2. TEIL ... und die Welt wird auseinanderbrechen

17

Aggra rannte leichtfüßig über die Oberfläche des Himmelsweisensees, und ihre nackten braunen Füße hinterließen nur leichte Kringel auf dem Wasser. Normalerweise lief sie nicht, sondern ging und genoss das Gefühl dieses Ortes der Macht. Doch der Wind hatte ihr die Worte von Großmutter Geyah ins Ohr geflüstert: Komm, Kind, ich habe Neuigkeiten für dich.

So sanft die Worte gewesen waren, so sehr beeilte sich Aggra, ihnen Folge zu leisten. Sie war zum Thron der Elemente gekommen, um still zu Füßen der großen Elementare – Aborius, Gordawg, Kalandrios und Incineratus – zu sitzen, in der Hoffnung, sie würden vielleicht heute zu ihr sprechen. Aggra hatte sich gerade nahe Kalandrios gesetzt, dem Zorn der Luft, als Geyahs Worte sie erreichten. Deshalb lief sie jetzt zurück nach Garadar, der Festung der Horde im Lande Nagrand, um zu erfahren, welche Nachrichten so wichtig waren, dass sie nicht warten konnten.

Aggra war eine Schamanin, aber so gesund und stark wie die meisten Krieger. Aus diesem Grund war sie nur leicht außer Atem, als sie eintrat und vor der Großmutter mit respektvoll gesenktem Kopf auf die Knie fiel.

„Der Wind bat mich zu kommen, Großmutter. Was gibt es?“

Geyah lächelte und klopfte auf die abgetragene Decke. Aggra setzte sich neben sie. Geyah berührte das Gesicht der Orcfrau sanft. „So schnell! Hat der Wind dir Flügel verliehen, hm?“

Aggra lachte und genoss die Berührung der knorrigen Hand. „Nein, aber die Wassergeister ließen mich über den See laufen.“

Geyah lachte. „Das war nett von ihnen. Jetzt aber zu der Nachricht, die ich gerade von meinem Enkel erhalten habe... Er will nach Nagrand kommen und lernen, was ich ihn lehren kann.“

Aggra blinzelte. „Er... Was? Go’el?“

„Ja, Go’el.“

Aggra runzelte die Stirn. „Trägt er noch immer den verhassten Sklavennamen?“

„Ja“, sagte Geyah, unbeeindruckt von Aggras scheinbarer Schroffheit. Aggra wusste, dass Geyah schon vor Langem erkannt hatte, dass es leichter war, die Elemente um Hilfe zu bitten, als Aggras scharfe Zunge zu zügeln. „Das ist allein seine Entscheidung. Vielleicht kannst du ihn ja fragen, warum er das tut, wenn er hier ist.“

„Vielleicht werde ich das tatsächlich“, stimmte Aggra bereitwillig zu. Niemals zuvor hatte sie den berühmten Thrall getroffen. Bei seinem letzten Besuch war sie nicht in Nagrand gewesen. Sie wusste nur das über ihn, was andere ihr erzählt hatten. Jetzt, so schien es, konnte sie sich selbst ein Bild machen. „Ich hätte nicht gedacht, dass er jemals zurückkehrt.“

„Ich auch nicht, außer wenn ich Abschied nehme und zu den Ahnen gehe“, sagte Geyah. „Er hat mich um Hilfe gebeten.“

„Hilfe? Wobei braucht der ach so mächtige Thrall denn Hilfe?“

„Bei der Heilung der Welt.“

Aggra verstummte.

„Er schreibt mir in diesem Brief, dass die Elemente in Azeroth erschüttert sind und er meine Weisheit sucht“, fuhr Geyah fort. „Er sagt, wenn jemand wusste, wie man mit einer Welt in Aufruhr umgeht, dann sei ich das.“

„Hmpf“, schnaubte Aggra. Sie war wegen ihres vorschnellen Kommentars auf sich selbst wütend, wollte das jedoch nicht zeigen. „Dieser grüne Kerl ist doch erstaunlich klug, zumindest für jemanden mit einer menschlichen Ader.“

Geyah lachte, es klang wie ein fröhliches Krächzen. „Ich freue mich darauf, wenn ihr beide aufeinandertrefft“, sagte sie. „Doch er hat nicht unbedingt völlig recht.“

„Was meinst du, Großmutter? Du verfügst über mehr Weisheit als alle anderen Orcs zusammen. Du hast so viel mehr erlebt.“

Geyah legte eine Hand auf den weichen, braunen Arm des Mädchens. „Ich habe mehr gesehen, das stimmt. Und ich weiß viel, auch das stimmt. Doch es gibt jemanden, der die Dinge besser verstehen könnte als ich.“

Aggra neigte den Kopf und schaute verwirrt drein. „Wer soll das sein?“

„Du, mein Kind.“

Aggra riss die braunen Augen weit auf. „Ich? Oh nein. Ich weiß etwas, aber...“

„Niemals habe ich eine derart talentierte Schamanin wie dich erlebt“, unterbrach Geyah ihre Enkelin. „Alle Elemente sangen Schlaflieder für dich, Aggra. Vor langer Zeit erwählten sie dich. Ich bin stolz, dass ich dich unterrichten durfte, aber wenn du mich nicht gehabt hättest, hätte dir ein anderer ebenso viel beigebracht, wie ich es tat. Wenn es an der Zeit ist, zu den Ahnen zu gehen, werde ich das voller Zufriedenheit tun, denn ich weiß, dass du hier bist, um meinen Platz einzunehmen.“

Aggra blinzelte nervös. „Möge dieser Tag noch viele Jahre in der Zukunft liegen“, sagte sie. „Ich bin mir sicher, dass du mir und den anderen noch viel beibringen kannst. Auch deinem Enkel mit dem Sklavennamen.“

„Eigentlich“, überlegte Geyah mit einem Hauch von Bosheit in den Augen, „dachte ich daran, dir den größten Teil des Unterrichts zu überlassen. Und das aus keinem anderen Grund als dem, dass ich viel Spaß dabei haben werde zuzusehen, wie ihr beide miteinander auskommt.“

Aggra konnte ihren Gesichtsausdruck nicht sehen, doch so, wie Geyah den Kopf zurückwarf und lachte, war er von komischer Bestürzung.


Thrall hatte vergessen, wie schön Nagrand war.

Der Sonnenuntergang stand kurz bevor, und es war, als habe der Himmel sich entschlossen, wie ein exotischer Vogel stolz seine Federn zu zeigen, um ihn zu beeindrucken. In allen Schattierungen von Blau und Violett lag die Luft über rosa gefärbten Wolken, die wie Zuckerwatte aussahen. Darunter war die ebenfalls schöne Erde ausgebreitet. Das Gras war dicht wie ein Teppich und von sattem Grün, und in der Ferne konnte Thrall einige große Tiere ausmachen. Er hörte die Geräusche des dahinplätschernden Wassers, den Ruf der Vögel, die sich für die Nacht bereit machten, und spürte ein unerwartetes Ziehen in seinem Herzen.

Das erlebten viele hier auf Draenor, wie man ihm berichtet hatte. Woanders, das wusste Thrall, war das Land verwüstet, trostlos, von Narben bedeckt. Nicht so hier, nicht in Nagrand. Als er den Anblick des Sonnenuntergangs in sich aufnahm, fragte er sich, ob vielleicht auch Durotar dazu gebracht werden konnte, derart zu erblühen... wenn das Brachland und Desolace eines Tages ihre Unheil kündenden Namen nicht mehr verdienten.

„Loktar“, erklang eine Stimme.

Thrall hatte darum gebeten, kein Fest zu seiner Ankunft zu veranstalten. Er war hierhergekommen, um zu lernen, nicht, um gefeiert zu werden. Seine Zeit war zu knapp bemessen, als dass er sie mit solchen Nebensächlichkeiten hätte vergeuden können. Deshalb war er nicht überrascht und sogar erfreut, als er sich umblickte und feststellte, dass nur ein einzelner weiblicher Orc ihn erwartete.

Sie war jung, vielleicht noch ein wenig jünger als er, und trug ein Kleiderbündel auf den starken braunen Armen. Ihr leuchtend rotbraunes Haar fiel locker auf eine unordentliche, beinahe schon wilde Art über ihre Schultern, und sie trug einen ledernen Kilt und eine Weste. Sie hätte schön wirken können in ihrer eigensinnigen, aufrechten Art, wären da nicht der finstere, missbilligende Blick und die nach unten gezogenen Mundwinkel gewesen.

„Du bist Thrall, Sohn von Durotan“, sagte sie ohne jede Einleitung.

„Der bin ich“, antwortete er.

„Ein schmutziger Name. Hier wirst du Go’el genannt.“

Ihre Direktheit erschütterte ihn. Seit sehr vielen Jahren war er nicht mehr herumkommandiert worden, nicht, seitdem er sich des Frostwolfklans und Orgrim Schicksalshammers eines Abends vor langer Zeit als würdig erwiesen hatte.

„Go’el mag der Name gewesen sein, den meine Eltern für mich ausgesucht haben, aber das Schicksal hat anders entschieden. Ich bevorzuge Thrall.“

Sie wandte den Kopf ab und spie verächtlich aus. „Ein Menschenwort, das ‚Sklave‘ bedeutet. Es eignet sich nicht für einen Orc, schon gar nicht für einen, der andere Orcs anführen will – selbst diejenigen, die nicht in seiner Welt leben.“

Thralls Nüstern bebten angesichts der Beleidigung, und seine Stimme nahm einen scharfen Klang an. „Ich bin der Kriegshäuptling der Horde, ein Schamane, und ich habe dafür gesorgt, dass die Allianz meinen Namen fürchtet, der einst Sklave bedeutete. Für sie steht er für den Ruhm und die Macht der Horde. Ich möchte dich bitten, den Namen zu benutzen, den ich bevorzuge.“

Sie zuckte mit den Achseln. „Du kannst ihn behalten, aber wir werden dich nicht so nennen. Wenn ich mich nicht irre, bist du nicht als Kriegshäuptling der Horde hier, um uns herumzukommandieren, sondern als Schamane, um Weisheit zu finden.“

„Das stimmt.“ Thrall unterdrückte den gerechten Zorn, der in ihm brodelte. Er hatte Garrosh für solche Dinge gescholten und würde nun seinen eigenen Rat befolgen und ruhig bleiben. „Ich bin hierhergekommen, um von meiner Großmutter zu lernen, Großmutter Geyah. Würdest du mich jetzt bitte zu ihr bringen?“

Seine Stimme klang höflich, doch keineswegs unterwürfig. Das Orcmädchen schien – wenn auch nur ein wenig – besänftigt.

„Das werde ich“, sagte sie. „Und zweifellos wirst du viel von ihr lernen. Sie hat jedoch entschieden, dass dir die meisten Lektionen von einem anderen Lehrer erteilt werden, da sie schnell müde wird.“

„Jeden, den Geyah für fähig hält, mir etwas beizubringen, will ich demütig akzeptieren“, sagte Thrall mit äußerster Ernsthaftigkeit. „Wie heißt er?“

Ihr Name ist Aggra“, sagte das Mädchen, wandte sich ab und ging schnell voraus. Sie erwartete offensichtlich, dass er ihr folgte.

„Ich freue mich darauf, Aggra kennenzulernen.“

Sie warf ihm einen amüsierten Blick über die Schulter zu und lächelte verschmitzt. „Das hast du bereits.“ Thrall taumelte leicht, als er die Bedeutung ihrer Worte erfasste.

Ihr Ahnen, gebt mir Kraft!, dachte er.


Das Essen war einfach: geröstete Grollhufe, Mag’har-Kornbrot, verschiedene Früchte und Gemüse und klares, reines Wasser, um alles hinunterzuspülen. Thrall hatte nie besonderen Gefallen an opulentem Essen gefunden und die meiste Zeit seines Lebens das schlichte, nahrhafte Essen bekommen, das auch den Gladiatoren gereicht wurde. Deshalb hatte er keinerlei Einwände gegen dieses Mahl. Das Fehlen jeglichen Prunks gefiel ihm ebenso, wie er Geyahs Anwesenheit genoss. Sie war älter geworden, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte, und dieses eine Jahr hatte seinen Tribut gefordert. Doch sie war weit davon entfernt, gebrechlich zu sein, und ihr Geist war so lebhaft und stark wie eh und je. Thrall konnte nicht umhin, den Unterschied zu Drek’Thar zu bemerken. Manchmal schien das Schicksal den einen gnädiger zu behandeln als den anderen.

Er hätte verlangen können, dass nur sie beide bei dem Mahl anwesend waren. Aggra saß neben Geyah und war ganz offensichtlich die Favoritin der alten Frau, was Thrall verblüffte. Sie sprach nicht viel, doch wenn sie es tat, waren ihre Worte knapp und nicht selten schroff. Geyah schien diese offensichtliche Respektlosigkeit nicht im Geringsten zu stören. Als Aggra aufstand, um Wasser für sie zu holen, beugte Thrall sich zu seiner Großmutter hinüber.

„Das Mädchen zeigt nicht den Respekt, der dir zusteht, Großmutter“, sagte er leise.

„Andere würden sagen, dass du das ebenso wenig tust, weil du mich wie deine leibliche Großmutter behandelst“, antwortete sie.

„Wenn du das nicht willst, werde ich es sofort ändern.“

Geyah winkte ab. „Ich bin deine leibliche Großmutter, Go’el. Warum solltest du mich also nicht so ansprechen?“

„Aber diese... Aggra schneidet dir das Wort ab und sagt geradeheraus, dass du unrecht hast, sie...“

„Verspottet dich, obwohl du der große Kriegshäuptling der Horde bist.“ Geyah lachte leise. „Komm schon, mein Enkel. Sag mir nicht, du hättest keine Vertrauten, die dir den Kopf aus den Wolken holen, wenn das nötig ist. Denn dann würde ich dich einen Lügner nennen. Du bist ein großartiger Anführer, und großartige Anführer umgeben sich nicht mit Leuten, die nur um sie herumscharwenzeln und ihnen nach dem Munde reden. Manchmal hat sie recht, und ich muss meine Ansichten ändern oder mich korrigieren. Manchmal hat sie es jedoch auch nicht. Aber ich habe nie versucht, sie zum Schweigen zu bringen, und das habe ich kein einziges Mal bereut. Der Tag, an dem ich die Wahrheiten der anderen nicht mehr höre, sollte mein letzter sein. Dann gehe ich zu den Ahnen, weil alles gestorben ist, für das ich mich achte.“

Thrall nickte und dachte an Etrigg und Cairne. Noch am Abend zuvor hatte Cairne ihm gegenüber Worte und einen Tonfall benutzt, die jeder andere als respektlos hätte erachten können, gar als beleidigend. Thrall jedoch schätzte sie für das, was sie waren: aufrichtig und Ausdruck ehrlicher Sorge. Er bewegte sich unbehaglich auf der abgenutzten Decke, die ihm keinerlei Bequemlichkeit bot. Von Cairnes Worten hatte er sich beleidigt gefühlt, obwohl er es besser hätte wissen müssen, und er schalt sich dafür. Thrall entschied, sich bei seiner Rückkehr bei Cairne zu entschuldigen und dem alten Bullen für seine direkten Worte zu danken.

„Die Lehrstunden bei dir haben bereits begonnen, Großmutter“, sagte Thrall lächelnd.

„Oh, gut“, sagte Aggra, die mit einem gefüllten Wasserkrug zurückkam. „Du brauchst Unterricht.“

Thrall atmete tief durch. Mit Aggra zu lernen, dachte er, würde die schwierigste der „Lektionen“ sein.

„Aggra, ich habe dir und Go’el gesagt, dass du während seiner Zeit in Nagrand seine Hauptlehrerin bist. Ich werde dich weiter unterrichten, Thrall, aber unsere Stunden werden hier stattfinden. Mein Körper ist nicht mehr stark genug, um durch das Land zu reisen. Aggra kann dich zu den Orten begleiten, die du besuchen musst.“

Thrall nickte dem jüngeren weiblichen Orc höflich zu, zumindest hoffte er das. „Ich verstehe, und ich freue mich auf ihren Unterricht.“

Aggra hob eine Augenbraue und gab einen kaum hörbaren geringschätzigen Laut von sich.

„Aggra... du magst nicht in allem einer Meinung mit Go’el sein. Das musst du auch nicht. Du musst ihn nur unterrichten, so gut du kannst. Sein Land leidet. Er hat seine Aufgaben in Azeroth an Garrosh Höllschrei übertragen...“

„Garrosh? Dieser Bengel ist nicht imstande...“

„... um zu lernen, wie er seiner Welt helfen kann“, fuhr Geyah ungerührt fort. Ihre Stimme wurde lauter und ernster. „Wen er zum Anführer der Horde ernannt hat, geht mich nichts an und dich ebenso wenig. Denkst du, du wärst zu fein, um den Elementen zu helfen, wenn sie leiden?“

Aggras Wangen röteten sich. Sie setzte bereits zu einer Antwort an, doch dann faltete sie die Hände in ihrem Schoß. „Du hast recht, Großmutter. Ich habe mein Leben der Aufgabe gewidmet, den Elementen zuzuhören und mit ihnen zu arbeiten, selbst wenn sie die Elemente einer anderen Welt sind. Ich werde dienen, indem ich Go’el alles, was ich weiß, beibringe.“ Unfähig zu widerstehen, fügte sie hinzu, „Ganz egal, was ich auch von ihm persönlich halte.“

Thrall schenkte ihr ein höfliches Lächeln. „Und ich, für meinen Teil, bin gewillt, zuzuhören und alles zu lernen, was ich kann, zum Segen für meine Welt. Ganz egal, was ich von Aggra persönlich halte.“

18

Die Wochen vergingen. Varian hatte darauf bestanden, dass Anduin in Eisenschmiede blieb.

