Sorbold war ein Reich des endlosen, unbarmherzigen Sonnenscheins. Bergig und ausgedörrt erstreckte es sich wie die Finger einer zupackenden Hand südwärts vom Rand der Manteiden, jener Gebirgskette, die allgemein als die Zahnfelsen bekannt war – arthritische Reihen von stacheligen Bergen, die bis in die öde Wüste und die felsigen Steppen des Niederen Kontinents und weiter zur geisterhaften Meeresküste reichten, wo die Skelette der Schiffe vergangener Zeitalter noch im schwarzen Sand lagen, gehüllt in den Nebel der warmen See.
Im Winter fegten eisige Winde über das Land, verstreuten Schneekristalle, heulten über die kahlen Dünen hinweg und gestalteten die unwirtliche Landschaft um, so wie ein Kind, das im Sand spielt. Nachts trugen die Winde Fontänen aus goldenem Sand hoch in die Luft, wo sie für Augenblicke zwischen den Sternen trieben und die stillen Streifen gleißenden Lichts dort oben spiegelten – jene Sternschnuppen, die in die Randgebiete endloser Schwärze fielen, welche die gewaltige, widerhallende Wüste umgab.
Trotz der harten Wirklichkeit und dem gelegentlichen Gefühl, dass der Schöpfer diesen Ort und seine Bewohner verlassen habe, war Sorbold ein Reich von tiefer Magie. Das raue Klima brachte bei den Menschen kaum gastfreundliche Naturen hervor. Die Sorbolder waren vielmehr für die Flüchtigkeit ihrer Aufmerksamkeit, ihrer Launen und Bündnisse bekannt. Das Einzige, was in der Landespersönlichkeit von Dauer zu sein schien, war die Erinnerung. Und so legte Sorbold großen Wert auf seine Geschichte. Jede verlorene Schlacht, jeder Verrat, jede erlittene Ungerechtigkeit wurden still, aber hartnäckig immer wieder in Erinnerung gerufen, während die Jahre zu Jahrhunderten und schließlich zu Jahrtausenden wurden. Zeitalter und Dynastien kamen und gingen mit dem Treibsand der Wüste, doch die Erinnerungen brüteten geschützt in den tiefen Grüften der Zeit. Ein Dreiviertel Jahrhundert lang hatte Sorbold unter der Herrschaft Ihrer Durchlaucht, der Kaiserinwitwe Leitha gestanden, einer humorlosen Frau, deren Kälte sich in deutlichem Gegensatz zum Klima des Landes befand, das sie im eisenharten Griff ihrer zierlichen Hände hielt. Die Kaiserin war klein von Wuchs, aber willensstark. Bei ihrer Krönung war sie rund wie eine Kugel gewesen; während die Jahre ihrer Herrschaft vergingen, trocknete sie wie ein verschrumpelnder Apfel langsam aus. Es war, als sauge die Hitze Sorbolds ihr Wasser, Fett und Muskelgewebe allmählich aus dem Körper. Im hohen Alter war sie verwelkt, hart und ledrig. Durch diesen Prozess hatte sie an Stärke gewonnen, wie in Feuer gehärteter Stahl oder in Rauch haltbar gemachtes Leder. Alle benachbarten Nationen des Kontinents hatten insgeheim ihrem Vater, dem Vierten Kaiser der Dunklen Erde, misstraut, doch seine Tochter fürchteten sie offen, denn sie schien entschlossen, ewig zu leben, und tat alles, um dieses Ziel zu erreichen.
