Der Asteroid kam vom Steinbock herbeigebraust, suchte sich eine Sonne vom G-Typ und schwenkte zum fünften Planeten ein. Eine solche Flugbahn ist für Asteroiden alles andere als normal.
Mit großer Heftigkeit drang er in das Schwerefeld des Planeten ein, umrundete ihn in drei verschiedenen Orbits und schoß erst dann als herrliche Sternschnuppe hinunter in die Atmosphäre.
In einer Höhe von dreihundert Metern hielt er an, ehe er sich hinab auf die Oberfläche senkte — aber tatsächlich nur auf die Oberfläche. Er veranstaltete kein Feuerwerk, hob keinen Krater aus, lediglich das Gras zerdrückte er. Seine eigene Oberfläche war narbig und von der Reibungshitze seines Falles geschwärzt, aber intakt.
Tief in seinem Innern echoten die Worte, die das Geschick des Planeten verändern würden.
„Bei dir ist wohl wieder mal die Sicherung durch!“
Der Besitzer dieser Stimme runzelte lauschend die Stirn.
Tatsächlich war es in der Kabine völlig still, ohne das übliche Hintergrundsummen.
Der junge Mann fluchte und riß sich den Druckgurt vom Leib.
Er erhob sich taumelnd aus dem Schutzsitz, balancierte ein wenig schwindelig auf den Fußballen und tastete um sich, bis seine Hand die Kunststoffwand berührte.
Mit seiner Hand als Stütze stolperte er zu den Armaturen an der anderen Seite der runden Kabine. Wie ein Raumfahrer alter Schule löste er fluchend die Arretierungen, öffnete das Armaturenbrett und drückte auf einen Knopf. Als er sich umdrehte, fiel er fast ohne sein Zutun wieder in den Sitz. Das sanfte Summen erwachte in der Kabine. Eine kaum zu verstehende Stimme erkundigte sich mit wechselnder Sprechgeschwindigkeit und Tonhöhe: „liist ahhlees (hick!) ssuufriideensteeleend — Miiloord Roodney?“
„Bei all den glatten polierten Robotern in der Galaxis“, brummte Rodney, „mußte ausgerechnet ich einen Epileptiker bekommen!“
„Ween Sii mööchteen, Miiloord, meiinee Peersöönliichkeiit kaan auusgeetauuscht…“
„Ja, ich weiß“, knurrte Rodney. „Deine Schaltkreise können herausgerissen und umfunktioniert werden. Nein, danke! Ich bin mit dir, so wie du bist, recht zufrie den — außer wenn du, wie gerade, eine Landung baust, die mir das Schlüsselbein ausrenkt.“
„Ween Miiloord miir veerseiit geenauu um Auugeenbliik dees Plaaneeteenfaals eemfiing üch eiiniigee seehr uungeewööhnliichee Raadiiooweeleen, diie…“
„Du wurdest abgelenkt, ist es das, was du ausdrücken willst?“
„Miiloord, ees waar uunbeediingt eerfoordeerliich, diie Aanaalyysee…“
„Also studierte ein Teil von dir die Radio wellen, und ein anderer nahm die Landung vor. Das war ein kleines bißchen zuviel für dich, und der schwache Kondensator spielte verrückt… Gekab, wie oft muß ich dir noch sagen, dich ganz auf eine Aufgabe zu konzentrieren!“
„Miiloord äuuseertee deen Wuunsch, ees deen Heeldeen deer „Den Helden der Raumfahrt gleichzutun, ja. Aber das heißt noch lange nicht, daß ich auch ihre Unbequemlichkeiten auf mich nehmen möchte.“
Gekabs elektronisches System hatte sich inzwischen fast von der Erschöpfung erholt, die gewöhnlich eine Nachwirkung seiner schlimmeren Anfälle war.
„Aaber, Miilord, Heeld zu sein, schließt…“ „Vergiß es!“ Rodney stöhnte auf. Gehorsam löschte Gekab diesen Teil seiner Speicherdaten. Gekab war sehr pflichtbewußt. Er war eine Antiquität, einer der wenigen noch übriggebliebenen GKB (getreuer kybernetischer Begleiter), ein frühes Modell, das seit zweitausend Jahren nicht mehr hergestellt wurde. Die GKB-Roboter waren auf äußerste Loyalität programmiert und infolgedessen massenweise vernichtet worden, als sie ihre Herren zur Zeit des blutigen Interregnums — zwischen dem Zusammenbruch der alten Galaktischen Union und dem Aufstieg von PEST, des Proletarischen Eklektischen Staates von Terra — beschützten. Gekab (von der Abkürzung GKB) hatte dank seiner Epilepsie überlebt. Er hatte einen schwachen Kondensator, der, wenn überlastet, seine aufgespeicherte Energie in einem gewaltigen Schwall — das dauerte gewöhnlich mehrere Millisekunden — freigab. Beim Auftreten der vorausgehenden Symptome dieses elektronischen Anfalls — sie machten sich hauptsächlich durch Gekabs Schwerfälligkeit bei Berechnungen bemerkbarsprang ein Hauptschaltkreisunterbrecher heraus, und der schadhafte Kondensator entlud sich getrennt vom Rest der Schaltkreise; jedenfalls war der Roboter außer Betrieb, bis der Schaltkreisunterbrecher wieder eingerastet war. Da solche Anfälle gewöhnlich in Momenten großer Beanspruchung erfolgten — wie beispielsweise, wenn Gekab einen Raumschiffasteroiden landete und gleichzeitig eine aberrierende Radiowelle analysierte, oder beim Versuch, seinen Herrn vor drei im selben Augenblick zuschlagenden Mördern zu schützen —, hatte Gekab das Interregnum überstanden. Denn als die Proletarier seine Herren angriffen, hatte er mannhaft fünfundzwanzig Sekunden lang gekämpft, bis er zusammenbrach. So war er zur Rarität geworden — der mutige Diener, der überlebt hatte. Er war einer von nur noch fünf funktionsfähigen GKB-Robotern — und deshalb ein nicht mit Geld aufzuwiegendes Erbstück der Familie d'Armand —, hochgeschätzt als Antiquität, doch mehr noch seiner Loyalität wegen, denn wahre Treue gegenüber Adelsfamilien war immer selten gewesen.
Als Rodney d'Armand sein Vaterhaus verlassen hatte, um ein Leben des Ruhmes und Abenteuers zu führen — als zweiter Sohn eines zweiten Sohnes gab es nicht viele andere Möglichkeiten für ihn —, hatte sein alter Herr darauf bestanden, daß er Gekab mitnahm.
Rod war oft schon sehr froh über Gekabs Gesellschaft gewesen, aber hin und wieder gab es Zeiten, da der Roboter sich als nicht gerade feinfühlig erwies. So hatte er doch tatsächlich die Nerven, nach einer unangenehmen Landung, wenn der menschliche Magen bis zum Hals hochzusteigen scheint, zu fragen: „Möchten Sie dinieren, Mylord? Wie wäre es mit Langusten und Spargel?“
Rods Gesicht wurde fahlgrün. Er biß die Zähne zusammen und bemühte sich, den Mageninhalt zurückzuhalten. „Nein!“ knirschte er. „Und hör endlich mit dieser Mylorderei auf. Wir sind auf einer Mission, oder hast du das vergessen?“
„Ich vergesse nie, Rod, außer wenn man es mir befiehlt.“
„Ich weiß“, knurrte sein Herr und Meister. „Es war auch nur figürlich gesprochen.“
Rod erhob sich ächzend. „Ich könnte ein bißchen frische Luft vertragen, um meinen Magen zu beruhigen, Gekab. Gibt es eine?“
Der Roboter klickte kurz, dann meldete er: „Atmosphäre atembar. Aber es ist besser, Sie ziehen einen Pullover an.“
Brummelnd schlüpfte Rod in seine Pilotenjacke.
„Weshalb entwickeln alte Familienbedienstete immer einen Gluckenkomplex?“
„Rod, wenn Sie schon so lange lebten wie ich…“
„Hätte ich keinen anderen Wunsch, als mich deaktivieren zu lassen. Ja, ja, ich weiß schon:,Ein Roboter hat immer recht! Öffne die Schleuse, Gekab.“
Die Doppeltür der kleinen Luftschleuse schwang auf und offenbarte einen kreisrunden Ausschnitt sternen-besetzter Schwärze. Ein kühler Wind blies in die Kabine. Rod legte den Kopf zurück und atmete tief ein. Genußvoll schloß er die Augen. „Ah, der gesegnete Odem des Landes! Was lebt hier, Gekab?“
Maschinerie summte, als der Roboter die Elektronenteleskopbänder zurückspielte, die sie im Orbit aufgenommen hatten und die die Bilderdaten zu einer verständlichen Beschreibung des Planeten integrierten. „Die Landmassen bestehen aus fünf Kontinenten, einer Insel von beachtlicher Größe, und einer Anzahl kleinerer Inseln. Die Kontinente und kleinen Inseln weisen in etwa die gleiche Flora auf— sie kommt einem äquatorialen Regenwald nahe.“ „Selbst an den Polen?“
„Ab einer Entfernung von etwa hundertfünfzig Kilometern. Die Polklappen sind erstaunlich klein. Die sichtbare Fauna beschränkt sich auf Amphibien und eine Unzahl von Insekten. Es ist anzunehmen, daß die Gewässer reich an Fischen sind.“
Rod rieb sich das Kinn. „Hat ganz den Anschein, als befinde der Planet sich in einer ziemlich frühen geologischen Entwicklungsstufe.“
„Steinkohlenzeit“, bestätigte der Roboter. „Und wie sieht es auf der großen Insel aus? Da sind wir doch gelandet, oder?“
„Richtig. Hier gibt es keine einheimische Flora und Fauna. Alle Lebensformen sind typisch für die des späten terranischen Pleistozäns.“ „Wie spät?“
„Menschheitsgeschichtlich.“
Rod nickte. „Mit anderen Worten, eine Gruppe von Kolonisten kam hierher, eignete sich die Insel an, rottete die einheimische Flora und Fauna aus und siedelte terranische Tiere und Pflanzen an. Hast du eine Ahnung, weshalb sie ausgerechnet diese Insel auswählten?“
„Sie ist groß genug für eine annehmbare Bevölkerungszahl, und klein genug, daß die Probleme der ökologischen Angleichung minimal bleiben. Außerdem liegt die Insel in einer polaren Meeresströmung, die die vorherrschende Temperatur etwas unterhalb des terranischen Mittelwerts senkt.“
„Sehr günstig. Das erspart ihnen die Unannehmlichkeiten der Klimakontrolle. Irgendwelche Überreste, die auf Städte der Galaktischen Union hinweisen?“ „Keine, Rod.“
„Keine?“ Rods Augen weiteten sich vor Überraschung. „Das paßt aber so gar nicht recht ins Bild. Bist du sicher, Gekab?“ Das Entwicklungsmuster einer verlorenen oder abgeschnittenen Kolonie — also einer, die seit Jahrtausenden und mehr von der galaktischen Zivilisation getrennt war — unterschied drei deutlich gekennzeichnete Stadien. Erstens das der Gründung der Kolonie um eine moderne Stadt mit hochentwickelter Technologie. Zweitens, das Versagen der Kommunikationsmittel und so die Trennung von der galaktischen Kultur, gefolgt von einer Übervölkerung der Stadt, die zu einer Massenauswanderung ins Land ringsum führte und zu einer agrarischen Selbstversorgung. Und drittens, der Schwund und Verlust technologischer Kenntnisse, die in steigendem Maße von Aberglauben begleitet wurden. Dieser Aberglaube belegte schließlich auch die Dampfmaschinentechnologie mit einem Tabu und verbot sie. Die Gesellschaftsordnung erstarrte, und allmählich entwickelte sich ein Kastensystem. Kleidung und Architektur wurden mit der Zeit zu Karikaturen der in der Galaktischen Union üblichen, wie beispielsweise kleine halbkugelförmige Holzhäuser den gewaltigen galaktischen, geodätischen
Kuppeln nachgeahmt wurden.
Doch immer blieben Ruinen der Stadt zurück, die als ständiges Symbol und Basis einer Mythologie galten.
„Bist du wirklich sicher, Gekab? Ganz und völlig sicher, daß nirgends Überreste einer Stadt zu finden sind?“
„Ich bin immer sicher, Rod.“
„Hm, das stimmt.“ Rod zupfte an seiner Unterlippe.
„Manchmal irrst du dich zwar, aber von Zweifeln bleibst du verschont. Also legen wir die Sache mit der Stadt einstweilen ad acta. Vielleicht versank sie in einer Flutwelle. Wir wollen uns vorsichtshalber noch ein letztesmal vergewissern, daß die Lebensformen hier auch tatsächlich terranischen Ursprungs sind.“
Kopfüber tauchte Rod durch den Einmeterkreis der Schleuse.
Er schlug einen Purzelbaum und landete auf den Knien.
Bedachtsam holte er das Partisanenmesser aus seiner vom Gürtel hängenden Hülle.
Die Scheide war ein schlanker Kegel aus weißem Metall mit einem kleinen Kopf an der Spitze. Rod zupfte mehrere Grashalme aus dem Boden, schob sie in die Scheide und drehte den Knopf. Der Miniaturempfänger, der in die Seiten eingebaut war, untersuchte das Gras mit Schallwellen, um seine Molekularstruktur zu analysieren, und übermittelte die Daten an Gekab, der überprüfte, ob irgendwelche Moleküle für den menschlichen Metabolismus unverträglich waren. Wäre das Gras für Rod giftig gewesen, hätte Gekab der Hülle ein Signal gesendet, woraufhin das weiße Metall sich purpur verfärbt hätte.
Aber in diesem Fall blieb die Scheide silbern.
„Das ist der Beweis!“ erklärte Rod. „Es ist terranisches Gras, höchstwahrscheinlich von Terranern geflanzt, und das Ganze ist eine terranische Kolonie. Aber wo ist die Stadt?“
„Im Vorgebirge einer Bergkette im Norden befindet sich eine große Stadt mit etwa dreißigtausend Einwohnern.“
„Hm…“ Rod rieb sich das Kinn. „Das ist zwar nicht, was ich mir vorgestellt hatte, aber doch besser als nichts. Wie sieht sie denn aus?“
„Sie liegt an den unteren Hängen eines ziemlich großen Berges, von dessen Kuppe sich ein Bauwerk erhebt, das an terranische Burgen des Mittelalters erinnert.“ „Des Mittelalters?“ Rod runzelte die Stirn. „Die Stadt selbst besteht aus mit Stukkatur verzierten Holzhäusern, deren erster Stock über die schmalen Straßen — Gassen wäre zutreffender — hinausragt.“ „Holz und Stukkatur!“ Rod stand auf. „Warte mal! Warte! Gekab, sag mal, erinnert diese Architektur dich an was?“ Der Roboter schwieg einen Augenblick, dann erwiderte er: „Nordeuropäische Renaissance.“
„Das“, murmelte Rod, „ist absolut nicht der typische Stil einer abgeschnittenen Kolonie. Wie sehr ähnelt diese Architektur terranischer Renaissance, Gekab?“
„Sie ist ihr bis ins letzte Detail angeglichen.“ „Also Absicht! Was ist mit der Burg? Ist sie auch Renaissance?“ Wieder schwieg der Roboter einen Moment. „Nein, Rod. Sie könnte eine genaue Kopie der im dreizehnten Jahrhundert in Deutschland üblichen Burgen sein.“
Rod nickte eifrig. „Wie sieht es mit der Mode aus?“ „Wir befinden uns augenblicklich auf der Nachtseite des Planeten, genau wie bei der Landung. Die drei Trabanten des Planeten sorgen zwar für eine gute Beleuchtung, aber es sind verhältnismäßig wenige Personen unterwegs… Allerdings sehe ich einen kleinen Trupp Soldaten — Reiter — auf terranischen Pferden. Ihre Uniformen sind exakte Kopien der — uh — englischen Beefeaters, also der königlichen Leibwache im Tower.“ „Sehr gut! Sonst noch jemand auf der Straße?“ „Hm… Ein paar Männer mit Umhängen über engen Wämsern und Beinkleidern, glaube ich, und — ja, eine kleine Gruppe von Landleuten, die Kittel und Kniehosen mit auf der Brust überkreuzten
Hosenträgern anhaben…“
„Das reicht“, unterbrach ihn Rod. „Das ist ein Gemisch aus den verschiedensten Stilrichtungen. Jemand hat versucht, sich hier seine Vorstellung einer Idealweit aufzubauen. Gekab, hast du schon mal von den Emigranten gehört?“
Erneut schwieg der Roboter kurz, um sich in seine Datenbänke zu vertiefen, dann leierte er: „Gegen Ende des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts gab es zahllose Unzufriedene, die ihres Lebens überdrüssig wurden. Sie wandten sich in erster Linie dem Mystizismus zu, in zweiter der Fluchtliteratur und den Vergnügungen. Allmählich wurde das Pseudomittelalter die vorherrschende Interessensbasis.
Schließlich legte eine Gruppe wohlhabender Bürger ihr Vermögen zusammen. Sie erstanden einen ausrangierten Linienraumer, und verkündeten der Welt, sie seien die Romantischen Emigranten, die die Herrlichkeit des Mittelalters auf einem unbesiedelten Planeten neu aufleben lassen wollten. Sie erklärten sich auch bereit, eine beschränkte Zahl von Emigranten als Leibeigene und Kleinhändler mitzunehmen. Es meldeten sich weit mehr Interessenten, als auf dem Schiff untergebracht werden konnten. Und so wurden die Emigranten nach ihrer,Seelenpoesie' ausgewählt — was immer das heißt!“ „Es bedeutet, daß sie sich gern Schauermärchen anhörten“, erklärte Rodney. „Und wie ging es weiter?“ „Die Passagierliste war schnell zusammengestellt. Die dreizehn Bonzen, die die Väter der Expedition waren, gaben bekannt, daß sie ihre Nachnamen ablegen und dafür die Familiennamen großer Geschlechter des Mittelalters annehmen würden, wie Bourbon, Medici, und so weiter.
Dann startete das Schiff ohne Bekanntgabe des Bestimmungsplaneten,um die Versuchung durch die materialistische Welt zu verhindern'. Es wurde nie wieder etwas von ihnen gehört.“
Rod lächelte grimmig. „Nun, ich glaube, wir haben sie jetzt entdeckt. Wie vereinbart sich das mit deinen Dioden?“ „Ganz gut, Rod. Tatsächlich ergibt eine statistische Analyse der Wahrscheinlichkeit, daß dies die Kolonie der Emigranten sein könnte, folgendes…“
„Nicht jetzt“, unterbrach ihn Rod hastig. Statistiken waren Gekabs Steckenpferd. Wenn man leichtsinnig genug war, ihm auch nur die geringste Chance zu geben, konnte er einen damit viele Stunden langweilen.
Rod spitzte die Lippen und beäugte den Teil der Hülle, der Gekabs Gehirn behauste. „Wenn ich es mir recht überlege, wäre es vielleicht gar nicht schlecht, wenn du diese Statistik an DUFT übermitteln würdest und hinzufügst, daß wir annehmen, hier die Kolonie der Emigranten gefunden zu haben. Das machst du am besten gleich. Ich möchte gern, daß sie wissen, wo wir sind, falls irgend etwas passieren sollte.“ Die Dachorganisation zur Umwandlung fremdweltlichen Totalitarismus, also DUFT, war für die Suche nach verlorenen Kolonien zuständig. Der Proletarische Eklektische Staat von Terra (PEST) hatte bemerkenswert wenig Interesse an Kolonien ohne moderne Technologie gezeigt, so daß die verlorenen Kolonien auch verloren geblieben waren, bis die totalitäre Herrschaft von PEST durch DDT, das Dezentralisierte Demokratische Tribunal gestürzt wurde. DDT hatte schnell seine Herrschaft über Terra konsolidiert und regierte in Übereinstimmung mit den nahezu unerreichbaren Idealen athenischer Demokratie.
Es war altbekannt, daß die Unwirksamkeit demokratischer Regierungen hauptsächlich dem Problem der Kommunikation und der Vorurteile zuzuschreiben war. Doch über eine Zeitspanne von zwei Jahrhunderten hatten DDT-Zellen Kneipen zu Schulräumen umfunktioniert, was zur Hochschulreife von zweiundsiebzig Prozent der Bevölkerung führte. Vorurteile wurden zur heilbaren Krankheit, genau wie
Kinderlähmung und Krebs. Das Problem der Kommunikation wurde durch die Entwicklung submolekularer Elektronik in DDT-Labors gelöst, was die Größe und den Preis elektronischer Kommunikationsmittel so sehr verringerte, daß ihre allgemeine Verwendung zum erstenmal tatsächlich verwirklicht werden konnte. Das ermöglichte jedem in Sekundenschnelle, persönlichen Protest bei seinem Tribunal einzulegen. Da nun so gut wie alle hochgebildet waren, neigten sie dazu, allein schon aus Prinzip zu protestieren und lautstark ihre Meinung kundzutun — was für eine Demokratie ungemein gesund ist.
Proteste, besonders über Radio, hatten sich als äußerst wirkungsvoll erwiesen, hauptsächlich aufgrund der automatischen Aufnahmen der Protestkundgebungen. Die Probleme der Tonbandspeicherung und des bürokratischen Aufwands waren durch rotoxyd-beschichtete Tonbänder mit einfacher Molekülarbeit gelöst worden. Und die Entwicklung des Datenabrufsystems war so weit fortgeschritten, daß das Auswendiglernen von Daten nicht mehr erforderlich war. Dadurch wurde die Ausbildung lediglich zu einer Einführung in Konzepte, und der Erfolg der Demokratie war gesichert. Nach zwei Jahrhunderten solcher Basisarbeit wurde die DDT-Revolution zur reinen Formalität.
Aber Revolutionäre sind immer im Weg, wenn eine Revolution vorüber ist, und erweisen sich möglicherweise als störendes Element für die Ordnungskräfte der neuen Regierung. Deshalb hatte das DDT beschlossen, uneigennützig zu sein und den Segen der Demokratie mit den anderen Überbleibseln der alten Galaktischen Union zu teilen.
Doch auf Planeten mit totalitären Regierungen sind Demokraten selten willkommen und werden auch auf Planeten, wo die Anarchie herrscht, nicht mit offenen Armen empfangen — das liegt am Wesen der Demokratie, dem einzigen praktikablen Kompromiß zwischen Totalitarismus und Anarchie.
Vonnöten war eine dauerhafte Organisation von Revolutionären — subversive, republikanische Demokraten. Da es eine große Zahl von arbeitslosen Revolutionären gab, wurde diese Organisation schnell gegründet und Dachorganisation zur Umwandlung von fremdweltlichem Totalitarismus (DUFT) getauft. Aber nachdem alle bekannten besiedelten Planeten bekehrt waren und sich dem DDT angeschlossen hatten, wurden die alten Revolutionäre wieder zum Problem, um so mehr, als ihre Zahl gestiegen war. Daher schickte man sie einzig und allein zu dem Zweck aus, verlorene Kolonien zu suchen. Die Mission von DUFT war also, die hinterwäldlerischen Planeten aufzuschnüffeln und sie auf den Weg der Demokratie zu führen.
Da Rod einen Planeten von mittelalterlichem Charakter gefunden hatte, würde er für die Entwicklung einer konstitutionellen Monarchie Sorge tragen müssen. Rod, geborener Rodney d'Armand (er hatte auch noch fünf Mittelnamen, aber sie aufzuzählen würde nur langweilen), der auf einem hauptsächlich mit Aristokraten und Robotern bevölkerten Planeten aufgewachsen war, hatte sich DUFT im zarten Alter von achtzehn Jahren angeschlossen. Während seiner zehn Dienstjahre war aus einem schlaksigen, häßlichen Bürschchen ein schlanker, muskulöser, häßlicher junger Mann geworden.
Sein Gesicht war von aristokratischem Schnitt, das zumindest mußte man ihm zugute halten, doch das war auch schon alles. Sein immer weiter zurückweichender Haaransatz machte einer schrägen Stirn Platz, die über buschigen Brauen endete. Die etwas hart wirkenden Augen lagen tief in den Höhlen. Flache Wangenknochen verhalfen der Nase, die einem Adler Ehre gemacht hätte, zu noch größerer Prominenz. Unter den Wangenknochen und der Nase weitete sich der schmale Mund selbst im Schlaf zu einem spöttischen Lächeln. Und unter den
Lippen machte sich der Unterkiefer breit, um dem sich ein wenig vorschiebenden Kinn noch mehr Ausdruck zu verleihen. Rod hätte es gern gehabt, wenn man sein Gesicht mit scharf, stark und fest bezeichnet hätte, aber es wurde unwillkürlich weich, und sanft, wenn ein Mädchen ihn anlächelte. Hunde und Kinder riefen die gleiche Wirkung hervor, nur viel häufiger. Er war ein Mann mit einem Traum — dem Traum einer vereinigten galaktischen Regierung (einer demokratischen, selbstredend!). Interstellare Kommunikation war immer noch zu langsam für eine echte demokratische Föderation; das DDT war im Grund genommen eine lose Konföderation von Welten, eine debattierende Gesellschaft und Unterstützungsorganisation.
Doch ausreichende Kommunikationsmethoden würde es gewiß in geraumer Zeit geben, dessen war Rod sicher, und wenn es soweit war, waren die Sterne auch bereit, dafür würde er schon sorgen.
„Also, machen wir uns an die Arbeit, Gekab. Wer weiß, wann hier jemand zufällig vorbeispaziert und uns entdeckt.“ Rod schwang sich hoch und durch die Luftschleuse in die Kabine. Er trat an die Platte in der Wand und löste die Arretierung. Dahinter befand sich eine Armaturentafel und darüber eine weiße Metallkugel mit stumpfem Überzug, etwa von der Größe eines Korbballs. Von oben aus dem Ball ragte ein Kabel, das mit der Wand verbunden war.
Rod schraubte die Verbindung auf und löste die Klammer, die die Kugel hielt, und hob den Ball behutsam heraus. „Vorsichtig!“ klang Gekabs Stimme aus dem Hörer, der hinter Rods rechtem Ohr in den Knochen implantiert war. „Ich bin zerbrechlich, vergessen Sie das nicht.“
„Du hast überhaupt kein Vertrauen zu mir“, beschwerte sich Rod. Das Mikrophon in seinem Unterkiefer leitete die Worte an Gekab weiter. „Habe ich dich vielleicht schon einmal fallen
lassen?“
„Bis jetzt noch nicht“, brummte der Roboter.
Rod klemmte Gekabs „Gehirn“ vorsichtig in die Armbeuge, um den anderen Arm frei zu haben, damit er mit der Luftschleuse zurechtkommen konnte. Draußen angelangt, drückte er einen Knopf an der Schiffshülle. Eine ziemlich große Tür schwang aus der Seite des Pseudoasteroiden auf. Im Innern hing ein mächtiger Rappe im Schutznetz, mit dem Kopf zwischen den Vorderbeinen. Seine Augen waren geschlossen.
Wieder drückte Rod auf einen Knopf. Ein Kran schob sich aus dem Frachtraum. Das Pferd wurde von dem Kran herausgehoben und vorsichtig herabgelassen, bis die Hufe den Boden berührten. Rod drehte den Sattelknauf, woraufhin eine Flanke des Rappen auf glitt.
Vorsichtig hob Rod das Gehirn ins Innere der Pfer-dehülle, befestigte Klammer und Verbindung, dann drehte er den Sattelknauf zurück, und die Flanke schloß sich wieder. Langsam hob der Hengst den Kopf, wackelte mit den Ohren, blinzelte zweimal und wieherte versuchsweise.
„Alles, wie es sein soll“, erklärte die Stimme hinter Rodneys rechtem Ohr. Das Pferd kaute geräuschvoll an der Trense.
„Wenn Sie mich aus dieser Affenschaukel befreien, werde ich den Motor überprüfen.“
Rod grinste und löste das Schutznetz. Das Pferd bäumte sich auf, schlug mit den Hufen durch die Luft und galoppierte davon. Rod blickte dem Roboter nach und schaute sich gleichzeitig um.
Das Asteroidenschiff war mitten auf einer sommerlichen Wiese gelandet. Eichen, Hickory, Ahorn und Eschen umsäumten sie.
Es war Nacht, aber das Licht der drei Monde erhellte die Wiese.
Der Roboter kanterte donnernden Hufes zu Rod und bremste hart vor ihm. Die großen, indigoblauen Augen richteten sich auf ihn, die Ohren legten sich ein wenig nach vorn.
„Ich bin ganz gut in Form“, meldete der Roboter.
Wieder grinste Rod. „Nichts Schöneres als ein galoppierendes Pferd.“
„Was? Nichts Schöneres?“
„Nun, fast nichts. Komm hilf mir, das Schiff zu vergraben.“
Rod drückte Knöpfe an der Schiffsseite. Die Tür zum Frachtraum glitt zu, die Luftschleuse versiegelte sich. Das Schiff begann sich zu drehen, langsam anfangs, bis es sich immer schneller in den Boden bohrte. Bald war nur noch ein Krater mit einem Ringwall aus Erde und das Dach des Asteroiden etwa einen Meter tiefer zu sehen.
Rod zog eine Klappschaufel aus Gekabs Satteltasche, öffnete sie und machte sich an die Arbeit. Das Pferd half ihm, indem es den Ringwall mit den Hufen bearbeitete. In wenigen Minuten war er nur noch fünfzehn Zentimeter hoch und dazwischen befand sich ein etwa fünfundsechzig Zentimeter hoher und im Durchmesser etwa sechs Meter breiter Hügel.
„Zurück!“ warnte Rod. Er zog seinen Dolch, drehte die Scheide um hundertachtzig Grad und deutete mit dem Heft auf den Erdhügel. Ein roter Strahl schoß heraus, der Lehm glühte rot auf, schmolz und zerfloß.
Rod ließ den Strahl nun langsamer über den aufgefüllten Krater kreisen, bis die geschmolzene Erde sich ungefähr dreißig Zentimeter unterhalb der Wiesenoberfläche gesenkt hatte.
Dann schaufelte er den Rest des Ringwalls in das Loch. Es entstand eine unbedeutende Erhöhung, derer der nächste Regen sich gewiß annehmen würde.
„Das ist's.“ Rod fuhr sich über die Stirn.
„Noch nicht ganz. Sie brauchen noch die richtige Kleidung, um hier nicht unliebsam aufzufallen.“
Rod kniff die Lider zusammen.
„Ich erlaubte mir, die Vorsichtsmaßnahme zu treffen, ein Wams in meine linke Satteltasche zu packen, während Sie das Gras untersuchten.“
„Aber hör mal“, protestierte Rod, „ist meine Uniform vielleicht nicht gut genug?“
„Die hautenge Hose und die Militärstiefel gehen gerade noch. Aber eine Pilotenjacke hat wohl wenig Ähnlichkeit mit einem Wams. Muß ich mehr sagen?“
„Nein, ich glaube nicht.“ Rod seufzte. Er ging zur Satteltasche. „Der Erfolg einer Mission geht vor alle persönliche Bequemlichkeit, Würde und — he!“ Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf etwas Langes, Schmales, das vom Sattel hing.
„He was, Rod?“
Rod nahm das merkwürdige Ding vom Sattel. Es hatte an einem Ende einen Griff, wie er bemerkte, und es rasselte. Er hielt es so hoch, daß Gekab es sehen konnte. „Was ist denn das?“
„Ein elisabethanisches Rapier. Eine antike Seitenwaffe, eine Art langes Messer für Hieb und Stich.“
„Eine Seitenwaffe!“ Rod beäugte den Roboter, als zweifle er an seinem Verstand. „Ich soll das wohl tragen?“ „Natürlich, Rod. Zumindest, wenn Sie beabsichtigen, Ihre Mission wie üblich unter falscher Identität durchzuführen.“ Rod machte ein Märtyrergesicht und zog das Wams aus der Satteltasche. Er zwängte sich hinein und gürtete das Rapier an seine rechte Seite.
„Nein, nein, Rod! Es gehört links! Sie müssen es über Kreuz ziehen!“
„Was ich alles um der Demokratie willen erdulde!“ Rod hing den Degen an seine linke Hüfte. „Gekab, ist dir je der Gedanke gekommen, daß ich ein Fanatiker sein könnte?“ „Aber gewiß doch, Rod. Ein klassischer Fall von Sublimierung.“
„Ich ersuchte um deine Meinung, nicht um eine Psychoanalyse“, knurrte Rod. Er begutachtete seine Kostümierung. „Hm, gar nicht so übel.“ Er straffte die Schultern, schob das
Kinn vor und warf sich in die Brust. Das gold-scharlachrote Wams glomm geradezu im Mondschein.
„Sie geben eine stolze Figur ab, Rod.“ Irgendwie klang Gekabs Stimme jedoch leicht amüsiert.
Rod runzelte die Stirn. „Aber eigentlich gehört noch ein Cape dazu.“
„Steckt ebenfalls in der Satteltasche, Rod.“ „Du denkst doch an alles!“ Rod kramte in der Satteltasche und brachte einen weiten Umhang im gleichen Stahlblau hervor wie seine hautenge Uniformhose.
„Die Kette muß durch die linke Achselhöhle und rechts um den Hals geschlungen werden, Rod.“
Rod befolgte die Anweisung und stellte sich in den Wind, daß der Umhang von seinen breiten Schultern wallte.