„Du hast jetzt die Chance, dem Volk von Eisenschmiede zu helfen“, hatte er seinem Sohn gesagt. „Hier hast du dir einige gute Freunde gemacht. Die Tatsache, dass der Prinz von Sturmwind während dieser schwierigen Zeit hierbleibt, ist ein Beweis dafür, wie sehr wir die Zwerge schätzen. Ich weiß, momentan ist Eisenschmiede kein sehr angenehmer Ort, aber auch als König muss man unangenehme Dinge tun.“

Anduin hatte genickt und war unmittelbar nach dem Gespräch nach Eisenschmiede zurückgekehrt. Er wusste, dass sein Vater recht hatte, und war nur zu gern bereit, den Zwergen zu helfen.

Dennoch war ihm klar, dass es das Beste für alle Beteiligten wäre, wenn entweder Muradin oder Brann endlich die Position einnahm, die ihr Bruder auf so tragische Weise hatte abgeben müssen. Und das möglichst bald.

Anduin ließ sich wieder von Rohan unterweisen und übte mit mehreren Männern von Magnis Leibwache. Er saß gerade mit dem Hohepriester zusammen, als Wyll herbeieilte, der ein wenig hinkte und völlig außer Atem war.

„Euer Hoheit! Kommt schnell!“

Anduin war sofort auf den Beinen. „Was ist los? Was ist geschehen?“

„Ich... ich weiß es nicht“, keuchte der ältliche Diener. „Ihr sollt beide... zum Hohen Sitz kommen...“

Rohan und Anduin tauschten einen überraschten Blick, erhoben sich und machten sich unverzüglich auf den Weg. Anduin fragte sich, ob Magnis Brüder endlich gekommen waren, um die Herrschaft zu übernehmen – ein Gedanke, der ihn mit Erleichterung erfüllte. Doch zugleich spürte er einen Stich. Es betrübte ihn, dass das überhaupt nötig geworden war. Doch letztlich geschah genau das, was Magni beabsichtigt hatte. Anduin bemühte sich, nicht zu laufen.

Er umrundete eine Ecke und verfiel auf den letzten Metern schließlich doch in einen verhaltenen Trab.

Er konnte nicht glauben, was er sah.

Weder Muradin noch Brann Bronzebart waren dem Ruf nach Eisenschmiede gefolgt, um die Krone zu beanspruchen. Ein anderer Bronzebart war gekommen.

Berater Beigrum machte den Eindruck, wie Magni zu Diamant erstarrt zu sein, abgesehen von seinen weit aufgerissenen, schreckerfüllten Augen. Die Wachen, die früher Magni Bronzebart gedient hatten, standen nun alle auf einer Seite des Raums und schienen verwirrt und eingeschüchtert zu sein. Ihre Positionen wurden nun von anderen Zwergen eingenommen, die lange schwarze Bärte trugen und eine Haut hatten, die so grau war wie ihre Rüstungen. Sie waren bis an die Zähne bewaffnet. Anduin warf ihnen einen raschen Blick zu und starrte dann auf die junge Zwergin.

Sie war hübsch und hatte rotbraunes Haar, das in kreisrunden Knoten zu beiden Seiten des Kopfes arrangiert war. Dazu trug sie feine, aber etwas altmodische Kleidung und hielt ein Kleinkind auf dem Schoß. Obwohl er sie nie zuvor gesehen hatte, wirkte sie merkwürdig vertraut.

Und sie saß auf Magni Bronzebarts Thron.

„Ah, Hohepriester Rohan“, sagte die Fremde in honigsüßem Tonfall und lächelte freundlich. „Es tut so gut, Euch wiederzusehen. Und dieser junge Mensch muss Prinz Anduin Wrynn sein. Was für ein höflicher junger Mann er doch ist, dass er so prompt erscheint. Euer Vater hat Euch offenbar gut in solchen Höflichkeiten unterwiesen. Oh, wir wurden uns noch gar nicht ordnungsgemäß vorgestellt, oder?“

Ihr Lächeln wurde breiter, und ihre Augen glitzerten. „Ich bin Königin Moira Bronzebart.“

Anduin konnte nicht glauben, was er da hörte und sah. Doch jetzt, da Moira ihren Namen verkündet hatte, fiel ihm die Ähnlichkeit mit ihrem Vater auf. Und er verstand, warum niemand eingegriffen hatte, obwohl sie von mehreren Zwergen mit leuchtenden Augen und grauer Haut begleitet wurde, die ganz offensichtlich Dunkeleisenzwerge waren. Moiras Anspruch auf den Thron war berechtigt, denn sie war die legitime Erbin Magnis, gefolgt von ihrem Kind. Dagegen konnte man nichts machen.

Wollen die Zwerge überhaupt etwas dagegen tun?, fragte sich Anduin, nachdem der erste Schreck nachgelassen hatte. Sie war Magnis Tochter, also saß wieder ein Bronzebart auf dem Thron von Eisenschmiede. Anduin hatte sich mittlerweile wieder ein wenig erholt und verneigte sich gerade so tief vor Moira, wie es einem Adligen gleichen Ranges zukam. Sie mochte die Erbin Magnis sein, doch sie war noch nicht zur Königin gekrönt worden, egal, was sie sagte. Bis dahin war sie eine Prinzessin und hatte denselben Rang inne wie er.

Sie hob eine rotbraune Augenbraue und neigte den Kopf. Doch sie verneigte sich nicht. Diese Geste verriet Anduin alles, was er wissen musste.

„Ich habe schon viel zu lange nicht mehr innerhalb dieser Mauern gelebt“, sagte sie. „Es war dumm von meinem lieben verstorbenen Vater, dass er diesen Streit zwischen uns aufkommen ließ. Ich habe einen Imperator geheiratet, was sicherlich keinen Ehrverlust für den Namen Bronzebart darstellt. Dieses Kind – Dagran Thaurissan, nach seinem Vater benannt – ist Magni Bronzebarts Enkel und der Erbe zweier Königreiche.“ Sie wiegte das Kind in ihren Armen, und das Lächeln, das von echter Liebe erfüllt war, machte ihr sprödes Gesicht ein wenig weicher. „Nach so langer Zeit der Trennung wird dieser Junge unseren beiden stolzen Völkern die Einheit bringen – Dunkeleisenzwerge und Bronzebärte.“ Sie sah auf, und das Bild einer liebenden Mutter wurde augenblicklich durch ihren durchtriebenen, falschen Charme wieder zunichtegemacht. „Ist er nicht wundervoll, Rohan? Ihr seid ein Zwerg des Friedens, ein Priester des Lichts. Sicherlich heißt Ihr diese neue Ära willkommen.“

Rohan erwiderte höflich: „In der Tat, Euer Hoheit, ich...“

„Majestät!“ Wieder dieses spröde Lächeln. Anduin spürte, wie es ihm kalt den Rücken hinunterlief.

Rohan zögerte gerade so lange, dass sein Missfallen offensichtlich wurde. „Majestät. Friede ist sicherlich das Ziel, nach dem man streben sollte.“

Der alte Priester, so schien es, war auch Politiker. Seine Antwort war ausgesprochen geschickt.

Moira wandte ihren Blick Anduin zu, und ihr Lächeln wurde breiter. Anduin dachte, dass sie ihn an einen Fuchs erinnerte, bereit, das Kaninchen zu töten.

„Mein lieber Anduin“, sagte sie beinahe säuselnd, „welch großartige Freunde wir zweifellos werden! Zwei Königskinder hier in Eisenschmiede. Ich will Euch so gerne kennenlernen. Ihr müsst einfach eine Weile hierbleiben.“

„Mein Vater bat mich, in Eisenschmiede zu bleiben, bis der rechtmäßige Erbe für den Thron gefunden ist“, sagte Anduin und bemühte sich, seine Stimme ruhig und höflich klingen zu lassen. Das stimmte sogar. „Zu Hause erwarten mich verschiedene Angelegenheiten, nachdem diese ernste Aufgabe nunmehr erledigt ist.“

Dies entsprach ebenfalls der Wahrheit, doch die unausgesprochene Folgerung – dass er von seinem Vater heimgerufen worden war – hatte er frei erfunden.

„Ich glaube, dass...“

Gebieterisch hob Moira eine Hand. „Davon möchte ich nichts hören, Prinz Anduin. Ihr seid mein Gast, und Ihr werdet Eisenschmiede einen schönen, langen Besuch abstatten.“ Sie lächelte und nickte, als sei dies damit beschlossene Sache.

Mit einem unguten Gefühl im Magen erkannte Anduin, dass das auch zutraf.

Er murmelte etwas Höfliches, und sie entließ ihn mit einem herablassenden Wink. Gemeinsam mit Beigrum und Rohan verließ er den Raum. Anduin war wie benebelt.

„War... das gerade... ein Putsch!“, fragte er und senkte die Stimme.

„Es ist völlig legal und einwandfrei“, sagte Beigrum. „Durch das Fehlen eines männlichen Erben hat die Frau das Recht, den Thron für sich zu beanspruchen. Moira sticht dabei sogar Muradin und Brann aus, weil sie eine direkte Erbin ist. Also ist es kein Putsch, sondern eine legitime Inanspruchnahme des Throns.“

„Aber... Sie und Magni waren entfremdet. Und es sind Dunkeleisenzwerge bei ihr!“ Anduin versuchte, das Ganze zu verstehen.

„Nun, Magni hat sie nie enterbt, Junge“, sagte Rohan. „Er wollte immer, dass sie wieder heimkommt. Selbst, wenn er... nun, das ist jetzt auch egal. Obwohl ich mir sicher bin, dass er fuchsteufelswild würde, wenn er wüsste, dass Dunkeleisenzwerge in seiner Stadt hausen. Aber sie sind unsere Vettern... Vielleicht entsteht ja doch etwas Gutes da...“

Er unterbrach sich mitten im Wort. Sie waren gerade aus dem Hohen Sitz herausgetreten und in den Bereich der Großen Schmiede gelangt. Die Schmiede war kurz nach Magnis Beerdigung wieder in Betrieb genommen worden, und genau hier war der Ort, wo die Greifen nach Eisenschmiede hinein- und wieder hinausflogen.

Normalerweise. Doch jetzt waren sie fort.

Das Gleiche galt auch für ihre Flugmeister. Die mit Stroh gepolsterten Schlafstellen, bei denen immer mehrere Greifen auf ihre Reiter gewartet hatten, um sie an die verschiedenen Orte in den Östlichen Königreichen zu bringen, waren leer. Anduin blickte sich um und sah einen gefiederten Schwanz samt dem gelben, löwenartigen Hinterteil in Richtung der Tore verschwinden. Ohne nachzudenken, rannte er los und ignorierte die Aufforderung seiner Begleiter, stehen zu bleiben.

Er holte einen Flugmeister mit einem der Greifen ein. „Gryth!“, rief er und legte eine Hand auf die breite Schulter des Zwergs. „Was ist hier los? Warum sind die Greife fort?“

Gryth Thurden wandte sich zu Anduin um. „Kommt ihm besser nicht zu nah, Junge, sonst könntet Ihr krank werden!“

Für gewöhnlich löste eine solche Warnung einige Sorge aus, doch die Art, wie Gryth sie geäußert hatte, klang eher nach einem schlechten Scherz. Seine Stimme troff vor Sarkasmus.

„Was?“ Anduin war sich nicht sicher, ob ihm nicht ein Streich gespielt wurde, und er blickte den Greif misstrauisch an. „Nun, dieser Flügel scheint verletzt zu sein, aber doch nicht krank...“

„Och, nein, nein, sie sind schrecklich krank!“ Gryth rollte wild mit den Augen. „Zumindest ist es das, was die neue Königin dieser Dunkeleisenschläger uns sagte. Sie sind alle sehr krank, wie es scheint. Und diese Krankheit greift um sich. Sie kann jeden befallen... Stellt Euch das vor! Zwergen, Menschen, Elfen, Gnome, selbst die Draenei, die nicht von dieser Welt stammen! Die Greife müssen für mehrere Monate in Quarantäne. Keine Greifenflüge rein oder raus. Dieser hier mochte die Dunkeleisenzwerge nicht und hat einen von ihnen gebissen. Damit hat er sich eine ganz schöne Wunde am Flügel eingehandelt. Die anderen sind bereits zu ihren neuen Ställen geflogen. Das Licht allein weiß, wann sie zurückkommen.“

„Aber... Ihr wisst doch, dass das nicht stimmt!“, sagte Anduin geradeheraus.

Gryth beugte sich zu Anduin vor. „Natürlich ist das nicht wahr“, sagte er, seine Stimme klang tief, und seine Wut war deutlich herauszuhören. „Diese angebliche Königin ist eine Närrin, wenn sie glaubt, dass wir ihr das abnehmen. Aber was soll ich machen? Moira will die fliegenden Greife nicht, und diese Dunkeleisenbastarde haben gedroht, die Tiere auf der Stelle zu töten, wenn ich weiter protestiere. Besser, sie leben alle noch und bleiben eine Zeit lang am Boden, bis die Dinge wieder in Ordnung sind. Wenn das Licht es will, geschieht das schon bald.“

Anduin sah zu, wie sie auf der Straße weiterzogen, die von Eisenschmiede herunterführte. Er fragte sich, ob die Tiere tatsächlich in Quarantäne kamen oder ob sie am Boden gehalten wurden. Er wischte sich mit der zitternden Hand über die Stirn, die trotz der Kälte schweißbedeckt war.

Beigrum und Rohan hatten zu ihm aufgeschlossen und blickten besorgt drein. Ein Gnom mit einem freudlosen Gesichtsausdruck trat zu ihnen. „Die Greife werden in Quarantäne geschickt“, sagte Anduin dumpf und wandte sich seinen Begleitern zu. „Anscheinend sind sie sehr krank, und diese Krankheit soll ansteckend sein.“

„Oh, wirklich?“, fragte Rohan. „Dann war es vielleicht ein kranker Greif, der die Tiefenbahn beschädigt hat, oder?“

„Was?“ Anduin zitterte und schlang die Arme eng um seinen Körper. Er war sich recht sicher, dass er nur wegen der Kälte zitterte, als sie wieder hineingingen. Zumindest hoffte er das.

Der Gnom ergriff das Wort. „Die Bahn wurde als unsicher bezeichnet und geschlossen, bis sie repariert werden kann. Aber sie ist nicht unsicher, sondern völlig in Ordnung! Ich arbeite jeden Tag dort. Ich wüsste es, wenn da etwas nicht in Ordnung wäre!“

„Unsichere Bahnen und kranke Greife“, murmelte Anduin, und seine Augen verengten sich. „Wege, die aus der Stadt herausführen...“

Rohan schaute finster. „Aye, das haben wir auch schon gemerkt. Aber es gibt noch andere Wege, um...“

„Was glaubst du, tust du da, du Wüstling?“, erklang eine schrille weibliche Gnomenstimme.

„Ja, genau!“, erwiderte Dink. „Wir sind gute, angesehene Bürger!“

Ein männlicher Gnom! Die beiden Stimmen kamen Anduin bekannt vor. Er tauschte besorgte Blicke mit seinen Freunden, und gemeinsam liefen sie in die Versammlungshalle.

Vier Dunkeleisenzwerge hielten die beiden Gnome fest, die sich protestierend in deren Armen wanden und ihren Unmut laut kundtaten.

„Bink und Dink“, sagte Anduin und erinnerte sich an das Geschwisterpaar.

„Lasst sie los!“ Mehrere Eisenschmiedewachen rannten mit erhobenen Äxten und Schilden herbei.

„Befehl von Ihrer Majestät“, knurrte einer der Dunkeleisenzwerge. Lügner!, dachte Anduin. „Wir nehmen sie nur zur Befragung über einige ungeklärte Dinge mit, das ist alles.“

Nein, das taten sie nicht, und Anduin wusste es. Sie nahmen sie mit, weil es Magier waren... und Magier konnten Portale aus Eisenschmiede heraus erschaffen. Moira wollte nicht, dass irgendjemand Eisenschmiede verlassen konnte.

„Sie ist nicht unsere Majestät“, sagte die Wache mit gefährlich leiser Stimme. „Lasst sie sofort los!“

Zur Antwort schubste der Dunkeleisenzwerg Dink zu einem seiner Gefährten, zog das Schwert und ging zum Angriff über.

Alles geschah sehr schnell. Dunkeleisenzwerge und Bronzebärte schienen aus allen Richtungen herbeizulaufen. Die schwelenden Abneigungen und Vorbehalte, die Furcht und die Wut kochten plötzlich über. Die Luft war jetzt nicht mehr vom Schlag der Hämmer auf dem Amboss erfüllt, sondern von wütenden Rufen und dem Klirren von Stahl. Anduin stürzte vor, doch eine kräftige Hand zog ihn zurück.

„Nein, Junge! Das ist eine Zwergenangelegenheit!“, schrie Rohan. Er trat vor und hob die Arme, sprach ein Gebet und strahlte Ruhe aus. „Hört auf! Eisenschmiede sollte niemals erleben müssen, wie Zwerge gegen Zwerge kämpfen!“

„Haltet ein, ihr Wachen von Eisenschmiede, haltet ein!“

Die Stimme war schneidend und der Sprecher offenbar gewohnt, dass man ihm Folge leistete. Glücklicherweise gehörte sie Angus Steinhammer, dem Hauptmann der Wachen von Eisenschmiede. Er brachte mehrere Wachposten mit, die allesamt mit wütendem Blick das Geschehen verfolgten.

Die Wachen waren gut ausgebildet, und es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie gehorchten, ihren Angriff beendeten, zurücksprangen und Verteidigungshaltung einnahmen. Die Dunkeleisenzwerge drängten noch ein wenig vor, doch schließlich stellten auch sie die feindseligen Handlungen ein. In der allgemeinen Verwirrung waren die Gnome völlig vergessen worden. Sie wuselten nun zu Anduin und Beigrum und klammerten sich ängstlich an sie. Rohan trat schnell vor, um die Verwundeten zu heilen. Anduin erkannte, dass es nicht wenige gab, einige von ihnen waren sogar ernsthaft verletzt. Dunkeleisenzwerge und Bronzebärte zählten gleichermaßen zu ihnen. Trotz der Hitze überkam ihn ein Schaudern, und er fragte sich, ob er die ersten traurigen Vorboten eines zweiten Zwergenkrieges miterlebte.

