ er für sie beide Nektar aus einem Krug eingießen.

»Nun, darum ging es auch ursprünglich. Doch meine Abgesandten glauben, dass eine ernsthaftere Gefahr aufzieht.«

»Schlimmer als die Neubildung der Horde?« Jaina streckte die Hand aus und ein kristallener Kelch mit einer goldenen Flüssigkeit glitt zwischen ihre Finger.

»Mit Orcs könnte man vielleicht reden. Mit einer Krankheit kann man das nicht. Es gibt Berichte von einer Seuche, die sich in den Nordländern ausbreitet. Ich glaube, dass die Kirin Tor sich darum kümmern müssten.«

Jaina schaute ihn an. Eine Furche bildete sich auf ihrer Stirn, während sie trank. Normalerweise gehörten Krankheiten zum Bereich der Priester, nicht der Magier. Es sei denn… »Ihr denkt, sie ist irgendwie magischer Natur?« Er nickte mit seinem kahlen Schädel. »Das ist gut möglich. Und das ist der Grund, Jaina Prachtmeer, warum ich möchte, dass du in diese Länder reist und die Sache untersuchst.« Jaina verschüttete beinahe ihren Nektar. »Ich?« Er lächelte freundlich. »Ja, du. Du hast beinahe alles gelernt, was ich dir beibringen kann. Es ist an der Zeit, dass du diese Fertigkeiten außerhalb der Sicherheit dieses Turmes anwendest.« Wieder blitzte es in seinen Augen. »Und ich weiß auch schon, wer dir dabei helfen wird.«


Arthas fläzte sich gegen einen Baum, badete sein Gesicht in dem schwachen Sonnenlicht und schloss die Augen. Er wusste, dass er Ruhe und Selbstbewusstsein ausstrahlte, das musste er auch. Seine Männer sorgten sich schon genug um ihn. Er durfte sich nicht anmerken lassen, dass auch er Bedenken hatte. Wie würde er nach all der Zeit mit Jaina auskommen? Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen. Doch alle Berichte hatten optimistisch geklungen und er wusste, dass sie der Aufgabe gewachsen war. Es würde funktionieren. Es musste.

Einer seiner Hauptmänner, Falric, den Arthas schon seit Jahren kannte, stampfte auf und ging einen der vier Wege an der Kreuzung ein kurzes Stück hinunter. Dann kam er zurück, um einen anderen Pfad ein Stück weit zu erforschen. Sein Atem war in der Kälte sichtbar und von Minute zu Minute wurde er ungeduldiger. »Prinz Arthas«, wagte er schließlich zu sagen, »wir warten hier bereits seit einigen Stunden. Seid Ihr sicher, dass Eure Freundin noch kommt?«

Arthas lächelte, als er, ohne die Augen zu öffnen, antwortete. Der Mann wusste aus Sicherheitsgründen nicht Bescheid. »Ich bin mir sicher.« Das war er auch. Er dachte an all die anderen Male, als er geduldig auf sie gewartet hatte. »Jaina kommt immer ein wenig zu spät.«

Kaum hatte er die Worte gesprochen, als aus der Ferne ein Schrei aufklang, gefolgt von den nur undeutlich verständlichen Worten: »Ich SCHLAGEN!«

Wie ein Panther, der in der Sonne gedöst hatte, sprang Arthas mit dem Hammer in der Hand auf. Er lief die Straße hinunter und entdeckte eine schlanke weibliche Gestalt, die auf ihn zueilte, als sie den Gipfel des Hügels erklomm und in sein Sichtfeld geriet. Hinter ihr zeichnete sich etwas ab, was, wie er wusste, ein Elementar war – ein wirbelnder Klumpen aus Wasser, mit simplem Kopf und Gliedern.

Und dahinter erschienen… zwei Oger.

»Beim Licht!«, schrie Falric und stürmte vorwärts.

Arthas hätte ihn überholt und das Mädchen eher erreicht, wenn er nicht in diesem Augenblick Jaina Prachtmeers Gesichtsausdruck gesehen hätte.

Sie lächelte.

»Lasst Eure Klinge stecken«, sagte Arthas und spürte, wie auch er lächelte. »Sie kann auf sich selbst aufpassen.«

Und das konnte die Lady tatsächlich – und zwar sehr effektiv. In genau dem Moment wirbelte Jaina herum und beschwor Feuer. Wenn einem jemand in diesem Gefecht leidtun musste, dann waren es die armen, verwirrten Oger. Sie brüllten vor Schmerz, als das Feuer an ihren plumpen, bleichen Körpern loderte, und blickten erschreckt die kleine Menschenfrau an, die für diese erstaunlichen Schmerzen verantwortlich war. Einer von ihnen war so schlau, wegzulaufen, doch der andere schien es nicht glauben zu können und kam näher. Jaina schickte ihm einen Feuerball entgegen. Der Oger schrie und brach zusammen, dann verbrannte er schnell. Der Gestank des verkohlenden Fleisches erfüllte Arthas’ Nase.

Jaina sah, dass der zweite floh. Sie wischte sich die Hände ab und nickte. Sie war noch nicht einmal verschwitzt.

»Meine Herren, das ist Fräulein Jaina Prachtmeer«, sagte Arthas gedehnt und ging zu seiner Freundin seit Kindheitstagen – und seiner ehemaligen Geliebten. »Spezialagentin der Kirin Tor und eine der talentiertesten Zauberinnen im ganzen Land. – Offensichtlich hast du nichts verlernt.«

Sie blickte ihn an und lächelte. Es lag keine Verlegenheit in ihrem Blick, nur Freude. Sie freute sich, ihn zu sehen, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Die Begeisterung in ihm wuchs. »Schön, dich wiederzusehen.«

Es lag so viel Bedeutung in den wenigen, förmlichen Worten. Ihre Augen leuchteten, als sie antwortete: »Ja, gleichfalls. Es ist schon eine Weile her, seit ein Prinz mich irgendwohin begleitet hat.«

»Ja«, sagte er und ein wenig Reue klang dabei mit. »Das ist es.«

Jetzt wurde es unangenehm. Jaina blickte zu Boden. Er räusperte sich. »Nun, ich glaube, wir sollten aufbrechen.«

Sie nickte und entließ den Elementar mit einem Wink. »Ich brauche diesen Kerl nicht, wenn ich so kräftige Soldaten bei mir habe«, sagte sie und schenkte Falric und seinen Männern ihr strahlendstes Lächeln. »So, Euer Hoheit, was weißt du mir über diese Seuche zu berichten, die wir untersuchen müssen?«

»Nicht viel«, musste Arthas eingestehen, als sie neben ihm herging. »Vater hat mich einfach losgeschickt, damit ich mit dir zusammenarbeite. Uther hat vor Kurzem mit mir gegen die Orcs gekämpft. Doch ich schätze, wenn die Zauberer von Dalaran sich dafür interessieren, wird es mit Magie zu tun haben.«

Sie nickte und lächelte immer noch, obwohl ihre Stirn sich wieder in der gewohnten Art und Weise furchte. Arthas spürte einen merkwürdigen Schmerz, als er es bemerkte. »Ganz richtig. Obwohl ich mir nicht sicher bin, wie genau. Deshalb hat Meister Antonidas mich ausgeschickt, um Bericht zu erstatten. Wir sollen die Dörfer entlang der Königsstraße abreiten, mit den Bewohnern reden und sehen, ob wir irgendetwas Interessantes erfahren. Hoffentlich sind sie noch nicht davon befallen und es ist nicht mehr als der lokal begrenzte Ausbruch irgendeiner Krankheit.«

Weil er sie so gut kannte, konnte er den Zweifel in ihrer Stimme hören. Er verstand ihn. Wenn Antonidas wirklich geglaubt hätte, dass es nicht ernst wäre, hätte er sicher nicht seine beste Schülerin geschickt – und König Terenas nicht seinen Sohn.

Er wechselte das Thema. »Ich frage mich, ob es etwas mit den Orcs zu tun hat.« Als sie fragend eine Augenbraue hob, fuhr er fort: »Ich bin mir sicher, du hast davon gehört, dass einige der Grünhäute aus den Lagern geflohen sind.«

Sie nickte. »Ja. Manchmal frage ich mich, ob die kleine Familie, die wir gesehen haben, dabei war.«

Er war unangenehm berührt. »Nun, wenn sie es ist, dient sie vielleicht auch noch den Dämonen.«

Ihre Augen weiteten sich. »Was? Ich dachte, das Problem wäre bereits vor langer Zeit gelöst worden – und dass die Orcs keine dämonische Energie mehr nutzen würden.«

Arthas zuckte mit den Achseln. »Vater hat Uther und mich ausgeschickt, um bei der Verteidigung von Strahnbrad zu helfen. Als wir dort eintrafen, hatten die Orcs bereits begonnen, die Dorfbewohner zu verschleppen. Wir haben sie in ihrem Lager gestellt, doch drei Männer wurden… geopfert.«

Jaina hörte jetzt so konzentriert zu, wie sie es stets tat. Nicht nur mit ihren Ohren, sondern mit ihrem ganzen Körper, und sie achtete auf jedes Wort. Beim Licht, sie war so wunderschön.

»Die Orcs haben gesagt, dass sie die Männer den Dämonen opfern wollten. Nannten es ein geringes Opfer – sie wollten eindeutig mehr.«

»Und Antonidas scheint zu glauben, dass diese Seuche magischer Natur ist«, murmelte Jaina. »Ich frage mich, ob es da eine Verbindung gibt. Es ist entmutigend, zu hören, dass sie derart in alte Verhaltensweisen zurückgefallen sind. Vielleicht ist es nur ein einzelner Clan.«

»Vielleicht – vielleicht auch nicht.« Er erinnerte sich daran, wie Thrall im Ring gekämpft hatte, und dachte darüber nach, wie selbst dieser bunt gemischte Haufen von Orcs ihnen einen erstaunlich harten Kampf geliefert hatte. »Wir können uns kein Risiko leisten. Wenn wir angegriffen werden, haben meine Männer Befehl, alle zu töten.« Kurz dachte er über die Wut nach, die ihn ergriffen hatte, als der Anführer der Orcs die Antwort auf Uthers Kapitulationsangebot geschickt hatte. Die beiden Männer, die der alte Paladin als Parlamentäre ausgesandt hatte, waren getötet worden, ihre Pferde kamen ohne Reiter zurück – eine brutale und unmissverständliche Botschaft. »Los, lasst uns aufbrechen und diese Tiere vernichten!«, hatte er damals geschrien und die Waffe, die er bei der Aufnahme in den Orden der Silbernen Hand bekommen hatte, war hell erstrahlt. Er wäre am liebsten sofort losgestürmt, doch Uther hatte ihn am Arm zurückgehalten.

»Denkt daran, Arthas«, hatte er gesagt und seine Stimme hatte ruhig geklungen, »wir sind Paladine. Rache gehört nicht zu unseren Tugenden. Wenn wir zulassen, dass unsere Leidenschaft sich in Blutrünstigkeit verwandelt, dann werden wir genauso widerwärtig wie die Orcs.«

Diese Worte waren trotz seiner Wut zu Arthas durchgedrungen – irgendwie. Arthas hatte die Zähne zusammengebissen und zugesehen, wie die verängstigten Pferde, deren Reiter abgeschlachtet worden waren, weggeführt wurden. Uthers Worte waren weise, doch Arthas spürte, dass er die Männer enttäuscht hatte, die auf diesen Pferden gesessen hatten. Er hatte sie genauso enttäuscht, wie er Invincible enttäuscht hatte, und jetzt waren sie genauso tot wie das große Tier.

Er atmete tief ein und beruhigte sich. »Ja, Uther.«

Seine Ruhe war belohnt worden – Uther hatte ihn mit der Führung des Angriffs betraut. Wäre er doch nur rechtzeitig gekommen, um die drei armen Dorfbewohner retten zu können.

Eine sanfte Hand auf seinem Arm holte ihn zurück in die Gegenwart. Ohne nachzudenken, einfach aus Gewohnheit, bedeckte er Jainas Hand mit seiner eigenen. Sie wollte sie wegziehen, dann schenkte sie ihm ein leicht angespanntes Lächeln.

»Es ist sehr, sehr schön, dich wiederzutreffen«, sagte er impulsiv.

Ihr Lächeln wurde sanfter, aufrichtiger, und sie drückte seinen Arm. »Das finde ich auch, Euer Hoheit. Übrigens, danke dafür, dass du deine Männer zurückgerufen hast, als wir uns trafen.« Das Schmunzeln verbreiterte sich zu einem vollen Lächeln. »Ich habe dir ja schon einmal gesagt, dass ich kein zerbrechliches Püppchen bin.«

Er lachte. »Das bist du wirklich nicht, Milady. Du kämpfst mit uns gemeinsam in diesen Schlachten.«

Sie seufzte. »Ich bete darum, dass es keine Kämpfe gibt – nur eine Untersuchung. Doch ich tue, was sein muss. Das habe ich immer getan.«

Jaina zog ihre Hand zurück. Arthas war enttäuscht. »So wie wir alle, Milady.«

»Oh, hör damit auf, nenn mich wieder Jaina.«

»Und ich bin Arthas. Schön, dich kennenzulernen.«

Sie stupste ihn an und sie lachten. Plötzlich war die Barriere zwischen ihnen fort. Sein Herz erwärmte sich, als er auf sie hinabsah und sie wieder an seiner Seite war. Sie standen zum ersten Mal einer echten Gefahr gegenüber. Er war im Zwiespalt. Er wollte sie in Sicherheit wissen, doch gleichermaßen sollte sie mit ihren Fähigkeiten glänzen können. Hatte er das Richtige getan? War es zu spät? Wie wäre alles gekommen, wenn er ihr nicht gesagt hätte, dass er noch nicht bereit war? Doch es hatte gestimmt – er war für einige Dinge noch nicht bereit gewesen. Allerdings hatte sich vieles seit dem Winterhauchfest geändert. Und einige Dinge waren gleich geblieben. Alle möglichen Gefühle zerrten an ihm und er schob sie alle beiseite, außer einem: der ehrlichen Freude über ihre Anwesenheit.

Bevor die Dunkelheit hereinbrach, schlugen sie das Lager auf einer kleinen Lichtung in der Nähe der Straße auf. Es gab kein Mondlicht, nur die Sterne glitzerten in der schwarzen Dunkelheit über ihnen. Jaina entzündete witzelnd das Feuer, beschwor etwas köstliches Brot und Getränke. Dann erklärte sie: »Ich bin fertig.« Die Männer lachten und bereiteten gehorsam den Rest der Mahlzeit zu. Sie brutzelten Kaninchen an Spießen und packten Obst aus. Wein wurde herumgereicht und fast wirkten sie wie eine Gruppe von Freunden, die den Abend genossen, nicht wie eine kampfbereite Einheit, die eine tödliche Seuche untersuchte.

Danach saß Jaina ein wenig abseits der Gruppe. Ihre Augen waren zum Himmel gerichtet, ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Arthas trat zu ihr und bot ihr mehr Wein an. Sie streckte den Kelch aus, während er ihn vollgoss. Dann trank sie daraus.

»Das ist ein guter Jahrgang, Euer Ho… Arthas«, sagte sie.

»Einer der Vorteile, wenn man ein Prinz ist«, antwortete er. Er streckte seine langen Beine aus und legte sich neben sie, ein Arm hinter seinem Kopf als Kissen, der andere hielt den Becher an seine Brust, während er zu den Sternen aufschaute. »Was, glaubst du, werden wir finden?«

»Ich weiß es nicht. Ich wurde als Ermittler ausgeschickt. Ich frage mich, ob es mit Dämonen zu tun hat, wenn man an deine Konfrontation mit den Orcs denkt.«

Er nickte in der Dunkelheit. Doch dann begriff er, dass sie ihn gar nicht sehen konnte, und sagte: »Da stimme ich dir zu. Ich frage mich, ob wir nicht besser einen Priester mitgenommen hätten.«

Sie wandte sich ihm lächelnd zu. »Du bist ein Paladin, Arthas. Das Licht wirkt durch dich. Außerdem kannst du besser mit Waffen umgehen als jeder andere Priester, den ich kenne.«

Er lächelte. Der Augenblick verweilte zwischen ihnen, und als er gerade die Hand nach ihr ausstrecken wollte, seufzte sie, stand auf und trank den Wein aus.

»Es ist spät. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich bin erschöpft. Ich sehe dich morgen. Schlaf gut, Arthas.«

Doch er konnte nicht schlafen. Er warf sich auf seiner Bettrolle herum, schaute in den Himmel. Die Geräusche der Nacht zogen seine Aufmerksamkeit auf sich, als er gerade einzuschlafen schien. Er konnte es nicht mehr aushalten. Er war immer impulsiv gewesen und das wusste er auch, aber verdammt…

Er warf die Decke zurück und setzte sich auf. Das Lager lag ruhig da. Hier gab es keine Gefahren, deshalb hatten sie keine Wache aufgestellt.

Leise stand Arthas auf und ging zu der Stelle, wo Jaina schlief. Er kniete neben ihr und strich ihr das Haar aus dem Gesicht.

»Jaina«, flüsterte er, »wach auf.«

Wie sie es schon in der Nacht vor so langer Zeit getan hatte, erwachte sie unerschrocken und leise und blinzelte ihn neugierig an.

Er lächelte. »Hast du Lust auf ein Abenteuer?«

Sie neigte den Kopf, grinste, die Erinnerung holte offensichtlich auch sie ein. »Was für ein Abenteuer?«, entgegnete sie.

»Vertrau mir.«

»Das habe ich immer getan, Arthas.«

Sie unterhielten sich flüsternd, ihr Atem war in der kalten Nacht sichtbar. Sie stützte sich jetzt auf einen Ellbogen und er tat es ihr gleich und berührte mit der anderen Hand ihr Gesicht. Sie zog sich nicht zurück.

»Jaina… ich glaube, es gibt einen Grund, warum wir wieder zusammengekommen sind.«

Da war es, das leichte Runzeln der Stirn. »Natürlich. Dein Vater hat dich geschickt, weil…«

»Nein, nein. Mehr als das. Wir arbeiten jetzt zusammen. Wir – wir arbeiten gut zusammen.«

Sie war auffallend still. Er fuhr fort, die sanften Rundungen ihrer Wangen zu liebkosen.

»Ich… ich bin das alles durchgegangen – vielleicht können wir… reden. Du weißt schon.«

»Über das, was beim Winterhauchfest geendet hat?«

»Nein. Nicht über das Ende. Über Anfänge. Weil alles sich für mich unvollständig anfühlt, ohne dich. Du kennst mich wie niemand sonst, Jaina, und das fehlt mir.«

Sie war für eine Weile ganz still, dann seufzte sie leise und legte ihre Wange in seine Hand. Er erzitterte, als sie den Kopf drehte und ihn in seine Handfläche küsste.

»Ich konnte mich dir nie verweigern, Arthas«, sagte sie, dabei lag ein Lachen in ihrer Stimme. »Und ja, auch ich fühle mich unvollständig. Ich habe dich auch so sehr vermisst.«

Erleichterung stieg in ihm auf und er beugte sich vor, umschloss sie mit den Armen und küsste sie leidenschaftlich. Sie würden diesem Rätsel gemeinsam auf den Grund gehen, es lösen und als Helden heimkehren. Dann würden sie heiraten – vielleicht im Frühling. Er wollte, dass sie mit Rosenblättern begrüßt wurde. Und später würde es dann diese blonden Kinder geben, von denen Jaina erzählt hatte.

Sie wurden nicht intim, nicht hier, umgeben von Arthas’ Männern. Doch er kam zu ihr unter die Decke, bis der stählerne Sonnenaufgang ihn widerstrebend in sein eigenes Bett zurücktrieb. Bevor er ging, nahm er sie in die Arme und hielt sie eng umschlungen. Danach schlief er ein wenig, mit der festen Überzeugung, dass nichts – keine Seuche, kein Dämon, kein Rätsel – den vereinten Bemühungen von Prinz Arthas Menethil, dem Paladin des Lichts, und Lady Jaina Prachtmeer, der Magierin, widerstehen konnte. Sie würden gemeinsam da durchgehen und tun, was auch immer nötig war.

10

Mitte des nächsten Morgens kamen sie zu den verstreut liegenden Höfen. »Das Dorf ist nicht weit entfernt«, sagte Arthas und schaute auf die Karte. »Keiner dieser Bauernhöfe ist hier verzeichnet.«

»Das ist richtig«, bestätigte Falric, der sehr vertraut mit seinem Prinzen sprach – was daran lag, dass sich die beiden auch tatsächlich schon lange kannten. Arthas hatte sich an die Offenheit des Mannes gewöhnt und Falric war der Erste gewesen, der sich gemeldet hatte, um ihn zu begleiten. Jetzt schüttelte Falric den grauhaarigen Kopf. »Ich bin in dieser Gegend aufgewachsen, Sire, und die meisten Bauern hier sind von der unabhängigen Sorte. Sie bringen ihre Ernte und Tiere ins Dorf, verkaufen sie dort und gehen wieder heim.«

»Gibt es böses Blut?«

»Absolut nicht, Euer Hoheit. Es ist nur die Art und Weise, wie hier alles geregelt ist.«

»Wenn das hier so ist«, sagte Jaina, »dann haben sie vielleicht, als jemand krank wurde, keine Hilfe von außen geholt. Diese Menschen könnten infiziert sein.«

»Jaina spricht da einen guten Punkt an. Schauen wir mal, was wir von diesen Bauern erfahren können«, befahl Arthas, der auf seinem Pferd saß. Sie näherten sich dem Gehöft langsam und gaben den Bauern Zeit, von ihnen Notiz zu nehmen und sich auf sie einzustellen. Wenn es wirklich derartige Eigenbrötler waren und wenn die Seuche hier bereits zugeschlagen hatte, begegneten die Bauern großen Gruppen sicher mit Vorsicht.

Arthas’ Augen beobachteten die Gegend, als sie das Bauernhaus erreichten. »Seht«, sagte er und zeigte darauf. »Das Tor wurde zerschlagen und die Tiere sind fort.«

»Das ist kein gutes Zeichen«, murmelte Jaina.

»Es ist auch niemand herausgekommen, um uns zu empfangen«, sagte Falric. »Oder uns wenigstens herauszufordern.«

Arthas und Jaina tauschten Blicke miteinander. Arthas signalisierte der Gruppe anzuhalten.

»Seid gegrüßt!«, rief er mit lauter Stimme. »Ich bin Arthas, Prinz von Lordaeron. Meine Männer und ich wollen euch nichts tun. Kommt also heraus und redet mit uns – wir haben Fragen, die eure Sicherheit betreffen.«

Stille. Der Wind frischte auf und drückte das Gras nieder, das die Kühe und Schafe hätten fressen sollen. Das einzige Geräusch war ein schwaches Seufzen und das Knarren ihrer eigenen Rüstungen.

»Niemand hier«, sagte Arthas.

»Oder sie sind zu krank, um herauszukommen«, antwortete Jaina. »Arthas, wir müssen zumindest reingehen und nachsehen. »Sie brauchen vielleicht unsere Hilfe!«

Arthas blickte die Männer an. Sie wirkten nicht allzu erpicht darauf, in die Häuser zu gehen, die vielleicht von Opfern der Seuche bewohnt waren, und er war es auch nicht. Doch Jaina hatte recht. Es waren seine Untertanen. Er hatte geschworen, ihnen zu helfen. Und das würde er tun, was auch immer dazu nötig sein sollte.

»Kommt«, sagte er und stieg ab. Neben ihm tat Jaina es ihm gleich. »Nein, du bleibst hier.«

Ihre goldenen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich kein zerbrechliches Püppchen bin, Arthas. Ich bin hier, um die Seuche zu untersuchen, und wenn hier tatsächlich Opfer sind, muss ich sie schon selbst sehen.«

Er seufzte und nickte. »Nun gut.«

Er ging zu dem Bauernhaus. Sie waren fast am Garten angekommen, als der Wind drehte.

Der Gestank war schrecklich. Jaina bedeckte den Mund und selbst Arthas kämpfte gegen den aufkommenden Würgereiz an. Es war der kranke, süßliche Geruch eines Schlachthauses – nein, so frisch war er nicht, es war der Geruch nach Aas. Einer seiner Männer wandte sich ab und übergab sich. Es war reine Willenskraft, die verhinderte, dass Arthas es ihm gleichtat. Der Fäulnisgeruch kam aus dem Inneren des Hauses. Es war nun offensichtlich, dass den Bewohnern etwas zugestoßen war.

Jaina wandte sich Arthas zu, blass, aber entschlossen. »Ich muss es untersuchen…«

Schreckliche, erstickt klingende Schreie erfüllten die Luft, gepaart mit dem Gestank des Todes, als aus dem Innern des Bauernhauses und von dahinter Dinge mit alarmierender Geschwindigkeit auf sie zukamen.

Arthas’ Hammer begann plötzlich in einem so grellen Licht zu glühen, dass er die Augen schließen musste. Er wirbelte herum, hob den Hammer und sah direkt in die Augenhöhlen eines wandelnden Albtraums.

Er trug ein grob gewebtes Hemd, eine Latzhose und seine Waffe war eine Mistgabel. Einst war er der hiesige Bauer gewesen. Zumindest als er noch gelebt hatte. Jetzt war er offensichtlich tot, das graugrüne Fleisch löste sich vom Knochen, die verfaulenden Finger hinterließen verschmierte Reste auf dem Griff der Heugabel. Schwarze, klebrige Flüssigkeiten flossen aus Pusteln und das gurgelnde Gebrüll sprühte Eitertropfen auf Arthas’ ungeschütztes Gesicht. Der Prinz war derart schockiert, dass er kaum die Zeit fand, mit dem Hammer zuzuschlagen, bevor der Bauer ihn mit der großen Gabel aufspießte. Er riss die heilige Waffe gerade noch rechtzeitig hoch und schlug dem Mann das bäuerliche Arbeitsgerät aus der Hand. Dann ließ er den leuchtenden Hammer auf den Körper krachen. Das Monster blieb ausgestreckt liegen und rührte sich nicht mehr.

Doch andere nahmen seinen Platz ein. Arthas hörte ein zischendes Geräusch und das Knistern von Jainas Feuerblitzen. Dazu gesellte sich ein weiterer Geruch in dem Durcheinander. Der Gestank von brennendem Fleisch.

Um sich herum hörte er den Klang aufeinanderprallender Waffen, Männer, die Kriegsschreie ausstießen, und das Knistern der Flammen. Eine der Leichen stolperte ins Haus, ihr Körper und die Kleidung brannten. Ein paar Augenblicke später drang Rauch aus der offenen Tür.

