In jenem Jahr – 1946 – wollte der Winter nicht weichen. Obwohl es bereits April war, wehte ein eisiger Wind durch die Straßen der Stadt, und Schneewolken trieben am Himmel dahin.
Der alte Mann, der Drioli hieß, schlurfte mühsam über den Bürgersteig der Rue de Rivoli. Ihn fror, er fühlte sich elend. Wie ein Igel hatte er sich in seinem schäbigen Mantel zusammengerollt, sodass nur die Augen und der obere Teil des Kopfes über dem hochgeschlagenen Kragen zu sehen waren.
Die Tür eines Restaurants öffnete sich, und als Drioli den Duft von gebratenen Hähnchen roch, begann sein leerer Magen zu knurren. Er ging weiter und betrachtete ohne Interesse die Auslagen der Geschäfte – Parfums, seidene Krawatten und Hemden. Juwelen, Porzellan, antike Möbel, Bücher in kostbaren Einbänden. Dann eine Gemäldegalerie: Er hatte schon immer eine Vorliebe für Gemäldegalerien gehabt. In dieser war nur ein einziges Bild im Fenster ausgestellt. Er blieb stehen, warf einen kurzen Blick darauf, wandte sich dann zum Gehen. Plötzlich stutzte er und schaute noch einmal hin. Eine leichte Unruhe überkam ihn, in seinem Gedächtnis regte es sich, die Erinnerung an etwas, was er irgendwo, irgendwann gesehen hatte, tauchte verschwommen auf. Er betrachtete das Bild genauer. Es war eine Landschaft, eine Gruppe von Bäumen, die sich weit, weit zur Seite bogen, als drücke ein gewaltiger Sturm sie zu Boden; darüber, wirbelnd und kreisend, der Himmel. Am Rahmen war ein kleines Schild angebracht: CHAIM SOUTINE (1894 – 1943)
Drioli starrte das Bild an und überlegte, was ihm daran so bekannt vorkam. Verrücktes Bild, dachte er. Sehr seltsam und verrückt – aber ich mag es … Chaim Soutine … Soutine … «Mein Gott!», rief er plötzlich. «Das ist ja mein kleiner Kalmück! Tatsächlich, mein kleiner Kalmück, und sein Bild ist in der besten Kunsthandlung von Paris ausgestellt!»
Der alte Mann presste das Gesicht an die Scheibe. Er erinnerte sich an den Jungen – o ja, ganz deutlich erinnerte er sich an ihn. Aber wann war es gewesen? Und wo? Das ließ sich nicht so leicht herausfinden. Es war sehr lange her. Wie lange? Zwanzig – nein, eher dreißig Jahre, nicht wahr? Augenblick mal … Ja, es war ein Jahr vor dem Krieg gewesen, vor dem ersten Krieg. 1913 also. Und dieser Soutine, dieser hässliche kleine Kalmück, ein mürrischer, verschlossener Mensch – Drioli hatte ihn gern gehabt, fast geliebt, und zwar, wenn er’s recht bedachte nur deshalb, weil der Bursche malen konnte.
Und wie er malen konnte! Die Erinnerungen nahmen jetzt langsam Gestalt an – die Straße, die lange Reihe der Mülleimer, der widerliche Gestank, die braunen Katzen, die graziös über den Unrat hinwegschritten, und dann die Frauen, die schwitzenden dicken Frauen auf den Haustürtreppen. Dort saßen sie, die Füße auf dem Kopfsteinpflaster der Straße. Welcher Straße? Wo hatte der Junge gewohnt?
Richtig, in der Cité Falguière! Der alte Mann nickte mehrmals mit dem Kopf, froh, dass ihm der Name eingefallen war. Und nun erinnerte er sich auch an das Atelier mit dem einzigen Stuhl und der schäbigen roten Couch, die dem Jungen als Bett diente, an die Saufgelage, den billigen Weißwein, die schrecklichen Streitereien, und dazwischen tauchte immer wieder das finstere, verbitterte Gesicht des Jungen auf, der über seiner Arbeit brütete.
Seltsam, wie mühelos ihm jetzt alles ins Gedächtnis zurückkehrte, wie jede kleine Begebenheit, deren er sich entsann, eine andere nach sich zog.
Zum Beispiel die Sache mit der Tätowierung. Wirklich, so etwas Verrücktes war noch nie da gewesen. Wie hatte es doch gleich angefangen? Ach ja – er war eines Tages zu Geld gekommen und hatte sehr viel Wein gekauft. Er sah sich noch in das Atelier treten, das Paket mit den Flaschen unter dem Arm – der Junge saß vor der Staffelei, und seine, Driolis, Frau stand ihm Modell.
«Heute Abend wird gefeiert!», rief er. «Wir drei werden ein kleines Fest feiern.»
«Was gibt’s denn zu feiern?», fragte der Junge, ohne aufzublicken. «Hast du dich etwa entschlossen, die Scheidung einzureichen, damit deine Frau mich heiraten kann?»
«Nein», sagte Drioli. «Wir feiern, weil ich heute mit meiner Arbeit viel Geld verdient habe.»
«Und ich habe nichts verdient. Das können wir auch feiern.»
