2.

Kaum war er wieder in seinem eigenen Büro hinter seinem eigenen kleinen — aber nur ihm gehörenden — Schreibtisch, da fing Quellen wieder an, sich wichtig vorzukommen. Er läutete nach Brogg und Mikken, und die beiden Untersekretäre standen wie aus dem Boden gewachsen vor ihm.

„Freut mich, Sie wiederzusehen“, sagte Brogg säuerlich. Quellen öffnete das Ventil und ließ Sauerstoff in das Zimmer strömen, bemüht, dabei den patriarchalischen Blick nachzuahmen, den er an Koll bemerkt hatte, als dieser vor zehn Minuten das gleiche getan hatte.

Mikken nickte kurz. Quellen musterte die beiden. Brogg war derjenige, der das Geheimnis kannte — ein Drittel von Quellens Gehalt wanderte in seine Tasche, um sein Stillschweigen über das zweite geheime Haus seines Vorgesetzten zu erkaufen. Mikken wußte es nicht und interessierte sich auch nicht dafür — er war Brogg unterstellt und bekam seine Anweisungen immer von diesem, nicht von Quellen.

„Ich nehme an, daß Sie mit den letzten Fällen von verschwundenen Proleten vertraut sind“, begann Quellen.

Brogg brachte ein dickes Bündel Akten zum Vorschein. „Ich wollte gerade deshalb mit Ihnen sprechen. Es scheint, daß an die viertausend arbeitslose Proleten verschwunden sind — und das in diesem Jahr.“

„Und was für Schritte haben Sie bis jetzt zur Aufklärung der Fälle unternommen?“ erkundigte sich Quellen.

„Nun“, machte Broog und fing an, in dem kleinen Raum auf und ab zu schreiten und. sich dabei den Schweiß von der Stirn zu wischen. „Ich habe festgestellt, daß das Verschwinden dieser Leute unmittelbar mit dem Auftauchen der Springer gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts und später in Verbindung steht.“ Brogg deutete auf das Buch, das auf Quellens Tisch lag. „Ein Geschichtsbuch. Ich habe es Ihnen hingelegt. Es bestätigt meine Feststellungen.“

Quellen strich sich mit der Hand übers Gesicht und dachte darüber nach, wie es wohl sein mußte, soviel Fett im Gesicht herumzutragen wie Brogg. Brogg schwitzte ungeheuer stark, und seine Augen flehten Quellen förmlich an, das Sauerstoffventil weiter zu öffnen. Dieser Augenblick der Überlegenheit tat dem Kriposek gut, und er machte keine Anstalten, der stummen Bitte des anderen nachzukommen.

„Das habe ich bereits bedacht“, sagte Quellen. „Ich habe bereits einen Aktionsplan aufgestellt.“

„Haben Sie schon mit Koll und Spanner gesprochen?“ erkundigte sich Brogg unverschämt. Seine Wangen zitterten dabei.

„Das habe ich“, sagte Quellen so entschlossen, wie er das nur fertigbrachte, und gleichzeitig verärgert darüber, daß Brogg ihn so leicht seines Triumphes beraubt hatte. „Ich möchte, daß Sie den Halunken aufspüren, der diese Springer in die Vergangenheit schleust. Bringen Sie ihn hierher. Ich möchte, daß er festgenommen wird, ehe er auch nur noch einen Menschen in die Vergangenheit schickt.“

„Ja, Sir“, sagte Brogg resigniert. „Kommen Sie, Mikken.“ Der zweite Assistent stand widerstrebend auf und folgte Brogg hinaus. Quellen sah ihnen durch sein Guckfensterchen nach, bis sie auf der Straße standen und anfingen, sich durch die dortigen Menschenmengen hindurchzuwühlen. Dann drehte er mit beinahe perverser Freude das. Sauerstoffventil auf Höchstleistung und lehnte sich zurück.

Nach einer Weile beschloß Quellen, sich selbst über die Situation zu informieren. Es war gar nicht leicht, seine Apathie zu überwinden, war doch nach wie vor der Wunsch, Appalachia zu verlassen und sich wieder nach Afrika zu begeben, in ihm beinahe übermächtig.

Er knipste den Projektor an und das Geschichtsbuch begann vor ihm abzurollen. Er sah träge auf die Lichtfläche.

Die ersten Anzeichen der Invasion aus der Zukunft erschienen im Jahre 1973, als einige Männer in seltsamer Kleidung in jenem Teil Appalachias auftauchten, der damals als Manhattan bekannt war. Nach den damaligen Aufzeichnungen erschienen sie mit steigender Häufigkeit während des ganzen folgenden Jahrzehnts. Alle erklärten auf Befragen, sie stammten aus der Zukunft.