Die tapfersten ihrer Untertanen und Feinde nannten die Kaiserin (natürlich nur, wenn sie es nicht hörte) die Graue Mörderin. Dieser Name rührte von einer Spinne her, die man für gewöhnlich an dunklen, kühlen Verstecken in den Bergen fand. Wie von der Spinne, so hieß es auch von der Kaiserin, sie habe sich nur ein einziges Mal gepaart. Ihr Gemahl, ein käsegesichtiger Adliger aus dem Hintervold, wurde am Morgen nach der Hochzeit mit steifem Körper und völlig bekleidet auf den säuberlich gefalteten Laken im kaiserlichen Schlafgemach gefunden. Der Todeskrampf hatte seinem Antlitz auf ewig eine scheußliche Grimasse eingedrückt, während die Kaiserin ihren Morgenritt unternahm. Aus der flüchtigen Vereinigung ging der einzige Spross der Kaiserin hervor, der Kronprinz Vyshla. Der Kronprinz geriet nach seinem Vater: seine Haut war fahl und bleich, obwohl das Klima bei allen anderen für eine dunkle Farbe sorgte. Seine Hände und der Körper seien weich wie bei einer Frau, hatten einige Soldaten aus der Garnison einmal gescherzt. Sie hatten rasch erfahren müssen, dass sowohl der Wüstensand als auch die Berge Ohren hatten. Ihre augenlosen Überreste hatten vertrocknet und mumifiziert durch die rauen Winde und die wasserlose Luft länger als ein Jahr an der Brustwehr des Palasts gebaumelt, bevor der Prinz schließlich davon überzeugt werden konnte, sie entfernen zu lassen, damit sie nicht mit den Straßendekorationen für die Frühlingszeremonien in Widerstreit gerieten.
Jedoch war nicht der Prinz, sondern seine Mutter für diese grausigen Ornamente verantwortlich gewesen.
Der Kronprinz war sein ganzes Leben lang unverheiratet geblieben. Zuerst war außerhalb seines Reiches das Gerücht umgegangen, seine Anforderungen seien zu hoch für jede sterbliche Frau. Als die Jahre vergingen, wurden andere Gründe genannt, sobald dieses Thema bei kreisenden Bierkrügen am Herdfeuer einer Taverne oder in einer Nährunde aufkam.
Vielleicht war es die unangenehme Persönlichkeit des Prinzen, die es verhinderte, dass er eine Braut für sich gewinnen konnte. Angeblich war er affektiert und reizbar, leicht verletzlich und neigte zu wirkungslosen Wutausbrüchen. Dass er auch auf anderen Bereichen wirkungslos war, wurde weithin vermutet. Doch obwohl Vyshla fraglos unangenehm und kindisch war, so war er doch nicht der erste Herrscher einer mächtigen Nation, der keine liebenswerte Persönlichkeit besaß. Noch nie war das Fehlen von Charisma ein Hinderungsgrund für eine königliche Hochzeit gewesen – im Gegenteil, es galt als mehr oder weniger bewiesen, dass die größte Anziehungskraft eines Regenten in dem Zepter bestand, das er nach göttlichem Recht in der Hand hielt, und nicht in jenem, welches sich mehr in der Körpermitte befand.
Während die Zeit fortschritt, änderten sich die Gerüchte. Kronprinz Vyshlas fehlende Verlobung, Ehe und Nachkommen waren, wie man nun glaubte, das Werk der Kaiserinwitwe. Diese eifersüchtige und habgierige Frau, die Sorbold seit mehr als fünfundsiebzig Jahren regierte, hatte die Überfälle ihrer Nachbarn abgewehrt, Heere in Schach gehalten und ein trockenes, rohstoffloses Land durch die bloße Kraft ihres Willens und ihrer Visionen zu gewaltigem Einfluss und großer Macht geführt. Die Geschichten besagten, dass sie ganz einfach nicht einsah, warum ein Thronerbe nötig sein sollte, da sie nicht vorhatte, den Thron zu räumen. In einer der übertriebeneren Geschichten wurde behauptet, dass sie die unglücklichen Soldaten, denen die Witze auf Kosten ihres Sohnes zum Verhängnis geworden waren, luftgetrocknet hatte, um herauszufinden, wie sie selbst nach ihrem Tod am besten konserviert werden konnte, um auch im Fall ihres Ablebens ohne Unterbrechung weiterzuregieren. Trotz aller eisenharten Habgier der selbstsüchtigen Kaiserinwitwe und dem affektierten, verdorbenen Gehabe des verwöhnten Prinzen gab es jedoch in der jüngsten Geschichte einen Moment, in dem sich erwiesen hatte, dass die Kaiserin der Dunklen Erde und ihr Sohn nüchterne Monarchen waren, die eine vernünftige zwischenstaatliche Politik zum Besten Sorbolds zu machen verstanden. Sie hatten nämlich mehr oder weniger bereitwillig einen Nichtangriffspakt und ein Handelsabkommen mit dem neuen cymrischen Bündnis geschlossen.
