TEIL I Der Goldjunge

1

»Halt ihren Kopf, so geht das, Junge!«

Die Stute, deren weißes Fell mit Schweiß bedeckt war, verdrehte die Augen und wieherte. Prinz Arthas Menethil, der einzige Sohn von König Terenas Menethil II und künftiger Herrscher über das Königreich Lordaeron, hielt die Zügel fest umklammert und redete beruhigend auf das Pferd ein.

Das Tier warf wild den Kopf herum und traf dabei beinahe den neunjährigen Prinzen. »Ho, Brightmane!«, sagte Arthas. »Ganz ruhig, Mädchen, es ist ja alles gut. Du brauchst keine Angst zu haben.«

Jorum Balnir schnaubte vor Freude. »Ich bezweifle, dass du das noch glauben würdest, wenn etwas von der Größe eines Fohlens aus dir herauskäme, Junge.«

Sein Sohn Jarim kletterte neben seinen Vater und den Prinzen und lachte. Arthas fiel mit ein. Er kicherte ausgelassen, als der feuchtwarme Schaum aus Brightmanes Maul auf sein Bein tropfte.

»Nur noch ein Mal, Mädchen«, sagte Balnir und bewegte sich entlang des Pferdekörpers zu der Stelle, wo das Fohlen es bereits zur Hälfte hinaus in die Welt geschafft hatte.

Arthas hätte eigentlich nicht hier sein dürfen. Doch wenn er keinen Unterricht hatte, schlich er sich oft zu Balnirs Hof, um die Pferde, für deren Zucht Balnir bekannt war, zu bewundern und um mit seinem Freund Jarim zu spielen.

Beiden war klar, dass der Sohn eines Pferdezüchters, selbst wenn der regelmäßig Tiere für den königlichen Haushalt lieferte, für einen Prinzen nicht der »passende« Umgang war. Doch es kümmerte sie nicht und bislang hatte kein Erwachsener ihre Freundschaft beendet.

Also war er hier. Sie hatten Forts gebaut, mit Schneebällen geworfen und Räuber und Gendarm gespielt, als Jorum sie zu sich rief, damit sie das Wunder einer Geburt miterleben konnten.

Das »Wunder der Geburt« war eigentlich ziemlich eklig, fand Arthas. Er hatte nicht gewusst, dass derart viel… Schleim dabei im Spiel war. Brightmane schnaubte und presste erneut, ihre Beine waren steif und standen kerzengerade. Mit einem feuchten Geräusch kam ihr Fohlen in der glänzenden Haut auf die Welt.

Der schwere Kopf der Stute sank auf Arthas’ Schoß und sie schloss für einen Moment die Augen. Ihr Körper hob und senkte sich, während sie Atem schöpfte.

Der Junge lächelte, streichelte den feuchten Hals und die dichte, raue Mähne. Er blickte zu Jarim und seinem Vater, die sich um das Fohlen kümmerten. Zu dieser Jahreszeit war es kühl in den Ställen und nur der warme, feuchte Körper des Neugeborenen dampfte. Mit einem Handtuch und trockenem Stroh rieben Vater und Sohn die Reste der Geburtshaut von dem Fohlen ab, und Arthas merkte, wie sich sein Gesicht zu einem Lächeln verzog.

Feucht, grau, fast nur aus langen Beinen und großen Augen bestehend, sah sich das Fohlen um und blinzelte im dämmrigen Licht der Laternen. Die großen braunen Augen ruhten auf Arthas. Du bist wunderschön, dachte Arthas. Sein Atem stockte und ihm wurde zum ersten Mal bewusst, dass das allseits gerühmte »Wunder der Geburt« tatsächlich mehr als wundersam war.

Brightmane stellte sich auf die Füße. Arthas stand ebenfalls auf und drückte sich gegen die hölzerne Wand des Stalls, damit sich das große Tier umdrehen konnte, ohne ihn zu zerquetschen. Die Mutter und das Neugeborene beschnüffelten sich, dann schnaubte Brightmane und begann damit, ihr Fohlen mit der langen Zunge abzulecken und zu säubern.

»He, Junge, du siehst ein wenig mitgenommen aus«, sagte Jorum.

Arthas blickte an sich herab und sein Herz sank. Er war mit Stroh und Pferdespeichel bedeckt. Arthas zuckte mit den Achseln. »Vielleicht sollte ich in eine Schneewehe hüpfen, bevor ich zum Palast zurückgehe«, meinte er und lächelte. Während er sich säuberte, sagte er: »Keine Sorge. Ich bin schon neun, kein Baby mehr. Ich kann hingehen, wohin ich…«

Die Hühner gackerten und die dröhnende Stimme eines Mannes ertönte. Arthas entglitten die Gesichtszüge. Er straffte die schmalen Schultern, unternahm einen angestrengten, letztlich jedoch vergeblichen Versuch, das Stroh abzuklopfen, und trat aus der Scheune.

»Sire Uther«, sagte er in seiner besten Ich bin ein Prinz und das solltest du bedenken-Stimme. »Diese Leute waren sehr freundlich zu mir. Ich beschwöre Euch, zertrampelt nicht ihr Geflügel.«

Oder ihre Löwenmaulbeete, dachte er und blickte auf die schneebedeckten Haufen aufgeworfener Erde, wo die wunderschönen Blumen, die Vara Balnirs ganzer Stolz waren, in ein paar Monaten blühen würden. Er hörte, wie ihm Jorum und Jarim nach draußen folgten, doch er sah sich nicht um. Stattdessen erblickte er den Ritter, vollständig gekleidet in eine…

»Rüstung!«, schnappte Arthas. »Was ist geschehen?«

»Ich erzähle es Euch unterwegs«, sagte Uther grimmig. »Ich schicke jemanden, der Euer Pferd holt, Prinz Arthas. Steadfast ist schneller, selbst wenn er uns beide tragen muss.« Seine große Hand legte sich auf Arthas Arm und er zog den Jungen zu sich hinauf, als wöge er nichts.

Vara war beim Geräusch des herangaloppierenden Pferdes aus dem Haus gelaufen. Sie wischte die Hände an einem Handtuch ab und hatte Mehlreste an der Nase. Ihre blauen Augen waren weit aufgerissen, sie blickte besorgt zu ihrem Ehemann hinüber. Uther nickte ihr höflich zu.

»Wir reden später darüber«, sagte Uther. »Milady.« Er berührte seine Stirn mit der gepanzerten Hand zu einem höflichen Gruß, dann trieb er sein Pferd Steadfast an – das ebenso wie sein Reiter in voller Rüstung steckte – und das Tier preschte los.

Uthers Arm lag wie eine Stahlfessel um Arthas Hüfte. Angst stieg in dem Jungen auf, doch er unterdrückte sie, während er gegen Uthers Arm ankämpfte. »Ich weiß, wie man reitet«, sagte er, wobei seine Gereiztheit seine Besorgnis übertünchte. »Sagt mir, was los ist.«

»Ein Reiter ist von Süderstade gekommen. Er brachte schlechte Nachrichten. Vor ein paar Tagen sind Boote voll mit Flüchtlingen aus Sturmwind an unserer Küste gelandet«, sagte Uther. Er zog seinen Arm nicht zurück. Arthas gab den Kampf dagegen auf und reckte den Hals. Dabei lauschte er angestrengt. Seine meergrünen Augen waren aufgerissen, sein Blick hing an Uthers grimmigem Gesicht. »Sturmwind ist gefallen.«

»Was? Sturmwind? Wer steckt dahinter? Was…«

»Das werden wir in Kürze herausfinden. Die Überlebenden, darunter Prinz Varian, werden von einem der ehemaligen Helden Sturmwinds angeführt, Lord Anduin Lothar. Er, Prinz Varian und ein paar andere kommen in ein paar Tagen in die Hauptstadt. Lothar hat uns vorgewarnt, dass er beunruhigende Neuigkeiten überbringt – was offensichtlich ist, wenn Sturmwind zerstört wurde. Ich wurde ausgeschickt, um nach Euch zu suchen und Euch zurückzubringen. Ihr solltet Euch in dieser Situation Eure Zeit nicht mit dem gemeinen Volk vertreiben.«

Gebannt drehte sich Arthas um und blickte wieder nach vorn. Seine Hände hielten Steadfasts Mähne umschlossen.

Sturmwind! Er war noch nie dort gewesen, doch er hatte Geschichten darüber gehört. Es war ein mächtiger Ort, mit großen Steinmauern und wunderschönen Gebäuden. Er war stabil gebaut worden, um den wilden Winden standzuhalten, denen er seinen Namen verdankte. Unvorstellbar auch nur daran zu denken, dass er gefallen sein könnte. Wer oder was wäre stark genug, um solch eine Stadt einzunehmen? »Wie viele Leute waren dabei?«, fragte er, dabei hob er seine Stimme lauter an, als beabsichtigt, um über den Hufschlag gehört zu werden.

»Das weiß ich nicht. Es sind nicht wenige, so viel steht fest. Der Bote sagte, es wären alle, die überlebt haben.«

Die was überlebt hatten?

»Und Prinz Varian?« Er hatte sein ganzes Leben lang von Varian gehört, so wie er natürlich auch alle anderen Namen der benachbarten Könige, Königinnen, Prinzen und Prinzessinnen kannte. Plötzlich weiteten sich seine Augen. Uther hatte Varian erwähnt, doch nicht den Vater des Prinzen, König Liane…

»Er wird schon bald König Varian werden. König Liane ist mit Sturmwind gefallen.«

Diese Nachricht eines Einzelschicksals traf Arthas irgendwie härter als der Gedanke an Tausende Menschen, die plötzlich ohne Heimat waren. Arthas’ eigene Familie stand sich sehr nah – er, seine Schwester Calia, seine Mutter, Königin Lianne, und natürlich König Terenas. Er hatte schon erlebt, wie lieblos einige Herrscher mit ihren Familien umgingen, und wusste, dass seine Familie bemerkenswert engen Kontakt pflegte. Die eigene Stadt verloren zu haben, die eigene Lebensart und den eigenen Vater…

»Armer Varian«, sagte er und Tränen des Mitgefühls füllten seine Augen.

Uther klopfte ihm auf die Schulter. »Aye«, sagte er. »Es ist ein schwarzer Tag für den Jungen.«

Arthas schauderte mit einem Mal, was nichts mit der Kühle des Wintertages zu tun hatte. Der schöne Nachmittag mit dem blauen Himmel über der sanft gewellten, schneebedeckten Landschaft hatte sich plötzlich für ihn verdüstert.


Ein paar Tage später stand Arthas auf den Zinnen der Burg, leistete Falric, einer der Wachen, Gesellschaft und reichte ihm eine Tasse mit dampfend heißem Tee. Solche Besuche, wie Arthas sie Balnirs Familie, den Küchenmädchen der Burg, den Dienern, den Hufschmieden und praktisch jedem Untergebenen abstattete, waren nichts Ungewöhnliches. Terenas kommentierte es stets mit Stoßseufzern, doch Arthas wusste, dass niemand nur dafür bestraft wurde, dass er mit ihm sprach, und oft fragte er sich, ob sein Vater dieses Verhalten nicht insgeheim sogar befürwortete.

Falric lächelte dankbar und verbeugte sich tief vor aufrichtigem Respekt. Dabei zog er seine Handschuhe aus, damit er sich die kalten Hände wärmen konnte. Schnee drohte zu fallen, der Himmel war hellgrau. Dennoch war das Wetter klar. Arthas lehnte sich gegen die Mauer und legte sein Kinn auf die verschränkten Arme. Er blickte über die gewellten weißen Hügel von Tirisfal, in Richtung der Straße, die durch den Silberwald nach Süderstade führte. Die Straße, über die Anduin Lothar, der Magier Khadgar und Prinz Varian kommen würden.

»Schon was von ihnen zu sehen?«

»Nein, Euer Hoheit«, antwortete Falric und trank von dem heißen Tee. »Es könnte heute sein, morgen, oder übermorgen. Wenn Ihr hofft, einen Blick auf sie werfen zu können, Sire, müsst Ihr vielleicht noch ein Weilchen warten.«

Arthas lächelte ihn an, seine Augen blitzten vor Übermut. »Das ist besser als Unterricht«, sagte er.

»Nun, Sire, das wisst Ihr besser als ich«, sagte Falric diplomatisch, wobei er gegen den Drang zu lachen ankämpfte.

Während die Wache den Tee austrank, seufzte Arthas und spähte die Straße hinab, so wie er es schon ein Dutzend Mal zuvor getan hatte. Zuerst war das aufregend gewesen, doch nun begann er sich zu langweilen. Er wollte gehen und nachsehen, wie es Brightmanes Fohlen ging, und überlegte, wie schwierig es wäre, für ein paar Stunden zu entwischen, ohne dass man es bemerkte. Falric hatte recht. Lothar und Varian konnten noch ein paar Tagesreisen entfernt sein, wenn…

Arthas blinzelte. Er hob langsam sein Kinn von den Händen und verengte die Augen.

»Sie kommen!«, rief er ein paar Herzschläge später.

Falric war augenblicklich bei ihm, den Tee vergaß er. Er nickte.

»Scharfe Augen, Prinz Arthas! Marwyn!« Ein weiterer Soldat eilte herbei. »Los, berichte dem König, dass Lothar und Varian kommen. Sie sollten binnen einer Stunde hier sein.«

»Aye, Herr Hauptmann!« Der jüngere Mann salutierte.

»Ich mache das! Ich gehe!«, sagte Arthas und rannte bereits los, noch während er sprach. Marwyn zögerte und blickte zu seinem Vorgesetzten, doch Arthas wollte vor ihm im Thronsaal sein. Er rannte die Stufen hinab, rutschte über das Eis und legte den Rest des Weges auf ebenso verwegene Weise zurück. Er überquerte den Hof und geriet, als er den Thronsaal erreichte, ins Schlittern. Gerade noch rechtzeitig dachte er daran, dass er sich beruhigen musste. Heute war der Tag, an dem sich Terenas mit den Vertretern des Volkes traf, um sich ihre Sorgen anzuhören und ihnen, soweit es in seiner Macht stand, zu helfen.

Arthas warf die Kapuze seines schön bestickten roten Umhangs aus Runenstoff zurück. Er atmete tief ein, stieß die Luft durch die Lippen als feinen Nebel aus und nickte, als er die beiden Wachen erreichte, die ihn zackig grüßten und sich umwandten, um ihm die Tür zu öffnen.

Im Thronsaal war es deutlich wärmer als im Hof, auch wenn es ein großer Raum aus Marmor und Stein mit einer hohen Kuppeldecke war. Selbst an einem bewölkten Tag wie heute ließ das achteckige Fenster an der Spitze der Kuppel ausreichend Tageslicht herein. Die Fackeln in den Halterungen an der Wand brannten stetig und spendeten sowohl Wärme als auch einen goldgelben Farbton. Ein komplexes Muster aus Kreisen umgab das Siegel von Lordaeron auf dem Boden, das nun verborgen unter den versammelten Menschen lag, die allesamt respektvoll darauf warteten, vor ihren Herrscher zu treten.

Auf einem edelsteinbesetzten Thron, der auf einer Empore stand, saß König Terenas II. Sein blondes Haar war an den Schläfen von Grau durchzogen und in seinem Gesicht waren leichte Falten, die mehr vom Lächeln zeugten als von Sorgen. Sorgen, die ihre Spuren ebenso auf der Seele wie auf Gesichtern hinterließen.

Er trug ein gut geschnittenes, blauviolettes Gewand, das von glänzenden Goldstickereien durchwirkt war. Sie fingen das Licht der Fackeln ein und spiegelten sich auf der Krone. Terenas beugte sich gerade vor und unterhielt sich konzentriert mit einem vor ihm stehenden Mann – einem niederen Adeligen, an dessen Namen sich Arthas im Moment nicht erinnern konnte. Seine tiefblauen Augen waren auf den Mann gerichtet.

Wohl wissend, wessen Ankunft er verkünden würde, sah Arthas einen Moment lang einfach seinen Vater an. Wie Varian war er der Sohn eines Königs, ein Prinz von Geburt. Doch Varian hatte keinen Vater mehr und Arthas spürte, wie ihm ein Kloß im Hals steckte, als er an die Zeit dachte, wenn dieser Thron hier einst verwaist wäre, wenn Klagegesänge für Terenas angestimmt würden…

Beim Licht, lass diesen Tag noch weit, weit entfernt sein.

Vielleicht spürte Terenas den intensiven Blick seines Sohnes, denn er blickte zur Tür. Seine Augen funkelten vergnügt, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Bittsteller zu.

