Ein Mann kann erhalten zum Lohne
Für einen einzigen Traum eines Reiches Krone.
Und drei können mit neuer Lieder Klagen
Ein Reich rasch wieder zerschlagen.
Das Licht der Hafenfackeln flackerte auf den Wellen und strahlte in den Nachthimmel ab; es war eine schwache Nachahmung des zunehmenden Mondes, der beharrlich über dem Ende des Kais hing und immer wieder von den Wolken verschluckt wurde, die auf dem Wind vorübersegelten. Bis tief in die Nacht hatten Dutzende noch dunklerer Gestalten geflucht, geschwitzt und ausgespuckt, hatten endlos lange in die Eingeweide der Schiffe hineingelangt, die aufgereiht an der Mole lagen, und ihnen ihre Schätze in Gestalt von Fässern, Truhen und losen Ballen entrissen, welche für den Markt in Ganth bestimmt waren. Sie hatten die Waren grob auf die Wagen oder Zugschlitten geworfen, wobei sich ihre Muskeln vor Anstrengung gespannt hatten, und dabei so manchen Fluch gemurmelt. Die Zugpferde hatten das Herannahen des Nachtregens gespürt; sie hatten in ihren Geschirren getänzelt und sich vor dem Donner gefürchtet.
Als im Hafen endlich Ruhe einkehrte, waren die Fackeln heruntergebrannt, und es herrschte nur mehr das Licht des hartnäckigen Mondes. Quinn tauchte aus dem Bauch der Corona auf und ging die Landebrücke entlang. Mehrmals schaute er hinter sich, bis er die Pier erreicht hatte. Die Hafenarbeiter hatten sich an wärmeren, lauteren Orten zu der Mannschaft des Schiffes gesellt und tranken sich nun zweifellos in Kampfeslust oder angenehme Besinnungslosigkeit. Am nächsten Morgen würde in ihren Quartieren sicherlich ein feiner Gestank herrschen. Doch der Geruch von Darmgasen und saurem Erbrochenen war angenehm im Vergleich zu dem, was Quinn am Ende des dunklen Kais erwartete.
Quinn hatte schon immer gute Augen gehabt. Er hatte den Seemannsblick, der den endlosen Horizont nach jeder winzigen Veränderung in der wässerigen, grau-blauen Monotonie absuchte; er konnte aus dem Krähennest gegen die Sonne eine Möwe von einer Seeschwalbe aus einer Entfernung unterscheiden, welche seine Mitmatrosen immer wieder verblüffte. Dennoch traute er bei den letzten Schritten auf diesem Gang seinen Augen nicht, denn die Person, der er entgegenging, schien sich andauernd zu verändern.
Quinn war sich nicht sicher, doch es schien, als werde der Mann dicker und fester; seine langen, dünnen Finger setzten Fleisch an, die Schultern reckten sich unter dem gut geschneiderten Mantel. Quinn glaubte, ein blutiges Glitzern in den Augenwinkeln des Seneschalls gesehen zu haben, doch bei näherem Hinsehen erkannte er, dass er sich getäuscht hatte. Die Augen waren von klarem Blau wie ein wolkenloser Sommerhimmel und ohne jede Spur von Rot. Die Wärme dieses Blicks reichte beinahe aus, um die Kälte zu vertreiben, die unweigerlich wie eine schlüpfrige Schlingpflanze durch Quinn kroch, wann immer sich die beiden Männer begegneten.
»Willkommen, Quinn.« Die Wärme in der Stimme des Seneschalls passte zu seinem Blick.