„Na, ist das nichts? Ich sehe bestimmt beeindruckend aus, hm?“
„Wie eine Illustration aus einem Shakespeare-Stück.“
„Für die Schmeichelei bekommst du ausnahmsweise eine doppelte Ölration.“ Rod schwang sich in den Sattel. „Auf zur nächsten Stadt, Gekab. Ich möchte mich in meinem neuen Sonntagsstaat sehen lassen.“
„Sie haben vergessen, den Krater zu besäen!“
„Was? Oh! Verdammt!“ Rod zog einen kleinen Beutel aus der rechten Satteltasche und streute den Samen über den Kreis kahler Erde. „Na also! Jetzt braucht es nur noch einen linden Regen, und schon in zwei Tagen wird man ihn nicht mehr vom Rest der Wiese unterscheiden können. Hoffen wir, daß in den zwei Tagen niemand hierherkommt…“
Der Rappe hob den Kopf und spitzte die Ohren.
„Was ist los, Gekab?“
„Hören Sie!“
Rod zog die Brauen zusammen und schloß die Augen.
Der Wind trug aus der Ferne die vergnügten Rufe Jugendlicher und fröhliches Lachen herbei.
„Hört sich an, als feierten ein paar Burschen und Mädchen eine Party.“
„Es kommt näher“, sagte Gekab leise.
Wieder schloß Rod die Augen und lauschte. Die Geräusche kamen tatsächlich näher… Er wandte sich nach Nordosten, der Richtung, aus dem die Laute zu kommen schienen, und betrachtete forschend den Horizont. Nur die drei Monde standen am Himmel.
Ein Schatten zog an einem der Monde vorbei, drei weitere folgten. Das Lachen klang bereits viel näher.
„Etwa hundertzwanzig Stundenkilometer“, murmelte Gekab.
„Hmmm.“ Rod kaute an der Unterlippe. „Gekab, wann sind wir gelandet?“
„Vor ungefähr zwei Stunden.“
Etwas flitzte über ihren Köpfen vorbei.
Rod schaute hoch. „Sie fliegen, Gekab!“
Eine kurze Pause setzte ein. Dann brummte der Roboter. „Rod, ich muß Sie ersuchen, logisch zu denken. Eine Kultur wie diese kann unmöglich Flugmaschinen entwickelt haben.“
„Das haben sie auch nicht. Sie selbst fliegen!“
„Die Menschen, Rod?“
„Es sieht so aus.“ Rods Stimme klang eine Spur verwirrt.
„Allerdings muß ich zugeben, daß das Mädchen, das gerade über uns hinwegflog, auf einem Besenstiel zu reiten schien.
Und sie sah gar nicht schlecht aus. Richtig zum Anbeißen…
Gekab?“
Die Pferdebeine wirkten steif und der Kopf baumelte dazwischen.
„Zum Teufel!“ knurrte Rod. „Nicht schon wieder!“
Er tastete unter den Sattelknauf und drückte die Sicherung wieder ein. Langsam hob der Rappe den Kopf und schüttelte ihn ein paarmal. Rod griff nach den Zügeln und führte das Pferd.
„Waas iis baasiird, Rood?“
„Du hattest wieder einmal einen Anfall, Gekab. Sei so gut und fang jetzt ja nicht zu wiehern an. Diese fliegende Party kommt zurück, und es besteht die Möglichkeit, daß sie überhaupt nur unterwegs sind, um nach dem abgestürzten Kometen zu suchen. Wir sehen deshalb besser zu, unter den hohen Bäumen Deckung zu finden — und bitte, verhalte dich ruhig!“
Als sie die Bäume am Rand der Wiese erreicht hatten, spähte Rod hinaus, um zu sehen, was die fliegende Schwadron machte.
Die Jugendlichen kreisten etwa eineinhalb Kilometer entfernt durch die Luft. Sie stießen Jubelschreie und Willkommensrufe aus.
„Freut euch, Kinder, ich bin es, Lady Gwen!“
„So seid Ihr endlich doch gekommen, um Mutter unseres Zirkels zu sein, Gwendylon?“
„Von immer größerer Schönheit werdet Ihr, süße Gwendylon!
Was tut Ihr nur?“
„Jedenfalls noch keine Wiegen ausrauben, Randal…“
„Hört sich an, als sähe die Hauswirtin bei einer Party im Hexencollege nach dem Rechten“, brummte Rod. „Wieder nüchtern, Gekab?“
„Zumindest ist mein Gehirn wieder klar“, erwiderte der Roboter, „und meine Basisprogrammierung hat sich um ein zusätzliches Konzept erweitert.“
„Oh!“ Rod spitzte die Lippen. „Meine Beobachtung stimmt also?“
„Allerdings. Sie fliegen tatsächlich!“
Die fliegende Meute schien sich wieder an den ursprünglichen Zweck ihres Ausflugs zu erinnern. Schreiend und lachend näherten sie sich erneut der Wiese. Sie hielten schwebend über dem Kreis kahler Erde an, dann landeten sie, einer nach dem anderen, ringsum.
„Besteht wohl wenig Zweifel an dem Grund ihres Hierseins, hm?“ Rod hatte es sich im Schneidersitz auf dem Boden
bequem gemacht und lehnte mit dem Rücken an Gekabs Vorderbeinen. „Uns bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten, nehme ich an.“ Er drehte den Stein seines Siegelrings um neunzig Grad und richtete ihn auf die kleine Versammlung. „Übertrag es, Gekab.“
Der Siegelring diente nun als ein ungemein leistungsfähiges Richtmikrophon, das seine Aufnahmen durch Gekab in den Empfänger hinter Rods Ohr übertrug.
Aber Rod verstand höchstens jedes zweite Wort, und so mußte Gekab den Dolmetscher spielen. „Einer sagte:.Sollen wir es der Königin melden? Und ein anderer antwortete;,Nein, sie würde sich nur unnötig aufregen! „
Rod runzelte die Stirn. „Komisch, es ist Englisch, und doch komme ich nicht so ganz zurecht damit.“
„Es ist elisabethanisches Englisch, Rod.“
„Deshalb schickt DUFT immer einen Menschen mit einem Roboter! Die Sprache beweist also, daß dies die Emigrantenkolonie ist!“
„Ja, natürlich“, bestätigte Gekab ein wenig pikiert.
„Na, na, alter Symbiont, maul nicht. Ich weiß, daß du das Offensichtliche nicht für meldenswert hältst. Aber wenn man offensichtliche Tatsachen übersieht, führt es leicht dazu, auch Geheimnisse, die offen vor einem liegen, zu übersehen, richtig? Also, sie erwähnten eine Königin. Demnach ist ihre Regierungsform eine Monarchie, wie wir vermuteten. Diese Halbwüchsigengruppe bezeichnete sich selbst als Zirkel, das bedeutet wahrscheinlich, daß sie sich für Hexen halten… Wenn man ihre Fortbewegungsart in Betracht zieht, könnte es sogar stimmen. Aber….“
Er ließ das Aber eine Weile in der Luft hängen. Gekab schaute ihn fragend an.
„Sie zogen auch in Erwägung, der Königin Meldung zu erstatten. Das läßt darauf schließen, daß sie bei ihr ein geneigtes Ohr finden. Soll das tatsächlich heißen, daß Hexerei
von königlicher Seite geduldet wird?“
„Nicht unbedingt“, meinte Gekab. „Ein hier vielleicht überlege nswerter Präzedenzfall wäre der des Königs Saul und der Hexe von Endor…“
„Aber es besteht doch durchaus die Möglichkeit, daß sie Zutritt zum Hof haben.“
„Rod, ziehen Sie nicht voreilige Schlußfolgerungen?“ „Nein, ich habe nur eine brillante Vorstellungskraft.“ „Deshalb schickt DUFT immer einen Roboter mit einem Menschen!“ brummte Gekab.
„Gut gekontert! Aber wenn du richtig übersetzt hast, sagten sie doch auch, daß es die Königin nur unnötig aufregen würde. Vielleicht ist sie überhaupt schnell erregbar?“ „Vielleicht, ja.“
Plötzlich erklang Musik auf der Wiese — Dudelsäcke spielten eine alte Zigeunerweise. Die jungen Leute tanzten auf der kahlen Stelle und etwa einen Meter darüber. „Bayerischer Volkstanz“, murmelte Gekab. „Eine zusammengestückelte Kultur, aus dem Minderwertigsten, das die alte Erde zu bieten hatte.“ „Das ist ein sehr subjektives Urteil, Rod.“ Rod hob eine Braue. „Magst du vielleicht Dudelsackmusik?“ Er überkreuzte die Arme, senkte den Kopf auf die Brust und überließ es Gekab, dem Nieschlafenden, alles Wichtige aufzunehmen.
Der Roboter hörte und schaute der kleinen Gruppe etwa zwei Stunden zu, während derer er geduldig die Daten verdaute. Als die Musik verstummte, setzte Gekab einen Huf auf Rods Hüfte.
„Brrr!“ Rod schüttelte sich und war sofort hellwach, wie man es von einem Geheimagenten nicht anders erwartet. „Die Party ist zu Ende, Rod.“
Die Halbwüchsigen hüpften in die Luft, um nordost-wärts aufzubrechen.
Ein Besenstiel trennte sich von ihnen und schoß in rechtem Winkel mit einer wohlgeformten weiblichen Gestalt davon.
„Bleibt uns nicht wieder so lange fern, Gwendylon!“
„Randal, wenn du eine Maus wärst, würdest du bestimmt um einen Elefanten werben. Lebwohl und sieh zu, daß du künftig Mädchen hofierst, die nicht mehr als sechs Jahre älter sind als du.“
Der Besenstiel schoß geradewegs in Rods Richtung, hob sich über die Bäume, und war verschwunden.
„Mhm, ja!“ Rod leckte sich die Lippen. „Wirklich ein prächtig gebautes Mädchen. Und so, wie sie redet, offenbar auch ein wenig älter als diese Küken…“
„Ich hatte gedacht, Sie wären längst über solch kleine Eroberungen hinaus, Rod.“
„Eine nette Umschreibung von dir, daß sie mich bestimmt nicht haben möchte! Naja, wenn ich auch nicht kaufen kann, so seh' ich mich doch gern um.“
Der Zirkel jugendlicher Hexen segelte über den Horizont, und das fröhliche Gelächter verlor sich allmählich.
„Das ist also das.“ Rod stand auf. „Die Party ist zu Ende und wir sind nicht viel klüger als zuvor. Aber zumindest sind wir selbst noch ein Geheimnis. Keiner ahnt, daß unter diesem kahlen Erdfleck ein Raumschiff verborgen ist.“
„Stimmt nicht!“ widersprach ein helles Stimmchen kichernd.
Rod erstarrte, drehte den Kopf und riß die Augen auf.
Zwischen den Wurzeln einer alten Eiche stand grinsend ein breitschultriger Mann von der beachtlichen Größe von dreißig Zentimetern. Er trug Wams und enges Beinkleid in verschiedenen Braunschattierungen. Seine strahlend weißen Zähne glänzten und sein Gesicht wies einen spitzbübischen Ausdruck auf.
„Dem Elfenkönig wird Eure Anwesenheit gemeldet werden, Lord Zauberer“, sagte der Kobold.
Rod sprang.
Aber der kleine Mann war bereits verschwunden.
Stumm blieb Rod stehen. Er lauschte dem Wind, der mit den Eichenblättern säuselte, und dem letzten Echo des Kicherns, das sich zwischen den Eichenwurzeln verlor.
„Gekab!“ sagte er. „Gekab, hast du das gesehen?“
Er erhielt keine Antwort. Stirnrunzelnd drehte er sich um.
„Gekab? Gekab!“
Der Kopf des Roboters baumelte wieder einmal zwischen den Vorderbeinen.
„Oh, zum Teufel!“
Eine dröhnende Glocke kündete irgendwo in der großen, windschiefen Stadt — in die die jugendlichen Hexen, nach Rods und Gekabs Berechnungen ihrer Richtung und Geschwindigkeit, geflogen sein mußten — die neunte Stunde.
Aufgrund der Bemerkung über die Königin hatte Rod gehofft, hier die Hauptstadt der Insel zu finden.
„Na ja, es war eine reine Vermutung“, entschuldigte sich Rod bei dem Roboter.
„Natürlich“, brummte Gekab. Darauf folgte etwas, das man für einen geduldigen Seufzer halten konnte.
„Solange wir noch Zeit haben, welchen Namen würdest du in dieser Kultur für mich vorschlagen?“
„Warum nicht Rodney d'Armand VII.? Hier ist einer der wenigen Fälle, wo Ihr echter Name durchaus passend ist.“
Rod schüttelte den Kopf. „Zu angeberisch. Meine Vorfahren konnten einfach von ihren aristokratischen Neigungen nicht loskommen.“
„Sie waren ja auch Aristokraten, Rod.“
„Ja, aber alle anderen auf dem Planeten ebenfalls, außer den Robotern. Und sie gehörten schon so lange zur Familie, daß ihnen das Recht auf einige Ehrungen ebenfalls zustand.“
„Es war Ehre genug…“
„Später“, unterbrach Rod ihn hastig. Gekab hatte seine Standardpredigt über die noblesse oblige Tradition der
Maximaroboter, die er nur zu gern hielt, sobald man ihm die geringste Gelegenheit dazu gab. „Wir haben immer noch das Namensproblem“, erinnerte er Gekab.
„Wenn Sie meinen“, brummte der Roboter ein wenig verärgert. „Söldner, wieder einmal?“
„Ja, das gibt mir einen guten Vorwand, weit herumzukommen.“
„Sie könnten sich als wandernder Minnesänger ausgeben.“ Rod schüttelte den Kopf. „Minnesänger müssen immer mit den allerletzten Neuigkeiten vertraut sein. Aber es wäre vielleicht keine schlechte Idee, mir eine Harfe zu besorgen — vor allem, wenn das Regierungs oberhaupt eine Frau ist. Lieder finden auch dort Einlaß, wo Schwerter es nicht können…“ „Es ist jedesmal das gleiche… Wie gefällt Ihnen,Gallowglass'? Das war die irische Bezeichnung für Söldner.“ „Gallowglass…“ Rod rollte das Wort auf seiner Zunge. „Nicht schlecht. Es hat Esprit.“ „Genau wie Sie!“
„Täusche ich mich, oder klang es wirklich ironisch? Aber es ist tatsächlich ein gutes, solides Wort — und man kann es wirklich nicht als schön bezeichnen…“
„Darum paßt es ja so gut zu Ihnen“, murmelte der Roboter. „Ja, ich würde sagen, der Name ist genau richtig. Rod Gallowglass. Brrrl“
Rod zerrte am Zügel und runzelte die Stirn. Von irgendwo geradeaus vor ihnen erklang das gedämpfte Gemurmel einer Menschenmenge.
„Was das wohl zu bedeuten hat?“ „Rod, darf ich Ihnen zu Vorsicht raten?“ „Keine schlechte Idee. Lauf weiter, aber so leise wie möglich. Achte auf deine Hufe, bitte.“ Gekab trottete durch die schmale, mondhelle Straße und hielt sich so dicht es ging im Schatten der verwitterten Häusermauern. An einer Ecke blieb er stehen und schob seinen Pferdeschädel vorsichtig vor. „Was siehst du?“
„Einen Mob.“
„Großartige Beobachtungsgabe, Dr. Watson. Noch etwas?“ „Fackellicht und einen jungen Mann, der auf eine Plattform klettert. Wenn Sie mir den Vergleich verzeihen, Rod, es hat viel Ähnlichkeit mit einer Ihrer Studentenkundgebungen.“ „Genau das ist es auch vielleicht.“ Rod schwang sich aus dem Sattel. „Du bleibst hier, alter Freund. Ich gehe mal kundschaften.“
Im stolzen Marschschritt des Soldaten und mit der Hand um den Rapierknauf trat er um die Ecke. Sein erster Eindruck war, daß es sich hier um ein Treffen der Vagabundenunion handeln mußte. Kein einziges ungeflicktes Wams war zu sehen. Er rümpfte die Nase. Seife und Wasser schienen hier verdammt selten zu sein. Was für eine Meute!
Der Versammlungsort war ein riesiger freier Platz mit einem Fluß und Hafenanlagen, wo hölzerne Schiffe vertäut lagen, an einer Seite. An den anderen drei befanden sich armselige Wohnhäuser, Läden mit See-mansbedarf und ähnlichem, und Lagerhäuser. Alle Gebäude waren teilweise aus Holz, und bei sämtlichen war das erste Stockwerk überstehend. Der brüllende, drängende Mob füllte den gesamten Platz, dem brennende, knisternde Nadelholzzweige ein dämonisches Licht verliehen.
Ein näherer Blick auf die Menge offenbarte Augenklappen, verkümmerte Gliedmaßen, ohrenlose Köpfe — ein auffallender Gegensatz zu der Gestalt, die auf der provisorischen Plattform stand. Es handelte sich bei ihr um einen breitschultrigen, blonden jungen Mann. Sein Gesicht war sauber und ungezeichnet, mit einer Stupsnase und blauen Augen. Es war ein rundes, fast unschuldig wirkendes Gesicht, offen und ehrlich, erfüllt von der Überzeugung eines Mannes, der an seine Mission glaubt. Sein Wams und seine Hose waren erstaunlich sauber, und aus gutem Stoff maßgeschneidert. Ein Schwert hing von seiner Seite.
„Ein Bursche aus gutem Haus“, murmelte Rod. „Was, bei den sieben Höllen, macht er unter diesem Lumpenpack?“
Der Jüngling hob die Arme. Die Menge brüllte und hielt die brennenden Zweige höher, um ihm zu leuchten „Welche Schultern tragen die schwerste Last?“ schrie der junge Mann.
„Unsere!“ brüllte die Menge.
„Wessen Hände sind narbig und schwielig von härtester Plackerei?“
„Unsere!“
„Wer hat all den Reichtum ermöglicht, den die Adeligen zum Fenster hinauswerfen?“
„Wir!“
„Wer hat ihre hohen Burgen aus Granit erbaut?“
„Wir!“
„Habt ihr euch nicht einen Teil ihres Reichtums und Luxus verdient?“
„Das haben wir!“
„Schon allein in einer einzigen Bucht liegen genug Schätze, um jeden von euch zum König zu machen!“
Der Mob tobte.
„Hörst du alles, Gekab?“
„Ja, Rod. Könnte eine Mischung von Karl Marx und Huey Long sein.“
„Ungewöhnliche Synthese, und doch nicht so ungewöhnlich, wenn man es genauer betrachtet.“
„Es sind eure Schätze, es ist euer Reichtum!“ schrie der Jüngling. „Ihr habt ein Recht darauf!“
Wieder tobte die Meute.
„Und bekommt ihr, was man euch schuldig ist?“
Plötzlich wurde der Mob still. Ein beunruhigendes Gemurmel breitete sich aus.
„Nein!“ brüllte der junge Mann. „Deshalb müßt ihr es verlangen, es steht euch rechtmäßig zu!“
Er warf die Arme hoch. „Die Königin hat euch Brot und Wein gegeben, als Hungersnot herrschte, genau wie sie den Hexen, die sie beherbergt, Fleisch und Wein gewährt.“ Totenstille senkte sich für eine Weile über die Menge. Dann verbreitete sich ein Flüstern. „Die Hexen! Die Hexen!“ „Ja!“ brüllte der Redner. „Selbst den Hexen, den Ausgestoßenen, den Geächteten. Wie viel mehr wird sie dann euch gewähren, die ihr so viel auf euch genommen habt? Sie wird euch geben, was euch zusteht!“ Die Menge brüllte.
„Wohin werdet ihr gehen?“ schrie der junge Demosthenes. „Zur Burg!“ rief einer, und andere nahmen seinen Ruf auf. „Zur Burg! Zur Burg!“ Es wurde zum rhythmischen Singsang. „Zur Burg!“
Ein hoher, heulender Laut schrillte durch die Luft. Der Mob verstummte. Eine hagere, verkrüppelte Gestalt hinkte zum Rand eines Lagerhausdachs und rief über den Platz: „Soldaten! Eine Kompanie oder mehr!“
„Zieht euch durch die Gassen und über die Kais zurück!“ befahl der junge Mann. „Wir treffen uns in einer Stunde im HausClovis!“
Zu Rods Staunen verhielt die Menge sich völlig ruhig. Sie verlor sich, ohne zu drängen und ohne daß Panik ausbrach, durch die Gassen.
Rod drückte sich in einen Hauseingang und sah zu, wie die brennenden Zweige gelöscht wurden. Dutzende um Dutzende von Bettlern rannten leise an ihm vorbei und wurden von den Nebenstraßen und Gassen verschluckt.
Der Platz leerte sich. In der plötzlichen Stille hörte Rod näherkommendes Hufgedröhn. Hastig kehrte er zu Gekab zurück und schwang sich in den Sattel. „Schnell und leise in einen besseren Stadtteil!“ befahl er dem Roboter. Gekab konnte mehrere Zentimeter dicke Gummipolster für seine Hufe ausfahren, wenn Lautlosigkeit erforderlich war. Er
hatte auch die Luftaufnahmen der Stadt studiert und jede Einzelheit im Gedächtnis behalten. Ein Roboterpferd hat schon seine Vorteile.
Sie flohen durch die Stadt in ein Viertel mit besser gebauten und erhaltenen Häusern. „Was hältst du von der ganzen Sache, Gekab?“
„Eine totalitäre Bewegung. Ein Machthungriger, der das Lumpenpack anführt, um der Regierung Bedingungen zu stellen, die sie nicht akzeptieren kann. Die Weigerung der Krone wird den Mob zur Gewalttätigkeit anstacheln, und schon kommt es zur Revolution.“
„Könnte es nicht vielleicht lediglich ein ehrgeiziger Adeliger sein, der den Thron an sich reißen möchte?“
„Usurpation verlangt die Unterstützung der oberen Klassen, Rod. Nein, das ist eine proletarische Revolution — ein Präludium zu einer totalitären Regierungsform.“
Rod spitzte die Lippen. „Glaubst du, daß vielleicht eine höher entwickelte Gesellschaft von außerhalb des Planeten ihre Hand im Spiel hat? Ich meine, in dieser Art von Kultur findet man doch normalerweise keine proletarische Revolution, oder?“
„Selten, Rod, und wenn es dazu kommt, ist die Propaganda rudimentär, sie würde in einer mittelalterlichen Gesellschaft nie auf die Grundrechte hinweisen. Dieses Konzept ist einer solchen Kultur absolut fremd. Die Wahrscheinlichkeit einer Einmischung ist groß…“
Rod zog die Lippen zu einem wilden Grinsen zurück.
„Sieht ganz so aus, als wären wir genau zum richtigen Planeten gekommen.“
Am Stadtrand hielten sie vor einem einstöckigen Gebäude in U-Form um einen mit Fackeln beleuchteten Garten an. Ein Holzzaun mit Tor verschloß die vierte Seite. Eine Gruppe lachender, gutgekleideter junger Männer schwankte, ein Trinklied grölend, heraus. Geschirr klirrte und Rufe nach Fleisch und Bier wurden laut.
„Ich glaube, hier haben wir ein besseres Gasthaus gefunden.
Meinst du, daß es in einer solchen Kultur Knoblauchwurst gibt?“
Der Roboter schauderte. „Einen Geschmack haben Sie, Rod!“
„Aus dem Weg! Aus dem Weg!“ brüllte jemand. Rod drehte sich um und sah einen Trupp Kavalleristen auf sie zukommen.
Hinter ihnen rollte eine vergoldete, kunstvoll verzierte Equipage.
Ein Herold ritt vorbei. „Macht Platz für die Kutsche der Königin!“ rief er.
Rod stupste das Pferd mit den Knien. Gekab stellte sich so an den Straßenrand, daß Rod einen guten Blick auf Kutsche und Eskorte werfen konnte.
Durch die nicht ganz zugezogenen Vorhänge sah Rodney eine schlanke Gestalt in einem dunklen Kapuzenumhang, ein feingeschnittenes Gesicht, von fast platinblondem Haar eingerahmt, große dunkle Augen und kleine, sehr rote Lippen, die leicht schmollend verzogen waren. Sehr jung war sie, fast noch ein Kind. Sie saß kerzengerade und wirkte ungemein zerbrechlich, aber auch absolut entschlossen — und irgendwie verloren in ihrer herausfordernden Haltung, die nur zu oft Furcht und Einsamkeit zu verbergen sucht.
„Rod!“
Rod zuckte zusammen. Ihm wurde bewußt, daß die Kutsche längst außer Sichtweite war. Wütend fragte er: „Was willst du, Gekab?“
„Ich fragte mich nur, ob Sie eingeschlafen sind.“ Der schwarze Kopf drehte sich Rod zu, die großen Augen schienen zu lachen.
„Der Traum, Rod?“
„Ich dachte, Roboter hätten keine Gefühle“, brummte Rod finster.
„Nein, aber wir haben es gar nicht gern, wenn unseren Schützlingen jene Eigenschaft fehlt, die man als klaren Menschenverstand bezeichnet.“
Rod bedachte ihn mit einem säuerlichen Lächeln. „Und natürlich wißt ihr Ironie zu schätzen, da sie logischen Ursprungs ist. Und Ironie deutet auf…“
„Eine Art Humor hin, ja. Und Sie müssen doch selbst zugeben, Rod, daß es gewissermaßen erheiternd ist, wenn ein Mensch ein Objekt seiner eigenen Erfindung quer durch die halbe Galaxis verfolgt.“
Rod kaute wütend an der Lippe und antwortete nicht. Also trabte Gekab durch das Gasthaustor. Ein Knecht kam aus dem Pferdestall. Rod warf ihm die Zügel zu und stapfte in die riesige Schankstube. Es ging hoch her in dem rauchigen Raum.
Alle der etwa zwanzig großen und mehreren kleineren Tische waren dicht besetzt. Beleuchtet war die Stube mit Fackeln und Talgkerzen, die auf die Gäste herabtropften und auch auf den Ochsen am Spieß.
Schenkburschen und kräftige, untersetzte Bauernmädchen sorgten für einen ständigen Nachschub aus Küche und Keller, um die Gäste nicht unnötig warten zu lassen. Das Geschäft ging gut heute abend.
Ein großer Mann mit schütterem Haar, vermutlich der Wirt, kam mit einer riesigen, dampfenden Platte aus der Küche. Er blickte auf und sah Rod in seinem goldnen und scharlachroten Wams, dem Degen und Dolch — vor allem den Beutel sah er —, und schon drückte er die Platte einer Schenkdirn in die Hand und rannte eifrig auf Rod zu.
„Wie kann ich Euch zu Diensten sein, mein guter Herr?“ fragte er.
„Mit einem Krug Bier, einem Steak so dick wie Eure beiden Daumen, und einem Tisch für mich allein“, sagte Rod lächelnd.
Der Wirt starrte ihn mit zum O geformten Mund an. Offenbar war Rods Benehmen ungewöhnlich. Und schon nahmen seine Augen einen berechnenden Ausdruck an. Man muß den Burschen ausnehmen, wie man kann, verriet er.
Rods Lächeln wandelte sich in eine finstere Miene. Er mußte
also anders vorgehen. „Worauf wartet Ihr?“ brüllte er. „Beeilt Euch, oder ich säble mir ein Stück von Eurem feisten Hintern ab!“
Sofort verbeugte sich der Wirt tief. „Aber gewiß, My-lord, sofort.“
„Erst den Tisch!“ erinnerte ihn Rod und packte den Wirt an der Schulter. Der Mann führte ihn zu einem Tisch neben einem aufrechtstehenden Baumstamm, der als Stützpfeiler diente.
Es gefiel Rod nicht, daß er hatte grob werden müssen, aber ein weichherziger Bourgeois im Mittelalter war unvorstellbar.
Als der Wirt sofort gesagt hatte, mußte er es wohl auch gemeint haben, denn Steak und Bier wurden bereits aufgetischt, als er noch kaum saß. Der Wirt rieb sich die Hände an der Schürze und blieb mit besorgtem Blick neben Rod stehen, vermutlich, um abzuwarten, ob der Gast auch mit dem Essen zufrieden war.
Rod öffnete die Lippen, um ihn zu beruhigen, als plötzlich seine Nasenflügel zuckten. Ein seliges Grinsen zog über sein Gesicht. Er blickte hoch. „Rieche ich Knoblauchwurst?“
„O ja, Euer Ehren!“ Wieder verneigte der Wirt sich tief.
„Knoblauchwurst der feinsten Sorte. Wenn Euer Ehren vielleicht…“
„Ja, meine Ehren möchte und zwar presto allegro!“ Der Wirt zuckte zurück wie Gekab manchmal auch und eilte davon.
Rod probierte das Steak und spülte mit einem Schluck Bier nach, als bereits ein Teller mit Wurst vor ihm aufgesetzt wurde.
„Sehr gut“, sagte Rod. „Und das Steak ist annehmbar.“
Erleichtert grinste der Wirt und wandte sich zum Gehen, doch dann drehte er sich wieder um. Er zerknüllte nervös den Schurz und murmelte: „Verzeiht, mein Herr, aber…“ Er scharrte verlegen mit den Füßen, ehe er fortfuhr: „Seid Ihr vielleicht ein Zauberer?“
„Wer ich? Ein Zauberer? Lächerlich!“ Rod fuchtelte mit dem Taschenmesser in die allgemeine Richtung des Wirtes, der daraufhin sofort die Flucht ergriff. Rod schüttelte den Kopf und überlegte, wie der Bursche auf die Idee gekommen sei, daß er ein Zauberer sein könnte. Vielleicht hätte ich nicht presto allegro sagen sollen, dachte er. Möglicherweise hielt er diese Worte für eine magische Formel. Und hatten sie nicht auch Wunder gewirkt? Er nahm einen Bissen Wurst und einen Schluck Bier. Er ein Zauberer! Verrückte Idee! Er war zwar der zweite Sohn eines zweiten Sohnes, aber das hatte noch lange nichts zu bedeuten. Außerdem müßte er als Zauberer einen Vertrag mit Blut unterzeichnen, und er konnte absolut keinen Tropfen entbehren. Er leerte seinen Krug und stellte ihn laut auf den Tisch. Sofort eilte der Wirt herbei, um ihn nachzufüllen. Rod wollte ihm dankend zulächeln, dann erinnerte er sich seiner Stellung hier und unterließ es. Er fummelte in seinem Beutel und berührte die unsymmetrische Form eines Nuggets — eine Währung, wie sie auch im Mittelalter akzeptiert wurde, aber schnell wurde ihm bewußt, daß er sich nicht zu großzügig zeigen durfte und holte statt dessen einen winzigen Silberbarren heraus.
Der Wirt drehte ihn in der Hand. Seine Augen drohten aus den Höhlen zu quellen. Ein gurgelnder Laut entrang sich seiner Kehle, ehe er seinen tiefsten Dank stammelte und sich wieder einmal eilig zurückzog.
Rod biß sich verärgert auf die Lippe. Offenbar ge nügte ein so winziges bißchen Silber hier, um sich auffällig zu machen. Aber das Pfund oder zwei gute Beefsteaks im Magen sorgte dafür, daß sein Ärger nicht anhielt. Er streckte die Beine aus, lehnte sich zurück, stocherte mit dem Messer zwischen den Zähnen und schaute sich um. Ihm fiel auf, daß etwas sehr merkwürdig in dieser Schenkstube war. Die Fröhlichen waren ein wenig zu übertrieben fröhlich und ihr Gelächter hatte einen finsteren Nachklang. Die Niedergeschlagenen dagegen waren auch wirklich niederge schlagen. Rod betrachtete die zwei Männer drei Tische von ihm entfernt.
Sie redeten mit sehr ernsten Gesichtern aufeinander ein. Er drehte den Stein seines Ringes und richtete ihn auf die beiden.
„Aber solche Versammlungen nutzen doch absolut nichts, solange die Königin uns ständig Soldaten auf den Hals hetzt!“
„Stimmt, Adam, und wir kommen nicht an sie heran, um mit ihr zu sprechen.“
„Dann müssen wir ein Gespräch mit ihr eben mit Gewalt erzwingen!“
„Welchen Sinn hätte es? Ihre Edlen würden nicht zulassen, daß sie uns gewährt, was wir verlangen.“
Adam hieb die Faust auf den Tisch. „Aber wir haben ein Recht auf Freiheit, ohne zu Dieben und Bettlern werden zu müssen!
Die Schuldnerkerker darf es nicht länger geben, und die Steuernebenfalls.“
„Ja, und auch dem Ohrabschneiden muß ein Ende gesetzt werden. Es ist eine zu harte Strafe für den Diebstahl eines Brotlaibs.“ Er rieb finster seine ohrlose Kopfseite. „Aber immerhin bemüht sie sich bereits, etwas für uns zu tun…“
„Ja, sie hat ihre eigenen Richter eingesetzt. Die hohen Lords werden nicht mehr nach eigenem Ermessen Strafen verhängen dürfen.“
„Aber du weißt genau, daß die Edlen es sich nicht gefallen lassen und die Richter bald wieder absetzen werden“, sagte Einohr grimmig und fuhr mit dem Finger die nassen Krugabdrücke auf der Tischplatte nach. „Das ist es ja eben, daß die Edlen gegen alle Verbesserungen der Königin sind!“ Adam stieß heftig die Messerklinge in den Tisch. „Sieht Loguire das denn nicht ein?“
„Sag nichts gegen Loguire!“ Einohrs Gesicht verdunkelte sich.