Das war die Lösung…

»Alle Mann hier raus, sofort!«, rief Arthas. »Jaina! Brenn das Bauernhaus nieder! Brenn es bis auf die Grundmauern nieder!«

Trotz des Schreckens und der Panik, die die Männer durchdrang – allesamt ausgebildete Soldaten, aber nicht dafür ausgebildet –, wurden seine Befehle gehört. Die Männer wandten sich um und rannten von dem Haus weg. Arthas blickte zu Jaina. Ihre Lippen bildeten eine verbissene Linie und das Feuer knisterte so behaglich in ihren kleinen Händen, als wären die Flammen so harmlos wie Blumen.

Ein mannshoher Feuerball explodierte im Haus. Er zerbarst in einzelne Flammen und Arthas hob die Hand, um sein Gesicht vor der Explosion abzuschirmen. Mehrere der wiederbelebten Leichen waren darin gefangen.

Einen Moment lang starrte Arthas auf die Feuersbrunst, unfähig, seine Augen davon zu lösen. Dann zwang er sich wieder dazu, die restlichen Gegner abzuschlachten, die noch nicht Feuer gefangen hatten. Es dauerte nur wenige Augenblicke und dann waren alle diese Monster tot – wirklich tot.

Einen Augenblick lang herrschte Stille, mit Ausnahme des knisternden Geräuschs der Flammen, die das brennende Haus verzehrten. Mit einem tiefen Seufzer brach das Gebäude zusammen. Arthas war froh, dass er nicht sehen konnte, wie die Leichen sich in Asche verwandelten.

Er kam zu Atem und wandte sich an Jaina. »Was…«

Sie schluckte schwer. Ihr Gesicht war schwarz vor Ruß, außer dort, wo der Schweiß herunterrann. »Sie – sie werden Untote genannt.«

»Das Licht schütze uns«, murmelte Falric. Seine Augen traten hervor und sein Gesicht war bleich. »Ich habe immer gedacht, so was gibt es nur in Märchen, um Kinder zu erschrecken.«

»Nein, sie sind echt. Ich habe nur… nun, ich habe niemals einen gesehen. Und auch nicht damit gerechnet. Die…« Sie atmete tief ein und beruhigte sich. Dabei bekam sie ihre Stimme unter Kontrolle. »Die Toten verweilen manchmal noch, wenn ihr Ableben traumatisch war. Dadurch sind diese Geistergeschichten entstanden.«

Ihr Auftreten war nach den schrecklichen Ereignissen beruhigend. Arthas bemerkte, dass seine Männer ihr zuhörten, begierig zu verstehen, was zum Teufel ihnen gerade passiert war. Er war auch sehr dankbar für ihr Bücherwissen, mehr, als er es je zuvor gewesen war.

»Die… die Wiederbelebung von Leichen durch mächtige Nekromanten ist nichts Neues. Wir haben Beispiele davon, sowohl im Ersten als auch im Zweiten Krieg erlebt, als die sogenannten ,Todesritter’ auftauchten«, fuhr Jaina fort, als würde sie aus einem Buch zitieren, statt den Schrecken mit eigenen Worten zu erklären, den ihr Geist kaum fassen konnte. »Doch wie ich schon sagte – ich habe so etwas noch nie zuvor selbst gesehen.«

»Nun, jetzt sind sie wirklich tot«, sagte einer der Männer.

Arthas warf ihm einen aufmunternden Blick zu. »Das haben wir euren Schwertern, dem Licht und Lady Jainas Feuer zu verdanken«, ließ er sie wissen.

»Arthas«, sagte Jaina. »Hast du mal einen Moment?«

Sie gingen ein Stück weit, während die Männer sich reinigten und von dem verstörenden Kampf erholten. »Ich glaube, ich weiß, was du sagen willst«, begann Arthas. »Du bist hier, um herauszufinden, ob die Seuche magischer Natur ist. Und es sieht danach aus. Nekromantenmagie.«

Jaina nickte wortlos. Arthas blickte zu den Männern hinüber. »Wir haben noch nicht mal die Hauptdörfer erreicht. Ich befürchte, wir werden noch mehr dieser… Untoten sehen.«

Jaina verzog das Gesicht. »Ich vermute, du hast recht.«

Als sie die Gehöfte verließen, zügelte Jaina ihr Pferd und wartete.

»Wonach suchst du?« Arthas trat neben sie. Jaina wies auf etwas. Er folgte ihrem Blick und entdeckte ein Silo, der allein auf einem Hügel stand. »Der Kornspeicher?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein… das Land drum herum.« Sie saß ab, kniete sich hin und berührte den Boden. Sie nahm eine Handvoll des Staubs und toten Grases auf. Dann untersuchte sie es, stocherte in einem kleinen Insekt herum, dessen sechs Beine im Tod verkrampft waren, und siebte den Sand durch ihre Finger, als der leichte Wind die pulvrige Erde verwehte und in einer kleinen Staubwolke vergehen ließ. »Es ist, als ob das Land um den Kornspeicher herum… sterben würde.«

Arthas blickte von ihrer Hand auf den Boden. Sie hatte völlig recht, erkannte er. Mehrere Meter hinter ihm war das Gras grün und gesund, die Erde vermutlich saftig und fruchtbar. Doch unter seinen Füßen und in dem Bereich um den Kornspeicher war sie tot, als wäre es mitten im Winter. Nein, das war keine gute Analogie. Winter war, wenn das Land schlief. Doch dann steckte immer noch Leben darin, schlafend, aber bereit, im Frühling zu erwachen.

Hier war kein Leben.

Er schaute auf den Kornspeicher und seine meergrünen Augen verengten sich. »Wodurch könnte das ausgelöst worden sein?«

»Ich bin mir nicht sicher. Es erinnert mich daran, was mit dem Dunklen Portal geschah und den verwüsteten Landen. Als das Portal geöffnet worden war, drang etwas von der dämonischen Energie, die Draenor aussaugte, nach Azeroth. Und das Land rund um das Portal…«

»… starb«, vollendete Arthas den Satz. Ein Gedanke durchfuhr ihn. »Jaina – könnte das Korn selbst verseucht sein? Diese… dämonische Energie in sich tragen?«

Ihre Augen weiteten sich. »Das wollen wir doch nicht hoffen.« Sie wies auf die Kisten, die die Männer aus dem Kornspeicher trugen. »Diese Kisten tragen das Siegel von Andorhal, dem Verteilungszentrum für die nördlichen Bezirke. Wenn das Korn die Seuche zu verbreiten imstande ist, dann kann man unmöglich sagen, wie viele Dörfer bereits infiziert worden sind.«

Sie flüsterte die Worte beinahe und wirkte dabei blass und krank. Er sah ihre Hände an, bleich vom Staub des toten Landes. Plötzlich schoss die Angst durch Arthas und er umfasste ihre Hand. Er schloss die Augen und murmelte ein Gebet. Wärme erfüllte ihn und breitete sich von seinen Händen auf ihre aus. Jaina sah ihn an, zunächst verwirrt, dann blickte sie auf ihre eigenen Hände. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck, angesichts dessen, was sie erst jetzt erkannte. Eine Gefahr, der sie vielleicht knapp entkommen war.

»Danke«, flüsterte sie.

Er schenkte ihr ein Lächeln, dann rief er seinen Männern zu: »Handschuhe! Alle tragen in diesem Bereich Handschuhe! Keine Ausnahmen!«

Sein Hauptmann hörte ihn, nickte und wiederholte den Befehl. Die meisten Männer steckten in voller Rüstung und trugen deshalb ohnehin schon Handschuhe. Arthas schüttelte den Kopf und verjagte die Besorgnis, die ihn immer noch quälte. Er hatte keinerlei Krankheit an Jaina bemerkt – dem Licht sei Dank.

Er presste ihre Hand an seine Lippen. Jaina war bewegt, errötete zuerst und lächelte dann. »Das war dumm von mir. Ich habe nicht nachgedacht.«

»Zu deinem Glück habe ich das ja gemacht.«

»Diesmal also vertauschte Rollen«, neckte sie ihn und gab ihm einen Kuss, um dem Ganzen den Stachel zu nehmen.


Ihr Auftrag war jetzt klar: Sie mussten das infizierte Korn finden und vernichten. Am nächsten Tag bekamen sie Hilfe, als Arthas’ Truppe auf ein paar Priester der Quel’dorei traf. Auch sie hatten die Verderbnis gespürt, die durch das Land zog, und waren gekommen, um zu helfen, wo sie konnten. Sie boten auch konkretere Hilfe an. Sie konnten Arthas den Weg zu einem Lagerhaus am Ende des Dorfes weisen, das sie gerade erreicht hatten.

»Da vorn sind ein paar Häuser, Sire«, sagte Falric.

»Nun gut denn«, sagte Arthas, »gehen…«

Ein plötzliches Krachen unterbrach ihn. Sein Pferd bäumte sich auf. »Was zum…?«

Er blickte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Kleine Gestalten standen dort, kaum zu erkennen. Doch es gab kein Vertun.

»Das ist Feuer aus Mörsern. Kommt!« Er bekam sein Pferd wieder unter Kontrolle, riss dessen Kopf herum und galoppierte auf die Quelle des Geräuschs zu.

Mehrere Zwerge sahen auf, als er eintraf. Sie waren genauso überrascht, Arthas zu sehen, wie umgekehrt. Er ließ seine Leute anhalten. »Worauf zum Teufel schießt ihr?«

»Wir erledigen die verdammten Gerippe. Dieses ganze brennende Dorf ist voll davon!«

Ein Schauder lief über Arthas’ Rücken. Er konnte die beinahe schon vertrauten Gestalten der Untoten erkennen, die in ihrem unverwechselbaren Gang heranschlurften. »Feuer!«, rief der Anführer der Zwerge und mehrere Skelette wurden in ihre Bestandteile zerlegt, sie stoben in alle Richtungen davon.

»Nun, ich könnte Eure Hilfe brauchen«, sagte Arthas. »Wir müssen ein Lagerhaus am Ende des Dorfes zerstören.«

Der Zwerg riss die braunen Augen auf. »Ein Lagerhaus?«, fragte er ungläubig. »Wir kämpfen hier gegen wandelnde Tote und Ihr macht Euch Sorgen um ein Lagerhaus?«

Arthas hatte für Diskussionen keine Zeit. »In dem Lagerhaus befindet sich etwas, das diese Menschen tötet«, zischte er und wies auf die Überreste der Gerippe. »Und wenn sie sterben…«

Die Augen des Zwerges weiteten sich. »Oh, kapiert. Kameraden! Vorwärts, wir müssen den Truppen dieses Jungen helfen!« Er blickte Arthas an. »Übrigens, wer genau seid Ihr eigentlich, Junge?«

Die diesbezügliche Neugier wirkte in dieser schrecklichen Lage derart unpassend, dass Arthas lachen musste. »Prinz Arthas Menethil. Und Ihr?«

Der Zwerg glotzte einen Augenblick lang, doch dann besann er sich schnell. »Dargal, zu Euren Diensten, Euer Hoheit.«

Arthas verschwendete keine Zeit mehr auf weitere Höflichkeitsfloskeln, stattdessen bemühte er sich, sein Pferd so weit zu beruhigen, dass es mit der sich nun bewegenden Truppe Schritt halten konnte. Das Pferd war ein Schlachtross, für den Kampf gezüchtet, und während es keinerlei Probleme beim Kampf gegen die Orcs gemacht hatte, mochte es offensichtlich den Geruch der Untoten nicht.

Arthas konnte es ihm nicht vorwerfen, doch die Lebhaftigkeit ließ ihn an Invincibles großes Herz und Furchtlosigkeit denken. Er unterdrückte den Gedanken, denn er lenkte ihn nur ab. Er musste sich anstrengen, damit er nicht um ein Tier trauerte, das noch toter war als die schlurfenden Leichen.

Jaina und seine Männer folgten ihm und trafen auf die Untoten, die noch nicht vom Mörserfeuer vernichtet worden waren und von allen Seiten auf sie zuströmten. Energie erfüllte ihn, durchfloss ihn, als er unermüdlich mit dem Hammer zuschlug. Arthas war dankbar für Dargals rechtzeitiges Eintreffen. Hier waren so viele dieser untoten Wesen, dass er sich nicht sicher war, ob seine Leute es mit allen aufnehmen konnten.

Die vereinten Streitkräfte von Menschen und Zwergen arbeiteten sich langsam, aber unaufhaltsam auf das Lagerhaus zu. Die Zahl der Untoten stieg beim Näherkommen an, und als sie die Silos in der Ferne erkennen konnten, waren es noch viel mehr geworden. Arthas sprang von seinem unglücklichen Pferd ab und stürzte sich mitten unter sie. Dabei hielt er seinen Hammer fest umschlossen, der von der Macht des Lichts erfüllt glühte.

Nachdem der erste Schock und die Schrecken vorbei waren, stellte Arthas fest, dass es sich noch besser anfühlte, diese Monster zu töten, als gegen Orcs zu kämpfen. Vielleicht waren die Orcs, wie Jaina es gesagt hatte, tatsächlich vernunftbegabte Wesen – Individuen. Diese Dinger hingegen waren nichts anderes als Leichen, herumzuckende Marionetten, die von einem verderbten Nekromanten erschaffen worden waren. Sie fielen auch wie Marionetten, denen man den Faden durchtrennt hatte, und er lächelte wild, als zwei Untote unter demselben Schlag seiner mächtigen Waffe vergingen.

Viele der wandelnden Leichen schienen schon seit längerer Zeit tot zu sein. Denn die Ausdünstungen, die sie verströmten, waren nicht so intensiv und die Körper waren bereits mumifiziert. Mehrere von ihnen waren wie die Untoten der ersten Angriffswelle: Skelette, an deren knochigen Körpern Reste von Kleidung oder behelfsmäßiger Rüstung hingen und die nun Arthas und seinen Männern entgegenstürmten.

Der beißende Gestank nach verbranntem Fleisch griff seine Geruchsnerven an, doch er lächelte, dankbar für Jainas Anwesenheit, und kämpfte weiter. Arthas blickte zu ihr hinüber und keuchte. Bislang hatte er nicht einen Mann verloren und auch Jaina, obwohl bleich vor Anstrengung, war unverletzt.

»Arthas!« Jainas Stimme drang klar und deutlich durch den Lärm. Arthas erledigte das Gerippe, das gerade versuchte, ihn mit einer Sense zu enthaupten, und blickte während einer kurzen Kampfpause zu ihr. Sie deutete nach oben, Feuer loderte bereits auf ihren Handflächen und umzüngelte ihre Finger. »Sieh nur!«

Er folgte ihrem Blick und seine Augen verengten sich. Oben stand eine Gruppe von Menschen – offensichtlich lebendige Menschen, wie man an ihren Bewegungen erkennen konnte –, alle schwarz gekleidet. Sie vollführten Gesten und koordinierten die Angriffe der Untoten, die ihnen entgegengeworfen wurden.

»Dorthin! Nehmt sie ins Visier!«, rief Arthas.

Die Kanonen wurden herumgedreht und seine Männer griffen an, bahnten sich den Weg durch die Untoten. Ihre Blicke waren auf die lebenden Männer in den schwarzen Gewändern gerichtet. Jetzt haben wir euch, dachte Arthas mit wilder Freude.

Doch sobald sie unter direktes Feuer gerieten, stellten die Männer ihre Aktivitäten ein. Die Untoten, die sie kontrolliert hatten, blieben plötzlich stehen, kämpften zwar noch, wurden aber nicht mehr geleitet. Sie waren leichte Ziele für die Zwergenartillerie und Arthas’ Männer, die sie niederstreckten und vorwärtsdrängten. Die Magier versammelten sich und ein paar begannen, Zauber zu wirken. Ihre Hände bewegten sich und Arthas erkannte das vertraute Bild von wirbelndem Raum, das darauf hindeutete, dass sie ein Portal erschufen.

»Nein! Lasst sie nicht entkommen!«, brüllte er und zerschmetterte mit seinem Hammer die Brust eines Skeletts. In hohem Bogen holte er erneut aus, um einem schlurfenden Zombie den Kopf abzuschlagen. Von einem Ort, den nur das Licht kannte, beschworen die Zauberer weitere lebende Tote – Skelette, verfaulende Leichname und etwas, was groß und bleich war und über viel zu viele Gliedmaßen verfügte. Über den madenweißen, glänzenden Körper zogen sich Nähte, die so groß waren wie Arthas’ Hand. Dadurch wirkte das Monster wie die Vorstellung eines geisteskranken Kindes von einer Stoffpuppe. Es überragte alle anderen und entsetzliche Waffen lagen in seinen drei Händen. Es fixierte Arthas mit dem einzigen sehenden Auge.

Jaina war irgendwie an Arthas’ Seite gelangt und rief: »Beim Licht – diese Kreatur sieht aus, als wäre sie aus anderen Leichen zusammengenäht worden!«

»Studieren wir sie, nachdem wir sie getötet haben, in Ordnung?«, rief Arthas und griff an. Das entsetzliche Experiment kam heran, stieß gutturale Laute aus und schlug mit einer Axt zu, die so groß war wie Arthas. Er sprang aus dem Weg, rollte sich ab und kam schnell genug wieder auf die Beine, um das Monster von hinten attackieren zu können. Drei seiner Männer, zwei davon mit Lanzen bewaffnet, taten dasselbe und das scheußliche Ungeheuer war rasch erledigt.

»Verdammt«, brüllte Arthas. Eine Hand legte sich auf seinen Arm und er zog ihn zurück. Seine Gesichtszüge glätteten sich, als er Jaina erkannte. Er war nicht in der Stimmung für Trost oder Erklärungen und er musste etwas tun, irgendetwas, um sich wieder abzuregen, denn die Männer in den schwarzen Gewändern waren entkommen. »Zerstört das Lagerhaus, sofort!«

»Aye, Euer Hoheit! Auf geht’s, Kameraden!« Die Zwerge drängten vorwärts, so bestrebt wie er, irgendeinen Sieg zu erringen. Die Kanonen rollten über tote Männer und die tote Erde hinweg, bis sie in Reichweite waren.

»Feuer!«, rief Dargal. Gleichzeitig entluden sich die Geschütze und Arthas spürte siedend heiße Befriedigung, als der Kornspeicher unter dem Angriff einstürzte.

»Jaina! Brenn nieder, was noch übrig ist!«

Sie hatte bereits ihre Hände erhoben, bevor er zu sprechen begonnen hatte. Sie arbeiteten gut zusammen und der Kornspeicher und sein Inhalt entzündeten sich augenblicklich.

Jaina und Arthas warteten und behielten den Brand im Auge, damit das Feuer sich nicht ausbreitete. So ausgetrocknet, wie das Land war, konnte ein Feuer schnell außer Kontrolle geraten.

Arthas fuhr sich mit der Hand durch das verschwitzte Haar. Die Hitze, die der brennende Kornspeicher abgab, war drückend und er sehnte sich nach etwas Wind. Er ging ein kurzes Stück weit und trat mit dem gepanzerten Stiefel vor das bleiche Monster. Sein Fuß sank in das weiche Fleisch ein und er rümpfte die Nase. Jaina folgte ihm. Bei näherer Betrachtung schien sie recht gehabt zu haben – das Ding war tatsächlich aus anderen Körperteilen zusammengenäht worden.

Arthas unterdrückte ein Schaudern. »Die Magier – die schwarz gekleideten…«

»Ich… ich fürchte, es waren Nekromanten«, sagte Jaina. »Die, von denen ich erzählt habe.«

»Was nun?« Dargal war hinter sie getreten und beäugte den getöteten Albtraum mit Abscheu.

»Nekromanten. Magier, die sich mit dunkler Magie beschäftigen – die die Toten wiederbeleben und lenken können. Offensichtlich stecken sie, und wem immer sie auch dienen mögen, hinter dieser Seuche.« Sie richtete ihre ernsten blauen Augen auf Arthas. »Vielleicht sind dämonische Energien darin verwickelt. Doch ich glaube, es ist klar, dass wir uns auf dem falschen Weg befunden haben.«

»Nekromanten… die eine Seuche erschaffen, um Soldaten für ihre unheilige Armee zu rekrutieren«, murmelte Arthas und blickte zu den nunmehr rauchenden Überresten des Kornspeichers. »Ich will sie kriegen. Nein – nein, ich will ihren Anführer kriegen.« Seine gepanzerten Hände ballten sich zu Fäusten. »Ich will diesen Bastard haben, der meine Untertanen abschlachtet!« Er dachte an die Kisten, die sie schon vorher gefunden hatten, und das Siegel, das darauf prangte. Er hob den Blick und sah die Straße hinunter. »Und ich glaube, wir finden ihn und die Antworten auf unsere Fragen in Andorhal…«

11

Arthas trieb seine Leute zu sehr an und er wusste es. Doch die Zeit war zu wertvoll, um sie zu vergeuden. Er spürte ein leichtes Schuldgefühl, als er sah, wie Jaina, ohne zu rasten, auf Trockenfleisch kaute. Ihn hatte das Licht während des Kampfes erfrischt. Doch Magier bezogen ihre Energie aus einer anderen Quelle. Er wusste, dass Jaina nach den überragenden Erfolgen der letzten Tage erschöpft sein musste. Aber sie hatten keine Zeit zum Pausieren, nicht wenn Tausende Leben davon abhingen.

Seine Aufgabe war gewesen, herauszufinden, was vor sich ging – und es zu beenden. Das Rätsel schien sich zu lösen, doch er bezweifelte, dass er die Seuche aufhalten konnte. Nichts war so einfach, wie es zunächst gewirkt hatte. Doch Arthas würde nicht aufgeben. Konnte nicht aufgeben. Er hatte geschworen, alles Notwendige zu tun, um die Seuche zu beenden. Er würde sein Volk retten.

Sie sahen und rochen den Rauch, lange bevor sie die Tore von Andorhal erreichten. Arthas hoffte, dass, wenn schon die Stadt niedergebrannt zu sein schien, bei der Gelegenheit wenigstens auch das Korn vernichtet worden war.

Doch dann wurde ihm die Rohheit dieses Gedankens bewusst. Er verdrängte ihn, trieb sein Pferd an und ritt durch die Tore. Dabei erwartete er jeden Augenblick, angegriffen zu werden.

Um sie herum brannten die Gebäude. Dicker schwarzer Qualm stieg ihnen in die Augen. Manche von ihnen mussten husten. Durch tränende Augen blickte er sich um. Hier waren keine Bewohner, aber auch keine Untoten. Was war –

»Ich glaube, Ihr seid hier, weil Ihr nach meinen Kindern sehen wolltet«, sagte eine sanfte Stimme. Wind kam auf und trieb den Rauch davon. Arthas konnte jetzt die Gestalt in dem schwarzen Gewand erkennen, die nicht weit entfernt vor ihm stand. Er spannte sich an. Das war also der Anführer.

Der Nekromant lächelte, sein Gesicht war gerade noch unter der Kapuze erkennbar. Das Lächeln des Magiers schien Arthas das Gesicht zu versengen. Neben ihm standen zwei seiner untoten Diener. »Ihr habt mich gefunden. Ich bin Kel’Thuzad.«

Jaina keuchte, als sie den Namen hörte, und hielt sich die Hand vor den Mund. Arthas warf ihr einen schnellen Blick zu, dann richtete er wieder seine volle Aufmerksamkeit auf den Sprecher, umfasste seinen Hammer fest.

»Ich bin hier, um Euch eine Warnung zu überbringen«, sagte der Nekromant. »Verschwindet von hier. Eure Neugier wird Euer Tod sein.«

»Ich wusste doch, dass mir diese verderbte Magie bekannt vorkommt!« Das war Jaina, ihre Stimme bebte vor Empörung. »Genau für diese Art von Experimenten seid Ihr in Ungnade gefallen, Kel’Thuzad! Wir haben Euch gesagt, dass dieser Weg direkt ins Unglück führt. Und Ihr habt nichts daraus gelernt!«

»Lady Jaina Prachtmeer«, säuselte Kel’Thuzad. »Offensichtlich ist Antonidas’ kleine Schülerin erwachsen geworden. Und natürlich gilt genau das Gegenteil, meine Liebe… wie Ihr sehen könnt, habe ich einiges dazugelernt.«

»Ich habe die Ratten gesehen, mit denen Ihr experimentiert habt!«, schrie Jaina. »Das war schon schlimm genug… doch das hier…«

»Ich habe meine Forschungen vorangetrieben und sie perfektioniert«, hielt Kel’Thuzad dagegen.

»Seid Ihr verantwortlich für diese Seuche, Nekromant?«, rief Arthas. »Ist dieser Kult Euer Werk?«

Kel’Thuzad wandte sich ihm zu. Seine Augen leuchteten im Schatten seiner Kapuze. »Ich habe dem Kult der Verdammten befohlen, das verseuchte Korn zu verteilen. Doch das ist nicht allein mein Verdienst.«

Bevor Arthas etwas sagen konnte, platzte es aus Jaina heraus: »Was soll das bedeuten?«

»Ich diene dem Schreckenslord Mal’Ganis. Er befehligt die Geißel, die dieses Land säubern und ein Paradies der ewigen Finsternis errichten wird.«

Ein eisiger Schauder lief Arthas über den Rücken, trotz der Hitze der sie umgebenden Feuer. Er wusste nicht, was ein Schreckenslord war, doch die Bedeutung von »Geißel« war ihm klar. »Und was genau soll diese Geißel… säubern?«

Der dünnlippige Mund unter dem weißen Schnurrbart verzog sich erneut zu einem grausamen Lächeln. »Die Lebenden natürlich. Sein Plan wird bereits ausgeführt. Ihr findet ihn in Stratholme, wenn Ihr noch einen weiteren Beweis benötigt.«

Arthas hatte genug von den stichelnden Andeutungen und Beleidigungen. Er knurrte, umfasste den Schaft des Hammers fester und stürmte vor. »Für das Licht!«, brüllte er.

Kel’Thuzad hatte sich nicht bewegt. Er blieb stehen und dann, in allerletzter Sekunde, verschwamm die Luft um ihn herum – und er war fort! Die beiden Kreaturen, die stumm neben ihm gestanden hatten, umklammerten Arthas mit ihren Armen und versuchten ihn zu Boden zu ziehen. Ihr übler Gestank wetteiferte mit dem Rauch darum, den Prinzen zum Husten zu bringen. Er kämpfte sich frei und schlug einem von ihnen mit einem starken, sauber geführten Schlag auf den Kopf. Der Schädel splitterte wie ein Stück Glas, Hirn verteilte sich über den Boden und der Untote brach zusammen. Mit dem zweiten wurde Arthas ebenso leicht fertig.

»Zum Kornspeicher!«, brüllte er, lief zu seinem Pferd und schwang sich in den Sattel. »Los!«

Die anderen saßen auf und sie ritten durch das brennende Dorf die Hauptstraße hinunter. Die Kornspeicher ragten vor ihnen auf. Sie waren noch unberührt vom Feuer, das durch den Rest von Andorhal zu rasen schien.