Anfangs hatten sich die ältliche Kaiserin und ihr Sohn gesorgt, als der Seligpreiser von Sorbold, der erste Geistliche ihres Landes und persönliche Beichtvater der Herrscherin, aus Sepulvarta, dem unabhängigen Stadtstaat und religiösen Zentrum der Gegend, mit Neuigkeiten über das Bündnis zwischen der zentralen Nation Roland im Norden, dem Waldgebiet der Lirin im Westen und Ylorc, dem wilden Königreich der Firbolg-Ungeheuer hinter der Bergkette im Osten zurückkehrte. Die neue Königin der Lirin, eine halb menschliche Frau namens Rhapsody, um deren Hand Vyshla halbherzig angehalten hatte, und Gwydion von Manosse, der mutmaßliche Erbe der cymrischen Linie, die vor tausend Jahren eine gewisse Zeit lang über Roland, Ylorc und Sorbold geherrscht hatte, waren von einem Konzil überlebender Cymrer und ihrer Abkömmlinge dazu auserwählt worden, über ein lockeres Bündnis auf dem inneren Kontinent zu herrschen, wobei jedes Königreich seine Souveränität behielt. Die Kaiserin erkannte, wie wichtig es war, von Anfang an als freundliche, unabhängige Nation zu gelten, anstatt das Bündnis aus Menschen, Lirin und Bolg auf die Probe zu stellen, um die Möglichkeit einer späteren Eroberung auszuloten.
Die Kaiserinwitwe hatte die bemerkenswerte Gabe, vorausschauend zu handeln. Ihr visionärer Blick reichte in die Zukunft, in der eine Zusammenarbeit von Anfang an in späteren Jahren Schutz bot. Wie die meisten Visionäre konnte sie jedoch den Schatten nicht erkennen, der sich hinter ihr auftürmte.
Der zu drei Vierteln volle Mond ging schwer über den Straßen von Jierna’sid auf, der Hauptstadt von Sorbold, und beleuchtete spärlich den Sand, der die Ziergärten und gut gepflegten Wege bedeckte und eine ständige Mahnung an die endlose Wüste darstellte, welche die Stadt an zwei Seiten umgab. Der Wind schien den Mond auszulachen; er blies neckisch Staubwolken vor die blasse Himmelslaterne und heulte launisch über der schlafenden Stadt.
Versuch mich zu zähmen, spottete er. Du traust dich ja doch nicht.
Zur Antwort tauchte der Mond das wichtigste Artefakt der Stadt in ein besonders gleißendes Licht. Hoch erhoben über dem Palast von Jierna Tal, dem Ort des Gewichtes, stand die heiligste Reliquie des Landes. Es war eine gigantische Waage; die hölzerne Säule und der Arm waren von Kunsthandwerkern des alten cymrischen Reiches vor tausend oder mehr Jahren glatt geschmirgelt worden. Die Metallschalen waren sogar noch älter. Sie waren aus glänzendem Gold und über das Meer mit Schiffen gekommen, welche vor der Vernichtung jenes Landes geflohen waren, in dem man die Waagschalen geschmiedet hatte. Nun waren sie vom unbarmherzigen Sand und Wind blank gescheuert.