«Wie du willst.» Drioli stand am Tisch und wickelte die Flaschen aus. Er war müde und sehnte sich nach Wein. Neun Kunden an einem Tag – alles schön und gut, aber für die Augen war es eine Tortur. Nie zuvor hatte er es bis auf neun gebracht. Neun angeheiterte Soldaten, und das Erstaunlichste war, dass nicht weniger als sieben bar bezahlt hatten. Daher also dieser ungeheure Reichtum. Aber die Arbeit war das reinste Augenpulver. Driolis Lider waren schwer vor Müdigkeit, das Weiße des Augapfels war rot geädert, und etwa zwei Zentimeter dahinter nistete ein dumpfer Schmerz. Na wennschon – jetzt hatte er ja Ruhe, er war klotzig reich, und das Paket enthielt drei Flaschen, eine für seine Frau, eine für seinen Freund und eine für ihn selbst. Er fand den Korkenzieher und entkorkte die Flaschen. Jedes Mal war ein leises ‹Plopp› zu hören.
Der Junge legte den Pinsel hin. «Mein Gott», stöhnte er, «und dabei soll man nun arbeiten!»
Die junge Frau ging zu ihm hinüber, um das Bild zu betrachten. Drioli folgte ihr, in der einen Hand eine Flasche, in der anderen ein Glas.
«Nein!», rief der Junge, plötzlich auffahrend. «Bitte nicht!» Er riss das Bild von der Staffelei und stellte es gegen die Wand. Aber Drioli hatte es schon gesehen.
«Mir gefällt es.»
«Es ist scheußlich.»
«Es ist wunderbar. Alles, was du malst, ist wunderbar. Ich liebe deine Bilder.»
Der Junge runzelte missmutig die Stirn. «Das Schlimme ist nur, dass sie mich nicht ernähren. Ich kann sie nicht essen.»
«Aber sie sind trotzdem wunderbar.» Drioli füllte das Glas mit Wein und reichte es ihm. «Trink», sagte er. «Das wird dich glücklich machen.»
Nie zuvor war er einem Menschen begegnet, der so unglücklich wirkte und so finster dreinschaute. Er hatte ihn vor etwa sieben Monaten in einem Café kennengelernt. Ihm war aufgefallen, dass der Junge, der da mutterseelenallein saß und trank, wie ein Russe oder Asiate aussah, und so hatte er neben ihm Platz genommen und ihn angesprochen.
«Bist du Russe?»
«Ja.» – «Woher?»
«Minsk.»
Drioli war aufgesprungen, hatte ihn umarmt und geschrien, dass auch er dort geboren sei.
«Ich bin nicht direkt aus Minsk», hatte der Junge erklärt. «Aber mein Dorf liegt ganz in der Nähe.»
«Wie heißt es.»
«Smilowitschi, etwa fünfzehn Werst von Minsk.»
«Smilowitschi!», hatte Drioli gerufen und ihn nochmals umarmt. «Da bin ich als Kind oft gewesen.» Dann hatte er sich wieder gesetzt und den anderen liebevoll gemustert. «Weißt du», hatte er gesagt, «du siehst nicht wie ein Westrusse aus. Man könnte dich eher für einen Tataren oder Kalmücken halten. Tatsächlich, du siehst genau wie ein Kalmück aus.»
Jetzt, im Atelier, betrachtete er ihn abermals, während der Junge das Glas auf einen Zug leerte. Ja, er hatte das Gesicht eines Kalmücken – sehr breitflächig, mit hohen Jochbeinen und einer aufgestülpten, plumpen Nase. Die Flächigkeit der Wangen wurde noch durch die Ohren betont, die weit vom Kopf abstanden. Und er hatte auch die schmalen Augen, das schwarze Haar, die wulstigen, trotzigen Lippen eines Kalmücken. Nur die Hände – die Hände überraschten Drioli immer wieder, denn sie waren weiß und feinknochig wie die einer Dame, mit langen, schlanken Fingern.
«Gib mir noch etwas», sagte der Junge. «Wenn wir schon feiern, dann aber auch ordentlich.»
Drioli füllte die Gläser und ließ sich auf den einzigen Stuhl fallen. Der Junge saß mit Driolis Frau auf der alten Couch. Die drei Flaschen standen zwischen ihnen auf dem Fußboden.
«Heute Abend werden wir trinken, so viel wir nur können», verkündete Drioli. «Ich bin ungeheuer reich. Am besten gehe ich jetzt gleich und kaufe noch ein paar Flaschen. Wie viele soll ich holen?»
«Sechs», entschied der Junge. «Für jeden zwei.»
«Gut. Dann hole ich sie also jetzt.»
«Ich komme mit.»
Im nächsten Café kaufte Drioli sechs Flaschen Weißwein und trug sie mit Hilfe des Jungen ins Atelier. Sie stellten sie in zwei Reihen auf den Fußboden. Drioli entkorkte alle sechs, und dann tranken sie weiter.
«Nur die ganz Reichen können es sich leisten, so zu feiern», sagte Drioli.
«So ist es», bestätigte der Junge. «Nicht wahr, Josie?»
«Ja.»
«Wie fühlst du dich, Josie?»
«Gut.»
«Willst du Drioli verlassen und mich heiraten?»
«Nein.»
«Herrlicher Wein», lobte Drioli. «Ein Wein für reiche Leute.»