Arthas räusperte sich und trat vor. »Entschuldigt die Unterbrechung, Vater, sie kommen. Ich habe sie gesehen! Sie sollten binnen einer Stunde hier sein.«

Terenas schien ernüchtert. Er wusste, wer mit »sie« gemeint war. Dann nickte er. »Danke, mein Sohn.«

Die versammelten Menschen sahen einander an, die meisten wussten ebenfalls, wer »sie« waren, und die Versammlung begann sich aufzulösen, als sei die Audienz vorbei.

Terenas hob die Hand. »Nein. Das Wetter hält sich und die Straßen sind frei. Unsere Besucher sind erst da, wenn sie tatsächlich hier eintreffen, und keinen Moment früher. Bis dahin sollten wir fortfahren.« Er lächelte reumütig. »Ich vermute, dass Zusammenkünfte wie diese danach selten sein werden. Erledigen wir so viel, wie wir können, bevor das geschieht.«

Arthas blickte seinen Vater stolz an. Deshalb liebten die Menschen Terenas so – und das war auch der Grund, warum der König normalerweise die Abenteuer seines Sohnes unter dem gemeinen Volk tolerierte. Terenas war sein Volk wirklich wichtig, und seinem Sohn hatte er dieses Gefühl anerzogen.

»Soll ich vorausreiten, um sie zu empfangen, Vater?«

Terenas sah seinen Sohn einen Augenblick lang prüfend an, dann schüttelte er den blonden Kopf. »Nein. Ich glaube, es ist das Beste, wenn du bei diesem Treffen nicht mit dabei bist.«

Arthas war wie vom Donner gerührt. Nicht daran teilnehmen? Er war schließlich neun Jahre alt! Etwas wirklich Schlimmes war einem wichtigen Verbündeten zugestoßen und ein Junge, der kaum älter war als er, hatte seinen Vater dabei verloren. Er spürte plötzliche Wut. Warum beschützte sein Vater ihn dermaßen? Warum durfte er nicht an wichtigen Besprechungen teilnehmen?

Er unterdrückte die Antwort, die ihm auf den Lippen gelegen hätte, wenn er mit Terenas allein gewesen wäre. Es wäre nicht gut, mit seinem Vater vor all diesen Leuten zu streiten. Auch wenn Arthas wusste, dass er völlig im Recht war. Er atmete tief ein, verneigte sich und ging.

Eine Stunde später hatte es sich Arthas Menethil auf einem der vielen Balkone bequem gemacht, die über dem Thronsaal aufragten. Er lächelte in sich hinein und zappelte aufgeregt. Er war immer noch klein genug, um sich unter den Sitzen zu verstecken, falls jemand den Balkon kontrollieren sollte. In ein oder zwei Jahren würde er das nicht mehr können.

Aber in ein, zwei Jahren wird Vater auch einsehen, dass ich es verdiene, an solchen Sitzungen teilzunehmen, und ich muss mich gar nicht mehr verstecken.

Der Gedanke beruhigte ihn. Er rollte seinen Umhang zusammen und benutzte ihn als Kissen, während er wartete. Der Raum wurde von den Kohlepfannen, Fackeln und den vielen Leuten beheizt. Die Wärme und das beruhigende Murmeln der Stimmen machten ihn müde und er schlief fast ein.

»Euer Majestät.«

Die Stimme, mächtig und wohlklingend, ließ Arthas aufwachen.

»Ich bin Anduin Lothar, Ritter aus Sturmwind.«

Sie waren da! Lord Anduin Lothar, der ehemalige Held von Sturmwind…

Arthas kam unter dem Sitz hervorgekrochen und erhob sich vorsichtig. Dabei versicherte er sich, dass er von dem blauen Vorhang verdeckt wurde, der den Balkon umgab, und spähte hinaus.

Lothar war mit jedem Zoll ein Krieger, dachte Arthas, als er den Mann betrachtete. Groß und kräftig gebaut, trug er die schwere Rüstung mit einer Leichtigkeit, die zeigte, dass er an ihr Gewicht gewöhnt war. Obwohl er einen dichten Schnurrbart trug, war sein Schädel fast kahl. Die wenigen verbliebenen Haare waren zu einem kurzen Pferdeschwanz zurückgebunden. Neben ihm stand ein alter Mann in einem violetten Gewand.

Arthas Blick fiel auf den Jungen, der nur Prinz Varian Wrynn sein konnte. Er war groß, schlaksig, hatte aber breite Schultern, die andeuteten, dass der schmale Körper eines Tages kräftiger werden würde. Er wirkte bleich und erschöpft. Arthas zuckte, als er den Jungen ansah, der ein paar Jahre älter war als er. Er wirkte verloren, allein und verängstigt. Als der Junge angesprochen wurde, riss er sich zusammen und gab höflich die erforderlichen Antworten. Terenas war geübt darin, anderen Menschen Selbstsicherheit zu vermitteln. Schnell entließ er alle, bis auf ein paar Höflinge und Wachen, und erhob sich von seinem Thron, um die Besucher zu begrüßen.

»Bitte, behaltet Platz«, sagte er und entschied sich, nicht auf dem beeindruckenden Thron sitzen zu bleiben, wie es sein Recht gewesen wäre. Stattdessen setzte er sich auf die oberste Stufe der Empore. In einer väterlichen Geste zog er Varian zu sich herab.

Arthas lächelte.

Versteckt beobachtete der junge Prinz von Lordaeron und hörte genau zu. Die Worte, die zu ihm heraufdrangen, klangen beinahe fantastisch. Als er diesen mächtigen Krieger aus Sturmwind betrachtete – mehr noch, als er das bleiche Gesicht des zukünftigen Königs dieses ruhmreichen Reichs betrachtete –, erkannte Arthas mit einem beklemmenden Gefühl, dass dies alles keine Einbildung war. Es war tödlicher Ernst und es war erschreckend.

Die versammelten Männer redeten von Kreaturen, die sie »Orcs« nannten und die irgendwie in Azeroth erschienen waren. Groß, grün, mit Hauern als Zähnen und nach Blut dürstend, hatten sie eine »Horde« gebildet, die sich wie eine unaufhaltsame Flut ausbreitete.

»Genug, um das Land von Küste zu Küste zu überziehen«, hatte Lothar düster berichtet.

Diese Monster hatten Sturmwind angegriffen und aus den Bewohnern Flüchtlinge – oder Tote, wie Arthas begriff – gemacht. Es wurde etwas lauter, als einige Höflinge Lothar nicht glauben wollten. Lothar erregte sich, doch Terenas entschärfte die Situation und schloss die Versammlung. »Ich werde die Könige der Nachbarreiche zusammenrufen«, sagte er. »Das betrifft uns alle. Euer Majestät, ich biete Euch mein Heim und meinen Schutz, solange Ihr es benötigen solltet.«

Arthas lächelte. Varian würde hierbleiben, im Palast, zusammen mit ihm. Es wäre schön, einen anderen adeligen Jungen zu haben, mit dem er spielen konnte. Er kam gut mit Calia aus, die zwei Jahre älter war als er, aber sie war dennoch ein Mädchen. Und obwohl er Jarim gern hatte, wusste er doch, dass die Gelegenheiten, miteinander zu spielen, zwangsläufig begrenzt waren. Varian dagegen war ein geborener Prinz, so wie Arthas, und sie konnten miteinander trainieren, reiten und auf Erkundungen gehen…

»Ihr wollt, dass wir uns auf einen Krieg vorbereiten.« Die Stimme seines Vaters schnitt brutal in seine Gedanken und Arthas’ Stimmung verdüsterte sich wieder.

»Ja«, antwortete Lothar. »Auf einen Krieg, bei dem es um das Überleben unserer Art geht.«

Arthas schluckte schwer, dann verließ er den Balkon so leise, wie er gekommen war.


Wie Arthas es erwartet hatte, wurde Prinz Varian kurze Zeit später das Gästequartier gezeigt. Terenas persönlich geleitete den Jungen und legte eine Hand auf dessen Schulter. Wenn es ihn überraschte, dass sein Sohn im Gästequartier wartete, dann zeigte er es nicht.

»Arthas. Das hier ist Prinz Varian Wrynn, der zukünftige König von Sturmwind.«

Arthas verneigte sich vor dem Gleichgestellten. »Euer Hoheit«, sagte er förmlich. »Ich heiße Euch in Lordaeron willkommen. Ich wünschte nur, die Umstände wären glücklicher.«

Varian erwiderte die Verneigung höflich. »Wie ich König Terenas bereits sagte, bin ich dankbar für Eure Hilfe und Freundschaft in solch schwierigen Zeiten.«

Seine Stimme klang steif, angespannt, müde. Arthas sah den Umhang, die Tunika und die Hose, die aus Runen- und Magierstoff bestanden und wunderschön bestickt waren. Sie wirkten, als hätte Varian sie sein halbes Leben lang getragen, so schmutzig, wie sie waren. Sein Gesicht war offensichtlich gewaschen, doch es gab Dreckspuren an den Schläfen und unter den Fingernägeln.

»Ich werde ein paar Diener mit ein wenig Essen, Handtüchern, heißem Wasser und einer Wanne schicken, damit Ihr Euch erfrischen könnt, Prinz Varian.« Terenas verwendete weiterhin den Titel des Jungen. Das würde sich im Laufe der Zeit ändern, doch Arthas wusste, warum sein Vater sich so verhielt. Varian sollte wissen, dass man ihn immer noch respektierte, er immer noch königlich war, obwohl er alles außer seinem Leben verloren hatte.

Varian presste die Lippen zusammen und nickte. »Danke«, sagte er schließlich.

»Arthas, ich gebe ihn in deine Obhut.« Terenas drückte tröstend Varians Schulter. Dann ging er und schloss die Tür.

Die beiden Jungen musterten sich gegenseitig. Arthas’ Geist war völlig leer. Die Stille zog sich unangenehm lange hin. Schließlich platzte Arthas heraus: »Das mit deinem Vater tut mir leid.«

Varian fuhr zusammen, wandte sich ab und ging zu den großen Fenstern, vor denen sich der Lordamere-See ausbreitete. Es hatte zu schneien begonnen, die Flocken sanken langsam zu Boden und bedeckten das Land mit einem weißen Tuch. Das war schade – an einem klaren Tag konnte man bis zur Festung Fenris blicken.

»Danke.«

»Ich bin sicher, er hat mutig gekämpft und sein Bestes gegeben.«

»Er wurde ermordet.« Varians Stimme war dumpf und emotionslos. Arthas wirbelte herum und blickte ihn schockiert an. Seine Gesichtszüge, die Arthas nun im Profil sah und die durch das kalte Licht des Wintertages erhellt wurden, waren unnatürlich ruhig. Nur seine braunen Augen, blutunterlaufen und voller Schmerz, schienen lebendig. »Eine vertraute Freundin arrangierte ein Treffen mit ihr allein. Dann tötete sie ihn. Stach ihm mitten ins Herz.«

Arthas blickte ihn an. Der Tod in einer glorreichen Schlacht war schon schwer genug zu ertragen, aber dies…

Impulsiv legte er eine Hand auf den Arm des Prinzen. »Ich habe gestern gesehen, wie ein Fohlen geboren wurde«, sagte er. Es klang verrückt, aber es war das Erste, was ihm einfiel, und er sprach mit vollem Ernst. »Wenn das Wetter besser wird, zeige ich es dir. Es ist wirklich eine tolle Sache.«

Varian drehte sich zu ihm um und blickte ihn einen Moment lang an. Gefühle verwandelten sein Gesicht – Beleidigung, Unglaube, Dankbarkeit, Sehnsucht, Verstehen.

Plötzlich füllten sich seine braunen Augen mit Tränen und Varian sah weg. Er verschränkte die Arme und schlang sie um sich, seine Schultern, zitterte. Er schluchzte und tat sein Bestes, um die Gefühlsaufwallung zu verbergen. Sie brach sich trotzdem Bahn. Es waren schroffe, abgehackte Klagelaute, die um einen Vater trauerten, ein Königreich, eine Lebensart, deren Verlust er vielleicht bis zu diesem Moment noch nicht richtig realisiert hatte. Arthas drückte seine Arme und stellte fest, dass sie sich unter seinen Händen hart wie Stein anfühlten.

»Ich hasse den Winter«, schluchzte Varian. Diese drei Worte zeigten die Tiefe seines Schmerzes – ein scheinbarer Gedankensprung, der Arthas beschämte. Unfähig solch rohen Schmerz zu erleben, machtlos, etwas dagegen zu tun, ließ er die Hände sinken, wandte sich ab und blickte aus dem Fenster.

Draußen fiel derweil unentwegt der Schnee.

2

Arthas war frustriert.

Nachdem die Kunde von den Orcs eingetroffen war, hatte er geglaubt, endlich mit der richtigen Ausbildung beginnen zu können, und zwar gemeinsam mit seinem neuen besten Freund, Varian. Stattdessen geschah genau das Gegenteil. Der Krieg gegen die Horde führte dazu, dass jeder, der ein Schwert halten konnte, zur Armee ging – bis hin zum obersten Hufschmied. Varian bemitleidete sein jüngeres Gegenüber und bemühte sich eine Zeitlang, ihn zu trösten. Doch schließlich seufzte er und blickte Arthas mitfühlend an.

»Arthas, ich will ja nicht gemein sein, aber…«

»Es ist schrecklich.«

Varian verzog das Gesicht. Die beiden waren in der Waffenhalle, wo sie mit Helmen, ledernen Brustpanzern und Holzschwertern übten. Varian ging zur Ablage, legte das Übungsschwert darauf, setzte den Helm ab und sagte: »Es hat mich ziemlich überrascht, dass du so kräftig und schnell bist.«

Arthas schmollte. Er kannte Varian gut genug, um zu wissen, dass der Prinz die Lage nur entschärfen wollte. Mürrisch folgte er ihm, verstaute sein eigenes Schwert und löste die Riemen der Rüstung.

»In Sturmwind beginnen wir mit der Ausbildung, wenn wir noch recht jung sind. Als ich in deinem Alter war, hatte ich meine eigene Rüstung, die extra für mich angefertigt worden war.«

»Mach’s nur noch schlimmer«, knurrte Arthas.

»Tut mir leid.« Varian lächelte ihn an und Arthas lächelte zögernd zurück. Obwohl ihr erstes Treffen von Trauer und Verlegenheit bestimmt gewesen war, hatte Arthas entdeckt, dass Varian über einen starken Willen und ein frohes Wesen verfügte. »Ich frage mich, warum dein Vater nicht dasselbe mit dir gemacht hat.«

Arthas wusste es. »Er versucht mich zu beschützen.«

Varian hängte seinen ledernen Brustpanzer auf. »Mein Vater wollte mich auch beschützen. Hat aber nicht geklappt. Ihm sind die Realitäten des Lebens dazwischengekommen.« Er blickte Arthas an. »Ich habe zwar zu kämpfen gelernt. Aber wie man es anderen beibringt, weiß ich nicht. Ich könnte dich verletzen.«

Arthas errötete. Er wäre nie auf die Idee gekommen, dass Varian ihn verletzen könnte.

Varian schien einzusehen, dass er die Sache so nur verschlimmerte, und schlug Arthas auf die Schulter. »Weißt du was? Wenn der Krieg vorbei ist und der passende Ausbilder wieder abgestellt werden kann, werde ich mit König Terenas reden. Und ich bin mir sicher, in kürzester Zeit wirst du mich ungespitzt in den Boden rammen.«


Der Krieg ging schließlich zu Ende und die Allianz gewann ihn. Der Anführer der Horde, der einst mächtige Orgrim Schicksalshammer, wurde in Ketten zur Hauptstadt gebracht. Sowohl Arthas als auch Varian waren beeindruckt gewesen, den mächtigen Orc durch Lordaeron ziehen zu sehen. Turalyon, der junge Paladin, der Schicksalshammer besiegt hatte, nachdem der Orc zuvor den edlen Anduin Lothar erschlagen hatte, zeigte Gnade und verschonte die Bestie. Terenas, der im Grunde seines Herzens ein guter Mensch war, setzte diese Haltung fort, indem er Angriffe auf die Kreatur verbot. Spott und Buhrufe waren erlaubt – schließlich war es gut für die Moral, dass der Orc, der sie so lange terrorisiert hatte, jetzt machtlos Hohn ertragen musste. Doch Orgrim Schicksalshammer würde nichts geschehen, solange er sich in Terenas’ Obhut befand.

Es war das einzige Mal gewesen, dass Arthas erlebt hatte, wie Varians Gesicht sich vor Hass verzog. Doch das war nur allzu verständlich, wie er fand. Denn wenn die Orcs Terenas und Uther getötet hätten, hätte auch er diese hässlichen grünen Gestalten angespuckt.

