EINTRAGUNG NR. 9

Übersicht: Liturgie. Jamben und Trochäen. Die eiserne Hand.

Ein strahlend klarer Tag. An solch einem Tag vergisst man seine Sorgen, Unzulänglichkeiten und Gebrechen, alles ist kristallen, ewig, wie unser neues Glas… Auf dem Platz des Würfels. Sechsundsechzig riesige konzentrische Kreise — die Tribünen. Und Sechsundsechzig Reihen — die Gesichter leuchten still wie die Lampen in den Kirchen der Alten, die Augen spiegeln den Glanz des Himmels wider, oder vielleicht auch den Glanz des Einzigen Staates. Blutrote Blumen, die Lippen der Frauen. Zarte Girlanden, Kindergesichter in der vordersten Reihe, ganz nahe dem Ort der heiligen Handlung. Tiefe, feierliche, gotische Stille.

Die uns erhaltenen Schilderungen beweisen, dass unsere Ahnen während ihrer Gottesdienste nichts dergleichen erlebten. Doch sie dienten einem dummen, unbekannten Gott — und wir verehren eine weise, bis in die kleinsten Einzelheiten bekannte Gottheit. Ihr Gott gab ihnen nichts außer einem ewigen, qualvollen Suchen, ihm fiel nichts Besseres ein, als sich aus einem unbekannten Grund für sie zu opfern — wir aber bringen unserem Gott, dem Einzigen Staat, ein Opfer dar, ein genau durchdachtes, vernünftiges Opfer. Ja, dieses Opfer war eine feierliche Liturgie für den Einzigen Staat, eine Erinnerung an die schweren Tage und Jahre des 200jährigen Krieges, der erhabene Feiertag des Sieges der Masse über den einzelnen, der Summe über die Zahl… Auf den Stufen des sonnenblitzenden Würfels stand ein einzelner. Sein Gesicht war weiß, nein, nicht weiß, es hatte keine Farbe mehr, es war gläsern, durchsichtig wie die Lippen. Nur die Augen waren zwei schwarze Schlünde, sie sogen gierig jene Welt ein, zu der er noch vor wenigen Minuten gehört hatte. Das goldene Abzeichen mit der Nummer hatte man ihm abgenommen, seine Hände waren mit einem Purpurband zusammengebunden (das ist eine uralte Sitte. Sie ist gewiss damit zu erklären, dass die Menschen einst, als dies alles nicht im Namen des Einzigen Staates geschah, sich berechtigt glaubten, Widerstand zu leisten, und darum mit Ketten gefesselt wurden).

Oben auf dem Würfel, neben der Maschine, reckte sich stumm wie aus Erz gegossen jener, den wir den Wohltäter nennen. Sein Gesicht war von unten nicht zu erkennen, man sah nur seine strengen, majestätischen, quadratischen Umrisse. Aber die Hände… Sie erinnerten an Hände, wie man sie bisweilen auf Photographien sieht; weil sie der Kamera zu nahe sind, werden sie riesig und verdecken alles andere. Diese schweren Hände, die noch müßig auf den Knien ruhten, waren wie Stein, die Knie konnten kaum ihr Gewicht tragen… Plötzlich hob sich die eine ganz langsam — eine gemessene, strenge Geste —; der gehobenen Hand gehorchend, löste sich eine Nummer von den Tribünen und schritt zu dem Würfel. Ein Staatsdichter, dem das Glück beschieden war, den Feiertag mit seinen Versen zu weihen. Der göttliche, eherne Rhythmus dröhnte über die Tribünen hin und über jenen Narren mit den gläsernen Augen, der dort auf den Stufen stand und die logischen Folgen seiner Wahnsinnstat erwartete… Feuersbrunst. In den Jamben erzittern die Häuser, sprühen als flüssiges Gold empor, stürzen donnernd zusammen. Die grünen Bäume krümmen sich, sinken, das Harz fließt — und schon sind sie schwarze, verkohlte Skelette. Und da erschien Prometheus (damit sind natürlich wir gemeint) :

Und zwang das Feuer in Maschin’ und Stahl,

das Chaos in die Fesseln des Gesetzes.