Langsam und methodisch gingen sie daran, sich zu betrinken. Das war ein stets gleich verlaufender Prozess, bei dem es ein gewisses Zeremoniell zu beachten galt. Man musste Haltung bewahren, musste viele Dinge sagen und nochmals sagen. Sehr wichtig war es zum Beispiel, den Wein zu loben, und man durfte auch nichts übereilen, damit Zeit blieb, die drei köstlichen Stadien des Übergangs zu genießen, von denen Drioli besonders jenes liebte, in dem er zu schweben begann und seine Füße sich vom Körper lösten. Das war das beste Stadium – wenn er auf seine Füße hinabsah und sie so weit weg waren, dass er sich fragte, welchem Idioten sie wohl gehörten und warum sie da unten auf dem Boden herumlagen.
Nach einer Weile erhob er sich, um Licht zu machen. Er war sehr erstaunt, als er feststellte, dass seine Füße mit ihm gingen, denn er fühlte gar nicht, wie sie den Boden berührten. Es war sehr angenehm, durch die Luft zu schweben. Er wanderte im Atelier umher, und sah sich heimlich die Bilder an, die an der Wand standen.
«Hör mal», sagte er plötzlich, «ich hab eine Idee.» Er ging hinüber und baute sich leicht schwankend vor der Couch auf. «Hör mal zu, mein kleiner Kalmück.»
«Was?»
«Ich hab eine großartige Idee. Hörst du auch zu?»
«Ich höre Josie zu.»
«Hör bitte mir zu. Du bist mein Freund, mein hässlicher kleiner Kalmück aus Minsk, und ich halte dich für einen Künstler … für einen so großen Künstler, dass ich dich um ein Bild bitten möchte. Um ein schönes Bild …»
«Nimm sie alle. Nimm dir, was du willst, aber störe mich nicht, wenn ich mit deiner Frau spreche.»
«Nein, nein. Hör doch zu. Ich meine ein Bild, das ich immer bei mir haben kann … immer … wohin ich auch gehe … was auch geschieht … Ein Bild, das du für mich gemalt hast …» Er beugte sich vor und rüttelte den Jungen am Knie. «Bitte, bitte, hör zu.»
«Nun hör ihm schon zu», sagte Josie.
«Es ist so. Ich möchte, dass du mir ein Bild auf die Haut malst, auf den Rücken. Und dann sollst du es eintätowieren, damit es immer dableibt.»
«Du bist ja verrückt.»
«Ich zeige dir, wie man mit dem Tätowierapparat umgeht. Das ist ganz einfach. Jedes Kind kann es lernen.»
«Ich bin kein Kind.»
«Bitte …»
«Du bist völlig übergeschnappt. Was willst du eigentlich von mir?» Der Maler blickte in die dunklen, müden, aber vom Wein glänzenden Augen des anderen. «Zum Teufel, was willst du von mir?»
«Du könntest es leicht machen! Bestimmt, mein kleiner Kalmück, du könntest es!»
«Du meinst, mit dem Tätowierapparat?»
«Ja, mit dem Tätowierapparat! Ich bringe es dir in zwei Minuten bei.»
«Unmöglich!»
«Willst du etwa behaupten, dass ich nicht weiß, wovon ich rede?»
Nein, so etwas konnte niemand von ihm behaupten, denn wenn einer etwas vom Tätowieren verstand, dann war er es – Drioli. Hatte er nicht erst im vorigen Monat den Bauch eines Mannes mit einem wunderbaren, hochkünstlerischen Blumenmuster überzogen? Und war ihm nicht ein Meisterwerk gelungen, als er einem Kunden mit sehr stark behaarter Brust das Bild eines Grizzlybären so eintätowierte, dass die Haare dem Bären als Pelz dienten? Konnte er nicht das Bild einer Dame mit solcher Raffinesse auf einen Männerarm malen, dass jedes Anschwellen des Muskels die Dame zum Leben erweckte und sie einige erstaunliche Verrenkungen vollführen ließ?
«Ich behaupte nichts weiter», sagte der Junge, «als dass du betrunken bist und dass dies eine Schnapsidee ist.»
«Wir könnten Josie als Modell nehmen. Eine Skizze von Josie auf meinem Rücken. Habe ich nicht das Recht, ein Bild meiner Frau auf dem Rücken zu tragen?»
«Von Josi?»
«Ja.» Drioli wusste, dass er nur den Namen seiner Frau zu nennen brauchte, damit die dicken braunen Lippen des Jungen sich leicht öffneten und zu zittern begannen.
«Nein», sagte Josie.
«Liebling, Josie, bitte. Nimm diese Flasche und trink sie aus, dann wirst du großzügiger werden. Es ist eine phantastische Idee. Noch nie in meinem Leben habe ich eine so geniale Idee gehabt.»
«Was für eine Idee?»
«Dass er mir dein Bild auf den Rücken malt. Habe ich etwa kein Recht, das zu verlangen?»
«Mein Bild?»
«Eine Aktstudie», sagte der Junge. «Gar keine schlechte Idee.»
«Keine Aktstudie», rief Josie.
«Es ist eine phantastische Idee», wiederholte Drioli.
«Eine völlig verrückte Idee», erklärte Josie.