»Er sollte hingerichtet werden«, knurrte Varian und seine Augen blitzten wütend, als sie von der Brustwehr aus beobachteten, wie Schicksalshammer auf den Palast zumarschierte. »Und ich wünschte, ich dürfte das Todesurteil vollstrecken.«

»Er kommt in die Unterstadt«, sagte Arthas. Die alten königlichen Krypten, Gewölbe, Kanäle und die verwinkelten Gassen tief unter dem Palast wären irgendwie an diesen Beinamen gekommen, als handele es sich dabei um einen ganz anderen Ort. Die Unterstadt, düster, feucht und schmutzig, war nur für Gefangene und Tote bestimmt. Doch die Ärmsten der Armen schienen immer einen Weg dort hinein zu finden. Wenn man obdachlos war, lebte es sich hier immer noch besser, als wenn man den Elementen schutzlos ausgesetzt war. Und wer etwas brauchte, was nicht so ganz legal war, das wusste selbst Arthas, würde es dort bekommen. Ab und zu gingen die Wachen hinunter und versuchten in einem verzweifelten und letztlich nutzlosen Bemühen, aufzuräumen.

»Niemand kommt aus der Unterstadt heraus«, versicherte Arthas seinem Freund. »Er wird als Gefangener sterben.«

»Das ist zu gut für ihn«, sagte Varian. »Turalyon hätte ihn töten sollen, als er die Möglichkeit dazu hatte.«

Varians Worte sollten sich als prophetisch erweisen. Der große Führer der Orcs war nur scheinbar vom Spott und Hass gedemütigt. Wie sich herausstellen sollte, war er alles andere als gebrochen. Eingelullt von seiner Mutlosigkeit, so hatte Arthas es gehört, waren die Wachen lax im Umgang mit ihm geworden. Niemand wusste genau, wie Orgrim Schicksalshammer seine Flucht genau bewerkstelligt hatte, weil niemand überlebt hatte, um davon berichten zu können. Er hatte jeder Wache, auf die er getroffen war, das Genick gebrochen. Doch es gab eine Spur aus Leichen, darunter Wächter, Arme und Kriminelle – Schicksalshammer machte keinen Unterschied zwischen ihnen –, die von der sperrangelweit offenen Zellentür durch die Unterstadt seinen Fluchtweg nachzeichnete und direkt in die stinkenden Kanäle führte. Schicksalshammer war kurz danach wieder eingefangen und diesmal in ein Internierungslager gesteckt worden. Als er auch von dort wieder fliehen konnte und sich seine Fährte diesmal verlor, wartete die ganze Allianz mit angehaltenem Atem auf einen von ihm organisierten Angriff.

Doch nichts geschah. Entweder war Schicksalshammer bei der Flucht umgekommen oder sein Kampfgeist war letztlich doch gebrochen worden.

Zwei Jahre waren seitdem vergangen und nun sah es so aus, als würde das Dunkle Portal, durch das die Horde beim ersten Mal nach Azeroth gekommen war – das Portal, das die Allianz am Ende des Zweiten Krieges geschlossen hatte –, erneut geöffnet werden. Arthas war sich nicht sicher, weil niemand ihm auch nur irgendetwas erzählte. Und das, obwohl er eines Tages König werden sollte.

Es war ein schöner Tag, sonnig, klar und warm. Ein Teil von ihm wollte mit seinem neuen Pferd nach draußen, das er Invincible genannt hatte. Es war das Fohlen, bei dessen Geburt er an dem bitterkalten Wintermorgen vor zwei Jahren dabei gewesen war. Vielleicht würde er das später tun. Doch jetzt führte ihn sein Weg in die Waffenkammer, wo er und Varian geübt und Varian ihn beleidigt hatte. Die Kränkung war unbeabsichtigt geschehen, dennoch schmerzte sie.

Zwei Jahre war das her.

Arthas ging zu dem Gestell mit den hölzernen Übungsschwertern und nahm eins davon in die Hand. Er war jetzt elf Jahre alt und hatte einen »Wachstumsschub« erlebt, wie sein Kindermädchen es genannt hatte – zumindest hatte sie das gesagt, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie hatte geweint, ihn gedrückt und ihn zum »richtigen jungen Mann« ernannt, der ein Kindermädchen nicht mehr länger brauchte. Das kleine Schwert, mit dem er als Neunjähriger geübt hatte, war die Waffe eines Kindes gewesen. Er war jetzt wirklich ein richtiger junger Mann, der 1,76 Meter groß war, und wenn man seine Erbanlagen bedachte, noch weiter wachsen würde. Er nahm das Schwert, schwang es hin und her und lächelte plötzlich.

Er trat zu einer der alten Rüstungen und umfasste das Schwert fester. »Ha!«, rief er und wünschte sich, eins dieser scheußlichen grünen Monster, die schon so lange ein Dorn im Auge seines Vaters waren, würde vor ihm stehen. Er richtete sich zu voller Größe auf und berührte mit der Schwertspitze die »Kehle« der Rüstung.

»Glaubst du, du könntest einfach hier vorbei, du scheußlicher Orc? Du befindest dich auf dem Boden der Allianz! Dieses Mal lasse ich noch Gnade walten. Verschwinde und komm niemals zurück… Wie? Du willst nicht gehen? Ich habe dir deine Chance gegeben, doch nun – kämpfe!«

Er machte einen Ausfallschritt, wie er ihn bei Varian gesehen hatte. Nicht direkt gegen die Rüstung gerichtet, nein, denn das Ding war alt und sehr wertvoll. Stattdessen zielte er direkt daneben. Stoßen, blocken, unter dem Schlag wegducken, das Schwert auf den Körper zubewegen, dann herumwirbeln und…

Er keuchte, als das Schwert ein Eigenleben zu entwickeln schien und durch den Raum flog. Krachend landete es auf dem Marmorboden und schlitterte mit einem schabenden Geräusch darüber, bevor es aufhörte, sich zu drehen.

Verdammt! Er blickte zur Tür – genau in das Gesicht von Muradin Bronzebart.

Muradin war der Botschafter der Zwerge in Lordaeron, der Bruder von König Magni Bronzebart und am Hof wegen seiner kameradschaftlichen, geradlinigen Art sehr beliebt. Dabei spielte es keine Rolle, ob es dabei um gutes Bier und Gebäck ging oder um Staatsangelegenheiten. Er galt als ausgezeichneter Krieger, gerissen und wild im Kampf.

Und er hatte gerade gesehen, wie der zukünftige König von Lordaeron versuchte, Orcs zu bekämpfen, und dabei sein Schwert quer durch den Raum warf. Arthas spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach, und wusste, dass seine Wangen rotgefärbt waren. Er rang um Fassung.

»Oh… Herr Botschafter… Ich habe gerade…«

Der Zwerg hustete und sah weg. »Ich suche deinen Vater, Junge. Kannst du mir sagen, wo ich da hinmuss? Dieser teuflische Bau hat zu viele Gänge und Biegungen.«

Arthas wies stumm auf eine Treppe zu seiner Linken. Er beobachtete, wie der Zwerg ging. Sie wechselten kein weiteres Wort.

Arthas war in seinem ganzen Leben noch nicht so verlegen gewesen. Tränen der Scham brannten in seinen Augen und er kämpfte mit Macht dagegen an. Er legte das Schwert nicht zurück, sondern verließ augenblicklich den Raum.

Zehn Minuten später war er frei. Er ritt aus den Stallungen und wandte sich nach Osten in Richtung der Hügel von Tirisfal. Er hatte zwei Pferde bei sich, einen freundlichen älteren Apfelschimmel namens Trueheart, auf dem er saß, und am Zügel führte er das zwei Jahre alte Fohlen Invincible.

Er hatte das Band zwischen ihnen von dem Moment an gespürt, als ihre Blicke sich getroffen hatten, nur wenige Momente nach der Geburt des Fohlens. Arthas hatte gewusst, dass es sein Pferd sein würde, sein Freund, das große Pferd mit dem großen Herzen, das so sehr ein Teil von ihm war. Sogar noch mehr, als seine Rüstung oder Waffen.

Pferde wie dieses konnten zwanzig Jahre oder länger leben, wenn man sich gut darum kümmerte. Dieses würde ihn treu und anmutig bei Zeremonien und auf den täglichen Ausritten tragen. Es war kein Schlachtross. Die waren eine eigene Rasse, wurden nur für besondere Zwecke in besonderen Zeiten benutzt. Er würde später eins haben, wenn er ins Feld zog. Doch Invincible würde ein Teil seines Lebens werden. Eigentlich war er das schon.

Das Fell des Hengstes, die Mähne und der Schwanz, bei seiner Geburt grau, waren mittlerweile so weiß wie der Schnee geworden, der den Boden am Tag seiner Geburt bedeckt hatte. Es war eine Farbe, die selbst unter Balnirs Pferden selten vorkam, deren »weiße« Felle eigentlich meist hellgrau waren. Arthas hatte an Namen wie »Snowfall« oder »Starlight« gedacht, doch schließlich war er der Tradition Lordaerons gefolgt und hatte das Pferd nach seinen Eigenschaften benannt. Uthers Pferd hieß »Steadfast«, standhaft, das von Terenas »Courageous«, tapfer.

Und seins hieß »Invincible«, unbesiegbar.

Arthas wollte Invincible unbedingt reiten, doch der Pferdemeister warnte ihn, dass der Zweijährige mindestens noch ein Jahr zu jung sei. »Mit zwei ist er noch ein Baby«, sagte er. »Er wächst noch, seine Knochen bilden sich gerade erst richtig aus. Seid geduldig, Euer Hoheit. Ein weiteres Jahr ist nicht lang für ein Pferd, das Euch zwei Jahrzehnte lang dienen wird.«

Doch es war eine lange Wartezeit. Arthas blickte über die Schulter zu dem Pferd und fand den leichten Galopp langweilig, der das Schnellste zu sein schien, wozu Trueheart in der Lage war. Im Gegensatz zu dem älteren Wallach bewegte sich der Zweijährige, als würde er schweben, ohne die geringste Anstrengung zu zeigen. Seine Ohren waren aufgerichtet und seine Nüstern schnaubten, als könnte er den Geruch von Tirisfal spüren. Seine Augen leuchteten und er schien zu drängen: Los doch, Arthas… Dafür wurde ich geboren.

Ein Ritt würde sicherlich nicht schaden. Nur ein leichter Galopp und dann zurück in den Stall, als wäre nichts geschehen.

Er ließ Trueheart Schritt gehen und band die Zügel an einen niedrigen Ast. Invincible wieherte, als Arthas sich ihm näherte. Der Prinz lächelte. Das samtig, weiche Maul strich über seine Handfläche, während er dem Pferd einen Apfel gab. Invincible war mit dem Sattel vertraut. Das war Teil des langwierigen Prozesses, um das Pferd daran zu gewöhnen, etwas auf seinem Rücken zu haben. Allerdings war ein leerer Sattel etwas ganz anderes als ein lebender Mensch. Doch Arthas hatte viel Zeit mit dem Tier verbracht. Er sandte ein kurzes Gebet zum Himmel und schwang sich dann schnell auf den Rücken des Pferdes, bevor Invincible einen Schritt zur Seite machen konnte.

Invincible bäumte sich auf und wieherte wild. Arthas klammerte sich mit den Händen in die drahtige Mähne und hing wie eine Klette mit jedem Zoll seiner langen Beine auf dem Rücken des Tieres. Das Pferd sprang und bockte, doch Arthas blieb darauf sitzen. Er schrie auf, als Invincible versuchte, ihn abzuwerfen, indem er unter die Äste rannte. Doch Arthas ließ es nicht zu.

Und dann galoppierte Invincible.

Besser gesagt, er flog. Zumindest erschien es dem übermütigen jungen Prinzen so, der sich eng an den Hals des Pferdes presste und breit lächelte. Er war noch nie auf einem derart schnellen Tier geritten und sein Herz hämmerte vor Erregung. Er versuchte nicht einmal, Invincible zu kontrollieren, er konnte nur hoffen, im Sattel zu bleiben. Es war herrlich, wild, schön – alles, wovon er je geträumt hatte. Sie würden…

Bevor er begriff, was geschah, flog Arthas durch die Luft und landete hart auf dem grasbedeckten Boden. Für einen langen Moment konnte Arthas durch den Aufprall nicht atmen. Langsam kam er wieder auf die Beine. Sein Körper schmerzte, aber er hatte sich nichts gebrochen.

Doch Invincible verschwand schnell in der Ferne. Arthas fluchte lautstark, trat gegen einen Erdklumpen und ballte die Hände zu Fäusten. Für den Moment hatte er genug.


Bei seiner Rückkehr wartete Sire Uther auf ihn. Arthas verzog das Gesicht, als er von Trueheart abstieg und die Zügel einem Stallknecht gab.

»Invincible ist vor Kurzem allein zurückgekommen. Er hatte einen bösen Schnitt am Bein, doch Ihr könnt Euch freuen, der Stallmeister meint, es gehe ihm gut.«

Arthas überlegte, ob er lügen und Uther erzählen sollte, dass sie herumgeritten waren und Invincible weggelaufen sei. Doch durch die Grasflecken auf seiner Kleidung war es offensichtlich, dass er gestürzt war, und Uther würde niemals glauben, dass ein Prinz sich nicht auf dem gutmütigen, alten Trueheart halten konnte.

»Ihr wisst doch, dass Ihr ihn noch nicht reiten sollt,« fuhr Uther unerbittlich fort.

Arthas seufzte. »Ich weiß.«

»Arthas, versteht Ihr nicht? Wenn Ihr ihn in diesem Alter zu sehr belastet, wird er…«

»Ich habe es verstanden, ja? Ich hätte ihn zum Krüppel machen können. Es war nur dieses eine Mal.«

»Und dabei bleibt es auch?«

»Ja, Sire«, erwiderte Arthas mürrisch.

»Ihr habt Euren Unterricht verpasst. Wieder einmal.«

Arthas war still und blickte Uther nicht an. Er war wütend, beleidigt und verletzt und wünschte sich nichts sehnlicher, als ein heißes Bad und etwas Wilddornrosentee, um seine Schmerzen zu lindern. Sein rechtes Knie begann bereits anzuschwellen.

»Immerhin seid Ihr rechtzeitig zur nachmittäglichen Gebetsstunde zurück.« Uther musterte ihn von oben bis unten. »Obwohl Ihr Euch noch waschen müsst.«

Arthas war tatsächlich verschwitzt und wusste, dass er extrem nach Pferd stank. Es war ein guter Geruch, fand er. Ein ehrlicher.

»Beeilt Euch. Wir treffen uns in der Kapelle.«

Arthas wusste nicht einmal, worum es in der heutigen Gebetsstunde ging. Er fühlte sich ein wenig schlecht deshalb. Das Licht war sowohl seinem Vater als auch Uther wichtig, und er wusste, wie sehr sich beide wünschten, dass er diese Hingabe teilte. Doch obwohl er die Existenz des Lichts nicht bestreiten konnte – es war zweifellos da, er hatte gesehen, wie Priester und die Paladine des neuen Ordens wahre Wunder der Heilung und des Schutzes gewirkt hatten –, verspürte er nicht den Drang, stundenlang zu meditieren, wie Uther es tat. Oder ehrfürchtig zu beten wie sein Vater. Das Licht war eben einfach… da.

Eine Stunde später, gewaschen und in eleganter Kleidung, eilte Arthas zur kleinen Familienkapelle im königlichen Schlossflügel.

Der Raum war nicht sonderlich groß, doch er war schön. Es war die verkleinerte Version einer traditionellen Kapelle, die man in jeder Stadt der Menschen fand, vielleicht ein wenig großzügiger ausgestattet, was die Details anging. Der Kelch, den man sich teilte, war aus feinem Gold gearbeitet und mit Edelsteinen besetzt. Er stand auf einem antiken Tisch. Selbst die Bänke waren weich gepolstert, während das gemeine Volk auf hartem Holz sitzen musste.

Beim Eintreten erkannte er, dass er der Letzte war – und zuckte zusammen, als ihm einfiel, dass mehrere wichtige Persönlichkeiten seinen Vater besuchten. Neben den üblichen Teilnehmern seiner Familie, Uther und Muradin – war auch König Trollbann anwesend, obwohl der noch unglücklicher wirkte als Arthas.

Und da war… noch jemand, ein Mädchen, schlank und aufrecht, mit langem blondem Haar, das ihm den Rücken zuwandte. Arthas blickte sie neugierig an und stieß gegen eine der Bänke.