Arthas zügelte sein Pferd scharf und sprang ab. So schnell er konnte, lief er zu den Gebäuden. Er riss die Tür auf und hoffte verzweifelt, hoch übereinandergestapelte Kisten zu finden. Trauer und Wut tobten in ihm, als er nur leere Kammern vorfand – leer, bis auf wenige Reste von Korn und tote Ratten auf dem Boden.

Er schaute sich um, fühlte sich einen Augenblick lang schlecht, dann rannte er zum nächsten Speicher und dem übernächsten, riss überall die Türen auf, obwohl er genau wusste, was er finden würde.

Sie waren alle leer. Und waren es auch schon eine ganz Weile, wenn man die Staubschicht und die Spinnweben in den Ecken betrachtete.

»Die Ladungen sind bereits verschickt worden«, sagte er gebrochen, als Jaina neben ihn trat. »Wir sind zu spät.« Er schlug mit der gepanzerten Faust gegen die Holztür und Jaina sprang zurück. »Verdammt!«

»Arthas, wir haben unser Bestes…«

Er wirbelte wild zu ihr herum. »Ich werde ihn finden. Ich werde diesen leichenverliebten Bastard finden und ihm alle Knochen einzeln herausreißen! Soll er doch jemanden finden, der ihn dann zusammennäht.«

Zitternd stürmte er hinaus. Er hatte versagt. Das Korn war bereits verschickt worden und das Licht allein wusste, wie viele Menschen deshalb sterben mussten.

Wegen ihm.

Nein. Das würde er nicht zulassen. Er würde seine Leute schützen. Und wenn er dabei sterben würde. Arthas ballte die Hände zu Fäusten.

»Nach Norden«, sagte er zu den Männern, die hinter ihm kamen und es nicht gewohnt waren, ihren ansonsten gutherzigen Prinzen derart wütend zu erleben. »Dorthin wird er als Nächstes ziehen. Wir vernichten ihn wie Ungeziefer. Denn nichts anderes ist er.«

Er ritt wie ein Besessener, galoppierte nach Norden, schlachtete beinahe mechanisch die schlurfenden Wracks ehemals menschlicher Wesen ab, die ihn aufzuhalten versuchten. Doch nicht mehr die Angst und Sorge um seine Untergebenen trieb ihn an. Er sah im Geiste nur den Mann, der dahintersteckte, den scheußlichen Kult, der für das alles verantwortlich war. Die Toten würden noch früh genug ruhen. Arthas musste sicherstellen, dass es keine weiteren mehr gab.

Plötzlich traf er auf eine große Ansammlung von Untoten. Beinahe gleichzeitig hoben sie ihre verfaulenden Hände und wandten sich gegen Arthas und seine Männer.

Arthas brüllte: »Für das Licht!«, trieb sein Pferd an, ritt mitten in sie hinein und drosch mit dem Hammer auf sie ein. Er ließ seiner Wut und Frustration freien Lauf.

In einer Kampfpause sah er sich um.

In Sicherheit und weit entfernt vom Schlachtfeld, wo sie alles überblicken konnte und dennoch nichts riskierte, stand eine hochgewachsene Gestalt in einem flatternden schwarzen Gewand, als wartete sie auf ihn.

Kel’Thuzad.

»Da!«, rief er. »Da ist er!«

Jaina und seine Männer folgten ihm. Jaina schuf eine Gasse, indem sie Feuerball um Feuerball abfeuerte, und seine Männer erschlugen die Untoten, die Jainas Angriff überlebten. Arthas spürte, wie gerechter Zorn seine Adern durchfloss, als er sich dem Nekromanten immer weiter näherte. Sein Hammer hob und senkte sich scheinbar mühelos, und dabei sah er die, die er tötete, nicht einmal. Seine Augen waren auf einen Mann fixiert, der für all das verantwortlich war. Wenn er ihm den Kopf abschlug, würde diese Bestie sterben.

Dann war Arthas bei ihm. Er explodierte förmlich vor roher Wut, brüllte, schlug zu und führte dabei den leuchtenden Hammer auf sein Ziel zu.

Er erwischte Kel’Thuzad am Knie und schleuderte ihn zurück. Andere drängten heran, sie schlugen mit ihren Schwertern zu und schlitzten die Gegner auf. Die Männer ließen ihren Zorn und die Wut an der Quelle des Übels aus, der Ursache für das Desaster.

Trotz all seiner Macht und Magie schien es, als könnte Kel’Thuzad wie jeder andere Mensch auch sterben. Beide Beine waren von Arthas Schlag zertrümmert worden und standen in merkwürdigen Winkeln ab. Sein Gewand war feucht von Blut und schimmerte schwarz. Etwas Rotes lief ihm aus dem Mund. Er stützte sich auf die Arme und versuchte zu sprechen, spuckte aber nur Blut und Zähne. Er versuchte es erneut.

»Naive… Narren«, presste er hervor und schluckte. »Mein Tod macht auf lange Sicht keinen Unterschied… weil jetzt… die Geißelung des Landes beginnt.«

Seine Ellbogen gaben nach und seine Augen schlossen sich, als er schließlich zusammenbrach.

Der Körper begann augenblicklich zu verfaulen. Der Zerfall, der Tage hätte dauern müssen, fand binnen weniger Sekunden statt. Das Fleisch wurde bleich, Blasen bildeten sich und platzten auf. Die Männer keuchten und sprangen zurück, bedeckten ihre Nasen und Münder. Einige von ihnen wandten sich ab und übergaben sich.

Arthas blickte Kel’Thuzad an, erschrocken und gleichermaßen gebannt, unfähig wegzusehen. Flüssigkeiten liefen aus dem Leichnam, das Fleisch nahm eine schleimige Konsistenz an und wurde schwarz. Die unnatürliche Zersetzung verlangsamte sich. Arthas wandte sich ab und schnappte nach frischer Luft.

Jaina war kreidebleich und hatte dunkle Ringe unter den vor Schreck geweiteten Augen. Arthas ging zu ihr und wandte sie von dem fürchterlichen Bild ab. »Was ist mit ihm geschehen?«, fragte er ruhig.

Jaina schluckte und versuchte, sich selbst zu beruhigen. Erneut schien sie durch ihre beherrschte Art Stärke zu finden. »Man glaubt, dass, wenn Nekromanten nicht sorgfältig genug arbeiten… dass dann…« Ihre Stimme verlor sich und plötzlich war sie eine junge Frau, die elend und verschreckt wirkte. »… so etwas passiert.«

»Komm«, sagte Arthas freundlich. »Lass uns nach Herdweiler aufbrechen. Die Menschen dort müssen gewarnt werden – wenn es nicht schon zu spät ist.«

Sie ließen den Leichnam dort liegen, wo er gefallen war, und schenkten ihm keinen weiteren Blick. Arthas sprach ein stummes Gebet zum Licht und hoffte, dass sie nicht zu spät kamen. Er wusste nicht, wie er sich verhalten würde, wenn er erneut versagte.


Jaina war erschöpft. Sie wusste, dass Arthas sein Ziel schnellstmöglich erreichen wollte, und sie teilte seine Besorgnis. Leben standen auf dem Spiel. Deshalb hatte sie, als er gefragt hatte, ob sie die Nacht ohne anzuhalten durchreiten konnten, zustimmend genickt.

Sie waren bereits stundenlang hart geritten, als sie feststellte, dass sie sich nur noch mit Mühe auf dem Pferd halten konnte. Sie war dermaßen müde, dass sie ein paar Sekunden lang völlig weggetreten war und beinahe vom Pferd heruntergefallen wäre. Angst durchfuhr sie und sie griff in die wilde Mähne des Tieres, zog sich zurück in den Sattel und zügelte ihr Pferd, das augenblicklich stehen blieb.

Mit den Zügeln in der Hand wartete sie einige Minuten lang zitternd, bis Arthas bemerkt hatte, dass sie zurückgefallen war. Sie hörte, wie er in der Ferne seine Männer anhalten ließ. Stumm blickte sie zu ihm auf, als er zu ihr zurückgeritten kam.

»Jaina, was ist?«

»Ich… es tut mir leid, Arthas. Ich wusste, dass du es eilig hast, und das verstehe ich ja auch, aber… ich war so müde und bin fast heruntergefallen. Könnten wir eine Rast einlegen, nur kurz?«

Selbst im schwachen Licht erkannte Jaina die Sorge um sie in seinem Blick. Doch gleichzeitig war seine Frustration unverkennbar. »Wie lange brauchst du?«

Ein paar Tage, wollte sie sagen. Stattdessen antwortete sie: »Nur lang genug, um etwas zu essen und ein wenig auszuruhen.«

Er nickte und half ihr vom Pferd. Dann trug er sie an den Rand der Straße, wo er sie sanft absetzte. Jaina holte etwas Käse aus ihrer Tasche, dabei zitterten ihre Hände. Sie erwartete, dass er den Männern Bescheid sagte. Doch stattdessen setzte er sich einfach neben sie. Seine Ungeduld schien hell wie ein Feuer zu lodern.

Sie aß etwas Käse und blickte zu ihm auf, während sie kaute und sein Profil im Sternenlicht betrachtete. Eines der Dinge,, die sie an Arthas am meisten liebte, war, wie menschlich und gefühlvoll er mit ihr umging. Doch jetzt, von mächtigen Emotionen aufgewühlt, blieb er so distanziert, als wäre er hundert Meilen weit weg.

Impulsiv streckte sie ihre Hand aus, um sein Gesicht zu berühren. Er sah sie an, als hätte er vergessen, dass sie da war. Dann lächelte er ihr schwach zu. »Fertig?«, fragte er.

Jaina dachte an den einzigen Bissen, den sie gegessen hatte. »Nein«, sagte sie. »Aber… Arthas, ich mache mir Sorgen um dich. Mir gefällt nicht, was diese ganze Sache mit dir anrichtet.«

»Mit mir anrichtet?«, zischte er. »Hast du schon mal überlegt, was sie den Dorfbewohnern antut? Sie sterben und ihre Leichen verwandeln sich dann in wandelnde Tote, Jaina. Ich muss dem Einhalt gebieten. Ich muss es!«

»Natürlich müssen wir das und ich tue alles, um dir zu helfen, das weißt du. Doch… ich habe nie erlebt, dass du dermaßen von Hass besessen warst.«

Er lachte auf, kurz und hart. »Erwartest du, dass ich die Nekromanten zum Tee einlade?«

Sie runzelte die Stirn. »Arthas, verdreh mir bitte nicht die Worte im Mund. Du bist ein Paladin. Ein Diener des Lichts. Du bist genauso gut Heiler wie Krieger, doch ich erkenne in dir nur das Verlangen, deine Feinde zu vernichten.«

»Du klingst schon genauso wie Uther.«

Jaina antwortete nicht. Sie war so müde. Es fiel ihr schwer, ihre Gedanken zu ordnen. Sie nahm einen weiteren Bissen Käse und konzentrierte sich darauf, ihrem Körper die dringend benötigte Erholung zu verschaffen.

Aus irgendeinem Grund konnte sie nur schwer schlucken.

»Jaina… ich will doch nur, dass nicht noch mehr Unschuldige sterben müssen. Das ist alles. Und, das gestehe ich gern ein, ich bin aufgebracht, denn scheinbar schaffe ich es nicht allein. Doch wenn es erst vorbei ist, wird alles wieder gut. Du wirst schon sehen, das verspreche ich dir.«

Er lächelte und einen Augenblick lang sah sie den alten Arthas mit seinem schönen Gesicht. Sie lächelte ihm zu, ermunternd, wie sie hoffte.

»Bist du jetzt fertig?«

Jaina nahm noch zwei Bissen. Dann packte sie den Rest des Käses weg. »Ja, ich bin fertig. Brechen wir auf.«


Die Schwärze der Nacht wich gerade dem Grau des Morgens, als sie das Gewehrfeuer zum ersten Mal hörten. Arthas’ Hoffnung sank. Er trieb sein Pferd an, während sie weiter dem Weg nach Norden folgten, der durch die trügerisch friedlichen Hügel verlief.

Direkt vor den Toren von Herdweiler sahen sie mehrere Männer und Zwerge, allesamt mit Gewehren bewaffnet – und alle geübt im Umgang damit. Die leichte Brise trieb einen schwachen Pulvergeruch zu Arthas herüber, der zudem vom leicht süßlichen Duft nach frisch gebackenem Brot durchdrungen war.

»Stellt das Feuer ein!«, rief Arthas, als er mit seinen Leuten herangaloppierte. Er zerrte so fest an den Zügeln, dass sein Pferd vor Schreck wieherte. »Ich bin Prinz Arthas! Was geht hier vor? Warum seid ihr derart bewaffnet?«

Sie senkten die Gewehre, waren offensichtlich überrascht, ihrem Prinzen leibhaftig zu begegnen. »Sire, Ihr glaubt nicht, was hier vor sich geht…«

»Berichtet«, verlangte Arthas.

Arthas war nicht überrascht, als er hörte, dass die Toten auferstanden waren und angriffen hatten. Was ihn überraschte, war der Begriff »große Armee«. Er blickte Jaina an. Sie wirkte äußerst erschöpft. Die kurze Pause, die sie in der letzten Nacht eingelegt hatten, hatte nicht ausgereicht, um sie zu erfrischen.

»Sire«, rief einer der Kundschafter und lief herbei, »die Armee – sie kommt in unsere Richtung!«

»Verdammt«, murmelte Arthas. Die kleine Gruppe von Männern und Zwergen war einem Scharmützel gewachsen, doch sie konnte keine ganze Armee dieser Untoten aufhalten. Er traf eine Entscheidung. »Jaina, ich bleibe hier, um das Dorf zu beschützen. Beeil dich und berichte Lord Uther, was geschehen ist.«

»Aber…«

»Geh, Jaina! Jeder Moment zählt!«

Sie nickte. Mochte das Licht sie und ihren klaren Kopf segnen. Er warf ihr ein dankbares Lächeln zu, bevor sie durch das Portal trat, das sie zuvor geschaffen hatte, und darin verschwand.

»Sire«, sagte Falric und etwas in seinem Tonfall drängte Arthas, sich umzudrehen. »Ihr… solltet Euch das hier besser ansehen.«

Arthas folgte dem Blick des Mannes. Betroffen sah er leere Kisten… die das Zeichen von Andorhal trugen…

Er hoffte gegen jede Vernunft, dass er sich irrte. Arthas fragte mit bebender Stimme: »Was war in diesen Kisten?«

Einer der Männer aus Herdweiler blickte ihn verwirrt an. »Nur die Kornlieferung aus Andorhal. Ihr braucht Euch nicht zu sorgen, Milord. Sie wurde bereits an die Dorfbewohner verteilt. Wir haben ausreichend Brot.«

Danach hatte es also gerochen – es war nicht der typische Duft gebackenen Brotes gewesen, sondern irgendwie anders, ein wenig zu süß… und dann verstand Arthas. Seine Sinne schienen angesichts des Ausmaßes der Situation zu schwinden. Der wahre Umfang des Schreckens brach über ihn herein.

Das Korn war ausgeliefert worden… und plötzlich gab es eine beachtliche Armee von Untoten…

»Oh nein«, flüsterte er. Die Männer starrten ihn an und er versuchte erneut zu sprechen. Seine Stimme zitterte immer noch, doch dieses Mal nicht vor Schreck, sondern vor Wut.

Die Seuche tötete die Leute nicht einfach. Nein, dahinter steckte eine viel verderbtere Absicht. Es sollte sie in -

Noch während der Gedanke sich formte, krümmte sich der Mann, der Arthas Frage beantwortet hatte. Mehrere andere folgten seinem Beispiel. Ein seltsames grünes Leuchten durchdrang ihre Körper, pulsierte und wurde stärker. Sie fassten sich an die Bäuche und fielen zu Boden. Blut lief aus ihren Mündern, durchtränkte ihre Hemden. Einer streckte ihm die Hand entgegen, flehte um Hilfe. Stattdessen stieß Arthas ihn fort und sprang alarmiert zurück. Der Mann, der sich vor Schmerz krümmte, starb innerhalb kürzester Zeit.

Was hatte er getan? Der Mann hatte um Hilfe gebettelt, doch Arthas hatte keinen Finger gerührt. Aber konnte man überhaupt davon geheilt werden? Arthas starrte auf den Leichnam. Konnte das Licht -

»Gnädiges Licht!«, schrie Falric. »Das Brot…«

Arthas blickte in seifte Richtung und erwachte aus seinen Schuldgefühlen. Brot – die Grundlage des Lebens, gesund und nahrhaft – war jetzt schlimmer als der Tod geworden. Arthas öffnete den Mund, um zu schreien, seine Männer zu warnen, doch seine Zunge war wie gelähmt.

Die Seuche im Korn reagierte, noch bevor der entsetzte Prinz Worte finden konnte.

Die Augen des toten Mannes öffneten sich. Langsam setzte er sich auf…

Kel’Thuzad erschuf sich in erschreckend kurzer Zeit eine ganze Armee von Untoten.

Wirres Gelächter erklang in Arthas’ Ohren – Kel’Thuzad lachte wie wahnsinnig, triumphierend, selbst noch im Tod. Arthas fragte sich, ob er von all dem, was er miterleben musste, den Verstand verloren hatte. Der Untote klammerte sich an seine Füße und diese Bewegung ließ ihn reagieren und löste seine Zunge.

»Verteidigt euch!«, schrie Arthas und schlug mit dem Hammer zu, bevor der Mann aufstehen konnte. Doch die Gegner waren schneller, kamen torkelnd auf ihre toten Beine und richteten die Waffen, mit denen sie im Leben Arthas beschützt hätten, nun gegen ihn. Sein einziger Vorteil war, dass die Untoten nicht gut damit umgehen konnten. Deshalb verfehlten die meisten Schüsse auch ihr Ziel.

Arthas’ Männer griffen währenddessen entschlossen an. Sie zertrümmerten Schädel, enthaupteten und erschlugen ihre Gegner, die vor einigen Sekunden noch Verbündete gewesen waren.

»Prinz Arthas, die untoten Streitkräfte sind eingetroffen!«

Arthas wirbelte herum, die Rüstung voller Blut, die Augen geweitet.

So viele. Es waren so viele. Skelette, schon lange tot, frische Leichen, die erst vor Kurzem verwandelt worden waren, und weitere bleiche, madenbesetzte Abscheulichkeiten stürmten auf sie zu. Er konnte die Panik spüren. Die Männer hatten schon zuvor die Untoten bekämpft. Aber es waren nie so viele gewesen – keine Armee von lebenden Toten.

Arthas riss seinen Hammer, der zu glühendem Leben erwachte, hoch über sich. »Weicht nicht zurück!«, brüllte er. Seine Stimme war nicht mehr schwach und zittrig, sondern barsch und zorngeladen. »Wir sind vom Licht ausersehen! Wir werden nicht sterben!«

Seine grimmig entschlossenen Gesichtszüge badeten im Licht, als er angriff.


Jaina war erschöpfter, als sie sich selbst hatte eingestehen wollen. Ausgelaugt von tagelangen, pausenlosen Kämpfen brach sie zusammen, nachdem sie den Teleportzauber beendet hatte. Sie vermutete, dass sie einen Moment lang ohnmächtig gewesen sein musste. Denn das Nächste, woran sie sich erinnern konnte, war, wie ihr Meister sich über sie beugte und sie vom Boden anhob.

»Jaina – Kind, was ist los?«

»Uther«, stammelte Jaina. »Arthas… Herdweiler…« Sie packte Antonidas’ Gewand. »Nekromanten… Kel’Thuzad… die Toten – erheben sich zum Kampf…«

Antonidas’ Augen weiteten sich. Jaina schluckte und fuhr fort. »Arthas und seine Männer… kämpfen allein in Herdweiler. Er braucht sofort… Verstärkung!«

»Ich glaube, Uther ist im Palast«, sagte Antonidas. »Ich schicke sofort mehrere Magier, um Portale für die vielen Männer zu schaffen. Das hast du gut gemacht, meine Liebe. Ich bin sehr stolz auf dich. Und jetzt erhole dich ein wenig.«

»Nein!«, schrie Jaina. Sie zwang sich dazu, auf die Beine zu kommen, konnte aber kaum stehen. Durch reine Willenskraft überwand sie schließlich; die ärgste Erschöpfung. Zitternd streckte sie ihre Hand aus, um Antonidas daran zu hindern, ihr zu helfen. »Ich muss zu ihm. Es geht mir gut. Kommt!«


Arthas wusste nicht, wie lange er gekämpft hatte. Er schwang den Hammer fast unablässig, seine Arme zitterten vor Anstrengung, seine Lunge brannte. Nur die Kraft des Lichts, das ihn mit ruhiger Stärke und Stetigkeit erfüllte, hielt ihn und seine Männer auf den Beinen. Die Untoten schienen von dieser Kraft geschwächt zu werden, auch wenn das offenbar ihre einzige Schwäche war. Nur ein sauberer Tod – Arthas fragte sich flüchtig, ob man es tatsächlich »töten« nennen konnte, da sie bereits tot waren – konnte die wandelnden Leichen aufhalten.

Doch es kamen immer mehr. Welle folgte auf Welle. Seine Untergebenen – seine Leute – hatten sich in diese Monster verwandelt. Er hob den müden Arm zu einem weiteren Schlag, als über dem Schlachtenlärm eine Stimme ertönte, die Arthas kannte.

»Für Lordaeron! Für den König!«

Die Männer sammelten sich beim leidenschaftlichen Ruf Uthers, des Lichtbringers, und griffen erneut an. Uther rückte mit einer großen Streitmacht von Rittern an, allesamt frisch und kampferfahren. Sie wichen nicht vor den Untoten zurück – Jaina, die trotz ihrer Müdigkeit ebenfalls mit Uther und den Rittern durch das Portal gekommen war, hatte sie offensichtlich ausreichend unterrichtet, sodass keine wertvollen Sekunden durch den ersten Schrecken verloren gingen.

Die Untoten fielen jetzt schneller und jede Welle wurde wild und leidenschaftlich bekämpft – mit Hammer, Schwert und Flammen.


Jaina sank zu Boden, ihre Beine gaben nach, als der letzte lebende Tote in Flammen aufging, stürzte und schließlich wahrlich tot sein Ende fand.

Sie griff nach einem Wasserbeutel und trank ausgiebig, schüttelte sich und holte etwas Trockenfleisch heraus. Der Kampf war vorbei – zumindest für den Augenblick.

Arthas und Uther hatten beide ihre Helme abgenommen. Schweiß durchtränkte ihr Haar. Jaina kaute auf dem Fleisch und beobachtete, wie Uther über das Meer von Untoten blickte und zufrieden nickte.

Arthas starrte auf etwas, sein Gesichtsausdruck war voller Schuld. Jaina folgte seinem Blick und runzelte die Stirn. Sie verstand nicht. Überall lagen Leichen.

Doch Arthas blickte wie benebelt auf die aufgeblähten, fliegen – umschwirrten Leichen, unter denen keiner seiner Soldaten, Männer oder Pferde war.

Uther ging zu seinem Schüler und schlug Arthas auf die Schulter.

»Ich bin überrascht, dass Ihr so lange durchgehalten habt, Junge.« Seine Stimme war warm vor Stolz und auf seinen Lippen lag ein Lächeln. »Wenn ich nicht rechtzeitig eingetroffen wäre, als…«

Arthas wirbelte herum. »Ich habe getan, was ich konnte, Uther!« Sowohl Uther als auch Jaina blinzelten angesichts des harten Tonfalls. Er reagierte über – Uther tadelte ihn nicht, er lobte ihn. »Wenn ich eine ganze Legion von Rittern dabeigehabt hätte, dann…«

Uthers Augen zogen sich zusammen. »Jetzt ist nicht die Zeit, um am Stolz zu ersticken! Nach allem, was Jaina mir berichtet hat, war das hier nur der Anfang

Der Blick aus Arthas’ meergrünen Augen flog zu Jaina hinüber. Er litt unter der vermeintlichen Beschuldigung und zum ersten Mal, seit er Jaina kannte, schien sie sich unter diesem durchdringenden Blick zu ducken.

»Oder ist Euch entgangen, dass die Reihen der Untoten mit jedem Krieger in der Schlacht aufgefüllt werden?«, fuhr Uther fort.

»Dann sollten wir ihren Anführer angreifen!«, zischte Arthas. »Kel’Thuzad hat mir verraten, wer das ist und wo wir ihn finden können. Es ist… etwas, das Schreckenslord genannt wird. Sein Name ist Mal’Ganis. Und es befindet sich in Stratholme. Stratholme, Uther. Der Ort, an dem Ihr zum Paladin des Lichts geweiht worden seid. Bedeutet Euch das nichts?«

Uther seufzte müde. »Natürlich tut es das, aber…«

»Ich gehe dorthin und töte Mal’Ganis mit meinen eigenen Händen, wenn es sein muss!«, brüllte Arthas. Jaina hörte auf zu kauen und starrte ihn an. Sie hatte ihn noch nie so wütend erlebt.

»Ganz ruhig, Junge. So tapfer Ihr auch sein mögt, könnt Ihr doch nicht darauf hoffen, einen Mann allein zu besiegen, der über die Toten befehligt.«

»Dann schließt Euch mir an, Uther. Ich gehe, mit oder ohne Euch.« Bevor Uther oder Jaina weiter protestieren konnten, sprang er in den Sattel, riss den Kopf seines Pferdes herum und preschte nach Süden davon.

Jaina stand auf und war wie gelähmt. Er war ohne Uther losgezogen – ohne seine Männer… ohne sie. Uther trat leise neben sie. Sie schüttelte ihr blondes Haar.

»Er fühlt sich persönlich verantwortlich für all die Toten«, sagte sie ruhig zu dem alten Paladin. »Er glaubt, er hätte das alles aufhalten können.« Sie blickte Uther an. »Nicht einmal die Magier von Dalaran – diejenigen, die Kel’Thuzad als Erste gewarnt hatten – haben geahnt, was vor sich geht. Arthas hätte es gar nicht wissen können.«

»Er spürt zum ersten Mal die Last der Krone«, sagte Uther ruhig. »Das musste er nie zuvor. Das alles ist Teil davon, Milady – Teil des Lernprozesses, wie man weise und gut regiert. Ich habe erlebt, wie auch Terenas damit gekämpft hat, als er noch ein junger Mann war. Beide sind gute Männer, beide wollen das Richtige für ihr Volk tun, es versorgen und glücklich machen.« Mit gedankenverlorenem Blick sah er Arthas in der Ferne verschwinden. »Aber manchmal muss man sich für das kleinere Übel entscheiden. Manchmal kann man nicht alles wieder in Ordnung bringen. Arthas lernt das gerade.«

»Ich glaube, ich verstehe – trotzdem kann ich ihn nicht alleine losziehen lassen.«

»Nein, nein, wenn die Männer für den langen Marsch bereit sind, ziehen wir los. Ihr solltet Euch auch ausruhen.«

Jaina schüttelte den Kopf. »Nein. Er sollte nicht allein sein.«

»Lady Prachtmeer, auf ein Wort«, sagte Uther langsam. »Es wäre vielleicht gut, wenn er wieder einen klaren Kopf bekommen könnte. Folgt ihm, wenn Ihr müsst. Doch gebt ihm etwas Zeit zum Nachdenken.«

Er hatte recht. Sie mochte den Gedanken nicht, doch sie sah es genauso. Arthas war verstört. Er war wütend, fühlte sich machtlos und war nicht in der Stimmung, in der man mit ihm reden konnte. Und genau aus diesen Gründen konnte sie ihn nicht wirklich allein lassen.

