Zweiter Faden Der Schussfaden

Ziegelei — Yarim Paar — Provinz Yarim

So wie die Flüsse unweigerlich ins Meer fließen, fand in Yarim Paar jedes öffentliche oder verborgene Wissen und jedes Geheimnis früher oder später den Weg zu Estens Ohr.

Das wusste Slith.

Es war gleichgültig, ob das Geheimnis unter der hellen, unbarmherzigen Sonne Yarim Paars umlief, welche den rotbraunen Lehm der verfallenden nördlichen Stadt im Sommer buk, oder in den dunklen, kühlen Gassen auf dem Markt der Diebe, dem dekadenten, übervollen Basar, dessen exotischer und düsterer Handel Tag und Nacht blühte – Esten würde es doch irgendwann erfahren. Das war so unausweichlich wie der Tod.

Und da es den Tod bedeuten konnte, wenn man solchen Informationen im Wege stand, war es üblicherweise für den Träger eines Geheimnisses besser, es sofort Esten zu verraten, damit man nicht als jemand angesehen wurde, der den Versuch wagte, es vor ihr zu verbergen.

Doch es gab Ausnahmen.

Slith schaute nervös auf. Der Geselle, der seine Arbeit und die der anderen Lehrlinge beaufsichtigte, reckte und streckte sich in den Schatten der großen, offenen Brennöfen und suchte Erleichterung von der sengenden Hitze, wobei er den Jungen keine Aufmerksamkeit mehr schenkte. Bonnard war ein übergewichtiger Mann, ein geschickter Keramiker, dessen Umgang mit den Ziegelzangen und Mosaiksteinen unerreicht war, doch er war kein guter Aufseher. Slith stieß die Luft aus und griff vorsichtig nach dem grünen Topf auf dem unteren Regal.

Es war noch da, wo er es gestern gefunden hatte, in den bislang ungebrannten Ton am Boden des Gefäßes gedrückt.

Ein weiterer Blick zurück versicherte ihm, dass Bonnards Aufmerksamkeit von anderen Dingen beansprucht wurde. Mit einer sanften Bewegung, die keiner der anderen Knaben bemerken sollte, welche gerade die Dungfeuer schürten, holte Slith den Behälter aus dem Regal und steckte ihn unter den Arm, dann ging er durch die Hintertür der Ziegelbrennerei zum Abort.

Slith war schon lange an den Gestank gewöhnt, der ihm jedes Mal entgegenschlug, wenn er den verrotteten Leinwandvorhang beiseite zog. Er schlüpfte dahinter und zog ihn sorgfältig wieder vor. Dann steckte er die feuchten und leicht zitternden Hände durch die Öffnung des Gefäßes. Mit festem Griff zog er den Inhalt hervor und hielt ihn gegen das Licht des aufgehenden Mondes, das durch die Risse im Abortvorhang drang.

Ein blau-schwarzes Leuchten traf in der Dunkelheit seine Augen.

Mit großer Vorsicht drehte Slith die Scheibe in den Händen. Sie war dünn wie der Flügel eines Schmetterlings und fing das Mondlicht ein, das in Wellen über den vollkommen gerundeten Rand lief. Dieser war rasiermesserscharf. Slith hatte sich mehrere Hautschichten vom Handrücken abgeschabt, als er gestern die älteren Urnen zum Brennen aus dem staubigen Vorratsraum zu den Brennkammern gebracht und dabei ganz zufällig in das Gefäß gegriffen hatte.

Möglicherweise hätte er seine Neugier auf einen gemurmelten Fluch beschränkt und angenommen, die seltsame Metallscheibe sei ein Schabwerkzeug, wenn da nicht der dunkle, zähe Schatten auf der Oberfläche gewesen wäre. Sliths Hand zitterte, als er die Scheibe umdrehte.

Er war noch da.

Der Schatten aus schon lange getrocknetem Blut.