Er hätte genauso gut einen Teller fallen lassen können. Königin Lianne, auch mit Anfang fünfzig noch eine Schönheit, wandte sich bei dem Geräusch um und lächelte ihren Sohn liebevoll an. Ihr Gewand war perfekt arrangiert. Ihr Haar wurde von einem goldenen Reif zurückgehalten, von dem keine einzige Haarsträhne abstand. Calia war vierzehn und wirkte so schlaksig und verspielt, wie Invincible am Tag seiner Geburt gewesen war. Sie warf ihm einen düsteren Blick zu. Offensichtlich waren seine Missetaten schon bis hierher vorgedrungen – oder sie war wütend, weil er zu spät kam. Terenas nickte ihm zu, dann konzentrierte er sich wieder auf den Bischof, der die Messe zelebrierte. Arthas erschauderte angesichts des stummen Missfallens in dem Blick. Trollbann achtete nicht auf ihn, und Muradin drehte sich ebenfalls nicht um.

Arthas setzte sich auf eine der Bänke, die entlang der Wand standen. Der Bischof begann zu reden und hob die Hände, die von einem sanften weißen Leuchten umgeben waren. Arthas wünschte sich, dass sich das Mädchen umdrehen würde, damit er sein Gesicht sehen konnte. Wer war sie? Offensichtlich die Tochter eines Adeligen oder jemand von hohem Rang, sonst wäre sie wohl nicht eingeladen worden, am Gebet der Familie teilzunehmen. Er überlegte, wer sie sein konnte. Dabei interessierte er sich mehr für sie als für die Messe.

»… und seine königliche Hoheit, Arthas Menethil«, sprach der Bischof. Arthas richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Gottesdienst und fragte sich, ob er etwas Wichtiges versäumt hatte. »Möge das Licht all seine Gedanken, Worte und Taten segnen, damit er sich wohl entwickle und er ihm als Paladin dienen möge.«

Arthas spürte, wie ihn plötzlich eine beruhigende Wärme durchfloss, als der Segen auf ihn gesprochen wurde. Die Steifheit und die Schmerzen verschwanden und er war erfrischt und friedvoll.

Der Bischof wandte sich der Königin und der Prinzessin zu. »Möge das Licht auf ihre königliche Majestät, Lianne Menethil scheinen, damit sie…«

Arthas lächelte und wartete darauf, dass der Bischof mit den persönlichen Segnungen zum Ende kam. Dann würde er das Mädchen beim Namen nennen. Arthas lehnte sich gegen die Mauer.

»Und demütig erbitten wir den Segen des Lichts für Lady Jaina Prachtmeer. Möge sie gesegnet sein mit seinem Heil und seiner Weisheit, die sie…«

Aha! Das rätselhafte Mädchen war nicht länger rätselhaft. Jaina Prachtmeer, ein Jahr jünger als er, die Tochter von Admiral Daelin Prachtmeer, dem Seekriegshelden und Herrscher über Kul Tiras. Warum war sie hier?

»… und dass ihre Studien in Dalaran gut verlaufen. Möge sie eine Abgesandte des Lichts werden und ihrem Volk als Magierin gut und wahrhaftig dienen.«

Das klang logisch. Sie war auf dem Weg nach Dalaran, der schönen Stadt der Magier, die nicht weit von der Hauptstadt entfernt lag. Aufgrund der strengen Regeln der Etikette und Gastfreundschaft in königlichen und adeligen Kreisen war sie ein paar Tage zu Besuch, bevor sie weiterreiste.

Das, überlegte er, könnte spaßig werden.

Am Ende der Messe ging Arthas, der sich ohnehin schon nahe der Tür befand, als Erster hinaus. Muradin und Trollbann kamen nach, beide wirkten erleichtert, dass die Messe vorbei war. Terenas, Uther, Lianne, Calia und Jaina folgten.

Sowohl seine Schwester als auch das Prachtmeer-Mädchen waren beide blond und schlank. Doch damit hörte die Ähnlichkeit auch schon auf. Calia war feingliedrig, mit einem Gesicht wie auf den alten Gemälden und weicher, blasser Haut. Jaina dagegen hatte leuchtende Augen und ein lebhaftes Lächeln, und sie bewegte sich wie jemand, der es gewöhnt war, zu reiten und zu wandern. Sie verbrachte offensichtlich einen großen Teil ihrer Zeit im Freien, weil ihr Gesicht gebräunt war und sie Sommersprossen auf der Nase hatte.

Das, erkannte Arthas, war ein Mädchen, dem es nichts ausmachte, einen Schneeball ins Gesicht zu bekommen oder an einem heißen Tag schwimmen zu gehen. Jemand, mit dem er, anders als mit seiner Schwester, spielen konnte.

»Arthas… auf ein Wort«, erklang eine ruppige Stimme.

Arthas wandte sich um und sah den Botschafter auf sich zukommen.

»Natürlich, Sire«, sagte Arthas und ihm sank das Herz. Er wollte eigentlich nur mit seiner neuen Freundin plaudern – er war sich bereits sicher, dass sie prächtig miteinander auskommen würden – und Muradin wollte ihn gewiss für die blamable Vorstellung in der Waffenkammer schelten.

Immerhin war der Zwerg diskret genug, ein paar Schritte mit ihm fortzugehen. Er wandte sich dem Prinzen zu, die knubbeligen Daumen unter den Gürtel gehakt, das schroffe Gesicht gedankenvoll. »Junge«, sagte er. »Ich komme gleich zur Sache. Eure Kampftechnik ist fürchterlich.«

Wieder spürte Arthas, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. »Ich weiß«, sagte er, »doch Vater…«

»Euer Vater hat viele Dinge im Kopf. Womit ich natürlich nichts gegen ihn gesagt haben will.«

Was sollte er antworten? »Nun, ich kann mir ja schlecht das Kämpfen selbst beibringen. Ihr habt gesehen, was geschieht, wenn ich es versuche.«

»Ich kann es Euch beibringen. Wenn Ihr wollt, unterrichte ich Euch.«

»Das… das würdet Ihr tun?« Arthas konnte es zuerst nicht glauben, dann war er erfreut. Die Zwerge waren neben vielem anderen vor allem für ihr kämpferisches Geschick bekannt. Ein Teil von Arthas fragte sich, ob Muradin ihm wohl auch beibringen würde, wie man einen Bierkrug hielt – eine weitere Spezialität der Zwerge, doch er entschloss sich, lieber nicht danach zu fragen.

»Aye, das hatte ich ja gesagt, oder? Ich habe mit Eurem Vater gesprochen und er ist einverstanden. Das wurde schon zu lange aufgeschoben. Doch eine Sache sollten wir vorab klären. Ich akzeptiere keine Entschuldigungen und nehme Euch hart ran. Wenn ich jemals zu mir selbst sage: ,Muradin, du verschwendest nur deine Zeit’, dann höre ich auf, habt Ihr das verstanden, Junge?«

Arthas unterdrückte ein unpassendes Glucksen, das in ihm aufsteigen wollte, weil jemand, der so viel kleiner war als er, ihn »Junge« nannte.

»Ja, Sire«, sagte er eifrig.

Muradin nickte und streckte ihm seine große, schwielige Hand entgegen. Arthas schüttelte sie. Lächelnd sah er zu seinem Vater hinüber, der in ein Gespräch mit Uther vertieft war. Wie ein Mann wandten sie sich in diesem Moment jedoch zu ihm um und beide Augenpaare verengten sich vor Erwartung.

Arthas seufzte innerlich. Er kannte diesen Blick. So viel zum Thema Spielen mit Jaina – vielleicht würde er gar keine Zeit mehr haben, sie zu sehen, bevor sie wieder abreiste.

Er wandte sich Calia zu, die den Arm um die Schulter des jüngeren Mädchens gelegt hatte und Jaina aus dem Raum zog. Doch kurz bevor sie durch die Tür verschwand, wandte Admiral Prachtmeers Tochter ihren blonden Kopf um. Arthas’ Blick traf ihren und sie lächelte.

3

»Ich bin sehr stolz auf dich, Arthas«, sagte sein Vater. »Solch eine Verantwortung zu übernehmen…«

In der Woche, in der Jaina Prachtmeer zu Gast bei der Menethil-Familie gewesen war, war »Verantwortung« zum Schlüsselwort geworden. Nicht nur hatte seine Ausbildung bei Muradin begonnen, sie war auch exakt so hart und fordernd, wie der Zwerg es ihm prophezeit hatte. Der Muskelkater und die Prellungen wurden nur noch übertroffen von den schallenden Ohrfeigen, wenn Arthas Muradins Meinung nach nicht genug achtgab.

Doch wie Arthas schon befürchtet hatte, waren Uther und Terenas zu dem Schluss gekommen, dass die Ausbildung des Prinzen auch in anderen Bereichen intensiviert werden sollte. Arthas musste vor dem Morgengrauen aufstehen, ein schnelles Frühstück aus Brot und Käse zu sich nehmen und früh mit Muradin ausreiten. Der Ritt mündete in einer Wanderung, die jedes Mal damit endete, dass der Zwölfjährige am ganzen Leib zitterte und außer Atem war. Insgeheim fragte sich Arthas, ob die Zwerge eine so ausgeprägte Affinität zu den Felsen hatten, dass die Steine ihnen beim Klettern halfen. Wieder zu Hause angekommen, wurde gebadet, dann folgte der Unterricht in Geschichte, Mathematik und Kalligrafie.

Nach dem Mittagessen verbrachte er den Nachmittag mit Uther in der Kapelle, wo sie beteten, meditierten und über die Besonderheiten der Paladine und die harte Disziplin redeten, der sie sich unterwerfen mussten. Nach dem Abendessen fiel Arthas meist völlig erschöpft in einen traumlosen Schlaf.

Er hatte Jaina nur ein paarmal beim Abendessen gesehen. Sie und Calia schienen gut miteinander befreundet zu sein.

Arthas entschied schließlich, dass es genug war. Er beherzigte die Lektionen, die er im Geschichts- und Politikunterricht gelernt hatte, und bot seinem Vater und Uther an, ihren Gast, Lady Jaina Prachtmeer, persönlich nach Dalaran zu geleiten.

Er erzählte ihnen nicht, dass er so seinen Pflichten entkommen wollte. Terenas gefiel es, dass sein Sohn sich derart verantwortlich zeigte. Jaina strahlte bei der Vorstellung und Arthas bekam genau das, was er haben wollte. Alle waren glücklich.

Und so wurde es Frühsommer. Die Blumen blühten, die Wälder waren voller Wild und die Sonne schien von einem klaren blauen Himmel, als Prinz Arthas eine strahlende, blonde junge Dame auf ihrer Reise in die erstaunliche Stadt der Magier begleitete.

Sie waren ein wenig spät aufgebrochen – eine Sache, die Arthas an Jaina Prachtmeer kennenlernte, war ihre Unpünktlichkeit –, doch das störte Arthas nicht. Er hatte keine Eile. Sie waren natürlich nicht allein. Der Anstand gebot es, dass Jainas Kammerzofe und zwei Wachen sie begleiteten. Aber dennoch hielten sich die Bediensteten zurück und ließen die beiden jungen Adligen sich aneinander gewöhnen.

Sie ritten eine Weile, dann hielten sie für ein Mittagspicknick. Während sie Brot und Käse aßen, dazu verdünnten Wein tranken, kam einer von Arthas’ Männern heran.

»Sire, mit Eurer Erlaubnis treffen wir Vorbereitungen, in Mühlenbern zu übernachten. Am nächsten Morgen können wir dann die restliche Strecke nach Dalaran zurücklegen. Wir sollten bei Einbruch der Dämmerung dort eintreffen.«

Arthas schüttelte den Kopf. »Nein, lasst uns weiterreiten. Wir kampieren im Hügelland. So wird Lady Jaina schon im Laufe des Morgens in Dalaran eintreffen.« Er lächelte ihr zu.

Sie erwiderte sein Lächeln und er meinte einen Hauch von Enttäuschung in ihren Augen zu lesen.

»Seid Ihr sicher, Sire? Wir wollten die Gastfreundschaft der Einheimischen in Anspruch nehmen, ganz zu schweigen davon, dass die Lady sonst im Freien übernachten muss.«

»Es ist in Ordnung, Kayvan«, sagte Jaina. »Ich bin kein zerbrechliches Püppchen.«

Arthas’ Lächeln wurde breiter. Er hoffte, dass sie auch in ein paar Stunden noch so denken würde.


Während die Diener das Lager vorbereiteten, gingen Arthas und Jaina auf Streifzug. Sie kletterten einen Hügel hinauf, von dem aus sie einen einmaligen Ausblick hatten. Im Westen sahen sie das kleine Dörfchen Mühlenbern und sogar die Spitzen von Baron Silberleins Burg. Im Osten konnten sie beinahe Dalaran erspähen und noch deutlicher das Internierungslager im Süden. Nach dem Ende des Zweiten Krieges waren die Orcs zusammengetrieben und in diese Lager gesteckt worden. Es war barmherziger, als sie einfach abzuschlachten, hatte Terenas Arthas erklärt. Außerdem schienen die Orcs an einer merkwürdigen Krankheit zu leiden. Wenn die Menschen sie entdeckten oder jagten, kämpften sie meist nur halbherzig und ergaben sich friedlich in die Gefangenschaft. Es gab mehrere Lager wie dieses.

Sie nahmen ein kräftiges Mahl ein – gebratenes Kaninchen am

Spieß – und gingen kurz nach Einbruch der Dämmerung schlafen.

Nachdem er sicher war, dass jedermann schlummerte, schlüpfte

Arthas in seine Kleidung und zog sich schnell die Stiefel an.

Schließlich nahm er noch einen seiner Dolche und befestigte ihn am Gürtel. Dann schlich er sich zu Jaina.

»Jaina«, flüsterte er, »wach auf.«

Sie erwachte stumm und erschreckte sich nicht. Ihre Augen glitzerten im Mondschein. Er setzte sich neben sie, während sie sich aufrichtete, und legte einen Finger an seine Lippen, um ihr zu bedeuten, auch weiterhin leise zu sein.

Sie flüsterte: »Arthas? Stimmt etwas nicht?«

Er lächelte. »Hast du Lust auf ein Abenteuer?«

Sie neigte den Kopf. »Was für ein Abenteuer?«

»Vertrau mir.«

Jaina sah ihn einen Moment lang an, dann nickte sie. »In Ordnung.«

Sie war wie die anderen auch zum größten Teil bekleidet eingeschlafen und musste nur ihre Schuhe anziehen und den Umhang überwerfen. Jaina erhob sich, machte einen halbherzigen Versuch, sich mit den Fingern die blonden Haare zu kämmen, und nickte.

Jaina folgte Arthas, als sie denselben Hügel erklommen, den sie bereits früher am Tag erkundet hatten. Der Aufstieg war in der Nacht herausfordernder, doch das Mondlicht war recht hell und sie stürzten nicht.

»Da liegt unser Ziel«, sagte er und wies darauf.

Jaina schluckte. »Das Internierungslager?«

»Hast du je einen Orc aus der Nähe gesehen?«

»Nein, und das will ich auch nicht.«

Er runzelte enttäuscht die Stirn. »Komm schon, Jaina. Das ist unsere Chance, einen Blick auf einen Orc zu werfen. Bist du denn gar nicht neugierig?«

Es war schwer, im Mondlicht in ihrem Gesicht zu lesen, ihre Augen waren dunkle, schattige Teiche. »Ich… sie haben Derek getötet. Meinen älteren Bruder.«

»Einer von ihnen hat auch Varians Vater getötet. Sie haben eine Menge Menschen umgebracht. Deshalb sind sie ja in diesen Lagern. Das ist der beste Ort für sie. Eine Menge Leute mögen es nicht, dass Vater die Steuern anhebt, um die Lager zu bezahlen. Doch… komm schon und mach dir selbst ein Bild. Ich habe die Möglichkeit versäumt, mir Schicksalshammer anzusehen, als er in der Unterstadt war. Ich möchte nicht noch einmal die Chance verpassen, einen Orc zu sehen.«

Sie schwieg weiter und schließlich seufzte er. »In Ordnung. Ich bringe dich zurück.«

»Nein«, sagte sie und überraschte ihn. »Gehen wir.«

Still machten sie sich an den Abstieg. »In Ordnung«, flüsterte Arthas. »Als wir heute Nachmittag hier waren, habe ich mir die Routen der Patrouillen gemerkt. Es scheint, dass sie bei Nacht keine großen Unterschiede machen, außer dass sie ihre Runden unregelmäßiger drehen. Da die Orcs nicht mehr viel Kampfgeist in sich haben, rechnen die Wachen wohl kaum mit einer Flucht.« Er lächelte ihr beteuernd zu. »Was uns die Sache erleichtert. Allerdings ist auf diesen beiden Wachtürmen immer jemand stationiert. Darauf müssen wir am meisten achten, aber hoffentlich achten die da oben eher auf Störungen von innen als von der anderen Seite. Denn das Lager ist gegen eine Mauer gebaut. Lassen wir diesen Posten hier seine Runde beenden und dann sollten wir ausreichend Zeit haben, nah an die Palisaden heranzukommen und hineinzuspähen.«

Sie warteten darauf, dass die gelangweilt aussehende Wache an ihnen vorbeiging. Ein paar Atemzüge später sagte Arthas: »Zieh deine Kapuze über.« Sie hatten beide blondes Haar, was die Soldaten viel zu leicht hätten ausmachen können. Jaina wirkte nervös, aber sie gehorchte. Glücklicherweise waren ihre Umhänge dunkel.

