EINTRAGUNG NR. 3

Übersicht: Der Rock. Die Mauer. Die Gesetzestafel.

Ich habe meine gestrigen Aufzeichnungen noch einmal durchgelesen, und es kommt mir so vor, als ob ich mich nicht klar genug ausgedrückt hätte. Uns Nummern ist das alles freilich sonnenklar. Doch wer weiß, vielleicht haben Sie, unbekannte Leser, denen der Integral meine Aufzeichnungen bringen wird, das große Buch der Zivilisation nur bis zu der Seite gelesen, bei der unsere Vorfahren vor 900 Jahren stehen geblieben sind. Es ist durchaus möglich, dass Sie nicht einmal solch elementare Dinge wie die Stunden-Gesetzestafel, die Persönlichen Stunden, die Mutternorm, die Grüne Mauer und den Wohltäter kennen. Ich finde es lächerlich und zugleich sehr schwierig, Ihnen dies alles auseinanderzusetzen. Es ist genauso, wie wenn ein Schriftsteller, nun, sagen wir des 20. Jahrhunderts, in seinem Roman erklären müsste, was ein Rock, eine Wohnung, eine Gattin ist. Übrigens, wenn sein Buch für unzivilisierte Völker übersetzt wurde, dann konnte man kaum ohne eine Anmerkung zu dem Wort Rock auskommen.

Wenn der Wilde Rock las, dachte er gewiss: »Wozu das? Das ist doch nur eine Last.« Ich glaube, auch Sie werden große Augen machen, wenn ich Ihnen sage, dass seit dem 200jährigen Krieg keiner von uns in dem Land jenseits der Grünen Mauer gewesen ist.

Aber, verehrter Leser, denken Sie nur einmal ein wenig nach: Die ganze Geschichte der Menschheit, soweit wir sie kennen, ist die Geschichte des Übergangs vom Nomadentum zu wachsender Sesshaftigkeit. Daraus folgt, dass die Lebensform der zähesten Sesshaftigkeit (nämlich die unsere) auch die vollkommenste ist (wiederum die unsere). Nur in prähistorischen Zeiten, als es noch Nationen, Kriege und Handel gab, als mehr als nur ein Amerika entdeckt wurde, zogen die Menschen sinn- und planlos von einem Ende der Welt zum anderen. Aber wozu, wer braucht das jetzt noch?

Ich gebe zu, die Gewöhnung an diese Sesshaftigkeit wurde nicht sofort und auch nicht ohne Mühe erreicht. Im 200jährigen Krieg, als alle Landstraßen zerstört und mit Gras überwuchert waren, musste es anfangs recht unangenehm sein, in Städten zu leben, die durch grüne Ein­öden voneinander abgeschnitten waren. Aber was hat das schon zu bedeuten? Nachdem der Mensch seinen Affenschwanz verloren, hat er wahrscheinlich auch nicht sofort gelernt, die Fliegen ohne dieses Hilfsmittel zu verjagen. Anfangs kam er sich ohne Schwanz zweifellos sehr kläglich vor. Anfangs hat er seinen Schwanz bestimmt schmerzlich vermisst. Jetzt aber — können Sie sich vorstellen, dass Sie einen Schwanz hätten? Oder dass Sie nackt auf der Straße herumliefen, ohne Rock (vielleicht tragen Sie noch einen Rock)} Mir geht es ebenso: Ich kann mir keine Stadt ohne die Grüne Mauer denken, kein Leben, das nicht in das Zahlengewand der Gesetzestafel gekleidet ist.

Die Gesetzestafel… Von der Wand meines Zimmers blicken ihre purpurnen Zahlen auf goldenem Grund mir wohlwollend-streng in die Augen. Unwillkürlich muss ich an das denken, was die Alten Ikone nannten, und ich möchte Verse schreiben oder beten (was übrigens das gleiche ist). Ach, warum bin ich kein Dichter, um dich würdig zu preisen, o Gesetzestafel, du Herz und Puls des Einzigen Staates! Wir alle (vielleicht auch Sie) haben schon als Schulkinder das größte aller uns erhaltenen Denkmäler der alten Literatur gelesen, den Eisenbahnfahrplan. Vergleichen Sie ihn einmal mit der Gesetzestafel, und Sie werden sehen: Das eine ist Graphit, das andere Diamant, beide bestehen aus dem gleichen Element, C, Kohlenstoff, aber wie durchsichtig-klar ist der Diamant, wie leuchtet er! Ihnen geht gewiss der Atem aus, wenn Sie die Seiten des Fahrplans entlangjagen. Die Stunden-Gesetzestafel hingegen verwandelt jeden von uns in einen stählernen sechsrädrigen Helden des großen Poems. Jeden Morgen stehen wir, Millionen, wie ein Mann zu ein und derselben Stunde, zu ein und derselben Minute auf. Zu ein und derselben Stunde beginnen wir, ein Millionenheer, unsere Arbeit, zur gleichen Stunde beenden wir sie. Und zu einem einzigen, millionenhändigen Körper verschmolzen, führen wir in der gleichen, durch die Gesetzestafel bestimmten Sekunde die Löffel zum Mund, zur gleichen Sekunde gehen wir spazieren, versammeln uns zu den Taylor-Exerzitien in den Auditorien, legen uns schlafen … Ich will ganz offen sein: Die absolute, endgültige Lösung des Problems Glück haben selbst wir noch nicht gefunden: Zweimal am Tag, von 16 bis 17 und von 21 bis 22 Uhr, spaltet sich der gewaltige Organismus in einzelne Zellen auf — das sind die von der Gesetzestafel festgesetzten Persönlichen Stunden. Zu dieser Zeit sehen Sie folgendes Bild: Die einen sitzen hinter geschlossenen Gardinen in ihren Zimmern, andere gehen im Takt zu den ehernen Klängen des Marsches auf dem Prospekt spazieren, wieder andere sitzen am Schreibtisch, wie ich in diesem Augenblick. Aber ich glaube — man mag mich einen Idealisten oder Phantasten nennen —, ich glaube ganz fest daran, dass wir irgendwann, früher oder später, auch für diese zwei Stunden einen Platz in der allgemeinen Formel finden werden, dass dann die Gesetzestafel sämtliche 86.400 Sekunden des Tages umfassen wird. Viel Unwahrscheinliches habe ich von jenen Zeiten gelesen und gehört, da die Menschen noch in Freiheit, nicht organisiert und wie die Wilden lebten. Aber am unbegreiflichsten war es mir immer, wie der damalige Staat, so unvollkommen er auch gewesen sein mag, es dulden konnte, dass die Menschen ohne Verordnungen lebten, die denen unserer Gesetzestafel vergleichbar wären, ohne Pflichtspaziergänge, ohne genau festgelegte Essenszeiten, dass sie aufstanden und zu Bett gingen, wann es ihnen gerade einfiel; einige Historiker berichten sogar, dass damals die ganze Nacht Lampen in den Straßen brannten, dass die Leute nachts durch die Straßen gingen und fuhren.