Eine Erinnerung überschwemmte Slith. Vor drei Jahren waren er und der andere Lehr junge im ersten Jahr mitten in der Nacht von Glocken geweckt worden, die wie verrückt tief im Innern der Brennerei geläutet hatten. Er und die übrigen Lehrlinge der Kunst des Ziegelbrennens waren hervorgekrochen, um zu sehen, was es für ein Notfall war, doch sie waren von den Gesellen, die der Alarm herbeigerufen hatte, grob beiseite gestoßen worden. Was sie entdeckt hatten, weckte ihn noch Monate später jede Nacht.

Die großen Kessel mit kochendem Lehm waren von den Feuern gestoßen worden, und ein See aus geschmolzener Erde hatte sich wellenförmig in die ganze Brennerei ergossen. Drei der Lehrlinge, die in der Spätschicht gearbeitet und sich um den Lehm und die Kesselfeuer gekümmert hatten, waren verschwunden, doch einer war später unter einem Berg erkaltenden Lehms erstickt aufgefunden worden. Die Leichname der anderen beiden – Omet, ein kahlköpfiger Lehrling im fünften Jahr, den Slith gemocht hatte, und Vincane, ein bestialischer Junge mit einer Vorliebe für grausame Spaße – hatte man nie gefunden. Auch etwa ein Dutzend Gesellen wurden vermisst.

Doch das Schlimmste war, dass die Nische, die zu dem Tunnel hinabgeführt hatte, in welchem die Sklavenjungen heimlich gegraben hatten, mit kochender Erde aufgefüllt und irgendwie gebrannt worden war, sodass ein undurchdringlicher Keramikwall zurückblieb.

In dieser schicksalhaften Nacht hatte Slith zum zweiten Mal in seinem Leben Esten gesehen, die Eigentümerin der Brennerei und Vorsteherin der Rabengilde, der Handelsvereinigung der Keramiker, Ziegelbrenner, Glasbläser und anderer Kunsthandwerker, die jedoch nichts anderes war als der Deckmantel für einen Ring höchst grausamer und schändlicher Marktdiebe.

Das erste Mal war an dem Tag gewesen, als er seine Lehrstelle in der Ziegelei angetreten hatte. Obwohl Estens Gesicht von düsterer Schönheit, ihr Körper schlank und ihr Lächeln leuchtend waren, lag in ihrem Äußeren und in der Art, wie sie sich bewegte, eine solch unausgesprochene Drohung, dass der damals neunjährige Slith in ihrer Gegenwart unbändig gezittert hatte. Esten hatte ihn von oben bis unten wie ein Schwein begutachtet, das sie zu kaufen beabsichtigte, dann genickt und ihn mit einer Handbewegung entlassen. Er war übergeben worden, der Vertrag unterzeichnet, und sein Leben gehörte seither nicht länger ihm selbst, falls das überhaupt je der Fall gewesen war. Von diesem Augenblick an hatte die Angst, die in jener Nacht in ihm geboren worden war, niemals wirklich abgenommen.

Aber sie konnte noch wachsen.

In der Nacht des Unglücks hatte er Esten zum zweiten Mal gesehen. Das kühle, distanzierte Verhalten, das er am Tag seiner Übergabe bei ihr festgestellt hatte, war verschwunden und durch eine Wut ersetzt, die so groß war, dass sie den Donner aus dem Himmel herabzuzwingen schien. Slith versuchte das Bild von Esten zu vergessen, wie sie entschlossen um die Berge aus abkühlendem Lehm herumging, plötzlich in abgehackte, schnelle Bewegungen ausbrach, die ausglühenden Kohlen beiseite trat, die offenen Türen der kalten Brennöfen zuwarf und Regale mit Töpfen und gebrannten Ziegeln in schwarzer Wut umstieß. Die verbliebenen Gesellen zuckten unter ihren Kobrahaften Zornesausbrüchen zusammen und wurden noch unruhiger, als sich diese Wut zu einer wallenden, nachdenklichen Anspannung abkühlte.

Nachdem sich Esten totenstill das Unglück länger als eine Stunde angeschaut hatte, drehte sie sich um und bedachte die versammelten Männer und Jungen mit einem gefrierenden Blick.