»Bereit?«

Sie nickte.

»Gut. Auf geht’s.«

Die beiden bewegten sich schnell und liefen leise den restlichen Weg hinab. Arthas hielt Jaina einen Augenblick lang zurück, bis der Wachtposten auf dem Turm in eine andere Richtung schaute, dann winkte er ihr. Sie liefen weiter, versicherten sich, dass ihre Kapuzen noch fest saßen, und ein paar Schritte weiter pressten sie sich gegen den Zaun des Lagers.

Die Palisaden waren einfach, aber effizient. Sie waren wenig mehr als Stämme, die zusammengebunden waren, oben angespitzt und tief in den Boden eingegraben. Es gab zahlreiche Ritzen in der »Mauer«, durch die ein neugieriger Junge und ein Mädchen schauen konnten.

Zuerst war es schwer, etwas zu erkennen. Drinnen standen offenbar mehrere große Gestalten. Arthas wandte seinen Kopf, um besser sehen zu können. Es waren allesamt Orcs. Einige lagen eingewickelt in Decken auf dem Boden. Andere gingen fast ziellos auf und ab, wie Tiere in Käfigen, wobei ihnen der spielerische Drang nach Freiheit der Tiere fehlte. Gegenüber stand eine Gruppe, die wie eine Familie wirkte. Ein Mann, eine Frau und ein Junges. Die Frau, leichter gebaut und kleiner als der Mann, hielt etwas Kleineres an die Brust gedrückt und Arthas erkannte, dass es ein Baby war.

»Oh«, flüsterte Jaina neben ihm. »Sie wirken so… traurig.«

Arthas schnaufte, dann erinnerte er sich daran, dass sie leise sein mussten. Er blickte schnell zum Turm hinauf, doch die Wache hatte nichts gehört.

»Traurig? Jaina, diese brutalen Kerle haben Sturmwind zerstört. Sie wollten die Menschheit ausrotten. Sie haben deinen Bruder getötet, beim Licht. Verschwende kein Mitleid an sie.«

»Aber trotzdem, irgendwie war mir nicht klar, dass sie… Kinder haben«, fuhr Jaina fort. »Siehst du den dort mit dem Baby?«

»Natürlich haben sie Kinder, selbst Ratten haben Kinder«, sagte Arthas. Er war irritiert, doch eigentlich hätte er so eine Reaktion von einem elfjährigen Mädchen erwarten müssen.

»Sie wirken so harmlos. Bist du dir sicher, dass sie hierher gehören?« Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, ein weißes Oval im Mondlicht, und wartete auf seine Antwort. »Es ist teuer, sie hierzubehalten. Vielleicht sollte man sie freilassen.«

»Jaina«, sagte er mit sanfter Stimme. »Das sind Mörder. Selbst wenn sie jetzt lethargisch sind, wer weiß schon, was passiert, wenn man sie freilässt?«

Sie seufzte leise in der Dunkelheit, antwortete aber nicht.

Arthas schüttelte den Kopf. Er hatte genug gesehen – die Wache würde bald zurück sein. »Sollen wir umkehren?«

Sie nickte und rannte schnell mit ihm auf den Hügel zu. Arthas blickte über die Schulter zurück und erkannte, dass die Wache gerade dabei war, sich umzudrehen. Er trieb Jaina vorwärts, fasste sie um die Hüfte, riss sie zu Boden und warf sich neben sie. »Keine Bewegung«, sagte er, »die Wache blickt genau in unsere Richtung!«

Trotz des harten Sturzes war Jaina so clever, augenblicklich regungslos zu verharren. Vorsichtig, mit dem Gesicht so weit wie möglich im Schatten, drehte Arthas den Kopf, um nach der Wache zu sehen. Er konnte nicht viel erkennen, doch die Haltung des Mannes deutete auf Langeweile und Müdigkeit hin. Nach einem langen Moment, in dem Arthas sein Herz pochen hörte, schaute die Wache in eine andere Richtung.

»Tut mir leid«, entschuldigte er sich und half Jaina wieder auf die Beine. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja«, sagte Jaina. Sie lächelte ihn an.

Kurze Zeit später waren sie zurück an ihrem Schlafplatz. Arthas blickte zu den Sternen und war rundum zufrieden.

Es war ein guter Tag gewesen.

Spät am nächsten Morgen kamen sie nach Dalaran. Arthas war niemals zuvor dort gewesen, obwohl er schon viel davon gehört hatte. Die Magier waren ein verschlossener, höchst geheimnisvoller und mächtiger Haufen, doch sie blieben unter sich, solange es nicht anders erforderlich war. Arthas erinnerte sich daran, wie Khadgar Anduin Lothar und Prinz – jetzt König – Varian Wrynn begleitet hatte, um Terenas vor der Bedrohung durch die Orcs zu warnen. Seine Anwesenheit hatte Anduins Argumenten Gewicht verliehen, und das aus gutem Grund. Die Magier der Kirin Tor mischten sich nicht leichtfertig in die Politik ein.

Genauso wenig machten sie politische Manöver oder nahmen Einladungen von Königen an, nur um deren Gastfreundschaft zu genießen. Nur weil er Jaina begleitete, die hier lernen wollte, erhielt Arthas und sein Gefolge Zutritt. Dalaran war wunderschön, noch herrlicher als die Hauptstadt. Alles erschien fast unmöglich sauber und hell, wie es sich für eine Stadt gehörte, die derart stark von Magie durchdrungen war. Es gab mehrere anmutige Türme, die sich in den Himmel streckten und deren Sockel aus weißem Stein bestand. Die Spitzen waren violett, von Gold umrahmt. Um einige tanzten förmlich leuchtende, schwebende Steine. Andere hatten Fenster aus Buntglas, die das Sonnenlicht einfingen. Gärten blühten, der Geruch von wilden, fantastischen Blumen erzeugte ein Aroma, das auf Arthas beinahe betäubend wirkte. Oder vielleicht war es auch die Magie in der Luft, die dieses Gefühl erzeugte.

Er fühlte sich sehr gewöhnlich und schäbig, als sie in die Stadt ritten, und fast wünschte er sich, sie hätten die letzte Nacht nicht draußen verbracht. Wenn sie in Mühlenbern übernachtet hätten, wäre vielleicht ein Bad möglich gewesen. Doch dann hätten er und Jaina keine Möglichkeit gehabt, sich an das Internierungslager heranzuschleichen.

Er blickte zu seiner Begleiterin. Ihre blauen Augen standen weit offen vor Ehrfurcht und Aufgeregtheit, ihre Lippen öffneten sich leicht. Sie wandte sich Arthas zu und lächelte ihn an.

»Habe ich nicht Glück, dass ich hier lernen darf?«

»Sicherlich«, sagte er und lächelte sie an. Sie nahm es auf wie ein Verdurstender Wasser nach einer Woche Fußmarsch durch die Wüste. Dennoch fühlte er sich hier weniger zu Hause. Im Gegensatz zu Jaina hatte er eindeutig keine besonders ausgeprägte Neigung zum Wirken von Magie.

»Mir wurde gesagt, dass Außenstehende normalerweise nicht willkommen sind«, sagte sie. »Ich meine, das ist eine Schande. Es wäre schön, dich wiederzusehen.«

Sie errötete, und einen Augenblick lang vergaß Arthas die beeindruckende Stadt und wusste tief in seinem Innern, dass auch er es schön finden würde, Lady Jaina Prachtmeer wiederzusehen.

Sehr schön sogar.


»Noch mal, kleines Gnomenmädchen! Ich ziehe dich an den Zöpfen… Uuuf!«

Der Schild erwischte den spottenden Zwerg im behelmten Gesicht und er taumelte tatsächlich ein, zwei Schritte zurück. Arthas schlug mit dem Schwert zu und lächelte unter seinem eigenen Helm. Doch dann flog er plötzlich durch die Luft und landete hart auf dem Rücken. Vor ihm tauchte ein Kopf mit einem langen Bart auf und er konnte kaum rechtzeitig die Klinge erheben, um den Schlag abzuwehren. Mit einem Grunzen zog er die Beine an die Brust, trat dann fest zu und erwischte Muradin am Bauch. Dieses Mal flog der Zwerg förmlich zurück. Arthas ließ die Beine sinken und stand in einer einzigen geschmeidigen Bewegung auf, griff seinen Lehrer an, der immer noch auf dem Boden lag, und sandte Schlag auf Schlag, bis Muradin die Worte sprach, von denen Arthas nie geglaubt hätte, sie zu hören.

»Ich gebe auf!«

Arthas musste sich anstrengen, um den Schlag nicht auszuführen, wobei er das Gleichgewicht verlor und stolperte.

Muradin lag reglos da, nur seine Brust hob und senkte sich.

Angst erfasste Arthas’ Herz. »Muradin? Muradin!«

Ein herzhaftes Lachen klang aus dem dicken Bronzebart. »Sehr gut, Junge, wirklich sehr gut!« Er kämpfte sich auf die Beine und Arthas reichte ihm die Hand. Muradin drückte sie glücklich. »So, also habt Ihr doch aufgepasst, als ich Euch meinen Spezialtrick verriet.«

Erleichtert und zufrieden lächelte Arthas. Einiges von dem, was Muradin ihn gelehrt hatte, würde in der Ausbildung zum Paladin wiederholt, verfeinert und verbessert werden. Doch andere Dinge… nun, er glaubte nicht, dass Uther, der Lichtbringer, sich zu festen Tritten in den Bauch herabließ oder die Effektivität einer zerbrochenen Weinflasche kannte. Es gab eben Kämpfen und Kämpfen, und Muradin Bronzebart schien bestrebt zu sein, Arthas Menethil alle Aspekte davon beizubringen.

Arthas war jetzt vierzehn Jahre alt und übte mit Muradin mehrere Male pro Woche, außer wenn der Zwerg auf diplomatischer Mission unterwegs war. Zuerst war die Ausbildung so verlaufen, wie beide Parteien gedacht hatten – schlecht. Arthas war aus dem ersten Dutzend Lehrstunden mit Beulen, blutig und hinkend herausgekommen. Er hatte stur jede Hilfe zur Heilung abgelehnt und bestand darauf, dass der Schmerz mit zur Ausbildung gehöre. Muradin hatte das befürwortet und Arthas noch härter rangenommen. Arthas beschwerte sich nie, nicht einmal, wenn er es wollte, nicht einmal, wenn Muradin ihn beschimpfte oder die Angriffe verstärkte, nachdem Arthas zu müde war, um auch nur den Schild zu halten.

Und für die störrische Weigerung, zu jammern oder aufzugeben, wurde er doppelt belohnt: Er lernte, lernte schnell, und er gewann den Respekt von Muradin Bronzebart.

»Oh ja, Sire, ich habe aufgepasst«, lachte Arthas.

»Guter Junge, guter Junge.« Muradin griff nach oben, um ihm auf die Schulter zu klopfen. »Jetzt ist es genug. Ihr habt heute einige Prügel eingesteckt, Ihr verdient ein wenig Ruhe.«

Seine Augen blitzten, als er das sagte, und Arthas nickte, als würde er zustimmen. Heute hatte Muradin Prügel eingesteckt. Und er schien genauso glücklich darüber zu sein wie Arthas. Das Herz des Prinzen füllte sich plötzlich mit Zuneigung für den Zwerg. Obwohl er ein strenger Lehrmeister war, war Muradin jemand, den Arthas schrecklich gern hatte.

Er pfiff, als er sich den königlichen Gemächern näherte, doch ein plötzlicher Wutausbruch ließ ihn abrupt stehen bleiben.

»Nein, Vater! Das werde ich nicht!«

»Calia, ich habe genug von dieser Unterredung. Du hast in dieser Sache nichts zu melden.«

»Papa, bitte, nicht!«

Arthas kam ein wenig näher an Calias Kammer heran. Die Tür war nur angelehnt und er hörte besorgt zu. Terenas redete mit Calia. Was in aller Welt wollte er von ihr, dass sie ihn derart anbettelte und sogar den väterlichen Kosenamen verwendete, den sie beide sich abgewöhnt hatten, seit sie erwachsen wurden?

Calia schluchzte. Arthas konnte es nicht mehr ertragen. Er öffnete die Tür. »Entschuldigung, doch ich konnte es nicht überhören… Was ist los?«

Terenas’ Handlungen hatten in letzter Zeit oft merkwürdig gewirkt. Und jetzt war er auf seine sechzehnjährige Tochter wütend.

»Das geht dich nichts an, Arthas«, polterte er. »Ich habe Calia erklärt, was ich von ihr verlange. Sie wird mir gehorchen.«

Calia brach schluchzend auf dem Bett zusammen. Arthas blickte erstaunt von seinem Vater zu seiner Schwester. Terenas murmelte etwas und stürmte hinaus. Arthas blickte zu Calia, dann folgte er seinem Vater.

»Vater, bitte, was ist denn los?«

»Frag nicht mich. Calias Pflicht ist es, ihrem Vater zu gehorchen.« Terenas schritt durch eine Tür in den Empfangsraum.

Arthas sah Lord Daval Prestor, einen jungen Adeligen, von dem Terenas eine hohe Meinung hatte, zusammen mit zwei Magiern aus Dalaran, die er nicht kannte.

»Geh zurück zu deiner Schwester, Arthas, und versuche sie zu beruhigen. Ich bin so schnell ich kann bei euch, ich verspreche es.«

Mit einem letzten Blick auf die drei Besucher nickte Arthas und kehrte zurück in Calias Kammer.

Seine ältere Schwester hatte sich nicht von der Stelle bewegt, obwohl ihr Schluchzen leiser geworden war. Völlig hilflos hockte sich Arthas einfach neben sie aufs Bett und fühlte sich schlecht.

Calia setzte sich auf, ihr Gesicht war nass. »Es tut mir leid, d-dass du das mit ansehen musstest, Arthas, doch v-vielleicht ist es so das Beste.«

»Was will Vater denn von dir?«

»Er will, dass ich gegen meinen Willen heirate.«

Arthas blinzelte. »Calia, du bist erst sechzehn, du bist nicht mal alt genug, um zu heiraten.«

Sie griff nach einem Taschentuch und tupfte sich damit die geschwollenen Augen. »Das habe ich auch gesagt. Doch Vater meint, das sei egal. Wir machen die Verlobung offiziell und an meinem Geburtstag heirate ich Lord Prestor.«

Arthas’ meergrüne Augen weiteten sich, als er begriff. Deshalb also war Lord Prestor hier…

»Nun«, begann er ungeschickt, »er hat sehr gute Beziehungen und… ich glaube, er sieht gut aus. Das sagt jeder. Immerhin ist er kein alter Mann.«

»Du verstehst nicht, Arthas. Mir ist es egal, wie gut seine Verbindungen sind oder wie schön oder auch nett er ist. Es geht darum, dass ich gar keine Wahl habe. Ich bin… ich bin wie ein Pferd. Mich wegzugeben, passt Vater einfach in den Kram – um ein politisches Geschäft zu machen.«

»Du… du liebst Prestor nicht?«

»Ihn lieben?« Ihre geröteten Augen verengten sich vor Wut. »Ich kenne ihn doch kaum! Er hat doch nie auch nur das Geringste… ach, was soll das denn? Ich weiß, dass es gängige Praxis unter Königen und Adeligen ist. Dass wir nur ein Pfand sind. Doch ich habe nie geglaubt, dass Vater…«

Das hatte Arthas auch nicht. Er hatte sich nie ernsthaft mit dem Gedanken einer Heirat beschäftigt, egal, ob es um ihn oder seine Schwester ging. Er hatte mehr Interesse daran, mit Muradin zu üben und auf Invincible zu reiten. Doch Calia hatte recht. Es war üblich, unter den Adeligen gute Ehen zu schließen, um den politischen Status zu festigen.

Er hätte nur niemals gedacht, dass sein Vater seine Tochter wie… wie eine Zuchtstute verkaufen würde.