«Auf jeden Fall ist es eine Idee», meinte der Junge. «Es ist eine Idee, die gefeiert werden muss.»
Sie leerten eine weitere Flasche. Dann sagte der Junge: «Es hat keinen Zweck, weil ich mit dem Apparat bestimmt nicht zurechtkomme. Aber ich werde dir ein Bild auf den Rücken malen. Das kannst du so lange behalten, bis du es beim Baden abwäschst. Wenn du nie mehr badest, behältst du es, solange du lebst.»
«Nein», sagte Drioli.
«Doch. Und wenn du dich eines Tages entschließt, in die Badewanne zu steigen, werde ich wissen, dass du mein Bild nicht mehr magst. Auf diese Weise kann ich herausfinden, wie groß deine Bewunderung für meine Kunst ist.»
«Um Himmels willen», wehrte Josie ab. «Seine Bewunderung für deine Kunst ist so groß, dass er sich nie mehr waschen wird. Mach lieber die Tätowierung. Aber keinen Akt.»
«Dann eben nur den Kopf», sagte Drioli.
«Ich kann doch nicht tätowieren.»
«Es ist wirklich ganz einfach. Ich bringe es dir im Handumdrehen bei. Du wirst sehen. Ich gehe jetzt und hole mein Werkzeug. Die Nadeln und die Tuschen. Ich habe Tuschen in allen Farben – in Farben, die noch viel schöner als deine sind …»
«Es ist unmöglich.»
«Ich habe eine Menge Tuschen. Habe ich nicht eine Menge Tuschen in allen Farben, Josie?»
«Ja.»
«Du wirst sehen», wiederholte Drioli. «Ich gehe jetzt und hole sie.» Er stand auf und verließ mit unsicherem, aber entschlossenem Schritt das Zimmer.
Eine halbe Stunde später kam er zurück. «Ich habe alles mitgebracht», rief er und schwenkte einen braunen Koffer. «Hier ist alles drin, was man zum Tätowieren braucht.»
Er stellte den Koffer auf den Tisch, öffnete ihn und nahm die elektrischen Nadeln und die Fläschchen mit farbiger Tusche heraus. Nachdem er eine Nadel in den Tätowierapparat gesteckt hatte, ergriff er ihn und drückte auf einen Schalter. Ein leises Summen ertönte, und die Nadel, die etwa einen halben Zentimeter vorstand, sprang schnell auf und ab. Drioli zog sich die Jacke aus und streifte den linken Hemdsärmel hoch. «Nun pass auf. Ich zeige dir, wie einfach es ist. Hier, ich zeichne mir ein Muster auf den Arm.»
Sein Unterarm war bereits mit blauen Musterungen bedeckt, aber er fand eine Stelle, die noch frei war.
«Zuerst suche ich mir die Tusche aus – in diesem Fall werde ich Blau nehmen – und tauche die Nadelspitze in die Tusche … so … Ich halte die Nadel senkrecht und lasse sie leicht über die Haut gleiten … siehst du … Durch den elektrischen Antrieb springt die Nadel auf und ab. Sie punktiert die Haut, die Tusche dringt ein, und das ist alles. Na, ist das nicht ein Kinderspiel? Schau her, jetzt zeichne ich einen Windhund …»
Das Interesse des Jungen erwachte. «Komm, lass mich mal probieren – auf deinem Arm.»
Mit der summenden Nadel zog er blaue Linien über Driolis Arm. «Es ist wirklich einfach», murmelte er. «Als ob man eine Federzeichnung macht. Ganz genauso, es geht nur etwas langsamer.»
«Na bitte, ich hab’s ja gesagt. Bist du fertig? Wollen wir anfangen?»
«Ja.»
«Das Modell!», rief Drioli. «Los, los, Josie!» In einem Taumel der Begeisterung torkelte er durch den Raum, eifrig wie ein Kind, das ein aufregendes Spiel vorbereitet. «Wo willst du sie haben? Wo soll sie stehen?»
«Dort drüben vor der Kommode. Mit offenem Haar. Ich werde sie malen, wie sie ihr Haar bürstet.»
«Großartig. Du bist ein Genie.»
Widerwillig erhob sich die junge Frau und stellte sich vor die Kommode. Ihr Glas nahm sie mit.
Drioli zog sein Hemd und die Hose aus. Nur noch mit Unterhose, Socken und Schuhen bekleidet, stand er leicht schwankend da. Sein magerer Oberkörper war fest, weißhäutig, fast unbehaart. «So», sagte er, «jetzt bin ich die Leinwand. Wo willst du deine Leinwand haben?»
«Auf der Staffelei, wie immer.»
«Sei nicht albern. Die Leinwand bin doch ich.»
«Dann geh auf die Staffelei, denn da gehörst du hin.»
«Wie kann ich das?»
«Bist du die Leinwand, Ja oder nein?»
«Natürlich bin ich die Leinwand. Ich fühle mich schon ganz wie eine Leinwand.»
«Dann geh auf die Staffelei. Das kann doch nicht so schwierig sein.»
«Wirklich, es ist unmöglich.»
«Na gut, setz dich auf den Stuhl. Setz dich rittlings drauf, dann kannst du deinen betrunkenen Kopf auf die Lehne stützen. Beeil dich, ich will anfangen.»