»Vielen Dank, Herr.«
»Ich gehe davon aus, dass deine Reise erfolgreich war.«
»Ja, Herr.«
Der Seneschall würdigte ihn immer noch keines Blickes, sondern starrte auf die Wogenkämme unter der Pier. »War sie es?«
Quinn schluckte; plötzlich war seine Kehle trocken geworden. »Ich bin mir so sicher wie nur möglich, Herr.«
Schließlich drehte sich der Seneschall ihm zu und schaute nachdenklich auf ihn herab. Nun bemerkte Quinn es: den Geruch – den schwachen, fauligen Gestank von brennendem menschlichen Fleisch. Er kannte diesen Duft sehr gut.
»Woher willst du das wissen, Quinn? Ich will nicht vergeblich um die ganze Welt segeln. Ich bin sicher, du verstehst das.«
»Sie trägt das Medaillon, Herr. Es ist ein ganz schäbiges Stück im Vergleich zu all ihren anderen Juwelen.«
Der Seneschall betrachtete Quinns Gesicht und nickte dann schwach. »Nun gut. Ich vermute, es ist an der Zeit, ihr einen Besuch abzustatten.«
Quinn gab ein benommenes Nicken zurück und merkte kaum, dass inzwischen Regentropfen die Planken nässten.
»Vielen Dank, Quinn. Das ist alles.« Wie in überschwänglicher Zustimmung wallte die wogende Welle der Hitze durch die Docks und wurde einen Augenblick später vom Rumpeln des fernen Donners untermalt. Der Seemann verneigte sich rasch, drehte sich um und eilte zurück zur Corona und zu seinem winzigen, dunklen Loch im Unterdeck.
Als er die Landebrücke erreicht hatte und zurückschaute, war die Gestalt wieder zu einem Teil des Regenwindes und der Dunkelheit geworden.
Auf der anderen Seite der Welt regnete es heftig. Die Nacht brach herein und brachte die erbarmungslosen Wassermassen mit sich, die Berthes Gemüt belasteten, seit der Sturm in der Abenddämmerung eingesetzt hatte – auch wenn es zunächst nur ein milder, aber hartnäckiger Schauer gewesen war. Beinahe stündlich hatten Reisende an die Küchentür geklopft, um Obdach gebeten und Regenwasser und Schlamm von der Straße auf dem frisch gewischten Boden verteilt. Zu Beginn der Nacht hatte sie den letzten der eintreffenden Männer mit so wütenden und beißenden Worten bedacht, dass der Kammerherr persönlich sie zurechtgewiesen hatte. Er hatte sie daran erinnern müssen, dass sie ihre Stellung erst kürzlich angetreten hatte und die Herrin der Cymrer ein hohes Maß an Höflichkeit in Haguefort erwartete, jener Festung aus rosig braunem Stein, in der das königliche Paar lebte, während der wunderschöne Palast, den ihr Gemahl für sie nahebei errichtete, erst allmählich fertig gestellt wurde.
Doch die Herrin war schon seit Wochen abwesend, was die Laune ihres Gemahls beständig verschlechterte. Lord Gwydion verbrachte die noch verbleibenden zwei Wochen bis zu ihrer Rückkehr bei nächtelangen Gesprächen mit seinen müden Ratgebern, die unter sich der Hoffnung Ausdruck verliehen, die nächsten beiden Wochen möchten angesichts seiner unangenehmen Verfassung rasch vorübergehen. Berthe hatte ihrer Herrin noch nie gegenübergestanden, ja, sie noch nicht einmal gesehen, doch im Gegensatz zu den übrigen Bediensteten im Palast betete sie trotz der üblen Laune des Herrn nicht um ihre baldige Rückkehr. Während ihrer zehntägigen Tätigkeit in Haguefort hatte Berthe bereits herausbekommen, dass die Herrin der Cymrer eine seltsame Gestalt mit sehr merkwürdigen Vorstellungen war.
Nun lag die riesige Küche im Dunkeln, die polierten Steinfliesen waren wieder sauber gescheuert, und die Kohlen des Herdfeuers brannten zu flackernder Asche nieder. Oben in den Ratssälen auf der anderen Seite des Hauptflügels war noch Licht, und manchmal erhoben sich Stimmen in schwach hörbarem Lachen oder Streiten. Berthe lehnte sich gegen die Mauer des Herdes und seufzte. Wie zum Hohn ertönte der Türklopfer.