»In Ordnung«, sagte sie. Sie saß auf, murmelte einen Zauber und sah, wie Uther lächelte, als er sie plötzlich nicht mehr sehen konnte. »Ich folge ihm. Kommt nach, sobald Eure Männer bereit sind.«

Sie würde ihm nicht zu dicht folgen. Sie war unsichtbar, aber nicht unhörbar. Jaina ließ ihr Pferd in einen leichten Galopp fallen, um dem schlauen, grüblerischen Prinzen von Lordaeron zu folgen.


Arthas trieb sein Pferd an. Er war wütend, dass es nicht schneller ging, wütend, dass es nicht Invincible war, wütend, dass er nicht rechtzeitig herausgefunden hatte, was vorgefallen war.

Es war beinahe überwältigend. Sein Vater hatte es mit den Orcs aufnehmen müssen – Kreaturen von einer anderen Welt, die in seine eigene einbrachen, brutal, gewalttätig und auf Eroberung aus.

Das alles erschien Arthas jetzt fast wie ein Kinderspiel. Wie hätten sein Vater und die Allianz sich gegen das hier geschlagen – eine Seuche, die die Menschen nicht nur tötete, sondern sie auf eine verderbte Art, an der sich nur ein kranker Geist erfreuen konnte, anschließend wiederbelebte und sie gegen ihre einstigen Freunde und Familienangehörigen schickte?

Hätte Terenas sich besser geschlagen? Zuerst glaubte Arthas, dass er es hätte – dass Terenas das Rätsel rechtzeitig gelöst hätte, um die Gefahr aufzuhalten und die Unschuldigen zu retten. Doch dann erkannte er, dass es niemand geschafft hätte. Terenas wäre ebenso hilflos gewesen wie er, angesichts dieses Schreckens.

Er war so tief in Gedanken versunken, dass er um ein Haar den Mann übersehen hätte, der auf der Straße stand. Mit einem festen Ruck an den Zügeln brachte er das Pferd gerade noch rechtzeitig zum Stehen.

Mit einer Mischung aus Ärger, Sorge und Wut zischte Arthas: »Du Narr! Was tust du denn da? Ich hätte dich fast niedergetrampelt!«

Der Mann war anders als jeder andere, den Arthas zuvor gesehen hatte. Und dennoch erschien er ihm vertraut. Groß, mit breiten Schultern und einem Umhang, der vollständig aus glänzenden schwarzen Federn gefertigt zu sein schien. Seine Gesichtszüge wurden von einer Kapuze verborgen, doch seine Augen leuchteten, als er Arthas ansah. Ein Bart, mit grauen Strähnen durchsetzt, enthüllte ein Lächeln.

»Ihr hättet mich nicht verletzt und ich brauchte Eure Aufmerksamkeit«, sagte er mit tiefer, sanfter Stimme. »Ich habe mit Eurem Vater gesprochen, junger Mann. Er wollte nicht auf mich hören. Jetzt komme ich zu Euch.« Er verneigte sich und Arthas runzelte die Stirn. Es wirkte auf ihn spöttisch. »Wir müssen reden.«

Arthas schnaubte. Jetzt wusste er, warum ihm dieser mysteriöse, effektvoll gekleidete Fremde so vertraut vorkam. Er war eine Art Mystiker – ein selbst ernannter Prophet, hatte Terenas gesagt –, der sich in einen Vogel verwandeln konnte. Er hatte die Frechheit besessen, mitten in Terenas’ Thronsaal etwas über den Weltuntergang zu faseln.

»Ich habe dafür keine Zeit«, knurrte Arthas und nahm die Zügel des Pferdes.

»Hört mir zu, Junge.« Diesmal war in der Stimme des Fremden kein spöttischer Unterton, stattdessen war sie scharf wie ein Peitschenhieb, und obwohl er es nicht wollte, hörte Arthas zu. »Dieses Land ist verloren! Der Schatten hat sich bereits gesenkt und nichts, was Ihr tut, kann daran etwas ändern. Wenn Ihr Euer Volk wirklich retten wollt, dann führt es über den Ozean… nach Westen.«

Arthas hätte beinahe aufgelacht. Sein Vater hatte recht gehabt – der Mann war wirklich verrückt. »Fliehen? Mein Platz ist hier und mein einziges Ziel ist es, mein Volk zu verteidigen! Ich werde es nicht dieser scheußlichen Existenz überlassen. Ich werde denjenigen, der dahintersteckt, finden und vernichten. Ihr seid ein Narr, wenn Ihr etwas anderes glaubt.«

»Ein Narr bin ich? Ich vermute, das bin ich wirklich. Denn ich habe geglaubt, dass der Sohn schlauer wäre als der Vater.« Die leuchtenden Augen blickten beunruhigt. »Eure Wahl ist bereits getroffen. Ihr lasst Euch nicht von jemandem belehren, der weiter schauen kann als Ihr.«

»Ich habe nur Euer Wort, dass Ihr den größeren Weitblick habt. Ich weiß, was ich sehe, was ich gesehen habe. Mein Volk braucht mich hier!«

Der Prophet lächelte traurig. »Wir sehen nicht nur mit unseren Augen, Prinz Arthas. Auch mit unserer Weisheit und mit unseren Herzen. Ich verkünde Euch eine letzte Prophezeiung. Erinnert Euch daran. Je stärker Ihr Eure Feinde bekämpft, desto schneller liefert Ihr ihnen Euer Volk aus.«

Arthas lag eine erboste Antwort auf der Zunge, doch in dieser Sekunde wandelte sich die Gestalt des Fremden. Der Umhang schien sich wie eine zweite Haut um ihn zu schließen. Flügel, schwarz und glänzend, wuchsen aus seinem Körper, als er auf die Größe eines normalen Raben schrumpfte. Mit einem letzten rauen Krächzen, das Arthas frustriert vorkam, hob der Vogel, der ein Mann gewesen war, ab, zog einen Kreis und flog dann fort. Arthas blickte ihm besorgt nach. Der Mann hatte so… sicher gewirkt…

»Es tut mir leid, weil ich mich getarnt habe, Arthas.« Jainas Stimme erklang wie aus dem Nichts. Erschreckt fuhr Arthas herum und versuchte sie zu entdecken. Sie materialisierte direkt vor ihm und wirkte zerknirscht. »Ich wollte nur…«

»Sag es nicht!«

Er bemerkte, dass sie überrascht war, sah, wie sich ihre blauen Augen weiteten, und bereute sofort, dass er sie angefahren hatte. Aber sie hätte sich nicht derart an ihn heranschleichen sollen, ihn derart ausspionieren dürfen.

»Er ist auch zu Antonidas gekommen«, sagte sie nach einem Moment und führte trotz der Maßregelung hartnäckig den Satz fort, den sie hatte sagen wollen. »Ich… ich spüre eine unglaubliche Kraft in ihm, Arthas.« Sie ritt näher an ihn heran und blickte zu ihm auf. »Diese Seuche der Untoten – so etwas hat es in der Geschichte dieser Welt noch nicht gegeben. Es ist nicht nur eine weitere Schlacht oder ein weiterer Krieg, es ist etwas viel Größeres und Finsteres. Und vielleicht kannst du diesen Kampf nicht mit der gleichen Taktik gewinnen. Vielleicht hat er recht. Vielleicht erkennt er Dinge, die wir nicht sehen können – vielleicht weiß er ja, was geschehen wird.«

Die Zähne zusammengebissen, wandte er sich von ihr ab. »Vielleicht. Oder er ist ein Verbündeter von Mal’Ganis. Oder vielleicht ist er nur ein verrückter Eremit. Nichts von dem, was er sagt, wird mich dazu verleiten, meine Heimat zu verlassen, Jaina. Mir ist es egal, ob dieser Verrückte die Zukunft gesehen hat. Brechen wir auf.«

Sie ritten eine Weile schweigend nebeneinanderher. Dann sagte Jaina ruhig: »Uther wird uns folgen. Er braucht nur etwas Zeit, um die Männer einzuweisen.«

Arthas starrte nach vorne und war immer noch wütend.

Jaina versuchte es erneut. »Arthas, du solltest nicht…«

»Mir reicht, dass mir jeder sagen will, was ich tun und lassen soll!« Die Worte platzten aus ihm heraus und erschreckten ihn so sehr wie Jaina. »Was hier geschieht, ist schrecklich, Jaina. Ich kann nicht mal Worte finden, um es zu beschreiben. Und ich tue alles, was mir möglich ist. Wenn du meine Entscheidungen nicht unterstützt, dann gehörst du vielleicht nicht hierher.« Er sah sie an, sein Gesichtsausdruck wurde sanfter. »Du wirkst so müde, Jaina. Vielleicht… vielleicht solltest du zurückgehen.«

Sie schüttelte den Kopf, blickte nach vorn und wich seinem Blick aus. »Du brauchst mich hier. Ich kann dir helfen.«

Seine Wut schwand und er griff nach ihrer Hand, schloss seine in Metall gefassten Finger sanft um ihre. »Ich hätte nicht so mit dir reden sollen, es tut mir leid. Ich bin froh, dass du hier bist. Ich bin immer froh über deine Gesellschaft.« Er beugte sich zu ihr und küsste ihre Hand.

Ihre Wangen röteten sich, als sie ihn anlächelte. Die Furche auf ihrer Stirn verschwand. »Lieber Arthas«, sagte sie weich.

Er drückte ihre Hand und ließ sie los.

Sie ritten den Rest des Tages in einem scharfen Tempo, redeten nicht viel, und erst, als die Sonne unterging, hielten sie an, um das Lager aufzuschlagen. Beide waren zu müde, um Wild zu jagen, deshalb begnügten sie sich mit Trockenfleisch, Äpfeln und Brot. Arthas starrte den Laib in seiner Hand an. Er stammte aus den Öfen des Palastes, gebacken mit Korn aus der Umgebung, das nicht aus Andorhal stammte. Es war völlig in Ordnung, nahrhaft und köstlich, schmeckte nach Hefe und nicht widerlich süßlich. Einfache, grundlegende Nahrung, etwas, das jeder, wirklich jeder, ohne Angst essen können sollte.

Seine Kehle verkrampfte sich plötzlich und er legte das Brot hin, unfähig, auch nur einen Bissen zu nehmen. Er stützte den Kopf in die Hand. Einen Augenblick lang fühlte er sich überwältigt, als würde eine Flutwelle der Verzweiflung und Hilflosigkeit über ihn hinwegspülen. Dann war Jaina da, kniete neben ihm, legte ihren Kopf an seine Schulter, während er darum kämpfte, sich zusammenzureißen.

Sie sagte nichts, das musste sie nicht, ihre einfache, tröstende Gegenwart war alles, was er brauchte. Mit einem tiefen Seufzen wandte er sich ihr zu und nahm sie in den Arm.

Sie reagierte, küsste ihn innig und brauchte etwas Trost und Sicherheit offensichtlich genauso wie er. Arthas Hände glitten durch ihr seidiges goldenes Haar und er atmete ihren Duft ein. Und für ein paar kurze Stunden erlaubten sie sich, sich ineinander zu verlieren. Sie schoben die Gedanken an den Tod, den Schrecken, das verseuchte Korn, Propheten und Entscheidungen weit von sich. Ihre Welt wurde klein und zart und bestand nur aus ihnen beiden.

12

Noch halb im Schlaf verstrickt, erwachte Jaina und streckte die Hand nach Arthas aus. Er war nicht da. Blinzelnd setzte sie sich auf.

Er war bereits wach und angezogen und kochte ihr Brei aus irgendeinem Getreide. Er schmunzelte, als er ihre Blicke bemerkte, doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. Jaina lächelte zögernd, nahm ihr Kleid, zog es an und kämmte sich mit den Fingern durchs Haar.

»Ich habe etwas erfahren«, sagte Arthas ohne Einleitung. »Gestern Abend – ich wollte es nicht erwähnen. Doch du musst es wissen.« Seine Stimme klang gepresst und Jaina spürte, wie ihr der Mut sank. Wenigstens schrie er nicht mehr.

Er füllte eine Schüssel mit dampfendem Brei und gab sie ihr. Sie löffelte mechanisch, als er fortfuhr.

»Diese Seuche – die Untoten…« Er atmete tief ein. »Wir wussten, dass das Korn verseucht war. Wir wussten, dass es Menschen tötete. Doch es ist schlimmer als das, Jaina. Es tötet sie nicht einfach nur.«

Die Worte schienen in seiner Kehle stecken zu bleiben. Es dauerte einen Moment, bis Jaina verstand. Sie hatte das Gefühl, der Brei in ihrem Magen, den sie gerade erst gegessen hatte, wollte wieder hochkommen. Und sie schien auch nur sehr schwer atmen zu können.

»Es… verwandelt sie irgendwie. Es macht aus ihnen Untote… oder nicht?« Bitte sag, dass ich Unrecht habe, Arthas.

Er tat es nicht. Stattdessen nickte er. »Deshalb waren so schnell so viele von ihnen vor Ort. Das Korn war erst kurze Zeit zuvor in Herdweiler eingetroffen – es war gerade genug Zeit vergangen, um das Getreide zu verarbeiten und Brot daraus zu backen.«

Jaina starrte ihn an. Die Folgen davon… sie mochte sie sich gar nicht ausmalen.

»Deshalb bin ich gestern so schnell aufgebrochen. Ich wusste, dass ich es nicht allein mit Mal’Ganis aufnehmen kann. Aber Jaina, ich konnte nicht einfach herumsitzen und… die Rüstung reparieren und mich ausruhen, verstehst du?«

Sie nickte stumm. Jetzt verstand sie.

»Und dieser Prophet – mir ist es egal, für wie mächtig du ihn hältst. Ich kann nicht einfach verschwinden und zusehen, wie sich ganz Lordaeron in dieses… dieses…« Er kam ins Stocken, fasste sich aber wieder. »Wer auch immer Mal’Ganis ist, was auch immer er sein mag, er muss aufgehalten werden. Wir müssen jede Kiste dieses verseuchten Korns finden und vernichten.«

Die eigenen Worte schienen Arthas, während er sie sprach, wieder aufzuregen. Er stand auf und ging ungeduldig auf und ab. »Wo zum Teufel bleibt Uther?«, fragte er. »Er hatte die ganze Nacht Zeit, um zu uns aufzuschließen.«

Jaina stellte den zur Hälfte verzehrten Brei zur Seite, stand auf und kleidete sich an. Ihr Verstand arbeitete fieberhaft. Sie versuchte die Situation zu verstehen und nüchtern darüber nachzudenken, wie man die Seuche bekämpfen konnte.

Wortlos brachen sie das Lager ab und ritten Stratholme entgegen.

Das aschgraue Licht des Sonnenaufgangs verdunkelte sich, als Wolken vor die Sonne zogen. Es begann zu regnen, kalt und beißend. Sowohl Arthas als auch Jaina schlugen die Kapuzen ihrer Umhänge hoch. Doch das half wenig, um Jaina trocken zu halten.

Als sie die Tore der großen Stadt erreichten, zitterte sie. Während sie die Pferde zügelten, hörte Jaina Geräusche hinter sich, wandte sich um und erblickte Uther und seine Männer, die den Feldweg heraufkamen, der fast nur noch aus Matsch bestand. Arthas blickte Uther mit einem zynischen Lächeln an.

»Schön, dass Ihr es auch geschafft habt, Uther«, zischte er.

Uther war ein besonnener Mann, doch jetzt verlor er die Geduld. Arthas und Jaina waren nicht die Einzigen, denen die Sache zusetzte. »Achtet auf Euren Tonfall, Junge. Ihr mögt ein Prinz sein, aber ich bin immer noch Euer Vorgesetzter als Paladin.«

»Als könnte ich das je vergessen«, gab Arthas zurück. Er stieg auf die Anhöhe, sodass er über die Mauern hinweg in die Stadt sehen konnte. Er wusste nicht, wonach er eigentlich suchte. Irgendwelche Lebenszeichen, Normalität vielleicht. Anhaltspunkte dafür, dass sie rechtzeitig hier eingetroffen waren. Irgendetwas, um ihm die Hoffnung zu geben, dass er immer noch etwas tun konnte. »Hört mir zu, Uther. Es gibt etwas über diese Seuche, das Ihr wissen solltet. Das Korn…«

Wind kam auf, während er sprach, und der Geruch, der seine Nase erreichte, war nicht unangenehm.

Arthas fühlte sich, als hätte er einen Schlag in die Eingeweide bekommen. Ganz eindeutig lag in der feuchten Luft der merkwürdig süßliche Geruch des mit verseuchtem Korn gebackenen Brotes.

Beim Licht, nein. Das Korn war bereits gemahlen, bereits gebacken, bereits…

Das Blut wich aus Arthas’ Gesicht. Seine Augen weiteten sich, sein Blick war starr vor plötzlicher Erkenntnis. »Wir kommen zu spät. Wir sind verdammt noch mal schon wieder zu spät! Das Korn – diese Menschen…« Er versuchte es erneut. »Diese Menschen wurden alle infiziert.«

»Arthas…«, begann Jaina mit leiser Stimme.

»Vielleicht wirken sie jetzt noch völlig gesund. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie sich in Untote verwandeln!«

»Was?«, brüllte Uther. »Junge, seid Ihr verrückt geworden?«

»Nein«, sagte Jaina. »Er hat recht. Sie haben das Korn bereits gegessen, sie sind infiziert. Und wenn sie infiziert sind… werden sie sich verwandeln.« Wütend dachte sie nach. Es musste etwas geben, was sie tun konnten. Antonidas hatte einst gesagt, dass etwas, das magischen Ursprungs war, auch mit Magie bekämpft werden konnte. Wenn sie nur ein wenig Zeit zum Überlegen hätte. Zeit, um sich zu beruhigen, bis sie wieder logisch denken konnte. Vielleicht gab es eine Heilung…

»Die ganze Stadt muss gesäubert werden.«

Arthas’ Feststellung war simpel und brutal. Jaina blinzelte. Sicherlich hatte er es nicht so gemeint.

»Wie könnt Ihr auch nur daran denken?«, brüllte Uther und ging zu seinem ehemaligen Schüler. »Es muss einen anderen Weg geben. Das ist keine verfaulte Apfelernte, sondern eine Stadt voller menschlicher Wesen!«

»Verdammt, Uther, wir müssen es tun!« Arthas schob sein Gesicht bis auf wenige Zentimeter an das von Uther heran und einen schrecklichen Moment lang war Jaina überzeugt, dass sie die Waffen gegeneinander ziehen würden.

»Arthas, nein! Das können wir nicht tun!« Die Worte kamen über ihre Lippen, bevor sie sie aufhalten konnte.

Er wirbelte zu ihr herum, seine meergrünen Augen waren verhangen vor Wut, Verletzung und Verzweiflung. Sie erkannte augenblicklich, dass er wirklich glaubte, dies wäre die einzige Möglichkeit. Der einzige Weg, unverseuchtes Leben zu retten, sei, die verseuchten Menschen zu opfern – diejenigen, die nicht mehr gerettet werden konnten.

Sein Gesicht glättete sich, als sie weiterlief und ihre Worte beenden konnte, bevor er sie unterbrach.

»Hör mir zu. Wir wissen nicht, wie viele Menschen infiziert sind. Einige mögen bereits das Korn gegessen haben – andere haben vielleicht noch keine tödliche Dosis abbekommen. Wir wissen bislang noch nicht einmal, wie hoch eine tödliche Dosis ist. Wir wissen so wenig – wir können sie nicht nur aus unserer eigenen Angst heraus wie Tiere abschlachten!«

Das war das Falscheste, was sie sagen konnte, und sie sah, wie Arthas’ Miene sich verschloss. »Ich versuche, die Unschuldigen zu beschützen, Jaina. Das habe ich geschworen.«

»Sie sind unschuldig – sie sind Opfer! Sie haben nicht darum gebeten! Arthas, es sind Kinder da drin. Wir wissen nicht, ob es auch sie betrifft. Es ist noch viel zu viel unbekannt für so eine… drastische Lösung.«

»Was ist mit denen, die bereits infiziert sind?«, fragte er in die plötzliche Stille hinein. »Sie werden diese Kinder töten, Jaina. Sie werden versuchen, uns zu töten… und von hier ausströmen und weiter töten. Sie werden sowieso sterben, und wenn sie sich dann wieder erheben, tun sie Dinge, die sie zu Lebzeiten niemals getan oder je gewollt hätten. Was würdest du tun, Jaina?«

Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie blickte von Arthas zu Uther, dann wieder zurück. »Ich… ich weiß es nicht.«

»Doch, du weißt es.« Er hatte recht und in ihrer Verzweiflung wusste sie es auch. »Würdest du nicht auch lieber jetzt sterben als durch die Seuche? Einen sauberen Tod sterben als denkender, lebender Mensch, statt als Untoter wiederbelebt zu werden, um jeden und alles anzugreifen, was du in deinem Leben geliebt hast?«

Ihr Gesicht legte sich in Falten. »Ich… das wäre meine persönliche Entscheidung, ja. Doch wir können nicht für die anderen sprechen. Verstehst du das nicht?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Das verstehe ich nicht. Wir müssen diese Stadt reinigen, bevor die Infizierten fliehen können und die Krankheit verbreiten. Bevor einer von ihnen sich verwandelt. Das tue ich aus Barmherzigkeit und es ist die einzige Lösung, um die Seuche genau hier aufzuhalten, jetzt und für alle Zeiten. Und genau das werde ich tun.«

Tränen des Schmerzes brannten in Jainas Augen.

»Arthas – gib mir ein wenig Zeit. Nur einen Tag oder zwei. Ich kann mich zurück zu Antonidas teleportieren und wir können eine Krisensitzung einberufen. Vielleicht finden wir einen Weg, um…«

»Wir haben keinen Tag oder zwei!« Die Worte platzten förmlich aus Arthas heraus. »Jaina, die Seuche befällt die Menschen binnen weniger Stunden. Vielleicht innerhalb von Minuten. Ich… ich habe es in Herdweiler gesehen. Wir haben keine Zeit für eine Beratung oder Diskussion. Wir müssen sofort handeln. Oder es ist zu spät.« Er wandte sich an Uther. »Als Euer künftiger König befehle ich Euch, diese Stadt zu säubern!«

»Noch seid Ihr nicht mein König, Junge! Und ich würde diesen Befehl auch dann nicht ausführen, wenn Ihr es wärt!«

Die Stille knisterte vor Spannung.

Arthas… geliebter, bester Freund… bitte, tu das nicht.

»Dann muss ich das als einen Akt des Hochverrats werten.« Arthas’ Stimme war kalt. Wenn er ihr ins Gesicht geschlagen hätte, wäre Jaina nicht schockierter gewesen.

»Hochverrat?«, stieß Uther hervor. »Seid Ihr verrückt geworden, Arthas?«

»Bin ich das? Lord Uther, durch das Recht der Erbfolge und die Souveränität meiner Krone enthebe ich Euch hiermit des Kommandos und entlasse Eure Paladine aus dem Dienst.«

»Arthas!«, schrie Jaina auf. Ihre Zunge war durch den Schock wieder frei. »Du kannst nicht einfach…«

Er wirbelte wütend zu ihr herum und blaffte: »Es ist vorbei!«

Sie blickte ihn an. Er wandte sich an die Männer, die stumm und vorsichtig den Ausgang des Gesprächs abgewartet hatten. »Alle von Euch, die den Willen haben, dieses Land zu retten, folgen mir. Der Rest von Euch… geht mir aus den Augen!«

Jaina fühlte sich schlecht und benommen. Er wollte das wirklich durchziehen. Er würde nach Stratholme einmarschieren und jeden lebenden Mann, jede Frau und jedes Kind innerhalb der Mauern töten.

Sie taumelte und hielt sich an den Zügeln ihres Pferdes fest. Das Tier senkte den Kopf und wieherte sie an, blies warmen Atem aus seinen sanften Nüstern über ihre Wangen. Sie neidete ihm seine Sorglosigkeit.

Jaina fragte sich, ob Uther seinen früheren Schüler angreifen würde. Doch er war durch einen Eid an den Dienst für den Prinzen gebunden, selbst wenn er seines Kommandos enthoben wurde. Sie sah, wie die Sehnen an seinem Hals hervortraten, konnte beinahe hören, wie er mit den Zähnen knirschte. Doch Uther griff seinen Lehnsherrn nicht an.

Diese Treue ließ ihn aber nicht verstummen. »Ihr überschreitet eine schreckliche Grenze, Arthas.«

Arthas blickte ihn noch einen Augenblick länger an, dann zuckte er mit den Achseln. Er wandte sich Jaina zu, ihre Augen suchten seine und einen Augenblick lang – nur einen winzigen Augenblick – wirkte er wie er selbst: ernst, jung, ein wenig verunsichert.

»Jaina?«

In dem einen Wort lag so viel mehr an Bedeutung. Es war sowohl Frage als auch Bitte. Als sie ihn ansah, erstarrt, wie ein hypnotisiertes Kaninchen vor der Schlange, streckte er die gepanzerte Hand nach ihr aus. Sie blickte ihn einen Augenblick lang an, dachte an all die Zeiten, in denen diese Hand sie warm gehalten, sie gestreichelt, sich auf die Verwundeten gelegt und vom heilenden Licht durchdrungen geleuchtet hatte.

Sie konnte diese Hand nicht ergreifen.

»Es tut mir leid, Arthas. Ich kann dabei nicht tatenlos zusehen.«

Er trug kein Visier vor dem Gesicht, konnte seinen Schmerz nicht dahinter verbergen. Erschrecken und Unglaube gingen von ihm aus. Sie konnte ihn nicht länger ansehen. Jaina schluckte und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie wandte sich von ihm ab und suchte Uther, der sie mit Mitgefühl und Anerkennung betrachtete. Er streckte seine Hand aus, um ihr beim Aufsitzen zu helfen, und sie war dankbar für seine Stärke. Jaina zitterte und klammerte sich an ihr Pferd, als Uther aufsaß, ihre Zügel fasste und sie beide von dem größten Schrecken wegführte, den sie je erlebt hatten.

»Jaina?« Arthas’ Stimme folgte ihr.