»Calia, es tut mir wirklich leid«, sagte er und meinte es ehrlich. »Gibt es jemand anderen? Vielleicht kannst du Vater überreden, dass es einen besseren Kandidaten gibt – einen, der auch dich glücklich macht.«

Calia schüttelte bitter den Kopf. »Es hat keinen Sinn. Du hast ihn gehört. Er hat mich nicht gefragt, hat mir Lord Prestor nicht vorgeschlagen – er hat ihn mir befohlen.« Sie blickte ihn bitter an. »Arthas, wenn du König bist, versprich mir – versprich mir, dass du das deinen Kindern nicht antust.«

Kinder? Arthas wäre von selbst nie darauf gekommen, darüber nachzudenken. Es gab nicht einmal – nun ja, doch, es gab jemanden, aber er hatte an sie nie derart…

»Und wenn du heiratest – Papa kann es dir nicht befehlen, so wie mir. Stell sicher, dass dir dieses Mädchen etwas bedeutet und… und dass du ihr etwas bedeutest. Oder dass sie zumindest gefragt wird, mit wem sie ihr Leben und ihr… Bett teilen will.«

Sie begann erneut zu weinen, doch Arthas war von den Ereignissen, die gerade über ihn hereinbrachen, zu erschüttert. Er war erst vierzehn Jahre alt, doch in vier kurzen Jahren war er im heiratsfähigen Alter. Er erinnerte sich plötzlich an Gesprächsfetzen, die er hier und da über die Zukunft des Hauses Menethil aufgeschnappt hatte. Seine Frau würde die Mutter von Königen sein. Er musste sorgfältig wählen. Doch ebenso würde er, wie Calia es gefordert hatte, besonnen vorgehen. Seine Eltern bedeuteten einander offensichtlich viel. Das erkannte man an ihrem Lächeln und den kleinen Gesten, trotz der vielen Ehejahre. Arthas wollte auch so etwas. Er wollte eine Gefährtin, eine Freundin, eine…

Er runzelte die Stirn. Was war, wenn er das nicht haben konnte? »Es tut mir leid, Calia, doch vielleicht bist du die Glücklichere von uns beiden. Es wäre schlimm, wenn man zwar die Freiheit der Wahl hätte, aber dennoch wüsste, dass man nicht das haben kann, was man haben möchte…«

»Dieses Los würde ich augenblicklich gegen das Dasein als ein… ein Stück Fleisch eintauschen.«

»Wir haben alle unsere Pflichten, glaube ich«, sagte Arthas düster. »Du musst heiraten, wen Vater für dich aussucht, und ich muss diejenige heiraten, die gut für das Königreich ist.« Er stand plötzlich auf. »Es tut mir leid, Calia.«

»Arthas – wo gehst du hin?«

Er antwortete nicht, sondern rannte praktisch durch den Palast zu den Ställen. Ohne auf einen Stallknecht zu warten, sattelte er Invincible schnell selbst. Arthas wusste, dass es nur eine Lösung auf Zeit war. Doch er war vierzehn Jahre alt und eine Lösung auf Zeit war immer noch eine Lösung.

Er beugte sich über Invincibles Rücken und die weiße Mähne fuhr ihm übers Gesicht, als das Pferd angaloppierte. Für ihn bestand es nur aus geschmeidigen Muskeln und Anmut. Arthas musste lächeln. Er war niemals glücklicher als während seiner Ausritte mit Invincible, wenn sie beide sich zu einem herrlichen Ganzen vereinten. Er hatte gewartet, seine Geduld auf die Probe gestellt. So lange hatte es gedauert, bis er das Tier, bei dessen Geburt er dabei gewesen war, reiten durfte.

Doch es war das Warten wirklich wert gewesen. Sie bildeten ein perfektes Team. Invincible wollte nichts von ihm, erwartete nichts von ihm. Ihm reichte es, aus dem Stall hinauszukommen, so wie Arthas der Enge seines königlichen Daseins entfliehen wollte. Also taten sie es gemeinsam.

Sie näherten sich einer Sprungstelle, die Arthas inzwischen liebte. Im Osten der Hauptstadt, nah bei Balnirs Gehöft, gab es ein paar kleinere Hügel. Invincible preschte vor, die Erde wurde unter den trommelnden Hufen aufgewühlt, und er galoppierte den Anstieg zum Felshang hinauf, als würde er sich auf ebenem Boden befinden. Invincible donnerte den schmalen Pfad entlang und wirbelte mit den Hufen Steine auf. Sein Herz und das von Arthas rasten beide vor Erregung. Dann lenkte Arthas den Hengst nach links, über die Böschung – eine Abkürzung zu Balnirs Hof.

Invincible zögerte nicht, hatte auch nicht beim allerersten Mal gezögert, als Arthas ihn springen ließ.

Das Pferd sammelte sich und schoss vorwärts, und einen wunderbaren Augenblick lang waren Ross und Reiter in der Luft.

Dann landeten sie sicher auf dem weichen, federnden Gras.

Invincible – unbesiegbar.

4

»Wie Ihr sehen könnt, Euer Hoheit«, sagte Generalleutnant Aedelas Schwarzmoor, »werden die Steuern gut genutzt. Es wurden alle notwendigen Vorkehrungen getroffen. Die Sicherheit ist so hoch, dass wir hier sogar Gladiatorenkämpfe abhalten können.«

»Davon habe ich gehört«, sagte Arthas, während er das Gelände mit dem Kommandeur des Internierungslagers inspizierte. Durnholde war kein richtiges Internierungslager, sondern bildete das Verteilungszentrum für alle anderen. Es war groß und verbreitete tatsächlich eine feierliche Atmosphäre an diesem frischen, aber sonnigen Herbsttag. Der Wind peitschte die blauen und weißen Banner, die über der Burg wehten, zerzauste Schwarzmoors lange rabenschwarze Haare und zerrte an Arthas’ Umhang, während sie über die Mauer flanierten.

»Und Ihr sollt sie auch sehen«, versprach Schwarzmoor und schenkte seinem Prinzen ein einnehmendes Lächeln.

Es war Arthas’ Idee gewesen, dem Lager einen Überraschungsbesuch abzustatten. Terenas hatte Arthas für seine Initiative und sein Mitgefühl gelobt. »Es ist nur richtig, Vater«, hatte Arthas erwidert und dies auch so gemeint – wenngleich sein hauptsächlicher Grund der Orc war, den sich der Generalleutnant hielt. »Wir sollten sicherstellen, dass das Geld in die Lager fließt und nicht in Schwarzmoors Taschen. Wir können uns vergewissern, ob er sich ordentlich um die Gladiatorenkämpfer kümmert, und sicherstellen, dass er nicht den Weg seines Vaters einschlägt.«

Schwarzmoors Vater, General Aedelyn Schwarzmoor, war ein berüchtigter Verräter gewesen. Er war verurteilt worden, weil er Staatsgeheimnisse verkauft hatte. Obwohl die Verbrechen schon lange zurücklagen – sein Sohn war damals noch ein Kind gewesen –, hatte die Schande den jungen Schwarzmoor seine gesamte Militärlaufbahn hindurch verfolgt. Nur durch seine Erfolge in der Schlacht und seine Verbissenheit im Kampf gegen die Orcs war es ihm möglich gewesen, im Rang aufzusteigen. Dennoch bemerkte Arthas die Alkoholfahne im Atem des Mannes, und das zu dieser frühen Morgenstunde. Er vermutete, dass Terenas davon wusste, wollte es seinem Vater aber dennoch berichten.

Arthas blickte nach unten und heuchelte Interesse, als er die aufmerksamen Wachposten beobachtete. Er fragte sich, ob sie erkannten, dass ihr zukünftiger König sie gar nicht beachtete.

»Ich freue mich schon auf den Kampf heute«, sagte er. »Werde ich Euren Thrall in Aktion erleben? Ich habe schon einiges von ihm gehört.«

Schwarzmoor lächelte, sein Mund öffnete sich und entblößte tadellos weiße Zähne. »Eigentlich sollte er heute nicht kämpfen, aber für Euch, Euer Hoheit, werde ich ihn gegen die fähigsten Gegner antreten lassen.«

Zwei Stunden später war der Rundgang beendet und Arthas nahm ein schmackhaftes Mahl mit Schwarzmoor und einem jüngeren Mann namens Lord Karramyn Langstein ein, den Schwarzmoor als seinen »Protegé« vorstellte. Arthas mochte Langstein instinktiv nicht. Ihm missfielen die weichen Hände des Mannes und sein kraftloses Auftreten.

Schwarzmoor hatte für seinen Titel wenigstens gekämpft. Diesem Jungen – er hielt ihn für einen Jungen, obwohl Langstein älter als Arthas mit seinen siebzehn Jahren war – war hingegen alles auf dem Silbertablett serviert worden.

So wie mir, überlegte er. Doch er wusste auch, welche Opfer von einem König verlangt wurden. Langstein wirkte, als würde er sich im Leben niemals etwas verweigern. So wie jetzt, als er sich das erlesenste Fleisch, das raffinierteste Gebäck und mehr als nur ein Glas Wein gönnte, um das alles herunterzuspülen. Schwarzmoor dagegen aß sparsam, obwohl er mehr Alkohol als Langstein trank.

Arthas’ Abneigung gegen die beiden verstärkte sich, als eine Dienerin eintrat und Schwarzmoor besitzergreifend seinen Arm um sie legte. Das blonde Mädchen war schlicht gekleidet und besaß ein Gesicht, das keinerlei Kosmetik brauchte, um schön zu wirken. Sie lächelte, als würde es ihr gefallen. Doch Arthas bemerkte ein Aufblitzen von Traurigkeit in ihren blauen Augen.

»Das ist Taretha Foxton«, sagte Schwarzmoor, wobei eine Hand weiter den Arm des Mädchens berührte, während sie die Teller einsammelte. »Die Tochter meines persönlichen Dieners Tammis, den Ihr bestimmt später noch kennenlernen werdet.«

Arthas schenkte dem Mädchen sein gewinnendstes Lächeln. Sie erinnerte ihn ein wenig an Jaina – ihr Haar wurde von der Sonne zum Leuchten gebracht, ihre Haut war gebräunt. Sie lächelte flüchtig zurück. Dann blickte sie ernst zur Seite, während sie die Teller aufnahm, und machte einen kurzen Knicks, bevor sie ging.

»So eine habt Ihr bald auch, mein Freund«, sagte Schwarzmoor und lachte. Es dauerte einen Moment, bis Arthas verstand, was er meinte, dann blinzelte er erschrocken. Die beiden Männer lachten lauter und Schwarzmoor hob sein Glas zu einem Trinkspruch.

»Auf die blonden Mädchen«, sagte er mit schwankender Stimme. Arthas schaute Taretha an, dachte an Jaina und zwang sich, den anderen zuzuprosten.


Eine Stunde später hatte Arthas Taretha Foxton und seine Empörung vergessen. Seine Stimme war heiser vom Schreien, seine Hände schmerzten vom Klatschen und er amüsierte sich königlich.

Zuerst hatte er sich ein wenig unbehaglich gefühlt. Die ersten paar Kämpfer waren einfache Tiere gewesen, die gegeneinander antraten. Sie kämpften eigentlich grundlos bis zum Tod, nur zur Freude der Zuschauer. »Wie werden sie vor den Kämpfen behandelt?«, hatte Arthas gefragt. Er liebte Tiere, es missfiel ihm, mit anzusehen, wie sie derart benutzt wurden.

Langstein hatte den Mund geöffnet, doch Schwarzmoor ließ ihn mit einer schnellen Geste verstummen. Er hatte gelacht, sich auf seiner Liege zurückgelehnt und ein paar Trauben gegessen. »Nun, wir wollen natürlich, dass sie auf dem Gipfel ihrer Kampfkraft stehen«, hatte er gesagt. »Also werden sie gefangen und recht gut behandelt. Und wie Ihr sehen könnt, geht eine Runde schnell vorbei. Wenn ein Tier überlebt und nicht mehr kampffähig ist, schlachten wir es ganz barmherzig.«

Arthas hoffte, dass der Mann ihn nicht angelogen hatte. Ein unangenehmes Gefühl im Magen sagte ihm, dass Schwarzmoor vielleicht doch log, aber er ignorierte es. Das Gefühl verschwand, als die Kämpfe Mensch gegen Tier begannen. Während er gebannt zusah, sagte Schwarzmoor: »Die Männer werden gut bezahlt. Sie sind sogar kleine Berühmtheiten.«

Das galt aber nicht für den Orc. Und Arthas wusste und billigte es. Darauf hatte er gewartet – auf die Gelegenheit, Schwarzmoors Orc zu sehen, der als Kind gefunden und zum Kämpfer erzogen worden war.

Er wurde nicht enttäuscht. Offensichtlich hatte alles bisher Dagewesene nur zum Anheizen der Massen gedient. Als sich die Türen öffneten und eine große grüne Gestalt vortrat, sprangen alle auf und brüllten.

Überrascht stellte Arthas fest, dass er keine Ausnahme bildete.

Thrall war riesig und er erschien sogar noch größer, weil er offensichtlich so viel gesünder und kampfbereiter war als all seine Artgenossen, die Arthas im Lager gesehen hatte. Er trug nur wenig Rüstung und keinen Helm. Die grüne Haut spannte sich über seinen Muskeln. Er stand auch aufrechter als die anderen. Der Jubel war ohrenbetäubend. Thrall ging im Ring herum, hob seine Fäuste und wandte sein hässliches Gesicht nach oben, als er mit Rosenblättern überworfen wurde, die normalerweise für Feiertage reserviert waren.

»Das habe ich ihm beigebracht«, sagte Schwarzmoor stolz. »Es ist eine merkwürdige Sache, wirklich. Die Menge jubelt ihm zu, dennoch hofft sie jedes Mal, dass er besiegt wird.«

»Hat er je einen Kampf verloren?«

»Niemals, Euer Hoheit. Das wird er auch nicht. Dennoch hoffen die Leute darauf und das Geld fließt weiter.«

Arthas sah ihn an. »Solange die Staatskasse ihren korrekten Anteil davon bekommt, Generalleutnant, wird Euch gestattet, mit den Spielen fortzufahren.« Er wandte sich wieder dem Orc zu und beobachtete, wie er seine Runde beendete. »Er… ist doch völlig unter Kontrolle, oder?«

»Absolut«, sagte Schwarzmoor schnell. »Er ist unter Menschen aufgewachsen und ihm wurde beigebracht, uns zu fürchten und zu respektieren.«

Als hätte er die Bemerkung gehört, was über das donnernde Gebrüll der Masse nicht möglich war, wandte sich Thrall der Stelle zu, wo Arthas, Schwarzmoor und Langstein saßen. Er schlug zum Gruß vor seine Brust und verneigte sich dann tief.

»Seht Ihr? Ganz meine Kreatur«, sagte Schwarzmoor. Er erhob sich und gab mit einer Flagge ein Zeichen. Auf der gegenüberliegenden Seite beantwortete ein kräftig gebauter rothaariger Mann das Signal mit einer anderen Fahne.

Thrall wandte sich dem Tor zu und umfasste die schwere Kriegsaxt, die in dieser Runde seine Waffe war.

Die Wachen begannen damit, das Tor anzuheben. Doch noch bevor es ganz geöffnet war, stürmte ein Bär vor, der genauso groß war wie Invincible. Seine Nackenhaare waren gesträubt und er schoss genau auf Thrall zu, als wäre er aus einer Kanone abgefeuert worden. Sein Knurren war selbst über das Brüllen der Menge zu hören.

Thrall blieb ungerührt stehen, trat erst im letzten Moment zur Seite und schlug mit der gewaltigen Axt zu, als würde sie nichts wiegen. Sie riss eine große Wunde in die Flanke des Bären. Das Tier brüllte vor Schmerzen, wirbelte herum und verspritzte Blut. Erneut blieb der Orc stehen, lauerte auf den Ballen seiner Füße, bis er sich mit einer Geschwindigkeit bewegte, die seine Größe Lügen strafte. Er traf den Bären frontal, verhöhnte ihn mit seiner gutturalen Stimme, die perfekt die Umgangssprache beherrschte, und schlug mit der Axt zu. Der Kopf des Bären wurde fast abgetrennt, doch er lief noch ein paar Augenblicke weiter, bevor er als zuckendes Bündel zusammenbrach.

Thrall warf den Kopf zurück und brüllte seinen Sieg hinaus. Die Menge raste. Arthas verfolgte alles sprachlos.

Soweit er es beurteilen konnte, hatte der Orc nicht einen Kratzer abbekommen. Der brutale Krieger war nicht einmal außer Atem.

»Das war nur die Eröffnung«, sagte Schwarzmoor und lächelte angesichts Arthas’ Reaktion. »Als Nächstes werden ihn drei Menschen angreifen. Er ist zudem dadurch eingeschränkt, dass er sie nicht töten darf, sondern nur besiegen. Das wird eher ein taktischer Kampf als eine rohe Metzelei. Doch ich bin stolz, dass ich erleben konnte, wie er einen Bären mit einem Schlag enthauptete.«

Drei menschliche Gladiatoren, allesamt große, muskelbepackte Männer, kamen in die Arena und grüßten ihren Gegner und die Zuschauer. Arthas bemerkte, wie Thrall sie abschätzte, und fragte sich, ob es wirklich eine schlaue Idee von Schwarzmoor war, ihn zu so einem herausragenden Kämpfer auszubilden. Wenn Thrall jemals floh, konnte er diese Fähigkeiten anderen Orcs vermitteln. Es war möglich, trotz der erhöhten Sicherheitsvorkehrungen. Wenn Orgrim Schicksalshammer aus der Unterstadt entkommen war, die mitten im Herzen des Palastes lag, dann konnte Thrall auch aus Durnholde fliehen.