Alles war neu, stählern: die Sonne war Stahl, die Bäume, die Menschen. Plötzlich kam ein Wahnsinniger und »befreite das Feuer von seiner Kette« — und wieder wird alles zugrunde gehen…

Leider habe ich ein schlechtes Gedächtnis für Verse, aber an diesen erinnere ich mich noch: eine lehrreichere und schönere Metapher kann es kaum geben. Wieder eine langsame, strenge Bewegung, und ein zweiter Dichter stand auf den Stufen des Würfels. Ich wäre beinahe von meinem Sitz aufgesprungen — war das ein Spuk? Nein, er war es, mein Freund mit den wulstigen Lippen… Warum hat er nichts davon verraten, dass ihm die große Ehre… Seine Lippen zuckten, sie waren aschfahl. Ich begriff: vor dem Wohltäter, vor den Beschützern zu stehen, das ging fast über die Kraft, dennoch, wie konnte man sich nur so erregen…

Schneidende, rasche Trochäen, messerscharf. Beilhiebe. Sie kündeten von einem unerhörten Verbrechen, von gotteslästerlichen Versen, in denen der Wohltäter mit Namen belegt wird, wie… Nein, ich bringe es nicht über mich, die Worte zu wiederholen.

R-13 war totenbleich; mit niedergeschlagenen Augen (ich hätte nicht vermutet, dass er so schüchtern ist) stieg er die Stufen hinab und setzte sich auf seinen Platz. Eine halbe Sekunde lang sah ich ein Gesicht neben ihm — ein scharf umrissenes schwarzes Dreieck —, und im gleichen Augenblick war es wie weggewischt: meine Augen, Tausende von Augen, waren auf die Maschine dort oben gerichtet. Die übermenschliche Hand machte eine dritte Bewegung. In einem unsichtbaren Wind schwankend, stieg der Verbrecher hinauf, eine Stufe, noch eine — ein Schritt, der letzte seines Lebens — und er lag, das Gesicht zum Himmel gekehrt, den Kopf zurückgeworfen, auf seinem letzten Lager. Schwer, ehern wie das Schicksal, schritt der Wohltäter um die Maschine herum, legte die riesige Hand auf den Hebel… Totenstille. Aller Augen hingen an dieser Hand. Welch feurig glühender Sturm, welch innerer Aufruhr — das Werkzeug, die Resultate von 100.000 Volt zu sein! Welch großes Los! Eine unendliche Sekunde. Die Hand hatte den Strom eingeschaltet und sank herab. Die unerträglich helle Schneide des Strahls blitzte auf — ein Zittern, ein kaum vernehmliches Geräusch in den Röhren der Maschine. Der ausgestreckte Körper war in eine dünne, leuchtende Rauchwolke gehüllt — und da zerschmolz er vor unseren Augen, zerfloss, löste sich mit erschreckender Schnelligkeit auf. Nichts blieb von ihm als eine kleine Pfütze chemisch reinen Wassers, das noch eben rot im Herzen pulsierte… All das war höchst einfach, jedem von uns vertraut. Es war nichts weiter als die Dissoziation der Materie, die Spaltung der Atome des menschlichen Körpers. Dennoch war es jedes Mal von neuem ein Wunder, ein Zeichen der übermenschlichen Macht des Wohltäters. Dort oben, vor Ihm, standen zehn weibliche Nummern mit glühenden Wangen und vor Erregung halbgeöffneten Lippen. Die Blumen in ihren Händen schwankten sacht im Wind. (Diese Blumen stammten natürlich aus dem Botanischen Museum. Ich kann an Blumen nichts Schönes finden, wie auch an allen anderen Dingen der unzivilisierten Welt, die wir längst hinter die Grüne Mauer verbannt haben. Schön ist nur das Vernünftige und Nützliche: Maschine, Stiefel, Formeln, Nahrung usw.)

Nach altem Brauch schmückten diese zehn Frauen die noch nasse Uniform des Wohltäters mit Blumen. Mit dem majestätischen Schritt eines Oberpriesters stieg Er langsam die Stufen herab, ging langsam an den Tribünen vorbei — die Frauen streckten Ihm die Arme wie zarte weiße Zweige entgegen, donnernde Hochrufe, ein Sturm aus Millionen von Kehlen. Dann die gleichen Rufe für die Beschützer, die irgendwo unsichtbar in den Reihen sitzen.

Wer weiß, vielleicht hat die Phantasie der Menschen von einst unsere Beschützer vorausgeahnt, als sie die wohlwollend-strengen Schutzengel schuf, die jedem Menschen von seiner Geburt an zugesellt waren. Etwas von der alten Religion, etwas Reinigendes, wie Sturm und Gewitter, war in der ganzen Feier spürbar. Ihr, die ihr diese Zeilen lesen werdet, kennt ihr solche Augenblicke? Ihr tut mir leid, wenn ihr sie noch nicht erlebt habt…

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