„Wächter!“, bellte der Hauptmann. „Moira ist so lange die Erbin des Throns, bis jemand anders einen vorrangigen Anspruch geltend gemacht hat. Ihr werdet sie respektieren und diejenigen, die sie erwählt hat, sie zu beschützen! Habt ihr das verstanden?“

Ein murmelnder Chor aus „Ayes“, von denen einige sehr zögerlich klangen, antwortete ihm.

„Und ihr“, Steinhammer zeigte mit seinem knubbeligen Finger in Richtung der Dunkeleisenzwerge, „Ihr könnt nicht einfach brave Bürger mitnehmen. Ihr müsst euch an die Gesetze halten. Ich bin mir sicher, ihr habt die beiden Kleinen nicht einmal angeklagt. Wir bewachen die Bürger von Eisenschmiede und setzen die Gesetze durch. Egal, wer auf dem Thron sitzt!“

Die Dunkeleisenzwerge wurden unruhig, erhoben jedoch keinerlei Widerspruch. Anduin lächelte bitter, verspürte jedoch etwas Hoffnung. Es war eine Sache, eine Bahn zu schließen oder Tiere zu bedrohen und zu töten, um Eisenschmiede zu isolieren. Es war jedoch etwas ganz anderes, unbescholtene Bürger ohne Grund und Gerichtsprozess einzusperren. Moira hatte vielleicht einige ihrer Vorhaben durchsetzen können – Anduin vermutete, dass die Post und alle anderen Möglichkeiten, mit der Außenwelt in Kontakt zu treten, bereits ebenfalls unterbunden worden waren –, aber sie hatte nicht mit dem Mut und dem eisernen Willen der Zwerge von Eisenschmiede gerechnet.

Knurrend blickten die Dunkeleisenzwerge zu den Gnomen hinüber und nickten. „Wenn ihr das Gesetz wollt, dann sollt ihr es haben“, knurrte einer. „Wir gehorchen ihm, weil Ihre Majestät die legitime Thronfolgerin ist. Und was das bedeutet, werdet ihr noch früh genug herausfinden.“

Er spie dem anderen Zwerg vor die Füße, bevor er und seine Begleiter sich umwandten und von dannen marschierten. Anduin sah ihnen nach. Er hätte erleichtert sein müssen, doch das war nicht der Fall. Der Konflikt war noch lange nicht ausgestanden, und er befürchtete, dass Zwergenblut in Eisenschmiede fließen würde – so wie das heiße Metall in der Schmiede –, und zwar in großen Mengen.

19

Thrall beugte sich vor und streichelte über den langen, beigefarbenen Hals des Talbuks, auf dem er saß. Das Tier wackelte vergnügt mit dem Kopf und wartete darauf, Thrall weiterzutragen, sobald er es wollte. Er war hierhergekommen, um neue Dinge zu lernen, und genau das tat er, indem er auf einem Tier saß, das er zuvor kaum gekannt hatte. Die Mag’har benutzten, wie die meisten Orcs, noch immer Wölfe als Reittiere. Doch sie schätzten die Talbuks sehr, und diese waren nur wenigen Auserwählten vorbehalten.

Aggras Talbuk war von schöner blauer Farbe und schien lebhafter zu sein als Thralls Tier, das, wie sie ihm gesagt hatte, ein Reittier war, das sich für Anfänger wie ihn eignete. Das war wieder eine ihrer Kränkungen. Es schien ihr großen Spaß zu machen, ihn zu beleidigen. Sie achtete jedoch stets darauf, eine gewisse Grenze nicht zu überschreiten. Für Thrall war Aggra eine weitere Prüfung, die er zum Wohle seines Volkes bestehen musste.

Er mochte seinen Talbuk Shuk’sar gern und hatte keinen Grund zur Klage. Der Ritt war unruhiger als auf einem geschmeidigen Wolf, aber der Kriegshäuptling gewöhnte sich langsam daran.

„Nagrand hatte Glück. Es hat nicht so stark gelitten wie andere Teile Draenors“, sagte Aggra, als sie an einem kleinen Weiher rasteten. „Andere Orte sind völlig zerstört oder arg mitgenommen. Wir versuchen, so viel wie möglich zu lernen und gleichzeitig alle zu unterstützen, die den Elementen anderswo helfen. Es wird niemals wieder so sein wie früher, doch es wird heilen, so gut es geht.“

„Ich frage mich, ob meine Welt das auch von sich behaupten kann“, sagte Thrall. „Du hast einen Ort erwähnt, der Thron der Elemente genannt wird.“

Aggra nickte. „Wenn wir die Elemente um Hilfe bitten, berühren wir deren Geister. Die Geister der Erde, der Luft, des Feuers und des Wassers.“

Thrall nickte ein wenig ungeduldig. „Das weiß ich. Es gehörte zu den ersten Dingen, die mich Drek’Thar gelehrt hat.“

„Oh, gut. Ich wollte nur sichergehen, da ich nicht weiß, wie begrenzt dein Wissen ist.“ Sie lächelte mit falscher Freundlichkeit, und Thrall knirschte mit den Zähnen.

„Geyah meinte, dass die Elemente hier Namen haben“, fuhr er fort. „In Azeroth gilt das nur für besonders starke Elementare. Welche Rolle spielen diese Wesen?“

„Das ist eine gute Frage“, sagte sie, obwohl sie das Lob nur widerwillig erteilte. „Diese Wesen sind extrem mächtige Elementare, aber sie sind im Vergleich zur Erde nur ein Staubkorn, im Vergleich zu den Meeren nur ein winziger Tropfen. Es ist eine komplexe Vorstellung, die man sich eine Zeit lang durch den Kopf gehen lassen muss.“

Thrall seufzte. „Was auch immer du über mich denken magst, Aggra, dumm bin ich nicht. Deine fortgesetzten Beleidigungen hindern dich letztlich daran, mich zu unterrichten und mir etwas beizubringen. Das will doch keiner von uns, oder?“

Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, und sie schnaubte. Er wusste, dass er sie getroffen hatte. Sie mahlte mit ihrem starken Unterkiefer.

„Nein. Du bist nicht dumm, Go’el. Ich stelle nur deine Entscheidungen in Frage. Ich weiß, dass irgendwo in deinem Schädel ein Hirn steckt.“

„Dann unterrichte mich bitte so, als ob ich tatsächlich die Fähigkeit hätte zu lernen. Das wird schneller gehen, und ich kann früher nach Hause zurückkehren. Das wollen wir doch alle beide.“

„Das stimmt“, sagte sie offen. „Wenn du erfassen kannst, was ich dir beibringen will.“

„Das werde ich schon schaffen“, antwortete Thrall, der sich kaum noch beherrschen konnte.

„Dann sollten wir für einige Tage Nagrand verlassen. Ich werde dir verschiedene andere Teile der Scherbenwelt zeigen, verschmutzte Wasserelementare und vergiftete Erdelementare. Du kannst dann versuchen, mit ihnen zu sprechen – oder sie bekämpfen, wenn sie deinem Ruf nicht folgen –, und erleben, wie sie sich für dich anfühlen.“

„Ich habe schon früher mit verdorbenen und pervertierten Elementaren gearbeitet“, antwortete Thrall nickend.

„Gut. Vielleicht erkennst du etwas Vertrautes in ihrer Krankheit, das dir helfen kann, Azeroth zu heilen.“

Er blinzelte. Wenn sie mal nicht meckerte oder ihn mit ihren sarkastischen Bemerkungen stichelte, war ihre Stimme kräftig und melodisch. Und sobald sie nicht finster dreinschaute, lag in ihrem Gesicht eine ruhige Schönheit, die Thrall an Geyah erinnerte. Es war zu schade, dass sie fest entschlossen war, ihn nicht zu mögen. Er hätte es gern gesehen, wenn Aggra mit ihm nach Azeroth zurückgekehrt wäre. Dort hätte sie ihre Fähigkeiten einsetzen können, um der Horde und Azeroth gleichermaßen zu helfen. Doch gerade als er diesen Gedanken hatte, schien Aggra sich wieder daran zu erinnern, wie sehr sie Thrall verabscheute, und blickte ihn abweisend an.

Mit der Zunge schnalzend, riss sie den Kopf des Talbuks unnötig hart herum und ritt nach Süden.

„Los, Go’el“, rief sie. „Wir reiten ans Ende der Welt!“


„Die Dinge ändern sich“, sagte Erzdruide Hamuul Runentotem. Er saß friedlich mit Cairne an einem Ort außerhalb von Donnerfels, der als Teufelsfelsen bekannt war. Dieser Ort voller rostroter Steine war den Ahnen der Tauren heilig. Cairne kam hierher, wenn er in Ruhe nachdenken wollte.

Seit Thralls Abreise war er sehr oft hier gewesen.

„Da stimme ich dir zu“, sagte Cairne. „Als Garrosh versprach, Orgrimmar nach Thralls Abreise neu aufzubauen, statt irgendwo eine Invasion vom Zaun zu brechen, war ich zufrieden, ja, ich lobte ihn sogar. Ich sagte ihm, er habe mit seinem Vorgehen bewiesen, dass er ein Anführer ist, der sich um das Wohlergehen seines Volkes sorgt, kein Orc, der nach persönlichem Ruhm strebt.“ Cairne schnaubte. „Doch jetzt bezweifle ich das. Man muss sich doch nur anschauen, was er tatsächlich mit dem Geld gemacht hat.“

Orgrimmar war tatsächlich neu errichtet worden, doch konnte man es kaum noch wiedererkennen. Alle beschädigten Gebäude waren repariert worden, wenn auch nicht mit den hölzernen, strohgedeckten oder fellbespannten Dächern, die man vorher verwendet hatte. Garrosh hatte erklärt, er wolle Orgrimmar „feuersicher“ machen. Statt der traditionellen Materialien hatte er Metall bestellt, da es unbrennbar war. Ob diese Entscheidung eine gute Wahl war, blieb mehr als fraglich.

Cairne lief ein unbehaglicher Schauer über den Rücken, als er an die neuen Gebäude in Orgrimmar dachte. Wie sehr doch die neue Architektur der uralten glich! Er selbst war niemals in Draenor gewesen, aber er hatte Bilder der Höllenfeuerzitadelle und einiger anderer Gebäude gesehen, die von den Orcs erschaffen worden waren, als sie unter dem Bann des dämonischen Blutrauschs gestanden hatten. Schwarzes Eisen, gehämmerte Spitzen, brutal aussehende Gebäude, die zwar praktisch waren, aber ungemütlich. Man konnte sich leicht vorstellen, dass in den neuen Gebäuden im alten Stil Folterwerkzeuge lagerten und nicht die Lebensmittel und Vorräte, die sich tatsächlich dort befanden.

Er hatte Donnerfels verlassen und war nach Orgrimmar gegangen, um für den jungen Anführer, den Thrall gegen seinen Rat eingesetzt hatte, jederzeit erreichbar zu sein. In seiner Abwesenheit kümmerte sich Cairnes Sohn Baine um die Belange seines Volkes, ein guter Krieger mit dem kühlen Kopf seines Vaters. Baine würde während der Abwesenheit seines Vaters keine Schwierigkeiten haben.

Im Laufe der Zeit hatte Cairne festgestellt, dass sein Rat bei Garrosh nicht sonderlich willkommen war und oft ignoriert wurde. Als die neuen Gebäude errichtet worden waren, hatte er erkannt, dass Orgrimmar kein Ort mehr war, der ihm zusagte. Er hatte um eine Audienz bei Garrosh gebeten, um ihm zu erklären, dass er nach Donnerfels zurückkehren wolle, und war von Garroshs Reaktion überrascht worden.

Er hatte Erleichterung oder Desinteresse erwartet, doch Garrosh war aufgestanden und zu ihm getreten.

„In Nordend haben wir gut zusammen gekämpft“, sagte Garrosh.

„Das stimmt“, antwortete Cairne.

„Und dennoch weiß ich, dass du mit vielen meiner Entscheidungen nicht einverstanden bist.“

Cairne blickte ihn einen Moment lang an. „Beides ist richtig, Garrosh. Wegen dieser Unstimmigkeiten kann ich Euch nicht länger helfen.“

„Ich... Thrall vertraute mir das Wohl der Horde an. Er ist ein Symbol für unser Volk, ebenso wie Ihr. Ich will Euch nicht beleidigen, doch ich muss meine eigenen Entscheidungen treffen und werde tun, was das Beste für das Wohl der Horde ist.“

Cairne gefielen die Worte, und er war gewillt zu glauben, dass Garrosh sie auch tatsächlich so meinte. Doch er kannte Garrosh möglicherweise besser als dieser sich selbst. Cairne hatte Grom und zahllose andere Hitzköpfe erlebt. Den meisten drohte ein gewaltsames und oft sinnloses Ende. Er wollte nicht, dass Garrosh dasselbe Schicksal erlitt oder die ganze Horde mit sich ins Unglück riss.

Es war jedoch sinnlos, in Orgrimmar zu bleiben. Garrosh würde nur das tun, was seinen Absichten entsprach. Wenn er Cairnes Rat dennoch wünschte, konnte er leicht einen Weg zu ihm finden, ohne sein Gesicht zu verlieren.

Cairne verneigte sich höflich, und Garrosh verbeugte sich noch tiefer. Kurz darauf kehrte Cairne nach Donnerfels zurück.

Die Kor’kron, die Elitewachen, die sich stets unauffällig in der Nähe des Kriegshäuptlings aufhielten, hatten ihm den Weg aus der Stadt gewiesen. Cairne hatte sie Thrall gegenüber stets als absolut loyal empfunden, doch ihre Loyalität, die keineswegs in Frage stand, galt nicht einer bestimmten Person, sondern dem Amt als Anführer der Horde. Cairne hatte bei ihnen nach Anzeichen des Protestes oder Unwillens gesucht über die neue Richtung der Horde oder den Wiederaufbau Orgrimmars. Wenn es denn überhaupt irgendwelche Meinungen gab, drückten sie Zustimmung zu Garroshs neuer Politik aus, die die alten Zeiten verherrlichte.

„Ich habe Orgrimmar seit dem Neubau nicht mehr gesehen, noch will ich es“, knurrte Hamuul Runentotem und holte Cairne in die Gegenwart zurück. „Aber, alter Freund, ich glaube nicht, dass du mich hergebeten hast, um dich mit mir über Architektur zu unterhalten.“

Cairne seufzte. „Wenn das nur der Grund wäre. Aber du hast recht. Ich wollte dich fragen, wie die Verhandlungen mit deinen Kontakten bei den Kaldorei im Zirkel des Cenarius verlaufen?“

Bei dem Fest zu Ehren der heimkehrenden Veteranen hatte Cairne einen Vorschlag unterbreitet, um die Beziehungen mit den Nachtelfen durch den Zirkel wieder aufzunehmen. Garrosh war förmlich explodiert, und Thrall hatte ihn beruhigen müssen. Letztlich war offiziell nichts geschehen.

Inoffiziell hatte Thrall jedoch Hamuul die Erlaubnis erteilt zu tun, was immer der Horde nützen würde. So hatte Hamuul die vergangenen Monate damit verbracht, Geheimbriefe zu schreiben, Boten auf den Weg zu schicken und sogar persönliche Vertreter zu entsenden.

„Überraschend gut, wenn man alles, was geschehen ist, bedenkt“, antwortete Hamuul. „Anfänglich dauerte es einige Zeit, eine Antwort von den Kaldorei zu erhalten. Sie waren zutiefst verärgert.“

„Wie wir auch.“

„Das habe ich ihnen erklärt, und glücklicherweise habe ich noch immer einige Freunde unter ihnen, die meinem Wort vertrauen. Es war mühselig, Cairne. Mühseliger, als ich es mir gewünscht hätte, und langwieriger, als ich es für nötig hielt, aber die Dinge nehmen dieser Tage ihren Lauf. Ich wollte kein Treffen erzwingen, und glücklicherweise lehnen die Kaldorei eine Zusammenkunft nicht mehr ab.“

„Diese Nachricht macht einen alten Bullen glücklich“, verkündete Cairne, dessen Herz vor Freude zu wachsen schien. „Ich freue mich zu hören, dass einige noch immer auf die Stimme der Vernunft hören, statt dem Ruf der Gewalt zu folgen.“

„Diese Stimmen zu hören fällt auf der Mondlichtung wesentlich leichter“, sagte Hamuul, und Cairne nickte.

„Wann und wo soll ein solches Treffen stattfinden?“, fragte Cairne.

„Im Eschental. Einige Briefwechsel sind sicherlich noch notwendig, aber dann werden wir zusammenkommen.“

„Im Eschental? Warum nicht gleich auf der Mondlichtung?“

„Remulos möchte mit dieser Angelegenheit nichts zu tun haben“, antwortete Hamuul. Remulos war einer der Söhne des Halbgottes Cenarius, der Malfurion Sturmgrimm den Schamanismus gelehrt hatte. Ein mächtiges, schönes Wesen. Remulos sah gleichermaßen wie ein Nachtelf und ein Hirsch aus. Sein Haar und sein Bart bestanden aus Moos, und seine Hände waren nicht aus Fleisch, sondern blättrige, hölzerne Klauen. An diesem ruhigen Ort, um den er sich kümmerte, herrschte Frieden.