»Das war kein Unfall«, sagte sie leise und mit einer Besonnenheit, die Slith eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Die Gesichter der Gesellen, die nur von den ersterbenden Kohlen der Brennfeuer erhellt wurden, erblassten bei diesen Worten.

Es war unnötig für sie, dem noch etwas hinzuzufügen.

Doch auch drei Jahre später hatte man, soweit Slith wusste, noch immer keine Hinweise oder Antworten auf das Rätsel jener Nacht gefunden.

Nun war das Leben in der Ziegelei noch eingeschränkter als zuvor. Vor dem Zwischenfall war jedermann wegen der höchst heiklen Natur der Arbeiten in den Tunneln unter der Ziegelei wachsam gewesen. Nun kam der Druck der unbeantworteten Frage hinzu, wer lebensmüde genug sein mochte, Estens geheimes Graben zu verhindern, und kühn genug, etwas für sie so Wichtiges zu zerstören. Es war gleichgültig, ob die Antwort auf einen klugen und mächtigen Gegner oder nur einen besonders glückhaften Narren hindeuten würde.

Denn wie die Flüsse unweigerlich ins Meer münden, so fanden alle Geheimnisse früher oder später den Weg zu Estens Ohr.

Und Slith hatte gerade eines entdeckt.

Der Kessel — Ylorc

Das Feuer in dem gewaltigen Herd im Ratszimmer hinter dem Thronraum knisterte und loderte in glühender Wut; es passte hervorragend zu der Stimmung des Firbolg-Königs.

Achmed die Schlange, das Glimmende Auge, der Erdenvertilger, der Gnadenlose und Träger einer Menge weiterer Furcht einflößender Beinamen, die ihm von seinen Bolg-Untertanen sowohl als Ehrbezeugung als auch aus Angst verliehen worden waren, beugte sich auf seinem schweren Holzstuhl vor und warf eine Hand voll Glasscherben in den Rachen des Feuers, wobei er leise bolgische Flüche murmelte. Die langen Finger seiner dünnen Hände schlössen sich wie Schraubstöcke umeinander und kamen schließlich vor der unteren Hälfte seines Gesichts zur Ruhe, das wie immer von schwarzem Tuch verhüllt wurde, während seine unterschiedlichen Augen – eines hell, das andere dunkel – in wilder Stille das Feuer beobachteten.

Omet fuhr sich geistesabwesend mit der Hand über den Bart und lehnte sich gegen die Mauer, aber er sagte nichts. Er war bekannt für seine genauen Beobachtungen und hatte schon zu Beginn seines Lebens in Ylorc vor drei Jahren gelernt, dass der König reden würde, wenn er seine unzähligen Gedanken, Bilder, Pläne, Gegenentwürfe und Eindrücke gesammelt hatte, mit denen sein schwingungsempfindlicher Körper andauernd bombardiert wurde.

Eine Störung dieses Ausrichtungsprozesses wurde im Allgemeinen nicht geschätzt. Im Gegensatz zu seinen Kunsthandwerkerkollegen, von denen viele Bolg waren, schätzte Omet das Schweigen. Nachdem er die anderen lange beobachtet hatte, wie sie unbehaglich von einem Fuß auf den anderen traten oder in der Gegenwart des Bolg-Königs nervös schwitzten, reckte und streckte er sich, beugte sich vor und hob den letzten Splitter vom Boden auf, ließ ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hindurchgleiten und hielt ihn dann vor den Feuerschein.

Der König hat Recht, dachte er. Zu dick.

Als der König schließlich die gefalteten Hände senkte, die gegen die Oberlippe gelegt gewesen waren, stand Omet auf. Er war inzwischen recht gut darin, die feinen Zeichen zu erkennen, welche eine Veränderung in der Stimmung des Bolg-Königs andeuteten, und er versuchte sie diskret seinen Gefährten deutlich zu machen. Nun räusperte er sich leise.

»Zu viel Feldspat«, sagte Omet.

Der Bolg-König blinzelte, sagte aber nichts.

Shaene, ein großer, stämmiger Keramiker aus Canderre, beugte sich vor und zupfte mürrisch an seiner ledernen Schürze.