Zum letzten Mal waren diese gewaltigen Schalen vor drei Jahren bei einer Entscheidung von größter Wichtigkeit verwendet worden, als der Patriarch von Sepulvarta gestorben war. Er hatte in seinen letzten Augenblicken bestimmt, dass die Waage seinen Nachfolger ermitteln solle, anstatt ihn selbst zu benennen. Die Seligsprecher, die an Macht und Einfluss unmittelbar nach dem Patriarchen kamen, hatten sich zur Wiegezeremonie in Jierna Tal versammelt. Es war ein hoch geachteter Ritus, bei dem die alten Waagschalen über die Würdigkeit eines Kandidaten urteilten. Früher hatte die Waage Entscheidungen über die Besetzung vieler verschiedener Ämter und über Schuld oder Unschuld angeklagter Verbrecher getroffen und auch verraten, ob ein Vertrag in seinen Bedingungen ausgewogen und gerecht war. Doch in jüngerer Zeit wurde ihr Ratspruch nur in Angelegenheiten des Staates oder solchen von großer Bedeutung eingeholt. Die Auswahl und Einsetzung eines neuen Patriarchen war ein würdiger Grund für die Befragung der Waage gewesen.
Der Ring der Weisheit war in einer feierlichen Zeremonie auf die Schale gelegt worden, die mit Leuk verbunden war, dem Westwind und Wind der Gerechtigkeit, damit er als Gewicht diene.
Wann immer ein Anwärter auf die östliche Waagschale getreten war, hatte diese wie verrückt gezittert, war dann hochgeschnellt und hatte einen nach dem anderen als unwürdig bezeichnet. Unter dem Freudengebrüll der gewaltigen Menge, die sich bei dem Auswahlverfahren versammelt hatte, waren die Kandidaten recht unsanft an der Basis des Gerüsts auf dem Hinterteil gelandet. Ian Steward, der jüngste der vier Seligpreiser, hatte sich tapfer bereit erklärt, als Erster von ihnen die Probe zu wagen. Er war mit einem lauten Klatschen in einer solch unschmeichelhaften Weise auf dem Boden gelandet, dass Colin Abernathy, der älteste Seligpreiser, sich entschieden hatte, auf das Verfahren zu verzichten und die Hoffnung auf das Patriarchat ganz aufzugeben.
Als schließlich auch die übrigen Seligpreiser von der Waage als des Rings und des Patriarchats unwürdig erachtet worden waren, war ein weiterer Mann vorgetreten, trotz seines fortgeschrittenen Alters groß und breitschultrig und mit gekräuselten grauen Strähnen in dem blonden Bart und Haar. Er war auf die Waagschale getreten, als hätte er dies schon öfter getan. Es hatte ausgesehen, als lausche er einer Stimme in den Wolken, sobald der große Arm und die Kette der Waage ihn hoch über die Köpfe der verstummten Menge gehoben und sich die Schalen dann ausbalanciert hatten. Als sich die erstaunte Menge von dem Schock erholt und ihre Zustimmung herausgebrüllt hatte, da hatte der Mann nur ein einziges Wort gesagt: seinen Namen.
Constantin.
Der Lärm aus der Menge war für einen Augenblick abgeebbt. Dieser Name war bekannt in Sorbold; der Mann teilte ihn mit einem berühmten Gladiator in dem westlich gelegenen Stadtstaat Jakar, einem kalten und blutrünstigen Arena-Mörder, der vor einigen Monaten aus dem Gladiatorenkomplex verschwunden war. Der Umstand, dass dieser ältere heilige Mann, der bald gesalbt und mit der Macht des größten Heilers im Land versehen werden würde, seinen Namen mit dem Gladiator teilte, hatte auf dem Marktplatz für wogendes Gelächter gesorgt, worauf sogar die Glocken von Jierna Tal erklungen waren.
Später an diesem Tag, lange nachdem die Entscheidung der Waage offiziell in den heiligen Büchern von Sepulvarta verzeichnet worden war und viele Stunden nachdem sich die Menge zerstreut hatte, konnte man den neuen Patriarchen noch immer am Fuß der Waage stehen und das heilige Instrument mit einem Ausdruck ehrerbietiger Verwunderung anstarren sehen, die in die Linien seines Gesichtes eingemeißelt zu sein schien.