„Er könnte uns nicht daran hindern, das Treffen dort abzuhalten. Aber wir werden diese heiklen Gespräche nicht ohne seinen Segen auf der Mondlichtung führen können. Wenn alles gut geht, so hat Remulos angedeutet, ist er einem zweiten Treffen auf der Mondlichtung nicht abgeneigt.“

„Das wäre gut“, sagte Cairne. „Das Eschental ist meiner Meinung nach noch immer ein zu unberechenbarer Ort. Du wirst an dem Treffen teilnehmen, vermute ich.“

„Das werde ich. Ich leite das Treffen zusammen mit einem Erzdruiden, der mein Gegenpart bei den Kaldorei ist.“

„Nimm einige meiner besten Krieger mit“, drängte Cairne,

„Nein.“ Hamuul schüttelte entschlossen den Kopf. „Ich werde niemandem einen Grund liefern, die Waffen zu ergreifen. Unsere einzigen Waffen werden die Zähne und Krallen sein, die wir alle besitzen. Mein Gegenpart hat einer entsprechenden Vereinbarung zugestimmt. Schwerter nützen denen nicht, die mit Frieden im Herzen kommen.“

„Hrrrm“, knurrte Cairne und strich sich durch seinen Bart. „Was du sagst, stimmt, obwohl ich wünschte, dass es anders wäre. Dennoch möchte ich nicht miterleben, wie dich jemand in deiner Bärengestalt angreift, alter Freund. Er würde nicht als Sieger aus dem Kampf hervorgehen.“

Hamuul lachte. „Lass uns hoffen, dass wir das nicht herausfinden müssen. Ich werde vorsichtig sein, Cairne. Es hängt mehr als nur mein Leben vom Ausgang dieser Verhandlungen ab. Wir alle sind uns dieses Risikos bewusst und nehmen es gern in Kauf.“

Cairne nickte, breitete die Arme aus und wies auf den heiligen Boden vor sich. „Ich hoffe, ich muss danach nicht zu diesem Ort kommen, um mit dir zu sprechen.“

Hamuul warf den Kopf zurück und lachte.

20

Fünf große, zottelige Bären, deren Felle von unterschiedlicher Färbung waren, stöberten durch den grünen Wald des Eschentals. Von Zeit zu Zeit blieben sie schnüffelnd stehen oder schlugen nach etwas, das sie hier und dort interessierte. Sie schienen nicht zusammenzugehören. Das taten Bären nur sehr selten. Doch wenn jemand sie lange genug beobachtet hätte und ihrer scheinbar ziellosen Wanderung gefolgt wäre, hätte er bemerkt, dass sie alle in dieselbe Richtung liefen.

Ebenso wäre ihm aufgefallen, dass sie Hörner hatten.

Sie erreichten einen gewissen Punkt in den Bergen, leicht westlich vom Steinkrallenpfad gelegen. Einer, ein größeres, grauhaariges Tier, erkundete ein paar Minuten den Weg voraus, schnüffelte vorsichtig, dann stieg der Bär auf seine Hinterbeine und richtete die Vordertatzen gen Himmel.

Seine schwarzen glänzenden Krallen wurden zu starken Fingern. Das zottelige bräunliche Fell wurde kürzer, die Bärenschnauze länger. Die Hörner entsprangen nun einem größeren Kopf, in dem sanfte, tief liegende Augen ruhten. Das Skelett und einzelne Organe bewegten sich unter der Haut. Die Hinterbeine wurden zu langen, starken Gliedern mit Hufen statt Pfoten, und den kurzen Schwanz verlängerte schließlich ein Haarbüschel.

„Ich kann sie riechen. Sie kommen“, versicherte Hamuul Runentotem seinen Gefährten. „Sie sind allein.“

Um ihn herum taten es die anderen Druiden ihm gleich, und ihre Körper nahmen Taurengestalt an. Sie lauschten aufmerksam. Nur ihre Schwänze und Ohren bewegten sich ab und zu.

Einige Augenblicke später erklommen fünf Nachtsäbler schnell und elegant den Hügel. Ihre Felle glänzten in verschieden dunklen Schattierungen. Nahezu gleichzeitig veränderten auch sie ihre Gestalt. Biegsame, katzenhafte Körper wurden zu geschmeidigen Nachtelfen. Die Ohren wurden länger, Hände und Füße ersetzten die Pfoten, und ihre Schwänze verschwanden völlig. Sie beobachteten die Tauren ernst. Hamuul verneigte sich.

„Erzdruidin Renferal“, sagte er. „Ich bin sehr froh, dass Ihr gekommen seid, meine liebe Freundin.“

„Wir haben lange überlegt, ob wir kommen sollen“, antwortete Elrethe Renferal. Hamuul bemerkte, dass sie ihn nicht auch „Freund“ nannte. Sie war groß, anmutig, mit kurzem grünem Haar und violetter Haut. Ganz offensichtlich war auch sie im Kampf geübt. Lavendelfarbene Narben verunzierten ihre Haut. Ihr Körper war kraftvoll und muskulös, keineswegs üppig.

„Eure Seele hat Euch und Eure Begleiter zu diesem Treffen geführt wie meine Seele mich und die meinen“, sagte Hamuul.

„Das Blut der ermordeten Schildwachen ruft noch immer nach Gerechtigkeit, Hamuul“, antwortete Renferal. Während sie sprach, trat sie näher, um den Abstand zwischen ihr und Hamuul zu verkleinern.

„Sie sollen Gerechtigkeit erfahren“, versicherte ihr Hamuul. „Doch bevor es keine Gespräche gibt, Frieden und Heilung, kann es keine Gerechtigkeit geben.“ Er übernahm die Initiative und setzte sich in das weiche grüne Gras. Die anderen Taurendruiden taten es ihm gleich. Die Kaldorei tauschten untereinander Blicke, doch als Renferal sich hinsetzte, folgten sie ihrer Anführerin. Sie alle saßen nun in einer Art Kreis, doch mischten sich die Vertreter der beiden Völker nicht.

Die spürbare Kälte und die räumliche Aufteilung nach ihrer Volkszugehörigkeit schmerzten Hamuul. Dies war keine Versammlung von Fremden, sondern von ehemaligen Freunden. Sie alle hatten jahrelang als Mitglieder des Zirkels zusammengearbeitet. Zwischen ihnen hatte ein Band bestanden, das die Volkszugehörigkeit und die politischen Standpunkte überwand – ein Band des Verstehens, was es bedeutete, die Gestalt der Tiere anzunehmen und ihren Geist zu berühren. Als Druiden vereinigten sie sich mit der Natur auf eine Art, die niemand sonst beherrschte. Doch dieses Band war überdehnt worden und gerissen. Hamuul sandte ein stummes Gebet zur Erdenmutter, dass die Anstrengungen, die sie heute hier unternahmen, es ihnen erlaubten, dieses Band neu zu knüpfen, es vielleicht sogar stärker zu machen als das ursprüngliche.

„Ich bin mir sicher, Ihr wisst, dass Thrall uns für eine gewisse Zeit verlassen hat. Wahrscheinlich ist Euch auch bekannt, worin seine Mission besteht.“

Renferal runzelte die Stirn. „Ja, wir haben davon gehört und wissen, wen er zu seinem Stellvertreter ernannt hat.“

„Seid versichert, dass Thrall nicht vorhat, lange fortzubleiben, und dass er Cairne gebeten hat, den jungen Höllschrei zu beraten“, sagte Hamuul. „Ihr wisst doch, dass Thrall den Frieden will.“

„Ist das so? Wirklich?“ Ein anderer Nachtelf meldete sich zu Wort, und die Wut, die in seiner Stimme mitschwang, war nicht zu überhören. „Warum geht er dann und lässt Garrosh in seiner Abwesenheit regieren? Garrosh, der sich öffentlich gegen das Abkommen ausgesprochen hat. Wir glauben, dass er hinter diesem Angriff steckte.“

Hamuul seufzte. Es gab keinen eindeutigen Beweis dafür, dass Garrosh die brutalen Angriffe auf die Schildwachen angezettelt hatte, aber es war einfach, diesen Gerüchten Glauben zu schenken.

„Thrall ist in Nagrand, um besser verstehen zu können, was mit den Elementen nicht stimmt. Kommt schon... Wir Druiden sind der Natur näher als die meisten anderen, obwohl wir keine Schamanen sind. Ich kann nicht glauben, dass einer der hier Anwesenden bezweifelt, dass die Welt leidet.“

Hamuuls Worte schienen die Nachtelfen zu beruhigen. „Wenn Thrall tatsächlich bald zurückkehrt und etwas mitbringt, das die Elemente beruhigt, und Garrosh kein weiteres sinnloses Gemetzel veranstaltet“, sagte Renferal, „dann kann vielleicht wirklich etwas Gutes hieraus entstehen.“

„Ich muss Euch daran erinnern, dass wir nicht sicher wissen, ob Garrosh dahintersteckt oder nicht, und dank dieser Versammlung ist bereits etwas Gutes entstanden“, sagte Hamuul. „Möge der Friede hier beginnen, jetzt!“

Die Gesichter der Versammelten spiegelten die unterschiedlichsten Gefühle wider: Hoffnung, Sorge, Misstrauen, Angst und Entschlossenheit. Hamuul blickte sich um und nickte. Es lief gut, wie er es erwartet hatte, wenn auch nicht ganz so gut, wie er es sich gewünscht hätte.

Vorsichtig griff er in eine seiner Taschen und zog ein langes dünnes Objekt daraus hervor, das in kunstvoll verziertes Leder eingeschlagen war. Er hob es für einen Moment an, stand dann auf, legte es in die Mitte des Kreises und packte es aus.

„Dies ist eine zeremonielle Pfeife“, sagte er. „Sie wird unter den Teilnehmern zu Beginn der Friedensgespräche herumgereicht. Mein Volk macht das schon seit Urzeiten so. Ich habe sie einst zu meinem ersten Treffen im Zirkel des Cenarius mitgebracht. Einige von Euch werden sich noch daran erinnern. Ich bringe sie wieder mit, um so förmlich mein Verlangen nach Heilung und Einheit zum Ausdruck zu bringen.“

Renferal beobachtete ihn aufmerksam und nickte dann stumm mit ihrem grünhaarigen Kopf. Auch sie griff in ihre Tasche und nahm einen Kelch und einen Wasserbeutel heraus.

„Scheinbar denken wir beide gleich“, sagte sie ruhig und hob den Kelch hoch. Er war aus Keramik und blau glasiert. Mehrere Runen, die in ihn eingeritzt waren, bildeten seinen einzigen Schmuck. Hamuul lächelte sanft. Vor langer Zeit hatte sie diesen Kelch mitgebracht, so wie er seine Pfeife. „Dieser Kelch ist alt. Wir kennen seinen ersten Besitzer nicht mehr, doch er existiert seit der Großen Teilung und wurde von Hand zu Hand mit Liebe und Sorge weitergegeben. Das Wasser stammt aus dem Tempel von Elune. Es ist rein und köstlich.“ Ehrfürchtig goss sie etwas Wasser in den Kelch, dann stand auch sie auf und stellte ihn in die Mitte.

Hamuul nickte zufrieden. Die Nachtelfen nahmen das Treffen so ernst wie die Tauren. Er konnte spüren, wie die Spannung von den Anwesenden abfiel, und hoffte, den Widerstand und die Feindschaft aus der Welt schaffen zu können.

Er erhob sich, verneigte sich vor Renferal und bückte sich dann, um die Pfeife aufzuheben. Während er sie mit Kräutern füllte, begann er zu sprechen.

„Einmal angezündet, wird die Pfeife von einem zum anderen weitergereicht“, erklärte er vor allem den jüngeren Nachtelfen, die diese Taurenzeremonie noch nie miterlebt hatten. „Wenn sie zu Euch kommt, haltet sie für einen Moment. Denkt daran, was Ihr hier erreichen wollt. Dann nehmt sie...“

Er erstarrte.

Der Wind hatte sich gedreht, und mit seiner empfindlichen Taurennase witterte er etwas – einen starken, vertrauten, nicht unangenehmen Geruch. Ihm war klar, dass er in diesem kritischen Augenblick den Tod für sie alle und alles bedeuten konnte.

Orcs.

Nein! Wartet!“, schrie Hamuul in der Sprache der Orcs. Doch es war bereits zu spät. Noch bevor die Worte seinen Mund verlassen hatten, waren die Pfeile auf ihrem tödlichen Flug. Zwei Nachtelfen fielen zu Boden, ihre Kehlen von den Spitzen durchstoßen.

Tauren wie Nachtelfen schrien gleichermaßen auf vor Wut und Enttäuschung. Renferal wirbelte herum und warf Hamuul einen wütenden Blick zu, der sein Herz wie ein Speer traf.

„Wir sind in gutem Glauben gekommen!“, war alles, was sie sagte, bevor sie sich in eine Raubkatze verwandelte und sich auf den nächsten Orc stürzte, einen großen, glatzköpfigen, stummelzahnigen Krieger mit einem riesigen zweihändigen Schwert. Er stürzte zu Boden, und sein Schwert wurde ihm aus der Hand geschlagen. Es lag nutzlos im Gras, als ihre Krallen seinen Bauch zerfetzten.

„Holt euch die Violetthäutigen!“, zischte der Anführer der Orcs. Wo waren sie hergekommen? Und warum? War dies Garroshs Werk? Es war gleichgültig. Ob die Orcs unabsichtlich auf sie gestoßen waren oder nicht, die Friedenskonferenz war gescheitert.

Alles, was Hamuul noch blieb, war, die drei – nein, berichtigte er sich, als ein weiterer Orc Renferal mit einer Lanze aufspießte und sie an die Erde heftete –, zwei Nachtelfendruiden, die noch lebten, zu retten.

Hamuul gab sich seiner Wut und dem Schmerz hin, wechselte schnell in die Gestalt eines Bären und stürzte sich auf den nächststehenden Orc. Seine Taurengefährten taten dasselbe, und jeder verwandelte sich in eine andere Tiergestalt. Eine Orcfrau, die zwei Schwerter führte, hatte Hamuuls massigem Leib nichts entgegenzusetzen. Er wollte seine riesigen Zähne in ihre Kehle schlagen, ihr die Luftröhre zerfetzen, das kupferne Aroma ihres Blutes schmecken, aber er hielt sich zurück. Er war besser als sie.

Überall um ihn herum nahmen die Druiden Tiergestalt an, um sich zu verteidigen. Sturmkrähen stürzten herab und schnitten mit ihren messerscharfen Krallen in die Gesichter der Orcs. Raubkatzen zerfleischten, was ihnen zwischen die Zähne und Krallen geriet. Die Bären waren die stärksten. Überall spritzte Blut, und der Geruch trieb Hamuul beinahe in den Wahnsinn. Er bewahrte seinen Verstand, indem er sich daran erinnerte, warum er hierhergekommen war, wie nah er noch vor wenigen Minuten dem Traum vom Frieden gewesen war.

„Haltet ein, haltet ein, das sind Tauren!“, erklang ein Schrei, der den roten Nebel des Kampfes durchdrang. Hamuul nutzte all seine Beherrschung. Er sprang von dem Orc, den er gerade bekämpfte, herunter und kehrte in seine wahre Gestalt zurück.

Erst jetzt stellte er fest, dass er verletzt war. In Bärengestalt hatte er keine Schmerzen gespürt. Er presste eine Hand auf die Wunde an seiner Seite und murmelte einen Heilzauber. Seine Augen weiteten sich vor Schreck, als er erkannte, was geschehen war.

Es erschien ihm unmöglich, doch alle fünf Nachtelfen waren tot und lagen dort, wo sie gefallen waren, im Gras. Beinahe alle Tauren waren verwundet, und es betrübte ihn zu sehen, dass einer mit einem Pfeil im Auge auf dem Boden lag. Fliegen umschwirrten ihn bereits.

Er wirbelte zu dem Orc herum, der der Anführer zu sein schien. „Im Namen des Cenarius: Was habt Ihr getan?“

Der Orc war bleichgrün und schien völlig unberührt von Hamuuls Ausbruch. Er zuckte nur mit den Schultern. „Wir haben gesehen, wie fünf von diesen schäbigen Nachtelfen in Katzengestalt hier rumschlichen, und gedacht, sie würden angreifen.“

„Angreifen? Fünf?“

Der Orc betrachtete ihn weiterhin ruhig und schwieg. Woher haben diese Orcs nur gewusst, dass es Druiden waren und keine echten Nachtsäbler?, fragte sich Hamuul.

Entnervt von der trotzigen Dummheit des Orcs erhob Hamuul seine Stimme voller Zorn. „Wer hat Euch geschickt? War es Garrosh?“

Der Orc zuckte erneut mit den Achseln. „Wer ist Garrosh?“

Das war unmöglich! Hamuul konnte nicht glauben, dass jemand derart Ignorant war. Egal ob man ihn liebte oder verachtete, aber jeder kannte Garrosh. Der Orc spielte mit ihm.

„Ihr habt ein geheimes und lebenswichtiges Treffen unterbrochen, das den Mitgliedern der Horde das Recht, Holz im Eschental zu schlagen, hätte einbringen können, ohne dass dies jedes Mal mit Lebensgefahr verbunden ist! Ich werde Euch persönlich Cairne Bluthuf melden und dafür sorgen, dass dieser Zwischenfall öffentlich gemacht wird. Für einen weiteren Fleck auf der Ehre der Horde werde nicht ich verantwortlich sein. Diese Elfen, diese Druiden“, er wies mit seinem zitternden Finger auf die bereits auskühlenden Leichen, „kamen auf meine Bitte hin hierher. Sie vertrauten darauf, dass ich für ihre Sicherheit sorge. Und jetzt liegen unsere Hoffnungen auf Frieden tot hier im Gras, weil Ihr gedacht habt, sie würden angreifen. Wie heißt Ihr?“

„Gorkrak.“

„Gorkrak“, sagte Hamuul, ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen und brannte ihn in sein Gedächtnis ein. „Eure Chancen, es in der Horde jemals zu etwas zu bringen, könnt Ihr für immer begraben, Gorkrak.“

Gorkraks Gesichtsausdruck änderte sich kaum merklich. Der eiskalte Blick aus seinen Schweinsäuglein bewegte sich berechnend von den Elfendruiden zu Hamuul und dann zu etwas, das sich hinter dem Tauren befand. Ein listiges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Zu spät erkannte Hamuul, was geschehen würde.

„Nicht, wenn Ihr zuerst sterbt“, frohlockte Gorkrak.

Hamuul hörte das Zischen eines Pfeils, der durch die Luft flog.