«Ich bin fertig. Ich warte.»
«Zuerst», sagte der Junge, «mache ich einen Entwurf. Wenn mir das Bild gefällt, werde ich es eintätowieren.» Und er begann mit einem breiten Pinsel den nackten Rücken zu bemalen.
«Uiii! Uiii!», schrie Drioli. «Ein riesiger Tausendfüßler läuft mir das Rückgrat herunter.»
«Sitz still! Bewege dich nicht!» Der Junge arbeitete schnell. Er benutzte eine dünne blaue Wasserfarbe, damit er später ungehindert tätowieren konnte. Seit er zu malen begonnen hatte, war seine Konzentration so stark, dass sie die Trunkenheit zu verdrängen schien. Er setzte die Pinselstriche mit kurzen, ruckartigen Armbewegungen und hielt dabei das Handgelenk steif. In weniger als einer halben Stunde war der Entwurf fertig.
«Gut. Das ist alles», sagte er zu Josi, die sofort zur Couch ging, sich hinlegte und einschlief.
Drioli blieb wach. Er sah zu, wie der Junge nach der Nadel griff und sie in die Tusche tauchte; dann, als sie ihm in die Haut drang, fühlte er ein scharfes, kitzelndes Stechen. Der Schmerz, der unangenehm, aber nicht unerträglich war, hinderte ihn einzuschlafen. Er vertrieb sich die Zeit, indem er den Lauf der Nadel verfolgte und beobachtete, welche Tuschen der Junge wählte. Daraus suchte er dann Form und Farben des Bildes zu erraten, das auf seinem Rücken entstand. Der Junge arbeitete mit erstaunlicher Intensität. Für ihn schien es nur noch diesen Tätowierapparat zu geben, mit dem sich so ungewöhnliche Effekte erzielen ließen.
Bis in den frühen Morgen hinein summte der kleine Motor. Draußen war es schon hell, und von der Straße drangen Geräusche ins Zimmer, als der Künstler endlich zurücktrat und sagte: «Es ist fertig.»
«Ich möchte es sehen», bat Drioli. Der Junge hielt einen Spiegel hoch, den er ein wenig zur Seite neigte, und Drioli verrenkte sich fast den Hals, um hineinzuschauen.
«Mein Gott!», rief er. Es war ein erstaunlicher Anblick. Von den Schultern bis zum Ende der Wirbelsäule war sein Rücken ein einziges Farbenmeer – golden und grün und blau und schwarz und rot. Die Tätowierung war so dicht, dass sie fast wie ein Impasto wirkte. Der Junge war den ursprünglichen Pinselstrichen so genau wie möglich gefolgt und hatte die Flächen farbig ausgefüllt. Es war wunderbar, wie er das Rückgrat und die Wölbung der Schulterblätter in die Komposition einbezogen hatte. Vor allem war es ihm trotz der zwangsläufig langsameren Arbeitsweise gelungen, die Ursprünglichkeit des Ausdrucks zu bewahren. Das Verzerrte, Gequälte, das so charakteristisch für die anderen Werke Soutines war, offenbarte sich auch hier. Sehr ähnlich war das Porträt nicht. Dem Jungen hatte wohl mehr daran gelegen, eine Stimmung einzufangen – trunken, in verschwimmenden Umrissen hob sich das Gesicht des Modells von einem Hintergrund wirbelnd kreisender dunkelgrüner Pinselstriche ab.
«Es ist großartig!»
«Ich muss sagen, mir gefällt es auch.» Der Junge trat zurück und betrachtete es kritisch. «Weißt du», fügte er hinzu, «ich glaube, es ist gut genug, signiert zu werden.» Er schaltete den Apparat ein und schrieb seinen Namen mit roter Tusche über die Stelle, an der Driolis rechte Niere saß.
Der alte Mann, der Drioli hieß, stand in einer Art von Trance vor dem Schaufenster der Kunsthandlung und starrte das Bild an. Das alles war so lange her – beinahe, als wäre es in einem anderen Leben geschehen.
Und der Junge? Was war aus ihm geworden? Drioli erinnerte sich jetzt, dass er ihn vergebens gesucht hatte, als er aus dem Krieg – dem ersten Krieg – zurückkehrte. Auf seine Frage: «Wo ist mein kleiner Kalmück?», hatte Josie geantwortet: «Er ist fort. Ich weiß nicht, wo er ist; angeblich soll sich ein Kunsthändler seiner angenommen und ihn nach Céret geschickt haben, damit er dort Bilder malt.»
«Vielleicht kommt er wieder.»
«Vielleicht. Wer weiß?»
Das war das letzte Mal gewesen, dass sie von ihm gesprochen hatten. Bald darauf waren sie nach Le Havre gezogen, wo es mehr Seeleute gab und das Geschäft besser ging. Der alte Mann lächelte, als er an Le Havre dachte. Gute Jahre waren das gewesen, die Jahre zwischen den Kriegen, mit dem kleinen Laden in der Nähe des Hafens und der gemütlichen Wohnung. Jeden Tag hatten sich drei, vier oder fünf Seeleute bei ihm tätowieren lassen, sodass es nie an Arbeit fehlte. Wirklich, das waren gute Jahre gewesen.