„Ohne ihn wären wir immer noch armseliges Lumpenpack, ohne ein gemeinsames Ziel! Nein, sag nichts gegen ihn, denn ohne ihn hätten wir nicht den Mut, hier in diesem Gasthof zu sitzen, wo die Soldaten der Königin ebenfalls Gäste sind.“
„Ja, ja, er vereinigte uns und machte Männer aus uns Dieben.
Doch jetzt zügelt er unseren neuen Mannesmut und versucht uns davon abzuhalten, für das zu kämpfen, das rechtmäßig unser ist.“
Einohrs Mundwinkel senkten sich. „Du hast zuviel auf das eitle und neidvolle Gewäsch des Spötters gehört, Adam!“
„Aber wir müssen kämpfen!“ rief Adam und ballte die Fäuste.
„Ohne Blutvergießen kommen wir nicht zu unserem Recht…“
Etwas Gewaltiges schlug gegen Rod und warf ihn zurück an den Tisch. Eine Mischung aus Schweiß, Zwiebel und billigem Wein drang in seine Nase. Rod stützte einen Arm auf und schob mit der Schulter. Die schwere Gestalt zog die Luft ein und taumelte flüchtig rückwärts. Rod zog seinen Dolch heraus und schaltete den Siegelring aus.
Der Betrunkene beugte sich zu ihm herab und sah drei Meter groß aus und breit wie ein Eisenbahnwaggon.
„Heh!“ knurrte er. „Warum paßt du nicht auf, wohin ich gehe?“
Rods Dolch drehte sich. Gefährlich sanft sagte er: „Stör lieber du einen ehrlichen Mann bei seinem Krug Bier nicht!“
„Ehrlicher Mann, hah!“ höhnte der gigantische Bauer. „Ein Söldner, der ehrlich sein will!“ Sein polterndes Lachen fand an den anderen Tischen ein Echo. Plötzlich wirkte der Bauer absolut nüchtern. „Leg dein Spielzeug zur Seite, dann werd' ich dir schon beweisen, daß ein ehrlicher Landmann es leicht mit einem Söldner aufnimmt.“
Rods Rücken kribbelte, als ihm bewußt wurde, daß das ein geplanter Kampf war. Der Wirt hatte sich sehr für seinen prallen Beutel interessiert. „Ich habe nichts gegen dich“, brummte er, aber sofort wurde ihm klar, daß das das Verkehrteste war, was er hatte sagen können.
Höhnisch trumpfte der Riese auf: „Er hat nichts gegen mich, sagt er. Erst wirft er sich einem armen, stolpernden Mann in den Weg und dann sagt er, er hat nichts gegen den großen Tom.“ Er packte Rod am Kragen seines Wamses und hob ihn auf die Füße. „Ich werd' dir noch was beibringen!“
Rods Rechte schoß vor und ein Handkantenschlag traf den Ellbogen. Der Riese löste wie betäubt seinen Griff und starrte auf seine Hand, als hätte sie ihn bitter enttäuscht. Rod preßte die Lippen zusammen und steckte den Dolch in seine Scheide zurück. Er beugte die Knie und rieb die rechte Faust in der Handfläche der Linken. Der Bauer war gigantisch, aber vermutlich hatte er keine Ahnung vom Boxen Inzwischen kehrte Leben in Toms Hand zurück, und damit der Schmerz. Wütend brüllte der Riese auf, ballte die Faust und holte in weitem Bogen aus. Rod duckte sich darunter und als die Faust, deren Hieb einen Ochsen erledigt hätte, an ihm vorbeisauste, griff er hinter Toms Schulter hoch und stieß zu, um dem Schwung noch mehr Wucht zu geben. Der große Tom wirbelte herum. Rod packte das Gelenk der rechten Hand des anderen und verdrehte es hinter dem Rücken des Riesen und drückte sie immer höher. Tom heulte auf. Und während er heulte, schlang Rod den Arm unter Toms Achsel zu einem Halbnelson zum Nacken hoch.
Nicht schlecht, dachte Rod, bis jetzt war Boxen nicht nötig gewesen. Er drückte ein Knie in Toms Hintern und löste die Arme. Der Riese schoß vorwärts, geradewegs auf den Herd zu. Er versuchte, sein Gleichgewicht zurückzugewinnen, schaffte es jedoch nicht. Tische und Bänke kippten und schlugen polternd auf, als die Gäste hastig zurückwichen, um dem Herd nicht selbst zu nahe zu kommen.
Tom landete auf den Knien und schüttelte verwirrt den Kopf. Als er wieder klar sehen konnte, entdeckte er Rod, der ihm mit grimmigem Lächeln, halb geduckt in Ringerhaltung, mit beiden Händen zuwinkte.
Der Riese knurrte tief in der Kehle und stemmte einen Fuß gegen die Herdsteine. Dann stürmte er wie ein Stier mit vorgeschobenem Schädel auf Rod zu. Rod wich seitwärts aus und stieß ein Bein vor. Der große Tom stürzte mit fuchtelnden Armen geradewegs auf die erste Tischreihe. Rod preßte die
Lider zusammen und die Zähne gegeneinander. Er hörte einen Krach wie viermal gleichzeitig alle Neune in der Kegelbahn.
Widerstrebend öffnete er die Augen und zwang sich ihm nachzusehen.
Toms Schädel tauchte mit weiten Augen und hängendem Kinn aus einem hölzernen Trümmerhaufen auf.
Rod schüttelte bedauernd den Kopf und schnalzte mit der Zunge. „Das war eine schlimme Nacht für dich, Tom, warum gehst du nicht heim und legst dich ins Bett?“
Der Riese klaubte seine Knochen zusammen, und als er sich vergewissert hatte, daß er noch in einem Stück war, stemmte er die Fäuste auf die Hüften und schaute Rod an. „Ihr kämpft aber gar nicht wie ein ehrlicher Gentleman!“ beschwerte er sich.
„Ich bin ja auch keiner“, brummte Rod. „Was hältst du von einer zweiten Runde, Tom? Alles oder nichts?“
Tom schaute an sich herunter, als zweifle er, daß sein Körper noch viel mehr aushalten würde. Dann schob er die Überreste eines Eichentischs zur Seite, hieb eine Faust auf seine Armmuskeln und nickte.
„Also gut, kommt schon, kleiner Mann.“ Er trat auf den jetzt völlig geräumten Platz vor dem Herd und schaute Rod finster und vorsichtig entgegen.
„Unser guter Wirt sagte dir, daß ich Silber im Beutel habe, nicht wahr?“ fragte Tom mit funkelnden Augen.
Der große Tom schwieg.
„Und er behauptet auch, ich sei ein leichter Gegner, richtig?
Nun, er täuschte sich in beiden Punkten.“
Toms Augen quollen vor. „Was? Kein Silber?“
Rod nickte. „Aha! Habe ich es mir doch gedacht!“ Sein Blick fiel auf den Wirt, der fahl und zitternd bei einem Stützbalken stand. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, daß Tom mit dem rechten Fuß nach seinem Zwerchfell ausholte. Er machte einen Schritt zurück und schwang beide Hände hoch, um nach Toms Ferse zu greifen und dem Fuß zu größerer Höhe zu verhelfen.
Toms Fuß beschrieb einen sauberen Bogen. Einen Augenblick hing er in der Luft, dann stürzte er mit fuchtelnden Armen heulend auf den Boden. Es schmerzte Rod zutiefst, sehen zu müssen, wie Tom nach Luft rang. Er trat näher, packte den Riesen vorn am Kittel, stemmte seinen Fuß gegen ihn, warf sein Gewicht zurück und zog den Burschen so auf die Füße. Tom sackte nach vorn. Rod schob eine Schulter unter Toms Achselhöhle und richtete den mächtigen Kerl wieder auf. „He, Wirt!“ brüllte er. „Branntwein, aber schnell!“ Als der große Tom sich wieder einigermaßen erholt hatte und den Spott seiner Saufbrüder über sich ergehen lassen mußte; die Gäste die Trümmer beiseitegeräumt und sich wieder niedergesetzt hatten; und Rod immer noch keine Vergeltungsmaßnahmen gegen den Wirt anstrebte, leuchtete plötzlich Hoffnung in den Augen dieses guten Mannes auf. Mit vorgeschobenem Kinn und gesenkten Mundwinkeln stellte er sich vor Rodney. Er schluckte und sagte schließlich: „Wenn Eure Lordschaft gestatten, die kleine Sache mit den gebrochenen Bänken und Tischen steht noch offen…“ „Bänke“, murmelte Rod, ohne sich zu rühren. „Tische!“ Abrupt sprang er auf die Füße und legte eine Hand um den Hals des Wirtes. „Du, du schleimiger kleiner Karmacker!“ brüllte er. „Du hast mir diesen Ochsen auf den Hals gehetzt, hast versucht, mich zu berauben, und jetzt erlaubst du dir auch noch die Unverschämtheit, Geld zu verlangen!“ Jeden Punkt betonte er, indem er den Wirt schüttelte und ihn immer näher zu dem Stützstamm drückte, in den der Mann sich vergebens zu verkriechen suchte.
„Und um dem Faß die Krone aufzusetzen, ist auch noch mein Bier warm geworden!“ schrie Rod. „Du nennst dich Wirt und wagst es, einen Söldnergentleman so zu behandeln!“ „Verzeiht, Eure Lordschaft!“ wimmerte der Wirt und versuchte sich mit bewundernswertem Eifer, doch vergebens aus Rods Griff zu befreien. „Ich meinte es nicht böse, Mylord, ich wollte nur…“
„Mich berauben!“ schnaubte Rod. Er gab ihn abrupt frei und half noch ein bißchen nach, daß er rückwärts auf einen Tisch fiel. „Einen Becher heißen Wein, ehe ich bis drei gezählt habe, dann untersage ich mir vielleicht das Vergnügen, dir die Ohren zu strecken und unter dem Kinn zusammenzuknüpfen.
Verschwinde!“
Er zählte, mit drei Sekunden Pause zwischen eins und zwei und zwei und drei, bis drei, und schon war der Becher in seiner Hand. Mit den Händen an die Ohren gepreßt, brachte der Wirt sich in Sicherheit. Rod nippte an dem heißen Wein und überlegte, was ein Karmacker war. Nach einer Weile brüllte er nach dem Wirt und befahl ihm, ein Zimmer zu richten und extra Decken bereitzulegen. Dann trat er hinaus auf den Hof und atmete die frische Luft ein.
Während er seinen Gedanken nachhing, zog ihn jemand am Ärmel. Rod wirbelte herum. Es war der große Tom, der sich bemühte, mit seinen zwei Meter fünfzehn kleiner als Rod auszusehen. „Guten Abend, Herr“, murmelte er.
Rod starrte ihn einen Augenblick verblüfft an, dann fragte er: „Was willst du denn?“
Der große Tom nahm den Hut in die Hand, ließ die Schultern hängen und kratzte sich am Hinterkopf. „Eh, Meister, Ihr habt mich zum Gespött der Leute gemacht. Ich kann mich hier nicht mehr sehen lassen…“
„Aha!“ knurrte Rod wütend, „und jetzt willst du vielleicht auch noch, daß ich Schadenersatz dafür leiste, heh?“
„Nein, nein, Herr!“ Tom wich erschrocken zurück. „Es ist nur -
es ist ganz anders — ich hab' mir gedacht — ich meine, ob…“ Er verdrehte und zerknüllte den Hut zwischen seinen mächtigen Pranken, daß es fraglich war, ob er je seine Form zurückbekommen würde. „Ich — ich dachte, ob Ihr nicht vielleicht einen Burschen — einen Knecht — einen Knappen braucht, und…“ Seine Stimme erlosch. Unter niedergeschlagenen Lidern beäugte er Rod ängstlich und hoffnungsvoll.
Rod war einen Moment wie erstarrt und betrachtete das offene Gesicht des Riesen, das ihn geradezu anzubeten schien. Er überkreuzte die Arme und lehnte sich an den Türrahmen. „Was soll denn das, Tom? Vor einer halben Stunde wolltest du mich noch fertigmachen und ausrauben, und jetzt soll ich dir so sehr vertrauen, daß ich dich als Knappen nehme?“ Tom zog die Brauen zusammen und biß sich auf die Unterlippe. „Ich weiß, es ist viel verlangt, Meister, aber…“ Seine Hand beschrieb eine vage Geste. „Es ist so, Ihr seid der erste, der mich schlagen konnte, und…“ Wieder verstummte er. Rod nickte bedächtig, ohne den Blick von Toms Gesicht zu lassen. „Und deshalb mußt du mir dienen?“
Tom schob gekränkt die Unterlippe vor. „Ich muß nicht, Herr — ich möchte es.“
„Ein Räuber und Dieb“, murmelte Rod, „und ich soll dir trauen! Aber du hast ein offenes Gesicht, das seine Gefühle nicht verbirgt.“
Gekabs Stimme erklang hinter Rods Ohr. „Die vorläufig vorhandenen Daten lassen auf eine simple Persönlichkeitsstruktur schließen. Die Wahrscheinlichkeit, daß dieses Individuum als verläßliche Auskunftsquelle für hiesige Zustände dienen wird, ist höher als die, daß er ein falsches Spiel mit Ihnen treiben wird.“
Rod kramte in seinem Beutel und holte ein Silberstück heraus — es roch ein wenig nach Knoblauch, von dem Rest der Wurst, den er sich in die Tasche gesteckt hatte, und drückte es in die Hand des Riesen.
Tom starrte das Silber blinzelnd an, dann Rod. Schließlich schloß er die leicht zitternde Faust, während seine Augen an Rod hingen.
„Du hast das Handgeld angenommen“, sagte Rod, „also bist du mein Knappe!“
Tom grinste von Ohr zu Ohr. Er verneigte sich tief. „Ja, Herr! Ich danke Euch, Herr! Ich werde Euch immer danken, Herr! Ich…“
„Ist schon gut“, wehrte Rod ab. Er mochte es nicht, wenn ein Erwachsener sich klein machte. „Du kannst gleich mit deinem Dienst anfangen. Sag, wie schwierig ist es, als Söldner in der Armee der Königin unterzukommen?“
„Gar nicht schwierig, Herr. Sie braucht ständig neue Soldaten.“
Ein schlechtes Zeichen, dachte Rod. „Also gut“, brummte er.
„Geh du in die Wirtschaft zurück, erkundige dich, welches Zimmer ich habe und vergewissere dich, daß sich dort keine Meuchelmörder versteckt haben.“
„Ja, Herr, sofort, Herr!“ Tom rannte ins Haus.
Ein fernes Heulen zerschnitt die Nacht und wurde zu einem schrillen Kreischen. Erstaunt horchte Rod auf. Sirenen. In dieser Kultur? Das Heulen kam von links. Er blickte hoch und sah die Burg auf der Bergkuppe. Und dort auf den Zinnen unter einem Turm leuchtete und schrillte etwas wie ein Polizeiwagen.
Die Gäste kamen aus der Wirtschaft gerannt und starrten und deuteten.
„Das Gespenst!“ riefen sie. „Schon wieder!“ „Es wird schon nichts passieren. Ist es nicht bereits dreimal erschienen und die Königin lebt immer noch?“
„Gekab!“ sagte Rod leise in den Empfänger. „Auf den Burgzinnen ist ein 'Gespenst'. Gekab, hörst du? Ein 'Gespenst'!“
Es erfolgte keine Antwort. Und dann erhob sich ein gräßliches Summen hinter Rods Ohr und schwoll an, bis es seinen Schädel zu zersprengen drohte, ehe es endlich wieder aufhörte.
Rod schüttelte den Kopf und schlug sich mit der Hand gegen die Schläfe. „Ich muß den Burschen doch überholen lassen“, 44-
brummte er. „Früher waren seine Anfälle wenigstens leise!“ Natürlich wäre es unklug gewesen, wenn er sich gleich in den Stall begeben hätte, um den Unterbrecher wieder zu arretieren, solange der Hof voller Neugieriger war. Also begab er sich auf sein Zimmer und legte sich nieder, um sich ein wenig zu entspannen. Und natürlich war er, als es auf dem Hof endlich wieder ruhig wurde, viel zu müde, um noch in den Stall zu gehen und den Roboter wieder einzuschalten. In der Nacht würde er ihn ja nicht brauchen.
In seinem Zimmer war es dunkel und still, wenn man von Toms Schnarchen absah, der sich am Fuß des Bettes zusammengekauert hatte und schlafend noch mehr Krach machte als wach.
Tom war ihm ein Rätsel. Rod hatte noch nie gekämpft, ohne daß er nicht zumindest einen Hieb abbekommen hatte, doch Tom hatte keinen einzigen gelandet. Das war merkwürdig, denn auch große, kräftige Männer konnten flink sein… Warum hatte der Rie se sich so leicht schlagen lassen? Damit er ihn in seine Dienste aufnahm?
Und was war mit Adam und Einohr? Ihrem Gespräch nach hatten sie an der Kundgebung am Kai teilgenommen. Das bedeutete demnach, daß sie der Proletarierpartei angehörten, dem Haus Clovis, richtig. Aber wenn Adam und Einohr typische Vertreter waren, mußte das Haus Clovis in sich gesplittert sein. Offenbar gab es zwei Fraktionen, die eine, die hinter Loguire stand — war das der jugendlichen Redner? — und eine andere, die von dem Spötter — wer immer das war — geführt wurde. Also die üblichen gegesätzlichen Faktionen, eine, die ihr Ziel mit friedlichen Mitteln erreichen wollte, und die andere mit Gewalt — Zunge und Schwert!
Weshalb wollte der große Tom seinen Butler spielen? Um in der Gesellschaft aufzusteigen? Nein, der Typ war er nicht. Eines besseren Lohnes wegen? Aber als der Oberschläger hier dürfte es ihm an Mitteln nicht mangeln.
Vielleicht, um auf ihn, Rod, ein Auge zu haben?
Rod rollte sich auf die Seite. Möglicherweise hatte das Haus Clovis ihn geschickt, um auf ihn aufzupassen. Aber sie konnten doch unmöglich etwas ahnen, oder?
Wenn allerdings Gekab mit seiner Annahme recht hatte, dann war es durchaus möglich, daß hinter dieser Partei eine fremde Macht stand, die sehr wohl Verdacht geschöpft haben mochte -
wie, spielte jetzt keine Rolle. Er war hellwach und jeder Muskel angespannt. Seufzend rollte er sich aus dem Bett. Er konnte jetzt nicht mehr schlafen. Es war besser, er würde Gekab wieder einschalten und sich seine Meinung anhören.
Der große Tom rührte sich, als Rod den rostigen Türhaken hochhob. „Herr? Wohin geht Ihr?“
„Ich mache mir plötzlich Sorgen um mein Pferd. Ich sehe lieber nach, ob der Stallbursche sich seiner auch gut angenommen hat. Schlaf nur weiter.“
Tom starrte ihn einen Moment an. „Zweifellos“, sagte er, „seid Ihr ein sehr fürsorglicher Herr.“ Er rollte sich herum und vergrub seinen Kopf in den zusammengefalteten Umhang, den er als Kopfkissen benutzte. „Sich solche Sorgen um ein Pferd zu machen!“ murmelte er noch und schnarchte auch schon wieder.
Rod stieg die Treppe hinunter und stolperte über eine straff gespannte Schnur. Er fuchtelte haltsuchend mit den Armen, bis etwas Hartes ihn auf den Hinterkopf schlug und er Sterne sah, die schließlich schwärzester Nacht wichen.
Ein rötliches Glühen war um ihn, und sein Schädel brummte.
Etwas Kaltes, Nasses strich über sein Gesicht. Er schauderte und wurde hellwach. Er lag auf dem Rücken mit einem hohen Kalksteinkuppeldach über sich. Dünne Kalksteinsäulen ragten herunter auf einen grünen Bodenbelag und vereinten sich mit anderen, in die Höhe ragenden Säulen — Stalaktiten und Stalagmiten, und der grüne Boden erstreckte sich in alle Richtungen bestimmt 46-
gut einen Kilometer weit. Er befand sich in einer riesigen Höhle. Das rötliche Glühen schien von überallher zu kommen.
Rod wollte die Hand ausstrecken, um das Moos zu berühren, das sich unter seinem Rücken feucht anfühlte, mußte jedoch feststellen, daß er weder Arme noch Beine bewegen konnte. Er hob den Kopf, um zu sehen, mit welcher Art von Stricken er gebunden war, doch es war nicht der dünnste Faden zu sehen.
Mannhaft kämpfte er gegen die Kopfschmerzen an, um klar denken zu können. „Gekab“, murmelte er. „Wo bin ich hier?“
Er bekam keine Antwort. Da fiel ihm ein, daß der Roboter einen Anfall gehabt hatte und er unterwegs gewesen war, um die Sicherung wieder einzudrücken.
Jetzt war er auf sich selbst gestellt.
Er seufzte und legte den Kopf wieder auf das Moos. Plötzlich begann rechts von ihm eine tiefe Stimme zu singen. Rod blinzelte.
Ein Feuer flackerte h einem kahlen Steinkreis. Ein Dreibein stand darüber, von dem ein blubbernder Kessel herabhing. Aus dem Deckel ragte eine Röhre. Wassertropfen sickerten vom Dach und trafen die Röhre. Eine Kanne stand unter dem Ende der Röhre und sammelte die Tropfen auf.
Eine primitive Schnapsbrennerei! Und der, der dieser sicherlich illegalen Beschäftigung hier nachging, war ganze fünfundvierzig Zentimeter groß, hatte ungemein breite Schultern, war kräftig gebaut, und trug Wams und Hose. Er hatte ein rundes, verschmitztes Gesicht, vergnügt zwinkernde Augen und einen breiten Mund, der zu einem pfiffigen Lächeln verzogen war. Auf dem Kopf trug er eine Robin-Hood-Kappe mit einer grellroten Feder.
Er mußte Rods Blick bemerkt haben, denn er schaute in seine Richtung. „Ha!“ sagte er. „Der Zauberer ist wieder zu sich gekommen.“
Rod runzelte die Stirn. „Ich bin kein Zauberer!“
„Ihr seid auch nicht aus einem fallenden Kometen gekommen
und genausowenig habt Ihr ein Pferd aus kaltem Eisen…“
„He!“ unterbrach ihn Rod. „Woher weißt du, daß das Pferd aus kaltem Eisen ist.“
„Wir sind das Kleine Volk“, antwortete der Troll ungerührt.
„Wir leben durch Eiche, Esche, Dorn, Holz, Luft und Gras.
Und jene, die durch das kalte Eisen leben, trachten nach dem Ende unseres Waldlands. Kaltes Eisen ist das Zeichen aller, die uns meiden; und deshalb erkennen wir kaltes Eisen, gleichgültig welcher Form oder Tarnung es sich bedient.“
Er drehte sich wieder zu dem Kessel um und hob den Deckel, um nach der Maische zu sehen. „Dann könnt Ihr auch hören, was eine halbe Meile entfernt gesprochen wird, und Euer Pferd läuft lautlos wie der Wind und schneller als ein Falke, wenn Ihr es so wollt. Aber ein Zauberer seid Ihr nicht, eh?“
Rod schüttelte den Kopf. „Ich bediene mich der Wissenschaft, nicht der Magie.“
„Das gleiche, nur ein anderer Name“, brummte der Elf. „Nein, nein, Ihr seid ein Zauberer und als solcher bereits auf ganz Gramayre bekannt!“
„Gramayre? Was ist das?“
Der Troll starrte ihn verblüfft an. „Die Welt, was sonst, Zauberer! Die Welt, in der wir leben, das Land zwischen den vier Meeren, das Reich Königin Catherines!“
„Oh! Sie herrscht über die ganze Welt?“
„Natürlich.“ Der Elf warf Rod einen Blick zu.
„Und wie heißt ihre Burg? Und die Stadt rundum?“
„Runnymede. Also wirklich, Ihr seid der ungebildetste Zauberer, der mir je begegnet ist!“ Der Troll drehte sich kopfschüttelnd um. Er goß ein wenig des Destillats aus der Kanne in einen Krug von der Größe eines Schnapsglases ab.
Rod wurde plötzlich bewußt, wie durstig er war. „Was braust du da eigentlich?“ fragte er. „Doch nicht Branntwein?“ Und als der Elf den Kopf schüttelte, versuchte er es weiter: „Gin? Rum? Aqua Vitae?“
„Nein, es ist ein Getränk anderer Art.“ Der Elf hielt den winzigen Krug an Rods Mund. Rod nahm einen Schluck und leckte sich die Lippen. „Schmeckt wie Honig! Gar nicht schlecht. Könnte ich das Rezept dafür haben?“ „Aber gewiß.“ Der Troll grinste. „Wir werden alles in unserer Macht Stehende für unseren Gast tun.“
„Gast!“ schnaubte Rod. „Ich möchte zwar eure Gastfreundschaft nicht anzweifeln, aber mir die Bewegungsfreiheit zu nehmen, ist nicht gerade meine Vorstellung eines Willkommens.“
„Oh, dagegen wird schon noch etwas unternommen werden.“ Plötzlich klickte etwas in Rods Gehirn. Die Härchen schienen sich ihm am Nacken aufzustellen. „Uh — ah — wir wurden noch nicht miteinander bekanntgemacht, aber sag, du heißt wohl nicht zufällig Robin Goodfel-low, alias Puck?“ „So ist es.“ Der Troll gab den Deckel wieder auf den Kessel. „Ich bin dieser fröhliche Wanderer der Nacht.“ Rod legte den Kopf wieder ins Moos. Das würde eine großartige Geschichte für seine zukünftigen Enkel abgeben, denn andere würden sie ihm sowieso nicht glauben. „Sag, Puck — ich darf dich doch Puck nennen?“ „Sicher dürft Ihr das.“ „Danke. Ich — uh — bin Rod Gallowglass.“ „Das wissen wir schon.“
„Nun, ich dachte nur, ich sollte mich vielleicht vorstellen. Du — ah — scheinst mir nicht böse gesinnt zu sein, darf ich deshalb fragen, weshalb ich — ah — gelähmt bin?“
„Ach das“, brummte Puck. „Wir müssen erst herausfinden, ob Ihr ein weißer oder schwarzer Zauberer seid.“ „Oh!“ Rod kaute an seiner Wange. „Wenn ich ein — ah — weißer bin, laßt ihr mich dann gehen?“ Puck nickte. „Aber was ist, wenn ihr mich für einen schwarzen haltet?“ „Dann, Rod Gallowglass, werdet Ihr bis zum Jüngsten Tag schlafen.“
„Ich habe zwar im Prinzip nichts gegen Schlafen, aber wäre das nicht ein bißchen lange? Wie kann ich beweisen, daß ich ein weißer Magier bin?“
„Ganz einfach, indem wir den Bann brechen, der Euch bindet.“ „Du meinst, indem ihr mich freigebt? Wie kann das als Beweis dienen?“
„Die Tatsache als solche nicht, sondern der Ort, wo wir es tun.“ Er klatschte in die Hände. Rod hörte das Trippeln Dutzender kleiner Füße von hinten auf sich zukommen. Man band ihm ein dunkles Tuch vor die Augen und knüpfte es am Hinterkopf fest. Er protestierte, aber man achtete überhaupt nicht darauf, sondern schleppte ihn davon. Nach einer Weile schlug feuchte Nachtluft in sein Gesicht, und er spürte, daß er hangaufwärts getragen wurde. Grillen zirpten und einmal heulte eine Eule. Dann ließ man ihn einfach auf den Boden plumpsen und nahm ihm die Binde ab. „Heh!“ stöhnte er. „Bin ich vielleicht ein Mehlsack?“
„Ihr seid jetzt frei, Rod Gallowglass“, klang Pucks Stimme in seinen Ohren. „Möge Gott Euch beschützen!“ Und schon huschte der Troll von dannen.
Rod setzte sich auf und bewegte seine Gliedmaßen. Er schaute sich um. Er saß auf einer mondbeschienenen Lichtung. Zu seiner Linken plätscherte ein Bach. Die Bäume waren wie glänzender Stahl mit Lamettalaub, mit schwarzen Schatten zwischen den Stämmen.
Einer der Schatten bewegte sich. Er wurde zur hochgewachsenen Gestalt in dunkler Mönchskutte mit Kapuze. Rod sprang hastig hoch. Die Gestalt kam langsam auf ihn zu. Zehn Schritt vor ihm blieb sie stehen und warf die Kapuze zurück. Zerzaustes, ungepflegtes Haar hing in ein eingefallenes, verbittertes Gesicht, aus dem die tiefliegenden Augen wie Kohlen brannten. Die Stimme klang wie ein Zischen: „Bist du deines Lebens so müde, daß du dich in den Käfig eines Werwolfs wagst?“
Rod starrte die Gestalt ungläubig an. „Werwolf?“ Na ja, wenn es Elfen gab… Er runzelte die Stirn. „Käfig? Ich sehe keinen!“ „Eine magische Mauer umgibt diesen Hain“, zischte der Werwolf. „Die Kleinen haben sie um mich errichtet — und sie füttern mich auch nicht auf die richtige Weise!“ „Oh? Was ist denn die richtige Weise?“ erkundigte sich Rod. „Rohes Fleisch und Blut zum Hinunterspülen.“ Etwas mit unzähligen winzigen Füßchen schien Rods Rücken entlangzukrabbeln.
„Schließe Frieden mit deinem Gott“, riet der Werwolf, „denn deine Stunde ist gekommen.“
Pelz sproß aus seinen Händen, und aus den Fingernägeln wurden Krallen. Auch Stirn und Wangen bedeckten sich mit Fell. Nase, Mund und Kinn formten sich zur Schnauze. Die Ohren bewegten sich nach oben und liefen spitz zu. Er warf den dunklen Umhang von sich und offenbarte so silbergraues Fell. Und nun ließ er sich auf alle viere fallen. Tief in der Kehle knurrend, setzte der Wolf zum Sprung an. Rod wirbelte herum, aber das Wertier änderte noch in der Luft die Sprungrichtung. Seine Zähne rissen Rods Arm vom Ellbogen bis zum Handgelenk auf.
Der Wolf landete und heulte vor Freude auf. Mit heraushängender Zunge sprang er erneut. Rod ließ sich auf ein Knie fallen, doch das Tier hielt mitten im Sprung an und fiel auf ihn. Die Hinterbeine zerkratzten Rods Brust, und die gewaltigen Kiefer versuchten ihn am Rücken zu packen. Rod kämpfte sich auf die Beine, beugte sich nach vorn und stieß mit aller Kraft gegen den Bauch des Wolfes. Das Wertier flog durch die Luft, dabei rissen die Krallen seiner Vorderbeine Rods Rücken auf.
Der Wolf landete auf dem Rücken und heulte vor Schmerzen, trotzdem war er schnell wieder auf den Beinen und lief, nach Blut knurrend, in einem Kreis um Rod herum. Rod drehte sich so, daß er den Wolf ständig vor sich hatte. Wie geht man gegen einen Werwolf vor? Gekab wüßte es sicher, aber der Roboter war immer noch außer Betrieb.
Der Wolf geiferte und setzte an, um Rod an die Kehle zu springen.
Rod kauerte sich tief und stieß mit der Hand zu. Seine Faust traf den Wolf direkt am Solarplexus. Eilig sprang Rod zurück und duckte sich. Der Wolf stürzte auf den Boden und schnappte nach Luft. Rod kreiste gegen den Uhrzeiger um ihn herum, weil ihm das vielleicht Glück bringen würde, wie er hoffte.
Der Wolf kam wacklig auf die Beine. Er knurrte und kreiste nun auf eine Chance lauernd ebenfalls um Rod herum, und wie der im Gegenuhrzeigersinn.
Beiden gleichzeitig kann es kaum Glück bringen, dachte Rod und änderte die Richtung, um hinter den Wolf zu gelangen.
Das Wertier sprang.
Rod wirbelte herum und holte zu einem Kinnhaken aus, aber der Wolf schnappte nach seiner Faust. Rod brüllte vor Schmerz auf und stieß dem Untier den Stiefel in den Bauch. Der Wolf öffnete aufheulend die Kiefer und gab Rods Hand wieder frei.
Inzwischen überlegte Rod verzweifelt, was gegen einen Werwolf half. Wolfsmilch, vermutlich, aber er könnte sie nicht von Efeu oder sonst einem Grünzeug unterscheiden.
Silberkugeln, sicher. Doch chemische Schußwaffen waren schon seit Tausenden von Jahren nicht mehr in Mode, und das DDT hatte Silber als Währung längst aufgegeben. Ein Kruzifix? Rod nahm sich fest vor, in Zukunft doch an eine Religionszugehörigkeit zu denken.
Sein felliger Freund hatte sich wieder gefangen. Er spannte die Hinterbeine und sprang. Rod wich seitwärts aus, aber das Tier hatte offenbar damit gerechnet und landete voll auf seiner Brust und schnappte geifernd nach seiner Kehle.
Rod fiel auf den Rücken. Er zog die Beine hoch, hieb sie in den
Bauch des Tieres und katapultierte es von sich. Der Wolf prallte schwer auf und plagte sich, um wieder auf die Beine zu kommen.
Was sonst mochten Werwölfe nicht? Knoblauch! Rod kreiste um den Wolf herum und kramte in seiner Tasche nach dem Wurstrest vom Abendessen. Der Wolf spreizte die Beine und hustete. Rod kaute einen Mundvoll Knoblauchwurst.
Mit einem wütenden, entschlossenen Knurren kam das Tier auf die Beine, spannte die Muskeln an und sprang.
Rod packte es an den Vorderbeinen. Er stolperte ein wenig unter seinem Gewicht zurück. Mit aller Gewalt blies er dem Tier seinen Atem ins Gesicht, dann ließ er den Wolf fallen und sprang zur Seite.