Gorkrak von den Schattenhämmern blickte sich zufrieden um. „Ich dachte, Druiden wären schlauer“, sagte einer seiner Brüder und zog sein Schwert aus dem Körper einer weißen Taurenfrau.

„Alle, die die bevorstehende Zerstörung nicht willkommen heißen, sind Narren“, sagte Gorkrak. Der dümmliche Gesichtsausdruck, mit dem er Hamuul so erfolgreich getäuscht hatte, war verschwunden. „Wir begraben die Leichen. Achtet aber darauf, dass die Aasfresser sie leicht finden können. Wir wollen ja, dass die Toten entdeckt werden.“ Er lachte düster.

Gorkrak war froh, dass Hamuul Garrosh erwähnt hatte. Der Verdacht bezüglich des Kriegshäuptlings schien sich bereits zu verbreiten. Einige munkelten schon, Garrosh hätte die Schildwachen abgeschlachtet. Jetzt würden sie sicher annehmen, dass er auch hinter diesem Gemetzel steckte.

„Für das Nichts, das uns erwartet“, sagte Gorkrak. „Grabt.“


Hamuul Runentotem kam nur langsam wieder zu Bewusstsein. Er blinzelte und fragte sich, ob er tatsächlich wach war. Wo war er? Was war geschehen? Er konnte nichts sehen, und etwas lag auf ihm. Sein Körper schmerzte, und der Durst schnürte ihm die Kehle zu. Er war in seiner Bärengestalt. Wahrscheinlich hatte er nur den Bruchteil einer Sekunde gehabt, um die Gestalt zu wechseln, bevor er erschossen worden war...

In den Rücken...

Von Hordekriegern...

Die Erinnerung brach wie eine Lawine über ihn herein, und plötzlich erkannte er, wo er sich befand und was so schwer auf ihm lastete.

Er lag in einem Massengrab.

Das Adrenalin durchflutete seinen geschundenen Körper und verlieh ihm frische Stärke. Wo war oben, wo unten? Die leblosen Arme eines Leichnams lagen um seine Schultern. Die Toten drückten gegen seinen Rücken, als wollten sie ihn zwingen, sie im Tod zu begleiten. Hamuul öffnete den Mund, atmete stinkende Luft und Erde ein und presste die Bärentatzen gegen die Leichen seiner Freunde. Er wühlte sich mit Hilfe seiner Krallen nach oben, in die Richtung, aus der die frische Luft kam. Blut sickerte aus den Leichen. Er nutzte all seine Kraft, um sie und den Dreck beiseitezudrängen, bis sein Kopf die nur nachlässig festgestampfte Erde durchbrach und er endlich frische Luft einatmete. Grunzend spürte er jetzt erneut den Schmerz seiner Wunden. Er wühlte sich aus dem Grab heraus und brach kraftlos zusammen. Sein Fell war mit Blut und anderen Flüssigkeiten bedeckt. Er keuchte und zitterte vor Entsetzen über das, was sich hier abgespielt hatte.

Hamuul versuchte, sich in einen Tauren zu verwandeln, verlor jedoch erneut das Bewusstsein. Als er nach wenigen Minuten wieder zu sich kam, gelang die Verwandlung schließlich, und er konnte sogar einige seiner Wunden heilen. Es würde einige Zeit dauern, bis er sich vollständig erholt hatte.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht kam er auf die Hufe und versuchte sich zu bewegen. Er wollte das Grab untersuchen, denn vielleicht hatte noch jemand anders den hinterhältigen Überfall überlebt. Es war bereits Nacht, aber er brauchte kein Sonnenlicht, um das Ausmaß der Tragödie zu erfassen.

Tot. Alle waren tot. Die Nachtelfen ebenso wie die Tauren. Er war der einzige Überlebende. Sein großes Herz brach, und seine Knie gaben unter ihm nach. Einen Moment lang lag er neben der Grube, in der die Leichen seiner Freunde lagen, und weinte um die Getöteten, weinte um den Rückschlag, den dieses Massaker seinen Bemühungen um Frieden beigebracht hatte.

Hamuul hob den Kopf, seine Schnauze mit Tränen benetzt, und sah die rituellen Gegenstände, die er und Renferal mit solch großen Hoffnungen mitgebracht hatten. Die schöne Pfeife und der schlichte, alte Kelch waren zerbrochen, achtlos zertrampelt. Unrettbar zerstört – wie sein Traum vom Frieden.

Er schloss die Augen und stand auf. Zugleich erhob er seine Hände zum Himmel und bat um Hilfe. Sie wurde ihm in Form einer Eule zuteil, die leise heulte, als sie sich auf einem Ast in der Nähe niederließ. Hamuul suchte nach einem Stück Pergament in seinem Beutel. Da das Tintenfasschen, das er mit sich geführt hatte, während des Kampfes zerbrochen war, schrieb er mit seinem Blut eine kurze Botschaft und band sie der Eule um eines ihrer Beine. Der Vogel zappelte, bewegte den Kopf hin und her und fixierte Hamuul schließlich mit einem starren Blick aus seinen blitzenden Augen, ließ ihn jedoch in seinen Geist eindringen.

Hamuul flüsterte Cairnes Namen und erzeugte vor seinem geistigen Auge das Bild des Oberhäuptlings. Als er davon überzeugt war, dass die Eule seinem Befehl gehorchen würde, entließ er sie mit einem Segen. Das Tier flog nach Südwesten, in Richtung Donnerfels.

Erleichtert und dankbar schloss er die Augen, ließ sich langsam auf die Erde nieder und sank in die Arme der Finsternis – ob nur für eine kurze Zeit oder für immer, wusste er nicht.

21

Der Schmerz war weitaus stärker als Garrosh erwartet hatte, und er hieß ihn freudig willkommen.

Er war zufrieden damit, wie seine Entscheidung, Orgrimmar neu aufzubauen, aufgenommen worden war. Obwohl einige – wie Cairne und Etrigg – nicht einverstanden gewesen waren, schienen die meisten seine Idee, zur alten orcischen Art zurückzukehren, gutzuheißen. Oft war er hinausgegangen, um sich den Schädel des Feindes anzusehen, den sein Vater erschlagen hatte. Und eines Tages hatte er sich gedankenvoll das Kinn gerieben und entschieden, noch einen Schritt weiter zu gehen, um seinen verstorbenen Vater zu ehren.

Die Entscheidung war ihm leichtgefallen, doch die Durchführung seines Vorhabens war äußerst schmerzhaft. Mit dem Gesicht nach oben lag er auf dem Boden seiner Unterkunft und zwang seinen Körper, ruhig zu bleiben, sich nicht zu verspannen. Über ihm kauerte ein älterer Orc, dessen kräftige Muskeln und feste Hände seine tiefen Falten und den schneeweißen Pferdeschwanz Lügen straften. In einer Hand hielt er eine scharfe, schmale Klinge, deren Spitze er immer wieder in schwarze Tinte tauchte. In der anderen hielt er einen kleinen Hammer. Das einzige zu hörende Geräusch war das Knistern der lichtspendenden Kohlenpfannen und das Tap-Tap-Tap des Hammers, als der Orctätowierer Garroshs Gesicht bearbeitete.

Die meisten Tätowierungen waren einfach: das Familienwappen, ein Wort, das Zeichen der Horde. Doch Garrosh wollte, dass sein gesamtes Gebiss tätowiert wurde, ganz in Schwarz – und das sollte nur der Anfang sein. Jetzt ließ er seine Brust und seinen Rücken mit aufwendigen Tätowierungen dekorieren, damit sie Freund und Feind gleichermaßen sehen konnten und wussten, dass er freiwillig diesen großen Schmerz auf sich genommen hatte. Wenn man bedachte, wie lange es dauerte, eine Einzige dieser Tätowierungen in die Haut zu stechen, würde es noch Stunden dauern. Stunden, und jeder Stich fühlte sich an, als würde er mit einer glühend heißen Nadel gefoltert.

Garrosh schluckte. Er merkte, dass er schwitzte. Ob das vom Schmerz oder der Hitze in dem kleinen beheizten Raum kam, wusste er nicht. Der Tätowierer machte eine Pause und schaute auf ihn hinab. „Bewegt Euch nicht“, sagte er, „und schwitzt nicht so. Euer Vater hat nicht geschwitzt.“

Garrosh fragte sich, wie Grom seinen Schweißfluss hatte kontrollieren können. Er würde sich bemühen, es ihm gleichzutun. Da das Sprechen ihn zwingen würde, den Mund zu bewegen, blinzelte er nur zum Zeichen dafür, dass er verstanden hatte.

Der Tätowierer, ein Lehrling des Orcs, der Grom Höllschrei tätowiert hatte, trat zur Seite, um seinen Gehilfen den Schweiß von Garroshs Stirn tupfen zu lassen, und wischte das ausgetretene Blut und die Tinte ab. Garrosh atmete während dieser Pause tief durch. Die Prozedur dauerte bereits vier Stunden, und nur drei Fingerbreit an Tinte waren verbraucht worden. Der Tätowierer beugte sich erneut über ihn. Garrosh zwang sich, ruhig zu bleiben, und die Folter – die süße Folter, mit der er sich Ehre erkaufte – kehrte zurück.


Garrosh!“

Cairnes Gebrüll hallte donnernd von den Wänden wider, als er die Feste Grommash durchschritt. Die Wachen eilten zu ihm, vorgeblich bemüht, ihm zu helfen, und nicht, um ihn aufzuhalten. Er blickte auf sie hinab und schnaubte vor Hohn. Rasch traten sie beiseite.

Garrosh!“

In der Feste Grommash war immer jemand wach, der sich um die Feuer kümmerte, damit sie niemals ausgingen. Und irgendjemand traf stets irgendwelche Vorbereitungen für den kommenden Tag, weshalb die Burg nie völlig menschenleer war. Doch momentan herrschte vollkommene Ruhe. Cairnes Rufe weckten die Schlafenden, und die Räume füllten sich langsam mit neugierigen, aber recht schlaftrunkenen Zuschauern, die sich die Augen rieben und unordentlich gekleidet waren, da sie sich nur hastig etwas übergeworfen hatten.

„Garrosh, ich verlange, Euch zu sehen!“

„Niemand verlangt, den Anführer der Horde zu sehen!“, zischte einer der Kor’kron.

Cairne wirbelte mit einer Geschwindigkeit zu ihm herum, die ihm niemand mehr zugetraut hätte. „Ich bin Oberhäuptling Cairne Bluthuf. Ich habe die Horde mit erschaffen, die Garrosh nun zugrunde richtet. Ich werde mit ihm sprechen, und ich werde jetzt mit ihm sprechen!“


„Alter Bulle, Ihr weckt mit Eurem wütenden Geschnaube ja die Toten auf!“

Garroshs Stimme war so scharf wie Cairnes, und seine Worte trieften vor Sarkasmus. Cairne wandte sich ihm zu. Der Kor’kron war vergessen, und er richtete seinen Blick auf Garrosh Höllschrei. Die Augen des Tauren weiteten sich leicht.

„So“, sagte er ruhig und betrachtete Garroshs Tätowierungen. „Ihr habt also mehr als nur die Waffe Eures Vaters angenommen.“

„Seine Waffe“, sagte Garrosh, „und die Tätowierungen auf seinem Gesicht und seinem Körper, die seine Feinde das Fürchten lehrten.“ Er bewegte den Mund langsam, da er noch immer schmerzte.

„Euer Vater hat viel Schlechtes getan, aber er starb, als er eine große Tat vollbrachte“, sagte Cairne. „Doch jetzt würde er sich für Euch schämen.“

„Was?“, knurrte Garrosh. „Worüber sprecht Ihr, Taure?“

„Ich habe Thrall vor Euch gewarnt“, sagte Cairne. Seine Stimme war so ruhig, wie sie zuvor laut gewesen war, und er ignorierte die Frage, „Ich sagte ihm, dass er ein Narr sei, Euch so viel Macht zu geben. Ich dachte, Ihr würdet mit etwas Erfahrung und Führung eines Tages dafür bereit sein. Doch ich lag falsch. Ihr, Garrosh Höllschrei, könntet nicht einmal ein Rudel Hyänen anführen, ganz zu schweigen von der glorreichen Horde! Ihr werdet uns in den Untergang treiben, während Ihr gleichzeitig brüllt und auf Eure Brust trommelt wie einer der Gorillas aus dem Schlingendorntal.“

Garrosh erbleichte, lief dann jedoch vor Wut rot an. „Diese Worte werdet Ihr bereuen, alter Bulle“, zischte er. „Ich werde sie Euch fressen lassen, zusammen mit einer Handvoll Dreck.“

„Ihr habt die Schildwachen im Eschental angegriffen, oder nicht?“, schrie Cairne, trat nahe an den Orc heran und ballte die braunen Fäuste. „Und Ihr wart es, der den Mord an beinahe einem Dutzend Druiden angeordnet hat. Die Druiden vom Zirkel des Cenarius hatten sich getroffen, um eine friedliche Lösung zu erzielen.“

Unglaube lag auf Garroshs Gesicht, gefolgt von Wut. „Wovon im Namen der Ahnen sprecht Ihr da? Wie könnt Ihr es wagen, mich einer derart verabscheuungswürdigen Tat zu bezichtigen?“

Cairne schnaubte. „Garrosh, Eure Meinung zu dem Abkommen, das wir mit Ehre und gutem Willen besiegelt haben, war kein Geheimnis. Genauso wenig wie Ihr zu Thralls moderatem Kurs gegenüber der Allianz steht.“

„Ja, ich verachte diese Beschwichtigungspolitik. Aber ich würde den Vertrag doch niemals brechen! Ich wäre stolz auf jeden Angriff auf die Allianz, den ich angeordnet hätte! Ich würde es von den Dächern rufen, um zu beweisen, dass die Horde noch nicht verloren ist! Die Ehre der Horde...“

„Wie könnt Ihr es wagen, dieses Wort auszusprechen?“, knurrte Cairne. „Ehre? Selbst jetzt lügt Ihr doch, Garrosh. Ihr habt nicht einmal die Ehre eines Zentauren. Gebt doch wenigstens zu, was Ihr getan habt. Steht zu Euren selbstsüchtigen, närrischen Entscheidungen!“

Garrosh wurde plötzlich eiskalt. „Ihr seid ein Narr, wenn Ihr mich für einen Intriganten haltet. Das Alter hat Euch die Sinne verwirrt. Weil Thrall Euch unerklärlicherweise noch immer schätzt, will ich Eure Anschuldigungen als das Geplapper eines Irren abtun. Thrall hat mich an die Spitze der Horde gesetzt, und ich werde das tun, was ich für das Richtige halte. Geht jetzt und erspart Euch so die Peinlichkeit, an Eurem Schwanz aus der Burg gezerrt zu werden.“

Statt einer Antwort schlug Cairne Garrosh mit der flachen Hand quer über das Gesicht und traf die frische Tätowierung. Der Schlag war so kräftig, dass Garrosh taumelte und beinahe gestürzt wäre. Er schrie laut auf vor Schmerz und ruderte mit den Armen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

„Ich sollte Euch an Eurem Schwanz hinauswerfen, Ihr dreistes Bürschchen“, sagte Cairne. „Dieser Schlag war schon lange überfällig.“

Das Blut lief über Garroshs aufgeplatzte anschwellende Lippe. Er griff mit der Hand an seine Wange, zischte und zog sie zurück. Der Orc schien einen Moment lang verwirrt zu sein. Doch dann überkam ihn eine rasende Wut.

„Fordert Ihr mich heraus, alter Bulle?“

„Habe ich mich nicht klar ausgedrückt? Vielleicht sollte ich mich wiederholen. Ich fordere Euch zu einem Ehrenduell, Garrosh. Ich fordere Euch zu einem Mak’gora.“

Garrosh lachte höhnisch. „Das Mak’gora von heute ist doch nicht mehr das, was es einmal war. Seit Thralls Erlass ist es nur noch ein lausiges Theater. Ihr wollt mit mir kämpfen? Dann kämpft richtig mit mir. Ich führe nun die Horde an, und ich sage, dass ich Eure Herausforderung des Mak’gora annehme – des alten Mak’gora. So wie es früher war, mit den alten Regeln. Und zwar allen Regeln.“

Cairnes Augen verengten sich. „Bis zum Tod?“

Garrosh grinste. „Bis zum Tod. Vielleicht werdet Ihr Euch jetzt entschuldigen.“

Cairne starrte ihn einen Moment lang an, warf dann seinen Kopf in den Nacken und lachte. Garrosh war überrascht.

„Wenn Ihr wollt, dass ich nach den alten Regeln kämpfe, Sohn von Höllschrei, dann wisset, dass Ihr mir damit endlich freie Hand gegeben habt. Ich wollte Euch nur eine Lektion erteilen. Vielleicht werde ich es bereuen, der Horde einen so guten Krieger zu nehmen, aber ich kann nicht zulassen, dass Ihr all das zerstört, wofür Thrall so lange gearbeitet hat. Ihr verhöhnt die Opfer der Toten, und das im Namen Eures eigenen Ruhms. Das werde ich nicht zulassen, hört Ihr mich? Ich wiederhole meine Herausforderung. Das Mak’gora auf traditionelle Art. Bis zum Tod!“

„Ich nehme die Herausforderung an“, zischte Garrosh. Doch er zögerte einen kurzen Augenblick. „Mit Freude nehme ich sie an. Zuerst habt Ihr mir leidgetan, doch das ist vorbei. Es ist an der Zeit, dass die Horde alte Parasiten wie Euch loswird. Parasiten, die nur aufgrund der Gnade all derer hier leben, die tatsächlich ausgezogen sind, gekämpft haben und in der Schlacht gestorben sind.“

„Es ist vielmehr an der Zeit, dass die Horde junge, arrogante Narren wie Euch loswird, Garrosh“, antwortete Cairne gelassen. „Ich bedaure die Notwendigkeit, das zu tun, aber ich muss es wohl. Tatsächlich bin ich froh darüber, dass Ihr auf der traditionellen Art des Duells besteht. Ihr habt Unschuldige getötet, und Ihr droht, die Hoffnung auf den Frieden zunichtezumachen. Ich kann nicht zulassen, dass Ihr damit weitermacht.“

Garrosh lachte nun, tupfte behutsam sein Kinn ab, steckte seine blutverschmierten Finger in den Mund und leckte sie genüsslich ab. Das musste besonders schmerzhaft gewesen sein, aber er riss sich zusammen und zuckte nicht mit der Wimper.