Dann war der zweite Krieg ausgebrochen. Josie war umgekommen, und die Deutschen waren einmarschiert. Niemand hatte sich mehr ein Bild auf den Arm tätowieren lassen wollen. Und Drioli war mittlerweile zu alt geworden, als dass er sich auf eine andere Arbeit hätte umstellen können. Verzweifelt war er nach Paris zurückgekehrt, in der unbestimmten Hoffnung, dass in einer so großen Stadt alles leichter sein werde. Aber darin hatte er sich getäuscht.
Und nun, da der Krieg vorbei war, besaß er weder die Mittel noch die Energie, sein kleines Geschäft neu aufzubauen. Es war nicht einfach für einen alten Mann, sich durchzuschlagen – besonders wenn es einem widerstrebte zu betteln. Aber wie sonst sollte er am Leben bleiben?
Er starrte noch immer unverwandt auf das Bild. Das ist also mein kleiner Kalmück, dachte er. Wie schnell so ein Anblick die Erinnerung aufrühren kann. Bis vor wenigen Minuten hatte er sogar die Tätowierung auf seinem Rücken völlig vergessen. Seit einer Ewigkeit hatte er nicht mehr daran gedacht. Er presste das Gesicht an die Glasscheibe und spähte in das Innere der Kunsthandlung. An den Wänden konnte er zahlreiche Gemälde erkennen, die alle von demselben Künstler zu stammen schienen. Viele Menschen gingen umher und betrachteten die Bilder. Offensichtlich war dies eine Sonderausstellung.
Einem plötzlichen Impuls folgend, stieß Drioli die Tür der Galerie auf und ging hinein.
Er stand in einem langgestreckten Raum auf einem dicken weinroten Teppich. Mein Gott, wie schön und wie warm es hier war! Und alle diese Menschen, die von einem Bild zum anderen schlenderten, gut gewaschen, gut gekleidet, einen Katalog in der Hand! Drioli blieb an der Tür stehen und sah sich nervös um. Ob er es wagen durfte, sich unter die Menge zu mischen? Bevor er Zeit hatte, seinen Mut zusammenzunehmen, hörte er eine Stimme fragen: «Was wollen Sie hier?»
Der Mann trug einen schwarzen Cutaway, war klein und dick und hatte ein sehr weißes Gesicht. Ein schlaffes Gesicht, dessen fleischige Wangen in zwei Fettwülsten über die Mundwinkel hingen. Er trat dicht an Drioli heran und fragte noch einmal: «Was wollen Sie hier?»
Drioli schwieg.
«Bitte», sagte der andere, «verlassen Sie gefälligst meine Galerie.»
«Darf ich mir nicht die Bilder anschauen?»
«Ich habe Sie gebeten zu gehen.»
Drioli rührte sich nicht von der Stelle. Er fühlte plötzlich eine maßlose Wut in sich aufsteigen.
«Machen Sie keine Schwierigkeiten», sagte der Mann. «Kommen Sie, hier geht’s raus.» Er legte seine fette weiße Hand auf Driolis Arm und wollte ihn zur Tür drängen.
Das gab den Ausschlag. «Nehmen Sie Ihre verdammte Hand weg!», schrie Drioli. Seine Stimme schallte durch die lange Galerie, und alle Köpfe fuhren herum. Erstaunte Gesichter starrten den Menschen an, der so laut aufbegehrte. Ein Diener in Livree eilte dem Geschäftsinhaber zu Hilfe, und die beiden Männer versuchten, Drioli hinauszuwerfen. Die Leute beobachteten den Kampf ohne Erregung. Ihre Mienen verrieten nur ein schwaches Interesse; offenbar dachten sie alle: Die Sache geht in Ordnung. Für uns besteht keine Gefahr. Wir haben nichts zu befürchten.
«Auch ich», rief Drioli, «auch ich besitze ein Bild von diesem Maler! Er war mein Freund, und er hat mir ein Bild geschenkt.»
«Er ist verrückt.»
«Ein Irrer. Er hat einen Tobsuchtsanfall.»
«Man sollte die Polizei holen.»
Mit einer schnellen Drehung seines Körpers befreite sich Drioli von den beiden Männern, und bevor jemand ihn aufhalten konnte, rannte er durch die Galerie und brüllte: «Ich werde es euch zeigen! Ich werde es euch zeigen! Ich werde es euch zeigen!» Er warf den Mantel ab, dann die Jacke, das Hemd und wandte den Leuten seinen nackten Rücken zu.
«Da!», rief er keuchend. «Seht ihr? Da ist es!»
Plötzlich wurde es totenstill in dem Raum. Alle standen wie vom Donner gerührt, ratlos, verlegen, erschrocken. Alle starrten auf die Tätowierung. Sie war unversehrt, farbenprächtig wie immer, aber der Rücken des alten Mannes war magerer geworden, die Schulterblätter traten schärfer hervor, und das gab dem Bild ein seltsam verrunzeltes, gequetschtes Aussehen.
Jemand sagte: «Mein Gott, er hat ja recht!»
Die allgemeine Erregung machte sich in einem Stimmengewirr Luft, als die Leute auf den alten Mann zueilten, um das Bild aus nächster Nähe zu betrachten.
«Ja, unverkennbar.»
«Ein früher Soutine, nicht wahr?»