Der Wolf rollte sich spuckend und hustend herum, keuchte schaudernd und brach zusammen. Seine Gestalt streckte sich aus, entspannte sich, streckte sich weiter — und ein hochgewachsener, hagerer Mann lag mit dem Gesicht nach unten, heftig luftschnappend, im Gras.
Rod sank auf die Knie. Gerettet durch Knoblauchwurst!
Gras streifte gegen sein Knie. Er blickte in die lächelnden Augen Robin Goodfellows. „Kehrt mit uns zurück, wenn Ihr möchtet, Rod Gallowglass, denn unsere Pfade sind nun auch Eure, wann immer Ihr in Freundschaft darauf wandeln wollt.“
Rod lächelte müde. „Er hätte mich fast getötet!“ beschwerte er sich mit einem Blick auf den jetzt bewußtlosen Werwolf.
Puck schüttelte den Kopf. „Wir beobachteten euch beide und hätten sowohl Euren als auch seinen Tod verhindert. Und was Eure Wunden betrifft, wir werden sie schnell heilen.“
Rod schüttelte benommen den Kopf.
„Außerdem wußten wir, daß Ihr als Zauberer über Kräfte von solcher Macht verfügt, daß Ihr ihn besiegen konntet — wenn Ihr ein weißer Magier seid.“
„Oh?“ Rod hob die Brauen. „Und wenn nicht? Wenn ich ein
schwarzer wäre?“
„Nun“, erwiderte Puck grinsend, „hättet Ihr Euch mit ihm verbunden und versucht, gegen uns zu kämpfen, um aus dem Käfig zu entkommen.“
„Hätte euch das denn nicht in Gefahr bringen können?“
„Nein.“ Wieder grinste Puck. „Die Magie von zwei Dutzend Elfen ist immer noch stärker als die von zwei Zauberern.“
„Ich verstehe.“ Rod rieb sich das Kinn. „Ihr habt es darauf ankommen lassen, aber ihr konntet es mir natürlich nicht sagen, denn solange ich nichts wußte, bewies mein Kampf gegen den Werwolf, daß ich zu den Guten gehöre, hm?“
„Zum Teil.“
„Oh? Und was noch?“
„Nun, Rod Gallowglass, Ihr hattet den Wolf mehrmals in hilfloser Lage, aber Ihr habt ihn nicht getötet.“
„Und das beweist, daß ich ein gutes Herz habe?“
„Das, und auch, daß Ihr Euch Eurer Macht sicher genug seid, Gnade walten lassen zu können. Und das ist der Beweis, nicht nur, daß Ihr weiß, sondern überhaupt ein Zauberer seid.“
Rod preßte die Lippen zusammen. Mit übertriebener Geduld brummte er. „Es hätte natürlich auch lediglich beweisen können, daß ich ein erfahrener Kämpfer bin.“
„Es hätte“, gestand ihm Puck zu. „Aber Ihr habt ihn schließlich durch Zauberei besiegt.“
Rod holte tief Luft. „Hör zu“, sagte er betont. „Ich bin kein Zauberer. Ich war nie ein Zauberer. Ich will und werde nie ein Zauberer sein. Ich bin lediglich ein Söldner, der eben ein paar Tricks kennt.“
„Aber gewiß doch, Meister Zauberer, ganz wie Ihr wollt.
Kommt Ihr nun mit in die Höhle zurück? Wir bringen Euch dann in Euren Gasthof.“
„Na gut“, brummte Rod.
Die ersten Sterne gingen bereits unter, als Rod sich hundemüde in den Stall schleppte. Nur eine Kerze brannte hier und machte
die Dunkelheit noch schwärzer. Rod schwang einen Arm um Gekabs Rücken, um sich zu stützen, ehe er den Arretierknopf drückte. Der samtschwarze Kopf hob sich, schüttelte sich zweimal und schaute Rod über die Schulter an. Der Roboter schwieg kurz, dann hörte Rod hinter dem Ohr in vorwurfsvollem Ton: „Sie haben mich lange ausgeschaltet gelassen. Die Nachwirkungen des Anfalls sind längst vorüber.“ „Tut mir leid, altes Eisen.“ Immer noch hielt Rod sich am Pferderücken fest, denn seine Beine fühlten sich wie aus Gummi an. „Ich war auf dem Weg, dich wieder einzuschalten, als ich selbst ausgeschaltet wurde.“
„Ausgeschaltet?“ Gekabs Stimme klang nun zur Abwechslung verlegen, ja schuldbewußt. „Während ich schlief! O möge meine Hülle für immer auf dem Schrottplatz verrotten! Möge mein Germanium dem Konverter zur Wiederverwertung überantwortet werden! Mögen meine…“
„Hör schon auf!“ knurrte Rod. „Es war nicht deine Schuld.“ Er straffte die Schultern. „Ich befand mich nicht in wirklicher Gefahr. Es war lediglich eine etwas anstrengende Nacht, nichts weiter.“
Rod ließ sich an dem unter der Frühstückslast fast zusammenbrechenden Tisch nieder, aber verglichen mit dem, was der große Tom verschlang, nahm er eine Hungerration zu sich. Viel des Aufgetischten war Rod vertraut: Eier, Omeletten und Schinken. Die Pfannkuchen hatten allerdings einen etwas fremdartigen Geschmack, das kam sicher vom Mehl, denn gewöhnlich veränderten die sich ursprünglich von Terra stammenden Getreidesorten auf anderen Planeten. Auch Geflügel mutierte, und es kam zu Kreuzungen mit einheimischen Arten, Schweine dagegen blieben Schweine, sie gediehen überall prächtig und waren noch häufiger zu finden als Hunde. Das Essen war gut verträglich und sicher nahrhaft, denn allzusehr konnte der menschliche Metabolismus sich bestimmt nicht
verändern. Aber mit Spurenelementen war es eine andere Sache. Vorsichtshalber schluckte Rod eine Pille.
Tom bemerkte es. „Was war das, Herr?“ erkundigte er sich.
Rod zwang sich zu einem Lächeln. „Nur ein kleiner Zauber.
Mach dir deshalb keine Gedanken, Tom.“
Tom starrte ihn an, dann murmelte er ein schnelles Gebet und stürzte sich über seine Omelette, ehe er mit vollem Mund kauend fragte: „Und was beabsichtigt Ihr heute zu unternehmen, guter Herr?“
„Ich werde der Burg einen Besuch abstatten. Wir wollen sehen, ob die Königin an einem neuen Soldaten interessiert ist.“
Tom protestierte: „Soldat der Königin! Nein, Herr, das ist kein Beruf für einen ehrlichen Mann!“
Rod hob eine Braue. „Willst du damit andeuten, daß einer von uns beiden ehrlich ist?“
Der Wirt hatte einen grauen Wallach, den Rod für Tom erstand. Und so ritten sie nebeneinander zu der Burg hoch.
„Halt!“ brüllte der Posten an der Zugbrücke. „Gebt Euer Begehr kund!“
„Mein Name ist Rod Gallowglass…“
„Ihr vergeudet Eure Zeit“, unterbrach die Wache ihn. „Die Königin hat bereits einen Hofnarren.“
„Wenn ich dich so anschaue“, brummte Rod, „würde ich sagen, sie hat mehr als einen.“ Laut erklärte er: „Ich bin Söldner, genau wie mein Knappe. Ruf einen Hauptmann, damit er uns aufnimmt.“
Der Posten starrte ihn finster an. „Soldat der Königin zu werden, ist nicht so einfach, wie Ihr zu glauben scheint. Auch deucht Ihr mir ein schlechter Soldat zu sein, wenn Ihr nicht einmal Euer Pferd anbindet.“
Rod der abgesessen war, warf ihm ein spöttisches Lächeln zu und rief: „Gekab, vier Schritte zurück, einen halben nach links, dann vorwärts vier und einen halben, und dann bleib stehen, bis ich dich rufe.“
Der Posten riß den Mund weit auf, und die Augen quollen ihm aus den Höhlen, als Gekab den Befehl auf den Buchstaben genau ausführte.
„Du siehst, ich bin ein guter Soldat, und mein Pferd gehorcht mir aufs Wort. Es ist besser, es nicht anzubinden, weil es so jederzeit zu mir kommen kann, wenn ich es brauche.“ Seine Rechte schoß in einem Scheinangriff vor. Der Soldat wich erschrocken zurück, als Rods Bein ausholte und ihn hinter dem Fußgelenk traf. Klirrend ging der Posten in seiner Rüstung zu Boden. Rod entriß ihm die Lanze und warf sie unter das Fallgitter.
Tom trommelte begeistert mit den Fäusten auf den Rücken seines klapprigen Gauls, während der Soldat verzweifelt: „Zu Hilfe!“ brüllte.
Drei Wachen kamen herbeigestürzt. Der Unteroffizier blickte fragend von Rod auf den Posten und runzelte die Stirn. „Hilfe!
Wozu?“ erkundigte er sich barsch.
Der Posten deutete auf Rod. „Dieser Mann brachte mich zu Fall und nahm mir die Lanze fort!“
„Damit würde ich nicht prahlen“, murmelte Rod. Tom schüttelte sich vor Lachen.
„Ist das wahr, Mann?“ Der Unteroffizier funkelte Rod an.
„Es ist wahr“, versicherte ihm Rod.
„Nun denn!“ Der Unteroffizier stemmte die Hände an die Hüften.
„Nun denn was?“ erkundigte sich Rod und hob eine Braue.
Rods Haltung schien den Unteroffizier zu verwirren. „Nun denn, was war Euer Grund?“
„Ich möchte in die Armee der Königin eintreten, und dieser Bursche verlangte, daß ich erst zeige, was in mir steckt.“
Der Unteroffizier blickte von dem verblüfften Posten auf Rod und nickte. „Ihr sollt Eure Chance bekommen.“ Die „Chance“
bestand aus einem mit Breitschwert und Schild bewaffneten Sergeanten.
„Wollt Ihr Euch nicht einen Schild nehmen, Mann?“ brummte der alte Ritter, der der Hauptmann der Garde war.
„Nein, danke.“
„Nun, so kreuzt eure Waffen.“ Sir Maris seufzte. Rod und der Sergeant taten es. Sir Maris hinkte herbei und brachte sein eigenes Breitschwert hoch, um ihre Klingen zu trennen.
Das Schwert des Sergeanten schwang zu einem vollen Bogen aus. Rod nutzte die Verzögerung, um einen Scheinangriff auf des Sergeanten Bauch vorzutäuschen. Sofort sauste der Schild zur Abwehr herab, und Rods Rapier schoß über den Arm des Sergeanten hinweg und schlitzte das Wams über dem Herzen auf.
„Halt!“ schrie Sir Maris, und das Breitschwert des Sergeanten hielt mitten im Schwung an. Er ließ den Schild fallen und fragte verwirrt: „Was ist denn passiert?“
„Hätte dieser Gallowglass nicht nur zum Sport gekämpft, dann wärst du jetzt ein toter Mann, Sergeant Hapweed.“ Mit gerunzelter Stirn starrte Sir Maris Rod an. „Wer würde auf die Idee kommen, die Degenspitze zu benutzen!“
„Nun, gehen wir es noch einmal an?“ fragte Rod und ließ sein Rapier durch die Luft schwirren.
„Nein“, erklärte Sir Maris. „Es steht fest, daß Ihr mit der Klinge umzugehen versteht.“ Er drehte sich um und griff nach einem Kampfstab. Er warf ihn Rod zu. „Hier, versuchen wir es jetzt damit.“
Rod fing den Stab in der Mitte und steckte das Rapier in die Scheide zurück. Der Sergeant hieb bereits probehalber mit seinem Stab durch die Luft.
„Fangt an!“ rief Sir Maris.
Und schon setzte der Eichenholzhagel auf Rod ein, und er hatte seine liebe Not, die Schläge abzuwehren. Er schluckte, als ihm klar wurde, daß er selbst überhaupt nicht zum Angriff kam. Er blockierte einen Hieb gegen sein Schienbein, fing den Schlag auf seinen Kopf ab, und schwang das untere Ende des Stabes,
um den Angriff auf seinen Bauch abzuwehren — aber er kam nicht, er war nur eine Finte gewesen. Verzweifelt bemühte er sich, seinen Kopf noch rechtzeitig zu schützen, aber der Sergeant hatte die Öffnung genutzt. Aus dem Augenwinkel sah Rod, wie der schwere Eichenstab herbeibrauste. Wie ein Donnerschlag krachte er auf seinen Schädel. Tiefe Nacht senkte sich auf ihn herab, und er sah nur noch Sterne vor seinen Augen funkeln, aber er gab nicht auf. In reinem Reflex wehrte er die Schläge ab, und hörte die Zuschauer, die sich inzwischen eingefunden hatten, jubeln.
So geht es nicht, sagte sich Rod. Zwar war er auch im Kampf mit dem Stab ausgebildet worden, hatte ihn jedoch seit mehr als einem Jahr nicht mehr benutzt, während der Sergeant offenbar täglich damit trainierte. Aber noch hatte er eine Chance. Rod sprang zurück, und seine Hand glitt zur Mitte des Stabes. Er wirbelte ihn wie bei einer Parade. Es war die französische Methode, le moulinet.
Sir Maris sperrte die Augen auf. Der Sergeant wich verwirrt zurück, doch dann sprang auch sein Stab wirbelnd empor. Also war er mit dieser Art des Stabkampfs vertraut, aber glücklicherweise kein Experte. Rod war im Vorteil. Des Sergeanten Stab wirbelte verschwommen, aber fast lautlos. Rods dagegen machte einer Motorsäge Konkurrenz. In Wirbelgeschwindigkeit und folge-dessen größerer Schlagkraft war er dem Sergeanten weit überlegen. Und das wußte auch Hapweed. Seine Nackenmuskeln verkrampften sich, als auch er die Wirbelgeschwindigkeit zu beschleunigen versuchte. Jetzt! Rod sprang vor. Sein Stab durchbrach den Wirbel und schwang in Gegenrichtung zu der des Sergeanten hinab. Die Stäbe schlugen mit dem Knall eines Gewehrschusses aufeinander, daß die Heftigkeit fast Rods Zähne zum Klappern brachte. Er fing sich eine halbe Sekunde früher als der Sergeant und hieb seinen Stab mit zwei schnellen Schlägen auf Hapweeds herab, daß dessen Stab zu Boden fiel.
Benommen starrte der Sergeant auf seine leeren Hände. Rod tupfte mit seinem leicht auf die Schläfe Hapweeds und brummte: „Peng! Du bist tot!“
„Halt!“ rief Sir Maris und machte diesem Kampf somit offiziell ein Ende. „Wollen wir jetzt sehen, wie Ihr mit einem Langbogen umzugehen versteht?“
Rod zuckte bluffend die Schulter. „Mit einer Armbrust, meinetwegen, aber einem Langbogen…“
Ein tiefes Gelächter erschallte aus der Höhe herab. Der Hauptmann der Wache und all seine Männer zuckten zusammen. Tom warf sich auf die Knie und preßte schützend die Arme auf den Kopf.
Rod drehte verblüfft den Kopf. Auf einem der eichenen Querbalken in der großen Halle saß ein Zwerg und trommelte mit den Füßen gegen das Holz. Sein Kopf war so groß wie Rods, seine Schultern waren breiter, und seine Arme und Beine so dick und muskulös wie Rods. Er sah aus, wie ein kräftiger normaler Mann, den man hier und dort um einen Meter gekürzt hatte. Das zottlige schwarze Lockenhaar hing ihm bis zum Nacken herab, und buschige schwarze Augenbrauen hoben sich aus der breiten, leicht fliehenden Stirn ab. Die Augen waren kohlschwarz und schienen im Augenblick vor Vergnügen zu sprühen. Eine Hakennase trennte sie voneinander, und aus wulstigen Lippen grinsten ebenmäßige weiße Zähne durch den dichten Bartwald.
„Langbogen!“ rief er mit seiner tiefen Baßstimme. „Na, wenn er damit nicht umgehen kann!“
Sir Maris funkelte wütend zu dem Zwerg hoch. „Möge die Pest mit Euren hinterlistigen Streichen ein Ende machen, Brom O'Berin. Ist mein Haar nicht schon weiß genug?“
„Hinterlistige Streiche!“ rief der Troll entrüstet.
„Brom?“ murmelte Rod. „O'Berin?“
„Black Brom O'Berin!“ berichtigte der Elf.
„Das ist ja eine Mischung aus Holländisch, Irisch und
Russisch, wenn ich mich nicht irre.“
„Was sind das für Unsinnsworte?“ knurrte der Zwerg.
„O nichts.“ Rod schüttelte den Kopf. „Ich hätte es ja erwarten müssen auf diesem verrückten — uh —, ich! meine in Gramayre.“
Der Troll grinste koboldhaft. „Wenn ich mich nicht täusche, ist das nicht gerade ein Kompliment für das große Land Gramayre!“
„Nein, nein! Ich hatte nicht die Absicht — ich wollte nicht…“
Rod hielt inne, denn er erinnerte sich, daß für einen Kämpfer in dieser Art von Kultur Entschuldigungen unmannhaft waren. Er straffte die Schultern. „Also gut, es war eine Beleidigung, wenn dir das lieber ist.“
Der Troll sprang auf dem Balken vergnügt auf die Beine und hopste herum.
„Ihr müßt jetzt gegen ihn kämpfen, Gallowglass!“ rief Sir Maris. „Und Ihr werdet all Eure Geschicklichkeit brauchen.“
Rod starrte ihn an. Meinte er es ernst? Konnte ein Zwerg ein ebenbürtiger Gegner sein?
Der Elf kicherte tief in der Kehle und sprang trotz der großen Höhe auf den Boden herunter, wo er leichtfüßig aufsetzte.
Ein Brüllen erschallte hinter Rod, und der große Tom kam herbeigestürmt. „Es ist eine Falle, Herr!“ schrie er. „In diesem Land herrscht Hexerei, und er ist der schlimmste aller Hexer.
Nie hat jemand Black Brom geschlagen! Aber ich werde es…“
Alle Soldaten in der großen Halle warfen sich brüllend auf Tom. Einen Augenblick stand Rod wie erstarrt, dann ließ er den Kampfstab fallen und watete, Karatehiebe verteilend, durch das Handgemenge, daß die Soldaten rechts und links zu Boden fielen.
„Halt!“ donnerte Brom. Irgendwie war er wieder auf den Querbalken gelangt. „Meinen Dank, Freunde“, brummte der Miniaturherkules. „Der Riese meinte es nicht böse. Laßt ihn los!“
„Meinte es nicht böse!“ schrien ein paar Stimmen entrüstet durcheinander.
„Das stimmt!“ versicherte ihnen Brom. „Er wollte nur seinen Herrn beschützen. Und dieser Gallowglass wiederum kam lediglich zur Verteidigung seines Knappen. Laßt sie in Frieden.
Es trifft keinen von beiden eine Schuld.“
Die Soldaten gehorchten nur widerstrebend.
Rod schlug Tom auf die Schulter und murmelte: „Danke, Tom, und mach dir meinetwegen keine Sorgen, dieser holländische Ire ist auch nur ein Mann wie du und ich, und darum kann ich ihn auch schlagen.“
Der Troll mußte sehr scharfe Ohren haben, denn er brüllte: „Oh, wirklich? Na, das wollen wir erst mal sehen, Streithahn!“
„O Meister!“ stöhnte der große Tom und rollte die Augen. „Ihr wißt nicht, was Ihr sagt. Dieser Elf ist des Teufels Schützling!
Ein schwarzer Magier!“
„Pah!“ schnaubte Rod. „So etwas gibt es überhaupt nicht!“
Sir Maris trat mit funkelnden Augen zwischen seine Männer.
„Wenn Ihr ihm auch nur ein Haar krümmt, Gallowglass, ziehe ich Euch die Haut lebenden Leibes ab.“
„Keine Angst.“ Brom O'Berin kicherte. „Und Ihr, Freund Gallowglass, strengt Euch nur an. Bei mir werdet Ihr kein Glück haben. Paßt lieber auf Euch auf.“ Er hopste auf dem Balken herum und schrie: „Jetzt!“
Rod duckte sich und zog die Arme zum Handkantenschlag zurück. Brom stemmte die Fäuste in die Hüften und kicherte.
„Ja, macht Euch nur bereit — aber paßt auf, Brom O'Berin ist kein leichter Mann!“
Er sprang mit den Füßen voraus vom Balken, geradewegs auf Rods Kopf zu.
Verwirrt durch den plötzlichen Angriff des Trolles, machte er einen Schritt zurück. Aber seine Reflexe übernahmen, und er schwang die Arme mit den Handflächen nach oben, um Broms Fußgelenke zu packen und hochzureißen. Und dann, weil er befürchtete, der Elf könne heftig mit dem Rücken auf dem
Boden landen, sprang er vor, damit er ihn auffangen konnte, aber Brom schlug einen Purzelbaum und landete elastisch auf den Füßen. Mit einer schnellen Bewegung wischte er Rods Hände zur Seite.
„Eine höfliche Geste“, brummte der Troll, „aber sehr töricht, denn Ihr habt Euch dadurch selbst in Gefahr gebracht. Hebt Euch Eure Besorgnis für die auf, die sie brauchen, Gallowglass.“
Rod schaute den Kleinen mit wachsendem Respekt an. „Ich scheine Euch unterschätzt zu haben, Meister O'Berin.“
„Nennt mich nicht Meister!“ donnerte der Troll. „Ich bin niemandes Meister, nur der Narr der Königin!“
„Nun gut, dann, weiser Narr!“ sagte Rod und winkte mit beiden Armen und grinste wild.
Brom musterte seinen Gegner mit finsterer Miene. Er brummte etwas, dann verzog er das Gesicht zu einem dünnen Lächeln und nickte. Er sprang und schnellte sich mit den Füßen geradewegs gegen Rods Kinn. Rod schwang eine Hand hoch, um erneut Broms Fußgelenke zu packen und brummte: „Ich dachte, du hättest dir's gemerkt.“ Das Du kam unwillkürlich. Er stieß die Füße des Trolles hoch, aber diesmal schnellte Brom seinen Kopf hoch, direkt unter Rods Kinn — und er hatte einen sehr schweren Kopf. Rod zuckte unter dem Hieb zurück, dabei preßte er die Arme fest um Brom O'Berins Mitte.
Der Zwerg schüttelte sich vor Lachen. „Und jetzt?“ spottete er.
„Jetzt, da du mich hast, was willst du mit mir tun?“
Das war eine gute Frage. Löste Rod seinen Griff auch nur eine Sekunde, würde Brom ihm zweifellos den Fuß in den Bauch stoßen. Er könnte den Troll natürlich fallen lassen oder von sich werfen, aber Brom hatte die Eigenschaft eines Gummiballs und würde höchstwahrscheinlich beim Zurückspringen genau wieder sein Kinn treffen.
Im Zweifelsfall war es besser, zuerst zu handeln und dann zu
denken. Rod ließ sich auf den Boden fallen und schob Brom im rechten Winkel von sich. Er packte Knie und Hals des Zwerges für einen Klammergriff. Aber Brom war ein bißchen schneller. Sein rechter Arm schlang sich wie eine Zwinge um Rods linken Ellbogen.
Rods Rücken krümmte sich vor Schmerzen. Es blieb ihm nur eines übrig, mit der Linken loszulassen, wollte er nicht vor Schmerzen das Bewußtsein verlieren. Aber Rod ging die Chance ein und verließ sich auf sein Durchhaltevermögen. Er verstärkte seinen Griff um Broms Hals. Der Troll brummte erstaunt: „Ein anderer hätte vor Schmerz gewimmert und sich in Sicherheit gebracht, Rod Gallowglass.“ Er zog die Knie ein und sein Fuß glitt Rods Brust hoch unter dessen Kinn und drückte.
Ein würgender Laut entrang sich Rods Kehle. Ein stechender Schmerz bohrte sich in seinen Nacken, als die Rückenwirbel gegeneinander schabten. Wieder senkte sich tiefe Nacht auf ihn herab und erneut funkelten die Sterne vor seinen Augen. „Du mußt mich jetzt loslassen, Gallowglass“, murmelte Brom, „wenn du nicht das Bewußtsein verlieren willst.“ Mußte diese verdammte halbe Portion immer recht haben? Rod löste den Griff und kam mit den Armen auf dem Boden auf. Als er sich schwankend auf die Füße hob, klang ein kehliges Kichern in seine Ohren, denn Brom hatte seinen Griff um Rods Arm nicht gelockert, sondern auch noch seinen anderen Arm um Rods Hals geschlungen, und so zog er ihn mit seinem Gewicht zu Boden. Als Broms Füße den Boden berührten, versetzte er Rod einen heftigen Stoß, daß er rückwärts taumelte. Rod fiel, aber wieder übernahm seine Reaktion. Er zog das Kinn an und milderte seinen Sturz mit den Unterarmen.
Brom jubelte vergnügt, als er sah, daß Rod immer noch bei Bewußtsein war, und sprang. Rod hielt das bißchen Luft an, das ihm noch geblieben war und stieß mit den Füßen zu. Er traf
Brom geradewegs in den Bauch, packte den durch die Luft schlagenden Arm, schob, und ließ den Arm los. Brom schlug einen Salto und segelte fünf Meter über Rod hinweg. Aber wie üblich landete er auf den weichen Ballen. Mit schallendem Gelächter wirbelte er herum. „Gut, Junge, sehr gut, aber nicht gut genug!“
Rod war inzwischen wieder auf den Beinen. Er keuchte und schüttelte den Kopf. Brom hopste auf ihn zu und sprang. Rod duckte sich ganz tief, in der Hoffnung, daß Brom ihn vielleicht ausnahmsweise doch verfehlen würde. Aber der lange Arm des Trolles holte aus und erwischte Rod an der Kehle. Der stämmige kurze Körper schwang herum und landete zwischen Rods Schultern. Ein Fuß stemmte sich gegen Rods Nacken und beide Arme um den Hals zogen den Kopf nach hinten. Rod gurgelte, richtete sich auf, und bog sich unter Broms Zug weit zurück. Er packte die Unterarme des Zwerges. Dann beugte er sich rasch nach vorn und zog an Broms Armen. Brom sauste über Rods Kopf, schlug einen Purzelbaum und landete juchzend auf den Füßen. „Gut gemacht, Junge! Gut gemacht!“
Er drehte sich um, immer noch mit koboldhafter Miene. „Aber mir wird dieses Spiel leid. Laßt uns ein Ende damit machen.“ „Ve-versuch's doch!“ keuchte Rod.
Brom kam geduckt herbei, stieß die langen Arme vor, um nach Rods Knie zu greifen. Rod schlug seine Rechte nach unten, um Broms Versuch abzuwehren, dann warf er seine Linke um die Schulter des Trolles, um ihn so zu stoßen, daß er das Gleichgewicht verlor, aber irgendwie hatten des Zwerges Hände sich wieder um Rods Hals gelegt. Rod richtete sich auf und bemühte sich, den Troll abzuwerfen, indem er mit der Handkante gegen seine Ellbogen hieb. Aber der Griff des Zwerges verstärkte sich nur.
Brom stieß mit den Beinen zu und warf sein ganzes Gewicht vorwärts. Rod taumelte und sah den Boden auf sich
zukommen. Brom sprang an ihm vorbei und packte ihn am Fuß. Rod machte eine Bauchlandung, aber er konnte sich, indem er seinen Arm vorstreckte, davor bewahren, daß sein Kopf auf dem Steinboden aufschlug. Er versuchte sich aufzusetzen, doch jemand mußte ihm einen Mühlstein auf die Schultern gebunden haben, und eine Schlange wand sich unter seinen linken Arm und drückte auf den Nacken. Er bemühte sich, diesen Halbnelson zu brechen, aber da legte sich eine Zwinge um sein rechtes Handgelenk und zog es rückwärts hoch.
„Gib auf, Junge“, brummte Broms Stimme in sein Ohr. „Du wirst mich nicht los!“ Doch Rod unterdrückte mit zusammengepreßten Zähnen den Schmerz. Irgendwie gelang es ihm, auf die Füße zu kommen. Er strengte sich an, den Zwerg abzuschütteln, aber Broms Beine klammerten sich um seine Mitte.
„Ich sagte dir doch, daß du mich nicht los wirst“, murmelte der Troll. Rod schüttelte sich wie ein Terrier, aber Brom hielt sich fest wie eine Bulldogge. Einen Augenblick dachte Rod daran, sich auf den Boden zu werfen und den Elf unter sich zu zerquetschen, denn es war bitter, sich von einem Mann von nur einem Drittel seiner eigenen Größe schlagen zu lassen. Aber er wies diesen Gedanken rasch von sich, denn Brom hätte ihm während ihres Kampfes mehr als nur einmal einen nicht weniger gemeinen Trick spielen können, doch er war offenbar für absolute Fairneß, und er, Rod, würde sich schließlich nicht von einem Zwerg beschämen lassen!
„Gib endlich auf, Mann!“ knurrte Brom und zog Rods Hand noch weiter zum Nacken hoch und dann drückte er hart auf Rods Hinterkopf, bis das Kinn das Schlüsselbein berührte. Rod ächzte und taumelte nach vorn. Hastig streckte er ein Bein aus, um nicht zu fallen. Der Schmerz im Rücken und Hals war unerträglich, er bekam keine Luft mehr. Auf seltsam unbeteiligte Art bemerkte er, daß es plötzlich Nacht wurde und
die Sterne vom Himmel stürzten.
Wasser platschte kalt auf sein Gesicht. Eine Flasche wurde an seine Lippen gedrückt und Flüssigkeit sickerte über seine Zunge und in den Bauch, wo sie brennend explodierte. Er schüttelte den Kopf und spürte harten Stein unter sich.
Stimmen echoten in seinem Schädel. Er hob die Lider und sah ein rundes Gesicht von zottligen schwarzen Locken und dichtem Bart eingerahmt. Eine Stimme donnerte in seinen Ohren: „Es ist ein wahres Wunder, Sir Maris. Er hat mir ganz schön zu schaffen gemacht!“
Ein starker Arm schob sich unter Rods Kopf und Schultern.
Toms besorgtes rundes Gesicht schwamm vor seinen Augen.
Und ihm folgte Broms.
„Hast dich tapfer gehalten, Junge“, polterte der Zwerg. „Einen solchen Kampf genoß ich nicht mehr, seit ich zum Mann wurde.“ Er streckte Rod die Hand entgegen. Rod drückte sie und versuchte zu grinsen. Und dann beugte sich Sir Maris über ihn und half ihm auf die Füße. „Kommt, Junge! Steht stramm, denn Ihr seid jetzt Soldat in der Armee der Königin!“
„Hah hah!“ donnerte Brom, der schon wieder auf dem Querbalken saß. „Nein, Sir Maris. Ich erhebe Anspruch auf ihn als Leibwächter der Königin!“
„Nein, verdammt, Tom, geh weg mit dem Ding!“
„Aber, Meister!“ Tom rannte Rod nach und hielt den Brustpanzer hoch. „Ihr braucht ihn, um Euch vor Pfeilen und Schwerthieben zu schützen!“
„Schwerter kann ich mit meiner Klinge abwehren, und Pfeilen ausweichen. Und gegen Armbrustbolzen nutzt das Zeug ohnehin nichts. Nein, Tom, es würde mich nur behindern!“
„Was!“ donnerte Brom O'Berin, und stützte die Fäuste auf die Hüften. „Du willst der Königin Uniform nicht tragen?“
„Das tu ich erst, wenn du es tust, du scheckiger Wicht!“
Der Troll grinste. „Du scheinst zu vergessen, daß du Soldat
bist, ich dagegen bin Hofnarr, der bunt gekleidet sein muß. Aber ich dachte mir schon, daß du den Brustpanzer nicht tragen willst. Dann schlüpf zumindest in das.“ Er warf Rod etwas silbern Glitzerndes zu.
Rod musterte das feingliedrige Kettenhemd mißtrauisch, doch dann schlüpfte er hinein. „Paßt gar nicht so schlecht“, brummte er. „Woher wußtest du, daß ich mich nicht in dieses eiserne Gefängnis pressen lassen würde?“
Brom kicherte. „Habe ich nicht mit dir gekämpft, Rod Gallowglass? Und es war nur gut, daß du es auf meine Weise tatest!“ Ernst fuhr er fort: „Es war mir gleich klar, daß du genausowenig einen so beengenden Panzer tragen würdest wie ich.“
Rod studierte das bärtige Gesicht mit gerunzelter Stirn. „Du traust mir immer noch nicht ganz, hm?“ „Rod Gallowglass“, erwiderte der Elf. „Ich traue keinem Menschen — und einem Leibwächter der Königin erst dann, wenn er sein Leben für sie gegeben hat!“ „Und wie viele sind das bis jetzt?“ „Sieben im vergangenen Jahr“, brummte Brom. Rod lächelte grimmig und schlüpfte in das silbern und purpurfarbige Wams, die Uniform der Leibwache. „Ich werde also die Ehre haben, den Vorkoster Ihre Majestät zu machen, eh?“
„Nein!“ knurrte der Zwerg. „Dieses Vergnügen steht allein mir zu.“
Rod schwieg einen Moment. Er warf sich den purpurnen Umhang über. „Aber du lebst immer noch.“ Brom nickte. „Obgleich ich mehrmals erkrankte, lebensgefährlich, mein Junge. Aber offenbar habe ich das Talent, Gift am Geschmack zu erkennen, ohne gleich mit meinem Tod den Beweis liefern zu müssen.“ Er grinste. „Schau nicht so düster drein. Du wirst dich lediglich mit Schwertern auseinandersetzen und hin und wieder einem heimtückischen Armbrustbolzen ausweichen müssen. Also, Kopf hoch!“
„Oh, ich kann es kaum erwarten“, versicherte ihm Rod ironisch.