»Goldschmalte?«, fragte er besorgt.

Der Bolg-König bewegte den Kopf nicht, doch die verschiedenfarbigen Augen richteten sich auf Omet. Omet schüttelte den Kopf.

Shaene schnaubte ungeduldig. »Dann das Glas. Was sagst du dazu, Sandy?«

Omet seufzte laut. »Nicht stark genug.«

»Pah!«, brummte Shaene und warf seinen verätzten Lederhandschuh auf den großen Tisch. Die Muskeln in König Achmeds Rücken versteiften sich.

Plötzlich wurde es still im Raum.

Rhur, ein Firbolg-Steinmetz und der einzige andere Mann neben Omet, dessen Stirn noch trocken war, erwiderte seinen Blick. »Was dann?«, fragte er. Seine Stimme wurde von dem heiseren Pfeifen verzerrt, welches für die Sprache seines Volkes charakteristisch war.

Omets dunkler Blick glitt von Shaene zu Rhur und dann zurück zum König der Firbolg.

»Wir können nicht länger so herumexperimentieren«, sagte er nur. »Wir brauchen einen Bleiglas-Experten. Einen ausgewiesenen Meister.«

König Achmed drehte den Keramikern den Rücken so lange zu, dass Omet zehn eigene Herzschläge zählen konnte. Dann stand er ohne ein weiteres Wort von seinem Stuhl auf, wobei er nicht einmal die Andeutung eines Geräuschs oder eines Luftzugs verursachte.

Als Omet annahm, dass der Firbolg-König außer Hörweite war, wandte er sich an Shaene.

»Meister Shaene, meine Familie stammt ursprünglich aus Canderre. Vielleicht waren unsere Mütter in ihrer Kindheit Freundinnen«, sagte er gelassen und in einem Tonfall, den ein Knabe von noch nicht ganz achtzehn Jahren einem älteren Mann gegenüber anschlagen konnte, ohne einen Streit heraufzubeschwören. »Zu Ehren dieser möglichen Freundschaft könntest du dich vielleicht zurückhalten, auf den Feuerstein der königlichen Geduld mit dem Stahl deiner Verwegenheit einzudreschen, während ich unmittelbar neben ihm stehe.«

Als Achmed die dunklen, in den Berg geschlagenen Hallen durchquerte, die bald von Fackelschein erhellt sein würden, verspürte er ein plötzliches Bedürfnis nach Luft.

Er folgte dem Hauptweg durch den Kessel, seinem Herrschaftssitz innerhalb des Berges, vorbei an Gruppen von Bolg-Soldaten und Arbeitern, die ehrerbietig nickten, als er vorüberging. Er machte eine kurze Pause und betrat einen der Ausgucke, die einen guten Blick über die tiefer liegende Hauptstadt Canrif boten, welche sich nun im vierten Jahr ihrer Restaurierung befand.

Ein warmer Aufwind trug eine Kakophonie von Lärm und Schwingungen herbei, welche die Arbeiten dort unten verursachten. Sie schlugen ihm gegen Arme und Stirn und wischten ihm über die Augen – die einzigen Stellen seines Körpers, die nicht von seinem Schleier verhüllt waren. Sein Hautgewebe, das Netz hoch empfindlicher Venen und frei liegender Nervenenden, die er dem dhrakischen Blut seiner Mutter zu verdanken hatte, spürte die Störungen trotzdem, wenn auch wegen der Verhüllung nur gedämpft. Es war ein unangenehmes Kribbeln, ein andauernder Strom von Reizen, mit dem der König der Bolg schon vor langer Zeit zu leben gelernt hatte.