Im Licht des zunehmenden Mondes stand nun ein anderer Mann bei der Waage und trug einen ähnlichen Ausdruck der Scheu auf dem Gesicht, die seine groben Züge zu einem Bild der Ehrfurcht machte. Er hatte die dunklen Hände an die Seiten gelegt und betastete in dem silbernen Licht etwas Glattes, während er beobachtete, wie das großartige Instrument der Gerechtigkeit in dem Ungewissen Mondschein glitzerte.
Die letzte Wache der Nacht wechselte, während er in den Schatten des Palastes von Jierna Tal stand. Die Soldaten der zweiten Steppenkolonne, die unter ihren gegerbten Lederhelmen, der Stahlrüstung und den Leinenkleidern schwitzten, gingen wenige Schritte von ihm entfernt vorüber, als wäre er gar nicht da. Dann war es still auf der Straße; die Lichter im Palast wurden schwächer und machten schließlich der Schwärze Platz.
Er seufzte, sog die heiße, trockene Sommerluft voller dunkler Ahnungen tief ein und füllte sich die Lunge.
Dann stieg er langsam die Stufen zu den titanischen Waagschalen hoch.
Das schwankende Mondlicht spiegelte sich in den goldenen Schalen wider, die groß genug waren, um jeweils einen Karren mit zwei Ochsen zu tragen. Er betrachtete nachdenklich die Mitte der Pfanne und die feinen Linien, die in das Metall getrieben waren. Die Oberfläche war von Zeit und Wetter gezeichnet und leuchtete aus sich selbst heraus. Dies war die Geburtsstätte vieler neuer Anfänge gewesen. Er öffnete die linke Hand.
In ihr befand sich ein Gewicht, das wie ein Thron geformt war.
Das Schnitzwerk an dem Gewicht war bewunderungswürdig. Der kleine Thron war Linie für Linie, Winkel für Winkel, Verzierung für Verzierung dem Thron von Sorbold nachgebildet – bis hin zum Bild des Schwertes und der Sonne, welche den alten Sitz der Macht schmückten, den nun die Kaiserinwitwe innehatte.
Doch noch bemerkenswerter war das Gestein, aus dem das Gewicht bestand. Es fühlte sich selbst in der Hitze dieser Wüstennacht kühl an und war von Grün und Purpur, von Braun und Karmesinrot durchzogen.
Es summte vor Leben.
Vorsichtig setzte der Mann das Throngewicht in die westliche Waagschale. Dann ging er mit abgemessenen Schritten um das massige Gerät herum und stellte sich vor die östliche Waagschale. Er öffnete die rechte Hand.
Das flüchtige Mondlicht war nun verschwunden. Zunächst hüllte Finsternis den Gegenstand in seiner Hand ein. Nach einem Augenblick leuchtete er auf dem unregelmäßigen Oval in violetter Farbe, als treibe ihn Neugier um, doch als sein Licht die Oberfläche berührte, schien sie wie vom Schein tausend winziger Kerzen aufzuleuchten. In die vom Alter geglättete Oberfläche war eine Rune aus der Sprache einer Insel eingeritzt, die schon lange unter den Wogen des Meeres lag.
Es war eine Waage anderer Art.
Mit höchster Vorsicht legte er sie auf die leere Schale und wunderte sich über die Wellen aus violettem Licht, die sich zum äußeren Rand kräuselten, als wären sie von einem Kiesel verursacht, der in ruhiges Wasser geworfen wird.
Der Dolch des Mannes, den er vor einem Augenblick noch an der Seite getragen hatte, glitzerte in der Dunkelheit auf.
Er rollte den Ärmel seines Belaque hoch und zog über den Handrücken eine rasche, dünne Linie, die sich schwarz von der Düsternis abhob. Dann bückte er sich und hielt die blutende Hand über die Waagschale.