„So, und jetzt zur Ratskammer der Königin. Ich werde dich in deine Pflichten einweisen.“ Er drehte sich um. „Und du, Tom, marsch in die Kaserne mit dir. Dein Herr wird dich rufen, wenn er dich braucht.“
Tom blickte Rod fragend an. Rod nickte.
Um den Tisch aus poliertem Nußbaum hatten die zwölf Hohen Lords des Reiches Platz genommen: Der Herzog di Medici, der Graf von Romanoff, der Herzog von Gloucester, Prinz Borgia, Graf Marschall, Herzog Steward, der Herzog von Bourbon, Prinz Habsburg, Graf Tudor, Baron Ruddigore, der Herzog von Savoyen, und der grauhaarige Herzog Loguire. Alle waren anwesend, außer der Königin, Catherine Plantagenet. Neben jedem der Hohen Lords saß ein drahtiger, runzeliger kleiner Greis mit funkelnden blauen Augen und ein paar dünnen, weißen, über den ledrigen Schädel verteilten Haarsträhnen.
Ratgeber? fragte sich Rod. Merkwürdig, daß sie sich alle so sehr ähneln…
Ein Trommelwirbel erschallte. Alle erhoben sich. Die gewaltigen Flügel der Osttür schwangen weit auf, und Catherine betrat die Ratskammer. Rod an der Westtür konnte sie genau sehen — und sein Herz setzte einen Schlag aus.
Platinblondes, fast silbernes Haar umrahmte ein feingeschnittenes Schmollgesicht mit großen blauen Augen und Lippen wie Rosenknospen. Das hautenge Seidengewand betonte die kleinen, noch nicht vollentwickelten Brüste des kindhaften Körpers.
Sie ließ sich auf dem leeren Stuhl am Kopfende des Tisches nieder, und Brom O'Berin hüpfte an einen Hocker zu ihrer Rechten. Ihr gegenüber am anderen Tischende saß Herzog Loguire, der ungeduldig seinen ihm etwas zuflüsternden Ratgeber abwehrte.
Brom O'Berin winkte dem Herold zu, der laut rief: „Die Hohen und Großen des Landes Gramayre sind hiermit versammelt.
Mögen alle, die Beschwerden vorzubringen haben, sie nun äußern.“
Herzog Bourbon hüstelte verlegen. Brom wandte sich ihm zu.
„Mein Lord Bourbon“, forderte er ihn auf. „Möchtet Ihr das Wort an Ihre Majestät richten?“
Zögernd erhob sich der Herzog. „Eure Majestät, meine Lords!“
Er straffte die Schultern. „Ich muß Protest erheben!“
Catherine legte ihren Kopf so weit zurück, daß der Eindruck entstand, sie schaue auf den hochgewachsenen Edlen herab.
„Wogegen erhebt Ihr Protest, Mylord?“
Herzog Bourbon schaute auf die Nußbaumtischplatte. „Seit unsere Vorfahren von jenseits der Sterne kamen, unterstanden die Bauern ihren Lords, und die Lords den Hohen Lords, diese wiederum dem König — der Königin“, verbesserte er sich mit einer Verbeugung vor der Monarchin.
Catherines Lippen wurden zu dünnen Strichen, aber sie behielt ihre Haltung.
„Das“, fuhr der Herzog fort, „ist die natürliche Ordnung der Dinge. Doch nun wollen Eure Majestät diese Ordnung umstoßen, entgegen der Tradition Eures Vaters, edle Königin, und dessen Vaters und aller Eurer Vorfahren bis zum Anbeginn des Hauses Plantagenet. Ihr setzt Richter ein, die auf unseren Domänen, über unseren Kopf hinweg, sogenannte Gerechtigkeit walten lassen. Ich persönlich kann mich nicht mit diesem, Eurem bürgerlichen Unterling abfinden, der glaubt, in meinem eigenen Palast bestimmen zu können!“ Er schloß fast brüllend und starrte die Königin mit rotem Gesicht an.
„Seid Ihr fertig?“ fragte Catherine mit einem Ton, den sie für solche Gelegenheiten auf Eis gelegt hatte.
Langsam verbeugte sich der Herzog. „Jawohl, Eure Majestät“, murmelte er und setzte sich wieder.
Catherine schloß flüchtig die Lider, dann schaute sie Brom
O'Berin kaum merklich nickend an.
Brom erhob sich. „Schließt einer sich diesem Protest des Hohen Lords, Herzog Bourbon, an?“ Ein junger Mann mit feurig rotem Haar sprang auf. „Ich unterstütze meinen Vorredner in allem, was er hier zur Sprache brachte. Ich möchte auch noch hinzufügen, daß die Königin gut daran täte, die Möglichkeit von Korruption in Betracht zu ziehen, denn ein Mann ohne Ländereien, Mittel und altem Namen mag leicht in Versuchung kommen, seine Gerechtigkeit zu verkaufen.“ „Sollte es dazu kommen, würden diejenigen, die sich schuldig erweisen, von den höchsten Galgen baumeln, und die, denen sie Unrecht zugefügt haben, erhalten das Recht, ihre Henker zu sein.“ Catherines Augen hielten die des jungen Edlen, bis Brom O'Berin brummte: „Vielen Dank, Savoyen.“ Der Rothaarige setzte sich.
„Wer unterstützt die Hohen Lords Bourbon und Savoyen?“ Einer nach dem anderen der zehn übrigen Lords erhob sich. Der Rat der Königin war einstimmig gegen sie. Sie schloß erneut flüchtig die Lider und preßte die Lippen zusammen. Schließlich ließ sie ihren Blick über die Anwesenden wandern. „Meine Lords, eure Opposition gegen meine Gerechtigkeit schmerzt mich.“ Sie lächelte sie bitter an. „Ich danke euch für euren ehrlichen Rat, doch wird sich nichts an meinem Entschluß ändern. Meine Richter bleiben auf euren Ländereien.“
Die Edlen murmelten einander mit leisen, rauhen Stimmen zu. Sie wirkten wie ein großes, ruheloses Raubtier. Der alte Herzog Loguire erhob sich und stützte sich schwer auf die Tischplatte. „Meine Königin“, sagte er. „Bedenkt, selbst Monarchen können Fehlentscheidungen treffen, und Ihr übt die Regierungsgewalt noch nicht sehr lange aus. Bekanntermaßen erlangen viele Köpfe eine größere Einsicht als ein Kopf allein, und hier stehen zwölf Männer aus den ältesten, ehrbaren Familien, die in der Staatskunst erfahren und weise in ihren
Jahren sind, gegen Eure Meinung. Werdet Ihr auch weiterhin auf Eurem Kurs verharren, obgleich so viele keinen Zweifel hegen, daß er falsch ist?“
Catherines Gesicht war fast leichenblaß, und ihre Augen funkelten. „Das werde ich“, erklärte sie ruhig. „Doch rief ich euch heute aus einem anderen Grund zusammen“, fuhr sie mit einem Lächeln fort, das fast eine Spur boshaft wirkte. Erschrocken ruckten die Köpfe rund um den Tisch hoch. Brom O'Berin wirkte noch erstaunter als die anderen. Offensichtlich hatte Catherine sich nicht einmal mit ihrem Oberratgeber besprochen. Jeder der Hohen Lords bückte sich hastig zu ein paar kurzen geflüsterten Worten mit seinem eigenen Ratgeber, und der ursprünglich erschrockene Ausdruck wurde zu dumpfem Ärger.
„Auf jeder eurer Ländereien befindet sich ein Kloster. Ihr habt die Priester für die Gemeinden eurer Domänen immer aus euren eigenen Klöstern ernannt. Ich werde die besten Theologen aus allen Klöstern hier auf der Burg versammeln, und ersuche euch, mir junge Brüder, einen für jede Gemeinde, aus euren Klöstern zu schicken, damit sie von meinen Mönchen ausgebildet werden können. Sollte ich bei dem einen oder anderen nicht mit eurer Wahl einverstanden sein, sende ich die Betreffenden zurück, und ihr habt andere hierher zu beordern. Wenn sie ihr Studium beendet und ihren Eid geleistet haben, werden sie als die Priester eurer Gemeinden zu euch zurückkehren.“
Die Hohen Lords sprangen auf die Füße, brüllten durcheinander und hieben mit den Fäusten auf den Tisch. „Genug! Seid still!“ Catherines Stimme klang wie ein Peitschenknall.
Die Hohen Lords setzten sich wieder und schwiegen verbissen, aber die Augen ihrer Ratgeber leuchteten auf, und jeder schien ein Grinsen zu unterdrücken. „Ich habe gesprochen, und es wird geschehen, wie ich es bestimme!“ erklärte Catherine mit eisiger Stimme. Zitternd erhob sich der alte Lord Loguire. „Aber, Eure Majestät, wollt Ihr nicht…“ „Nein!“
Brom O'Berin räusperte sich. „Wenn Eure Majestät, gestatten…“ „Nein!“
Schweigen senkte sich herab. Wieder wanderte der Blick der Königin über ihre Edlen, dann neigte sie den Kopf und sagte: „Mein Lord Loguire.“
Der alte Aristokrat erhob sich, die Zähne hinter dem graumelierten Bart fest zusammengebissen und die Hände zu zitternden Fäusten geballt. Er zog den großen, throngleichen vergoldeten Sessel zurück, und Catherine erhob sich. Dann kehrte er zu seinem Platz zurück. Catherine drehte sich um, die große Eichentür schwang auf, und Soldaten ihrer Leibgarde reihten sich vor und hinter ihr ein. An der Tür blieb die Königin stehen. „Meine Herren, überlegt es euch und stimmt zu, denn ihr könnt euch nicht gegen mich stellen!“ „Es ist doch genau das klassische Muster, bis zum letzten Schrei wütenden Aufbegehrens!“ Rod ritt nach Beendigung seines Dienstes mit Gekab zum Gasthof, um ein bißchen Klatsch und eine Menge Bier zu sich zu nehmen. Tom war zurückgeblieben und hatte den Befehl, seine Ohren offenzuhalten.
„Ich kann Ihnen nicht völlig beipflichten, Rod. Es ist wohl das klassische Muster, aber da ist noch etwas Zusätzliches.“ „Pah! Es ist ein simpler, verfrühter Versuch der Zentralisierung der Macht. Catherine will Gramayre unter ein Gesetz und einen Herrscher stellen, statt länger unter zwölf fast souveräne Herzogtümer. Die Erstellung der Richter ist nichts anderes. Ich wette mit dir, zumindest zehn der zwölf Hohen Lords haben in ihren Domänen den lieben Gott gespielt. Zweifellos haben sie sich nicht mit einem Zehnt zufriedengegeben, und sich das
Recht auf jede Frau ihrer Leibeigenen genommen. Catherine ist eine Reformerin, die versucht, alle Mißstände, derer sie sich bewußt ist, dadurch zu beheben, daß sie sich zum einzigen Gesetz auf Gramayre macht — doch sie wird es nicht schaffen.
Die Lords werden es nicht zulassen. Mit den Richtern wäre sie vermutlich gerade noch durchgekommen, aber die Sache mit den Priestern wird zur Rebellion führen. In dieser Art von Gesellschaft haben die Priester mehr Einfluß auf das Volk als sonst irgend jemand. Und wenn sie in Zukunft nur noch ihr unterstehen, haben die Adeligen überhaupt nichts mehr zu sagen, und das wissen sie. Und das werden sie sich nicht ohne Kampf gefallen lassen.“
„Soweit pflichte ich Ihnen bei“, sagte der Roboter. „Das ist auch noch das klassische Muster, ähnlich dem Versuch des englischen Königs Johann L, der die Nation zentralisieren wollte, ehe ein solches Projekt hoffen konnte, mit Erfolg gekrönt zu werden.“
Rod nickte. „Und wir können hoffen, daß genau wie Johanns Barone die Hohen Lords auf eine Magna Charta libertatum bestehen werden.“
„Aber…“
„Aber was, Gekab?“ fragte Rod mit märtyrergleicher Geduld.
„Es gibt das fremde Element: eine Gruppe von Ratgebern der Hohen Lords — eine Gruppe, die ausgesprochen kohäsiv zu sein scheint.“
Rod runzelte die Stirn. „Stimmt.“
„Und was Sie mir von der Szene nach Catherines Verlassen der Ratskammer erzählt haben…“
„Puh!“ Rod schauderte. „Es war, als hätte sie ihnen den Fehdehandschuh zugeworfen, und alle stürzten sich darauf, um in die Ehre zu kommen, ihn aufheben zu dürfen. Das Mädchen mag zwar ein wenig von den Grundbegriffen der Staatswissenschaft verstehen, aber absolut nichts von Diplomatie. Sie forderte sie heraus, ohne wirklich zu glauben, daß sie es wagen würden, sich gegen sie zu stellen.“ „Ja, und die Ratgeber machten ihre Sache großartig. Jeder riet seinem Lord, nicht zu kämpfen, da er zu schwach sei — um ihn dann diplomatisch darauf aufmerksam zu machen, wenn es schon sein müßte, sollte er sich mit den anderen Lords verbünden. Fachmännisch angewandte Psychologie. Man könnte annehmen, die Ratgeber legten es darauf an, die zentrale Befehlsgewalt völlig zu eliminieren.“
„Ja…“ Rod runzelte die Stirn. „Das ist in einer solchen Gesellschaftsordnung nicht normal, nicht wahr, Gekab?“ „Allerdings nicht, Rod. Die Anarchietheorie ergibt sich gewöhnlich erst, wenn die Kultur einen weit höheren Stand der Technologie erreicht hat.“
Rod kaute an seiner Lippe. „Außerplanetarer Einfluß, vielleicht?“
„Möglich. Und das führt uns zu der totalitären Volksbewegung: eine weitere Anomalie. Nein, Rod, das ist nicht das klassische Muster!“
„Nein, verdammt. Wir haben drei Gruppen, die auf die Macht aus sind: die Bauern, die Herzöge und ihre Ratgeber, und die Königin und wer immer sie unterstützt. Im Augenblick scheint diese Unterstützung sich auf Brom O'Berin zu beschränken.“ „Totalitaristen, Anarchisten, und die Königin in der Mitte“, brummte Gekab. „Auf wessen Seite sind Sie, Rod?“ „Auf Catherines, zum Teufel!“ Rod grinste. „Ich bin hier, um die Saat der Demokratie auszustreuen, und es sieht ganz so aus, als wäre die einzige Chance, sie zum Keimen zu bringen, einer konstitutionellen Monarchie auf die Beine zu helfen.“ „Ich kann mich vielleicht täuschen“, murmelte Gekab. „Aber ich glaube, Sie sind höchst erfreut, daß Ihnen gar nichts anderes übrig bleibt, als sie zu unterstützen.“ Um sie herum dämpfte nächtlicher Dunst die wenigen Lichter. Die Nebelwand befand sich lediglich etwa zehn Meter entfernt. Ein schriller Schrei zerriß die Luft, gefolgt von Schwerterklirren. „Hilfe! Zu Hilfe!“ brüllte eine jugendliche Stimme.
Rod stieß die Fersen in Gekabs Metallflanken und legte die Hand um sein Rapier. Der Rappe galoppierte auf den Lärm zu.
Unter dem rauchigen Fackelschein in einer Gassenmündung kämpfte ein Mann mit dem Rücken zur Hauswand gegen drei Angreifer.
Rod brüllte. Er lenkte das Pferd mitten hinein und hieb mit der flachen Degenklinge um sich. Gerade noch rechtzeitig riß er den Dolch heraus, um ein Schwert abzuwehren, das von links auf ihn zukam. Sein Rapier schwang im Bogen um seinen Kopf und klirrte gegen den Stahl des Gegners. Und dann drangen Klingenspitzen von allen Seiten auf ihn ein. Rod wurde in die Defensive gedrängt und mußte die Stahlwaffen wie Fliegen von sich schlagen. Aber das beabsichtigte Opfer stieß einen schrillen Schrei aus, der jedes Kettengespenst beschämt hätte, und griff von hinten an.
Plötzlich klirrten drei Klingen auf den Boden, und ihre Besitzer ergriffen das Hasenpanier. Einen Augenblick blieb Rod wie benommen sitzen, dann brüllte er auf, und Gekab raste den Fliehenden nach.
Aber als er das dunkle Ende der Gasse erreichte, war nichts mehr von den Fliehenden zu sehen, obwohl es sich um eine Sackgasse handelte. Zweifellos waren sie hinter irgendwelchen Türen verschwunden. Ihr Opfer, das es nicht geworden war, kam herbeigerannt. „Keinen Sinn, sie zu suchen“, keuchte der Mann. „In fünf Minuten sind sie schon genau so viele Meilen entfernt.“
Rod fluchte und schob sein Rapier in die Scheide zurück. Er wandte sich dem Fremden zu. „Seid Ihr verletzt?“
„Nein“, murmelte der junge Mann. Rod blickte auf ein offenes Gesicht mit Stupsnase, blauen Augen und einem Grinsen hinab, das wie die Sonne durch den Nebel schien. Blondes Haar rahmte es in all seiner Unschuld ein. Es war ein sehr junges, unerfahren wirkendes Gesicht, — und sehr gutaussehend.
Fast ein wenig neidvoll schwang Rod sich aus dem Sattel. Die Stirn des jungen Mannes reichte bis etwa zu Rods Augen, aber was ihm an Größe fehlte, machte er durch Breite wett. Seine Schultern waren bestimmt um gute fünfzehn Zentimeter breiter als Rods, und die Arme hätten zu einem Gorilla oder Bären gepaßt. Die Beine waren ungemein stämmig und verliefen in schmalen Hüften. Er trug ein Lederwams über einem weißen Hemd, einen breiten schwarzen Gürtel, und hochschäftige Stiefel aus weichem Leder.
Er runzelte die Stirn, als er das Blut an Rods Ärmel bemerkte.
„Ihr seid verletzt!“
„Ein Kratzer“, beruhigte ihn Rod. Er fummelte in Gekabs Satteltasche nach einer antiseptischen Binde und wickelte sie um den Unterarm. „Aber Ihr dürft gern die Schneiderrechnung bezahlen, wenn Ihr wollt“.
Der Jüngling nickte, und seine blauen Augen wirkten sehr ernst. „Das tue ich nur zu gern, denn sie hätten l mir das Herz aus der Brust geschnitten, wärt Ihr nicht gerade noch rechtzeitig zu meiner Rettung gekommen, Tuan McReady steht zutiefst in Eurer Schuld.“
Ein anständiger Junge, dachte Rod und streckte ihm die Hand entgegen. „Rod Gallowglass zu Euren Diensten, und von Schuld kann keine Rede sein. Ich freue mich immer, einem gegen drei beistehen zu können.“
„Aber ich stehe in Eurer Schuld“, erklärte der Junge und nahm Rods Hand wie in einen Schraubstock. „Ihr müßt mir zumindest gestatten, Euch einen Krug Bier zu kaufen.“
Rod zuckte die Schultern. „Warum nicht? Ich war ohnehin auf dem Weg in eine Schenke. Kommt doch mit.“
Zu seiner Überraschung zögerte Tuan. „Verzeiht, mein guter Herr Gallowglass — es gibt nur eine in dieser Stadt, in der ich willkommen bin. Alle anderen lehnen meine Art zu leben ab, und…“ Das runde Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. „… sie gefällt den Spießbürgern nicht so recht.“
Rod nickte. „Na schön, ein Wirtshaus ist so gut wie jedes andere.“
Der Stadtteil, in den Tuan ihn führte, paßte nicht so ganz zu seinen guten Manieren und seinem sauberen Aussehen. Auch die Schenke selbst sah nicht sehr vertrauenswürdig aus. Sie erweckte den Eindruck, als würde sie beim nächsten Windstoß zusammenbrechen. Die Fenster waren mit wurmzerfressenen, morschen Brettern verschlossen, nur die schwere Eichentür wirkte massiv, und selbst sie hing schief in den Angeln.
„Ah, hier hat man also nichts gegen Eure Lebensweise einzuwenden?“ fragte Rod, als Tuan mit dem Dolchgriff an die Tür klopfte.
„Sagen wir, sie dulden sie, obgleich man mich auch hier manchmal lieber gehen als kommen sieht.“
Rod lief es kalt über den Rücken. Er fragte sich, welche Art von Mensch dieser junge Bursche war.
Tuan klopfte noch einmal. Endlich öffnete sich die Tür knarrend, aber nur so weit, daß sie gerade hindurchschlüpfen konnten.
„Unser Gastgeber“, sagte Tuan grinsend. „Der Spötter.“
Die bucklige, knorrige, schrumpelige Travestie eines Mannes stieß ein paar unverständliche Laute aus. Ein Ohr war deformiert, das andere überhaupt nicht mehr vorhanden, die Augen über der Knollennase waren schmale Schlitze, die boshaft glitzerten. Gekleidet war der Mann in Flicken und Fetzen, die vielleicht einmal Wams und Hose gewesen sein mochten und jetzt lose von der Vogelscheuchengestalt herabhingen.
Er eilte zurück in die stinkende Dunkelheit seines Baues. Tuan folgte ihm. Rod holte noch einmal tief frische Luft, straffte die Schultern und schaute sich um, um sich zu vergewissern, daß Gekab seinen Posten vor dem Haus bezogen hatte.
Die Tür schloß sich hinter Rod, und fast gleichzeitig öffnete sich am anderen Ende des Ganges eine zweite. Rod riß die Augen auf. Eine riesige Schenkstube, schon fast ein Rittersaal, befand sich dahinter mit vier hell flackernden Feuern und vielen Dutzenden von Fackeln in Wandhalterungen. Köstlich duftendes Fleisch brutzelte an Spießen über den Feuern, Schenkburschen bahnten sich einen Weg durch die Menge mit Krügen und Bechern voll Bier und Wein aus zwei riesigen Fässern, die einen großen Teil der Wand einnahmen. Die Gäste waren der Abschaum der hiesigen Gesellschaft. Ihre Kleidung war mit Flicken besetzt, zerris sen und schmutzig. Sie selbst waren Beweis der primitiven Gerechtigkeit dieser Stadt: einem fehlte ein Ohr, dem anderen ein Auge. Ihre Gesichter waren von Krankheiten gezeichnet und verunstaltet. Doch hier unter sich waren sie laut und fröhlich. Alle grinsten, obgleich die Bosheit aus ihren Augen funkelte, als sie Rod betrachteten. Sie allerdings verschwand schlagartig beim Anblick des jungen Tuans und machte etwas Platz, das Verehrung sehr nahe kam. Der Junge lächelte. „Man sagt, daß es keine Ehre unter Dieben gäbe, doch zumindest gibt es etwas wie eine Seelenverwandtschaft zwischen den Bettlern von Gramayre. Willkommen, Rod Gallowglass, im Haus Clovis.“ Die Härchen an Rods Nacken stellten sich auf. Er erinnerte sich des Mobs in der Kaigegend am vergangenen Abend. Seine Augen weiteten sich. Er starrte Tuan an. Er konnte es doch nicht sein. Nein, er konnte nicht…
O doch. Er war es! Tuan McReady war der junge Redner, der die Meute aufgewiegelt hatte. Dieser hübsche Junge mit den Apfelbäckchen war die Oberratte in den hiesigen Abwasserkanälen.
Die Menge brach in Jubelrufe aus und hieß ihren Sir Galahad willkommen. Der Junge grinste und winkte freundlich. Sein Gesicht hatte sich rot gefärbt. Es sah ganz so aus, als machte dieser Empfang ihn verlegen. Er hatte keinen Ton zu dem Spötter gesagt, aber kaum saßen sie, wurden ihm auch schon
zwei dampfende Krüge mit Glühwein vorgesetzt. Wortlos und ohne Bezahlung zu verlangen, zog der Wirt sich wieder zurück.
Rod blickte ihm mit einer erhobenen Braue nach. „Ihr benutzt kein Geld hier?“ fragte er Tuan.
„Nein.“ Der Junge lächelte. „Alle, die zum Haus Clovis kommen, bringen das bißchen Geld mit, das sie haben. Es wird in eine gemeinsame Kasse gegeben, und alle erhalten kostenlos Fleisch und Wein nach ihren Bedürfnissen.“
„Und einen Platz zum Schlafen, nehme ich an?“
„Ja, und Kleidung. Ein Gentleman würde darüber die Nase rümpfen, aber für meine armen Brüder sind es ungeahnte Herrlichkeiten.“
Rod studierte das Gesicht des Jungen und kam zu der Überzeugung, daß er es ernst gemeint hatte, als er Brüder sagte.
Er lehnte sich zurück und verschränkte die Beine. „Würdet Ihr Euch als religiös bezeichnen?“
„Ich?“ Tuan versuchte ein Lachen zurückzuhalten, aber es gelang ihm nicht ganz. „O nein! Ich wollte, ich wäre es, aber ich habe fünf Dutzend und mehr Sonntage keine Kirche von innen gesehen.“
Also, dachte Rod, waren seine Motive, den Armen zu helfen -
was immer sie auch sonst sein mochten —, jedenfalls nicht heuchlerisch. Er schaute in seinen Krug. „Ihr versorgt und kleidet also all diese Menschen mit den Almosen, die sie euch bringen?“
„Nein, es ist nur ein Anfang. Aber bei so vielen ernsthaften Beweisen unseres guten Willens fand unsere edle Königin uns einer Unterstützung würdig.“
Rod sperrte die Augen auf. „Ihr wollt damit sagen, daß die Königin euch allen unter die Arme greift?“
Tun grinste verschmitzt. „O ja, obgleich sie selbst es nicht weiß, wem sie hilft. Sie kennt das Haus Clovis nur dem Namen nach und gibt dem guten Brom O'Berin Geld, damit er für ihre
Armen sorgt.“
„Und Brom gibt es Euch?“
„Richtig. Und er seinerseits ist froh darüber, daß es weniger Meuchelmorde und Raub in den dunklen Gassen gibt.“
„Sehr schlau! Und es war Eure Idee?“
„O nein, die des Spötters, aber auf ihn wollte niemand hören.“
Rod starrte ihn an. „Der Spötter? Ihr meint, dieser, Verwachsene aus einer schlechten Schmierenkomödie ist der Anführer des Ganzen?“
Tuan runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Niemand will ihm folgen, Freund Gallowglass, es ist nichts Respekteinflößendes an ihm. Er ist der Wirt, der die Sachen verteilt, wie sie benötigt werden — nur ein Verweser, sozusagen, aber ein sehr guter. Einen besseren Kämmerer als ihn findet man nicht so leicht. Selbst der Schatzmeister der Königin kann ihm nicht das Wasser reichen.“
„Ich verstehe, nur ein Verweser.“ Aber auch der Mann, der die Finanzen verwaltet, fügte Rod in Gedanken hinzu. Und ebenfalls der Kopf des Ganzen. Tuan mag zwar mit Menschen umzugehen verstehen und sie dazu bringen, zu tun, was er will — aber weiß er überhaupt, was er will? Ja, natürlich, denn hatte der Spötter ihn nicht aufgeklärt? Was wiederum den Spötter zum wirtschaftspolitischen Mann im Hintergrund macht, und vermutlich verfaßt er auch Tuans Reden.
Rod lehnte sich zurück und rieb das Kinn. „Und Ihr schafft es, mit lediglich den Almosen, die die Bettler herbeibringen, und den Groschen der Königin, diesen dekadenten Luxus zu verschaffen?“
Tuan grinste ein wenig dämlich und beugte sich nickend vor.
„Aber es ist nicht einfach, Freund Gallowglass. Diese Bettler lassen sich nicht gern von irgend jemandem herumkommandieren. Es ist wahrhaftig nicht einfach, sie zu überreden, ihnen zu drohen, zu schmeicheln. Aber es ist die Mühe wert.“
Rod nickte. „Dazu gehört ein Mann ohne falschen Stolz und mit noch weniger falscher Bescheidenheit — einer, der seinen Mitmenschen ins Herz schauen kann.“
Tuan errötete.
„Ein solcher Mann“, fuhr Rod fort, „kann sich zum König der Bettler machen.“
Der Junge schüttelte mit geschlossenen Lidern den Kopf.
„Nein, es gibt hier keinen König, Freund Gallowglass!
Lediglich vielleicht einen Hausherrn.“
„Und Ihr wollt nicht König sein?“
„Das würden die Bettler sich nicht gefallen lassen.“
„So meinte ich es auch nicht.“
Tuan blickte Rod in die Augen. Das Lächeln schwand von seinem jungenhaften Gesicht. Als ihm die Bedeutung von Rods Worten klar wurde, verhärteten sich seine Züge. „Nein!“ sagte er grimmig. „Ich habe nicht vor, den Thron an mich zu reißen!“
„Warum wollt Ihr dann die Bettler gegen die Königin führen?“
Wieder überzog das jungenhafte Lächeln Tuans Gesicht. Er wirkte sehr selbstzufrieden. „Ah, dann wißt Ihr von meinem Komplott, und ich kann Euch offen heraus fragen: Schließt Ihr Euch uns an, wenn wir zur Burg marschieren?“
Rods Miene erstarrte, aber seine Stimme klang völlig ruhig.
„Weshalb ich?“
„Wir möchten so viele Freunde, wie es nur geht, in der Leibgarde der Königin…“
„Ihr müßt wohl schon eine ganze Menge haben, wenn Ihr bereits wißt, daß ich heute in der Garde aufgenommen wurde.“
Tuan grinste, er senkte die Lider. Etwas klirrte in Rods Gehirn.
„Wenn ich mich hier genauer umsähe“, sagte er bedächtig, „würde ich dann die drei Männer finden, die Euch heute abend überfielen?“
Tuan nickte, er grinste noch stärker.
„Also alles geplant, lediglich, um mich hierherzulocken! Ihr wißt wirklich mit Menschen umzugehen, TuanMcReady!“
Tuan errötete und blickte zu Boden.
„Aber was ist, wenn ich mich euch nicht anschließen will?
Läßt man mich dann das Haus Clovis lebend verlassen?“
„Nur, wenn Ihr ein guter Fechter und ein nicht weniger guter Zauberer seid.“
Rod nickte und ließ sich die Ereignisse der vergangenen beiden Tage durch den Kopf gehen. Einen Moment kam er in Versuchung mitzumachen, denn er zweifelte nicht daran, daß er sich nach der Revolution auf den Thron manövrieren könnte.
Aber nein, was Tuan gesagt hatte, stimmte. Es gehörte ein Mann mit einem angeborenen Talent der Massenbeeinflussung dazu, die Bettler zu beherrschen. Selbst wenn er auf den Thron kam, würde der Spötter, und wer immer auch hinter ihm stand, nicht tatenlos zusehen. Nein, die Machtstruktur mußte bleiben, wie sie war. Eine konstitutionelle Monarchie war die einzige Hoffnung auf Demokratie für diesen Planeten.
Und da war natürlich auch noch Catherine… Vielleicht war er wirklich in sie verschossen? Sie war das Traumbild seiner Jugend!
Aber ihm war Tuan vom ersten Augenblick an sympathisch gewesen. Wie konnte er sie beide mögen, wenn sie Gegner waren? Gewiß, es war möglich, daß Tuans Charme nur Tünche war, doch irgendwie bezweifelte es Rod. Nein, wenn Tuan wirklich am Thron interessiert gewesen wäre, hätte er Catherine den Hof machen und um sie freien können, und ganz sicher hätte er ihre Gunst gewonnen.
Also unterstützte Tuan die Königin. Wie er glaubte, ihr mit seiner Demagogie helfen zu können, war Rod zwar nicht klar, aber zweifellos war Tuan überzeugt, daß er es konnte.
Warum dann dieser ausgefallene Plan, Rod in das Haus Clovis zu locken? Natürlich, um ihn auf die Probe zu stellen, ob er als Leibwächter der Königin vertrauenswürdig war! Das ergab auch Sinn, wenn Tuan mit Brom O'Berin zusammenarbeitete, denn es war genau Broms
Art, auf diese ungewöhnliche Weise für eine Volksunterstützung der Königin zu sorgen. Doch warum dann diese Propagierung eines Marsches zur Burg? Vermutlich hatte Tuan eine Antwort darauf, und wenn er schon gerade bei Antwort war, mußte er nun auch endlich seine geben.
Er grinste Tuan an und erhob sich, mit der Hand um den Degengriff. „Ich werde mich euch nicht anschließen. Lieber versuche ich mein Glück mit Rapier und Magie.“
Tuans Augen leuchteten auf. Er griff nach Rods Arm. „Ich hatte gehofft, daß Ihr so reden würdet, Freund Gallowglass.
Bleibt sitzen und hört die Wahrheit meines Komplotts.“
Rod schüttelte seine Hand ab. „Zieht Euer Schwert!“
„Nein, das würde ich nie gegen einen Freund. Ich habe Euch einen Streich gespielt, aber es war zu einem guten Zweck. Ihr sollt alles erfahren!“
„Ich hörte, was ich wollte.“ Rod machte sich daran, den Degen zu ziehen. Wieder griff Tuan nach Rods Unterarm, und diesmal ließ er sich nicht abschütteln. Langsam, aber unaufhaltsam, wurde sein Rapier in die Scheide zurückgezwungen.