»Fort mit dir«, grollte die Scheuermagd hinter der Klinke. Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann ertönte der Klopfer abermals und lauter als zuvor.
»Geh weg!«, rief Berthe, bevor sie sich eines Besseren besann. Sie sah sich verstohlen um und fürchtete die Rückkehr des Kammerherrn. Als sie sich vergewissert hatte, dass weder eine wichtige Person in der Nähe war noch eine solche, die ihr Verhalten einer wichtigen Person hätte hinterbringen können, zog sie den Riegel zurück, räusperte sich und öffnete die Tür einen Spalt breit. Vor ihr lag nichts als die Düsternis der furchtbaren Nacht.
Da Berthe niemanden auf der Schwelle sah, machte sie sich daran, die Tür mit einem verärgerten Grummeln, das tief aus dem faltigen Hals kam, wieder zu schließen.
Ein Blitz zuckte auf, und in seinem rasch verlöschenden Licht war plötzlich eine Gestalt zu sehen, die gerade die Kapuze ihres Mantels abnahm, dessen Umrisse Berthe kaum erkennen konnte. Noch vor einem Augenblick hatte sie den Besucher überhaupt nicht bemerkt. Ein statisches Knistern summte über ihre Haut, als sie in die nächtliche Finsternis starrte. Berthe musste angestrengt durch den Regenschleier spähen, um die Gestalt wahrzunehmen. Wenn sie nicht in dem Augenblick hinausgeschaut hätte, als der Blitz niedergefahren war, hätte sie gar nichts gesehen. Sie baute sich vor der Gestalt auf, die gerade ihre saubere, aufgeräumte Küche betreten wollte.
»Ein Stück weiter die Straße hinunter gibt es ein Gasthaus«, brummte sie in den Regen hinein. »Alle liegen schon zu Bett. Die Küche ist längst geschlossen. Ich kann das Personal schließlich nicht die ganze Nacht hindurch wach halten.«
»Bitte lass mich hinein. Es ist sehr kalt hier draußen im Regen.« Es war die Stimme einer jungen Frau – sanft, ein wenig verzweifelt und schwer wie die eines müden Reisenden.
Berthes Verärgerung sprach deutlich aus ihrer Antwort, obwohl sie sich um die Höflichkeit bemühte, auf der ihre Herrin angeblich selbst Bauern gegenüber bestand. »Was willst du? Es ist mitten in der Nacht. Geh jetzt endlich fort.« »Ich will den Herrn der Cymrer sprechen.« Es war, als habe die Dunkelheit selbst geantwortet.
»Die Bitttage sind erst nächste Woche«, antwortete Berthe und schloss die Tür weiter. »Komm dann zurück. Der Herr und die Herrin beginnen mit den Anhörungen bei Sonnenaufgang am ersten Tag des neuen Mondes.«
»Warte«, rief die Stimme, als sich der Spalt verengte. »Bitte sage dem Herrn, dass ich hier bin. Ich glaube, er wird mich sehen wollen.«
Berthe spuckte in eine Pfütze aus dreckigem Wasser, die sich vor der Türschwelle gebildet hatte. Sie hatte schon öfter mit solchen Frauen zu tun gehabt. Der Herr von Dronsdale, ihr früherer Arbeitgeber, hielt sich einen ganzen Pferch von ihnen für die einzelnen Nächte der Woche. Sie versammelten sich vor dem Stall und warteten darauf, dass sich die Herrin von Dronsdale zurückzog. Dann putzten sie sich unter dem rückwärtigen Fenster heraus, und jede hoffte, vom Herrn auserwählt zu werden, der seine Gunstbezeugungen vom Balkon aus kundtat. Es war Berthes Aufgabe gewesen, all die abgewiesenen Mädchen fortzuscheuchen, was eine beschwerliche Arbeit gewesen war. Sie hoffte, dass sich dies in Haguefort nicht wiederholte.