Der Staatsbesuch dauerte fünf Tage. Eines späten Abends kam Taretha Foxton und besuchte den Prinzen in seinen Privatgemächern. Es verwirrte ihn, dass seine Diener nicht auf das zaghafte Klopfen an der Tür reagierten, und er war noch erstaunter, das blonde Mädchen mit einem Tablett voller Köstlichkeiten zu sehen. Sie hatte den Blick gesenkt, doch ihr Kleid enthüllte so viel, dass er nicht sofort sprach,

Sie machte einen Knicks. »Milord Schwarzmoor hat mich hergeschickt, um Euch etwas anzubieten«, sagte sie. Ihre Wangen waren gerötet. Arthas war verwirrt.

»Ich… übermittle deinem Herrn meinen Dank, auch wenn ich nicht hungrig bin. Und ich frage mich, was er mit meinen Dienern gemacht hat.«

»Sie wurden eingeladen, mit den anderen Bediensteten zu essen«, erklärte Taretha. Sie sah immer noch nicht auf.

»Ich verstehe. Nun, das ist sehr freundlich vom Generalleutnant. Ich bin mir sicher, die Männer wissen es zu schätzen.«

Sie bewegte sich nicht.

»Ist noch irgendetwas, Taretha?«

Das Rot ihrer Wangen wurde intensiver und sie hob den Blick. Sie schaute gelassen und schicksalsergeben. »Milord Schwarzmoor hat mich hiermit hergeschickt, um Euch etwas anzubieten«, wiederholte sie. »Vielleicht möchtet Ihr ja etwas davon genießen.«

Plötzlich begriff er. Er verstand, gleichzeitig war er verlegen, irritiert und wütend. Nur mit Mühe beruhigte er sich – es war ja nicht der Fehler des Mädchens, eigentlich wurde sie missbraucht.

»Taretha«, sagte er. »Ich nehme das Essen mit Dank an. Ich brauche sonst nichts.«

»Euer Hoheit, ich fürchte, er besteht darauf.«

»Sagt ihm, ich hätte gesagt, es sei in Ordnung.«

»Sire, Ihr versteht nicht. Wenn ich zurückkomme…«

Er blickte auf ihre Hände, die das Tablett hielten, auf das lange Haar. Arthas trat auf sie zu, schob das Haar zur Seite und runzelte die Stirn angesichts der bräunlich-blauen Male an ihren Handgelenken und am Hals.

»Ich verstehe«, sagte er. »Dann komm herein.« Nachdem sie eingetreten war, schloss er die Tür und wandte sich ihr zu.

»Bleib, solange du willst, dann geh zurück zu ihm. In der Zwischenzeit kann ich das alles unmöglich allein essen.« Er winkte sie zu sich und setzte sich ihr gegenüber, aß etwas Gebäck und lächelte sie an.

Taretha blinzelte zurück. Es dauerte einen Moment, bis sie verstand, was er gesagt hatte. Dann zeigte sich vorsichtige Erleichterung und Dankbarkeit auf ihrem Gesicht und sie goss den Wein ein. Kurze Zeit später antwortete sie schon mit mehr als nur ein paar höflichen Worten auf seine Fragen.

Sie verbrachten die nächsten Stunden mit Reden, bevor sie übereinkamen, dass es an der Zeit sei, zurückzugehen. Als sie das Tablett aufnahm, wandte sie sich ihm zu.

»Euer Hoheit – ich bin froh, dass unser nächster König solch ein Herz hat. Die Dame, die Ihr zu Eurer Königin machen werdet, wird eine glückliche Frau sein.«

Er lächelte, schloss die Tür hinter ihr und lehnte sich noch einen Augenblick dagegen.

Die Dame, die er zu seiner Königin machte. Er erinnerte sich an das Gespräch mit Calia. Zum Glück für seine Schwester hatte Terenas Zweifel an Prestor bekommen – nichts, was sich beweisen ließ, doch ausreichend, um seine Meinung zu überdenken.

Arthas war fast in demselben Alter – ein Jahr älter, als Calia damals gewesen war. Er vermutete, dass er früher oder später daran denken musste, eine Königin zu finden.


Die Kälte des Winters lag in der Luft. Die letzten warmen Tage des Herbstes waren vorbei und die Bäume, einst golden und rot, wirkten nun wie Skelette, die sich gegen den Himmel abzeichneten. In ein paar Monaten würde Arthas seinen neunzehnten Geburtstag feiern und in den Orden der Silbernen Hand aufgenommen werden.

Und er war mehr als bereit dazu. Seine Ausbildung bei Muradin hatte er vor ein paar Monaten beendet und begonnen, mit Uther zu trainieren. Die Übungen waren anders, aber dann doch auch wieder ähnlich. Muradin hatte ihn Aufmerksamkeit gelehrt und den Willen, einen Kampf um jeden Preis zu gewinnen.

Die Paladine hatten eine rituellere Art, den Kampf anzugehen. Sie war stärker auf die Einstellung fokussiert, mit der man in die Schlacht zog, als auf die Mechaniken des Schwertkampfs. Arthas fand beide Formen nützlich, obwohl er sich zu fragen begann, ob er jemals das Erlernte in einem echten Kampf würde einsetzen können.

Normalerweise wäre jetzt Gebetsstunde gewesen, doch sein Vater war auf einem diplomatischen Besuch in Stromgarde und Uther begleitete ihn. Deshalb hatte Arthas für ein paar Tage die Nachmittage frei und er wollte sie nicht vergeuden, selbst wenn das Wetter nicht so gut war. Er saß locker und geübt auf Invincible, als sie über die Wiesen galoppierten. Der wenige Schnee behinderte das Tier nicht. Als Invincible seinen Kopf hochwarf und schnaubte, konnte Arthas seinen eigenen Atem und den des großen Tieres sehen.

Es begann wieder zu schneien, doch diesmal nicht in sanften, dicken Flocken, die langsam zu Boden schwebten. Stattdessen waren es kleine, aber feste Kristalle, die in die Haut stachen. Arthas runzelte die Stirn und trieb sein Pferd an. Ein wenig weiter noch, dann würde er umkehren, sagte er sich selbst. Er könnte sogar an Balnirs Hof Rast machen. Es war schon eine Weile her, seit er das letzte Mal dort gewesen war. Jorum und Jarim würden sicherlich gern das prächtige Pferd sehen, das aus dem unbeholfenen Fohlen geworden war.

Einmal gedacht, wollte der Gedanke nicht wieder verschwinden. Arthas befahl Invincible mit einem leichten Druck seiner Beine, sich umzudrehen. Das Pferd wendete gehorsam, völlig im Einklang mit den Wünschen seines Herrn. Der Schnee fiel weiter und kleine Nadeln stachen in die freiliegende Haut. Arthas zog zum Schutz den Umhang über den Kopf. Invincible schüttelte den Schädel. Die Eiskristalle zwickten ihn wie die Insekten im Sommer. Er galoppierte den Pfad hinunter, streckte den Hals vor und genoss den Ritt genauso sehr wie Arthas.

Bald schon erreichten sie den Anstieg und kurz dahinter warteten ein warmer Stall auf das Pferd und eine heiße Tasse Tee auf den Reiter, bevor sie zum Palast zurückkehren würden. Arthas’ Gesicht wurde allmählich vor Kälte beinahe taub. Seinen Fingern ging es in den feinen Lederhandschuhen nicht viel besser. Er umfasste die Zügel mit den kalten Händen, zwang seine Finger, sich zu biegen, und riss sich selbst zusammen, als Invincible sprang – nein, überlegte er, flog –, sie flogen über den Absprung wie…

Nur flogen sie gar nicht. In allerletzter Sekunde überkam Arthas ein scheußliches Gefühl, als Invincibles Hinterhufe auf dem eisigen Stein ausrutschten. Das Pferd wieherte, seine Beine versuchten panisch, sicheren Halt zu finden. Arthas’ Kehle war plötzlich trocken und er erkannte, dass er schrie, als schartiger Stein und nicht das weiche, schneebedeckte Gras herannahte und sie mit tödlicher Geschwindigkeit dagegenprallten. Er zerrte an den Zügeln, als könnte er etwas dagegen tun…

Ein Geräusch durchdrang seine Benommenheit. Er blinzelte und erwachte aus der Ohnmacht, als der markerschütternde Schmerzensschrei eines Tieres in sein Hirn drang. Zuerst konnte er sich nicht bewegen, weil sein Körper bebte. Dann versuchte er, von den schrecklichen Schreien fortzukommen. Schließlich konnte er sich aufsetzen. Schmerz durchfuhr ihn und sein eigenes Keuchen ergänzte den fürchterlichen Missklang. Wahrscheinlich hatte er sich eine oder mehrere Rippen gebrochen.

Der Schneefall wurde stärker, schwer und dicht. Er konnte kaum einen Meter weit sehen. Arthas verdrängte den Schmerz, drehte den Kopf und blickte zu…

… Invincible. Seine Blicke wurden förmlich von dessen Bewegung und der sich ausbreitenden roten Lache, die den Schnee schmolz und in der Kälte dampfte, angezogen.

»Nein«, flüsterte Arthas und kämpfte sich auf die Beine. Die Welt wurde an den Rändern schwarz und er verlor beinahe wieder das Bewusstsein. Doch mit purer Willenskraft kämpfte er dagegen an. Langsam arbeitete er sich zu dem panischen Tier vor, ging erneut gegen den Schmerz an, den heulenden Wind und den Schnee, gegen alle Gewalten, die ihn umzuwerfen drohten.

Invincible wühlte den blutigen Schnee mit seinen beiden unverletzten kräftigen Hinterläufen und den beiden zerschmetterten Vorderbeinen auf. Arthas spürte, wie sich ihm der Magen beim Anblick der Gliedmaßen, die einst so lang und kraftvoll gewesen waren, umdrehte. Doch nun standen sie in merkwürdigen Winkeln ab, als Invincible aufzustehen versuchte und es nicht schaffte. Dann verwischten der Schneefall und heiße Tränen, die seine Wangen hinunterliefen, gnädigerweise diesen Anblick.

Er kämpfte sich zu seinem Pferd durch, schluchzte, fiel auf die Knie und versuchte… was zu tun? Das war kein Kratzer, den man schnell verbinden konnte, um Invincible dann in den warmen Stall zu bringen und die Wunde mit heißem Brei zu versorgen. Arthas griff nach dem Kopf des Tieres, wollte es berühren und irgendwie beruhigen. Doch Invincible war verrückt vor Schmerz. Und er schrie immer noch.

Hilfe. Es gab Priester und Sire Uther – vielleicht konnten sie ihn heilen…

Ein Schmerz, weitaus schlimmer als jede körperliche Qual, durchfuhr den jungen Mann. Der Bischof war mit Arthas’ Vater nach Stromgarde gereist, ebenso Uther. Vielleicht gab es einen Priester in einem anderen Dorf, doch Arthas wusste nicht, wo, und in diesem Sturm…

Er schreckte von dem Tier zurück, hielt sich die Ohren zu und schloss die Augen. Dabei schluchzte er so stark, dass sein ganzer Körper bebte. Im tobenden Sturm würde er nie einen Heiler finden, bevor Invincible entweder an seinen Verletzungen starb oder erfror. Arthas war sich nicht einmal sicher, ob er Balnirs Gehöft finden würde, auch wenn es nicht weit entfernt sein konnte. Die ganze Welt war weiß, außer dort, wo das sterbende Pferd, das ihm so sehr vertraut hatte und von einer vereisten Böschung gesprungen war, in einer dampfenden roten Lache lag.

Arthas wusste, was er tun musste, doch er konnte es nicht.

Später konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie lange er dort gesessen hatte, weinend, im Versuch, die Geräusche und den Anblick seines geliebten Pferdes auszublenden, bis sich schließlich Invincibles Kampf ums Überleben verlangsamte. Er lag auf dem Schnee, seine Flanken hoben und senkten sich, seine Augen verdrehten sich vor Schmerz.

Arthas konnte weder das Gesicht noch die Glieder spüren. Doch irgendwie schaffte er es, sich dem Tier zu nähern. Jeder Atemzug war eine Qual und er hieß den Schmerz willkommen. Es war sein Fehler gewesen. Sein Fehler.

Er legte den großen Kopf des Pferdes in seinen Schoß und für einen kurzen, barmherzigen Moment saß er nicht im Schnee mit einem verwundeten Tier, sondern in einem Stall, wo eine Zuchtstute ein Fohlen gebar. In diesem Moment begann alles gerade erst und kam nicht zu diesem entsetzlichen, fürchterlichen, vermeidbaren Ende.

Seine Tränen fielen auf die breiten Wangen des Pferdes. Invincible zitterte, seine braunen Augen waren weit aufgerissen vor nunmehr stummer Qual. Arthas zog die Handschuhe aus und strich mit der Hand über das rosagraue Maul. Dabei spürte er die Wärme von Invincibles Atem an seiner Hand. Dann nahm er langsam den Kopf des Pferdes von seinem Schoß, stand auf und griff mit seiner warmen Hand nach dem Schwert. Er sank in die rote Lache geschmolzenen Schnees ein, als er sich über das gestürzte Tier beugte.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Es tut mir so leid.«

Invincible betrachtete ihn ruhig, vertrauensvoll, als würde er irgendwie verstehen, was geschehen würde und dass es sein musste. Das war mehr, als Arthas ertragen konnte, und einen Augenblick lang ertrank die Welt erneut in Tränen. Er kämpfte darum, sie zu unterdrücken.

Arthas hob das Schwert und stieß damit zu.

Er machte es richtig, immerhin, wenigstens das konnte er. Er durchstieß Invincibles großes Herz mit einem einzigen Stoß, mit Armen, die dafür eigentlich zu ausgekühlt hätten sein müssen.

Er spürte, wie das Schwert Haut und Fleisch durchdrang, an den Knochen schabte und sich in den Boden darunter bohrte. Invincible krümmte sich einmal, dann erzitterte er und bewegte sich nicht mehr.

Jorum und Jarim fanden Arthas einige Zeit später, nachdem der Schneefall nachgelassen hatte, angeschmiegt an den auskühlenden Körper des einst herrlichen Tiers, das vor Leben und Kraft nur so gestrotzt hatte. Als der ältere Mann sich zu ihm herabbeugte, schrie Arthas vor Schmerz auf.

»Tut mir leid«, sagte Jorum, seine Stimme war fast unerträglich freundlich. »Weil ich Euch wehgetan habe und wegen des Unfalls.«

»Ja«, sagte Arthas schwach, »der Unfall. Er hat den Halt verloren.«

»Das ist kein Wunder bei diesem Wetter. Der Sturm kam sehr schnell. Ihr habt Glück, dass Ihr noch lebt. Kommt – wir bringen Euch nach drinnen und schicken jemanden zum Palast.«

Als er sich im festen Griff des Pferdezüchters befand, sagte Arthas: »Begrabt ihn… hier. Damit ich ihn besuchen kann.«

Balnir warf seinem Sohn einen Blick zu, dann nickte er. »Aye, natürlich. Er war ein edles Pferd.«

Arthas drehte sich um und betrachtete das tote Tier, das er Invincible getauft hatte. Er würde sie alle in dem Glauben lassen, dass es ein Unfall gewesen war, denn er konnte es nicht ertragen, jemandem die Wahrheit zu sagen.

Dann tat er einen Schwur. Sollte je jemand Schutz brauchen oder mussten je Opfer für das Wohl anderer gebracht werden, dann würde er dazu bereit sein.

Ganz egal, was es mich kosten wird, dachte er.

5

Der Sommer stand in voller Blüte, und die Sonne brannte unbarmherzig auf seine königliche Hoheit Prinz Arthas Menethil herab, der durch Sturmwinds Straßen ritt. Er war schlechter Laune, obwohl er sein ganzes Leben auf diesen Tag gewartet hatte. In der Rüstung war es kaum auszuhalten vor Hitze und Arthas fürchtete, zu Tode geröstet zu werden, noch bevor er die Kathedrale erreichte. Auf seinem neuen Schlachtross musste er immerzu daran denken, dass sein Pferd – obwohl kraftvoll, gut ausgebildet und wohlerzogen – nicht Invincible war, der vor wenigen Monaten gestorben war und den er schmerzlich vermisste. In ihm war plötzlich eine gewaltige Leere und ihm wollte nicht einmal mehr einfallen, was er bei der Zeremonie zu tun hatte.