„Setzt Euch!“ sagte Tuan und drückte Rod so leicht, daß man meinen konnte, er sei ein Kind, auf den Stuhl zurück. Dann ließ er seinen Arm los und lächelte ihn herzlich an, als wäre nichts geschehen. „Die Königin gibt uns Geld, und die Bettler wissen es, aber immer Almosen annehmen zu müssen, erweckt brennenden Grimm in den Beschenkten. Wenn wir Freunde für Catherine gewinnen wollen, müssen wir einen Weg finden, diesen Ärger in Dankbarkeit zu verwandeln. Also müssen wir die Unterstützung der Königin als etwas anderes denn ein Geschenk erscheinen lassen.“
„Und Ihr habt diesen Weg gefunden?“
„Nicht ich“, gestand Tuan, „sondern der Spötter. Er stellte mir das Rätsel:,Wann ist ein Geschenk kein Geschenk? Und als ich die Antwort nicht wußte, löste er es selbst:,Wenn es dem, der es bekommt, rechtmäßig zusteht! „
Tuan breitete die Hände aus. „Ihr seht also, wie einfach es ist. Die Bettler marschieren zur Burg und verlangen von der Königin Brot und Fleisch, weil es ihnen rechtmäßig zusteht. Sie wird es ihnen geben, und sie werden dafür dankbar sein.“ Rod lächelte. „Sehr schlau ausgedacht.“ Er nickte, aber insgeheim dachte er: Wenn es funktionierte! Aber es wird nicht! Menschen mit Geld spenden gern für wohltätige Zwecke, aber sie geben keinen Cent, wenn man ihnen sagt, sie müßten es. Und wie dankbar werden die Bettler sein, wenn sie ihre Forderung zurückweist und ihre Armee ruft, um sie zu vertreiben? Doch selbst wenn sie auf ihr Verlangen einginge, was dann? Was war dann mit dem Machtgefühl, das sie ihnen damit gäbe? Bettler, die eine Königin zu etwas zwingen! Sie würden nicht bei Brot und Fleisch haltmachen. Schon in einer Woche kämen sie mit weiteren Forderungen an — mit oder ohne Tuan! O ja, es war ein schlauer Plan, und man hatte Tuan damit ganz schön eingeseift. Der Spötter konnte nur gewinnen — und mit ihm die außerplanetaren Totalitärsten, die dahintersteckten.
Aber Tuan meinte es gut. Er strahlte geradezu von innen heraus. Zwar war er ein wenig naiv, was Politik betraf, aber wie gesagt, seine Absicht war wohlgemeint. Rod hob seinen Krug zu einem tiefen Schluck. „Und doch behaupten einige, daß das Haus Clovis Catherine stürzen will.“ „Nein! Nein!“ rief Tuan erschrocken. „Ich liebe die Königin!“ Rod studierte das ehrliche, offene Gesicht des Jungen. „Ich auch“, sagte er, leider wahrheitsgetreuer, als ihm lieb war. „Trotzdem erkenne selbst ich, daß sie nicht sehr klug handelt.“ Tuan seufzte tief und murmelte: „Das stimmt. Sie meint es so gut, aber sie geht nicht richtig vor. Sie versucht, an einem Tag gutzumachen, was ihre Vorfahren in Jahrhunderten falsch gemacht haben. Es gibt so viel Unrecht in dem Königreich, doch ein Haufen Unrat läßt sich nicht mit einem Schaufelhub beseitigen.“
„Vor allem kann der Salpeter darunter sich als ungemein explosiv erweisen“, brummte Rod.
„Die Hohen Lords begreifen nicht, daß sie den Teufel vertreibt“, fuhr Tuan fort. „Sie sehen nur, daß sie diesem Land nur eine Stimme geben will — ihre!“
„Nun“, Rod hob seinen Krug. Sein Gesicht war düster vor Resignation. „Auf sie! Hoffen wir, daß sie es schafft!“
„Wenn Ihr glaubt, daß das möglich ist, seid Ihr ein größerer Narr als ich — dabei bin ich weit und breit als ausgesprochener Tor verschrien.“
Rod senkte den Krug, ohne getrunken zu haben. „Sprecht Ihr aus allgemeiner Überzeugung, oder denkt Ihr an Einzelheiten?“
Tuan drückte eine Zeigefingerkuppe an die andere. „Ein Thron ruht auf zwei Beinen: erstens auf den Ed-. len, die alles Neue ablehnen und deshalb gegen die Königin sind. In Ruhe gelassen, würden sie sich vielleicht mit ihr abfinden, aus Verehrung für ihren Vater. Aber da sind noch die Ratgeber.“
„Ich nehme an, die Hohen Lords tun, was die ihnen raten?“
„Oder was sie ihnen raten, nicht zu tun. Was in etwa auf das gleiche heraus kommt. Und die Ratgeber sprechen mit nur einer Stimme — Durers!“
„Durer? Wer ist er?“ fragte Rod stirnrunzelnd.
„Der Ratgeber Lord Loguires.“ Tuans Lippen verzogen sich bitter. „Er hat Einfluß auf Loguire, was ein wahres Wunder ist, denn der Herzog ist ein ausgesprochen eigensinniger Mann.
Solange Loguire lebt, hat Catherine eine Chance. Doch wenn er stirbt, fällt sie, denn Loguires Erbe haßt die Königin. Der Lord hat zwei Söhne. Der jüngere ist ein Narr, der seinen schlimmsten Feind für seinen besten Freund hält. Und der ältere ist ein Hitzkopf, der unter Durers Schmeicheleien dahinschmilzt. Und so wird der Titelerbe, Anselm Loguire, tun, was Durer ihm sagt.“
Wieder hob Rod den Krug. „Dann wollen wir Lord Loguire ein langes Leben wünschen.“
„Ja“, erwiderte Tuan inbrünstig. „Denn Anselm hegt einen tiefen Groll gegen die Königin.“
„Wieso?“ fragte Rod.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Tuan bedrückt.
„Er und Durer wollen also den Sturz der Königin? Und die anderen Lords tun, was sie vorschlagen — wenn der alte Loguire erst tot ist. Das also ist ein Bein des Thrones. Und das andere?“
„Zweitens“, fuhr Tuan fort, „das Volk: die Bauern, Handwerker und Kaufleute. Sie alle lieben sie, weil sie ihnen das Leben erleichtert, aber sie fürchten sie auch, ihrer Hexen wegen.“
„Ah ja. Ihre — Hexen.“ Rod bemühte sich, wissend auszusehen, während sich in seinem Kopf alles drehte. Hexen als politisches Element!
„Seit Jahrhunderten“, erklärte Tuan, „wurden die Hexen Folterungen unterzogen, bis sie dem Teufel ent sagten, oder sie mußten die Wasserprobe erdulden. Und wenn alles versagte, Wurden sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt.“
Einen Augenblick empfand Rod ein ungeheures Mitleid mit ganzen Generationen von Espern, diesen Menschen mit übersinnlichen Fähigkeiten, die es hier also alles andere als leicht gehabt hatten.
„Aber die Königin beschützt sie jetzt, und man munkelt sogar, daß sie selbst eine Hexe ist.“
Es gelang Rod, seine geistige Benommenheit lange genug abzuschütteln, um zu krächzen: „Ich nehme an, daß diese Tatsache das Volk nicht gerade zu Begeisterungsstürmen und unerschütterlicher Loyalität veranlaßt?“
Tuan biß sich auf die Lippe. „Sagen wir, es ist unsicher…“
„Es hat die Hosen voll“, übersetzte Rod. „Aber mir ist aufgefallen, daß Ihr die Bettler nicht als Teil des Volkes gezählt habt.“
Tuan schüttelte den Kopf. „Nein, sie stehen abseits. Keiner sieht sie gern, alle schauen auf sie herab. Doch aus diesem
fehlerhaften Holz beabsichtige ich, ein drittes Bein für den Thron der Königin zu schreinern.“
Rod lehnte sich zurück. „Vielleicht habt Ihr da etwas, das die Königin in der Tat braucht.“ Er nahm einen tiefen Schluck Wein. „Ich nehme an, daß die Ratgeber alles tun, um die Furcht des Volkes noch zu schüren?“
Tuan schüttelte verwirrt den Kopf. „Nein, nichts dergleichen.
Man könnte fast glauben, sie wüßten überhaupt nicht, daß es das Volk gibt.“ Er spielte mit seinem Becher. „Aber es ist gar nicht nötig, das Volk darauf aufmerksam zu machen, daß es Grund zur Furcht hat, denn alle sehen, daß die Hexen nicht imstande sind, das Gespenst vom Burgdach zu vertreiben.“
Rod schaute ihn verwundert an. „Na, so soll es sich doch heiser schreien auf den Zinnen, wenn es ihm Spaß macht. Es tut ja niemandem etwas, oder?“
Tuan schüttelte erstaunt den Kopf. „Kennt Ihr denn die Bedeutung dieses Gespensts nicht, Rod Gallow-glass? Wenn sich eines dieser Art auf dem Dach zeigt, stirbt jemand im Haus. Und jedesmal, wenn das Gespenst über die Zinnen wandelte, ist die Königin dem Tod nur durch Haaresbreite entronnen.“
„Oh?“ Rod hob eine Braue. „Durch den Dolch? Einen fallenden Stein? Gift?“
„Gift.“
Rod rieb das Kinn. „Gift, die Waffe der Aristokraten. Die Armen können es sich nicht leisten. Wer unter den Hohen Lords haßt Catherine so sehr?“
„Keiner!“ rief Tuan entsetzt. „Nicht einer würde so tief sinken, es wäre ehrlos!“
„Aha, die Ehre gilt hier also noch etwas, hm? Vergessen wir also die Edlen. Doch es muß jemand sein, der auf ihrer Seite ist. Wie wäre es mit den Ratgebern? Aber was gewinnen sie durch ihren Tod? Außer, natürlich, einer legt es darauf an, seinen Herrn als Monarchen zu sehen und so selbst zum
Ratgeber des Königs aufzusteigen…“
Tuan nickte. „Das wünschen sie sich vielleicht alle, Freund Gallowglass.“
In Gramayre war eine außerplanetare Kraft am Werk mit einer höheren Technologie und sophistischer Politischer Philosophie. Die Edlen wurden allmählich gespalten und das Volk durch das Haus Clovis gegen die Aristokraten aufgewiegelt. Die zwölf Herzogtümer würden zu Baronien aufgeteilt werden und diese wiederum zu kleinen Gemeinden, bis echte Anarchie vorherrschte. Zweifellos waren die Ratgeber die Agenten dieser außerplanetaren Macht, und arbeiteten systematisch auf die Anarchie hin. Die Frage war nur, weshalb? Doch das Warum konnte warten. Von momentaner Bedeutung war, daß Schurkerei, die neben Lord Loguire saß und deren Name Durer war, am Werk war. Und Durers vorrangiges Ziel war Catherines Tod.
Ein Schatten am Burgtor klammerte eine Hand um Rods Schienbein.
„Halt, Rod Gallowglass, Ihr müßt sofort zur Königin als Nachtwache“, brummte Brom O'Berin.
Rod fragte sich immer noch, wie Brom gewußt haben konnte, woher er gerade kam, als sie zum Audienzsaal der Königin gelangten. Natürlich hatte er seine Spitzel im Haus Clovis, aber wie konnten sie ihn vor ihm erreicht haben? Rod folgte Brom in den prächtigen Saal. Zwei schwere, geschnitzte Sessel standen zu jeder Seite des Kamins, zwei weitere am Tisch. Catherine saß in einem der letzteren, mit dem Kopf über ein ledergebundenes Buch gebeugt. Etwa ein halbes Dutzend ähnliche lagen aufgeschlagen daneben. Catherine hob den Kopf und sah Rod an. „Willkommen“, sagte sie. Ohne die schwere Krone, die sie auf dem Tisch abgelegt hatte, wirkte sie irgendwie kleiner. „Wart Ihr im Haus Clovis?“ erkundigte sie sich.
Rod nickte bejahend mit leicht spöttischem Lächeln.
„Genau wie Ihr sagtet, meine Königin.“ Broms Stimme klang grimmig. „Aber woher wußtet Ihr…“
„Darüber solltet Ihr Euch nicht den Kopf zerbrechen, Brom O'Berin.“
„Woher?“ echote Rod. „Durch Spitzel, natürlich. Ein ausgezeichnetes Informantennetz muß es sein, daß sie so schnell davon erfuhr.“
„Nein“, versicherte ihm Brom selbst verwirrt. „Wir haben nur sehr wenige Spione, denn Loyalität ist etwas Seltenes in diesem dunklen Zeitalter, und wir haben überhaupt keine Spitzel im Haus Clovis.“
„Nein“, bestätigte Catherine, „und doch weiß ich, daß Ihr heute von Tuan von den Bettlern hörtet.“ Ihre Stimme klang fast sanft, als sie den Zwerg anschaute. „Brom…?“
Der Troll lächelte, verbeugte sich und verließ den Raum.
Catherine schritt zum Kamin und starrte in das Feuer. Ihre Schultern hingen herab, und sie wirkte einen Augenblick so zerbrechlich und einsam — und so wunderschön im Schein der Flammen, daß es Rods Kehle zuschnürte. Doch dann straffte sie die Schultern, und ihr Kopf drehte sich ihm scharf zu. „Ihr seid nicht, was Ihr zu sein vortäuscht, Rod Gallowglass. Sagt mir, was Ihr seid!“
Rod zuckte hilflos die Schultern und versuchte, so unschuldig wie nur möglich auszuschauen. „Ein Söldner, nicht mehr und nicht weniger, Eure Majestät.“
„Aber nur als Nebenberuf, und weil es Euch Spaß macht. Und nun verratet mir, was Eure wirkliche Profession ist!“
Rods Gedanken überschlugen sich. Er überlegte sich mehrere Lügen, doch dann entschloß er sich zu der simpelsten Antwort: „Meine Profession ist, Euer Leben zu schützen, Majestät.“
„Tatsächlich!“ Catherines Augen wirkten spöttisch. „Und wer hat Euch dazu ausgebildet? Wer hält so viel von mir, daß er Euch geschickt hat?“
Plötzlich sah Rod durch den Spott und die äußere Härte. Es war alles nur eine Maske, ein Schild, hinter dem sich ein sehr verängstigtes, sehr einsames kleines Mädchen verbarg, das sich nichts mehr wünschte, als jemandem vertrauen zu können. Aber sie hatte zu viele schlechte Erfahrungen gemacht, als daß sie es wagte, überhaupt noch jemandem zu trauen.
Er schaute ihr in die Augen mit seinem sanftesten, ehrlichsten Blick und sagte: „Ich habe keinen Herrn über mir, meine Königin. Ich selbst habe mich geschickt, aus Liebe zu Catherine, der Königin, und Loyalität gegenüber dem Land Gramayre.“
Etwas wie Verzweiflung flackerte in ihren Augen. Ihre Hände verkrampften sich in der Sessellehne. „Liebe!“ murmelte sie, doch schon glitzerte wieder der Spott aus ihrer Miene. „Ja, Liebe — für Catherine, die Königin.“ Sie schaute ins Feuer.
„Doch sei es, wie es mag. Ich glaube ehrlich, daß Ihr ein Freund seid, doch ich kann nicht sagen, wieso ich es weiß. Was führte Euch heute abend ins Haus Clovis?“
Stimmt, auch das hatte sie gewußt. Ob sie Gedanken lesen konnte? Er konzentrierte sich darauf, Gekab zu rufen und kratzte sich am Kinn, denn so würde das Mikrophon den Laut aufnehmen. „Ja, Rod?“ fragte eine außerhalb seines Kopfes unhörbare Stimme.
„Woher wißt Ihr, daß ich dort war?“
Catherine widmete ihm einen verächtlichen Blick. „Nun, ich wußte, daß Ihr mit Tuan Loguire gesprochen habt — und wo sonst, als im Haus Clovis?“
Und woher wußte sie, daß er mit Tuan zusammengewesen war? Tuan — Loguire? Loguire! „Verzeiht, Majestät, sagtet Ihr tatsächlich Tuan Loguire? Ich dachte, sein Name sei — uh -
McReady.“
Catherine lachte. „O nein! Er ist der zweite Sohn des Hohen Lords Loguire. Wußtet Ihr das denn nicht?“
Zweiter Sohn! Dann war Tuan selbst der Narr, den er als solchen bezeichnet hatte! Und sein älterer Bruder war der Mann, der einen „alten Groll gegen die Königin“ hegte und der eine der Hauptbedrohungen für den Thron war. „Nein“, murmelte Rod. „Das wußte ich nicht.“ Gekabs Stimme murmelte: „Die Daten deuten auf das Vorhandensein eines ausgezeichneten Nachrichtendienstes hin.“ Rod stöhnte innerlich. Roboter waren vielleicht eine Hilfe! Er starrte Catherine an: „Ihr sagtet, Ihr hättet keine Spione im Haus Clovis, und wenn anzunehmen ist, daß Ihr die Wahrheit sprecht, bedeutet das…“
Er ließ den Satz unbeendet. Gekab würde schon für den Rest sorgen. Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann summte es heftig hinter Rods Ohr, und schließlich klickte es. Rod fluchte lautlos. Wenn Catherine keine Spione hatte, konnte sie logischerweise nicht wissen, was sie wußte. Er hatte damit also Gekab wieder einmal ein Paradoxon zu lösen gegeben, und der Schaltkreis des Roboters war kurzgeschlossen. Epileptische Roboter konnten einem schon zur Verzweiflung bringen! Catherine funkelte ihn an. „Natürlich spreche ich die Wahrheit!“
„Das bezweifle ich auch nicht. Aber Ihr seid schließlich eine Herrscherin und so erzogen. Und gewiß war eine der ersten Lektionen, zu lügen, ohne eine Miene zu verziehen.“ Catherines Gesicht erstarrte. Sie beugte den Kopf und betrachtete ihre Hände. Als sie wieder hochschaute, waren ihre Züge gespannt, und sie hatte die Maske abgelegt. Ihre Augen wirkten gequält. „Wieder einmal trog meine Ahnung mich nicht“, murmelte sie. „Ihr versteht mehr als nur das Soldatenhandwerk, Rod Gallowglass!“
Rod nickte schwer. Er hatte einen weiteren Fehler begangen. Söldner beschäftigen sich nicht mit Politik. „Sagt mir, wie Ihr heute abend ins Haus Clovis kamt.“ „Meine Königin“, erwiderte Rod ernst. „In einer Gasse war ein
Mann von drei Schurken überfallen worden. Ich stand ihm bei, und er nahm mich mit ins Haus Clovis, um mir mit einem Krug Wein zu danken. Auf diese Weise lernte ich Tuan Loguire kennen.“
Sie zog nachdenklich die Brauen zusammen. „Wenn ich Euch nur glauben könnte“, murmelte sie. Wieder ließ sie Schultern und Kopf hängen. „Ich werde in der Stunde der Wahrheit, die bevorsteht, alle meine Freunde brauchen“, murmelte sie. „Und ich glaube, Ihr seid der wahrste meiner Freunde, wenn ich auch nicht sagen kann, weshalb.“ Sie hob den Kopf zu ihm, und da sah er, daß ihre Augen tränenverschleiert waren. „Die Zeit ist nah, da jeder der Hohen Lords sich für oder gegen mich entscheiden muß, und ich fürchte, nur wenige werden meinem Banner folgen.“
Sie trat näher zu ihm, mit einem zitternden Lächeln auf den Lippen. Rods Herz pochte heftig in seinen Ohren. Dicht vor ihm blieb sie stehen und berührte das Medaillon um ihren Hals.
„Werdet Ihr mir an jenem Tag zur Seite stehen, Rod Gallowglass?“
Rod nickte verlegen und murmelte ein Ja. In diesem Moment hätte er ihr sicher die gleiche Antwort gegeben, selbst wenn sie seine Seele verlangt hätte. Und dann plötzlich war sie in seinen Armen, geschmeidig, grazil, und ihre Lippen vereinten sich mit seinen.
Einen zeitlosen Augenblick später senkte sie den Kopf und machte einen Schritt zurück, doch sie hielt sich an seinem Arm fest, als brauchte sie eine Stütze.
„Ich bin eine schwache Frau!“ murmelte sie. „Geht jetzt, Rod Gallowglass, mit dem Dank einer Königin.“ Sie sagte noch etwas, das Rod nicht so recht verstand, und irgendwie fand er sich auch schon vor der Tür in dem fackelerhellten Korridor.
Was immer man auch von ihren politischen Fähigkeiten halten mag, dachte er, sie versteht jedenfalls, einen Mann in ihre Dienste zu binden.
Er stolperte und fing sich. Das, wogegen er geprallt war, schob eine Hand an seine Hüfte, um ihn zu stützen. „Paß doch auf deine großen Füße auf“, brummte Brom O'Berin, „ehe du dir den Kopf einschlägst und die Fliesen beschmutzt.“ Der Zwerg studierte ihn besorgt, doch dann nickte er befriedigt. „Was brachte die Unterredung mit Catherine, Rod Gallowglass?“ fragte er.
„Was sie brachte?“ fragte Rod stirnrunzelnd. „Nun, ich leistete ihr den Treueid…“
„Ah!“ Brom nickte und es wirkte fast mitleidig. „Was mehr könntest du verlangen!“
Ja, was mehr konnte er verlangen? Er straffte das Kinn und plötzlicher Ärger stieg in ihm auf. Dieses Mädchen bedeutete ihm nichts — sie war nur eine Figur in dem großen Spiel, ein Werkzeug, mit dessen Hilfe sich eine Demokratie aufbauen ließ. Und warum wurde er so wütend? Dazu hatte er auch kein Recht! Zum Teufel! Er brauchte eine objektive Analyse.
„Gekab!“ Er wollte es gar nicht laut sagen, aber es entfuhr ihm wie Donnerhall. Brom O'Berin schaute ihn erstaunt an. „Was ist Gekab?“ wollte er wissen.
„Mein Rappe“, erklärte Rod verlegen, und da fiel ihm erst ein, daß der Roboter ja wieder einmal einen Kurzschluß hatte. „Ich habe mich heute nacht noch nicht um ihn gekümmert, und er ist die einzige Seele, der ich unbesorgt anvertrauen kann.“
Broms Augen wurden weich, er lächelte gütig. „Du bist nun einer von uns, Rod Gallowglass, einer der wenigen, die der Königin treu ergeben sind.“
Rod las die Zuneigung in den Augen des Trolles und fragte sich, was den Zwerg an Catherines Dienste band — und plötzlich haßte er sie wieder, weil es ihr Spaß machte, die Männer zu benutzen. Mit wütenden Riesenschritten eilte er den Korridor weiter, daß Brom seine liebe Not hatte, neben ihm zu bleiben.
„Wenn meine Menschenkenntnis mich nicht trügt“, knurrte er durch die Zähne, „so hat die Königin einen weiteren Freund im Haus Clovis, und doch nennt sie ihn ihren Feind. Wieso, Brom? Deshalb, weil er der Sohn ihres Feindes, des Herzogs Loguire ist?“
Brom hielt ihn mit der Hand an der Hüfte an und schaute mit halbem Lächeln zu Rod hoch. „Nicht ihr Feind, Rod Gallowglass, sondern jemand, den sie wahrhaft liebt. Er ist ihr Onkel, ihr Blutsverwandter, der sie fünf Jahre bei sich aufnahm und sich um sie sorgte, während ihr Vater die rebellierenden Barone im Norden niederwarf.“
Rod nahm die Augen nicht von Brom O'Berin. „Sie zeigt ihre Liebe auf seltsame Weise.“
Brom nickte. „Wahrlich seltsam, aber zweifle nicht daran, daß sie ihn liebt, sowohl den Herzog als auch seinen Sohn Tuan. Es ist eine lange verwickelte Geschichte, und das Ende und der Anfang ist Tuan Loguire.“
„Der Bettlerkönig?“
„Ja“, Brom nickte schwer. „Der Herr des Hauses Clovis.“
„Der die Königin liebt.“
„Der sie liebt und auch kein Hehl daraus macht.“
„Aber du glaubst ihm nicht?“
Brom verschränkte die Hände hinter seinem Nacken und stapfte mit gesenktem Kopf weiter. „Er spricht entweder die Wahrheit, Rod Gallowglass, oder er ist ein glaubhafter Lügner.
Er wurde von seinem Vater zur Wahrheit erzogen, und doch ist er Herr des Hauses Clovis, Herr jener, die darauf bestehen, daß der Herrscher wie der alte König Clovis gewählt werden soll, nämlich durch die Anerkennung jener, über die er herrscht.“
„Na ja, da haben sie die Geschichte ein wenig verfälscht“, brummte Rod. „Aber ich nehme an, ihre Pläne verlangen Catherines Sturz?“
„Ja. Und wie kann ich ihm da glauben, wenn er sagt, daß er sie liebt?“ Brom schüttelte traurig den Kopf. „Er ist ein äußerst wertvoller Mensch, großherzig, ehrlich und ein Troubadour,
der mit Laute, Liedern und Worten genauso gut umzugehen versteht wie mit dem Schwert. Er war immer von Grund auf anständig, und Unredlichkeit kannte er nicht.“ „Du scheinst ihn wohl recht gut gekannt zu haben.“ „O ja, das tat ich allerdings, aber kenne ich ihn jetzt noch?“ Brom seufzte tief und schüttelte den Kopf. „Als sie mit sieben auf die Burg der Loguires im Süden kam, war Tuan acht. Sie spielten und tobten unter meiner Aufsicht, und sie waren so unschuldig, Rod Gallowglass, und so glücklich. Er liebte sie schon damals. Er pflückte ihr Blumen für einen Kranz, und als sie versehentlich einen kostbaren Kelch zerbrach, nahm er die Schuld auf sich.“
„Damit verzog er sie nur“, brummte Rod. „Ja, aber er war nicht der einzige, der ihr den Narren machte, denn schon damals war sie die schönste aller Prinzessinnen. Doch über ihrem Glück stand ein düsterer Schatten, ein Bursche von vierzehn, der Erbe des Titels und der Ländereien — Anselm Loguire. Mit finsterem Gesicht schaute er vom Turm auf die beiden herab, wenn sie spielten. Er allein im ganzen Land haßte Catherine Plantagenet — warum weiß niemand.“ „Und er haßt sie immer noch?“
„Ja, und wir können deshalb dem Herzog Loguire nur ein besonders langes Leben wünschen. Nun, jedenfalls wuchs Anselms Haß noch fünf weitere Jahre, bis Catherines Vater sie nach seinem erfolgreichen Feldzug zurückholte. Damals schworen Tuan und Catherine — sie elf, er zwölf —, daß sie einander nie vergessen und sie auf ihn warten würde, bis er sie holen käme.“ Brom schüttelte traurig den Kopf. „Und mit neunzehn kam er auch, ein goldener, gutaussehender Prinz, breitschultrig, mit geschmeidigen Muskeln, mit Laute und Schwert. Und sie war achtzehn, bereit für einen Mann, und ihr Kopf mit Träumen erfüllt, wie sie einem Mädchen aus Büchern und Balladen erwachsen. Sie liebte ihn natürlich — welche Frau hätte es nicht getan? Er wußte nicht, wozu eine Frau da war, das könnte ich beschwören, und sie genausowenig, aber es könnte sein, daß sie es gemeinsam lernten. Ihr dürft mir glauben, sie hatten jede Gelegenheit dazu.“ Brom runzelte finster die Stirn. „Doch in jenem Frühjahr starb ihr Vater, und sie mußte das Zepter ergreifen. Und als Catherine die Krone aufsetzte, wurde ihr plötzlich klar, daß Tuan nur ein zweiter Sohn war und so nicht mehr als die Ehre seiner Familie erbte. Da behauptete sie, daß er sie gar nicht wirklich liebte, sondern es nur auf den Thron abgesehen hatte. Voll Grimm und Verachtung schickte sie ihn fort — ob mit oder ohne echten Grund konnten nur die beiden selbst wissen. Sie verbannte ihn in die Wildnis, mit einem Preis auf seinen Kopf, und dort sollte er unter den Tiermenschen und Elfen leben oder sterben.“ Wieder schwieg er. „Und Herzog Loguire erhob sich in berechtigtem Zorn?“
„Ja“, erwiderte Brom und knirschte mit den Zähnen. „Und all seine Lehnsmänner mit ihm, und die Hälfte der Edlen obendrein. Wenn Tuan sein Freien falsch angestellt hatte, sagte Loguire, so hatte er Grimm und Verachtung verdient, aber Verbannung war die Strafe für Hochverrat.,Und ist es nicht Hochverrat, nach der Krone greifen zu wollen? entgegnete Catherine hitzig. In kaltem Stolz versicherte Loguire ihr, daß Tuan nichts weiter als ihre Liebe begehrt hatte. Aber seine Worte klangen hohl, denn der, der die Königin heiratet, wird regieren. Und das sagte sie ihm auch. Da erklärte Loguire ihr voll Trauer, daß sein Sohn kein Verräter war, sondern ein Narr — ein Narr, weil er ein so dummes verzogenes Gör hofierte. Und wieder wollte Catherine Hochverrat schreien, hätte ich sie nicht davon abgehalten.“
„Und doch sagst du, sie liebt Loguire und Tuan?“ „Ja, denn warum sonst solche Härte?“ Wieder schwieg Brom. Rod räusperte sich. „Tuan schien nicht lange in Verbannung geblieben zu sein…“
„Der Narr wollte in ihrer Nähe sein, auch wenn er damit sein Leben verwirkte. Doch mit einem Preis auf seinen Kopf mußte er wie ein Mörder oder Dieb leben.“
Rod lächelte säuerlich. „Und irgendwie kam er auf die Idee, daß die Bettler zur geringeren Plage würden, wenn jemand sich ihrer annahm.“
Brom nickte. „Und so wurden die Bettler zu einer gewissen Macht. Aber Tuan schwört, er wird all seine Kräfte einsetzen, um der Königin den Rücken zu decken. Er behauptet, er liebe sie und würde es selbst dann noch, wenn sie ihn enthaupten ließe.“
„Und sie sagt natürlich, er hätte allen Grund, sie zu hassen?“
„Damit hat sie auch recht. Trotzdem bin ich der Überzeugung, daß Tuan sie nicht haßt.“
Sie hatten die Tür zum Wachraum erreicht. Rod griff nach der Klinke. Er lächelte zu Brom O'Berin hinab und schüttelte traurig den Kopf. „Hirnverbohrt sind die beiden“, murmelte er.
„Zärtlich liebende Feinde! Doch jetzt gute Nacht, Freund Gallowglass.“ Er drehte sich auf dem Absatz und stapfte davon.
Rod schaute ihm nach. „Ich bin selbst ein Narr“, murmelte er.
„Zu denken, Brom stünde ihr bei, weil er in sie verliebt ist! Na ja, auch Gekab macht Fehler…“
Die große Kerze im Schlafraum war zu einem Stummel herabgebrannt. Die Zeit wurde in Gramayre mit rot und weiß geschichteten Kerzen gemessen — sechs weiße und sechs rote Ringe. Eine Kerze wurde am Morgen, die andere zwölf Stunden später angezündet. Nach der Kerze war es drei Uhr Morgens. Rods bleierne Müdigkeit wuchs noch, als er daran dachte, daß eine Stunde auf Gramayre nach galaktischen Standard etwa achtzig Minuten waren.
Als er ins Bett steigen wollte, stolperte er über Tom. Er hatte vergessen, daß er am Fuß seines Bettes auf dem Boden lag.
Der Riese richtete sich gähnend auf. „Ah, guter Herr, welche
Zeit haben wir?“
„Die neunte Stunde der Nacht“, erwiderte Rod. „Schlaf weiter, Tom. Ich wollte dich nicht wecken.“
„Dafür bin ich hier, Meister.“ Er schüttelte sich, um den Schlaf zu vertreiben. Das war etwas merkwürdig, wie Rod plötzlich bewußt wurde, denn Toms Augen hatten hell wach gewirkt. Sofort breitete sich wieder das Mißtrauen in ihm aus. Um nicht peinliche Fragen beantworten zu müssen, brummte er: „Ich bin schrecklich müde, Tom. Gute Nacht!“ Er ließ sich auf das Bett fallen, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Und dann trug der Wind auch noch Geräusche eines fröhlichen Festes herbei. Ein Fest? Er rollte sich aus dem Bett und schlich auf Zehenspitzen zu den hohen Fensterschlitzen. Tom war nicht aufgewacht. Wer feierte zu einer solch späten, oder vielmehr frühen Stunde? Ein Mond stand hinter den Zinnen des Nordturms. Jugendliche Gestalten wiegten sich in einem dreidimensionalen Tanz, und einige davon schienen auf Besenstielen zu reiten. Hexen! Im Nordturm!
Rod kletterte die Wendeltreppe mit den abgetretenen Steinstufen hoch. Er sagte sich zur Beruhigung immer wieder, daß die Elfen ihn für einen Zauberer hielten und er deshalb quasi zur Aufnahme in dieser Gruppe berechtigt war. Aber trotzdem war sein Mund trocken, und ein Stein schien ihm im Magen zu liegen. Zwar hatten die Elfen ihn anerkannt, aber würden die Hexen es ebenfalls tun? Sein Trost war, daß es sich bei ihnen um fröhliche Hexen handelte.