Ich kann das einfach nicht fassen. Wie beschränkt ihre Einsicht auch war, sie mussten doch erkennen, dass dieses Leben Selbstmord war, ein langsamer Selbstmord. Der Staat (die Humanität) verbot, einen Menschen zu töten, verbot aber nicht, Millionen umzubringen. Einen zu töten, das heißt die Summe aller Menschenleben um 50 Jahre zu verringern, war ein Verbrechen, aber die gleiche Summe um 50 Millionen Jahre zu verringern, war keines. Ist das nicht lächerlich?

Jede beliebige zehnjährige Nummer unseres Staates kann dieses mathematisch-moralische Problem in einer halben Minute lösen; sie aber vermochten es nicht, nicht einmal all ihre Kants zusammen (weil keiner dieser Kants draufkam, ein System wissenschaftlicher Ethik zu schaffen, einer Ethik nämlich, die auf Substraktion, Addition, Division und Multiplikation beruht).

Und ist es nicht absurd, dass der Staat von damals (dieses Gebilde wagte sich Staat zu nennen) das Geschlechtsleben ohne jegliche Kontrolle ließ? Die Menschen konnten sich vergnügen, wann und wie sie wollten, und sie zeugten Kinder wie die Tiere, in blinder Lust, ohne sich um die Lehren der Wissenschaft zu kümmern. Ist das nicht lächerlich: Sie kannten sich in Gartenbau, Geflügelzucht, Fischzucht aus (wir haben zuverlässige Quellen darüber) und vermochten dennoch nicht, die letzte Sprosse dieser logischen Leiter zu erklimmen: die Kinderzucht. Sie kamen nicht auf unsere Vater- und Mutternorm. Alles, was ich bis jetzt geschrieben habe, ist so töricht und unwahrscheinlich, dass Sie, unbekannter Leser, mich vielleicht für einen üblen Witzbold halten. Sie werden denken, dass ich mich über Sie lustig mache und mit todernster Miene den größten Unsinn von mir gebe.

Aber erstens bin ich gar nicht fähig, einen Witz zu machen — jeder Witz ist eine unklare Funktion, also eine Lüge —, und zweitens behauptet die Wissenschaft des Einzigen Staates, dass das Leben unserer Vorfahren so und nicht anders war, und die Wissenschaft des Einzigen Staates kann sich nicht irren. Woher hätte damals, als die Menschen in Freiheit, nämlich wie Tiere, wie Affen in Herden, lebten, die Staatslogik herkommen sollen? Was konnte man von ihnen erwarten, wenn man sogar noch in unseren Tagen irgendwoher aus der Tiefe, aus dem wilden Abgrund, das wilde Echo des Affen vernimmt? Zum Glück vernehmen wir es nur selten. Zum Glück sind das nur unbedeutende kleine Schäden, die wir leicht beheben können, ohne den ewigen Lauf der ganzen Maschine zu stoppen. Wenn wir einen verbogenen Bolzen entfernen müssen — dazu haben wir die geschickte, starke Hand des Wohltäters und die scharfen Augen der Beschützer… Übrigens, da fällt mir ein, diese S-ähnliche Nummer von gestern habe ich, glaube ich, einmal aus dem Beschützeramt herauskommen sehen. Jetzt begreife ich, warum ich unwillkürlich Ehrfurcht vor ihm empfand und warum mir so unbehaglich zumute wurde, als die sonderbare I-300 in seiner Gegenwart… Ich muss gestehen, diese I… Es läutet zum Schlafengehen: 22.30 Uhr. Bis morgen.

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