Sie schloss die Augen, Tränen liefen unter den geschlossenen Lidern hervor. »Es tut mir leid«, flüsterte sie wieder. »Es tut mir so leid.«

»Jaina?… Jaina!«


Sie hatte ihm den Rücken gekehrt.

Er konnte es nicht glauben. Einen langen Augenblick lang starrte er einfach nur vor sich hin, wie vom Donner gerührt, und sah zu, wie sie sich entfernte. Wie konnte sie ihn so stehen lassen? Sie kannte ihn. Sie kannte ihn besser als irgendjemand sonst auf der Welt, besser als er sich vielleicht selbst kannte. Sie hatte ihn immer verstanden. Im Geiste ging er zu der Nacht zurück, in der sie zueinandergefunden und im goldgelben Licht des Strohmannfeuers gebadet hatten – und später im kalten Blau des Mondlichts. Er hatte sie schützend an sich gepresst.

Weise mich nicht zurück, Jaina. Weise mich nie zurück. Bitte.

Das würde ich niemals tun. Niemals.

Oh, das waren starke Worte gewesen, in einem starken Moment geflüstert. Doch nun, nun, wo es wirklich darauf ankam, hatte sie genau das getan – ihn zurückgewiesen und ihn verraten. Verdammt, sie hatte sogar eingestanden, dass sie sich lieber töten ließe, als von der Seuche befleckt zu werden. Sie hatte ihn allein gelassen. Wenn sie ihm in den Unterleib getreten hätte, hätte es nicht schlimmer schmerzen können.

Der Gedanke entflammte kurz, hell und brennend heiß: Hatte sie recht?

Nein. Nein, das konnte nicht sein. Denn wenn sie recht hatte, dann verwandelte er sich gerade in einen Massenmörder, und er wusste genau, dass dem nicht so war. Er wusste es.

Er schüttelte die Benommenheit ab, leckte sich die plötzlich trocken gewordenen Lippen und atmete tief ein. Einige der Männer waren mit Uther gegangen. Eine ganze Menge sogar. Zu viele, um ehrlich zu sein. Konnte er die Stadt mit den wenigen verbliebenen Soldaten nehmen?

»Sire, wenn ich darf«, sagte Falric. »Ich bin… nun… ich würde lieber in tausend Stücke zerhackt werden, als mich in einen Untoten zu verwandeln.«

Es gab zustimmendes Gemurmel und Arthas’ Herz hob sich. Er umfasste seinen Hammer. »Es ist kein Vergnügen, was wir hier tun müssen«, sagte er, »aber notwendig. Wir müssen die Seuche aufhalten, hier und jetzt, mit so wenigen Verlusten wie möglich. Die Menschen innerhalb der Stadtmauern sind bereits tot. Wir wissen das, auch wenn es ihnen selbst noch nicht klar ist, und wir müssen sie schnell und sauber töten, bevor es die Seuche macht.« Er blickte jeden von ihnen an, diese Männer, die sich nicht ihrer Pflicht verweigert hatten. »Sie müssen getötet werden. Ihre Häuser müssen zerstört werden, damit sie nicht denjenigen Schutz geben, für deren Rettung wir zu spät kommen.« Die Männer nickten zustimmend und griffen nach ihren Waffen. »Das ist kein großer und ruhmreicher Kampf. Er wird hässlich und schmerzvoll, und ich bedauere diese Notwendigkeit von ganzem Herzen. Doch genauso gut weiß ich, dass wir es tun müssen.«

Er hob seinen Hammer. »Für das Licht!«, rief er und als Antwort brüllten seine Männer und erhoben ihre Waffen. Er wandte sich dem Tor zu, atmete tief ein und ritt los.

Alle, die so früh schon auf den Beinen waren, waren leicht zu töten. Sie waren der Feind, keine Menschen mehr, sondern abscheuliche Karikaturen dessen, was sie einst im Leben dargestellt hatten. Ihre Schädel zu zertrümmern oder ihnen die Köpfe abzuschlagen, war nicht schwerer, als ein Kaninchen zu jagen. Die anderen…

Sie blickten zu den Männern auf, zu ihrem Prinzen. Zuerst waren sie verwirrt, dann verschreckt. Anfangs griffen die meisten nicht einmal zu den Waffen. Die Bürger kannten den Waffenrock, wussten, dass die Männer, die sie töteten, sie eigentlich beschützen sollten. Sie konnten einfach nicht fassen, warum sie sterben mussten.

Schmerz berührte Arthas’ Herz beim ersten Menschen, den er niedermetzelte. Es war ein Junge, kaum aus der Pubertät heraus, der ihn unverständig mit seinen braunen Augen ansah und noch sagte: »Milord, warum sind…« – bevor Arthas vor Schmerz brüllte und dann die Brust des Jungen mit dem Hammer zermalmte. Beiläufig stellte er fest, dass seine Waffe nicht mehr vom Licht durchflutet leuchtete. Vielleicht betrauerte auch das Licht die ernste Notwendigkeit seiner Handlungen. Er schluchzte, als er das Gefühl mit äußerster Willenskraft zurückdrängte und sich der Mutter des Jungen zuwandte.

Er hatte geglaubt, dass es leichter werden würde. Doch dem war nicht so. Es wurde sogar immer schlimmer. Arthas verbot sich, dem Kampf auszuweichen. Die Männer sahen in ihm ein Vorbild. Wenn er zögerte, würden sie es auch tun, und dann würde Mal’Ganis triumphieren. Er ließ den Helm aufgesetzt, damit niemand sein Gesicht sehen konnte, und er selbst entzündete die Feuer, die die Gebäude voller Menschen niederbrannten. Dabei gestattete er sich nicht, dass der schreckliche Anblick und die Schreie darin ihn in seinem Tun bremsten.

Es wurde leichter, als einige Bürger von Stratholme sich zu wehren begannen. Dann setzte der Selbstverteidigungsinstinkt ein. Die Menschen hatten immer noch keine Chance gegen Berufssoldaten und einen ausgebildeten Paladin. Aber es entschärfte das schreckliche Gefühl von… nun, Jaina hatte es »sie wie Vieh abschlachten« genannt.

»Ich habe auf dich gewartet, junger Prinz.«

Die Stimme war tief und vibrierte in Arthas’ Geist genauso wie in seinen Ohren. Sie war volltönend und… es gab kein anderes Wort dafür… böse. Ein wahrer Schreckenslord, wie Kel’Thuzad gesagt hatte. Ein dunkler Name für ein dunkles Wesen.

»Ich bin Mal’Ganis.«

Arthas spürte so etwas wie Freude. Er hatte recht gehabt. Mal’Ganis war hier, er steckte hinter der Seuche. Und als Arthas’ Männer, die ebenso die Stimme vernahmen, sich umwandten und die Quelle suchten, flogen die Türen eines Hauses auf, in dem die Bürger sich versteckt hatten. Wandelnde Tote stürzten heraus, ihre Körper waren von einem grünen, kranken Leuchten durchdrungen.

»Wie du sehen kannst, gehören deine Leute nun mir. Ich werde diese Stadt Haus für Haus verwandeln, bis die Flamme des Lebens ausgelöscht ist… und zwar für immer.« Mal’Ganis lachte. Das Geräusch war beunruhigend, tief, rau und düster.

»Das werde ich nicht zulassen, Mal’Ganis!«, schrie Arthas. Sein Herz schwoll an, er war von der Richtigkeit seines Tuns überzeugt.

»Diese Menschen sterben besser durch meine Hand, statt dir als Sklaven im Tod zu dienen!«

Mal’Ganis lachte erneut und dann war er so schnell verschwunden, wie er gekommen war, und Arthas war damit beschäftigt, sein eigenes Leben gegen einen Pulk von Untoten zu verteidigen.

Arthas konnte hinterher nicht mehr sagen, wie lange es gedauert hatte, jede lebende – und tote – Person in der Stadt zu besiegen. Doch irgendwann war es vorbei. Er war erschöpft, zitterte und war angeekelt vom Geruch des Blutes, des Rauchs und dem kranken, süßlichen Gestank des vergifteten Brots, der in der Luft lag, auch wenn die Bäckerei selbst bereits verbrannt war. Blut und Eiter bedeckte seine einst strahlende Rüstung. Doch er war noch nicht fertig. Er wartete auf etwas, wovon er wusste, dass es noch kommen würde.

Und einen Augenblick später erschien sein Gegner tatsächlich, landete auf dem Dach eines der wenigen intakten Gebäude.

Arthas wankte. Die Kreatur war riesig, ihre Haut blaugrau, wie Stein. Gebogene Hörner prangten auf ihrem kahlen Schädel und zwei mächtige Flügel, denen einer Fledermaus ähnlich, erhoben sich hinter ihr wie lebendige Schatten. Ihre Beine, die in einer mit Stacheln überzogenen Rüstung steckten, voller verstörender Bilder von Knochen und Schädeln, waren gekrümmt und endeten in Hufen. Und im Licht seiner leuchtend grünen Augen erkannte Arthas seine scharfen Zähne, die zu einem arroganten Lächeln verzogen waren.

Arthas blickte zu der Kreatur auf und drohte in dem Schrecken zu versinken. Unglaube kämpfte mit den Tatsachen vor seinen Augen. Er hatte Sagen gehört, hatte in der Bibliothek zu Hause wie auch in den Archiven von Dalaran Bilder in alten Büchern gefunden. Doch solch ein monströses Ding wie das vor dem schwarzroten Himmel, vor dem Feuer und Rauch…


Ein Schreckenslord war ein Dämon. Ein Wesen aus Mythen. Es konnte nicht echt sein – und doch war es da, stand in all seiner schrecklichen Herrlichkeit vor ihm.

Schreckenslord.

Die Angst drohte Arthas zu überwältigen und er wusste, dass sie ihn, wenn er sie zuließ, vernichten würde. Er würde durch die Hand des Monsters sterben – ohne einen Kampf. Und mit der reinen Kraft seines Willens tauschte er den Schrecken gegen ein besseres Gefühl aus.

Hass.

Gerechten Zorn.

Er dachte an diejenigen, die unter seinem Hammer gefallen waren, die Lebenden und die Toten, die gefräßigen Ghoule und die verschreckten Frauen und Kinder, die nicht verstanden hatten, dass er ihre Seelen zu retten versuchte. Ihre Gesichter unterstützten ihn, sie konnten nicht – würden nicht – umsonst gestorben sein.

Irgendwie fand Arthas den Mut, dem dämonischen Blick entgegenzutreten, und er umklammerte seinen Hammer.

»Wir werden das gleich hier beenden. Mal’Ganis«, rief er. Seine Stimme war stark und fest. »Nur du und ich.«

Der Schreckenslord warf den Kopf zurück und lachte. »Tapfere Worte«, polterte er. »Unglücklicherweise für dich wird es hier nicht enden.« Mal’Ganis lächelte, seine schwarzen Lippen zogen sich zurück und entblößten seine scharfen, spitzen Zähne. »Eure Reise hat gerade erst begonnen, junger Prinz.«

Er streckte einen Arm aus und wies auf Arthas’ Männer. Lange scharfe Klauen glitzerten im Licht der Flammen, die immer noch brannten und die große Stadt verschlangen. »Sammle deine Kräfte und triff mich im arktischen Land Nordend. Dort wird sich deine wahre Bestimmung erfüllen.«

»Meine wahre Bestimmung?« Arthas’ Stimme krächzte vor Wut und Verwirrung. »Was willst du…« Die Worte erstarben in seiner Kehle, als die Luft um Mal’Ganis in einer vertrauten Art zu schimmern begann.

»Nein!«, brüllte Arthas. Er sprang vor, blind, rücksichtslos, und hätte den Schreckenslord binnen eines Herzschlags erschlagen, wäre nicht der Teleportzauber bereits beendet gewesen. Arthas schrie und schlug mit seinem schwach leuchtenden Hammer ins Leere. »Ich verfolge dich bis ans Ende der Welt, wenn es sein muss! Hörst du mich? Bis ans Ende der Welt!«

Wütend und schreiend drosch er mit dem Hammer wild gegen einen imaginären Feind, bis ihn die pure Erschöpfung zwang, die Waffe zu senken. Er stützte sich darauf. Arthas schwitzte und wurde von einem frustrierten, zornigen Schluchzen geschüttelt.

Bis ans Ende der Welt.

13

Drei Tage später ging Lady Jaina Prachtmeer durch die Straßen der einst stolzen Stadt Stratholme, der Perle des nördlichen Lordaerons… die zum wahren Albtraum verkommen war.

Der allgegenwärtige Gestank war fast unerträglich. Jaina hob ein Taschentuch, das großzügig mit Friedensblumenduft getränkt war, vor ihr Gesicht. Doch der Versuch, das Schlimmste herauszufiltern, war nur teilweise von Erfolg gekrönt. Feuer, die eigentlich längst hätten erloschen sein müssen, loderten hoch in den Himmel und verrieten Jaina, dass die schwarze Magie immer noch wirkte. Weitere Anzeichen dafür waren der stechende Rauch, der ihr in Augen und Kehle brannte, und der Verwesungsgeruch.

Die Leichen lagen dort, wo sie gestorben waren, die meisten waren unbewaffnet. Tränen stiegen in Jainas Augen und liefen ihr die Wangen hinab, während sie sich wie in Trance immer weiter bewegte und vorsichtig über die aufgeblähten Toten hinwegstieg. Ein leises, schmerzerfülltes Wimmern entschlüpfte ihr, als sie erkannte, dass Arthas und seine Männer in ihrer fehlgeleiteten Barmherzigkeit nicht einmal die Kinder verschont hatten.

Hätten diese Leichen, die still und steif dalagen, sich erhoben und sie angegriffen, wenn Arthas sie nicht getötet hätte? Vielleicht. Für viele von ihnen galt das sogar ganz gewiss. Das Korn war tatsächlich verteilt und auch gegessen worden. Doch galt das für jeden Einzelnen? Das würde sie niemals erfahren und Arthas auch nicht mehr.

»Jaina – ich bitte dich, mit mir zu kommen.« Seine Stimme klang noch deutlich in ihrem Kopf, doch sie wusste, dass er bereits tausend Meilen entfernt war. »Er ist mir entkommen. Ich habe die Bewohner der Stadt davor gerettet, seine Sklaven zu werdendoch in letzter Minute ist er entwischt. Er ist in Nordend. Komm mit mir.«

Jaina schloss die Augen. Sie wollte sich nicht an das vor anderthalb Tagen stattgefundene Gespräch erinnern. Sie wollte sich nicht daran erinnern, wie er sie angeblickt hatte. Kalt und wütend, darauf fixiert, den Schreckenslord zu töten – beim Licht, ein echter Dämon –, und das um jeden Preis.

Sie stolperte über einen Leichnam und ihre Augen nahmen wieder den Schrecken wahr, den der Mann angerichtet hatte, den sie einst geliebt hatte. Der Mann, den sie trotz allem immer noch liebte. Warum das so war, wusste sie nicht, doch – Licht steh mir bei! – sie…

»Arthas – das ist eine Falle. Er ist ein Dämonenlord. Er war mächtig genug, dir in St… Stratholme zu entkommen. Er wird dich sicherlich auf seinem eigenen Gebiet besiegen, wo er der Stärkere ist. Geh nicht… bitte…«

Sie hatte sich in seine Arme werfen, ihn bei sich behalten wollen. Er durfte nicht nach Nordend gehen. Es würde seinen Tod bedeuten. Und obwohl er anderen so viel angetan hatte, glaubte Jaina, dass er ein solches Ende nicht verdient hätte.

»So viel Tod«, murmelte sie. »Ich kann nicht glauben, dass Arthas das getan hat.« Doch sie wusste, dass es so war. Eine ganze Stadt…

»Jaina? Jaina Prachtmeer!«

Jaina wurde von der vertrauten Stimme aus ihrer Trauer gerissen. Es war Uther. Ein merkwürdiges Gefühl der Erleichterung erwachte in ihr, als sie sich ihm zuwandte, um ihn zu begrüßen.

Uther hatte sie immer ein wenig eingeschüchtert, er war so groß und mächtig und… nun, so tief mit dem Licht verbunden. Ein unpassendes Schuldgefühl überkam sie. Als sie und Arthas noch jünger gewesen waren, hatten sie sich über Uthers Frömmigkeit hinter seinem Rücken lustig gemacht. Hatten seine Hingabe als aufgeblasen und scheinheilig empfunden. Er war ein leichtes Opfer gewesen. Doch vor drei qualvollen Tagen hatten sie und Uther sich gemeinsam gegen Arthas gestellt.

»Du hast geschworen, dass du mich nie zurückweisen würdest, Jaina «, hatte Arthas ihr vorgeworfen. Seine Stimme war so scharf wie ein eisiges Messer gewesen. »Doch als ich deine Unterstützung am meisten brauchte, dein Verständnis, hast du dich gegen mich gestellt.«

»Ich… Arthas, wir wussten nicht genug, um…«

» Und jetzt weigerst du dich, mir zu helfen. Ich gehe nach Nordend, Jaina. Ich möchte dich dabeihaben. Um mir zu helfen, dieses Böse aufzuhalten. Kommst du mit?«

Jaina zuckte zusammen. Uther bemerkte es, sagte aber nichts. Er trug eine Plattenrüstung und trotz der überwältigenden Hitze der unnatürlich brennenden Feuer kam er eilig auf sie zu. Er bot nun ein Bild der Stärke und Standhaftigkeit und schüchterte sie nicht mehr ein. Er umarmte sie nicht, berührte ihren Arm aber auf beruhigende Weise.

»Ich hatte mir gedacht, dass ich Euch hier finde. Wo ist er hin, Mädchen? Wohin hat Arthas die Flotte gebracht?«

Jainas Augen weiteten sich. »Die Flotte?«

Uther grunzte zustimmend. »Er ist mit der gesamten Flotte von Lordaeron losgefahren. Hat seinem Vater nur eine knappe Nachricht geschickt. Wir wissen nicht, warum sie ihm ohne direkten Befehl ihres Kommandeurs gehorcht haben.«

Jaina warf ihm ein kleines, trauriges Lächeln zu. »Weil er ihr Prinz ist. Er ist Arthas. Sie lieben ihn. Sie wussten nichts… hierüber.«

Schmerz breitete sich über Uthers raue Gesichtszüge und er nickte. »Aye«, sagte er leise. »Er ist immer gut zu den Männern gewesen, die ihm gedient haben. Sie wissen, dass er sich wirklich um sie sorgt, und sie dienen ihm mit ihrem Leben.«

Bedauern lag in diesen Worten. Sie waren wahr und einst hatte Arthas diese ungebrochene Hingabe auch verdient.

» Und jetzt weigerst du dich, mir zu helfen…«

Uther schüttelte sie sanft und rief sie zurück in die Gegenwart. »Wisst Ihr, wohin er sie geführt haben mag, mein Kind?«

Jaina atmete tief ein. »Er ist zu mir gekommen, bevor er aufgebrochen ist. Ich bat ihn, nicht zu gehen. Ich sagte ihm, dass es eine Falle ist…«

»Wohin?«, fragte Uther unnachgiebig.

»Nordend. Er ist nach Nordend aufgebrochen, um Mal’Ganis zu jagen – den Dämonenlord. Der verantwortlich für die Seuche ist. Er konnte ihn hier nicht besiegen.«

»Ein Dämonenlord? Verdammt, dieser Junge!« Der Ausbruch erschreckte Jaina. »Ich muss Terenas informieren.«

»Ich habe versucht, ihn aufzuhalten«, wiederholte Jaina. »Dann… und als er…« Sie gestikulierte hilflos angesichts der unvorstellbaren Zahl von Toten, die ihnen stumm Gesellschaft leisteten. Sie fragte sich zum tausendsten Mal, ob sie es hätte verhindern können – wenn sie nur die rechten Worte gefunden hätte, Arthas auf die richtige Art berührt hätte. »Doch ich habe versagt.«

Ich habe dir gegenüber versagt, Arthas. Ich habe diesen Menschen gegenüber versagt – ich habe mir selbst gegenüber versagt.

Uthers schwere, gepanzerte Hand lag auf ihrer schmalen Schulter. »Seid nicht zu hart zu Euch selbst, Mädchen.«

Sie lachte humorlos. »Ist das so offensichtlich?«

»Jeder mit einem Herz hätte sich dasselbe gefragt. Mir ist es genauso gegangen.« Sie sah zu ihm auf, erschreckt von dem Eingeständnis.

»Ist es das?«, fragte Jaina.

Er nickte, seine Augen waren blutunterlaufen vor Erschöpfung und es lag so viel Schmerz darin, der sie bis tief ins Innerste erschütterte. »Ich konnte nicht gegen ihn kämpfen. Er ist immer noch mein Prinz. Doch ich frage mich… hätte ich mich ihm in den Weg stellen müssen? Irgendetwas sagen, irgendetwas tun?« Uther seufzte und schüttelte den Kopf. »Vielleicht. Vielleicht nicht. Doch dieser Moment liegt in der Vergangenheit und ich kann es nicht mehr ändern. Ihr und ich müssen jetzt in die Zukunft blicken. Jaina Prachtmeer, Ihr hattet nichts mit diesem… Abschlachten zu tun. Danke dafür, dass Ihr mir verraten habt, wo er hingezogen ist.«

Sie senkte den Kopf. »Ich fühle mich, als hätte ich ihn wieder verraten.«

»Jaina, Ihr habt ihn vielleicht gerettet – und all die Männer, die mit ihm gehen und gar nicht wissen, was aus ihm geworden ist.«

Erschreckt durch die Wahl der Worte blickte sie ihn scharf an. »Was aus ihm geworden ist? Er ist immer noch Arthas, Uther!«

Uther blickte gehetzt. »Aye, das ist er. Doch er hat eine schreckliche Entscheidung getroffen. Eine mit Auswirkungen, die wir jetzt noch nicht absehen können. Ich weiß nicht, wie er von diesem Weg wieder zurückkehren will.« Uther wandte sich ab und betrachtete die Toten. »Wir wissen, dass man die Toten erwecken kann. Dass Dämonen wirklich existieren. Jetzt frage ich mich, ob es auch Geister gibt. Wenn das so ist, steckt unser Prinz bis zum Hals in dieser Sache drin.« Er verneigte sich vor ihr. »Kommt weg von hier, Milady.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht. Ich bin noch nicht bereit.«

Er suchte ihren Blick, dann nickte er. »Wie Ihr wünscht. Das Licht sei mit Euch, Lady Jaina Prachtmeer.«

»Und mit Euch, Uther Lichtbringer.« Sie schenkte ihm ihr schönstes Lächeln. Arthas würde es ohne Zweifel als einen weiteren Verrat betrachten, doch vielleicht rettete sie sein Leben. Damit konnte sie leben.

Der Geruch wurde allmählich schlimmer, als selbst ihr sturer Wille ertragen konnte. Sie blickte sich ein letztes Mal um. Ein Teil von ihr fragte sich, warum sie hierhergekommen war, der andere Teil wusste es. Sie war hier, damit sich diese Bilder in ihr Gedächtnis einbrannten und um zu verstehen, was geschehen war. Sie durfte es niemals vergessen. Sie wusste nicht, ob Arthas noch aufgehalten werden konnte. Doch was geschehen war, durfte niemals nur zu einer Fußnote im Geschichtsbuch verkommen.

Ein Rabe landete neben ihr. Sie wollte weitereilen und ihn fortscheuchen, um die armen, erschlagenen Leichen zu schützen, doch der Vogel tat nur das, was die Natur für ihn vorgesehen hatte. Er hatte kein Gewissen, das ihm sagte, dass die Menschen sein Tun als Beleidigung empfanden. Sie blickte den Raben einen Moment lang an und dann weiteten sich ihre Augen.

Er begann sich zu verändern, zu wachsen, und binnen einer Sekunde stand dort, wo eben noch ein Aasfresser gesessen hatte, ein Mann. Sie keuchte, als sie ihn erkannte – es war der Prophet, den sie schon zweimal gesehen hatte.

»Ihr!«

Er neigte den Kopf und schenkte ihr ein merkwürdiges Lächeln, das ihr ohne Worte verriet: Ich erkenne dich auch. Es war das dritte Mal, dass sie ihn sah – das erste Mal war gewesen, als er mit Antonidas gesprochen hatte, und dann wieder mit Arthas. Sie war bei beiden Gelegenheiten unsichtbar gewesen – doch offensichtlich hatte ihr Zauber ihn nicht einen Moment lang irritiert, beide Male nicht.

»Die Toten in diesem Land mögen noch bis ans Ende der Zeit herumliegen, aber lasst Euch nicht narren. Euer Prinz wird im kalten Norden den Tod finden.«

Seine unverblümten Worte ließen sie zurückweichen. »Arthas tut, was er für das Richtige hält.« Die Worte stimmten und sie wusste es. Welche Vergehen er auch begangen hatte, er war doch davon überzeugt gewesen, dass Stratholme zu vernichten, der einzig richtige Weg gewesen war.

Der Blick des Propheten wurde sanfter. »So lobenswert das sein mag«, sagte er, »wird seine Hingabe auch sein Ende sein. Es liegt nun an Euch, junge Zauberin.«

»Was? An mir?«

»Antonidas hat mich nicht angehört. Terenas und Arthas ebenfalls nicht. Beide Herrscher der Menschen und der Meister der Magie haben sich dem Begreifen verweigert. Doch ich glaube, dass Ihr das vielleicht nicht tut.«

Die Aura der Macht, die ihn umgab, war beinahe greifbar. Jaina konnte sie fast sehen, ungestüm und stark. Er trat näher an sie heran und legte eine Hand auf ihre Schulter. Sie blickte auf, schaute in seine Augen und war verwirrt.

»Ihr müsst Eure Leute nach Westen in das alte Land Kalimdor führen. Nur dort könnt Ihr den Schatten bekämpfen und die Welt vor den Flammen schützen.«

Als sie in diese Augen blickte, wusste Jaina, dass er recht hatte. Er beherrschte sie nicht, nichts Bezwingendes lag in diesem Blick – nur ein tiefes und überzeugtes Wissen.

»Ich…« Sie schluckte schwer und warf einen letzten Blick auf die Schrecken, die der Mann, den sie geliebt hatte und den sie immer noch liebte, verbreitet hatte, und nickte.

»Ich werde tun, was Ihr sagt.«

Ich überlasse meinen Arthas dem Schicksal, das er selbst gewählt hat. Es gibt keinen anderen Weg.