Sieben Tropfen Blut quollen auf die Schale; er zählte jeden einzelnen peinlich genau. Dann richtete sich der Mann auf, blind gegen das Blut, das ihm in den Ärmel lief, und beobachtete die Waagschalen eingehend.
Langsam regten sie sich und zuckten dicht über dem Boden des Platzes.
Schließlich hob sich die Schale mit dem Blut, wobei das Licht des Mondes golden auf ihr schimmerte. Die Waagschalen balancierten sich aus.
Das Stück lebenden Gesteins in Gestalt des Thrones von Sorbold entzündete sich und verbrannte in einer Aufwallung von knisterndem Rauch zu Asche.
Der Mann am Fuß der Waage stand eine Weile stocksteif da, dann legte er den Kopf zurück und hob die Arme im Triumph zum Mond über ihm.
Er warf keinen Schatten.
In der tiefen Dunkelheit seiner Schlafkammer wand sich der Kronprinz im Griff verstörender Träume. Er schwitzte und rang nach Luft.
Sergeant-Major Grunthor war die ganze Nacht hindurch nüchtern geblieben.
Während des langen Heimritts zum Kessel sprach er kein einziges Wort und hob den Blick nicht vom Boden vor ihm. Er spornte sein Pferd zu einem möglichst gleichmäßigen Galopp an, denn er wollte rasch zum Machtzentrum der Firbolg zurückkehren.
Zuvor war er noch recht fröhlich, als er die Truppenlinie abritt und den Wachen auf der sorboldischen Seite der Grenze scherzhafte Obszönitäten in bolgischer Sprache zubrüllte. Mit einem breiten Grinsen winkte er den ernst dreinblickenden Wachen zu und versuchte, ihre Ablehnung zu überwinden und so unbedrohlich zu erscheinen, wie es einem siebeneinhalb Fuß großen, grünhäutigen Muskelprotz mit Hauern statt Eckzähnen eben möglich war. Das war seine Lieblingsart, eine Grenzkontrolle zu beenden.
»Hossa! Süßer! Mein Pferd will mit dir reden! Glaubt, du bist der Esel, der das Muli gezeugt hat, das es gestern Nacht bestiegen hat!« Das Licht der Grenzfeuer erhellte sein breites Gesicht, und seine makellos reinen Zähne und Hauer spiegelten das Licht des zunehmenden Mondes wider. Die Sorbolder, die dazu ausgebildet waren, nur dann loszuschlagen, wenn sie angegriffen wurden, starrten weiterhin ostwärts in die Ländereien Ylorcs und hielten unerschütterlich Wacht. Der riesenhafte Sergeant-Major zerrte an den Zügeln, zwang sein Pferd dazu zurückzugehen, und stellte sich in die Steigbügel.
»Wo wir gerade von Vätern reden ... Weißt du eigentlich, dass ich dein Paps sein könnte? Aber der Hund war auf der Treppe schneller als ich.«
Nicht ein sorboldisches Augenlid flatterte. Die Bolg-Soldaten unter seinem Kommando kicherten unterdrückt.
Ein böses Funkeln erschien im Auge des Sergeanten, als ihm eine neue Schmähung einfiel. Er zügelte sein Kriegspferd und stieg ab, wobei er immer noch die Grenzwachen verhöhnte.
»Warum seid ihr alle so wund um den Sack? Habt ihr euch in die Nesseln gesetzt oder ...«
Als er mit dem Fuß den Boden berührte, hielt Grunthor inne.
Seine Haut, die üblicherweise die Färbung von Quetschungen aufwies, wurde so bleich, dass sogar seine Männer es im schwachen Schein der Feuer bemerkten.
Er bückte sich rasch und legte die Hände auf den Boden. Es fiel ihm schwer, bei dem Getöse in seinen Ohren das Bewusstsein zu behalten. Der Lärm in seinem Inneren schüttelte ihn durch, schwächte ihn und drohte ihn vor Schmerz und Verzweiflung umzuwerfen.
Die Erde unter seinen Händen und Knien jammerte vor Entsetzen.