»Sind wir nicht eine etwas dreiste Dirne?«, zischte sie, wobei sie ihre erst kürzlich genossene Ausbildung vergaß. »Es ist schon nach Mitternacht, und du bist unangemeldet an einem Tag hergekommen, der vom Gesetz nicht vorgesehen ist. Wer bist du, dass der Herr dich zu dieser Stunde sehen wollte?«
Die Stimme blieb fest. »Seine Frau.« Später begriff Berthe, dass der klickende Laut, den sie nach diesen Worten vernahm, von ihrem eigenen aufklappenden Kiefer herrührte; er blieb recht lange in dieser Stellung. Doch plötzlich schloss sie den Mund wieder und zog die schwere Tür ganz auf. Die Angeln kreischten vor Widerwillen auf.
»Herrin, vergebt mir, ich hatte keine Ahnung, dass Ihr es seid.« Wer würde erwarten, dass die Herrin der Cymrer wie eine Bäuerin gekleidet mitten in der Nacht vor der Küchentür steht?, fragte sie sich und griff sich an den eiskalt gewordenen Bauch.
In der Dunkelheit regte es sich, und die vom Mantel umhüllte Gestalt huschte in die Küche. Als sich ihr Umriss gegen den Feuerschein abhob, erkannte Berthe, dass die Herrin der Cymrer nicht größer als sie selbst und sehr zart war. Ihr Kinn zitterte, als die junge Frau die Kapuze ihres Mantels inmitten einer Nebelwolke abnahm, die aus den Falten des Stoffes aufstieg; dann zog sie sich das Kleidungsstück von den Schultern.
Als Erstes kam aus dem einfachen, blau-grauen Stoff das schönste Gesicht hervor, das Berthe je gesehen hatte, bekrönt mit goldenem Haar von der Farbe des Sonnenlichtes, das von einem einfachen schwarzen Band zusammengehalten wurde. Der Ausdruck ihres Gesichts sprach eindeutig von Verärgerung, doch die Dame sagte nichts, bis sie ihren Mantel, der immer noch mit einer Aura aus Nebel umgeben war, zusammen mit einem Köcher und einem weißen Bogen sorgfältig an einen Haken über dem Herd gehängt hatte. Dann wandte sie sich an Berthe.
Als sich die tief smaragdgrünen Augen der Herrscherin im Schatten des Feuerscheins auf die Scheuermagd richteten, wich jedoch der Blick der Verärgerung einem Ernst, in dem keine Wut mehr lag. Sie wischte sich das Regenwasser von der braunen Leinenhose und drehte sich wieder dem Herd zu, dessen Flammen wie zum Willkommensgruß aufsprangen und ihr die Hände wärmten.
»Mein Name ist Rhapsody«, sagte sie nur und sah die Scheuermagd aus den Augenwinkeln an. »Ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet.«
Berthe öffnete den Mund, aber kein Laut kam heraus. Sie schluckte und versuchte es erneut.
»Berthe heiße ich, Herrin. Ich bin neu hier in der Küche. Und ich bitte untertänigst um Entschuldigung. Ich hatte keine Ahnung, dass Ihr es wart... eben an der Tür.«
Die Herrscherin der Cymrer drehte sich ihr wieder zu und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du hättest nicht wissen müssen, dass ich es bin, Berthe. Jeder Reisende, der an diese Tür kommt, soll hereingebeten und willkommen geheißen werden.« Sie sah, wie sich ein Ausdruck des Entsetzens über das verrunzelte Gesicht der alten Frau legte, und fuhr unbewusst mit der Hand an das verknäulte goldene Medaillon an ihrem Hals. Sie glättete die Kette und räusperte sich.