»Es wird seine Zeit dauern, sie alle zu versammeln. Bis sie mir glauben werden.«

»Ich weiß nicht, ob Ihr noch so viel Zeit habt. So viel wurde bereits vergeudet.«

Jaina hob ihr Kinn. »Ich kann nicht gehen, ohne es nicht wenigstens versucht zu haben. Wenn Ihr mich so gut kennen wollt, dann müsst Ihr auch das wissen.«

Der Rabenprophet schien sich zu entspannen, lächelte sie an und drückte ihre Schulter. »Tut, was Ihr glaubt, tun zu müssen. Aber trödelt nicht zu lange. Das Stundenglas leert sich schnell und jede Verzögerung könnte tödlich sein.«

Sie nickte, zu überwältigt, um zu sprechen. Sie musste noch mit so vielen reden – darunter Antonidas. Wenn er jemandem zuhören würde, überlegte sie, dann war sie es. Sie würde für diese Toten Partei ergreifen – sich dafür aussprechen, sich nicht nach Kalimdor zurückzuziehen, solange es hier noch lebende Menschen gab.

Die Gestalt des Propheten verwandelte sich. Er wurde wieder der große schwarze Vogel und flog mit rauschenden Flügeln davon. Die dadurch aufgewirbelte Luft stank nicht nach Verwesung, Rauch oder Tod. Sie duftete frisch und sauber… nach einem Hauch von Hoffnung.

14

Nordend hieß das Land, Dolchbucht der Ort, wo die Flotte aus Lordaeron anlegte. Das Wasser, tief und kabbelig, war von kaltem Blau-grau, der Wind wehte gnadenlos. Widerspenstige Nadelbäume überzogen die schroffen Klippen und bildeten eine natürliche Barriere, hinter der Arthas und seine Männer kampieren konnten. Ein Wasserfall stürzte die Felsen hinab, fiel in einem Schwall aus Spritzern aus großer Höhe. Dennoch war es ein angenehmerer Ort, als Arthas erwartet hatte. Zumindest für den Moment reichte er aus. Doch die Heimat eines Dämonenlords hatte er sich anders vorgestellt.

Arthas sprang aus dem Boot und landete am Strand, er blickte sich um und nahm alles auf. Der Wind, der wie ein verlorenes Kind heulte, verwirbelte sein blondes Haar und strich mit seinen kalten Fingern hindurch. Neben ihm fröstelte einer der Schiffskapitäne, die er ohne das Einverständnis seines Vaters unter seinen Befehl gestellt hatte, und schlang die Hände um sich.

»Dies ist ein vom Licht verlassenes Land, nicht wahr? Man kann kaum die Sonne sehen! Der heulende Wind dringt bis auf die Knochen… und Ihr zittert nicht mal.«

Kaum überrascht, erkannte Arthas, dass der Mann recht hatte. Er spürte die Kälte – spürte, wie sie ihn durchdrang –, aber er zitterte nicht.

»Milord, ist alles in Ordnung?«

»Hat man sich um all meine Streitkräfte gekümmert?« Arthas ignorierte die Frage des Mannes. Sie war töricht. Natürlich war bei ihm nicht alles in Ordnung. Er war gezwungen gewesen, eine ganze Stadt abzuschlachten, um Schlimmeres zu verhindern. Jaina und Uther hatten sich beide von ihm abgewandt. Und ein Dämonenlord erwartete seine Ankunft.

»Beinahe. Es sind nur noch ein paar Schiffe übrig, die…« »Sehr gut. Unsere erste Aufgabe besteht darin, ein Basislager und Verteidigungsstellungen zu errichten. Wir wissen nicht, was uns da draußen in den Schatten erwartet.« Das würde die Männer zum Schweigen bringen und ihnen etwas zu tun geben. Arthas selbst half dabei, arbeitete so hart wie die Männer, die er befehligte. Er vermisste Jainas Gewandtheit im Umgang mit Feuer, als sie die Fackeln gegen die einbrechende Dunkelheit und Kälte entzündeten. Zum Teufel, er vermisste Jaina. Aber er würde lernen, es nicht mehr zu tun. Sie hatte sich ihm verweigert, als er sie am nötigsten gebraucht hätte, und er würde solche Menschen nicht mehr länger in seinem Herzen behalten. Er musste stark sein, nicht weich, entschlossen, nicht trauernd. Es gab keinen Platz für Schwäche, wenn er Mal’Ganis besiegen wollte. Es war kein Platz für Wärme in seinem Herzen.

Die Nacht verging ohne Vorfälle. Arthas blieb wach in seinem Zelt, bis der Morgen kam, und prüfte die unvollständigen Karten, die er hatte auftreiben können. Als er schließlich einschlief, träumte er. Der Traum war gleichzeitig schön und albtraumhaft. Arthas war wieder jung und es gab noch alles, auf das er sich freuen konnte. Er ritt auf dem herrlichen Pferd, das er so liebte. Sie waren wieder eins, das perfekte Paar, und nichts konnte sie aufhalten. Doch selbst als er träumte, spürte Arthas, wie sich der Schrecken über ihn senkte, als er Invincible dazu drängte, den fatalen Sprang zu machen. Die Angst war kein bisschen kleiner, nur weil es ein Traum war. Dabei war es ihm die ganze Zeit bewusst. Wieder zog er das Schwert und stach seinem ergebenen Freund durchs Herz.

Doch dieses Mal, so erkannte er, trug er ein völlig anderes Schwert als die einfache Waffe bei sich, die er damals in diesem schrecklichen Moment benutzt hatte. Dieses Mal war das Schwert groß, ein Zweihänder, wunderschön gearbeitet. Runen leuchteten darauf. Kalter blauer Nebel stieg davon auf, frostig wie der Schnee, auf dem Invincible lag. Doch als er das Schwert zurückzog, sah Arthas nicht das getötete Tier. Stattdessen wieherte Invincible und sprang auf die Beine. Er war völlig geheilt und irgendwie stärker als zuvor. Er schien nun zu leuchten, sein Fell strahlte weiß und Arthas schreckte aus dem Schlaf auf. Er lag über den Karten, dort, wo er eingeschlafen war, mit Tränen in den Augen und einem Schluchzer der Freude auf den Lippen.

Sicherlich war das ein Omen.

Der Morgen dämmerte kalt und grau, und er war vor dem ersten Licht auf den Beinen, bereit, das Land nach Spuren des Schreckenslords zu durchsuchen. Mal’Ganis war hier, Arthas wusste es.

Doch an diesem ersten Tag fanden sie nicht mehr als ein paar Ansammlungen von Untoten. Während die Tage vergingen und immer mehr Gebiet kartografiert wurde, begann Arthas’ Mut zu sinken.

Er erkannte, dass Nordend ein großer Kontinent war, kaum erforscht. Mal’Ganis war gewiss ein Schreckenslord und die Zusammenrottungen der Untoten, die sie bislang entdeckt hatten, waren ein klarer Indikator für seine Anwesenheit. Aber nicht der Einzige. Er konnte überall sein – oder nirgendwo. Diese ganze Enthüllung, dass er nach Nordend reisen musste, konnte ein ausgeklügelter Trick sein, um Arthas aus dem Weg zu räumen, damit der Dämonenlord irgendwo ganz anders hingehen konnte und…

Nein. Der Schreckenslord war arrogant und davon überzeugt, dass er den Prinzen schließlich schlagen würde. Arthas nahm an, dass er hier war. Er musste es sein. Natürlich konnte das auch bedeuten, dass Jaina recht gehabt hatte. Dass Mal’Ganis tatsächlich hier war und eine Falle für ihn vorbereitete. Keiner dieser Gedanken war angenehm. Und je mehr Arthas darüber nachdachte, desto aufgewühlter wurde er.

Es war schon gut in der zweiten Woche, als Arthas etwas fand, was ihm Hoffnung gab. Sie hatten in verschiedenen Richtungen gesucht, nachdem die ersten Kundschafter Scharen von Untoten erspäht hatten.

Sie fanden die Untoten – in Einzelteilen, auf dem gefrorenen Boden verteilt. Bevor Arthas auch nur einen Gedanken fassen konnte, gerieten seine Männer unter Feuer.

»In Deckung!« rief Arthas und sie warfen sich hinter was sie gerade finden konnten – Bäume, Felsen, selbst Schneeverwehungen. So schnell er begonnen hatte, so schnell endete der Angriff auch, und jemand rief etwas.

»Zum Teufel noch mal! Ihr seid keine Untoten! Ihr lebt ja alle!«

Es war eine Stimme, die Arthas vertraut war und die er niemals in diesem verlassenen Land erwartet hätte. Er kannte nur eine Person, die so enthusiastisch fluchen konnte, und einen Augenblick lang vergaß er, warum er hier war, wonach er suchte, und spürte nur Freude und schöne Erinnerungen an eine lange vergangene Zeit.

»Muradin?«, rief Arthas vor Schreck und Freude. »Muradin Bronzebart, seid Ihr es?«

Der stämmige Zwerg trat hinter einer Reihe Waffen hervor und blickte sich vorsichtig um. Der finstere Blick auf seinem Gesicht wurde durch ein breites Grinsen ersetzt. »Arthas, Junge! Ich hätte nie geglaubt, dass Ihr zu unserer Rettung kommen würdet.«

Der Zwerg trat vor, sein buschiger Bart war noch dichter geworden, als Arthas sich aus seiner Jugendzeit erinnerte – wenn das überhaupt möglich war. Seine Augen waren runzliger, aber sie blitzten jetzt vor Vergnügen. Er breitete die Arme aus, ging auf Arthas zu und umarmte den Prinzen. Arthas lachte – beim Licht, es war so lange her, dass er das letzte Mal gelacht hatte – und drückte seinen alten Freund und Lehrer. Erst als sie sich voneinander lösten, erfasste Arthas die Bedeutung von Muradins Worten.

»Rettung? Muradin, ich wusste nicht mal, dass Ihr hier seid. Ich bin hier, um…« Er schloss den Mund und verschluckte die Worte. Er wusste nicht, wie Muradin reagieren würde, und deshalb lächelte er den Zwerg einfach an. »Das kann alles warten«, sagte er stattdessen. »Kommt, mein alter Freund. Wir haben ein Basislager, nicht weit von hier entfernt. Sieht so aus, als könntet Ihr und Eure Männer eine warme Mahlzeit vertragen.«

»Wenn Ihr auch Bier habt, dann sage ich gerne ja«, lächelte Muradin.

Es herrschte eine feierliche Stimmung, als Arthas, Muradin, sein Stellvertreter Baelgun und die anderen Zwerge in das Camp einmarschierten, das kaum Platz in der niemals endenden Kälte des Ortes beanspruchte. Arthas wusste, dass die Zwerge an ein solch kaltes Klima gewöhnt und ein kräftiges, starkes Volk waren. Doch ihm fielen die dankbaren und erleichterten Blicke auf, die über die bärtigen Gesichter huschten, als man ihnen Schüsseln mit dampfendem, heißem Eintopf gab. Es war sehr schwer, doch Arthas hielt sich mit Fragen zurück, die er die ganze Zeit stellen wollte, bis Muradin und seine Männer versorgt waren. Dann winkte er Muradin zu sich heran, um mit ihm ein Stück vom Zentrum des Lagers wegzugehen, wo sein eigenes Zelt aufgebaut war.

»So«, sagte er, als sein ehemaliger Lehrer das heiße Essen mit der Regelmäßigkeit einer dieser scheinbar unzerstörbaren gnomischen Maschinen in sich hineinschaufelte. »Und nun sagt: Was macht Ihr hier oben eigentlich?«

Muradin schluckte das Essen hinunter und spülte mit einem Schluck Bier nach. »Nun, Junge, das ist nicht unbedingt etwas, was wir jedem erzählen.«

Arthas nickte verstehend. Nur ein paar Mitglieder der Flotte, die er befehligte, kannten die ganze Geschichte, warum sie in Nordend waren. »Ich begrüße Euer Vertrauen in mich, Muradin.«

Der Zwerg schlug ihm auf die Schulter. »Ihr seid erwachsen geworden, Junge. Wenn Ihr den Weg in dieses verdammte Land gefunden habt, habt Ihr auch das Recht, zu erfahren, was ich und meine Männer hier machen. Ich suche nach einer Legende.« Seine Augen glitzerten, als er etwas Bier trank, sich den Mund abwischte und fortfuhr: »Meine Leute waren schon immer an seltenen Gegenständen interessiert, das wisst Ihr ja.«

»Allerdings.« Arthas erinnerte sich daran, etwas gehört zu haben, dass Muradin bei der Gründung einer Gesellschaft geholfen hatte, die sich Forscherliga nannte. Ihre Basis lag in Eisenschmiede und die Mitglieder reisten um die Welt, um Wissen und archäologische Schätze zu sammeln. »Also wart Ihr wegen der Liga hier?«

»Aye, genau. Ich bin schon viele Male hier gewesen. Merkwürdiges, fesselndes Land. Gibt seine Geheimnisse nicht leicht preis… und das macht es so spannend.« Er beendete seine Mahlzeit und holte ein ledergebundenes Tagebuch hervor, das schon bessere Zeiten erlebt hatte. Mit einem Grunzen gab er es Arthas. Der Prinz nahm es und begann, mit dem Daumen durch die Seiten zu blättern. Es enthielt Zeichnungen von Tieren, Landschaftsmerkmalen und Ruinen, Hunderte davon. »Hier gibt es mehr, als man auf den ersten Blick vermuten könnte.«

Arthas schaute auf die Bilder und war gezwungen zuzustimmen. »Die meiste Zeit ist es nur Forschung«, fuhr Muradin fort. »Lernen.«

Arthas schloss das Buch und gab es Muradin zurück. »Als Ihr von uns überrascht wurdet, also herausgefunden habt, dass wir keine Untoten sind, wie lange wart Ihr da schon hier – und was habt ihr herausgefunden?«

Muradin kratzte den letzten Rest Eintopf aus der Schüssel, wischte sie mit einem Kanten Brot sauber und aß auch den auf. Er seufzte ein wenig. »Ah, ich vermisse die Kekse von Eurem Palastbäcker.« Er fingerte nach seiner Pfeife. »Und um auf Eure Frage zu antworten, lange genug, um zu wissen, dass hier etwas nicht stimmt. Da wächst… eine Kraft. Sie ist böse und sie wird immer böser. Ich habe mit Eurem Vater darüber gesprochen. Ich glaube, dass diese Kraft nicht lange nur in Nordend bleiben wird.«

Auf einmal kämpfte Arthas gegen Besorgnis und Aufregung an und versuchte, gefasst zu wirken. »Glaubt Ihr, sie könnte eine Gefahr für meine Leute sein?«

Muradin lehnte sich zurück und entzündete die Pfeife. Der Geruch seines Lieblingstabaks, seine Vertrautheit, war tröstend in diesem fremden Land und reizte Arthas’ Nase. »Aye, das glaube ich. Ich denke, es hat mit der Erschaffung dieser lästigen Untoten zu tun.«

Arthas beschloss, dass es an der Zeit war, sein Wissen zu teilen. Er redete schnell, aber ruhig, erzählte Muradin von dem verseuchten Korn. Er berichtete von Kel’Thuzad und dem Kult der Verdammten und seiner eigenen ersten schrecklichen Begegnung mit den veränderten Bauern. Er erzählte darüber, wie er von Mal’Ganis erfahren hatte, einem waschechten Schreckenslord, der hinter der Seuche steckte, und unterrichtete Muradin von dessen spöttischer Einladung hierher nach Nordend.

Er erwähnte Stratholme nur indirekt. »Die Seuche war selbst bis dorthin vorgedrungen«, sagte er. »Ich habe sichergestellt, dass Mal’Ganis keine weiteren Leichen mehr bekommen hat für seine kranken Zwecke.« Das war genug. Es war alles wahr, doch er war sich nicht sicher, ob Muradin die schreckliche Notwendigkeit verstehen würde. Jaina und Uther hatten es nicht, dabei hatten sie immerhin mit angesehen, wogegen Arthas antrat.

Muradin grunzte. »Üble Sache das. Vielleicht kann ja das Artefakt, nach dem ich suche, von Nutzen im Kampf gegen den Schreckenslord sein. Selbst unter den magischen Gegenständen nimmt es eine besondere Stellung ein. Die Informationen darüber sind erst vor Kurzem aufgetaucht, doch seitdem wir davon erfahren haben – nun, wir haben lange und hart danach gesucht. Haben ein paar besondere magische Gegenstände eingesetzt, um es aufzuspüren, aber bislang hatten wir noch kein Glück.« Er löste seinen Blick von Arthas und sah an dem Prinzen vorbei in die Wildnis. Einen Augenblick lang wurde das Leuchten in den Augen schwächer, wurde von einer Düsterkeit ersetzt, die dem jüngeren Arthas nie aufgefallen war.

Arthas wartete, brannte vor Neugierde, wollte aber nicht wie das ungeduldige Kind wirken, an das sich Muradin zweifelsfrei noch erinnern konnte.

Muradin konzentrierte sich erneut und musterte Arthas intensiv. »Wir suchen nach einer Runenklinge namens Frostgram.«

Frostgram. Arthas spürte einen leichten Schauder. Ein merkwürdiger Name für eine legendäre Waffe. Runenklingen waren nicht unbekannt, doch sie waren extrem seltene und schreckliche Waffen. Er blickte zu dem Hammer hinüber, der gegen den Baum lehnte, wo er ihn nach der Entdeckung von Muradin hingestellt hatte. Es war eine schöne Waffe und er hatte sie in Ehren gehalten. Obwohl das Licht in letzter Zeit manchmal schwächer zu leuchten schien.

Doch eine Runenklinge…

Eine plötzliche Gewissheit durchdrang ihn, als hätte das Schicksal in sein Ohr geflüstert. Nordend war groß. Sicherlich war es kein Zufall, dass er Muradin getroffen hatte. Wenn er Frostgram besaß – konnte er damit Mal’Ganis gewiss schlagen. Die Seuche beenden. Sein Volk retten. Der Zwerg und er waren aus einem Grund zusammen. Die Vorhersehung war am Werk.

Muradin redete und Arthas richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf ihn. »Wir sind hierhergekommen, um Frostgram zu finden, doch je näher wir ihm kamen, auf desto mehr Untote sind wir gestoßen. Ich bin zu alt, um das für einen Zufall zu halten.«

Arthas lächelte sanft. Also glaubte auch Muradin nicht an einen Zufall. Die Zuversicht in ihm wuchs. »Ihr glaubt, dass Mal’Ganis uns daran hindern will, es zu finden«, murmelte Arthas.

»Ich glaube, dass er nicht besonders glücklich wäre, wenn Ihr mit so einer Waffe auf ihn einschlagt, das stimmt.«

»Es klingt, als könnten wir einander helfen«, sagte Arthas. »Wir helfen Euch und der Liga, Frostgram zu finden, und Ihr helft uns gegen Mal’Ganis.«

»Ein guter Plan«, stimmte Muradin ihm zu. Der Rauch stieg von ihm in blauschwarzen Wolken auf. »Arthas, mein Junge… habt Ihr vielleicht noch ein wenig von dem Bier?«


Die Tage vergingen. Muradin und Arthas verglichen ihre Aufzeichnungen. Sie hatten jetzt zwei Aufträge – Mal’Ganis und das Runenschwert. Schließlich beschlossen sie, dass es das Beste wäre, sich nach innen vorzuarbeiten und die Flotte nordwärts zu schicken, um dort ein neues Lager zu errichten. Sie mussten nicht nur gegen die Untoten kämpfen, sondern auch gegen ausgehungerte, bösartige Wolfsrudel, merkwürdige Wesen, die halb Marder und halb Mensch waren, und eine Trollrasse, die hier im kalten Norden beheimatet schien, so wie ihre Vetter in den dampfenden Dschungeln des Schlingendorntals.

Muradin war nicht so überrascht wie der Menschenprinz, solche Wesen hier zu finden. Offensichtlich lebten kleine Gruppen dieser »Eistrolle«, wie sie genannt wurden, nahe der Zwergenhauptstadt Eisenschmiede.

Arthas erfuhr von Muradin, dass die Untoten hier eine Basis hatten. Merkwürdige, pyramidenähnliche Gebäude pulsierten vor dunkler Magie, die zu einer älteren Rasse gehörte, welche vermutlich ausgestorben war. Denn die ehemaligen Bewohner schienen keinerlei Widerstand geleistet zu haben. Also musste man nicht nur die wandelnden Toten selbst vernichten, sondern auch deren Zufluchten.

Dennoch schien Arthas seinem Ziel nicht näher zu kommen. Es gab zwar ausreichend Spuren von Mal’Ganis’ Schergen, aber keine von dem Schreckenslord selbst.

Muradins Suche nach Frostgram war auch nicht erfolgreicher. Die Hinweise, selbst die aus magischer Quelle, engten das Suchgebiet zwar ein, aber bislang blieb die Runenklinge nur eine Legende.

An dem Tag, an dem sich die Dinge änderten, hatte Arthas schlechte Laune. Er kam aus dem provisorischen Reiselager, hungrig, müde, und ihm war kalt. Wieder war ein Streifzug erfolglos gewesen. Er war derart wütend, dass es mehrere Sekunden dauerte, bis er verstand, was geschah.

Die Wachen standen nicht auf ihren Posten. »Was zum…« Er richtete den Blick auf Muradin, der augenblicklich zu seiner Axt griff.

Es lagen keine Leichen herum. Wenn die Untoten in ihrer Abwesenheit angegriffen hätten, wären die Leichen wiederauferstanden als die grausamste Methode einer Rekrutierung, die die Welt kannte. Doch es hätte Blut zu sehen sein müssen, hätte Spuren eines Kampfes geben müssen… doch da war nichts.

Vorsichtig bewegten sie sich vorwärts. Das Lager war verlassen – abbruchbereit, bis auf eine Handvoll Männer. Sie blickten auf, als Arthas ankam, und grüßten ihn. Als Antwort auf seine ungestellte Frage sagte ein Hauptmann namens Luc Valonfort: »Euer Vater, Milord, hat unsere Truppen auf Lord Uthers Anweisung zurückgerufen. Die Expedition ist abgesagt.«

Ein Muskel zuckte unter Arthas’ linkem Auge. »Mein Vater – hat meine Truppen zurückgerufen? Weil Uther es ihm nahelegte?«

Der Hauptmann wirkte nervös und blickte zu Muradin, dann antwortete er: »Aye, Sire. Wir wollten auf Euch warten, doch der Bote bestand auf sofortigen Vollzug. Alle Männer sind nach Nordwesten gezogen, um sich dort mit der Flotte zu treffen. Unser Kundschafter hat uns darüber informiert, dass die Straßen von den Untoten gehalten werden, deshalb bahnen sie sich einen Weg durch die Wälder. Ich bin mir sicher, Ihr werdet sie schnell einholen, Sire.«

»Natürlich«, sagte Arthas und zwang sich zu lächeln. Innerlich kochte er jedoch vor Wut. »Entschuldigt mich einen Moment.« Er legte eine Hand auf Muradins Schulter und lenkte den Zwerg etwas abseits, wo sie in Ruhe sprechen konnten.

»Ähm, es tut mir leid. Es ist frustrierend, dass wir einpacken müssen…«

»Nein.«

Muradin blinzelte. »Wie bitte?«

»Ich gehe nicht zurück. Muradin. Wenn meine Krieger mich verlassen, werde ich Mal’Ganis nie besiegen! Diese Seuche wird niemals aufhören!« Obwohl er sich bemühte, erhob sich seine Stimme bei dem letzten Wort und ein paar neugierige Blicke wurden in ihre Richtung geworfen.

»Junge, es ist Euer Vater. Der König. Ihr könnt seinen Befehl nicht widerrufen. Das wäre Hochverrat.«

Arthas schnaubte. Vielleicht wird mein Vater ja zum Verräter an seinem eigenen Volk, dachte er, sagte es aber nicht.

»Ich habe Uther seines Ranges enthoben. Ich habe den Orden aufgelöst. Er hat kein Recht, das zu tun. Vater wurde betrogen.«

»Nun, dann müsst Ihr das klären, wenn Ihr wieder zurück seid. Erklärt es ihm, wenn alles so ist, wie Ihr sagt. Aber Ihr könnt den Befehl nicht verweigern.«

Arthas warf seinem Gegenüber einen harschen Blick zu. Wenn alles so ist, wie ich es sage? Unterstellte ihm der verdammte Zwerg, dass er log?

»Mit einer Sache habt Ihr recht«, sagte er. »Meine Männer folgen treu der Befehlskette. Sie würden sich niemals weigern, abzurücken, wenn sie einen direkten Befehl hätten.« Er rieb sich gedankenvoll das Kinn und lächelte, als die Idee Gestalt annahm. »Das ist es! Wir nehmen ihnen einfach die Möglichkeit, nach Hause zu fahren. Dann verweigern sie den Befehl nicht – sie können ihn einfach nicht befolgen.«

Muradins buschige Augenbrauen zogen sich runzelnd zusammen. »Wie meint Ihr das?«

Als Antwort warf ihm Arthas ein wölfisches Lächeln zu und verriet ihm den Plan.

Muradin schien schockiert. »Ist das nicht ein bisschen viel, Junge?« Sein Tonfall verriet, dass er das tatsächlich glaubte.

Arthas ignorierte ihn. Muradin hatte nicht gesehen, was er gesehen hatte. Und war nicht gezwungen gewesen zu tun, was er getan hatte. Er würde es verstehen, noch früh genug. Wenn sie schließlich Mal’Ganis gegenübertraten.

Arthas wusste, dass er den Schreckenslord besiegen würde. Er musste es einfach. Er würde die Seuche beenden, die Bedrohung für sein Volk. Denn die Zerstörung der Schiffe wäre nicht mehr als eine Unannehmlichkeit – ein vergleichsweise geringer Preis, wenn man ihn mit dem Überleben der Bürger von Lordaeron verglich.

»Ich weiß, es klingt dramatisch, doch es muss so sein. Es muss.«


Ein paar Stunden später stand Arthas am Vergessenen Strand und beobachtete, wie die gesamte Flotte ein Raub der Flammen wurde.

Die Lösung hatte auf der Hand gelegen: Die Männer konnten nicht die Schiffe nach Hause nehmen – konnten ihn nicht verlassen –, wenn es keine Schiffe gab. Und deshalb hatte Arthas sie alle in Brand gesetzt.

Er hatte sich durch die Wälder geschlagen, zunächst Söldner angeheuert, die ihm im Kampf gegen die Untoten geholfen hatten, um dann die hölzernen Schiffe reichlich mit Öl zu übergießen und zu entzünden. In diesem Land der permanenten Kälte und des schwachen Lichts war die Hitze, die von den feurigen Schiffen kam, auf bestürzende Weise willkommen gewesen. Arthas hob die Hand, um seine Augen vor der Helligkeit zu schützen.

Neben ihm seufzte Muradin und schüttelte den Kopf. Er und die anderen Zwerge murrten unter ihren Bärten. Sie waren sich immer noch nicht sicher, ob das der richtige Weg war. Arthas verschränkte die Arme, sein Rücken war eiskalt, sein Gesicht dagegen war beinahe von der Hitze angesengt. Feierlich betrachtete er die brennenden Überreste der Schiffe, die laut knackend auseinanderbrachen.