Durch den Rauch der Fackeln sah er Paare an den Wänden, der Decke, mitten in der Luft und hin und wieder sogar auf dem Boden tanzen. Da und dort unterhielten sich kleinere Gruppen kichernd. Alle waren auffallend bunt gekleidet. Und sie alle waren noch so jung, gewiß nicht mehr als Teenager, daß er sich nun doch fehl am Platz fühlte. Aber der Junge am Weinfaß erblickte ihn als erster. „Heil!“ rief er grinsend. „Ihr habt Euch
verspätet!“ Er drückte Rod einen vollen Krug in die Hand.
„Ich wußte nicht, daß ich kommen würde“, brummte Rod.
„Seid versichert, wir sehr wohl.“ Wieder grinste der Junge.
„Molly sah es voraus, aber sie dachte, Ihr müßtet eigentlich schon seit einer halben Stunde hier sein.“
„Tut mir leid, ich wurde aufgehalten“, murmelte Rod verwirrt.
„Ihr braucht Euch nicht zu entschuldigen. Molly hat sich eben verrechnet. Der Wein, vermutlich. Aber wir erwarten Euch eigentlich schon, seit Ihr Fuß in die Burg setztet. Die Elfen erzählten uns vergangene Nacht, daß Ihr ein Zauberer seid.“
„Unsinn! Ich bin genausowenig ein Zauberer wie ihr — oh…“
„Natürlich seid Ihr ein Zauberer.“ Der Junge nickte weise.
„Und ein mächtiger noch dazu. Seid Ihr vielleicht nicht in einem Kometen gekommen?“
„Das ist Wissenschaft, nicht Magie! Ich bin kein Zauberer!“
„Ob es Euch nun bewußt ist oder nicht, Ihr seid einer.“ Er salutierte mit dem Krug. „Und deshalb einer von uns.“
Rod hob ebenfalls den Krug und trank dankend. Dann sah er sich um und versuchte sich daran zu gewöhnen, daß bei dieser Gruppe hier das Newtonsche Gesetz keine Gültigkeit hatte.
Bewundernd starrte er auf ein wohlgewachsenes Mädchen, das regelrecht aus ihrem Mieder zu quellen schien. Der Junge bei ihr himmelte sie an. Rod fragte sich zynisch nach den Motiven des Burschen.
Das Mädchen schnappte laut nach Luft und warf Rod einen wütenden Blick zu. Sein Kinn klappte hinab, und er begann eine Entschuldigung zu stammeln, doch noch ehe sie richtig über seine Lippen kam, lächelte das Mädchen besänftigt und wandte sich wieder ihrem Partner zu. Mit weitaufgerissenen Augen drehte Rod sich zu dem Jungen am Faß zu. „Ka-kann sie Gedanken lesen?“ stammelte er.
„Natürlich. Das können wir alle ein bißchen, aber sie am besten.“
Rod preßte eine Hand an den Kopf, als könnte er damit die sich überschlagenden Gedanken stoppen. Telepathen! Ein ganzes Zimmer voll! Und in der ganzen Galaxis waren bisher erst zehn echte bekannt! Es war Mutation oder eine besondere Genentwicklung. Er straffte die Schultern und räusperte sich.
„Sag, Junge — uh, wie heißt du überhaupt?“
Verlegen klopfte der Junge sich auf die Stirn. „Verzeiht meine Gedankenlosigkeit, Meister Gallowglass. Ich bin Tobias, und natürlich muß ich Euch erst noch mit den anderen bekanntmachen.“ Er wirbelte Rod zur nächsten Gruppe herum.
„Aber — ich wollte doch nur fragen…“, protestierte Rod.
„Das ist Nell, das Andreyev, das Brian, das Dorothy…“ Eine halbe Stunde und dreiundfünfzig Namen später ließ Rod sich erschöpft auf eine Bank fallen. Was er hier vor sich hatte, war eine aufblühende Esperkolonie mit Menschen, die die Fähigkeit hatten, zu fliegen, in die Zukunft zu sehen und Gedanken zu lesen. Aber wenn sie alle teleportieren konnten, wieso ritten die Mädchen dann auf Besenstielen?
Mit einer leichten Luftverdrängung tauchte Toby plötzlich mit einem vollen Krug neben Rod auf. Rod starrte ihn an, während er dankend nach dem Krug griff. „Uh, sag, könnt ihr levitieren und teleportieren?“
„Wie bitte?“ Toby verstand ihn nicht.
„Ich meine, ihr könnt doch fliegen? Und euch von einem zum anderen Ort wünschen?“
„O ja.“ Toby grinste. „Das können wir alle.“
„Was? Fliegen?“
„Nein, uns an einen Ort wünschen, den wir kennen. Alle Jungen können fliegen, aber die Mädchen nicht.“
Sexgebundene Gene, dachte Rod. Laut sagte er. „Deshalb reiten sie auf Besenstielen?“
„Ja, denn sie wiederum können leblose Gegenstände bewegen, was uns nicht gelingt.“
Aha! Wieder eine Bindung! Telekinese war den Y-
Chromosomen vorbehalten, Levitation den X. Aber alle
konnten sie teleportieren und Gedanken lesen. Eine unschätzbare Esperkolonie. Wenn ihr Leben dem der seltenen Telepathen außerhalb dieses Planeten ähnelte… „Deshalb haßt euch das einfache Volk?“
Tobys fröhliches junges Gesicht wurde ernst, ja fast düster. „Ja, und die Edlen ebenfalls. Sie behaupten, wir stünden mit dem Teufel im Bund. Und es gab diese schrecklichen Wasserproben für uns oder den Feuertod, bis unsere gute Königin Catherine an die Macht kam.“ Er drehte sich um und brüllte: „He, Bridget!“ Ein etwa dreizehnjähriges Mädchen löste sich von ihrem Tanzpartner und erschien abrupt an Tobys Seite. „Freund Gallowglass möchte wissen, wie sehr das Volk uns mag.“
Alle Fröhlichkeit schwand aus dem Gesicht des Kindes. Wortlos öffnete sie den Rücken ihrer Bluse, und ein dichtes Kreuzundquermuster häßlicher Narben kam zum Vorschein. Sie drehte sich Rod zu, während Toby ihre Bluse zuknöpfte. „Das alles nur auf einen Verdacht hin“, murmelte sie. „Und ich war erst zehn Jahre alt.“
Rods Mageninhalt stieg ihm bis zum Hals auf, und er hatte seine Mühe, ihn wieder hinunterzuschlucken. Bridget kehrte zu ihrem Partner zurück und tanzte vergnügt weiter.
„Ihr werdet also verstehen, wieviel Grund wir haben, unserer guten Königin dankbar zu sein.“
„Sie machte Schluß mit den Wasserproben und Verbrennungen?“
„Sie änderte das Gesetz, aber es kam auch weiter heimlich zum Tod auf dem Scheiterhaufen. Es blieb ihr also nur ein Weg, uns zu schützen, indem sie jedem von uns, der sich dafür entschied, Zuflucht gewährte.“
Rod nickte bedächtig. „Es mangelt ihr also doch nicht so ganz an Weisheit.“ Sein Blick wanderte zu Bridget zurück, die gerade an der Decke tanzte.
„Was überlegt Ihr, Freund Gallowglass?“
„Sie haßt sie nicht“, brummte Rod. „Sie hat allen Grund, das Volk zu hassen, aber sie tut es nicht!“
Toby schüttelte mit einem gütigen Lächeln den Kopf. „Weder sie, noch irgendeiner von uns. Alle, die sich in den Schutz des Zirkels der Königin begeben, schwören als erstes, nach Gottes Gesetzen zu leben.“
„Ich verstehe“, murmelte Rod langsam. „Ein Zirkel weißer Hexen. Sind alle Hexen auf Gramayre weiß?“
„Leider nicht. Einige sind so verbittert durch größeres Leiden als unseres — den Verlust eines Auges, oder eines Menschen, der ihnen teuer war, oder sonst etwas —, daß sie sich in der Wildnis oder den Bergen verkrochen, um dort Rache an den Menschen zu üben. Doch sind es kaum mehr als zwanzig. Nur drei stehen noch in der Blüte ihres Lebens, alle anderen sind verschrumpelte Männchen und Weibchen.“
„Die Märchenhexen“, knurrte Rod.
„So kann man sie nennen. Und ihre Untaten sind so weitbekannt, daß alles Gute, was wir tun, daneben verblaßt.“
„Also gibt es zwei Arten von Hexen in Gramayre: die alten und bösen in der Wildnis und den Bergen, und die jungen weißen in der Burg der Königin.“
Wieder schüttelte Toby lächelnd den Kopf. „Nein außer uns gibt es noch gut fünf Dutzend andere weiße Hexen, nur trauten sie dem Schutz der Königin nicht. Sie sind zwischen dreißig und vierzig Jahre alt. Alles gute Menschen, aber mißtrauisch.“
Jetzt verstand Rod. „Darum seid ihr alle so jung! Nur die Hexen, die noch den Wagemut hatten, anderen zu vertrauen, nahmen die Einladung der Königin an! Also kam sie zu einer Gruppe Teenager.“
Toby nickte. „Auch unter den anderen gab es zwei, die den Mut hatten, hierherzukommen. Die eine war die weiseste von allen, die mächtigste der Hexen, sie kam aus dem Süden. Aber sie wird jetzt alt! Sie muß bestimmt schon bald dreißig sein!“
Rod verschluckte sich fast an seinem Wein und mußte heftig husten. Als Toby ihn besorgt ansah, erklärte er: „Es ist nichts, Junge, aber wir Alten müssen uns eben mit solchen Hustenanfällen abfinden. Warum blieb diese Hexe denn nicht?“
„Sie sagte, sie spüre unter uns erst ihr Alter. Wenn Ihr im Süden in Schwierigkeiten geraten solltet, so ruft ihren Namen.
Gwendylon heißt sie, und sie wird Euch mehr Hilfe geben, als Ihr braucht.“
„Ich werde mich daran erinnern“, versprach Rod, auch wenn er nicht die Absicht hatte, sich von einer Frau helfen zu lassen.
„Noch eine Frage, weshalb beschützt die Königin euch?“
Toby starrte ihn ungläubig an. „Das wißt Ihr nicht? Nun, sie ist selbst eine Hexe, zwar ungeschult, aber trotzdem hat sie ihre Fähigkeiten.“
Rod hob eine Braue. „Ungeschult?“
„Ja, unsere Gaben brauchen Übung und Schulung, um sich voll entfalten zu können. Catherine ist eine geborene Hexe, aber sie wurde nicht ausgebildet. Sie kann manchmal Gedanken lesen, aber nicht nach Belieben und nicht sehr deutlich.“
„Hm. Was kann sie sonst noch?“
„Nichts, was wir wüßten. Sie kann nur Gedanken hören.“
Rod kratzte sich am Ohr. „Das ist eine recht praktische Gabe für eine Königin. So weiß sie alles, was in ihrer Burg vor sich geht.“
Toby schüttelte den Kopf. „Könnt Ihr, wenn sich fünf unterhalten, alle gleichzeitig hören, Freund Gallowglass? Und ihnen den ganzen Tag lang zuhören? Und sich dann noch an alles erinnern?“
Rod rieb sich das Kinn und runzelte die Stirn.
„Könnt Ihr auch nur ein Gespräch im Gedächtnis behalten?
Nein, nicht einmal das könntet Ihr — und die Königin kann es genausowenig.“
„Sie könnte alles niederschreiben…“
„Ja, aber vergeßt nicht, sie ist ungeschult, und es bedarf großer
Übung, Gedanken in Worte zu kleiden.“
„Halt!“ rief Rod. „Heißt das, daß ihr Gedanken nicht als Worte hört?“
„Nein. Ein flüchtiger Gedanke genügt, ein ganzes Buch mit Worten zu füllen.“
Inzwischen hatte sich eine ganze Gruppe um sie ge schart.
„Es ist komisch, daß ein Zauberer das nicht weiß“, sagte einer, der Martin hieß.
„Ich erwähnte es schon“, verteidigte sich Rod. „Ich bin gar nicht wirklich ein Zauberer. Ihr müßt wissen…“
Schallendes Gelächter unterbrach ihn. Er seufzte und fand sich mit seinem neuen Ruf ab. „Ich nehme an, daß einige unter euch Gedanken als Worte lesen können?“
„O ja.“ Toby wischte sich die Tränen aus den Augen. „Ist Aldis hier?“
Eine hübsche vollbusige Sechzehnjährige bahnte sich einen Weg durch die Menge. „Wen soll ich für Euch belauschen, Sir Gallowglass?“
Rod kam ein Gedanke. „Durer. Den Ratgeber Lord Loguires.“
Aldis setzte sich auf eine Bank und starrte durch Rod hindurch.
Mit hoher Stimme leierte sie: „Wie Ihr wollt, Mylord. Aber ich frage mich, seid Ihr wirklich loyal?“ Ihre Stimme sank um zwei Oktaven, blieb jedoch weiter eintönig. „Bursche, wagst du es, mich von Angesicht zu Angesicht zu beleidigen?“
„Nein, Mylord, ich frage mich nur, ob es klug ist, die sem Kind — und mehr ist sie ja nicht —, den Willen zu lassen? Sie handelt wahrhaftig wie ein trotziges Balg!“
„Vielleicht“, brummte Loguire. „Aber sie ist die Königin, und ihre Gesetze müssen durchgeführt werden.“
„Selbst wenn die Königin schlimme Gesetze erläßt?“
„Das sind sie nicht, Durer.“ Die tiefe Stimme klang nun unheildrohend. „Kühn, vielleicht, auch gedankenlos, denn was sie heute Gutes bringen, mag sich schon morgen ins Gegenteil verwandeln. Ja, törichte Gesetze, aber sie sind nicht böse gemeint.“
Die hohe Stimme seufzte. „Vielleicht, Mylord. Aber sie setzt die Ehre der Edlen aufs Spiel. Ist das nicht böse?“
„Wie das, Durer? Sie hat nichts getan, das auch nur als Beleidigung ausgelegt werden könnte.“
„Noch nicht, Mylord. Doch der Tag wird kommen…“
„Welcher Tag, Durer?“
„Da sie die Bauern den Edlen vorzieht!“
„Genug mit deinen landesverräterischen Worten!“ donnerte Loguire. „Auf die Knie, Wicht. Und danke deinem Gott, daß ich dir den Kopf lasse.“
Rod starrte Aldis an. Er konnte es immer noch nicht fassen, zwei verschiedene Stimmen aus ihrem Mund zu hören. Ihre Augen nahmen wieder Leben an. „Habt Ihr gehört, Freund Gallowglass? Ich kann mich leider an keines meiner Worte erinnern.“
„Mach dir keine Sorgen, Aldis.“ Rod rieb sich das Kinn. „Ich werde kein einziges vergessen.“ Sein Blick schweifte in die Runde. „Habt ihr das schon einmal gemacht?“ fragte er. „Ich meine, jemanden absichtlich belauscht?“
„Nur die Feinde der Königin. Durer belauschen wir oft“, antwortete Aldis.
„Oh? Und konntet ihr etwas in Erfahrung bringen?“
„Er macht sich in letzter Zeit viel Gedanken über die Bauern.“
„Welches Interesse hat er denn an ihnen?“
Toby grinste wissend. „Er hat Zwist zwischen zwei Bauern auf den Ländereien der Königin gesät. Ein junger Landmann wollte die Tochter eines alten Bauern heiraten, aber der ließ es nicht zu. Und der Junge hätte es wohl aufgegeben, wenn auch verzweifelt und mit gebrochenem Herzen, aber da kam Durer und hetzte ihn auf, und die meisten der Bauern gaben ihm recht, als er fragte, ob er es einfach hinnehmen wollte, daß ein tattriger Idiot ihm das Mädchen, das er liebte, verweigert. Also entführte der Junge das Mädchen und machte ihr ein Kind.“
Rod spitzte die Lippen. „Ich nehme an, Papa war darüber nicht erfreut.“
Toby nickte. „Er schleppte den Jungen vor den Dorfpriester und verlangte, daß man ihn wegen Schändung hänge, aber der Priester sagte, es sei Liebe und nicht Schändung gewesen, und die einzig passende Strafe dafür sei die Ehe und nicht der Galgen.“
Rod grinste. „Das Pärchen war bestimmt sehr traurig darüber.“
„So traurig, daß sie nicht wußten, wohin mit ihrer Freude“, versicherte ihm Toby feixend. „Und der alte Bauer gab seinen Segen.“
„Da mischte sich Durer wieder ein?“
„Allerdings. Vor all ihren Lords und Ladies forderte er die Königin auf, die Gerechtigkeit ihrer neuen Ordnung zu beweisen, indem sie in diesem Fall Gericht sprach, denn waren diese Bauern nicht von ihren eigenen Ländereien?“
Rod grinste und klatschte sich auf die Schenkel. „Sie dürfte gute Lust gehabt haben, ihm ins Gesicht zu spucken!“
„Ihr kennt die Königin nicht. Mit dem größten Vergnügen hätte sie ihm einen Dolch zwischen die Rippen gestoßen, aber sie mußte die Herausforderung annehmen und sich bei ihrer nächsten öffentlichen Rechtsprechung des Falles annehmen.“
„Öffentliche Rechtsprechung? Was ist das?“ fragte Rod.
„Jeden Monat öffnet die Königin eine Stunde ihren Hof, um allen, ob nun Edlen, Bauern und Geistlichen, ihr Ohr zu schenken. Meistens hören die Hohen Lords zu, während der niedrige Adel und das einfache Volk ihre Beschwerden vorbringen, da könnt Ihr Euch sicher vorstellen, daß kaum einer den Mund auch wirklich zu öffnen wagt.“
„Wann ist diese nächste öffentliche Rechtsprechung?“
„Morgen“, antwortete Toby. „Und ich glaube, die Hohen Lords werden dafür sorgen, daß ihre Geistlichen und Bauern gezwungenermaßen gegen die neuen Richter und Priester der Königin protestieren. Natürlich werden die Lords zuerst ihren
Protest vortragen, und die anderen werden es kaum wagen, nicht zuzustimmen.“
Rod nickte. „Aber was verspricht Durer sich davon, diesen Verführungsfall in die Öffentlichkeit zu ziehen?“
„Das weiß nur Durer“, erwiderte Toby.
Rod studierte die jungen Gesichter um sich. „Ist das nicht genau die Information, die die Königin braucht? Warum gebt ihr sie ihr nicht?“
Die Gesichter wurden ernst. Toby biß sich auf die Lippe und schaute zu Boden. „Wir haben es versucht, Freund Gallowglass.“ Er blickte Rod fast flehend an. „Wir haben es versucht, aber sie will uns nicht anhören.“
„Was soll das heißen?“
„Der Page, den wir zu ihr schickten, kam zurück und erklärte, die Königin habe gesagt, wir sollten ihr für den gebotenen Schutz dankbar sein und nicht so unverschämt, uns in ihre Regierungsangelegenheiten zu mischen. Aber vielleicht ist es besser so, denn sie hat auch so genug Sorgen, daß wir sie nicht noch mit Warnungen drohenden Unheils belästigen dürfen.“
Rod grinste freudlos. „Stimmt, mit ihren Edlen und den Bettlern hat sie genug Kummer.“
Toby nickte ernst. „Ja, sie hat mehr als ausreichend Schwierigkeiten mit den Ratgebern, dem Haus Clovis und dem Gespenst auf dem Dach.“
„Ja, Grund genug“, pflichtete Rod ihm bei. „Ich glaube, daß die Angst sie in den Klauen hat.“
Tom setzte sich auf, als Rod auf Zehenspitzen zu seinem Bett schleichen wollte. „Seid Ihr krank, Meister?“ fragte er besorgt.
„Nein, ich konnte nur nicht schlafen. Hast du schon einmal etwas von Kricket gehört?“
„Nein, Meister, was ist das?“
„Ein Spiel. In der Mitte des Spielfelds steht ein Tor, Wicket genannt. Eine Mannschaft versucht, es mit einem Ball zu treffen, während die andere es zu schützen sucht, indem sie den
Ball mit einem Schlagholz aufhält oder ablenkt. Dann wechseln die Mannschaften die Seiten. Die, die das Wicket zuvor angegriffen hat, verteidigt es jetzt.“
„Und was soll das alles, Meister?“ fragte der Riese und schüttelte verwirrt den Kopf.
„Nun, ich wollte eigentlich nur darauf hindeuten, daß, wer immer auch gewinnt, das Wicket ziemlich mitgenommen wird.
Und ich habe das Gefühl, daß hier ein gewaltiges Kricketspiel stattfindet. Nur beteiligen sich statt zwei gleich drei Mannschaften daran: die Ratgeber, die Bettler…“
„Das Haus Clovis“, murmelte Tom.
Rob hob überrascht die Brauen. „Ja, das Haus Clovis. Und natürlich die Königin.“
„Aber wer ist dann das Wicket?“
„Ich.“ Rod warf sich auf das Bett und preßte den Kopf auf das Kissen. „Und jetzt möchte ich schlafen. Gute Nacht.“
„Meister Gallowglass!“ rief eine Jungenstimme.
Rod schloß die Augen und betete um Kraft. „Ja, Page?“
„Eure Dienste werden zum königlichen Frühstück erwartet.“
Rod mußte zugeben, daß Catherine Plantagenet sich in Szene zu setzen verstand. Noch vor Sonnenaufgang standen die Posten Wache vor dem Eßsaal, und alle Lords und Ladies, die die Ehre hatten, am königlichen Frühstück teilzunehmen, kamen gleich nach dem ersten Hahnenschrei an. Doch erst, als alle versammelt waren und schon hungrig das Frühstück beäugten, machte Catherine ihren Auftritt und ließ sich von Lord Loguire an ihren Platz führen.
Jede Platte, die die vier Diener servierten, wurde erst von Brom O'Berin gekostet, der zur Linken der Königin saß. Er probierte von allem, und wenn er nach ein paar Minuten noch lebte, wurde der Königin davon vorgelegt.
Rod stand an der Osttür, wo er auch jetzt Catherine wieder gut sehen konnte, die am Nordende der Tafel saß, mit Lord Loguire zu ihrer Rechten, und Durer wiederum zu dessen.
Durer beugte sich vor und murmelte seinem Herrn etwas zu.
Loguire winkte ungeduldig ab. Er kaute an einem Stück Fleisch und spülte es mit einem Glas Wein hinunter, dann wandte er sich an Catherine. „Eure Majestät, ich mache mir Sorgen.“
Catherine betrachtete ihn kühl. „Wer tut das nicht? Wir müssen mit ihnen fertig werden, so gut wir es können.“
„Meine Sorge gilt Euch und dem Wohlergehen des Königreichs“, erklärte der Herzog gepreßt.
„Nun, ich will doch sehr hoffen, daß das Wohlergehen meiner Person auch Einfluß auf das meines Reiches hat.“
Loguires Nacken lief rot an, aber er ließ nicht locker. „Ich bin erfreut, daß Eure Majestät in einer Bedrohung Eures Wohlergehens auch eine in dem Wohlergehen dieses Landes sieht.“
Catherine zog die Brauen zusammen. „Das tue ich wahrhaftig.“
„Wenn das Leben der Königin bedroht ist, wird das Volk unruhig.“
Catherine legte ihre Gabel nieder und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Ihre Stimme klang mild, ja fast süß. „Ist mein Leben denn bedroht, Mylord?“
„Es hat ganz den Anschein“, erwiderte der Herzog bedächtig.
„Das Gespenst war auch vergangene Nacht wieder auf Eurem Dach.“
Rod spitzte die Ohren.
Catherine preßte die Lippen zusammen und schloß die Augen.
Schweigen senkte sich auf die Tafelnden herab. Brom sagte laut: „Das Gespenst wurde schon mehrmals auf den Zinnen des Turmes gesichtet, und doch lebt Ihre Majestät noch immer.“
„Sei still!“ fuhr Catherine ihn an. Sie straffte die Schultern und griff nach ihrem Weinglas. „Ich will nichts von dem Gespenst hören!“ Sie leerte das Glas und rief nach dem Truchseß, es nachzufüllen. Sofort sprang Durer auf, nahm der Königin das Glas ab und wandte sich damit dem herbeieilenden Truchseß zu, der es aus einer Kanne nachfüllte. Alle machten große
Augen, denn eine solche Höflichkeit Durers gegenüber der Königin war ungewohnt. Er drehte sich ihr wieder zu, ließ sich auf ein Knie vor ihr fallen und streckte ihr das Glas entgegen.
Catherine starrte ihn an, dann nahm sie es ein wenig zögernd.
„Ich danke dir. Ich muß gestehen, diese Höflichkeit hatte ich nicht von dir erwartet.“
Durers Augen glitzerten. Er erhob sich mit spöttischem Lächeln und verneigte sich tief.
Aber Rod war weniger vertrauensselig als Catherine, außerdem hatte er gesehen, daß Durer die Linke über das Glas gehalten hatte, ehe der Truchseß nachschenkte. Er rannte zur Königin, schnappte sich das Glas, das sie gerade an die Lippen setzen wollte und löste schnell den Dolch vom Gürtel. Catherine starrte ihn ergrimmt an. „Ich habe Euch nicht gerufen!“ sagte sie heftig.
„Verzeiht, Eure Majestät.“ Er schüttelte den Dolch aus der Hülle und füllte die konische Scheide mit Wein. Gott sei Dank hatte er daran gedacht, Gekab wieder einzuschalten, ehe er seinen Dienst antrat. Er hielt das Silberhorn hoch und sagte.
„Ich kann es nicht näher erklären, Eure Majestät, lediglich, daß ich um Euer Leben bangte.“
Aber Catherines Ärger war ohnedies, fasziniert von Rods Benehmen, bereits verraucht. „Was“, sie deutete auf die konische Dolchscheide, „ist das?“
„Das Hörn eines Einhorns“, erwiderte Rod und schaute Durer an, dessen Augen vor Wut brannten. „Analysiert“, meldete Gekab aus dem Mikrophon hinter Rods Ohr. „Substanz für menschlichen Metabolismus tödlich.“ Rod lächelte grimmig und drückte auf den Knopf an der Scheidenspitze.
Das Hörn des „Einhorns“ färbte sich purpurrot.
Ein Stöhnen des Schreckens wurde im ganzen Raum laut, denn jeder kannte die Legende, daß ein Einhornshorn purpurn anläuft, wenn man Gift hineingibt.
Catherine wurde totenbleich und preßte die Hände zusammen, um das Zittern ihrer Finger möglichst zu verheimlichen.
Loguire ballte die Fäuste. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Wicht!“ wandte er sich an Durer. „Wenn das dein Tun ist…“
„Mylord, Ihr saht doch selbst, daß ich das Glas nur hielt“, krächzte Durer. Aber seine brennenden Augen waren auf Rod gerichtet und schienen ihm zu drohen.
Rod wurde als eine der vier Wachen eingeteilt, die Catherine von ihren Gemächern zum Audienzsaal eskortieren sollten.
Unterwegs näherte sich Durer der Königin. Er verbeugte sich dreimal tief und sagte: „Eure Majestät, gestattet mir Euch zu raten, Euch ohne Verzögerung die Petition der Hohen Lords anzuhören.“
Catherine blickte ihn finster und von oben herab an. „Weshalb glaubst du, es würde zu einer Verzögerung kommen?“
„Nun, Majestät, ich hörte, daß heute zwei Bauern vor Gericht erscheinen werden…“
„Ein Fall, den du mir höchstpersönlich aufgedrängt hast, Durer“, unterbrach ihn Catherine.
Durers Augen leuchteten kurz boshaft auf, doch sogleich verbeugte er sich wieder zutiefst. „Ich hatte gehört — ich fürchtete…“
„Was?“
„Eure Majestät sind in letzter Zeit so um die Bauern besorgt, daß ich fürchtete, Eure Majestät würden vielleicht…“
„Vor den Hohen Lords die Bauern anhören?“
„Das dürfen Eure Majestät nicht!“ Durer ließ sich vor ihr auf die Knie fallen. „Ihr dürft heute nichts tun, was die Hohen Lords beleidigen könnte, denn tut Ihr es, könnte leicht Euer Leben in Gefahr kommen.“
„Hältst du mich für feige? Und jetzt heb dich hinweg!“ Sie wandte sich ab und schritt durch die gewaltige Eichentür, die weit für sie geöffnet wurde. Rod riskierte einen Blick über die Schulter. Durers Gesicht war vor Hohn und Triumph verzerrt.
Ja, dachte Rod, die besten Ergebnisse erzielt man bei einem Teenager, wenn man ihm etwas verbietet, denn dann tut er es erst recht.
Die Wachen postierten sich zu beiden Seiten des vergoldeten Thrones auf einer etwa einen Meter hohen Plattform. Catherine schaute auf die Versammlung hinunter. In der ersten Reihe saßen die zwölf Lords auf Holzstühlen in Stundenglasform in einem Halbkreis um die Stufen zur Plattform. Hinter ihnen standen vierzig oder fünfzig Männer mittleren Alters in Braun, Grau oder Dunkelgrün gekleidet mit Samtkrägen an den Wämsern und kleinen eckigen Filzhüten. Silber oder Goldketten hingen von ihren imposanten Bäuchen. Vermutlich die hiesigen Bürger — Beamte, Kaufleute, Gildenmeister, also die Bourgeoisie, nahm Rod an. Ihnen schlössen sich die Geistlichen in schwarzen Kapuzenumhängen an, und wiederum hinter ihnen Landleute in Flickenkleidung. Rod war ziemlich sicher, daß man sie aus der Burgküche hierher beordert hatte, damit alle Klassen vertreten wären.
Die Bauern hatten in der Mitte einen freien Platz gelassen und dort standen, zwischen vier Soldaten im Grün und Gold der Königin, zwei Bauern, deren Gesichter vor Angst verzerrt waren und die ihre Hüte in den Händen fast zerquetschten. In ihrer Begleitung befand sich ein Priester. Aller Augen ruhten auf der Königin. Broms Stimme hallte durch den ganzen Saal: „Wer sucht heute die Gerechtigkeit Ihrer Majestät der Königin?“
Ein Herold las von einer Schriftrolle zwanzig Petitionen ab. Die erste war die der zwölf Hohen Lords, die letzte die von Durers zwei Bauern.
Catherins Hände verkrampften sich um die Thronlehne. Mit hoher, klarer Stimme rief sie: „Gott, unser Herr, sagte: Die Niedrigen werden erhöht werden; und die letzten werden die ersten sein. Also wollen wir uns zuerst die Aussagen der beiden Bauern anhören.“
Einen Augenblick herrschte schockiertes Schweigen, dann erhob sich Lord Loguire und donnerte: „Aussagen! Bedürft Ihr ihrer Aussagen so sehr, daß Ihr diese Bauerntölpel vor den höchsten Eurer Edlen anhören wollt?“
„Mein Lord!“ fauchte Catherine. „Ihr vergeßt Euren Platz auf meinem Hof!“
„Nein, Ihr seid es, die den Respekt und die Tradition vergessen hat, die Ihr auf den Knien Eures Vaters lerntet! Nie hätte der alte König seine Lehnsmänner so gedemütigt!“
„Ihr scheint zu vergessen, alter Mann, daß mein Vater tot ist und ich jetzt regiere!“
„Regieren!“ Die Lippen Loguires verzogen sich bitter. „Nicht regieren kann man es nennen, sondern tyrannisieren!“
Erschrocken hielten alle den Atem an, dann erhob sich ein immer lauter werdendes Flüstern: „Hochverratverratverrat…“
Brom O'Berin stand mit zitternden Beinen auf. „Mylord Loguire, Ihr müßt die Königin auf den Knien um Verzeihung bitten, wollt Ihr nicht als Verräter gelten!“
Loguires Gesicht schien zu Stein zu erstarren, doch noch ehe er etwas zu sagen vermochte, erklärte Catherine mit angespannter Stimme: „Unnötig, um Vergebung zu bitten, denn es wird keine gewährt werden. Ihr, Mylord Loguire, werdet von nun aus Unserem Hof verbannt, um Uns nie wieder vor die Augen zu treten.“
„Kind“, murmelte der alte Mann, und Rod sah Tränen in seinen Augen glitzern, „willst du den Vater genauso behandeln wie den Sohn?“
Catherines Gesicht wurde leichenblaß. „Geht, Mylord Loguire, oder ich muß die Hunde auf Euch hetzen!“ sagte Brom mit vor Grimm zitternder Stimme.
Noch einmal schaute Lord Loguire zu Catherine mit Trauer in den Augen hoch. „So wollt Ihr mich denn Euren Feind nennen Catherine blickte über die Nasenspitze auf ihn hinab. Loguire biß die Zähne zusammen. Kalter Stolz löste die Trauer ab. Wortlos drehte er sich auf dem Absatz und schritt zum Portal. Überlegend blieb er stehen, dann wandte er sich noch einmal um. Seine Stimme, die jetzt wieder sanft und gütig klang, füllte den ganzen Saal. „Eines noch, Catherine, die ich einst meine Nichte nannte — solange ich lebe, habt Ihr die Soldaten Logui-res nicht zu fürchten.“ Dann stapfte er mit wallendem Umhang zur Tür hinaus. Wie ein Mann erhoben sich die übrigen elf Hohen Lords und folgten Loguire ins Exil. „Also, wie hat sie den Fall der beiden Bauern entschieden?“ fragte Gekab, den Rod ausritt, um sich ungestört mit ihm unterhalten zu können, denn in der Kaserne war er selten allein, und dem Roboter nur durch das Mikrophon zu lauschen, war unbefriedigend.