„Ihr wisst natürlich, was Ihr braucht.“

Garrosh zögerte.

„Welche Waffe? Welche Rüstung? Und wie viele Zeugen?“, fragte Cairne.

Als Garrosh, dessen Wangen vor Wut glühten, den Kopf schüttelte, schnaubte Cairne. „Ihr verlangt einen traditionellen Kampf, doch ich, ein Taure, kenne Eure orcischen Traditionen besser als Ihr selbst!“

„Ihr verliert Euch in Details“, knurrte Garrosh. „Ich tue, was Ihr verlangt. Lasst uns diesen Kampf endlich beginnen!“

Cairne blickte den Orc voller Verachtung an. Dann schüttelte er den Kopf und rief sich zur Ordnung. „Jeder darf eine eine Waffe wählen, und ein Schamane unserer Wahl wird sie segnen. Keine Rüstung, keinerlei Bekleidung – außer einem Lendenschurz. Jeder von uns muss mindestens einen Zeugen haben.“ Er lächelte bitter. „Ich wage zu behaupten, dass ich mehrere haben werde.“


Eine Stunde später war die Arena nahezu überfüllt. Fackeln und Kohlenpfannen spendeten Licht und Wärme. Die Nachricht von dem Duell hatte sich so schnell verbreitet wie das Feuer, das vor Thralls Abreise in Orgrimmar getobt hatte. Und es war klar, dass die Seiten gewählt worden waren. Einige kamen, um Cairne zu unterstützen, andere – viele andere – jubelten für Garrosh.

Cairne blickte auf, versuchte, die Gesichter mit seinen alten Augen zu erkennen. Die meisten auf seiner Seite waren Tauren, was kaum verwunderte. Einige von den anderen Völkern waren auch dabei. Eines vereinte sie: Sie waren allesamt älter. Er konnte nicht weit genug sehen, um jeden Einzelnen auf Garroshs Seite zu erkennen, doch er bemerkte im orangefarbenen Licht, dass unter den grünen, violetten, grauen und rosafarbenen Häuten der Orcs, Trolle, Verlassenen und Blutelfen auch das Schwarz und Braun der Tauren zu sehen war.

Cairne seufzte. Er glaubte, dass er diesen Kampf gewinnen konnte. Andernfalls hätte er das Mak’gora nicht verlangt. Sein Leben war nicht so langweilig und freudlos, dass er es freiwillig hingegeben hätte. Davon war er weit entfernt. Er hatte die Herausforderung ausgesprochen – und Garroshs Entscheidung, zu den „alten Wegen“ zurückzukehren, akzeptiert –, weil er Garroshs arrogante, unüberlegte und gefährliche Herrschaft über die Horde, die Cairne so sehr liebte, beenden musste. Er wollte Garroshs Platz einnehmen, bis Thrall zurückkehrte, um dann jedes Urteil hinzunehmen, das für richtig befunden wurde.

Er gab sich jedoch nicht der Illusion hin, dass dies ein leichter Kampf werden würde. Garrosh war einer der besten Krieger der Horde, aber ein Kampf Mann gegen Mann war etwas anderes als eine Schlacht. Garrosh war ungestüm und jähzornig. Cairne würde auf seine Art kämpfen, und das würde ihm den Sieg bringen.

In seiner Ecke der großen Arena bereitete Garrosh sich vor. Den rituellen Regeln des Mak’gora entsprechend, war er bis auf einen Lendenschurz nackt. Sein brauner Körper war eingeölt worden und glänzte. Er war eine beeindruckende Verkörperung orcischer Kraft, muskulös und stolz. Mit der mächtigen Axt, die Mannoroth getötet hatte, wärmte er sich für den Kampf auf. Auch sie war eingeölt worden und glitzerte dunkel.

Cairne kämpfte mit der Waffe seiner Familie, dem Runenspeer. Er war ebenfalls nackt, abgesehen von einem Lendenschurz. Obwohl das Alter seinem Fell eine leicht graue Färbung verliehen hatte, war es noch immer glatt und dicht. Auch er war eingeölt worden. Unter seinem Fell befanden sich feste, starke Muskeln. Seine Gelenke mochten im Regen oder im Schnee von Zeit zu Zeit ächzen und seine Augen sich beim Sehen anstrengen müssen, aber er hatte nichts von seiner Stärke und nur wenig von seiner Geschwindigkeit eingebüßt. Er hob den Speer, bot ihn den vier Himmelsrichtungen und den Elementen an, und trommelte sich mit der Hand, die den Speer umfasst hielt, auf die Brust. Damit wollte er den Geist des Lebens und aller anderen Wesen in sich aufnehmen. Dann wandte er sich Beram Himmelsjäger zu, um den Segen zu empfangen.

Ebenso wie die Körper der Krieger wurden auch die Waffen mit Öl eingerieben. Beram murmelte leise einige Worte, tauchte den Finger in ein Gefäß mit heiligem Öl und strich die funkelnde Flüssigkeit behutsam auf die Speerspitze.

„Es tut mir leid, dass es so weit gekommen ist“, sagte er leise, nur für Cairnes Ohren bestimmt. „Aber ich weiß, dass dein Grund der gerechte ist, Cairne Bluthuf. Möge dein Speerstoß aufrecht und wahrhaftig sein.“

Cairne verneigte sich tief und demütig. Seine kräftigen Finger legten sich fest um den Schaft des Speers. Zwanzig Generationen von Bluthuf-Häuptlingen hatten den Runenspeer im Kampf getragen, so wie er es heute tun würde. Der Speer hatte das Blut vieler ehrenhafter Feinde geschmeckt und war stets aufrecht und wahrhaftig gewesen. Einen Augenblick lang ließ er seinen Blick über die Runen wandern. Wie es Tradition war, hatte er den größten Teil seiner eigenen Geschichte vor einiger Zeit dort eingeritzt, aber es gab noch viel zu erzählen. Er nahm sich vor, die Geschichte zu beenden, sobald dieser Kampf vorbei war und die Dinge sich ein wenig beruhigt hatten.

„Alter Bulle“, erklang Garroshs spöttelnde Stimme, „wollt Ihr hier die ganze Nacht in Gedanken versunken herumstehen? Ich dachte, Ihr wolltet mich töten und nicht einen alten Speer anglotzen.“

Cairne seufzte. „Eure Worte werden vom Wind des Schicksals getragen, Garrosh Höllschrei. Es werden Eure letzten sein. Ich würde sie deshalb ein wenig bedachter wählen.“

„Pah“, spie Garrosh. Er nahm Blutschrei auf und neigte sich zu dem Schamanen, der sie segnen sollte.

Cairnes Blick verengte sich, als er etwas zu erkennen versuchte. Es war ein Taurenschamane, der Garroshs Waffe mit rituellen Worten und heiligem Öl segnete. Das überraschte Cairne und schmerzte ihn, weil er einen Schamanen der Orcs erwartet hatte. Es war eine Frau, schwarz gewandet...

„Magatha“, keuchte er. Sie war eine mächtige Schamanin, doch das war Beram auch. So wie ihre Segnung Garrosh sicherlich helfen würde, nutzte Beram Himmelsjägers Segen Cairne. Das musste sie doch wissen. Alles, was sie getan hatte, war öffentlich zu zeigen, wem ihre Loyalität galt.

Cairne nickte sich selbst zu, nun noch mehr von der Richtigkeit seines Weges überzeugt. Dieser Kampf musste stattfinden, bevor Garrosh noch mehr unter seine Kontrolle brachte. Zumindest Magatha hatte nun ihre wahren Absichten offenbart. Er würde dieses illoyale Verhalten ansprechen müssen, ihm blieb keine andere Wahl. Die Grimmtotems würden von Donnerfels verbannt werden müssen, es sei denn, sie gelobten der Horde doch noch ihre Ergebenheit. Das war jetzt zur absoluten Notwendigkeit geworden und kein Wunsch mehr.

Magatha blickte auf. Cairne konnte ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen, aber er stellte sich vor, wie sie selbstgefällig grinste. Er gestand sich selbst ein flüchtiges Lächeln zu. Sie unterstützte den falschen Kämpfer.

Er wandte sich um und betrachtete seinen Gegner.

Garrosh tänzelte auf den Ballen seiner Füße, verlagerte sein Gewicht leicht, die Hände um den Stiel der Axt gelegt. Seine goldbraunen Augen leuchteten vor Aufregung.

Erdenmutter, führe meine Schläge. Du weißt, dass ich nicht nur für mich selbst kämpfe.

Cairne warf den Kopf zurück, öffnete den Mund und stieß einen tiefen, wortlosen Schrei aus: die Herausforderung zum traditionellen Mak’gora. Garrosh antwortete, indem er seinerseits einen ohrenbetäubenden Schrei ausstieß, der so laut war wie der seines Vaters. Wie Cairne es erwartet hatte, griff er sofort an.

Cairne blieb reglos stehen und ließ den jungen Orc mit erhobener Axt auf sich zulaufen. Er wusste, dass die Aussparungen am Kopf der Axt das kreischende Geräusch erzeugten, dem die Waffe ihren Namen verdankte. Es war ein Geräusch, das Furcht in die Herzen von Grom Höllschreis Feinden gesenkt hatte. Doch Cairne blieb davon unberührt. Im letzten Augenblick und mit einer Anmut, die seine gewaltige Körpermasse Lügen strafte, bewegte sich der Taure zur Seite und ließ Garrosh an sich vorbeischießen. Der Orc versuchte, seine Vorwärtsbewegung zu stoppen, was ihm auch beinahe gelang. Doch Cairne hatte seinen Speer bereits erhoben und rammte ihn in Garroshs rechten Bizeps.

Gellend schrie Garrosh vor Überraschung, Wut und Schmerz auf. Sein Griff um die Waffe lockerte sich. Cairne senkte seinen gehörnten Kopf, rammte ihn in die Wunde und fegte Garrosh, der Blutschrei beinahe hätte fallen lassen, von den Beinen. Die Axt wäre für den Orc verloren gewesen, denn eine Waffe, die auf dem Boden lag, durfte von keinem der Kämpfenden mehr aufgehoben werden.

Cairne hob den Runenspeer an und stieß ihn senkrecht nach unten. Garrosh wälzte sich in letzter Sekunde zur Seite und bedeckte sich mit dem Staub der Arena. Cairne verlor eine wertvolle Sekunde, um den Speer wieder frei zu bekommen, und schon war Garrosh wieder auf den Beinen. Er, der hochgelobte Krieger der Horde, hatte beinahe seine Waffe verloren, und Cairne hatte ihm seine erste Wunde zugefügt.

„Gut gespielt, alter Bulle“, sagte Garrosh leicht keuchend. „Ich gebe zu, ich habe Euer Tempo unterschätzt. Offenbar ist nur Euer Verstand langsam.“

„Eure Schmähungen waren noch nie die schlauesten und sind es noch immer nicht, Sohn von Höllschrei“, antwortete Cairne und ließ seinen Gegner keine Sekunde aus den Augen. „Spart Euren Atem für den Kampf, und ich spare meinen, um auf Eurer Beerdigung gut über Euch zu sprechen.“

Es ist beinahe schon zu einfach, Garrosh zu provozieren, dachte Cairne. Die dichten Augenbrauen des Orcs wanderten nach unten, und mit einem leisen Knurren griff er an. Er führte Blutschrei geübt. Cairne spürte den Luftzug und hörte die Waffe ihr wütendes Lied singen, als er nur knapp dem Hieb auswich. Garrosh war kein Narr, er hatte aus seinem Fehler gelernt. Er würde Cairne kein zweites Mal unterschätzen.

Cairne senkte den Kopf, scharrte mit dem rechten Huf und griff an. Garrosh brüllte einen Kriegsschrei und hob die Axt, um dem Bullen die Kehle aufzuschlitzen. Doch in derselben Sekunde blieb Cairne stehen, scherte nach links aus und stieß den Speer in Richtung von Garroshs freiliegendem Brustkorb. Garroshs Augen weiteten sich. Er hatte gerade noch genug Zeit, sich ein wenig zu drehen, sodass nur seine rechte Schulter von dem Speer getroffen wurde und nicht seine Brust. Der Stoß war gefährlich, wurde jedoch nicht zu dem Todesstoß, der er andernfalls gewesen wäre. Doch auch so, mit einer Wunde im rechten Bizeps und einer zweiten in der rechten Schulter, war Garroshs Arm schwer verletzt.

Er schrie vor Schmerz und Wut und schlug mit seiner freien Hand auf die Wunde, während die andere den Schaft seiner Axt umklammerte. Cairne zog den Speer zurück und verspürte nicht das geringste Mitleid mit seinem Gegner. Garroshs Tod würde ein Verlust für die Horde sein. Sicher, er war ein guter Krieger, möglicherweise sogar mehr. Wenn Thrall den jungen Orc doch nicht zum Anführer gemacht hätte! Diese tragische Situation hätte so leicht vermieden werden können.

Cairnes kurzes Zögern erlaubte Garrosh das fast Unmögliche, nämlich die zweihändige Axt mit seinem schwer verwundeten Arm zu umfassen. Schnell nahm Cairne den Runenspeer in beide Hände und hielt ihn hoch, um den Hieb abzuwehren. Stark und fest wie sie war, hatte die Waffe zahllose Kämpfe überstanden, und Cairne hatte sie häufig zur Abwehr eingesetzt.

Blutschrei kreischte ihren schaurigen Schrei, als sie herniederfuhr.

Der Runenspeer – die Waffe von zwanzig Generationen, der Stolz der Bluthufe, die so viele getötet und das Volk der Tauren so gut beschützt hatte – zerbrach.

Mit verminderter, aber nicht gestoppter Kraft drang Blutschrei in Cairnes Brust ein, schnitt eine Wunde in sein Fell und sein Fleisch und traf dann seinen Arm. Doch die Verletzung war nicht mehr als eine Fleischwunde, denn der Speer hatte die Wucht des Hiebes abgefangen.

Cairne erholte sich von dem Schreck, dass die Waffe seiner Ahnen zerstört worden war. Er war noch nicht erledigt. Seine Hand griff fester um das untere Drittel des Speers. Auch so war er noch immer eine gefährliche Waffe. Garrosh kämpfte weiter, aber er war schwer verwundet. Der Hieb, unter dem der Runenspeer zerbrochen war, hatte ihn ausgelaugt, und er würde nicht mehr lange durchhalten. Ein gut gezielter Stoß mit den Überresten des Speers würde...

Cairne blinzelte. Seine Sicht verschwamm. Hatte er Staub, Schweiß oder Blut ins Auge bekommen? Er gönnte sich eine wertvolle Sekunde, um mit dem Handrücken über seine Augen zu wischen, doch es half nichts. Seine Hand zitterte, als er sie senkte. Und seine Beine... sie fühlten sich schwach an...

Gebannt starrte er zu Garrosh hinüber. Der Orc schwitzte stark und keuchte. Während Cairne zusah, griff Garrosh die Axt fester und erwiderte gleichmütig Cairnes Blick. Cairne umfasste seine Waffe. Sie glitt durch seine Hand... war so merkwürdig schwer...

Schlagartig wusste er, was mit ihm geschah.

Und so sterbe ich, der sein ganzes Leben lang in Ehre gelebt hat, durch Verrat.

Er konnte nicht einmal mehr schreien, um mit seinem letzten Atemzug seinen Mörder anzuklagen. Nur mit reiner Willenskraft schaffte er es, den zersplitterten Speer hochzuhalten, um nicht unbewaffnet erschlagen zu werden.

Garroshs Augenbrauen zogen sich zusammen, als er die Wunde sah, die er in Cairnes Brust geschlagen hatte, und die Teile des Runenspeers, die auf dem Boden lagen. Für einen Moment huschte ein überraschter Ausdruck über sein Gesicht, doch dann grinste er zuversichtlich. Er lief auf seinen Gegner zu, hob Blutschrei mit beiden Händen an und schlug zu. Unfähig, den Hieb abzuwehren oder aus dem Weg zu springen, sein Leben mit jedem Herzschlag schwindend, sah Cairne Bluthuf, Oberhäuptling der Tauren stumm zu, wie die Axt auf ihn zuraste.

22

Magatha beobachtete den Kampf aufmerksam. Ihr Gesichtsausdruck verriet nicht ihre zunehmende Erregung. Die beiden Krieger waren sich ebenbürtig, wenn sie sich auch in vielerlei Hinsicht voneinander unterschieden. Cairne verfügte über eine erhebliche Stärke, große Weisheit, eine große Geduld und viel Erfahrung. Garrosh war voller Energie und wurde vom Feuer der Jugend angetrieben. Der brodelnde Konflikt zwischen Alt und Jung hatte heute Nacht seinen Höhepunkt erreicht. Nur einer der beiden würde die Arena lebend verlassen, und der Sieger würde die Zukunft der Horde bestimmen. Jedem der Anwesenden war bewusst, dass er miterlebte, wie Geschichte geschrieben wurde. Magatha erkannte, dass die Gefühle, die sich auf den Gesichtern der Zuschauer widerspiegelten, von Schrecken und Schock bis zu großer Begeisterung und unbändiger Freude reichten.

Es war ein wilder Kampf, knapper, als alle erwartet hatten.

Alle außer Magatha.

Schon seit Jahren hatte sie auf eine solche Gelegenheit gewartet, und wie ein Blatt, das langsam und unerwartet von einem Baum in ihren Schoß segelte, war diese Gelegenheit schließlich gekommen. Ihre Spione in Orgrimmar hatten sie noch rechtzeitig informieren können, um sich von Donnerfels zur Arena zu begeben. Es war leicht gewesen, als Schamanin für die rituelle Segnung der Waffen Garroshs ausgewählt zu werden.