»Es tut mir Leid, dass dir das bei deiner Einstellung nicht gesagt wurde«, meinte sie rasch und warf einen kurzen Blick auf die innere Tür der Küche. »Und ich entschuldige mich dafür, dass ich dich so tief in der Nacht gestört habe. Willkommen in Haguefort. Ich hoffe, du arbeitest gern hier.«
»Ja, Herrin«, murmelte Berthe nervös. »Ich sage dem Kammerherrn, er soll den Herrscher benachrichtigen, dass Ihr hier seid.«
Die Herrin der Cymrer lächelte; der Feuerschein tanzte auf ihrem Medaillon. »Das ist nicht nötig«, sagte sie freundlich. »Er weiß es schon.«
Die Küchentür wurde mit einer Wucht aufgedrückt, dass Berthe zusammenzuckte. Sie sprang noch weiter zur Seite, als der Mahlstrom, der sich als der cymrische Herrscher herausstellte, in einem Wirbel aus wogender Kleidung und rasender, Kraftgeborener Geschwindigkeit an ihr vorbeirauschte. Sein seltsames rot-goldenes Haar fing das Licht des zischenden Feuers ein und schimmerte drohend. Sie fuhr sich mit der Hand nervös an die Kehle und ließ den Mann nicht aus den Augen, von dem es hieß, er habe das Blut der Drachen in den Adern. Er rannte auf die kleine Herrin zu und packte sie. Berthe wäre nicht überrascht gewesen, wenn er ihr ein Glied nach dem anderen ausgerissen oder sie an Ort und Stelle aufgefressen hätte.
Einen Augenblick später öffnete sich die Küchentür erneut. Berthe lehnte sich gegen die Wand, als Gerald Owen, der Kammerherr, sowie eine Anzahl königlicher Besucher den Durchgang verstopften; einige von ihnen hatten die Waffen gezogen.
Owens runzeliges Gesicht entspannte sich, als er die Herrin in den Armen des Herrschers sah.
»Ah, Herrin, willkommen daheim«, sagte er, zog ein Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn, für den sowohl Erschöpfung als auch das lodernde Kaminfeuer verantwortlich waren. »Wir hatten Euch erst in vierzehn Tagen zurückerwartet.«
Die cymrische Herrscherin versuchte sich aus der Umarmung ihres Gatten zu befreien, doch es gelang ihr nur, den Kopf über seine Schulter zu heben.
»Vielen Dank, Gerald«, erwiderte sie. Ihre Worte wurden zum Teil von dem Hemd ihres Gemahls erstickt. Sie nickte in Richtung der Adligen, die sich noch immer an der Küchentür drängten. »Meine Herren.«
»Eure Hoheit«, antwortete ein Stimmenchor.
Rhapsody flüsterte ihrem Mann etwas ins Ohr, das ihn zu einem Kichern veranlasste; dann streichelte sie ihn und entwand sich seinem Griff. Gwydion wandte sich an seine Ratgeber.
»Vielen Dank, meine Herren. Gute Nacht.«
»Nein, nein, bitte brecht Euer Treffen nicht meinetwegen ab«, wandte Rhapsody ein. »Ich würde gern daran teilnehmen. Es gibt ein paar Staatsangelegenheiten, die ich mit einigen dieser edlen Herren besprechen möchte.« Sie blickte wieder zum Herrscher auf, der einen Kopf größer war als sie. »Sind Melisande und Gwydion Navarne schon im Bett?«
Gwydion schüttelte den Kopf, als der Kammerherr zum Herd hinüberging und Rhapsodys Mantel ergriff, der immer noch seine Nebelaura verströmte. »Melly ist natürlich im Bett, aber Gwydion hält zusammen mit uns Rat. Er hat viele gute Vorschläge gemacht.«
Das Lächeln der Herrscherin wurde breiter, während sie die Arme öffnete, als der Namensvetter ihres Mannes, der große, dünne Knabe, der eines Tages der Herzog von Navarne sein würde, sich einen Weg durch die Menge bei der Tür bahnte und in ihre Umarmung lief. Sie sprachen leise miteinander, und der Herrscher wandte sich wieder an seine Ratgeber.