„Oh“, antwortete Rod. „Sie erklärte die Entscheidung des Priesters für richtig. Dem alten Bauern gefiel das nicht so recht, aber Catherine hatte ein As im Ärmel, sie sagte, der Junge müsse seinen Schwiegervater im Alter unterstützen. Woraufhin der alte Bauer grinste, und der Junge so aussah, als wäre er sich gar nicht mehr sicher, daß er den Fall gewonnen hatte.“ „Eine großartige Entscheidung“, lobte Gekab. „Die junge Dame könnte als Richter eine Karriere machen.“ „Wenn sie nur die Finger von der Politik ließe“, murmelte Rod. Sie ritten der untergehenden Sonne entgegen, die den Himmel blutrot färbte. Das erinnerte Rod an etwas. „Sagtest du nicht, es bestünde die Gefahr eines weiteren Attentats auf die Königin?“ „Ja, durch die Ratgeber der Hohen Lords, die zweifellos alle der gleichen außerplanetaren Rasse angehören, was allein schon ihr Aussehen beweist, das auf eine Kultur mit langlebigem Alter schließen läßt, und das wiederum auf hohe Technologie. Sie sind auf totale Anarchie auf diesem Planeten aus, und da steht ihnen Catherine natürlich im Weg. Doch nicht nur die Ratgeber sind ihr Feinde, sondern auch der Spötter.“ „Wa-as?“
„Wie, würden Sie sagen, sieht er aus?“
„Abstoßend häßlich!“ Rod schüttelte sich.
„Sein Körperbau? Sein Höcker kann vorgetäuscht sein.“
„Du meinst doch nicht… Ja, du magst recht haben. Er ist genauso groß und dürr wie die Ratgeber, und wenn man über die vielleicht betonte Häßlichkeit hinwegsieht, hat er tatsächlich unverkennbare Ähnlichkeit mit den Ratgebern! Was bedeutet, daß auch er aus einer Kultur mit hochentwickelter Technologie stammt, wenn auch nicht unbedingt von derselben wie die Ratgeber.“
„Das heißt aber nicht, daß sie zusammengehören“, gab Gekab zu bedenken. „Er ist vielleicht nicht an totaler Anarchie, sondern an der Errichtung einer Diktatur interessiert. Aber deshalb steht auch ihm Catherine im Weg. Er sieht lieber jemanden auf dem Thron, den er beherrschen kann.“
„Tuan!“ rief Rod.
„Ja, doch zuerst muß er, wie gesagt, die Königin eliminieren.“
„Also sind sowohl die Ratgeber als auch das Haus Clovis auf Catherines Blut aus!“
„Richtig. Doch bis jetzt gibt es keine Anzeichen, daß sie zusammenarbeiten, eher gegeneinander…“
„Aber was wollen sie hier, Gekab?“
„Wir können annehmen, daß sie getrennt voneinander hierherkamen, um etwas an sich zu bringen, das es hier auf Gramayre gibt.“
Rod zog die Brauen zusammen. „Es gibt hier doch, soviel ich weiß, keine seltenen Bodenschätze…“
„Ich dachte dabei an Schätze menschlicher Art.“
Rods Augen weiteten sich. „Die Esper! Natürlich! Sie sind der Hexen wegen hier!“
„Oder der Elfen!“ meinte Gekab.
„Was könnten sie denn mit den Elfen anstellen?“ fragte Rod stirnrunzelnd.
„Ich habe noch keine Hypothese dafür, aber die logische
Möglichkeit darf nicht außer acht gelassen werden.“
„Na gut, du bleibst bei der logischen Möglichkeit, und ich bei den Hexen. Wer über Telepathen verfügt, könnte die Macht in der Galaxis an sich reißen. He!“ rief er erschrocken. „Das wäre tatsächlich möglich!“
Ein schrilles Heulen erhob sich von den Burgzinnen, unmittelbar unter dem Ostturm. Rod konnte die Einzelheiten der Gestalt dort erkennen, obwohl sie verschwommen, eben wie ein Gespenst war. Aber dazu mußte sie riesig sein, wenn man die Entfernung in Betracht zog. Sie trug die Fetzen eines Leichentuchs, hatte die Figur einer üppigen Frau, aber den Kopf eines Kaninchens mit Stoßzähnen.
„Beeilung, Gekab!“ brüllte Rod und galoppierte zur Burg zurück, wo er auf dem Weg zu den Gemächern der Königin fünf Paar Wachen überrannte. Brom O'Berin wartete bereits mit verschränkten Armen vor der Tür auf ihn. „Du hast lange gebraucht!“ brummte er finster, aber seine Augen verrieten die Angst. Du mußt heute nacht neben ihrem Bett Wache halten, Zauberer.“
Rod erstarrte. „Ich bin kein Zauberer, sondern Söldner!“
„Es ist nicht die richtige Zeit, mir zu widersprechen. Du kannst dich nennen, wie du willst, aber jedenfalls hast du die Kräfte eines Zauberers. Also, marsch, hinein mit dir!“
Catherine saß in einem riesigen Bett und schaute ihnen überrascht entgegen. „Was wollt ihr hier?“ rief sie empört.
Hatte sie das Geheul des Gespensts wirklich nicht gehört?
Sie streckte die Hand aus, um sich einen Kelch mit dampfendem Glühwein von einer Leibmagd reichen zu lassen.
Hastig sprang Rod dazwischen und faßte nach dem Kelch, während er mit der Linken das „Einhorn-horn“ vom Gürtel löste.
„Mein Herr, was soll das!“ fauchte Catherine.
Gekabs Stimme drang aus dem Mikrophon: „Substanz der Analyseneinheit ist schädlich für menschlichen Metabolismus.“
Aber die konische Hülle war leer. Rod hatte den Wein überhaupt noch nicht hineingegossen. Nur Luft befand sich in ihr! Nur Luft!
Rod drückte den Knopf. Die Scheide färbte sich purpurrot. Die Königin starrte auf das Einhornhorn. „Was bedeutet das?“ fragte sie erschrocken.
„Vergiftete Luft!“ stieß Rod hervor und drückte den Kelch in die Hand einer Leibmagd. Er sah sich um. Etwas hier strömte Giftgas aus. Der Kamin! Er rannte zu den Flammen und hielt die Scheide darüber, doch das Purpur verblaßte ein wenig. „Nicht hier!“ brummte Rod. Er hielt das Hörn hoch und stapfte damit kreuz und quer durch das Gemach. Die Scheide blieb lavendelfarbig. Er näherte sich dem Bett, und sie färbte sich wieder dunkler.
Grauenerfüllt, aber fasziniert schaute Catherine auf das Horn. Rod bückte sich und schaute unter das Bett. Auf dem Steinboden darunter stand eine dampfende Wärmpfanne. Er packte den langen Griff, zog sie hervor und hielt die Scheide über das Loch, aus dem der Dampf stieg. Soviel er sich erinnerte, hatten Wärmpfannen normalerweise außer dem normalen Verschluß keine Öffnungen. Das Horn färbte sich fast schwarz. Rod schaute zur Königin hoch. Sie hatte sich die Fingerknö chel einer Hand zwischen die Lippen geschoben, um nicht zu schreien.
Rod drehte sich um und streckte die Pfanne einem Posten entgegen. „Schnell, wirf es in den Burggraben!“ befahl er ihm. Dann wandte er sich erneut Catherine zu. „Wir haben das Gespenst wieder einmal hereingelegt, Eure Majestät!“ Catherines Hand zitterte, als sie sie vom Mund nahm. Ein wildes Licht glitzerte in ihren Augen. „Meister Gallowglass, bleibt bei mir. Ihr anderen, zieht euch zurück, sofort!“ Rod schluckte und seine Knie wurden weich. Sie war in diesem Augenblick die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Wachen und Leibmägde drängten sich zögernd durch die Tür.
Nur der Zwerg blieb. „Brom O'Berin“, befahl die Königin, „laß auch du uns allein!“
Empört wollte der Troll aufbegehren, doch dann schluckte er seinen Ärger und schloß die Tür hinter sich.
Catherine legte sich auf die weichen Seidenkissen zurück und griff mit einer Hand nach Rods. „Ihr habt mir nun zum zweitenmal das Leben gerettet, Meister Gallowglass.“ Sie drehte sich auf die Seite, daß die Samtrobe, in die sie sich gehüllt hatte, weit klaffte. Offenbar zog sie es vor, nackt zu schlafen.
Rod biß die Lippen zusammen. Du bist nicht hier, dich von einer Königin verführen zu lassen, Junge, mahnte er sich, sondern um für Demokratie zu sorgen.
Catherine spielte mit einem Anhänger um den Hals und betrachtete Rod wie eine Katze den Kanarienvogel. „Söldner haben einen bestimmten Ruf“, murmelte sie. Ihre Lippen glänzten feucht.
„So wie meine Königin ihr Land reformieren will, hoffe auch ich, den Beruf des Soldaten zu reformieren und so seinen Ruf zu bessern.“
Einen Augenblick mußte Catherines Herz ausgesetzt haben, so reglos lag sie. Dann verhärteten sich ihre Züge, und das Schweigen im Zimmer wurde angespannt. Sie zog die Samtrobe über dem Busen zusammen. „Euch gilt höchstes Lob, Meister Gallowglass“, sagte sie gepreßt. „Ich bin wahrhaft glücklich zu schätzen, solch getreue Männer um mich zu haben.“
Unter den gegebenen Umständen war sie für diese Worte zu bewundern, obgleich Rod ein wenig Spott aus ihrer Stimme zu hören glaubte. Sie schaute ihm in die Augen. „Nehmt den Dank der Königin entgegen“, fuhr sie fort.
Rod ließ sich auf ein Knie fallen.
„Ja, wahrhaftig bin ich glücklich zu schätzen“, wiederholte Catherine. „Ihr habt mir das Leben gerettet, und ich glaube, daß ich nicht so leicht in der Gegenwart eines anderen Soldaten so sicher wäre wie in Eurer.“
Rod wand sich innerlich.
Sie lächelte, und einen flüchtigen Moment glitzerten ihre Augen boshaft und zufrieden, doch dann senkte sie den Blick.
„Geht jetzt, ich habe morgen einen schweren Tag vor mir und muß ausgeruht sein.“
„Euer Wunsch ist mir Befehl!“ Rod drehte sich um und stapfte zur Tür hinaus. Doch länger konnte er sich nicht mehr beherrschen. Er hieb mit der Faust gegen die Wand.
„Nun, muß ich mich vor dir als dem nächsten König zu Boden werfen?“ knirschte Brom O'Berin zwischen den Zähnen hervor.
Rod hielt sich nur mühsam zurück. „Ich muß meine Zeit besser nutzen, als die königliche Wiege an mich zu reißen.“
Die Wut schwand aus Broms Augen. „Ich glaube dir“, murmelte er.
Rod preßte die Lider und Zähne zusammen und ballte hilflos die Fäuste. Viel länger konnte er sich nicht mehr beherrschen.
Wie aus weiter Ferne hörte er Brom sagen: „Er hat eine Botschaft aus dem Hexenturm für dich…“
Rod zwang sich, die Augen zu öffnen. Zu Broms Füßen saß im Schneidersitz ein Elf: Puck.
Rod straffte die Schultern. Wenn die Hexen ihm eine Botschaft schickten, war sie zweifellos wichtig. Er mußte seiner Wut später Luft machen. „Also, heraus mit der Sprache“, forderte er den Troll auf. „Was lassen die Hexen mir sagen?“
Aber Puck schüttelte lediglich den Kopf und murmelte: „Großer Gott, welche Dummköpfe diese Menschen sind!“ Er sprang hastig zur Seite, ehe Rods Faust einen Sekundenbruchteil später gegen die Wand schlug, an die er sich gerade noch gelehnt hatte. Rod heulte vor Schmerz auf und wirbelte herum. Er sah Puck und holte erneut gegen ihn aus.
„Nicht so heftig“, murmelte Robin Goodfellow, und schon füllte ein riesiger, grell rosa und grüner Drache den ganzen Korridor.
Rod sperrte die Augen auf, dann grinste er und fletschte in wilder Freude die Zähne. Er duckte sich unter den Flammen und schoß unter dem Schädel des Ungeheuers hoch. Seine Finger legten sich um den Schuppenhals und die Daumen drückten in die Halsschlagader. Der Drache riß vor Schmerz heulend den Schädel hoch und schlug damit wie eine Peitsche um sich. Aber Rod ließ nicht locker, auch nicht, als der Drache seinen Kopf gegen die Wand hämmerte. Dann beugte er den mächtigen Hals, und die gewaltigen Krallen der Hinterbeine rissen Rods Seite vom Schlüsselbein bis zu der Hüfte auf. Blut spritzte heraus. Rod spürte, wie Schwärze ihn einzuhüllen drohte, aber er war entschlossen, den Drachen mit sich in den Tod zu nehmen.
Grimm erfüllte ihn, daß ihm ein Wutanfall, einer Frau wegen, das Leben kosten sollte. Da schwand die Schwärze wieder, die ihn schon fast übermannt hatte. Der Drache war verschwunden. Nur noch die brokat-behangenen Granitwände waren zu sehen. Blinzelnd starrte Rod an sich hinab. Sein Wams war unbeschädigt, von Blut oder auch nur der geringsten Verletzung keine Spur. Und plötzlich war sein Kopf wieder völlig klar und er schaute hinab auf den Elf. Puck erwiderte seinen Blick ernst. „Zauber?“ fragte Rod ihn.
Puck nickte. „Es war notwendig. Doch begleitet mich jetzt zu den Hexen. Sie beriefen eine Versammlung ein, und als Zauberer müßt Ihr daran teilnehmen.“
Rod war es leid, wieder einmal zu erklären, daß er keiner war. Als Versammlung konnte man diese Zusammenkunft der Hexen wohl nicht bezeichnen. Sie feierten noch ausgelassener als in der vergangenen Nacht. „Weshalb die neue Party?“ erkundigte sich Rod. „Wir feiern, weil unsere Königin lebt!“ brüllte Roby vergnügt.
„Und Ihr seid der Held! Ihr habt das Gespenst vertrieben!“
„Held…“ Rod griff nach dem angebotenen Krug, nahm einen tiefen Schluck und fing plötzlich heftig zu husten an.
„Was habt Ihr?“ erkundigte sich Toby besorgt und klopfte dem Älteren kräftig auf den Rücken.
„Hör auf!“ krächzte Rod. „Mir fehlt nichts. Mir ist bloß plötzlich etwas klar geworden: das Gespenst ist gar nicht echt!“
„Was sagt Ihr da?“ brüllte Toby durch den Lärm der Feiernden.
„Das Gespenst soll doch nur erscheinen, wenn jemand stirbt!“
brüllte Rod zurück. „Richtig?“
„Ja“, erwiderte Toby verwirrt.
„Wenn jemand stirbt!“ betonte Rod. „Nicht, wenn jemand in Gefahr ist. Also schließe ich, daß es kein echtes Gespenst ist — jemand läßt es erscheinen. Die Frage ist nur, wer?“
Tobys Kinn klappte hinunter. „Aldis!“ rief er. Und als Rod nickte, fuhr er fort: „Lausch auf Durers Gedanken!“
Das Mädchen nickte und schloß die Augen. Nach einer kurzen Weile öffnete sie sie wieder und starrte Rod verängstigt an.
„Sie sind sehr wütend, daß die Königin nicht starb, aber noch wütender, weil sie nicht wissen, wer heute nacht das Gespenst auf die Zinnen geschickt hat.“
Rod nickte und preßte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Dann nahm er einen tiefen Schluck aus seinem Krug und schritt zur Treppe. Toby flog ihm nach und griff nach seinem Ärmel. „Wohin eilt Ihr?“
„Zu den Zinnen“, erwiderte Rod. „Wo sollte ich sonst nach dem Gespenst Ausschau halten?“
Der Nachtwind schnitt durch seine Kleider, als er hinaus auf die Zinnen trat. Ein Mond warf seinen Schatten vor ihm her und ließ die Zinnen wie lückenhafte Zähne aufleuchten. Rod entsann sich, daß das Gespenst bisher noch jedesmal unter dem Ostturm erschienen war. Er blickte hinunter auf die Stadt. Eine lange weiße Straße wand sich dort zur Zugbrücke hoch. Und genau in der Mitte der Stadt erhob sich wie ein riesiger
Grabstein aus Basalt das Haus Clovis.
Plötzlich hörte Rod ein stolperndes, scharrendes Geräusch hinter sich. Sofort duckte er sich und zog den Dolch. Tom kam mit etwas um den Arm gewunden schweratmend die Wendeltreppe hoch. Als er Rod sah, leuchtete sein Gesicht auf.
„O Herr, es ist Euch nichts passiert!“ rief er erleichtert.
„Was sollte mir schon passiert sein?“ entgegnete Rod und schob den Dolch in die Scheide zurück. „Was machst du denn hier?“
Der Riese blieb stehen. Er schaute verlegen zu Boden. „Ich -
ich hörte, Meister, daß…“ Dann blickte er hoch und die Worte überschlugen sich fast: „Ihr dürft Euch nicht mit dem Gespenst anlegen, Herr! Doch wenn Ihr es tut, sollt Ihr es nicht allein!“
Rod musterte das Gesicht des Giganten und fragte sich, wie er diese tiefe Verehrung verdient hatte, dann lächelte er weich.
„Deine Knie sind zu Gummi geworden, allein bei dem Gedanken an das Gespenst, und trotzdem hast du den Mut, mich zu begleiten.“
Tom grinste verlegen und starrte wieder auf den Boden. Rod konnte sich im Mondlicht nicht sicher sein, aber ihm war, als hätte eine schwache Röte das Gesicht des Riesen überzogen. Er machte sich in Richtung auf den Ostturm auf den Weg. Tom stapfte neben ihm her. Plötzlich warf er ihm seinen Umhang, den er um den Arm gewunden gehabt hatte, über die Schultern.
„Damit Ihr nicht friert, Herr“, brummte er.
Rod war von dieser Geste gerührt, doch gleichzeitig wurde ihm klar, daß der Umhang ihn in einem eventuellen Kampf behindern würde — und genauso klar wurde ihm, daß das auch Tom bewußt war.
„Habt Ihr denn keine Angst vor dem Gespenst, Meister?“
Rod dachte nach. „Nein, warum auch? Diese Art von Gespenstern hat noch nie jemandem etwas angetan, es ist nur so eine Art Todesbote, verstehst du?“
„Trotzdem ist es ein Wunder, daß Ihr keine Angst habt. Wollt
Ihr nicht lieber in den Schatten des Zinnengangs gehen, Meister? Ihr seid dort sicherer. In der Mitte, wo Ihr Euch befindet, könnt Ihr von beiden Seiten angegriffen werden.“
„Ich ziehe die Mitte vor“, erklärte ihm Rod. „Wenn die Straße richtig gebaut ist, ist sie in der Mitte am höchsten, und der Wanderer sieht, was von links und rechts kommt. Die Seiten dagegen können trügerisch sein. Natürlich ist man dort der Sicht am ehesten ausgesetzt, und deshalb haben die wenigsten den Mut, dort dahinzuschreiten.“ Ohne Übergang fragte er: „Hast du schon einmal etwas von dialektischem Materialismus gehört, Tom?“
„Wie kommt Ihr…“ Aber Tom fing sich schnell und murmelte: „Nein, Meister, nie!“
Aha, dachte Rod, hab' ich dich überrascht. Laut sagte er: „Es ist eine terranische Philosophie. Ihre Ursprünge liegen im Dunklen Zeitalter, aber manche Menschen richten sich noch danach.“
„Was ist terranisch?“ fragte der Riese.
„Ein Traum.“ Rod seufzte. „Und ein Mythos.“
„Lebt Ihr danach, Meister?“
Rod schaute verblüfft hoch. „Nach dem Traum von Terra?“
„Nein, nach diesem dialek… Mit welchem Zauber Ihr es auch benennt…“
„Was? Den dialektischen Materialismus?“ Rod grinste. „Nein, aber einige seiner Konzepte sind manchmal recht praktisch, wie beispielsweise die Idee der Synthese. Weißt du was das ist, Tom?“
„Nein, Meister.“ Tom schüttelte energisch den Kopf.
Na, ja, sein Staunen war vermutlich echt, denn das letzte, was Tom erwartete, war sicherlich, daß Rod eine totalitäre Philosophie zitierte. „Es ist der Weg in der Mitte“, erklärte Rod. „Rechts des Weges ist die These und links die Antithese.
Zusammengenommen ergeben sie die Synthese.“
„Oja.“ Tom nickte.
Ziemlich schnelle Auffassungsgabe für einen Bauerntölpel, dachte Rod spöttisch. „Sowohl These als auch Antithese sind teilweise falsch. Also wirft man die falschen Teile zur Seite, gibt die richtigen zusammen — das heißt, man nimmt das Beste davon —, nennt das Ergebnis Synthese, und man hat die Wahrheit. Verstehst du?“
Toms Augen nahmen einen wachsamen Ausdruck an. Er wußte nun, worauf Rod hinauswollte.
„Und da die Synthese der Weg in der Mitte ist, ist er natürlich unbequem“, fuhr Rod fort. „Doch genug der Philosophiererei.
Wir wollen uns an die Arbeit machen.“
Plötzlich hörten sie ein Scharren im Schatten. Tom sprang zurück und zog seinen Dolch. „Das Gespenst!“ brüllte er. Auch Rod umklammerte den Dolchgriff, doch da huschte eine riesige Ratte an ihm vorbei.
„Gott sei Dank, nur eine Ratte“, seufzte der große Tom erleichtert. „Es gibt hier so viele von ihnen.“
„Ja, aber ich sah noch etwas, als sie an mir vorbeirannte.“ Rod kniete sich neben die Außenmauer und tastete über den Stein.
„Hier!“ Er nahm die Hand des Riesen, der ihm besorgt den Knoblauchatem ins Gesicht blies, und drückte sie an seine Entdeckung.
Tom holte erschrocken Luft und riß seine Hand zurück. „Es ist kalt.“ Seine Stimme zitterte. „Kalt und rechteckig, und — es hat mich gebissen!“
„Dich gebissen?“ fragte Rod stirnrunzelnd, während er über die metallene Box tastete. Er spürte einen leichten elektrischen Schlag und zuckte ebenfalls zurück. Wer immer dieses Ding hier angebracht hatte, mußte ein blutiger Amateur sein. Es war nicht einmal richtig geerdet — oder vielleicht war es Absicht, um denen, die zufällig darüber stolperten, einen Schrecken einzujagen? Rod zog den Dolch und war froh über die Isolierung, die der lederne Griff bot. Vorsichtig schraubte er den Deckel der Metallbox auf. Er sah den scheinbaren
Wirrwarr der silbrigen Schaltkreise, die jedoch insgesamt nicht mehr Raum einnahmen als sein Daumennagel. Seine Kopfhaut prickelte. Wer immer dieses Ding angefertigt hatte, verstand mehr von molekularen Schaltkreisen als die Techniker seiner Heimat. Aber weshalb eine so große Box für eine so winzige Einheit?
Der Rest der Box war mit einer Apparatur ausgefüllt, die Rod völlig unverständlich war. Er betrachtete die Oberfläche der Box. In der Mitte befand sich ein durchsichtiger Kreis. Rod runzelte die Stirn. So etwas hatte er noch nie gesehen. Seiner Schätzung nach war der Schaltkreis Teil einer Fernbedienung.
Aber was war der Rest der Apparatur?
„Herr, was ist das?“
„Ich weiß es nicht“, murmelte Rod, „aber ich glaube fast, daß es etwas mit dem Gespenst zu tun hat.“ Er tastete mit der Dolchspitze in dem Ding herum. Natürlich mußte er äußerst vorsichtig sein, denn wie leicht mochte es mit einem Selbstzerstörungsmechanismus versehen sein, der bei einer falschen Berührung ringsum alles in die Luft sprengte. Da drückte die Dolchspitze auf etwas. Die Maschine klickte und begann leise zu summen.
„Weg, Herr!“ brüllte Tom. Aber Rod kümmerte sich nicht darum. Er starrte auf die wolkenartige Substanz, die aus dem durchsichtigen Kreis hochstieg. Und eine Sekunde später klickte eine zweite Maschine irgendwo vor Rod, und ein Lichtstrahl schoß von der Außenmauer über Rods Kopf in die Wolke und breitete sich fächerförmig aus.
„Das Gespenst!“ heulte Tom auf. „Flieht um Euer Leben, Herr!“
Tatsächlich bewegte das Gespenst sich etwa drei Meter über Rod. Ganz deutlich konnte er die üppige Frauengestalt mit dem Kaninchenkopf sehen. Ein verborgener Lautsprecher fing zu summen an, und als der erste Heulton sich erheben wollte, zog Rod die Dolchspitze um etwa einen Zentimeter zurück. Der
Lichtfächer erlosch, das Zischen des mechanischen Rauchtopfs erstarb. Rod drückte den Deckel wieder auf den Apparat. „Was war das, Meister?“ wisperte Tom.
„Ein Zauber. Und das Gespenst ist nichts als Schwindel. Komm, Tom, du mußt mich am Fußgelenk festhalten.“ Er legte sich in eine Zinnenöffnung, mit den Knien unmittelbar über dem Rauchtopf. Brummelnd griff Tom nach seinen Knöcheln. Rod schob sich vorwärts, bis sein Kopf hinausragte. Fast direkt unter seinem Kinn befand sich eine kleine Box mit herausragender Linse: ein Miniaturprojektor, der das Gespensterbild auf die Rauchwolke warf und so die Illusion einer dreidimensionalen Gestalt hervorrief. Und das Ganze wurde mit Fernsteuerung bedient. Von wo aus? „Halt mich ganz fest“, befahl er Tom und kroch fast ganz nach vorn. Er konnte nur hoffen, daß er sich in dem Riesen nicht täuschte und der ihn losließ, denn den Sturz in die Tiefe würde er nicht überleben. Aber er konnte jetzt nicht mehr zurück. Er starrte an der Mauer hinunter. Und da entdeckte er auch die Antenne. Nun mußte er nur noch den Sender finden. Und so gut er sich auch der Architektur anpaßte, seine scharfen Augen erspähten den Fremdkörper — auf dem Haus Clovis! Einen Augenblick überschlugen sich seine Gedanken. Also waren es tatsächlich nicht nur die Ratgeber, die allerdings auch, denn er hatte Durer ja selbst ertappt. Aber die umfunktionierte Wärmpfanne hatte sich bestimmt durch einen Dienstboten leichter unterschieben lassen als durch einen Ratgeber. Das Zittern von Toms Händen riß ihn aus seinen Überlegungen. So schwer bin ich doch auch wieder nicht, dachte er, aber er kroch eilig zurück und glaubte, Tom einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen zu hören, als er wieder in Sicherheit war. Er drehte sich zu ihm um. Dicker Schweiß strömte über des Riesen Gesicht, und seine Unterlippe zitterte. Schweigend blickte er ihm in die Augen, dann murmelte er: „Danke, Tom.“
Der Riese drehte sich um und schritt zur Treppe zurück. Rod fiel neben ihn in Gleichschritt. Sie hatten die Treppe schon fast zur Hälfte zurückgelegt, als Tom endlich den Mund öffnete: „Wißt Ihr jetzt, Herr, wer diesen Zauber schickte?“
Rod nickte. „Das Haus Clovis.“
„Weshalb habt Ihr dieses — Ding nicht zerstört?“
Rod zuckte die Schultern. „Es diente uns bisher immer als gute Warnung, daß der Königin Gefahr droht.“
„Wem werdet Ihr davon erzählen?“
Rod schaute zu den Sternen auf. „Meinem Pferd“, antwortete er.
„Pferd?“ brummte Tom erstaunt.
„Ja, sonst niemandem, bis ich mir sicher sein kann, auf wessen Seite van Loguire steht — auf der der Königin, oder der ihrer Feinde.“
„Ah.“ Tom schien diese Erklärung zu genügen. Rod schätzte seinen Status nun noch höher als zuvor ein. Offenbar wußte der Bursche mehr von dem, was vorging, als er.
„Ihr seid dem Tod heute nacht nur um Haaresbreite entgangen, Meister“, brummte Tom.
„Oh, das glaube ich nicht. Es war nur ein vorgetäuschtes Gespenst, es hätte uns nichts anhaben können.“
„Ich meinte nicht das Gespenst, Herr.“
„Ich weiß.“ Rod blickte Tom fest in die Augen, dann stieg er weiter die Treppe hinunter. Erst nachdem er sechs Stufen zurückgelegt hatte, wurde ihm bewußt, daß Tom ihm nicht folgte. Er schaute über die Schulter. Tom starrte ihn mit offenem Mund an. Schließlich faßte er sich. „Ihr kanntet die Gefahr, Meister?“
„Allerdings.“
Tom nickte bedächtig, dann stieg auch er die Stufen hinunter.
„Herr“, sagte er nach einer Weile. „Ihr seid entweder der tapferste Mann, den ich kenne, oder der größte Narr.“
„Vermutlich beides“, murmelte Rod.
„Ihr hättet mich töten müssen, gleich, als Ihr mich durchschaut habt.“ Toms Stimme zitterte ein wenig.
Rod schüttelte nur wortlos den Kopf.
„Warum nicht?“ Tom brüllte es fast.
Rod seufzte. „Vor langer, langer Zeit lebte ein König…“
„Es ist nicht die richtige Zeit für Märchen, Herr!“
„Es ist kein Märchen, eher eine Parabel — und vermutlich beruht sie auf Wahrheit. Nun, der König hieß Hideyoshi und herrschte über ein Land namens Japan, und der höchste Edelmann dieses Landes war leyayasu.“
„Und er wollte König werden?“
„Ich sehe, daß du mit dem grundlegenden Prinzip vertraut bist.
Jedenfalls wollte Hideyoshi leyayasu nicht töten.“
„Er war ein Narr“, knurrte Tom.
„Nein, denn er brauchte leyayasus Unterstützung. Also lud er ihn zu einem Spaziergang in seinem Lustgarten ein, nur die beiden allein.“
Tom blieb stehen. „Und sie kämpften.“
Rod schüttelte den Kopf. „Hideyoshi sagt, er würde alt und schwach, und bat leyayasu, das Schwert für ihn zu tragen.“
Tom starrte Rod schweigend an. Dann schluckte er und nickte.
„Und was geschah dann?“
„Nichts. Sie unterhielten sich eine Weile, dann gab leyayasu Hideyoshi das Schwert zurück.“
„Und?“
„Leyayasu war dem König treu ergeben, bis dieser starb.“
Toms Gesicht wirkte wie aus Holz geschnitten. „Ein kalkuliertes Risiko“, murmelte er.
„Ziemlich ungewöhnliche Sprache für einen Bauern hm?“
Etwas Unverständliches knurrend, wandte Tom sich ab. Nach einer Weile folgte Rod ihm lächelnd. Sie hatten den Wachraum fast erreicht, als Tom Rod eine Pranke auf die Schulter drückte.
„Was seid Ihr?“ brummte er.
„Du meinst, für wen ich arbeite? Nur für mich, Tom.“
„Nein.“ Tom schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Aber danach fragte ich auch nicht. Was seid Ihr für ein Mensch?“
Rod runzelte die Stirn. „An mir ist nichts Ungewöhnliches.“
„O doch. Ihr tötet einen Bauern nicht einfach…“
„Ist das denn so ungewöhnlich?“ fragte Rod erstaunt.
„Allerdings. Und Ihr kämpft für Euren Diener, und vertraut ihm, und erteilt ihm nicht nur Befehle, sondern unterhaltet Euch sogar mit ihm. Was seid Ihr nur, Rod Gallowglass?“
Verwirrt breitete Rod die Hände aus. „Ein Mann, weiter nichts.“
Tom musterte ihn kurz, dann nickte er. „Ja, das seid Ihr. Meine Frage ist beantwortet.“
Ein Page eilte herbei. „Meister Gallowglass, die Königin erwartet Euch.“
Rod ritt mit Tom durch den frühen Morgen. Er war nur kurz bei der Königin gewesen, und sie hatte ihn bei ihrem Gespräch nicht angesehen, sondern ins Kaminfeuer gestarrt. „Ich fürchte um Onkel Loguire“, sagte sie. „Es gibt einige, die gern seinen ältesten Sohn an seiner Stelle sehen würden.“
Rod hatte steif geantwortet. „Wenn er stirbt, verliert Ihr Euren stärksten Feind unter den Hohen Lords.“
„Ich verliere jemanden, der mir sehr teuer ist!“ hatte sie gefaucht. „Mich interessiert die Freundschaft der Lords nicht, aber mein Onkel bedeutet mir sehr viel.“
Und das stimmt vermutlich auch, dachte Rod. Als Frau konnte sie sich Gefühle leisten, als Herrscherin nicht.
„Ich möchte, daß Ihr noch heute zu Lord Loguire reitet und dafür sorgt, daß ihm nichts zustößt!“
Es gibt nichts Schlimmeres als eine Frau, die sich gekränkt fühlt, dachte Rod. Jetzt schickt Catherine ihren zuverlässigsten Leibwächter so weit fort, wie sie nur konnte.
„Gekab“, sagte er leise. „Ich bin ein Trottel. Ich bin hier, um dieses Königreich zu einer konstitutionellen Monarchie zu
machen, und nun lasse ich mich in den Süden schicken, während die Ratgeber jede Möglichkeit einer Konstitution verhindern und das Haus Clovis dabei ist, die Monarchin zu töten. Ganz abgesehen davon lasse ich mich auch noch von einem Knappen begleiten, der mir vielleicht doch einmal ein Messer in die Rippen jagt, wenn sein Pflichtbewußtsein die Oberhand über sein Gewissen erlangt!“