Als er vor vier Jahren zum ersten Mal diesen Ort betreten hatte, war die gewaltige Höhle unter seinen Füßen und über seinem Kopf das Grabmal einer toten Stadt gewesen, die still in der abgestandenen, im Berg gefangenen Luft verweste. Durch die eingestürzten Hallen und verwüsteten Straßen streiften Firbolg-Banden umher, halb menschliche Wesen, die Canrif am Ende des cymrischen Krieges überrannt hatten und nun ohne das Bewusstsein des einstigen Ruhms die zerbröckelnden Tunnel besetzten. Tausend Jahre zuvor war diese Stadt ein Meisterwerk der Architektur und Triumph der Genialität gewesen, eingegraben in den Bauch der Zahnfelsen nach den Plänen und Visionen Gwylliams des Visionärs, des einzigen anderen Mannes, der innerhalb dieses abstoßenden, zerklüfteten Bergmassivs je den Titel eines Königs für sich beansprucht hatte.

Die Stadt war auf gutem Wege, wieder ein Meisterwerk zu werden.

Vier Jahre ungeteilter Aufmerksamkeit von tausenden Firbolg-Arbeitern und die teure und eingeschränkte Leitung durch Kunsthandwerksmeister von außerhalb Ylorcs, wie die Bolg dieses Land nannten, hatten beinahe die Hälfte der Stadt restauriert und sie wieder zu dem Beispiel von Kunst und Zweckmäßigkeit gemacht, das sie einst gewesen war. Die alte Kultur, die diesen Ort errichtet und ihm den Namen Canrif gegeben hatte, hätte möglicherweise den Vorrang nicht begriffen, den der Bolg-König manchen Projekten einräumte. Auch wenn Gwylliam vielleicht Achmeds Nachdruck auf die Wiederherstellung der Verteidigungsanlagen und der Versorgungseinrichtungen geteilt hätte, wäre ihm sicherlich die Neigung des Königs, Stoßzähne und andere Firbolg-Symbole den alten cymrischen Statuen hinzuzufügen, mehr als nur ein wenig verwirrend erschienen. Der Aufruhr unter ihm wurde etwas gedämpft. Achmed schaute nach unten und sah, dass ein Teil der Stadt unmittelbar unter seinem Aussichtspunkt inmitten aller Verrichtungen plötzlich reglos dalag. Die Arbeiter, welche die Steinladungen herbeischleppten, die Dächer deckten, die Ziegel mauerten und tausend andere Aufgaben bei der Neuerrichtung von Canrif erfüllten, standen totenstill da und starrten zu Achmed hinauf. Die Lähmung breitete sich in Wellen aus, als immer mehr Bolg ihn auf dem Aussichtspunkt stehen sahen und in ihren Bewegungen erstarrten.

Rasch zog er sich von dem Aussichtspunkt zurück und eilte den Korridor entlang. Einen Augenblick später spürte er, wie die Bewegungen wieder einsetzten und lange, wellenartige Schwingungen ausstrahlten.

Ein reinerer Wind drang ihm in die Nase, als er sich der Tunnelöffnung näherte. Er trat hinaus auf einen Felsvorsprung. Die kühle Luft der weiten Welt umwirbelte ihn, zerrte an den Rändern seiner Schleier und Roben und brachte undeutliche Schwingungsmuster mit: den Geruch von brennenden Lagerfeuern und den Lärm ferner Truppenbewegungen in der Schlucht vor ihm.

Achmed ging bis zum Ende des Vorsprungs und schaute hinunter. Tausend Fuß unter ihm im ausgetrockneten Flussbett der Schlucht wechselte die Wache; die Truppen wurden bei anbrechender Dunkelheit verdoppelt. Fackelfeuer flackerten in dünnen Lichtfäden und zuckten über den Boden der Schlucht wie feurige Schlangen, als die Soldaten ihre abendlichen Übungen vollführten. Achmed hörte Sprachfetzen, wenn der Wind drehte.

Zufrieden richtete er den Blick in den Himmel. Das Firmament, das die Himmel an Ort und Stelle hielt, wies schwarze Flecken auf, und blaue Wolken verwischten das Panorama der Sterne, die im Nachtwind blinkten.