»Verdammt sei Uther, weil er mich dazu gezwungen hat«, murmelte er.

Er würde es den Paladinen beweisen – den ehemaligen Paladinen. Er würde es Uther, Jaina und seinem Vater beweisen. Er hatte seine Pflichten nicht verletzt, egal, wie schrecklich und brutal sein Vorgehen auch gewesen war. Er würde triumphierend zurückkehren, nachdem er getan hatte, was getan werden musste – Dinge, vor denen die Weichherzigen zurückgeschreckt waren. Seinetwegen, wegen seines unbeugsamen Willens, die Last der Verantwortung zu schultern, würde sein Volk überleben.

Die Flammen, die an dem öldurchtränkten Holz leckten, knisterten so laut, dass man einen Moment lang die verzweifelten Schreie der Männer nicht hören konnte.

»Prinz Arthas! Unsere Schiffe!«

»Was ist geschehen? Wie kommen wir jetzt nach Hause?«

Die Idee war bereits seit mehreren Stunden in seinem Hinterkopf gereift. Arthas wusste, wie entgeistert seine Männer sein würden, wenn sie feststellten, dass sie hier gestrandet waren. Sie waren bereit gewesen, ihm zu folgen. Doch Muradin hatte recht. Sie hätten die Befehle seines Vaters auf jeden Fall als vorrangiger erachtet. Und Mal’Ganis hätte gewonnen. Nein, sie würden nicht verstehen, wie wichtig es war, diese Bedrohung hier aufzuhalten, sofort… Sein Blick fiel auf die Söldner, die er angeheuert hatte. Niemand würde sie vermissen.

Sie konnten gekauft und verkauft werden. Wenn jemand sie bezahlt hätte, um ihn zu töten, hätten sie das genauso bereitwillig getan, wie ihm zu helfen. So viele waren gestorben – gute Menschen, noble Menschen, Unschuldige. Ihre sinnlosen Tode schrien danach, gerächt zu werden. Und wenn Arthas’ Männer nicht mit ganzem Herzen bei ihm waren, würde es keinen Sieg geben.

Arthas konnte nicht länger warten. »Schnell, meine Krieger!«, rief er und hob den Hammer. Er war nicht vom Licht durchdrungen, doch das erwartete Arthas auch immer weniger. Er wies auf die Söldner, die erst jetzt die kleinen Boote voller Vorräte bargen, die von den brennenden Schiffen weg an Land getrieben waren. »Diese mörderischen Kreaturen haben unsere Schiffe verbrannt und euch den Weg nach Hause verwehrt! Tötet sie im Namen Lordaerons!« Und er zog mit ihnen in den Kampf.

15

Arthas erkannte den Klang von Muradins kurzen, schweren Schritten, noch bevor der Zwerg die Zeltplane zurückschlug. Sie schauten sich kurz an, dann wies Muradin nach draußen und ließ die Plane los. Einen Moment lang fühlte sich Arthas zurückversetzt in die Zeit, als er ein Kind gewesen war und versehentlich ein Übungsschwert durch den Raum geflogen war. Er runzelte die Stirn und erhob sich, folgte Muradin ein ganzes Stück weit fort von den Männern.

Der Zwerg nahm kein Blatt vor den Mund. »Ihr habt Eure Männer belogen und die Söldner verraten, die für Euch kämpften!«, zischte er und schob sein Gesicht an Arthas heran, so gut er das von seiner geringeren Höhe aus konnte. »Das ist nicht der Junge, den ich ausgebildet habe. Das ist nicht der Mann, der in den Orden der Silbernen Hand aufgenommen worden ist. Das ist nicht König Terenas’ Junge.«

»Ich bin niemandes Junge«, fauchte Arthas seinerseits und drängte Muradin von sich weg. »Ich tat, was mir notwendig erschien.«

Er erwartete halb, dass Muradin ihn schlug, doch stattdessen schien die Wut seinen alten Lehrer zu verlassen. »Was ist mit Euch geschehen, Arthas?«, fragte Muradin leise und seine Worte waren voller Schmerz und Verwirrung. »Ist Euch die Rache wirklich so wichtig?«

»Erspart mir das, Muradin«, knurrte Arthas. »Ihr wart nicht dabei und habt nicht gesehen, was Mal’Ganis meiner Heimat antat. Was er unschuldigen Männern antat, Frauen und Kindern!«

»Ich habe gehört, was Ihr getan habt«, sagte Muradin ruhig. »Einige Eurer Männer waren ein wenig übereifrig mit ihren Zungen, als das Bier sie löste. Ich weiß, was ich denke – doch ich weiß auch, wie ich Euch einzuschätzen habe. Ihr habt recht, ich war nicht dabei. Dem Licht sei Dank musste ich diese Entscheidung nicht fällen. Doch auch so… etwas geschieht. Ihr…«

Mörserfeuer und Alarmrufe unterbrachen ihn. Binnen eines Herzschlags schnappten sich Muradin und Arthas ihre Waffen und liefen zum Lager zurück, wo man gerade zur Gegenwehr ansetzte. Falric rief seinen Männern Befehle zu, während Baelgun die Zwerge organisierte. Der Schlachtenlärm kam von außerhalb des Lagers und Arthas konnte sehen, wie die Untoten vordrangen. Seine Hände umschlossen den Hammer. Dieser Angriff war koordiniert. Das war kein Zufallsgefecht.

»Der dunkle Lord sagte, dass du kommen würdest«, erklang eine Stimme, die Arthas nun vertraut war. Freude erfüllte ihn. Mal’Ganis war hier! Die Anstrengung war also nicht vergeblich gewesen. »Hier endet deine Reise, Junge. In der Falle und frierend am Ende der Welt und nur der Tod singt das Lied deines Untergangs.«

Muradin kratzte sich den Bart, seine scharfen Augen schauten sich um. Außerhalb der Lagerbegrenzung erklangen Kampfgeräusche. »Das sieht schlimm aus«, meinte er mit der für Zwerge typischen Untertreibung. »Wir sind komplett umzingelt.«

Arthas blickte ihn gequält an. »Wir hätten es schaffen können«, flüsterte er. »Mit Frostgram… hätten wir es schaffen können.«

Muradin sah zur Seite. »Daran… nun, Junge, daran hatte ich meine Zweifel. An dem Schwert. Und um ehrlich zu sein, auch an Euch.«

Es dauerte eine Sekunde, bis Arthas verstand, was Muradin gesagt hatte. »Ihr… ihr wusstet die ganze Zeit, wo man es finden kann?«

Auf Muradins Nicken hin zog er ihn am Arm. »Welche Zweifel Ihr auch hegen mögt, Muradin, Ihr könnt sie unmöglich jetzt noch haben. Nicht jetzt, da Mal’Ganis hier ist. Helft mir, Frostgram zu finden! Ihr habt es doch selbst gesagt – Ihr glaubt nicht, dass Mal’Ganis mehr Truppen hat als wir. Ohne Frostgram werden wir untergehen, Ihr wisst, dass es so ist.«

Muradin warf ihm einen gequälten Blick zu, dann schloss er die Augen. »Ich habe ein schlechtes Gefühl dabei, Junge. Das ist der Grund, warum ich vorher nicht weitermachte – es hat damit zu tun, wie die Information über dieses Artefakt in unsere Hände gelangt ist – es fühlt sich nicht richtig an. Doch ich verspreche Euch, wir werden uns darum kümmern. Ihr sammelt ein paar Männer und ich finde diese Runenklinge.«

Arthas klopfte seinem alten Freund auf die Schulter. Das war es.

Ich werde diese verdammte Runenklinge finden und ich stoße sie durch dein schwarzes Herz, Schreckenslord. Ich werde dich für alles büßen lassen.

»Schließt die Lücke da drüben!«, rief Falric. »Davan, Feuer!« Der Knall des Mörserfeuers donnerte durch das Lager, als Arthas zu seinem Stellvertreter lief.

»Hauptmann Falric!«

Falric wandte sich zu ihm um. »Sire… wir sind umzingelt. Wir können noch eine Weile aushalten, doch dann werden sie uns niedermachen. Wir verlieren Kämpfer, sie gewinnen welche.«

»Ich weiß, Hauptmann. Muradin und ich werden Frostgram suchen.«

Falrics Augen weiteten sich vor Schrecken und Hoffnung. Arthas hatte einigen seiner vertrauenswürdigsten Männer von dem Schwert – und der vermutlich darin wohnenden Kraft – berichtet. »Wenn wir es haben, ist uns der Sieg sicher. Könnt Ihr uns etwas Zeit verschaffen?«

»Aye, Euer Hoheit.« Falric lächelte, doch er wirkte immer noch besorgt, als er sagte: »Wir halten diese untoten Bastarde auf.«

Wenig später stieß Muradin, bewaffnet mit einer Karte und einem merkwürdig leuchtenden Objekt, zu Arthas und einer Handvoll Männer. Sein Mund war wie versteinert und er wirkte unglücklich. Doch sein Körper ging aufrecht.

Falric gab das Signal und begann mit dem Ablenkungsmanöver. Die meisten der Untoten wandten sich plötzlich um und konzentrierten den Angriff auf ihn. Dabei ließen sie den hinteren Bereich des Lagers unbeachtet.

»Auf geht’s« sagte Arthas grimmig.


Muradin gab brüllend die Richtung vor, während er abwechselnd auf die Karte und auf das leuchtende Objekt blickte, das erratisch zu pulsieren schien. Sie bewegten sich so schnell wie möglich durch den tiefen Schnee und blieben nur kurz stehen, um sich zu orientieren. Der Himmel verdunkelte sich, als sich die Wolken sammelten. Schnee fiel und erschwerte das Vorankommen zusätzlich.

Arthas bewegte sich mechanisch vorwärts. Der Schnee machte es unmöglich, mehr als ein paar Meter weit zu sehen. Er wusste nicht mehr, in welche Richtung sie gingen, es war ihm auch egal. Er bewegte einfach einen Fuß vor den anderen und folgte Muradins Führung. Zeit schien bedeutungslos zu werden. Vielleicht waren seit ihrem Aufbruch erst wenige Minuten vergangen, vielleicht aber auch bereits Stunden oder Tage.

Er dachte nur an Frostgram. Ihre Rettung. Arthas wusste, dass es so sein würde. Aber konnten sie das Schwert erreichen, bevor die Männer im Lager den Untoten und ihrem dämonischen Meister zum Opfer fielen? Falric hatte gesagt, dass er aushalten konnte – für eine gewisse Zeit. Wie lange noch? Zu wissen, dass Mal’Ganis hier war – bei seinem eigenen Basislager –, und nicht angreifen zu können, war…

»Dort«, sagte Muradin fast schon ehrfürchtig und wies in die Richtung. »Es ist dort drinnen.«

Arthas blieb stehen und blinzelte mit den Augen, die er zu Schlitzen gegen den treibenden Schnee verengt hatte. Die Augenwimpern waren mit Eis verkrustet.

Sie standen vor dem Eingang einer Höhle, die gleichzeitig gewöhnlich und dennoch merkwürdig im Schneegestöber des düsteren grauen Tages wirkte. Drinnen leuchtete etwas. Es war ein sanftes grünes Pulsieren, das er kaum erkennen konnte. Todmüde und halb erfroren, wie er war, packte ihn plötzlich die Erregung. Er mühte sich ab, um ein paar Worte aus dem erstarrten Mund zu pressen.

»Frostgram… und das Ende von Mal’Ganis. Das Ende der Seuche. Los!«

Ein neuer Wind schien ihn zu drängen und trug ihn vorwärts, befahl seinen Beinen zu gehorchen.

»Junge!« Muradins Stimme erklang scharf neben ihm. »Ein derart wertvoller Schatz liegt nicht einfach herum, damit ihn jemand findet. Wir müssen vorsichtig sein.«

Arthas schauderte, doch Muradin war erfahrener in diesen Dingen. Deshalb nickte er, umfasste den Hammer und ging vorsichtig weiter. Das augenblickliche Nachlassen des Windes und des Schneetreibens ermutigte ihn und sie wagten sich tiefer in das Herz der Höhle hinein. Das Leuchten, das er von draußen gesehen hatte, kam von den sanft leuchtenden türkisfarbenen Kristallen und Erzadern, die sich in den felsigen Wänden, dem Boden und der Decke befanden. Er hatte von solchen leuchtenden Edelsteinen gehört und war nun dankbar für das Licht, das sie spendeten. Seine Männer konnten sich nun ausschließlich darauf konzentrieren, die Waffen zu halten, und mussten keine Fackeln führen.

Früher hätte das Leuchten seines Hammers genug Licht gespendet. Er furchte die Stirn bei dem Gedanken, dann ließ er ihn fallen. Es war egal, wo das Licht herkam, wichtig war nur, dass es vorhanden war.

In dem Moment hörten sie die Stimmen. Muradin hatte recht gehabt – sie wurden erwartet.

Die Stimmen waren tief, sie klangen hohl und kalt. Die Worte waren düster, als sie Arthas’ Ohren erreichten. »Geht zurück, Sterbliche. Tod und Finsternis erwarten euch in dieser verlassenen Gruft. Ihr kommt nicht vorbei.«

Muradin blieb stehen. »Junge«, sagte er mit leiser Stimme, verstärkt durch ein, wie es an diesem Ort schien, endloses Echo, »vielleicht sollten wir darauf hören.«

»Worauf hören?«, brüllte Arthas. »Das ist doch nur ein erbärmliches letztes Aufbäumen, um mich von meinem Weg abzubringen, mein Volk zu retten. Dazu braucht man schon mehr als ein bisschen geheimnisvolles Gefasel.«

Er umfasste den Hammer und stürmte vor, lief um eine Ecke – und blieb abrupt stehen. Dabei versuchte er alles, was er sah, auf einmal aufzunehmen.

Sie hatten die Besitzer der eisigen Stimmen gefunden. Einen Augenblick lang erinnerten sie Arthas an Jainas folgsamen Wasserelementar, der ihr im Kampf gegen die Oger vor langer Zeit beigestanden hatte, bevor sich alles so schrecklich entwickelt hatte. Die Wesen schwebten über dem kalten Boden, der aus normalem Eis und einem unnatürlichen Element bestand. Ihre Rüstungen wirkten, als wären sie aus ihnen heraus gewachsen. Sie trugen Helme, hatten aber keine Gesichter, dazu Panzerhandschuhe, Waffen und Schilde, hatten aber keine Arme.

So beängstigend sie auch wirken mochten, Arthas schenkte den Elementargeistern kaum mehr als einen flüchtigen Blick, als er seine Augen auf das Objekt seiner Begierde richtete.

Frostgram.

Es steckte in einem schwebenden, schartigen Eisstück, die Runen, die entlang der Klinge verliefen, leuchteten in kühlem Blau. Darunter befand sich eine Art Erhebung, die auf einem großen Podest stand und mit pulvrigem Schnee bedeckt war. Ein sanftes Licht, das von oben zu kommen schien, wo die Höhle offen war, leuchtete auf die Runenklinge herab.

Das eisige Gefängnis verbarg einige Details des Schwertes und hob andere hervor. Es wurde zur selben Zeit enthüllt und verborgen und wirkte dadurch umso verlockender, wie eine neue Geliebte, die nur unvollständig durch einen hauchdünnen Vorhang zu sehen war.

Arthas kannte die Klinge – es war dasselbe Schwert, das er in seinem Traum gesehen hatte. Das Schwert, das Invincible nicht getötet, sondern ihn geheilt und gesund zurückgebracht hatte. Er hatte es damals als gutes Omen betrachtet, doch jetzt wusste er, dass es ein wahres Zeichen war.

Um dieses Schwert zu finden, war er hergekommen. Dieses Schwert würde alles ändern. Arthas starrte entzückt darauf, seine Hände schmerzten fast vor Verlangen, es zu berühren. Seine Finger wollten sich um den Griff legen, seine Arme die Waffe sanft bei dem Schlag führen, der Mal’Ganis vernichten und die Folter beenden würde, die er über das Volk von Lordaeron gebracht hatte. Derart von der Waffe angezogen, trat er vor.

Der unheimliche Elementargeist zog sein eisiges Schwert.

»Hinfort! Bevor es zu spät ist«, intonierte er.

»Du versuchst immer noch, das Schwert zu schützen, oder?«, zischte Arthas, wütend und verwirrt von der Reaktion.

»Nein.« Die Stimme des Wesens grollte ihm entgegen. »Ich versuche, dich vor ihm zu schützen.«

Eine Sekunde lang blickte Arthas überrascht. Dann schüttelte er den Kopf, seine Augen verengten sich vor Entschlossenheit. Das war nichts anderes als ein Trick. Er konnte sich niemals Frostgram verweigern – sich weigern, sein Volk zu retten. Er würde nicht wegen dieser Lüge versagen.

Er stürmte vor und seine Männer folgten ihm. Die Wesen näherten sich ihnen, griffen mit ihren unnatürlichen Waffen an, doch Arthas konzentrierte sich auf den Anführer, der Frostgram bewachte. All die aufgestaute Hoffnung, Sorge, Angst und Wut ließ er an dem merkwürdigen Wächter aus. Seine Männer taten dasselbe, griffen die anderen Elementarwächter des Schwertes an.

Sein Hammer hob und senkte sich immer wieder, zerschmetterte die eisige Rüstung, während Wutschreie aus seiner Kehle drangen. Wie konnte es dieses Ding wagen, sich zwischen ihn und Frostgram zu stellen? Wie konnte es wagen -

Mit einem letzten gequälten Laut, der wie das Röcheln aus der Kehle eines sterbenden Mannes klang, erhob der Geist seine »Arme« und verschwand.

Arthas keuchte, der Atem kam in kleinen Wolken über seine unterkühlten Lippen. Dann wandte er sich seinem hart erkämpften Lohn zu. Alle Zweifel verschwanden, als er das Schwert erneut ansah.

»Sieh, Muradin«, keuchte er und wusste, dass seine Stimme zitterte, »unsere Rettung, Frostgram.«

»Warte, Junge.« Muradins Worte waren fast schon ein Befehl und trafen Arthas, als hätte man ihn mit kaltem Wasser übergossen. Er blinzelte, erwachte aus seiner tranceähnlichen Verzückung und wandte sich dem Zwerg zu.

»Was? Warum?«, wollte er wissen.

Muradin schaute das schwebende Schwert an, seine Augen zogen sich zusammen. »Hier stimmt etwas nicht.« Er deutete mit seinen knubbeligen Fingern auf die Runenklinge. »Das war zu leicht. Und seht es Euch an. Es liegt da im Licht, das von wer weiß wo kommt, wie eine Blume, die nur darauf wartet, gepflückt zu werden.«

»Zu leicht?« Arthas warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Es hat Euch doch genug Zeit gekostet, es zu finden. Und wir mussten diese Wesen bekämpfen, um es zu erhalten.«

»Pah«, schnaubte Muradin. »Alles, was ich über Artefakte weiß, sagt mir, dass hier etwas so faul ist wie die Docks der Beutebucht.« Er seufzte, seine Augenbrauen waren immer noch zusammengezogen. »Wartet… da ist eine Inschrift auf der Empore. Mal sehen, ob ich sie entziffern kann. Sie könnte uns mehr verraten.«

Beide traten vor, Muradin, um sich hinzuknien und die Inschrift zu studieren, Arthas, um dem verlockenden Schwert näher zu sein. Arthas warf der Inschrift, die Muradin so faszinierte, nur einen neugierigen Blick zu. Sie war in keiner Sprache verfasst, die er kannte. Doch der Zwerg schien sie lesen zu können, was man daran merkte, wie seine Blicke über die Buchstaben glitten.

Arthas hob eine Hand und strich über das Eis, das ihn von Frostgram trennte. Es war glatt, tödlich kalt. Ganz eindeutig Eis, doch es war auch irgendwie ungewöhnlich. Es fühlte sich nicht wie einfaches gefrorenes Wasser an. Arthas wusste nicht, wie er es ausdrücken sollte. Etwas sehr Mächtiges, beinahe schon Überirdisches ruhte darin.

Frostgram…

»Aye, ich wusste doch, dass ich es lesen kann. Es ist in Kalimag geschrieben – der Sprache der Elementare«, fuhr Muradin fort. Er runzelte die Stirn, als er weiterlas. »Es ist… eine Warnung.«

»Warnung? Warnung wovor?« Vielleicht würde das Schwert beschädigt, wenn man das Eis zerschmetterte, überlegte Arthas. Der unnatürliche Eisblock selbst schien aus einem anderen größeren Eisstück herausgebrochen worden zu sein.

Muradin übersetzte langsam. Arthas hörte nur mit halbem Ohr zu, seine Augen ruhten auf dem Schwert.

»Wer dieses Schwert aufnimmt, wird ewige Macht erhalten. So wie das Schwert das Fleisch verletzt, muss die Macht den Geist verletzen.« Der Zwerg kam ruckartig auf die Beine, war jetzt aufgewühlter, als Arthas ihn je erlebt hatte. »Oh, ich hätte es wissen müssen. Die Klinge ist verflucht! Verschwinden wir von hier!«

Arthas’ Herz wurde von einem merkwürdigen Schauder erfasst. Verschwinden? Das Schwert in seinem gefrorenen Gefängnis zurücklassen? Unberührt, unbenutzt, obwohl sich ihm eine derartige Macht darbot? Ewige Macht, hatte die Inschrift versprochen, verbunden mit der Drohung, den Geist zu verletzen.

»Mein Geist ist bereits verletzt«, sagte Arthas. Und so war es auch. Er war von dem sinnlosen Tod seines geliebten Pferdes verletzt worden, davon, miterleben zu müssen, wie die Toten sich erhoben. Verletzt vom Verrat derjenigen, die er liebte – ja, er hatte Jaina Prachtmeer geliebt, er konnte es sich jetzt eingestehen. Jetzt, in diesem Moment, in dem seine Seele sich nackt dem Urteil des Schwertes unterwarf. Er war verletzt worden, als er gezwungen gewesen war, Hunderte Menschen abzuschlachten, verletzt worden von der Notwendigkeit, seine Männer zu belügen und all diejenigen, die ihn in Frage stellten oder ihm nicht gehorchten, zum Schweigen zu bringen. Er war von so vielem verletzt worden. Was auch immer diese Macht mit ihm anstellte, es konnte nicht schlimmer sein.

Nur so ließ sich das fürchterlich Falsche wieder in etwas Gutes verwandeln.

»Arthas, Junge«, sagte Muradin, seine raue Stimme klang flehend, »Ihr habt bereits genug gelitten, bürdet Euch nicht auch noch diesen Fluch auf.«

»Einen Fluch?« Arthas lachte bitter. »Ich würde gern jeden Fluch auf mich nehmen, um meine Heimat zu retten.«

Aus dem Augenwinkel sah er, wie Muradin erschauderte. »Arthas, Ihr wisst, dass ich ein zäher Kerl bin, der sich nichts so schnell einbildet. Doch ich sage Euch, das ist eine üble Sache, Junge. Lasst das Schwert hier, wo es vergessen ruht. Mal’Ganis ist hier, mag sein. Dann lasst ihn sich seinen dämonischen Hintern in der Wildnis abfrieren. Vergesst diese Sache und führt Eure Männer heim.«

Das Bild der Männer erfüllte plötzlich Arthas’ Innerstes. Er sah sie vor seinem geistigen Auge und neben ihnen erblickte er die Hunderte Menschen, die bereits dieser schrecklichen Seuche zum Opfer gefallen waren. Gefallen, nur um wieder aufzustehen, als stumpfe, verfaulende Fleischklumpen.

Was war mit denen? Was war mit ihren Seelen, ihren Leiden?

Ein anderes Bild erschien – ein großes Stück Eis, dasselbe Eis, das Frostgram umgab. Er sah nun, wo der Eisklumpen hergekommen war. Er war Teil von etwas Größerem, Stärkerem gewesen – und er war mit der Runenklinge darin irgendwie zu ihm geschickt worden, um die Toten zu rächen.

Eine Stimme flüsterte in seinem Geist: Die Toten verlangen Rache.

Was war eine Handvoll lebender Männer verglichen mit den Qualen derjenigen, die auf so eine schreckliche Art gefallen waren?

»Verdammt seien die Männer!«

Die Worte schienen tief aus seinem Inneren zu kommen. »Ich habe den Toten gegenüber eine Verpflichtung. Nichts soll mich von meiner Rache abhalten, alter Freund.« Jetzt löste er den Blick lange genug von dem Schwert, um Muradins besorgten Blick zu sehen, und sein Gesicht wurde ein wenig sanfter. »Nicht einmal Ihr.«

»Arthas – ich habe Euch das Kämpfen beigebracht. Ich wollte Euch helfen, ein guter Krieger zu werden und ein guter König. Doch um ein guter Krieger zu sein, muss man sich entscheiden, welche Schlachten man kämpft – und mit welcher Waffe.« Er deutete mit dem knubbeligen Finger auf Frostgram. »Und das ist eine Waffe, die Ihr nicht in Eurem Arsenal haben solltet.«

Arthas presste beide Hände gegen das Eis, in dem das Schwert steckte, und beugte sein Gesicht bis wenige Zentimeter über die glatte Oberfläche. Er hörte Muradin, als würde er aus weiter Entfernung zu ihm sprechen.

»Hört mir zu, Junge. Wir werden einen anderen Weg finden, Euer Volk zu retten. Wir sollten jetzt gehen, nach Hause zurückkehren und diesen Weg suchen.«

Muradin hatte unrecht. Er verstand es einfach nicht. Arthas musste es tun. Wenn er jetzt wegging, hatte er versagt, schon wieder, und das durfte er nicht zulassen. Man war ihm bislang stets in die Quere gekommen.

Doch nicht dieses Mal.

Er glaubte an das Licht, weil er es sehen konnte, es selbst benutzt hatte. Und er glaubte an Geister und wandelnde Untote, weil er gegen sie gekämpft hatte. Doch bis zu diesem Moment hatte er nicht an eine unsichtbare Macht geglaubt, die Orten und Dingen innewohnte. Nun raste sein Herz vor Aufregung und mit einem Verlangen, einer Sehnsucht, die von seiner Seele zu zehren schien, kamen die Worte wie von selbst über seine Lippen.

»Jetzt kann ich die Geister dieses Ortes anrufen«, sagte er, sein Atem gefror in der kalten, stillen Luft. Knapp außerhalb seiner Reichweite hing Frostgram und erwartete ihn. »Was immer du auch sein magst, gut oder böse – oder beides. Ich kann dich spüren. Ich weiß, dass du zuhörst. Ich bin bereit. Ich verstehe. Und ich sage dir jetzt: Ich werde alles geben, jeden Preis bezahlen, wenn du mir nur dabei hilfst, mein Volk zu retten.«

Einen schrecklichen Moment lang geschah nichts. Sein Atem gefror, verschwand, gefror erneut, und kalter Schweiß lief über Arthas’ Stirn. Er hatte alles geboten, was er hatte – war er abgelehnt worden? Hatte er erneut versagt?