Vor dem Kampf, als sich Garrosh und mehrere seiner Kor’kron in einem abgetrennten Bereich unter der Tribüne aufgehalten hatten, hatte sie um eine Unterredung mit dem Kriegshäuptling gebeten, und diese Bitte war ihr nicht abgeschlagen worden. „Ich habe Euch schon einmal gesagt, Garrosh Höllschrei, dass Ihr genau das verkörpert, was die Horde braucht. Und ich habe Euch auch gesagt, dass ich, wenn die Zeit reif ist, Euch meine Unterstützung und die des Grimmtotemstamms anbiete. Lasst mich heute Eure Waffe für den Kampf segnen.“

Garrosh hatte sie verwundert angeblickt. „Ihr wollt Euch gegen Cairne stellen? Gegen einen Tauren?“

Magatha zuckte die Achseln. „Ich tue, was das Beste für mein Volk ist. Das bedeutet, Euch zu folgen, Garrosh Höllschrei.“

Er nickte. „Ihr seid eine weise Führerin Eures Stammes. Ich bin die Zukunft, nicht dieser alte Bulle, auch wenn er einst ein Held gewesen sein mag.“ Seine Augenbrauen zogen sich für einen Moment zusammen. „Ich... respektiere ihn. Mir wäre es lieber, nicht derjenige sein zu müssen, der seinem Leben ein Ende setzt. Aber er hat mich herausgefordert und meine Ehre beleidigt.“

„Das hat er tatsächlich“, sagte Magatha. „Der Schlag, der Euch zum Taumeln brachte... Alle sprechen davon. Eine Schande! So etwas darf nicht ungesühnt bleiben.“

Garrosh hatte geknurrt, und sein Gesicht war dort, wo es nicht tätowiert war, vor Wut und Verlegenheit rot angelaufen. Magatha behielt ihren neutralen Gesichtsausdruck bei, doch innerlich lächelte sie. Es war beinahe schon zu einfach.

„Also akzeptiert Ihr meinen Segen für Eure Klinge und die Unterstützung der Grimmtotems?“

Garrosh betrachtete sie von Kopf bis Fuß, dann nickte er. „Lasst alle von Eurer Entscheidung wissen, Ältestengreisin. Ihr dürft meine Klinge segnen, bevor der Kampf beginnt.“

Kurz darauf hatte er vor aller Augen Blutschrei präsentiert. Magatha konnte ihre Erregung kaum verbergen, als sie mit dem Ritual begann, den Korken aus dem Fläschchen zog und drei Tropfen Öl auf die Klinge gab. Die Tradition verlangte, dass sie dazu ihre Hände benutzte, doch tat sie das nicht. Garrosh bemerkte es nicht einmal.

Auch war ihm nicht klar, dass Magatha ihn für ihre Zwecke missbrauchte. Hätte er eine Ahnung davon gehabt, was sie plante, und gewusst, dass seine wertvolle Axt mit Gift eingerieben worden war, hätte er sie auf der Stelle erschlagen.

Ja, jubelte sie, als sie sah, wie Cairne plötzlich taumelte. Er blinzelte mehrere Sekunden lang, nachdem Blutschrei den alten Runenspeer zersplittert und ihn an der Brust und am Arm verletzt hatte. Es war so leicht gewesen. Aber so viel anderes war zu schwer zu erreichen. Es war ein stetes Gleichgewicht.

Garrosh ergriff die Gelegenheit, die sich ihm bot. Blutschrei kreischte, als der Orc sie über seinem Kopf kreisen und zu einem letzten Hieb heruntersausen ließ. Die Klinge drang tief zwischen Cairnes Kopf und seiner Schulter ein, schnitt durch Muskeln und Fleisch. Blut schoss aus mehreren durchtrennten Arterien hervor, und die Beine des mächtigen Cairne Bluthuf erzitterten. Er brach zusammen. Als sein Körper zu Boden stürzte, war er bereits tot. Donnernder Applaus erfüllte die Arena und mischte sich mit entsetzten Schreien und lautem Schluchzen.

Eine Ära ist zu Ende gegangen. Mit Cairnes Tod wird eine neue beginnen.

Cairnes Anhänger stürmten bestürzt in den Ring und hoben den Körper ihres gefallenen Anführers auf. Magatha wusste, was nun folgen würde. Der Tradition gemäß würden sie ihn waschen, ihn von jeglichem Schmutz, dem Blut, dem Schweiß und dem Öl reinigen, und für die Einäscherung vorbereiten, indem sie ihn, wie der Ritus es verlangte, in ein Tuch wickelten. Es würde einen langen Trauerzug von Orgrimmar nach Donnerfels geben, damit alle Cairne ihren Respekt erweisen konnten, bevor der Leichnam verbrannt wurde. Die Asche würde man den Winden und den Flüssen anvertrauen, um Cairne mit der Erdenmutter und dem Himmelsvater eins werden zu lassen.

Magatha würde endlich die Gelegenheit erhalten, auf die sie so lange gewartet hatte.

Sie wandte sich an einen ihrer Anhänger und flüsterte auf Taurahe: „Jetzt ist die Zeit gekommen! Verbreite die Nachricht, dass Cairne gefallen ist. Heute Nacht beginnt die Herrschaft der Grimmtotems.“


Der Mond stand über Donnerfels, und die Nacht war klar und wolkenlos. Die Tauren lagen in ihren Zelten und schliefen. Zu dieser frühen Morgenstunde herrschte völlige Stille. Der Rauch der wenigen noch glimmenden Feuer stieg kerzengerade in den von Sternen übersäten Himmel.

Schattengleich bewegten sich die Grimmtotems, schwarze Flecken am Nachthimmel. Einige kamen auf dem Rücken ihrer Wyverns sitzend nach Donnerfels, andere gingen zu Fuß, wobei sie die Aufzüge mieden und die Klippe in tödlicher Absicht und mit einer Anmut hinaufkletterten, die man ihren massigen Körpern nicht zugetraut hätte. Seit Jahren hatten sie auf diesen Ruf gewartet und waren ihm binnen kürzester Zeit gefolgt.

Sie alle trugen Waffen – Würgeschlingen, Messer, Schwerter, Äxte, Bogen-, jedoch keine Gewehre, nichts, das Lärm verursachte. Geräusche bedeuteten Entdeckung, Entdeckung wiederum bedeutete Widerstand, und den galt es nach dem Willen ihrer Matriarchin unbedingt zu vermeiden. Ihr Auftrag war es, lautlos zu töten und sofort zum nächsten Opfer zu eilen.

Sie hielten sich in den Schatten, schlichen auf der untersten Ebene des Tafelbergs hinter die Zelte, und warteten, bis alle ihre Position bezogen hatten. Leise Rufe, die, wenn sie denn gehört wurden, die Tauren nicht alarmierten, drangen durch die Nacht. Die Grimmtotems schlugen zu.

Rasch stürmten die Meuchelmörder in die Zelte der Tauren. Einige Ziele waren ihnen gut bekannt – geübte Kämpfer oder besonders mächtige Druiden oder Schamanen. Doch wem nützt die Kraft eines Bären, wenn er nicht rechtzeitig aufwacht, um sich zu verwandeln? Wem hilft es, geübt im Umgang mit dem Schwert zu sein, wenn die Brust bereits durchbohrt ist? Wie leicht kann man Kehlen durchtrennen, wenn es keinen Widerstand gibt?

Am Ufer des kleinen Sees kamen sie wieder zusammen, vergewisserten sich, dass alle Krieger noch wohlauf waren, und gaben sich Handzeichen. Nachdem sie sich in zwei Gruppen aufgeteilt hatten, lief die erste Gruppe zur Anhöhe der Geister, die zweite zur Anhöhe der Jäger. Die Anhöhe der Ältesten ignorierten sie. Dort hatte Magatha bis zu dieser Nacht gelebt. Ihre loyalen Untergebenen, die in Donnerfels zurückgeblieben waren, hatten zweifelsohne bereits die unglücklichen Druiden getötet, die das Pech hatten, sich in Donnerfels aufzuhalten. Die alten Bohlen der Brücken knarrten leise unter dem Gewicht der Angreifer, doch da die Brücken im Wind stets Geräusche verursachten, befürchteten sie nicht, entdeckt zu werden.

Sie rannten zu ihren Opfern. Einer der Grimmtotems beugte sich über einen Schamanen, der gerade noch rechtzeitig erwachte, um erschreckt nach Luft zu schnappen, bevor er starb. Er gehörte zur Familie der Himmelsjäger, die nun bis auf das letzte Mitglied ausgelöscht war. Die Grimmtotems mussten sich keine Sorgen um die Verlassenen und den Teich der Visionen machen, der unterhalb der Hauptebene der Anhöhe der Geister gelegen war, denn der größte Teil der Verlassenen unterstützte Magatha. Die, die das nicht taten, hatten zumindest keine enge Bindung zu den Tauren oder ihrem Anführer.

Auf der Anhöhe der Jäger stießen die Grimmtotems bei ihrem mörderischen Tun auf einigen Widerstand, denn die Jäger erwachten sofort. Sie waren äußerst stark und setzten sich zur Wehr. Doch für die Grimmtotems waren sie keine Gegner, denn diese hatten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite und Gift auf ihren Klingen. Schon bald herrschte wieder Ruhe auf der Anhöhe, und die Meuchelmörder kehrten in das Herz von Donnerfels zurück.

Diejenigen, die die größte Bedrohung für die Ältestengreisin Magatha dargestellt hatten, waren ausnahmslos getötet worden. Jetzt war es an der Zeit, wahllos vorzugehen, um Angst in die Herzen all der Tauren zu pflanzen, die das Massaker überlebt hatten. Sie mussten wissen, dass die Herrschaft der Grimmtotems keinen Spielraum für Fehler ließ und Vergebung oder Mitleid nicht zu erwarten waren.

Donnerfels würde wie ein Kind im Blut wiedergeboren werden.

„Wartet“, sagte ein Schamane der Grimmtotems und streckte die Hand aus. Obwohl sein Geburtsname Jevan lautete, wurde er wegen seiner Vorliebe für die Elemente Wasser und Luft Sturmlied genannt. Als die von ihm geführte Gruppe das Dorf der Bluthufe umzingelte, verkündete er seinen Leuten, seine speziellen Kräfte erst im letzten Moment einsetzen zu wollen. Tarakor, sein Stellvertreter, wartete jedoch ungeduldig auf das Signal zum Angriff.

„Warum warten?“, fragte Tarakor verwirrt. „Wir haben unsere Befehle, Sturmlied. Wir greifen an!“

Der Schamane hielt seine Nase schnuppernd in die Luft, und seine schwarzen Ohren zuckten nervös. „Etwas stimmt hier nicht. Es ist möglich, dass sie uns bereits bemerkt haben.“

Tarakor schnaubte. „Das ist doch völlig unwahrscheinlich. Wir haben für diese Nacht jahrelang geübt.“

Sturmlied sah ihn durchdringend an. „Wenn wir Spione haben und geheime Botschaften übermitteln können, dann könnt Ihr davon ausgehen, dass Cairne dazu ebenfalls in der Lage ist.“

Ihr Auftrag hatte darin bestanden, in Donnerfels jeden zu töten, der eine Gefahr für die Matriarchin darstellen konnte. Es war eine lange Liste, und einige, die an dieser Mission teilnahmen, würden ihren Teil nicht vollständig erfüllen können. Doch im Dorf der Bluthufe gab es nur ein Ziel, nur einen, der sterben musste. Dieses Attentat musste gelingen, da sonst die ganze blutgetränkte Nacht umsonst gewesen wäre.

Baine Bluthuf, Cairne Bluthufs Sohn und einziger Erbe, lebte hier und nicht bei seinem Vater in Donnerfels.

Die Tauren, die friedlich in ihren Zelten oder im Freien im Mondlicht schliefen, hatte die Nachricht vom Tod ihres Häuptlings noch nicht erreicht. Die Weitläufer, die den Kampf in Orgrimmar miterlebt hatten und Baine davon berichten wollten, waren ohne Ausnahme still und heimlich eliminiert worden. Zauberer und andere, die auf magischem Wege die Nachricht nach Donnerfels hätten übermitteln können, wurden heimlich beobachtet – oder man nahm sich ihrer auf andere Weise an. Die Straßen waren blockiert. Magatha hatte alles gut geplant und nicht die geringste Kleinigkeit dem Zufall überlassen.

Bluthuf war die erste Taurensiedlung gewesen, die auf offener Ebene gegründet worden war und nicht auf dem geschützten Tafelberg. Das Dorf war der Beweis dafür, wie sicher die Tauren sich in dem Land fühlten, das ihnen einst so fremd erschienen war.

Sie waren tatsächlich sicher vor Jägern und den Angriffen anderer Völker.

Sie waren jedoch nicht sicher vor den Grimmtotems.

„Wenn jemand in Bluthuf über Cairnes Tod in der Arena Bescheid weiß, dann ist das sicherlich sein Sohn“, sagte Sturmlied. „Vielleicht ist es ja einem Boten gelungen, durch die Maschen unseres Netzes zu schlüpfen! Ich werde mich ins Dorf schleichen und die Lage auskundschaften, damit wir nicht in eine Falle laufen. Wenn es nicht sicher ist, müssen wir unsere Taktik ändern. Unternehmt nichts, bis Ihr von mir hört! Habt Ihr das verstanden?“

Sturmlied war so alt wie Cairne, und wie der verstorbene Bulle war er noch immer stark und schlau, trotz der grauen Haare, die sein schwarzes Fell durchzogen. Tarakor ging unruhig auf und ab. Er war jünger und heißblütiger als Sturmlied und hatte seit langer Zeit von dieser Nacht geträumt. Er wollte keine Minute länger warten, doch schließlich nickte er widerstrebend.

„Ihr seid der Anführer bei dieser Mission“, sagte er mit einer Stimme, die deutlich erkennen ließ, dass er es lieber gesehen hätte, selbst dazu ernannt worden zu sein. „Ich werde Euch gehorchen. Aber beeilt Euch! Meine Klinge dürstet nach Baines Blut.“

„Die meine nicht minder, mein Freund. Doch ich würde mein Blut nicht gerne vergießen, wenn ich es vermeiden kann“, entgegnete Sturmlied. Die zwei Dutzend Grimmtotemkrieger, die sich um sie versammelt hatten, lachten leise. „Ich bin so schnell wie möglich wieder zurück.“

Tarakor blickte Sturmlied nach. Der Anführer bewegte sich leise vorwärts und wurde kurze Zeit später von den Schatten verschluckt.

Tarakor wartete.

Und wartete und wartete. Mit wachsender Unruhe trat er von einem Huf auf den anderen. Auch die Krieger, die neben ihm standen, wurden immer ungeduldiger. Sie konnten den Kampf kaum noch erwarten, und diese unerwartete Pause gefiel ihnen ganz und gar nicht. Tarakor wusste nicht, wie lange er hier schon stand und seine Augen sich mühten, etwas in der Finsternis zu erkennen, als es in seinem Kopf plötzlich Klick machte.

„Jetzt sollte er aber langsam zurückkommen“, knurrte er. „Irgendwas muss schiefgegangen sein. Wir können nicht länger warten. Grimmtotems, greift an! Für die Ältestengreisin!“


Irgendetwas hatte Baine Bluthuf aufgeweckt. Unruhig lag er auf seinem Lager, und ein merkwürdiger Schauder lief seinen Rücken hinab. Er hatte geträumt, konnte sich jedoch nicht mehr an den Traum erinnern, der ihn zutiefst verstört hatte. Als er Stimmen hörte, stand er auf, warf sich rasch etwas über und trat hinaus, um zu sehen, was geschehen war.

Zwei Wachtposten hielten einen Tauren fest. Selbst im schwachen Licht des Mondes erkannte Baine ihn sofort.

„Ich kenne Euch“, sagte er. „Ihr gehört zu Magathas Leuten. Was macht Ihr hier mitten in der Nacht?“

Der Taure war bereits älter, jedoch keineswegs gebrechlich. Er traf keinerlei Anstalten, sich dem harten Griff der Wachen zu widersetzen, sondern warf Baine einen mitfühlenden und besorgten Blick zu.

„Ich bin hier, um Euch zu warnen, Baine Bluthuf. Euer Vater ist tot, und Ihr sollt der Nächste sein, der stirbt. Ihr müsst fort, und das sofort und möglichst leise.“

Ein rasender Schmerz durchfuhr Baine, aber er verdrängte ihn sofort wieder. Der Taure gehörte den Grimmtotems an. Das musste ein Trick sein.

„Ihr lügt“, zischte er, „und ich verstehe keinen Spaß, wenn jemand Scherze über meinen Vater macht. Sagt mir, was Ihr wirklich von uns wollt. Dann vergesse ich vielleicht Euren schlechten Witz.“

„Das ist keine Lüge, Häuptling“, wiederholte der Grimmtotem. „Er ist in der Arena im Kampf mit Garrosh Höllschrei gefallen, den er zu einem Mak’gora herausgefordert hatte.“

„Jetzt weiß ich, dass Ihr tatsächlich lügt! Thrall hat so etwas verboten. Das Mak’gora ist kein Kampf mehr auf Leben und Tod.“

„Was einst war, wurde jetzt wieder zum Leben erweckt“, sagte Sturmlied. „Cairne hat ihn herausgefordert, und Garrosh hat angenommen – und darauf bestanden, nach den alten Regeln zu kämpfen. Es ging in der Tat bis zum Tod.“

Baine erstarrte. Wie er seinen Vater und Garrosh kannte, war so etwas durchaus möglich. Er wusste, dass sein Vater Garroshs Ernennung durch Thrall nicht gutgeheißen hatte – ebenso wenig wie er selbst das getan hatte. Auch wusste er, dass Hamuul Runentotem und Cairne glaubten, dass Garrosh hinter den Angriffen auf die Schildwachen im Eschental gesteckt hatte. Es war gut möglich, dass Cairne Garrosh herausgefordert hatte, weil er das Gefühl gehabt hatte, der Orc sei eine echte Gefahr für das Wohl der Horde. Und genauso wahrscheinlich war es, dass Cairne nicht nachgegeben hatte, als Garrosh auf der Anwendung der alten Regeln bestanden hatte.