Er schaute hinter den dunkler werdenden Rand, wo sich die Schlucht nach Südost wandte, dann nahm er den Schleier ab und schloss die Augen. Der Wind fuhr ihm ungehindert über Gesicht und Hals und spielte über die Bahnen seines Hautgewebes. Er öffnete den Mund; sogleich füllte der Wind ihn. Er suchte nach einem Herzschlag, einem fernen Rhythmus im Wind. Es war die Gabe seines Blutes, den eigenen Herzschlag mit jenen alten Herzen in Einklang zu bringen, die im selben Land geboren worden waren wie er, auf der untergegangenen Insel Serendair, die seit tausend Jahren still unter den Wellen des Meeres lag. Diese Gabe teilte er nur noch mit wenigen tausend anderen lebenden Seelen, alle uralt und gefangen in dem Alter, in welchem sie die Insel verlassen hatten – für immer gefroren in der Zeit.

Rasch fand er den Herzschlag, den er gesucht hatte. Er spürte, wie sich sein Puls verlangsamte und in den gewaltigen Schlägen seines ältesten Freundes aufging. Achmed seufzte. Dieses nächtliche Ritual brachte ihm so etwas wie Erleichterung.

Grunthor lebt, dachte er zufrieden wie immer. Gut.

Er drehte sich um und suchte im Wind einen anderen Rhythmus, einen leichteren, schnelleren, der schwieriger zu finden, aber ebenfalls sehr vertraut war. Er kannte ihn so gut wie seinen eigenen; er war an seinen Eigner gefesselt, war durch die Vergangenheit an ihn gekettet, durch Freundschaft, durch Eid, durch die Prophezeiung.

Und durch die Zeit.

Er nahm ihn genauso schnell auf, weit entfernt, hinter den Zahnfelsen und den scheinbar endlosen Krevensfeldern, hinter den sanften Hügeln Rolands, beinahe am Meer. Dort flackerte der Herzschlag in der Ferne wie ein tröstendes Lied, wie das Ticken einer Uhr, wie Wellen auf einem Fluss. Achmed seufzte erneut. Gute Nacht, Rhapsody, dachte er.

Er spürte Omets Gegenwart, noch bevor dieser höflich hüstelte, und wartete, bis der Kunsthandwerker an seine Seite getreten war, während er weiter in die Schlucht hinunterschaute. Omet sah ebenfalls in die Tiefe.

»Eine ruhige Nacht«, bemerkte er.

Achmed nickte. »Sind die letzten Lieferungen schon eingetroffen?«

»Ja.« Omet händigte dem König eine Lederbörse aus und schüttelte dann den Kopf, als sich der Wind in seinen Haaren fing und sie ihm vor die Augen wehte. Sie waren endlich wieder lang geworden, nachdem er sie hatte scheren müssen, als er zum Lehrling in der Ziegelbrennerei von Yarim und zum Eigentum ihrer dunklen Herrin geworden war. Bei dem Gedanken an sie erzitterte er unwillkürlich. Er stand still neben dem Bolg-König, während dieser die Botschaften aus der Voliere durchging. Achmeds System von Botenvögeln war so verlässlich wie der Aufgang und Untergang der Sonne.

»Noch nichts aus Canderre«, sagte der König und blätterte ein kleines Pergamentblatt nach dem anderen um.

Omet nickte. »Francis Pratt, ihr Botschafter, ist bei schlechter Gesundheit, wie ich gehört habe.«

»Von Shaene?«

Omet kicherte. »Ja.«

»Dann ist Pratt vermutlich im Bordell und schläft mit halb Canderre. Shaene liegt mit seinen Vermutungen immer mehr daneben als jede andere Lebensform, die mir je begegnet ist.« Er trat einen Kiesel in die Schlucht und wusste, dass er den Aufprall nie hören würde. »Vielleicht hatte Pratt Schwierigkeiten, einen Kunsthandwerker in den westlichen Provinzen zu finden.«

»Möglicherweise.« Das Wort kam leicht heraus, doch der Nachtwind ergriff es, hielt sich daran fest, machte es schwer und ließ es in der Luft über dem Sims hängen.