«Es ist phantastisch, ganz phantastisch!»
«Und sehen Sie, es ist signiert!»
«Nehmen Sie die Schultern etwas nach vorn, mein Freund, damit das Bild sich spannt.»
«Wann ist das entstanden, Alter?»
«Neunzehnhundertdreizehn», antwortete Drioli, ohne sich umzudrehen. «Im Herbst neunzehnhundertdreizehn.»
«Wer hat Soutine das Tätowieren beigebracht?»
«Ich.»
«Und das Mädchen?»
«Sie war meine Frau.»
Der Besitzer der Galerie bahnte sich einen Weg durch die Menge. Er war jetzt sehr ruhig, sehr ernst, nur seine Lippen deuteten ein Lächeln an. «Monsieur, ich kaufe das Bild», sagte er, und Drioli sah, wie bei der Bewegung des Kiefers das schlaffe Fett der Wangen erzitterte. «Haben Sie gehört, Monsieur? Ich kaufe das Bild.»
«Wie können Sie es kaufen?», fragte Drioli leise.
«Ich gebe Ihnen zweihunderttausend Francs dafür.» Die Augen des Kunsthändlers waren klein und dunkel, die Flügel seiner breiten Nase bebten.
«Tun Sie es nicht!», murmelte jemand hinter dem Alten. «Es ist zwanzigmal so viel wert.»
Drioli öffnete den Mund um zu sprechen. Da keine Worte kamen, schloss er ihn; dann öffnete er ihn von neuem und sagte langsam: «Aber wie kann ich es verkaufen?» Er hob die Hände und ließ sie kraftlos sinken. «Monsieur, wie kann ich es denn verkaufen?» Abgrundtiefe Traurigkeit lag in seiner Stimme.
«Ja», meinten auch die Umstehenden, «wie kann er es verkaufen? Es ist doch ein Teil von ihm.»
«Hören Sie –» der Kunsthändler trat dicht an ihn heran – «ich will Ihnen helfen. Ich mache Sie reich. Wir werden uns unter vier Augen über dieses Bild einigen, ja?»
Drioli blickte ihn verständnislos an. «Aber wie können Sie es kaufen, Monsieur? Was wollen Sie damit anfangen, wenn Sie es gekauft haben? Wo werden Sie es aufbewahren? Wo werden Sie es heute Abend hinstellen? Und wo morgen?»
«Wo ich es aufbewahren werde? Ja, wo bewahre ich es denn auf? Also … hm … ja, wirklich …» Der Kunsthändler rieb sich mit seinem dicken weißen Zeigefinger die Nase. «Es scheint», sagte er schließlich, «dass ich Sie mitkaufe, wenn ich das Bild kaufe. Das ist ein Nachteil.» Wieder rieb er sich die Nase. «Das Bild hat keinen Wert, solange Sie am Leben sind. Wie alt sind Sie, mein Freund?»
«Einundsechzig.»
«Nun, Sie sind vielleicht nicht sehr kräftig, was?» Der Kunsthändler nahm die Hand von der Nase und musterte Drioli langsam von Kopf bis Fuß wie ein Bauer, der ein altes Pferd abschätzt.
Drioli wich einen Schritt zurück. «Das gefällt mir nicht. Ganz ehrlich, Monsieur, das gefällt mir nicht.» Er wich noch weiter zurück, bis er in den Armen eines großen Mannes landete, der ihn sanft an den Schultern festhielt. Drioli drehte sich um und stammelte eine Entschuldigung. Der Mann lächelte auf den Alten herab und klopfte ihm mit der kanariengelb behandschuhten Rechten beruhigend auf die nackte Schulter.
«Hören Sie, mein Freund», sagte der Fremde, noch immer lächelnd. «Schwimmen Sie gern? Liegen Sie gern in der Sonne?»
Drioli sah ihn verdutzt an.
«Mögen Sie gutes Essen? Und die Rotweine der großen Weingüter in Bordeaux?» Der Mann lächelte unentwegt und entblößte dabei große weiße Zähne, zwischen denen hier und dort Gold blitzte. Er sprach mit leiser, einschmeichelnder Stimme, ohne die Hand von Driolis Schulter zu nehmen. «Mögen Sie das?»
«Nun … ja», antwortete Drioli in wachsender Verwirrung. «Natürlich.»
«Und die Gesellschaft schöner Frauen?»
«Warum nicht?»
«Und einen Schrank voll maßgeschneideter Anzüge und Hemden? Ich habe den Eindruck, dass Sie etwas knapp mit Garderobe sind.»
Drioli starrte diesen liebenswürdigen Menschen an und wartete auf den Rest des Angebots.
«Haben Sie schon mal Schuhe getragen, die eigens für Sie angefertigt wurden?»
«Nein.»
«Aber Sie hätten nichts dagegen, was?»
«Nun …»
«Und wie wär’s, wenn jeden Morgen ein Friseur käme, der Sie rasiert und Ihnen das Haar schneidet?»
Drioli stand nur da und staunte.
«Und ein reizendes dralles Mädchen, das Sie manikürt?»
Jemand in der Menge lachte.
«Und hätten Sie nicht gern eine Klingel neben Ihrem Bett? Morgens brauchten Sie dann nur zu läuten, und schon würde Ihnen ein Stubenmädchen das Frühstück bringen. Na, wäre das nicht schön, mein Freund?»