Und dann, mit einem tiefen Ächzen, das ihm den Atem nahm, bildete sich plötzlich ein Riss über die glatte Oberfläche des Eises. Er verlief im Zickzack nach oben und wurde größer, bis Arthas kaum noch das Schwert erkennen konnte, das in seinem Kern ruhte. Dann taumelte er zurück, hielt sich gegen das laute Knacken, das die Kammer erfüllte, die Ohren zu.

Der eisige Sarg, der das Schwert umgab, zerplatzte. Eisstücke flogen durch die Kammer, fast selber schon scharf wie Schwerter. Sie prallten gegen den unnachgiebigen Boden und die Wände, und als Arthas auf die Knie fiel, bedeckten seine Arme automatisch den Kopf. Plötzlich hörte er einen erstickten Schrei.

»Muradin!«

Der Aufprall des Eissplitters hatte den Zwerg mehrere Meter zurückgeworfen. Jetzt lag er ausgestreckt auf dem kalten Steinboden, ein Eisspeer steckte in ihm, das Blut floss träge um ihn herum. Seine Augen waren geschlossen und sein Körper war schlaff.

Arthas kam auf die Beine und hastete zu seinem alten Freund und Lehrmeister und zog die Handschuhe aus. Er legte seinen Arm um den leblosen Körper, eine Hand auf die Verletzung. Er sah sich die Wunde an. Wollte, dass das Licht kam und durch seine Hände die heilende Energie schickte.

Schuld durchfuhr ihn.

Das war also der schreckliche Preis. Nicht sein eigenes Leben, sondern das seines Freundes. Jemand, der sich um ihn gesorgt, ihn ausgebildet, ihn unterstützt hatte. Er neigte den Kopf, Tränen stiegen in seine Augen, und er betete.

Es war mein Fehler. Mein Preis. Bitte…

Und dann, wie die vertraute Liebkosung einer geliebten Freundin, spürte er es. Das Licht erfüllte ihn, tröstete und wärmte ihn, und er unterdrückte ein Schluchzen, als er das Leuchten sah, das seine Hand wieder umspielte. Er war so tief gefallen, doch es war noch nicht zu spät. Das Licht hatte ihn noch nicht verlassen. Er musste es nur aufnehmen, ihm sein Herz öffnen. Muradin würde nicht sterben. Er konnte ihn heilen und zusammen würden sie…

Etwas rüttelte an ihm. Nein, nein, es war eher… in seinem Hinterkopf. Er blickte auf…

Und schaute verwundert.

Es hatte sich selbst befreit, seine weißblauen Runen umgaben es mit kaltem, herrlichem Licht. Arthas’ eigenes Licht schwand von seinen Händen, als er sich wie unter Hypnose erhob. Frostgram erwartete ihn, eine Geliebte, die seiner Berührung harrte, um zu voller Herrlichkeit zu erwachen.

Das Flüstern in seinem Hinterkopf setzte sich fort. Das war der Weg. Es war närrisch, dem Licht zu trauen. Es hatte ihn verraten, mehrfach. Es war nicht da gewesen, um Invincible zu retten, hatte nicht ausgereicht, um den erbarmungslosen Vormarsch der Seuche aufzuhalten, die die Bevölkerung seines Königreichs auslöschte. Die Macht, die Stärke von Frostgram… war das Einzige, was gegen den Schreckenslord bestehen konnte.

Muradin war ein Opfer dieses schrecklichen Krieges. Doch hoffentlich war sein Opfer das letzte. Arthas erhob sich und machte unsichere Schritte auf die leuchtende Waffe zu. Seine Hand, immer noch benetzt vom Blut seines Freundes, war ausgestreckt und zitterte. Sie schloss sich um den Schaft, seine Finger legten sich darum.

Sie passten perfekt zueinander, als wären sie füreinander geschaffen worden.

Kälte durchfuhr ihn, lief seine Arme hinauf, verteilte sich über seinen Körper und drang in sein Herz. Es tat einen Augenblick lang weh und er erschreckte sich ein wenig. Doch dann war plötzlich alles in Ordnung. Es war alles richtig, Frostgram gehörte ihm und er gehörte Frostgram. Dessen Stimme sprach zu ihm, liebkoste seinen Geist, als wäre sie immer schon dort gewesen.

Mit einem Freudenschrei hob er die Waffe. Er sah sie verwundert und mit wildem Stolz an. Er würde es richtig machen – er, Arthas Menethil, mithilfe von Frostgram, das jetzt ein ebensolcher Teil von ihm war wie sein Geist, sein Herz oder sein Atem.

Und er lauschte den Geheimnissen, die das Schwert ihm offenbarte.

16

Arthas und seine Männer eilten zurück zum Lager und stellten fest, dass die Schlacht dort immer noch tobte. Die Zahl der Männer war kleiner geworden, doch es gab keine Leichen. Er hatte auch nicht erwartet, welche vorzufinden – wer fiel, stand unter dem Kommando des Schreckenslords als Gegner wieder auf.

Falric, dessen Rüstung mit Blut verschmiert war, rief ihm zu: »Prinz Arthas! Wir haben getan, was wir konnten! – Wo ist Muradin? Wir können nicht länger standhalten!«

»Muradin ist tot«, sagte Arthas. Das kalte, aber tröstende Wesen des Schwertes schien ein wenig schwächer zu werden und der Schmerz in seinem Herzen wurde immer stärker. Muradin hatte den Preis gezahlt – doch er war es wert gewesen, wenn Mal’Ganis dadurch fiel. Der Zwerg hätte dem zugestimmt, hätte er so wie Arthas alles gewusst, alles verstanden.

Muradins Männer wirkten geschlagen, obwohl sie weiterhin Salve auf Salve in die Reihen der Untoten feuerten, die unverändert gegen sie anstürmten. »Sein Tod war nicht umsonst. Tröstet Euch, Hauptmann. Der Feind wird sich nicht lange der Stärke von Frostgram entgegenstellen können!«

Als sie ihn voller Unglauben anstarrten, stürzte sich Arthas ins Getümmel.

Er hatte bislang geglaubt, dass er mit dem gesegneten Hammer, der nun abgelegt und vergessen in der eisigen Gruft lag, wo Frostgram einst gefangen gewesen war, gut gekämpft hatte.

Doch das war nichts, verglichen mit dem Schaden, den er jetzt anrichtete.

Frostgram war mehr eine Erweiterung von ihm selbst als eine Waffe. Schnell fand er den Rhythmus und begann die Untoten niederzumähen, als wären sie Weizengarben, die unter einer Sense fielen. Gut ausgewogen lag die Waffe perfekt in seinen Händen.

Er trennte den Kopf von den Schultern eines Ghouls. Dann riss er Frostgram herum und zerschmetterte die Knochen eines Skeletts. Ein weiterer rhythmischer Schlag schickte den dritten Feind zu Boden. Die Gegner fielen in schnellem Takt und es sammelten sich immer mehr verfaulende Leichname um ihn herum an.

Als er nach dem nächsten Feind suchte, erblickte er Falric, der zu ihm herüberschaute. Ehrfurcht lag auf dem vertrauten Gesicht, doch auch Schock und… Erschrecken? Arthas gab sich dem Gemetzel hin und Frostgram sang dabei in seinen Händen.

Der Wind blies fester, der Schnee fiel dichter. Frostgram schien es nichts auszumachen, denn trotz des stärker werdenden Schneefalls wurde Arthas offenbar nicht im Geringsten behindert. Wieder und wieder fand die Klinge ihr Ziel und immer mehr Untote fielen.

Schließlich waren alle besiegt und es wurde Zeit, sich um ihren Meister zu kümmern.

»Mal’Ganis, du Feigling!«, rief Arthas. Selbst in seinen eigenen Ohren klang seine Stimme verändert, wie sie da über den heulenden Wind davongetragen wurde. »Los doch, zeige dich! Du wolltest, dass ich hierherkomme, jetzt stelle dich mir auch!«

Und dann kam der Dämonenlord. Er wirkte größer, als Arthas ihn in Erinnerung hatte, und lächelte auf den Prinzen herab. Dann richtete er sich zu seiner vollen beeindruckenden Größe auf. Seine Flügel schlugen, sein Schwanz zuckte. Die untoten Krieger unter seinem Kommando erstarrten auf ein beiläufiges Schnippen seiner Finger hin.

Dieses Mal war Arthas auf den schrecklichen Anblick des Schreckenslords vorbereitet. Er erschütterte ihn nicht mehr. Arthas sah seinen Feind an, hob wortlos Frostgram, und die Runen, die sich auf der Klinge befanden, leuchteten. Mal’Ganis erkannte die Waffe und runzelte die Stirn.

»So, du hast dir also Frostgram auf Kosten deines Kameraden genommen, so wie der Dunkle Lord es voraussagte. Du bist stärker, als ich dachte.«

Arthas hörte die Worte, doch er lauschte jemand ganz anderem, der sanft in seinem Hirn flüsterte. Dann lächelte er wild.

»Du verschwendest deinen Atem, Mal’Ganis. Ich höre jetzt nur noch auf Frostgram.«

Der Schreckenslord warf den gehörnten Schädel zurück und lachte. »Du hörst die Stimme des Dunklen Lords«, gab Mal’Ganis zurück. Er wies mit seinen scharfen schwarzen Krallen auf die mächtige Runenklinge. »Er spricht mit dir durch sie.«

Arthas spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Der Meister des Schreckenslords… sprach zu ihm durch Frostgram? Aber… wie konnte das sein? War das ein letzter Trick? War er getäuscht worden und direkt in Mal’Ganis Klauenhände gelaufen?

»Was sagt er, junger Mensch?« Das Lächeln erschien erneut. Es war der Gesichtsausdruck von jemandem, der etwas wusste, wovon der andere nichts ahnte. Der Schreckenslord freute sich. »Was sagt der Dunkle Lord der Toten dir jetzt?«

Das Flüstern kam wieder, doch diesmal war es Arthas, der lächelte. Auf seinem Gesicht lag derselbe Ausdruck, den der Schreckenslord trug. Jetzt wusste er etwas, von dem Mal’Ganis nichts ahnte.

Arthas wirbelte Frostgram über seinen Kopf, die riesige Klinge lag leicht und anmutig in seiner Hand. Dann nahm er die Angriffshaltung ein. »Er sagt mir, dass die Zeit für meine Rache gekommen ist.«

Die grünen, leuchtenden Augen weiteten sich. »Was? Er kann doch unmöglich meinen…«

Arthas griff an.

Die mächtige Runenklinge hob und senkte sich. Der Schreckenslord wurde überrascht. Doch die Überraschung währte nur eine Sekunde lang. Gerade noch rechtzeitig erhob er seinen Stab, um den Schlag abzuwehren. Er sprang zur Seite. Die großen Fledermausflügel erzeugten einen Windstoß, der Arthas’ blondes Haar verwirbelte.

Doch der Prinz verlor weder das Gleichgewicht noch wurde er langsamer. Er griff immer wieder an, kühl und kontrolliert, doch gleichzeitig schnell und tödlich wie eine Viper. Die Klinge leuchtete vor Verlangen. Ein Gedanke drängte sich ihm in den Sinn: Frostgram giert…

Und ein Teil vom ihm erwiderte mit einem Schauder der Angst: Giert wonach?

Das war egal. Er, Arthas, gierte nach Rache und er würde sie bekommen. Jedes Mal, wenn Mal’Ganis einen Zauber zu wirken versuchte, war Frostgram da und schlug den Schreckenslord, schlitzte sein Fleisch auf, bis der Augenblick kam, da es den Todesstoß ausführen konnte.

Arthas spürte Frostgrams Vorfreude, sein Verlangen, und er brüllte auf, als er mit der Runenklinge in einem leuchtenden blauen Bogen eine saubere Furche über Mal’Ganis Körper zog.

Dunkles Blut spritzte in hohem Bogen heraus, verteilte sich auf dem Schnee, als der Schreckenslord fiel. Erstaunen lag auf seinem Gesicht. Er hatte nicht geglaubt, dass er besiegt werden könnte.

Einen Moment lang stand Arthas da, der Wind und der Schnee wirbelten um ihn herum, das Leuchten von Frostgrams Klinge, die teilweise vom dunklen Dämonenblut bedeckt war, erhellte die herrliche Szenerie.

»Es ist vollbracht«, sagte er leise.

Nur dieser Teil der Reise, junger Prinz, wisperte Frostgram – oder war es wirklich der Dunkle Lord, von dem Mal’Ganis gesprochen hatte? Arthas wusste es nicht und es war ihm auch egal. Vorsichtig beugte er sich hinab und wischte die Klinge im Schnee ab. Doch da ist noch mehr. So viel mehr. Du könntest so viel Macht haben. So viel Wissen und Kontrolle.

Arthas erinnerte sich daran, wie Muradin die Inschrift gelesen hatte. Seine Hand wanderte zu seinem Herzen, ohne dass er es sofort merkte. Die Klinge war jetzt ein Teil von ihm und er war ein Teil von ihr.

Der Schneesturm wurde schlimmer. Überrascht erkannte Arthas, dass er überhaupt keine Kälte mehr spürte. Er straffte sich, hielt Frostgram fest und sah sich um. Der Dämon lag steif zu seinen Füßen. Die Stimme – entweder die Frostgrams oder des mysteriösen Dunklen Lords – hatte recht.

Da gab es mehr. So viel mehr.

Und der Winter würde es ihn lehren.

Arthas Menethil blickte in den Schneesturm und konnte es kaum erwarten.


Arthas wusste, dass er sich sein ganzes Leben lang an die Glocken erinnern würde. Sie wurden nur zu Staatsanlässen geläutet – bei einer königlichen Hochzeit, der Geburt eines Erben, der Beerdigung eines Königs… all den Dingen eben, die für ein Königreich wichtig waren. Doch heute wurden sie zur Feier seines Tages geläutet.

Er, Arthas Menethil, war heimgekehrt.

Er hatte die Nachricht von seinem Sieg vorausgeschickt. Hatte berichtet, dass er entdeckt hatte, wer hinter der Seuche steckte. Erklärt, wie er den Verursacher gesucht und besiegt hatte. Und er hatte diesen Tag seiner glorreichen Rückkehr zu seinem Geburtsort angekündigt.

Als er zu Fuß über die Straße zur Hauptstadt schritt, wurde er von Jubel und Applaus empfangen – dem Dank einer ganzen Nation, die von ihrem geliebten Prinzen vor einer Katastrophe bewahrt worden war. Er nahm ihre Huldigungen an, doch vor allem wollte er seinen Vater nach so langer Zeit wiedersehen.

»Ich möchte allein mit dir sprechen, Vater, und dir wichtige Dinge berichten, die ich erfahren und erlebt habe«, hatte er in dem Brief geschrieben, der ein paar Tage zuvor mit einem berittenen Boten gekommen war. »Du hast sicherlich mit Jaina und Uther gesprochen. Ich kann mir gut vorstellen, was sie dir erzählt haben – sie haben versucht, dich gegen mich einzunehmen. Ich versichere dir, ich habe nur getan, was dem höheren Wohl der Bürger von Lordaeron dient. Am Ende habe ich den Verursacher dieser Seuche vernichtet und ich kehre siegreich heim, bereit, eine neue Ära für das Königreich einzuläuten.«

Seine Männer hinter ihm waren so still wie er, sie hielten ihre Gesichter bedeckt. Die Menge schien deren Anteilnahme an seiner Heimkehrfeier nicht zu brauchen. Die mächtige Zugbrücke wurde gesenkt und Arthas schritt darüber. Die jubelnde Menge war auch hier. Es waren nicht nur einfache Menschen, sondern auch Diplomaten und niedere Adelige. Aber auch Würdenträger der Elfen, Zwerge und Gnome, die hier zu Besuch waren. Sie standen nicht im Hof, sondern auf den darüber thronenden Zuschauerbalkonen. Rosenblätter, rosa, weiß und rot, sanken auf den heimkehrenden Helden des Landes herab.

Arthas erinnerte sich daran, wie er einst geglaubt hatte, dass Jaina an ihrem Hochzeitstag von diesen Blüten umgeben sein würde. Wie sie auf ihr Gesicht fielen, das von einem Lächeln erhellt war, ihm zugewandt, bereit, ihn zu küssen.

Jaina…

Bewegt von dem Bild fing er eins der Blütenblätter mit seiner gepanzerten Hand auf. Er ergriff es gedankenverloren, dann runzelte er die Stirn, als ein Fleck darauf erschien. Der Makel wuchs vor seinen Augen an, trocknete das Blütenblatt aus und zerstörte es, bis es eher braun als rot auf seiner Handfläche lag. Wie beiläufig warf er das tote Blatt weg und ging weiter.

Er öffnete die großen Tore zum Thronsaal, den er so gut kannte, trat vor und sah seinen Vater mit einem Lächeln an, das zum größten Teil durch die Kapuze verborgen war. Arthas kniete huldigend nieder, hielt Frostgram vor sich gerichtet. Seine Spitze berührte das Siegel, das in den Boden gearbeitet war.

»Ah, mein Sohn. Ich bin froh, dass du wohlbehalten wieder zu Hause bist«, sagte Terenas und erhob sich ein wenig unsicher.

Er sah schlecht aus, fand Arthas. Die Ereignisse der letzten Monate hatten den Monarchen altern lassen. Sein Haar war jetzt grauer, seine Augen wirkten müde.

Aber alles würde in Ordnung kommen.

Du musst dich nicht länger für dein Volk aufopfern. Du musst nicht mehr länger die Last der Krone tragen. Ich habe mich um alles gekümmert.

Arthas erhob sich, seine Rüstung klapperte bei jeder Bewegung. Er hob eine Hand, schlug die Kapuze zurück und beobachtete die Reaktion seines Vaters. Terenas’ Augen weiteten sich, als er die Veränderung an seinem einzigen Sohn bemerkte.

Arthas’ Haare, einst so blond wie der Weizen, von dem das Volk lebte, waren nun weiß wie ein Knochen. Er wusste, dass sein Gesicht so bleich war, als hätte man das Blut daraus entfernt.

Es ist an der Zeit, flüsterte Frostgram in seinem Geist. Arthas ging auf seinen Vater zu, der auf der Empore stehen geblieben war und unsicher schaute. Mehrere Wachen waren im Raum postiert, doch sie waren keine Gegner für ihn, Frostgram und die beiden Männer, die ihn begleiteten. Arthas ging direkt zu den mit Teppich bedeckten Stufen und fasste seinen Vater am Arm.

Dann zog er seine Klinge. Frostgrams Runen leuchteten voller Vorfreude. Ein Flüstern erklang in ihm, das nicht von der Runenklinge stammte, sondern aus dem Gedächtnis…

… die Stimme eines dunkelhaarigen Prinzen, scheinbar aus einem anderen Leben.

»Er wurde ermordet. Eine vertraute Freundin… sie tötete ihn. Stach ihm mitten ins Herz…«

Arthas schüttelte den Klopf und die Stimme verstummte.

»Was ist los? Was tust du, mein Sohn?«

»Dich beerben… Vater.«

Und Frostgrams Hunger wurde gestillt – zumindest für den Augenblick.


Arthas ließ seinen neuen, ihm nun treu ergebenen Untertan los. Es war einfach, die Wachen zu erledigen, die ihn nach dem Tod seines Vaters angriffen. Mit kühlem Vorsatz kehrte er in den Hof zurück.

Es war verrückt.

Was eine Feier gewesen war, war in Wahnsinn ausgeartet. Ein Fest wurde zum wilden Kampf ums Überleben. Nur wenige entkamen. Die meisten derer, die stundenlang gewartet hatten, um ihren Prinzen willkommen zu heißen, waren nun tot. Blut rann aus hässlichen Wunden, Gliedmaßen waren ausgerissen, Körper zerschmettert. Botschafter lagen bei gemeinem Volk, Männer und Frauen und Kinder zusammen. Der Tod machte keinen Unterschied zwischen ihnen.

Arthas kümmerte ihr Schicksal nicht – sie waren Aas für die Krähen oder neue Untergebene, die seinem Befehl folgen würden. Die Entscheidung darüber würde er seinen Hauptmännern Falric und Marwyn überlassen, die genauso knochenbleich waren wie er – und doppelt so gnadenlos. Arthas ging den Weg zurück, den er zuvor gekommen war. Er war nur auf eine einzige Sache konzentriert.

Nachdem er den Hof und die Leichen hinter sich gelassen hatte, begann er zu laufen. Kein Pferd würde ihn mehr tragen, die Tiere wurden durch seinen Geruch und den seiner Untergebenen wild. Doch er hatte erkannt, dass er nicht ermüdete. Nicht, wenn er Frostgram trug oder der Lichkönig zu ihm durch die Runenklinge sprach. Und so lief er weiter, seine Beine trugen ihn zu einem Ort, an dem er seit Jahren nicht mehr gewesen war.

Stimmen wirbelten in seinem Kopf, Erinnerungen, Gesprächsfetzen.

»Du weißt, dass du ihn noch nicht reiten solltest. «

» Du hast deinen Unterricht verpasst, Arthas. Schon wieder…«

Invincibles schmerzerfüllte Schreie, die in seinem Geist widerhallten. Das Licht, das einen schrecklichen Augenblick lang zögerte, als wüsste es nicht, ob er der Gnade würdig war oder nicht. Jainas Gesicht, als er ihre Beziehung beendete.

»Hört mir zu, Junge… Der Schatten ist bereits gefallen und nichts, was Ihr tun könnt, wird daran etwas ändern…Je stärker Ihr Euren Feind bekämpft, desto schneller liefert Ihr Euer Volk seinen Händen aus.«

»Das ist keine verdorbene Apfelernte, es ist eine Stadt voller menschlicher Wesen!«

» Wir wissen so wenig – wir können sie nicht nur aus unserer Angst heraus wie Tiere abschlachten!«

»Ihr habt Eure Männer belogen und die Söldner verraten, die für Euch gekämpft haben!… Das ist nicht König Terenas’ Junge.«

Aber die anderen waren diejenigen, die nicht sehen konnten, es nicht erfassten. Jaina – Uther – Terenas – Muradin. Sie alle hatten ihm in irgendeiner Art, durch Worte oder Blicke zu verstehen gegeben, dass er falschlag.

Er verlangsamte seine Schritte, als er zu dem Gehöft kam. Seine Untergebenen waren schon zuvor hier gewesen und jetzt lagen nur noch Leichen herum. Arthas stemmte sich gegen den Schmerz, den die Erkenntnis mit sich brachte. Die Toten hier hatten das Glück gehabt, einfach sterben zu können. Ein Mann, eine Frau und ein Junge in seinem Alter.

Und die Löwenmäulchen… die dieses Jahr wie verrückt blühten, so schien es zumindest. Arthas trat näher und streckte seine Hand aus, um eine der schönen, großen lavendelblauen Blumen zu pflücken, doch dann zögerte er und erinnerte sich an das Rosenblatt.

Er war nicht der Blumen wegen hier.

Er wandte sich um und ging zu dem Grab, das jetzt beinahe sieben Jahre alt war. Gras war darüber gewachsen, doch der Stein war noch lesbar. Er musste nicht darauf blicken, um zu wissen, wer hier lag.

Einen Augenblick lang stand er da, bewegter vom Tod des Wesens im Grab als vom Ableben seines Vaters, den er mit eigener Hand getötet hatte.

Es liegt in deiner Macht, erklang das Flüstern. Tu, was du willst.

Arthas streckte eine Hand aus, Frostgram hielt er fest in der anderen. Dunkles Licht wirbelte um seine ausgestreckten Finger und gewann an Geschwindigkeit. Es bewegte sich wie eine Schlange, wellenförmig, und wogte in seinem eigenen Rhythmus. Dann schoss es in die Erde.

Arthas spürte, wie es sich mit dem Skelett darunter verband. Freude durchflutete ihn und dann traten ihm Tränen in die Augen. Er hob die Hand, weckte das nun nicht mehr tote Wesen aus seinem sieben Jahre andauernden Schlaf in der kalten dunklen Erde.

»Erhebe dich!«, befahl er, die Worte brachen aus ihm heraus.

Das Grab öffnete sich, Erdklumpen stoben auf. Knochige Beine drangen aus dem Boden hervor, Hufe suchten Halt auf der Erde und ein Totenschädel durchbrach die Oberfläche. Arthas sah atemlos zu. Ein Lächeln lag auf seinem nun ebenfalls bleichen Gesicht.

Ich habe gesehen, wie du geboren wurdest, dachte er und erinnerte sich an eine Haut, die ein zappelndes, feuchtes, neues Leben eingehüllt hatte. Ich habe dabei geholfen, als du auf diese Welt gekommen bist, und ich habe dir geholfen, sie zu verlassen… und nun wirst du durch meine Hand wiedergeboren.

Das Skelettpferd kämpfte sich durch die Erde und kam schließlich heraus. Rotes Feuer brannte in den leeren Augenhöhlen. Es warf den Kopf hoch, tänzelte und wieherte irgendwie durch das weiche Fell, das schon vor langer Zeit verrottet war.

Zitternd streckte Arthas die Hand zu der untoten Kreatur aus, die schnaubte und mit dem knochigen Maul an seiner Hand schnüffelte. Vor sieben Jahren hatte er das Pferd zu Tode geritten. Vor sieben Jahren hatte er Tränen vergossen. Tränen, die auf seinem Gesicht gefroren waren, als er das Schwert erhoben hatte und es seinem geliebten Tier mitten durch sein großes Herz stieß.

Er hatte die Schuld daran all die Zeit mit sich herumgetragen. Doch jetzt erkannte er, dass alles ein Teil seiner Bestimmung gewesen war. Wenn er nicht das Pferd getötet hätte, hätte er es jetzt auch nicht zurückholen können. Lebendig hätte das Pferd ihn gefürchtet. Untot, mit Feuer in den Augen, seine Knochen von Nekromantenmagie zusammengehalten, über die Arthas nun dank des mysteriösen Lichkönigs verfügte, waren Ross und Reiter schließlich wieder vereint, wie sie es schon immer hätten sein sollen.

Es war kein Fehler vor sieben Jahren gewesen. Es war nicht falsch gewesen. Nicht damals, nicht jetzt.

Niemals.

Und dies war der Beweis.

Noch während seines Vaters Blut an Frostgram klebte, kam der Tod über das Land, das er, Arthas, nun beherrschte.

Die Veränderung nahm ihren Gang.

»Dieses Königreich wird fallen!«, versprach er seinem geliebten Pferd, als er seinen Umhang über den knochigen Rücken warf und aufsaß. »Und aus der Asche soll eine neue Ordnung entstehen, die die Grundfesten der Welt erschüttern wird!«

Das Pferd wieherte.

Invincible – unbesiegbar…

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