Neben ihm ritt sein Vater, dem die Irritation seines Sohnes offenbar entging. »Auf diesen Tag haben wir lange gewartet, mein Sohn«, sagte Terenas und blickte Arthas lächelnd an.

Trotz der Hitze und dem Gewicht des Helms war Arthas froh, ihn zu tragen. Er verbarg sein Gesicht und Arthas war sich nicht sicher, ob er jetzt ein Lächeln hätte vortäuschen können. »Das stimmt, Vater«, antwortete er und bemühte sich, seine Stimme ruhig klingen zu lassen.

Es war eine der größten Feiern, die Sturmwind je erlebt hatte. Außer Terenas waren viele andere Könige, Adelige und berühmte Personen gekommen. Sie ritten über die weißen Kopfsteinpflaster der Stadt zur riesigen Kathedrale des Lichts, die während des Ersten Krieges beschädigt worden war. Inzwischen hatte man sie aber wiedererrichtet und sie wirkte herrlicher als zuvor.

Arthas’ Freund aus Kindertagen, Varian, der König von Sturmwind, war jetzt verheiratet und frischgebackener Vater. Er hatte allen zu Besuch gekommenen Königen und deren Gefolge seinen Palast geöffnet. Bei Varian zu sitzen, Honigwein zu trinken und zu reden, war für Arthas bislang der Höhepunkt der Reise gewesen. Der verletzte, traumatisierte Junge von vor einem Jahrzehnt war zu einem selbstsicheren, gut aussehenden und ausgeglichenen König gereift.

Irgendwann am frühen Morgen, lange nach Mitternacht und noch vor Sonnenaufgang, waren sie in die Waffenkammer gegangen, hatten sich hölzerne Übungsschwerter genommen und eine lange Zeit miteinander gekämpft, dabei gelacht und alte Erinnerungen aufgefrischt. Ihr Können hatte dabei nur ein wenig unter dem Alkohol, den sie getrunken hatten, gelitten. Varian, der bereits seit frühester Kindheit trainierte, war schon immer gut gewesen, aber nun war er nahezu perfekt.

Doch das war Arthas auch und er gab dabei sein Bestes.

Momentan war das alles jedoch unwichtig, verglichen mit der unglaublich heißen Rüstung und dem nagenden Gedanken, dass er die Ehre, die ihm verliehen werden sollte, nicht verdiente.

In einem seltenen Moment der Vertrautheit hatte Arthas mit Uther über seine Gefühle gesprochen. Der furchterregende Paladin, der, solange Arthas zurückzudenken vermochte, der Inbegriff felsenfester Unerschütterlichkeit zum Licht war, hatte den Prinzen mit seiner Antwort erschreckt.

»Junge, niemand fühlt sich je bereit. Niemand glaubt, dass er es verdient hätte. Und wisst Ihr, warum? Weil niemand es hat. Es ist eine Gnade, so einfach ist das. Wir sind von Natur aus unwürdig, allein schon, weil wir Menschen sind. Und alle menschlichen Wesen – und Elfen, Zwerge und alle anderen Völker – stecken voller Fehler. Doch das Licht liebt uns trotzdem. Es liebt uns dafür, was aus uns in seltenen Momenten werden kann. Es liebt uns dafür, dass wir anderen helfen. Und es liebt uns, weil wir seine Botschaft hinaustragen, indem wir uns jeden Tag darum bemühen, seiner würdig zu sein, selbst wenn wir wissen, dass wir das niemals schaffen werden.«

Er hatte Arthas eine Hand auf die Schulter gelegt und ihm eins seiner seltenen Lächeln gewährt. »Also geht heute dorthin, wie ich es getan habe, und fühlt Euch, als ob Ihr diese Ehre nicht verdient hättet. Doch seid Euch dabei bewusst, dass Ihr an demselben Ort steht, an dem jeder andere Paladin auch gestanden hat.«

Das tröstete Arthas ein wenig.

Er straffte die Schultern, schob den Sichtschutz zurück, lächelte und winkte der Menge zu, die ihn so froh an diesem warmen Sommertag bejubelte. Sie warfen Rosenblätter über ihn und von irgendwoher erklangen Trompeten.

Sie hatten die Kathedrale erreicht. Arthas stieg vom Pferd und ein Diener führte das Schlachtross weg. Ein anderer Diener trat vor, um ihm den Helm abzunehmen, den Arthas abgesetzt hatte. Sein blondes Haar war feucht vor Schweiß. Schnell strich er sich mit der gepanzerten Hand darüber.

Arthas war nie zuvor in Sturmwind gewesen und er war beeindruckt von der Verbindung aus Heiterkeit und Macht, die die Kathedrale ausstrahlte. Langsam ging er die teppichbelegten Stufen hinauf, dankbar für die plötzliche Kühle im steinernen Innern. Der Geruch des Weihrauchs war beruhigend und vertraut. Es war derselbe, den auch seine Familie in der kleinen Kapelle benutzte.

Drinnen gab es kein schwindelerregendes Gedränge, nur Stille, die Sitzreihen voll mit prominenten Personen und dem Klerus.

Arthas erkannte mehrere Gesichter: Genn Graumarn, Thoras Trollbann, Admiral Daelin Prachtmeer…

Arthas blinzelte, dann verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln. Jaina! Sie war unbestreitbar in den Jahren seit ihrem letzten Treffen erwachsen geworden. Nicht ganz eine umwerfende Schönheit, aber hübsch. Die Lebhaftigkeit und die Intelligenz, die er schon als Junge geschätzt hatte, strahlten von ihr wie von einem Leuchtfeuer aus. Sie blickte Arthas an, lächelte zurück und neigte ihren Kopf respektvoll.

Arthas wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Altar zu, auf den er zuging. Doch er fühlte, wie ein wenig der Angst sein Herz verließ. Er hoffte, dass er die Gelegenheit erhielt, später, wenn die Feierlichkeiten vorbei waren, mit ihr reden zu können.

Erzbischof Alonsus Faol wartete am Altar auf ihn. Der Erzbischof erinnerte Arthas eher an Altvater Winter als an einen der Herrscher, die er bislang getroffen hatte. Er war klein und kräftig, trug langes wehendes, schneeweißes Haar und hatte leuchtende Augen. Selbst mitten in einer feierlichen Zeremonie strahlte Faol Wärme und Herzlichkeit aus. Der Erzbischof wartete, bis Arthas herangekommen war und respektvoll vor ihm kniete, bevor er ein großes Buch öffnete und sprach.

»Im Lichte versammeln wir uns, um unseren Bruder aufzunehmen. In seiner Gnade wird er erneuert. In seiner Kraft soll er die Menschen ausbilden. In seiner Stärke soll er die Schatten bekämpfen. Und in seiner Weisheit soll er seine Brüder zu den ewigen Freuden des Paradieses führen.«

Zu seiner Linken standen mehrere Männer – und ein paar Frauen, wie Arthas bemerkte – in langen, fließenden Gewändern. Einige hielten Gefäße in den Händen, die beinahe hypnotisch schaukelten. Andere trugen große Kerzen. Ein Mann hielt eine bestickte blaue Stola in der Hand. Arthas waren viele dieser Menschen vorher vorgestellt worden, doch er stellte fest, dass die Namen allesamt aus seinem Kopf verschwunden waren. Das war für ihn ungewöhnlich – er wollte stets wissen, wer für ihn arbeitete und ihm diente. Dabei bemühte er sich immer, sich alle Namen zu merken.

Erzbischof Faol bat die Kleriker, Arthas zu segnen. Das taten sie. Der Mann mit der blauen Stola trat vor, legte sie dem Prinzen um den Hals und salbte seine Stirn mit heiligem Öl.

»Durch die Gnade des Lichts mögen deine Brüder geheilt werden«, sagte der Kleriker.

Faol wandte sich den Männern zu Arthas’ Rechten zu. »Ritter der Silbernen Hand, wenn Ihr diesen Mann für würdig erachtet, dann gebt ihm Euren Segen.«

Im Gegensatz zur ersten Gruppe kannte Arthas diese Männer alle sehr gut, die in Habachthaltung und strahlenden Rüstungen warteten. Es waren die ursprünglichen Paladine der Silbernen Hand und es war das erste Mal, dass sie sich seit der Gründung des Ordens vor vielen Jahren zusammengefunden hatten. Uther gehörte natürlich dazu. Tirion Fordring war alt, aber immer noch kräftig. Jetzt war er der Herrscher von Herdweiler. Der beinahe zwei Meter große Saidan Dathroban war genauso anwesend wie der fromme, rauschbärtige Gavinrad.

Einer fehlte allerdings – Turalyon, die rechte Hand von Anduin Lothar im Zweiten Krieg, der mit einer Gruppe von Kriegern und Magiern durch das Dunkle Portal gegangen war. Seit dieser Zeit, als Arthas zwölf Jahre alt gewesen war, galt er als verschollen.

Gavinrad trat vor und trug einen riesigen, schweren Hammer. Der silberne Kopf war mit Runen bedeckt und der stabile Schaft in blaues Leder gewickelt. Er legte den Hammer vor Arthas, dann trat er zurück, um bei seinen Brüdern zu stehen. Es war Uther, der Lichtbringer persönlich, Arthas’ Mentor im Orden, der als Nächster vortrat. In seiner Hand trug er zwei zeremonielle Schulterstücke. Uther war der beherrschteste Mann, den Arthas je kennengelernt hatte, und dennoch waren seine Augen jetzt feucht, als er die Rüstung auf Arthas breite Schultern legte. Er sprach mit einer Stimme, die kraftvoll war und doch vor Emotionen bebte.

»Durch die Stärke des Lichts mögen deine Feinde vernichtet werden.« Seine Hand blieb einen Moment auf Arthas’ Schulter liegen, dann trat auch er zurück.

Erzbischof Faol lächelte den Prinzen freundlich an. Arthas begegnete dem Blick gelassen und mittlerweile ohne Besorgnis. Er erinnerte sich jetzt an alles.

»Erhebt Euch und seid aufgenommen«, forderte Faol ihn auf.

Arthas tat es.

»Willst du, Arthas Menethil, schwören, die Ehre und den Kodex des Ordens der Silbernen Hand aufrechtzuhalten?«

Arthas blinzelte, er war ein wenig überrascht, dass sein Titel nicht genannt wurde. Natürlich, erklärte er es sich, ich werde als Mann aufgenommen, nicht als Prinz. »Das will ich.«

»Schwörst du, in der Gnade des Lichts zu wandeln und seine Weisheit unter den Menschen zu verbreiten?«

»Das will ich.«

»Schwörst du, das Böse zu bekämpfen, wo immer du es findest, und die Unschuldigen mit deinem eigenen Leben zu beschützen?«

»Das wi… Bei meinem Blut und meiner Ehre, das will ich!«

Das war knapp gewesen, er hätte es beinahe vermasselt.

Faol gab ihm ein beruhigendes Zeichen, dann wandte er sich sowohl an die Kleriker als auch an die Paladine. »Brüder und Schwestern, ihr, die ihr euch versammelt habt, um Zeugnis abzulegen, erhebt die Hände und lasst das Licht diesen Mann erleuchten.«

Die Kleriker und Paladine hoben alle ihre rechten Hände, die nun von einem sanften, goldenen Leuchten durchzogen waren.

Sie wiesen auf Arthas, richteten den Glanz direkt auf ihn. Arthas’ Augen weiteten sich vor Verwunderung und er wartete darauf, dass ihn das herrliche Leuchten umgab.

Nichts geschah.

Der Augenblick zog sich hin.

Auf Arthas’ Stirn brach Schweiß aus. Was lief falsch? Warum durchflutete ihn das Licht nicht zum Zeichen der Segnung?

Und dann bewegte sich das Sonnenlicht, das durch die Fenster in der Decke einfiel, langsam auf den Prinzen in seiner strahlenden Rüstung zu und Arthas atmete erleichtert aus. Das musste das sein, wovon Uther gesprochen hatte. Das Gefühl, unwürdig zu sein, von dem Uther ihm versichert hatte, dass alle Paladine es erlebten. Es schien lediglich länger angedauert zu haben als üblich. Uthers Worte fielen ihm wieder ein. Niemand glaubt, dass er es verdient hat…es ist eine Gnade, so einfach ist das… doch das Licht liebt uns trotzdem.

Jetzt schien es auf ihn, in ihm, durch ihn und er musste die Augen gegen die fast schon blendende Helligkeit schließen. Zuerst wärmte sie, dann brannte sie und er bebte leicht. Er fühlte… sich gereinigt. Geleert, gesäubert, dann wieder gefüllt, und er spürte, dass das Licht in ihm anwuchs und dann auf ein erträgliches Maß zurückging. Er blinzelte und griff nach dem Hammer, dem Symbol des Ordens. Als seine Hand den Schaft umfasste, blickte er zu Erzbischof Faol, dessen gütiges Lächeln noch breiter geworden war.

»Erhebt Euch, Arthas Menethil, Paladin und Verteidiger von Lordaeron. Willkommen im Orden der Silbernen Hand.«

Arthas konnte nicht anders. Er lächelte, als er den riesigen Hammer nahm, der so groß war, dass er einen Augenblick lang glaubte, ihn nicht anheben zu können. Dann hob er ihn mit einem Schrei hoch.

Das Licht, so erkannte er, ließ den Hammer in seiner Hand leichter werden. Bei seinem Schrei brandete in der Kathedrale plötzlich Jubel und Applaus auf. Arthas wurde von seinen neuen Brüdern und Schwestern stürmisch umarmt und dann waren alle Förmlichkeiten vergessen, als sein Vater, Varian und einige andere in den Altarbereich liefen. Es gab viel Gelächter, als Varian versuchte, ihm auf die Schulter zu schlagen, wobei er sich die Hand verletzte, als sie auf das harte Metall der Schulterrüstung traf. Dann wurde Arthas irgendwie herumgedreht und schaute plötzlich in die blauen Augen und das lächelnde Gesicht von Lady Jaina Prachtmeer.

Sie waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, aneinandergedrängt und -gestoßen, mitten in dem Pulk, der sich irgendwie um das jüngste Mitglied des Ordens der Silbernen Hand gebildet hatte. Arthas wollte diesen einzigartigen Moment nicht ungenutzt verstreichen lassen. Fast augenblicklich legte sich seine linke Hand um ihre schlanke Hüfte und er zog sie zu sich heran. Sie wirkte erschreckt, aber nicht verärgert, als er sie drückte. Sie erwiderte die Umarmung, lachte, gegen seine Wange gepresst, schaute ihn an und lächelte immer noch.

Einen Augenblick lang verschwanden die frohen Geräusche der feiernden Menge an dem warmen Sommernachmittag und Arthas hatte nur Augen für dieses sonnengebräunte, lächelnde Mädchen. Durfte er sie küssen? Sollte er sie küssen? Ganz sicher wollte er es. Doch als er noch überlegte, löste sie sich und trat zurück. Und ihre blonde, mädchenhafte Gestalt wurde von einer anderen blonden, mädchenhaften Gestalt ersetzt. Calia lachte und drückte ihren Bruder herzlich.

»Wir sind alle so stolz auf dich, Arthas«, sagte sie. Er lächelte und erwiderte die Umarmung. Er war froh, dass seine Schwester da war, und bedauerte, dass er es nicht gewagt hatte, die Tochter des Admirals zu küssen. »Du wirst ein wundervoller Paladin sein, dessen bin ich mir sicher.«

»Gut gemacht, mein Sohn«, sagte Terenas. »Heute bin ich ein stolzer Vater.«

Arthas’ Augen verengten sich. Nur heute? Was sollte das bedeuten? War sein Vater an anderen Tagen nicht stolz auf ihn? Er war plötzlich wütend, ohne genau zu wissen, warum und auf wen.

Das Licht, das zu spät gekommen war… Jaina, die sich von ihm löste, als er sie küssen wollte… Terenas und seine Bemerkung.

Er zwang sich zu lächeln und begann sich den Weg durch die Menge zu bahnen. Er hatte genug davon, von den Leuten. Die wenigsten davon kannten ihn überhaupt und keiner verstand ihn.

Arthas war jetzt neunzehn Jahre alt. Im selben Alter hatte Varian schon ein Jahr lang als König gewirkt. Er war in einem Alter, in dem er tun konnte, was er wollte, und jetzt hatte er die Segnung der Silbernen Hand, die ihn leitete. Er wollte nicht einfach im Palast in Lordaeron herumsitzen oder langweilige Staatsbesuche machen. Er wollte etwas… Spaßiges tun. Etwas, was er sich durch seine Macht, seine Position und seine Fähigkeiten verdient hatte.

Und er wusste genau, was das sein sollte.

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