Drioli schwieg.
«Sehen Sie, ich bin der Besitzer des Hotels Bristol in Cannes. Ich lade Sie ein, mit mir zu kommen und bis an Ihr seliges Ende als mein Gast herrlich und in Freuden zu leben.» Der Mann machte eine Pause, damit sein Zuhörer Zeit hätte, diese glänzenden Aussichten voll und ganz zu würdigen. Dann fuhr er fort: «Ihre einzige Pflicht – oder sagen wir lieber: Ihr Vergnügen – würde darin bestehen, dass Sie sich, nur mit einer Badehose bekleidet, täglich an meinem Strand aufhalten. Sie gehen inmitten meiner Gäste umher, sonnen sich, schwimmen, trinken Cocktails. Lockt Sie das nicht?»
Keine Antwort.
«Verstehen Sie – dadurch gebe ich allen meinen Gästen Gelegenheit, dieses faszinierende Bild von Soutine zu besichtigen. Sie werden berühmt werden. Man wird sagen: ‹Oh, da ist ja der Bursche mit den zehn Millionen Francs auf dem Rücken.› Wie finden Sie diese Idee, Monsieur? Gefällt Sie Ihnen?»
Drioli betrachtete den Mann mit den kanariengelben Handschuhen und fragte sich, ob das etwa ein Scherz sein sollte.
«Es ist eine komische Idee», sagte er langsam. «Meinen Sie das alles im Ernst?»
«Aber natürlich …»
«Moment mal», unterbrach ihn der Kunsthändler. «Hören Sie, Alter, mir ist eben die Lösung unseres Problems eingefallen. Ich kaufe das Bild und beauftrage einen Chirurgen, die Haut von Ihrem Rücken zu entfernen. Dann können Sie gehen, wohin Sie wollen, und das viele Geld genießen, das ich Ihnen dafür gebe.»
«Ohne Haut auf dem Rücken?»
«Nein, nein, Sie haben mich missverstanden. Der Chirurg ersetzt das alte Hautstück durch ein neues. Eine ganz einfache Sache.»
«Kann man denn das?»
«Aber gewiss. Warum nicht?»
«Unmöglich!», mischte sich der Mann mit den kanariengelben Handschuhen ein. «Er ist zu alt für eine so schwierige Hautverpflanzung. Es wäre Ihr Tod, mein Freund. Ihr sicherer Tod.»
«Sie meinen … ich würde sterben?»
«Natürlich. Eine solche Operation können Sie nicht überleben. Nur das Bild würde durchkommen.»
«Um Gottes willen!», rief Driolo. Er blickte entsetzt in die Gesichter der Menschen, die ihn beobachteten, und in der atemlosen Stille hörte man die ruhige Stimme eines Mannes, der irgendwo im Hintergrund stand: «Wenn man dem Alten genug Geld anbietet, ist er vielleicht sogar bereit, sich auf der Stelle umzubringen. Wer weiß?» Ein paar Leute lachten. Der Kunsthändler scharrte verlegen mit den Füßen auf dem Teppich.
Wieder legte sich die Hand in dem kanariengelben Handschuh auf Driolis Schulter. «Kommen Sie», forderte ihn der Mann mit seinem breiten, weißzahnigen Lächeln auf. «Wir beide werden erst einmal ein gutes Abendessen zu uns nehmen. Bei Tisch können wir ja weiterreden. Was halten Sie davon? Sind Sie hungrig?»
Drioli sah ihn mit zusammengezogenen Brauen an. Ihm gefielen weder der lange, biegsame Hals des Mannes noch die Art, wie er ihn schlangenhaft vorreckte, wenn er mit einem sprach.
«Gebratene Ente und Chambertin», sagte der Mann. Er gab diesen Worten eine kräftige, saftige Betonung, spritzte sie gleichsam mit der Zunge hervor. «Und vielleicht noch ein leichtes, lockeres soufflé aux marrons.»
Driolis Augen richteten sich auf die Decke, seine Lippen wurden schlaff und feucht. Man sah, wie dem armen alten Kerl buchstäblich das Wasser im Munde zusammenlief.
«Wie mögen Sie Ihre Ente?», fuhr der Mann fort. «Sehr braun und knusprig, oder bevorzugen Sie …?»
«Ich komme», sagte Drioli rasch, bückte sich nach seinem Hemd und zerrte es in wilder Hast über den Kopf. «Warten Sie auf mich, Monsieur. Ich komme.» Und gleich darauf war er mit seinem neuen Gönner aus der Kunsthandlung verschwunden.
Schon wenige Wochen später wurde ein Bild von Soutine – das Porträt einer Frau, in einer ungewöhnlichen Technik gemalt, schön gerahmt und dick mit Firnis überzogen – in Buenos Aires zum Verkauf angeboten. Diese Tatsache stimmt uns ein wenig nachdenklich, umso mehr, als es in Cannes kein Hotel Bristol gibt. Wir können nur für die Gesundheit des alten Mannes beten und inbrünstig hoffen, dass er dort, wo er jetzt weilt, von einem reizenden drallen Mädchen manikürt wird und dass ihm ein Stubenmädchen morgens das Frühstück ans Bett bringt.