»Gebt uns bitte noch ein paar Augenblicke«, sagte er. »Wir werden unsere Gespräche – kurz – in einer halben Stunde wieder aufnehmen.« Die Adligen zogen sich zurück und schlössen die Küchentür hinter sich.
Berthe sah den Kammerherrn an, der ihr mit einem nervösen Nicken bedeutete, sie solle auf ihr Zimmer gehen. Die Scheuermagd verneigte sich unbeholfen und zog sich hastig in ihr Quartier zurück. Sie fragte sich, ob die Herrin von Dronsdale sie wohl zurücknehmen würde.
Der Herrscher der Cymrer beobachtete, wie Gerald Owen langsam hinüber zu seiner Frau ging, die soeben ihr Schwert abnahm, ohne das Gespräch mit ihrem Mündel zu unterbrechen. Owen war schon seit vielen Jahren Kammerherr und hatte sowohl Gwydion Navarnes Vater Stephen als auch schon Stephens Vater gedient. Selbst in späteren Jahren geriet seine Loyalität zu Stephens Kindern und deren Schutzbefohlenen nicht ins Wanken. Vorsichtig nahm er Rhapsodys Schwert und Mantel entgegen und verließ die Küche, ohne dass die Herrscherin ihr Gespräch hätte unterbrechen müssen.
»Zwanzig Volltreffer in derselben Runde?«, sagte sie gerade zu Gwydion Navarne. »Ausgezeichnet! Ich habe dirnoch mehr von diesen langen lirinischen Pfeilen mitgebracht, die dir in Tyrian so gut gefallen haben. Sie sind in deinen Farben gefiedert.«
Gwydions sonst so besonnenes Gesicht strahlte. »Vielen Dank.«
Der cymrische Herrscher klopfte seiner Frau auf die Schulter und deutete auf die Tür, durch die Gerald Owen gegangen war.
»Ich habe dir meinen Nebelmantel ausgeborgt, damit du unbemerkt von Straßenräubern und Dieben reisen kannst«, brummte er in gespielter Ernsthaftigkeit. »Aber nicht, damit du unbemerkt von mir zurückkehrst.«
»Glaube mir, meine Rückkehr wird nachher deine ganze Kraft beanspruchen«, sagte sie neckisch.
»Aber erst muss ich mit Ihrman Karsrick sprechen, bevor er nach Yarim zurückkehrt. War er bei den Ratgebern an der Tür?«
»Ja.«
»Gut.« Sie steckte die Hand in die Armbeuge ihres Mannes. »Nun wollen wir uns um die Staatsangelegenheiten kümmern, damit wir uns rasch... in unsere Gemächer zurückziehen und, äh, uns unseren eigenen Angelegenheiten widmen können.«
Als sie Arm in Arm mit den beiden Gwydions an alten Statuen und sorgfältig restaurierten Gobelins aus dem ersten cymrischen Zeitalter vorbei durch die hohen Hallen von Haguefort ging, kämpfte Rhapsody gegen eine Welle widerstreitender Gefühle. Einige waren schmerzlich bitter, einige angenehm, doch alle tief empfunden, und keines hatte sich im Lauf der Zeit verändert. Das Gefühl des Verlustes, das sie und Ashe, wie ihr Mann bei seinen Freunden hieß, über den vor drei Jahren erfolgten Tod von Stephen – Gwydion Navarnes Vater und Ashes bestem Freund – empfanden, war immer noch sehr stark. Es war ihr unmöglich, durch die Korridore von Haguefort zu gehen, der Festung, die Stephen so liebevoll restauriert und mit unbezahlbaren Antiquitäten gefüllt hatte, oder die historischen Ausstellungsstücke im cymrischen Museum innerhalb des Schlosses zu betrachten, ohne von der Erinnerung an den jungen Herzog und die große Freude, die er am Leben gehabt hatte, überwältigt zu werden. Jedes Mal, wenn sie Haguefort verlassen hatte und zurückkehrte, glich sein Sohn ihm mehr.