Der Bolg-König drehte das letzte verliebende Pergament in seinen Fingern. »Wenn Pratt für uns keinen in Canderre findet, dem man vertrauen kann, gibt es vielleicht einen in Sorbold. Oder wir schicken jemanden übers Meer, damit er uns einen aus Manosse holt.«

Omet stieß den Atem so leicht aus, wie es ihm möglich war. »Wir könnten unser Glück in Yarim versuchen. Die Besten sitzen dort.«

Schließlich drehte sich der Bolg-König um, richtete den Blick seiner ungleichen Augen auf Omet und lächelte schwach.

»Es ist bemerkenswert, dass du Yarim erwähnst«, sagte er, »weil ich hier eine Nachricht von Rhapsody habe. Sie will sich mit Grunthor, dir und mir dort in zwei Wochen treffen, von heute an gerechnet.« Er kicherte, als er das Entsetzen auf dem Gesicht des jungen Mannes sah.

»Ich würde gern hier bleiben und die Arbeiten beaufsichtigen, während Ihr und der Sergeant fort seid«, sagte er hastig, als er die Sprache wiedergefunden hatte.

»Ich dachte mir, dass du das sagen würdest«, meinte Achmed. »Wenn es dir lieber ist, kannst du mit Rhur und den Kunsthandwerkern der Bolg hier bleiben, und mit diesem Schwachkopf Shaene, der dich Sandy nennt.«

Omet seufzte. »Ich glaube, das kann ich ertragen. Besser als die andere Möglichkeit.«

Achmed nickte. »Wenn du meinst... Ich selbst würde jede Gelegenheit ergreifen, Shaenes Gesellschaft zu fliehen.« Er zog den Schleier über die untere Hälfte seines Gesichts, warf noch einen Blick auf die Bergwände, die Schlucht und die verdorrte Heide dahinter, wandte sich dann ab und ging zurück in die Tiefen des Kessels.

Auf dem Weg zu seinem Schlafgemach hielt er in der Schmiede an, wo Gwylliams alte Essen, die nun eine neue Ausstattung erhalten hatten, die Nacht durchglühten und Stahl für Waffen, Werkzeuge, Rüstungen und Bauteile ausstießen. Dreitausend Bolg plagten sich in jeder Schicht bei blendendem Licht und Hitze ab und erhöhten die Stärke des Berges mit jedem Zug des Blasebalgs und jedem Hammerschlag.

Der bolgische Schmiedemeister nickte Achmed zu, wie er es jede Nacht zu dieser Zeit tat, wenn Grunthor abwesend war. Der Firbolg-König erfüllte die Aufgaben des Sergeant-Majors schnell. Er vergewisserte sich, dass der Stapel mit dem Ausschuss nicht geräubert wurde, die Schmiede nicht übertrieben große Mengen von Eisenerz in die Mischung gaben, wie es vor einiger Zeit geschehen war, und das Gleichgewicht der Svarda, der kreisrunden, dreiklingigen Wurfmesser, welche die Bolg nach Roland ausführten, peinlich genau überprüft wurde.

Als er sich schließlich davon überzeugt hatte, dass in der Schmiede alles reibungslos lief, wünschte er dem Schmiedemeister eine gute Nacht und machte sich auf den Weg zu seinen Gemächern, wobei er noch einmal anhielt, um den frisch gepressten Nachschub an Scheiben für seine Cwellan zu betasten. Sie war seine wichtigste Waffe. Er hatte sie selbst entworfen; sie ähnelte einer asymmetrischen Armbrust und war gebogen, um größere Spannung auf die Feder zu legen. Aber statt Schussbolzen benutzte er dünne, rasiermesserscharfe Metallscheiben als Munition. Es waren immer drei gleichzeitig, versetzt angeordnet, sodass jede Scheibe die vorangegangene tiefer in die Wunde trieb, welche die erste geschlagen hatte.

Er hielt eine davon kurz gegen das flackernde Licht der Schmiedeöfen unter ihm, die Stahl verflüssigten, damit man ihn zu einer unendlichen Anzahl von Dingen formen konnte. Die Feuerschatten tanzten über die Cwellan-Scheibe und schickten Wellen aus Licht über die blauschwarze Stahloberfläche.

Mit einem Mal wurde der König der Firbolg müde und begab sich zu Bett.

Загрузка...