* * *

In dem Buch stand noch vieles mehr über die ,Springer’, wie man die ,Invasoren’ aus der Zukunft nannte, aber Quellen reichte es schon. Er knipste das Gerät aus. Die Hitze in dem kleinen Raum war drückend — trotz Klimaanlage und Sauerstoffventil. Quellen blickte verzweifelnd auf die ihn beengenden Wände, und wieder flog sein Sehnen zu jenem trüben Strom im Inneren Afrikas, vor der Terrasse seines Hauses.

„Ich habe getan, was ich konnte“, sagte er und trat aus dem Fenster, um das nächste Schnellboot zu nehmen, das ihn in seine Wohnung zurückbrachte. Flüchtig spielte er mit dem Gedanken, den ganzen Fall Brogg zu übertragen und selbst wieder nach Afrika zurückzugehen — aber damit würde er selbst das Unheil auf sein Haupt beschwören.

Quellen hatte übersehen, seine Lebensmittelvorräte auf dem laufenden zu halten, stellte er fest, und da sein Aufenthalt in Appalachia lang, vielleicht sogar permanent zu werden drohte, beschloß er, seine Vorräte aufzufüllen. Er hängte das ,Nicht Stören’-Radion an die Tür und eilte die lange, gewundene Rampe hinunter, um sich für eine lange Belagerung zu verproviantieren.

Unterwegs sah er einen Mann mit mürrischen Zügen, der die andere Rampe heraufkam. Quellen kannte ihn nicht, aber das war kein Wunder; in dem Menschengewirr von Appalachia kannte man nie besonders viele Leute, nur den Lagerhalter im Vorratsladen und ein paar Nachbarn.

Der Mann sah ihn seltsam an und schien mit seinen Augen etwas sagen zu wollen. Er streifte an Quellen vorbei und schob ihm ein zusammengeknülltes Stück Papier in die Hand. Quellen faltete es auseinander, nachdem der andere die Rampe hinauf verschwunden war und las.

Keine Arbeit? Sprich mit Lanoy. Mehr stand nicht darauf. Und jetzt erwachte der Kriposekretär in Quellen. Wie die meisten Beamten, die selbst keine ganz reine Weste haben, war er besonders scharf darauf bedacht, andere @Gesetzesgeber zur Strecke zu bringen, und an diesem Handzettel war etwas, das nach Ungesetzlichkeit roch. Quellen wandte sich um, in der Absicht, den schnell entschwindenden Mann zu verfolgen, aber der war bereits verschwunden. Er konnte überallhin gegangen sein. Keine Arbeit? Sprich mit Lanoy. Quellen fragte sich, wer dieser Lanoy wohl sein mochte, und worin sein Wundermittel bestand. Er beschloß, Brogg mit dieser Sache zu beauftragen.

Quellen schob den Zettel vorsichtig in die Tasche und betrat den Vorratsladen. Der rotgesichtige kleine Mann, der ihn verwaltete, begrüßte Quellen mit seiner üblichen aufdringlichen Freundlichkeit.

„Oh, Herr Kriposek“, sagte der rundliche Mann. „Ich hatte schon gedacht, Sie wären ausgezogen. Aber das ist natürlich unmöglich, nicht wahr? Sie hätten es mir doch gesagt, wenn man Sie befördert hätte.“

„Ja, Greevy, natürlich. Ich war nur in der letzten Zeit sehr beschäftigt, viel Arbeit. Sie wissen ja, wie es ist.“ Quellen runzelte die Stirn. Er mochte es gar nicht, wenn es in der ganzen Gegend herumposaunt wurde, daß er oft nicht da war. Er gab seine Bestellung auf, schickte die Waren per Transmat hinauf und ging wieder.

Er trat einen Augenblick auf die Straße hinaus und warf einenBlick auf die vorüberströmenden Massen. Ihre Kleider gehörten allen Stilarten und Moderichtungen an. Und alle redeten unablässig.

Die Welt war ein riesiger Bienenstock und jeden Tag stärker übervölkert als am Tage zuvor. Quellen sehnte sich nach der ruhigen Zuflucht, die er mit so hohen Kosten und mit soviel Angst im Herzen erbaut hatte. Je mehr er von der unberührten Natur sah, desto weniger hatte er für die rastlos drängenden Menschenmassen übrig, die die überfüllten Städte bevölkerten.

Und ringsum geschahen verbotene Dinge — nicht wie im Falle Quellens der entschuldbare Versuch, einer unerträglichen Existenz zu entrinnen, sondern böse, unverzeihliche Dinge.

Wie dieser Lanoy zum Beispiel, dachte Quellen und fuhr in Gedanken mit dem Finger über den Zettel in der Tasche. Wie er es nur fertigbrachte, seine Tätigkeit, worin auch immer sie bestehen mochte, vor seinen Zimmergenossen zu verbergen? Und er war doch bestimmt kein Angehöriger von Klasse Dreizehn.

Quellen fühlte ein seltsames Gefühl der Einheit mit diesem Lanov. Auch er setzte sich über die Spielregeln hinweg. Vielleicht würde es ganz interessant sein, seine Bekanntschaft zu machen. Und dann ging Quellen weiter.

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