Diese Gedanken griffen ihr ans Herz. Rhapsody blinzelte. Gwydion Navarne schaute von der ersten Stufe der großen Treppe auf sie hinunter und bot ihr seine Hand für den Weg zur Bibliothek an, in der sich Ashe mit seinen Ratgebern traf. Nun sah er ganz wie sein Vater aus. Ashe stand neben ihr und drückte ihre Hand; er hatte es verstanden. Rhapsody erwiderte den Druck, ergriff dann die Hand ihres jungen Mündels und erlaubte ihm, sie die Stufen hoch zu führen.
Auf die Treppe fiel farbiges Licht aus dem Bleiglas in den Leuchtern über ihnen, in denen zahllose Talgkerzen steckten. Rhapsody dachte daran, wie sorgfältig Stephen dieses wunderschöne Glas und alles andere in der Festung und dem Museum ausgewählt hatte. Unter diesen Gedanken war ihr nächster Atemzug schwerer als der vorige.
Nach Stephens Tod hatten sie beschlossen, in Haguefort zu bleiben und es für Gwydion und seine jüngere Schwester Melisande so zu bewahren, wie es zuvor gewesen war. Stephen war zum Witwer geworden, als die Kinder noch sehr jung gewesen waren, und er hatte alles getan, dass für sie das Leben nach dem Tod ihrer Mutter in gewohnten Bahnen weiterlief. In ihrer Liebe zu ihm hatten Rhapsody und Ashe anfangs dasselbe versucht. Dennoch kam nun bald die Zeit, wo Gwydion Navarne alt genug für den Titel seines Vaters war. Als Rhapsody ihn die große Treppe hochsteigen sah, musste sie zugeben, dass dieser Tag näher war, als sie wahrhaben wollte.
Als sie in einen Teich blauen Lichts trat, wisperte ein kühler Luftzug über Rhapsodys Haar und Nacken. Sie blieb sofort stehen und drehte sich um. Im flackernden Schein der Leuchter glaubte sie eine schwache Bewegung auszumachen. Doch als sie genauer hinschaute, war da nichts außer tanzenden Schatten.
Ashe schloss sanft die Hand um ihren Ellbogen.
»Aria? Ist mit dir alles in Ordnung?«
Eine alte Angst, abgestanden und aus der Gruft ihrer Erinnerungen, in der sie lange begraben gewesen war, stieg wie Galle in ihr auf und brannte in der Kehle. Mit dem nächsten Flackern des Kerzenlichts war sie wieder verschwunden.
Benommen betastete Rhapsody ihren Hals. Die brennende Furcht war vollkommen zerstoben. Sie glättete die Kette des goldenen Medaillons in der Halsbeuge und den Kragen ihres kambrischen Hemdes; dann schüttelte sie den Kopf, als wollte sie einen schlechten Traum vertreiben. Seit ihrer Kindheit überfielen sie manchmal Visionen der Vergangenheit oder Zukunft, doch der flüchtigen Kälte folgte diesmal nichts; sie war fort.
Die Herrin der Cymrer sah zu ihrem Gemahl auf und lächelte ihn an, um die Sorge zu vertreiben, die sie in den Runzeln seines Gesichts und in seinen himmelblauen Augen mit den senkrecht geschlitzten Pupillen sah – ein schwaches Überbleibsel des Drachenblutes, das in seinen Adern rann.
»Ja«, sagte sie nur. »Komm, wir sollten die Ratgeber nicht warten lassen.«