„Mein Vater hätte einen solchen Kampf gewonnen“, sagte er, doch seine Stimme bebte.

„Das hätte er vielleicht“, stimmte ihm der Schamane zu, „hätte Magatha nicht Garroshs Klinge vergiftet. Sie nutzte ihre Position als Schamanin dazu, die Klinge mit einem vergifteten Öl zu segnen. Ein einziger Treffer war alles, was sie brauchte.“ Er sprach die Worte mit Verbitterung und Wut aus. „Öffnet meinen Rucksack. Darin findet Ihr einen traurigen Beweis für meine Worte.“

Baine nickte einem der Posten zu. Der Taure öffnete den Rucksack, den er dem Grimmtotem abgenommen hatte, und seine Augen weiteten sich vor Schreck. Baine spürte einen Schauder tief in seinem Innern. Widerstrebend griff die Wache in den Rucksack und zog zwei kleine Holzstücke hervor – die Teile eines zerbrochenen Stabs.

Baine streckte die Hand aus, und der Wachtposten legte die Stücke des legendären Runenspeers hinein. Langsam, zitternd schloss Baine die Finger darum, spürte die Runen, die ihm so bekannt und vertraut waren. Er taumelte. Sein mächtiger und weiser Vater – von dem er angenommen hatte, er würde entweder in einer ruhmreichen Schlacht oder friedlich im Schlaf sterben – war einem Verrat zum Opfer gefallen...

Wut stieg in ihm auf, als der Grimm totem fortfuhr. „Zwei Dutzend Grimmtotemkrieger warten außerhalb des Dorfes auf meinen Befehl zum Angriff. Ich bin der Anführer dieser Mission. Doch ich möchte Euch warnen. Euer Vater war ein großer Taure, auch wenn ich nicht immer einer Meinung mit ihm war. Einen solchen Tod verdiente er nicht, ebenso wenig wie Ihr. Lange habe ich dem Matriarchat gedient, doch nun...“ Er schüttelte den Kopf. „Jetzt ist sie zu weit gegangen. Sie widerspricht allem, was einen Schamanen auszeichnet. Ich werde mich nicht länger an ihren Plänen beteiligen.“

Baine ergriff den Bart des Tauren und riss seinen Kopf hoch. Der Grimmtotem grunzte, hielt Baines Blick jedoch unbeirrt stand.

Der merkwürdige Traum... das Gefühl der Unruhe...

Ein großer Schmerz erfüllte Baines Brust, durchstieß sein Herz, es fiel ihm schwer zu atmen. „Vater“, flüsterte er, und als er das sagte, erkannte er, dass der Überlaufer der Grimmtotems die Wahrheit gesagt hatte. Tränen rannen aus seinen Augen, doch er wischte sie fort. Später war noch genug Zeit, seinen Vater zu betrauern. Wenn es stimmte, was der Überläufer sagte...

„Wie heißt Ihr?“

„Man nennt mich Sturmlied, Häuptling.“

Häuptling. Baine wurde klar, dass er nun tatsächlich der Häuptling der Bluthufe war... „Ich werde hierbleiben und kämpfen“, erklärte Baine. „Ich laufe nicht vor der Gefahr davon und lasse die Bewohner des Dorfes, das den Namen meiner Familie trägt, im Stich.“

„Sie sind in der Überzahl“, sagte Sturmlied, „und Euer Leben ist zu wichtig, als dass es in einem nutzlosen Kampf weggeworfen werden dürfte. Ihr seid der letzte Bluthuf, und Ihr werdet höchstwahrscheinlich auch der nächste Anführer. Ihr tragt die Verantwortung dafür, dass den Tauren nichts geschieht, und dass zurückverlangt wird, was Euch gestohlen wurde. Glaubt Ihr, das Dorf der Bluthufe ist die einzige Taurensiedlung, die heute Nacht angegriffen wird?“

Baines Augen weiteten sich vor Entsetzen, als Sturmlied berichtete, was in dieser Nacht alles geschehen war und noch geschehen sollte. „In diesem Augenblick geht das Abschlachten in Donnerfels weiter! Wenn die Sonne über dem Horizont erscheint, um sich das Blutbad dieser grauenhaften Nacht anzusehen, wird Magatha die Tauren regieren. Ihr könnt Euch den Luxus zu sterben, um Euren Vater zu rächen, nicht leisten! Kommt, bitte!“

Baine schnaubte wütend, packte Sturmlied an seiner Lederweste, ließ ihn dann jedoch rasch wieder los. Der Schamane hatte recht.

„Das könnte ein Trick sein, eine Falle!“, gab einer der Wächter zu bedenken. „Er könnte Euch in einen Hinterhalt locken!“

Baine schüttelte traurig den Kopf. „Nein“, sagte er. „Ich kann es spüren. Der Schamane spricht die Wahrheit.“ Er öffnete seine Hand, in der die Bruchstücke des Runenspeers lagen, und betrachtete sie einen Moment lang, bevor er sie sorgfältig in einer Tasche verstaute. „Mein Vater wurde erschlagen, und ich muss heute Nacht überleben, wenn ich mich in seinem Sinne um mein Volk kümmern will. Deshalb riskiere ich viel, indem ich Euch vertraue. Betrügt Ihr mich jedoch, seid Ihr binnen Sekunden tot.“

„Das weiß ich nur zu gut“, sagte Sturmlied ernst. „Ich bin allein, und ihr seid viele. Nun... Die Grimmtotems haben das Dorf fast umstellt, aber ich glaube, ich weiß, wie man sie auseinandertreiben kann. Folgt mir.“


Als die Grimmtotems das Dorf angriffen, trafen sie nicht auf schlafende, überraschte Tauren, sondern auf gut ausgebildete, voll bewaffnete und kampfbereite Krieger, die sich ihnen mutig und entschlossen entgegenstellten. Tarakor war davon nicht wirklich überrascht, da er angenommen hatte, dass Sturmlied erwischt und Baine durch den Angriff alarmiert worden war. Doch sie waren Grimmtotems und würden bis zum Tod kämpfen.

Viele fielen unter Tarakors Axt, doch einen Tauren bekam er nicht zu Gesicht: Baine Bluthuf. Jeder der Angreifer wusste, dass ihre wichtigste Aufgabe darin bestand, Baine zu töten. Als die Zeit verging und Baine immer noch nicht auftauchte, beschlich Tarakor eine leise Panik.

Es konnte nur eine Erklärung dafür geben.

„Grimmtotems“, schrie er und schwenkte die Axt über dem Körper einer Druidin, die er bei ihrem erfolglosen Versuch, sich in eine Raubkatze zu verwandeln, zweitgeteilt hatte. „Wir wurden verraten! Baine ist entkommen! Findet ihn! Findet ihn!“

Die tapfer kämpfenden Dörfler waren jetzt nicht mehr das Ziel des Angriffs, sondern vielmehr ein Hindernis, als die Grimmtotems versuchten, sich aus dem Dorf zurückzuziehen. Plötzlich bebte die Erde. Tarakor wirbelte herum, die Axt zum Hieb erhoben, und starrte ungläubig nach vorn.

Nahezu ein Dutzend Kodos stürmten auf ihn und seine Männer zu. Einige der Tiere wurden von Bewohnern Bluthufs geritten, manche trugen lediglich Sattel und Zaumzeug und einige wenige, die noch nicht zugeritten worden waren, nicht einmal das. Sie bellten und ihre Augen rollten wütend in ihren Höhlen hin und her. Die Tiere waren voller Panik und schienen keineswegs langsamer werden zu wollen.

Den Grimmtotems blieb nur eine Möglichkeit. „Lauft!“, schrie Tarakor. „Lauft!“

Genau das taten sie nun, während die Kodos ihnen folgten und immer schneller wurden. Die Grimmtotems rannten um ihr nacktes Leben. Vor ihnen lag der Steinbullensee. Tarakor sprang aus vollem Lauf in das kalte Wasser und ging wegen seiner schweren Rüstung sofort unter. Die Kodos folgten den Grimmtotems in den See, verloren im Wasser jedoch rasch an Tempo. Tarakor kämpfte sich, so schnell er konnte, an die Wasseroberfläche zurück, doch seine Rüstung drohte ihn immer wieder unter Wasser zu ziehen. Die Kodos kehrten zurück an Land, schnaubten wild und schüttelten sich das Wasser aus dem Fell. Während die Grimmtotems sich mühselig über Wasser hielten, zählte Tarakor ihre Köpfe. Einige Krieger waren aus den Tiefen des Sees nicht wieder aufgetaucht, andere hatten es nicht einmal mehr bis ins Wasser geschafft. Sie würden später betrauert werden. Jetzt galt es, aus dem Wasser zu kommen und sich in Sicherheit zu bringen. Die überlebenden Grimmtotems schwammen auf die andere Seite des Sees und kletterten erschöpft an Land. Völlig durchnässt, zitternd und entmutigt machten sie sich auf den Rückweg.

Sie hatten versagt. Baine war entkommen. Sturmlied hatte sie verraten. Tarakor war alles andere als erfreut, Magatha diese Neuigkeit überbringen zu müssen.


Baine beobachtete die vorwärtsstürmenden Tiere und nickte. Es war eine gute Idee gewesen, die Herde in Panik zu versetzen. Das hatte ihm ausreichend Zeit verschafft, dem Angriff der Grimmtotems zu entkommen. Obwohl sie in freier Wildbahn ein eher friedliches Verhalten an den Tag legten, waren aufgeschreckte Kodos nicht aufzuhalten. Die Tiere trieben den Feind nach Westen, wo ihm die Berge eine weitere Flucht unmöglich machten. Die Grimmtotems konnten nirgendwo hin. Einige von ihnen würden sicherlich getötet werden, aber andere würden entkommen und Baine nachstellen. Es war eine Verzögerung, doch auch wenn sie nur kurz war, würde sie Baine und seinen Gefährten zugutekommen.

„Camp Taurajo ist nicht an die Grimmtotems gefallen, oder, Sturmlied?“

Der Grimmtotem schüttelte den Kopf. „Nein. Unsere Hauptziele waren Donnerfels, das Dorf der Bluthufe, der Sonnenfels und Camp Mojache.“

„Dann gehen wir nach Camp Taurajo und hoffen, dass es nicht doch noch angegriffen wurde. Von dort aus können wir die Weiterreise angehen.“

„Welche Reise, und wohin soll sie gehen?“, fragte Sturmlied.

Baines Blick war undurchdringlich, als er seinen Kodo antrieb. Sein Herz war schwer durch den Verlust seines Vaters und die Wut auf die Grimmtotems, die ihn angesichts des Blutbads beseelte.

„Das weiß ich nicht“, sagte er ehrlich. „Aber ich weiß, dass mein Vater gerächt wird. Ich werde nicht ruhen, bis die Grimmtotems als Verräter gebrandmarkt sind. Mein Vater erlaubte ihnen, mit uns zu leben, obwohl sie sich immer wieder weigerten, der Horde beizutreten. Jetzt verbanne ich sie aus der Gemeinschaft der Tauren. Das schwöre ich.“

Baine hatte Mulgore in den vergangenen Jahren nicht oft verlassen und beinahe vergessen, wie offen und frei das so treffend benannte Brachland war. Jörn Himmelsdeuter hatte ihn begrüßt und sie in das Lager gebracht, sorgfältig darauf achtend, dass die Orcwachen davon nichts mitbekamen. Baine wusste nicht, wem er noch vertrauen konnte. Als sie sich im hinteren Bereich einer der großen Hütten versammelten, war neben Baine auch Hamuul Runentotem anwesend, der die bittere Geschichte des Angriffs auf die friedliche Versammlung der Druiden berichtete. Offenbar erholte er sich nur langsam von dem Erlebten. Hinzu kamen die vier Wachen, die aus dem Dorf der Bluthufe mit ihm hergekommen waren, und Sturmlied, der Überläufer. Jörn trat zu ihnen und brachte einen Korb voller Nahrungsmittel mit: Äpfel und Wassermelonen, Gewürzbrot aus Mulgore und gekochtes Fleisch.

Baine nickte dem Jäger dankbar zu. Er biss in eine Frucht und betrachtete Hamuul. „Ich vertraue Eurem Wort, Hamuul, und dem von Sturmlied, auch wenn er ein Grimmtotem ist. Es ist grausam, dass der Anführer der Horde uns derart verrät und ich einem alten Feind vertrauen muss.“

Peinlich berührt verzog Sturmlied die Mundwinkel nach unten. Es war ihm sichtlich unangenehm, in dieser Runde zu sitzen, doch gewann er zunehmend den Respekt und das Vertrauen Baines und seiner Gefährten.

„Ich weiß nicht, ob und wie viel Garrosh von dem Angriff wusste. Mir ist jedoch klar geworden, dass ich es nur der Nachlässigkeit der Orcs verdanke, dass ich überlebt habe“, sagte Hamuul.

„Die Orcs hielten mich für tot, und beinahe war ich das auch. Was das Duell angeht“, sagte er und beobachtete Sturmlied aufmerksam, „so mag Garrosh dem Einsatz des Giftes zugestimmt haben oder auch nicht. Das ist vollkommen gleichgültig. Magatha hat, was sie wollte: Die Kontrolle über Donnerfels, das Dorf der Bluthufe und vielleicht auch Camp Mojache, wenn wir sie nicht bald aufhalten.“

„Den Sonnenfels hat sie nicht erobern können“, sagte Jorn ruhig. „Eben kam ein Bote. Man konnte den Angriff glücklicherweise abwehren.“

Baine nickte. Das waren gute Neuigkeiten, doch bei Weitem nicht zufriedenstellend. Er knurrte leise und zwang sich, noch etwas zu essen, obwohl sein Magen rebellierte. Er musste darauf achten, bei Kräften zu bleiben.

„Erzdruide, mein Vater hat Eurem Rat immer vertraut, und ich habe ihn nie mehr gebraucht als jetzt. Was sollen wir tun? Wie können wir sie bekämpfen?“

Hamuul seufzte und dachte nach. Eine lange Pause entstand. „Nach allem, was wir wissen, wird der Großteil der Tauren jetzt von Magatha kontrolliert – ob sie das nun wollen oder nicht. Garrosh ist vielleicht nicht verantwortlich für den Verrat, aber er ist ein Hitzkopf und hatte großes Interesse am Tod Eures Vaters.“ Baine atmete tief ein, und Hamuul warf ihm einen mitfühlenden Blick zu, bevor er fortfuhr. „Die Unterstadt ist nicht sicher für Euch, da sie von Orcs kontrolliert wird, die Garrosh treu ergeben sind. Die Dunkelspeertrolle sind wahrscheinlich vertrauenswürdig, jedoch ist ihre Zahl sehr begrenzt. Was die Blutelfen angeht, so sind sie zu weit entfernt, um uns Unterstützung leisten zu können. Garrosh erreicht sie wahrscheinlich noch vor uns.“

Baine lachte freudlos und wies auf Sturmlied. „Also sind unsere Feinde nun vertrauenswürdiger als unsere Freunde“, sagte er trocken.

Zu seinem Bedauern sah Hamuul sich gezwungen, dieser Bemerkung zuzustimmen. Er nickte. „Zumindest sind sie zugänglicher.“

Ein gewagter und gefährlicher Gedanke durchzuckte Baine. Wie sein Vater es ihm beigebracht hatte, dachte er einen Moment lang darüber nach und ließ ihn in seinem Kopf herumwandern, statt ihn sofort auszusprechen.

„Ich schätze einen ehrenhaften Feind höher als einen unehrenhaften Freund“, sagte er schließlich leise. „Also sollten wir zu einem ehrenhaften Feind gehen. Wir werden diejenige aufsuchen, der Thrall vertraute.“

Er blickte die Anwesenden einen nach dem anderen an und sah, wie sie langsam verstanden, worauf er hinauswollte.

„Wir gehen zu Lady Jaina Prachtmeer.“

23

„Hast du je an einem Ritual der Sicht teilgenommen, Go’el?“, fragte Geyah eines Abends, als sie gemeinsam ein einfaches Mahl aus Grollhufeintopf und Brot zu sich nahmen. Thrall hatte großen Appetit, denn der Tag war lang und sehr ermüdend gewesen, sowohl emotional als auch physisch. Er hatte ihn nicht damit verbracht, mit den Elementaren dieses Landes zu kommunizieren oder ihnen zu helfen, sondern damit, sie zu vernichten.

Thrall begriff, dass nur sehr wenige Elementargeister ausgeglichen und in Harmonie mit sich und den anderen Elementaren waren. Einige waren mit ihrer Natur im Reinen, so chaotisch diese auch sein mochte, während andere zutiefst verdorben waren. Oftmals konnte eine freundliche, aber feste Hand sie wieder auf Kurs bringen, doch manchmal waren die Wesen zu stark verletzt. So auch die kleine Flamme in Orgrimmar, die weder auf die Vernunft noch auf Bitten hatte hören wollen.

Die Schamanen durften nicht eigensüchtig sein und mussten stets großen Respekt für die Elementare zeigen, sie demütig um Hilfe bitten und dankbar sein für das, was ihnen gewährt wurde. Doch sie hatten auch die Verantwortung, die Welt vor Schaden zu bewahren, und wenn ein unkontrollierbarer Elementar für einen solchen verantwortlich war, bestanden keine Zweifel an ihrer Aufgabe.

Die Scherbenwelt wurde offensichtlich von ihnen überrannt.

Aggra hatte sich mit einer Sicherheit in die Sache gestürzt, über die nur jemand verfügen konnte, der dies bereits Dutzende, vielleicht sogar Hunderte Male getan hatte. Sie hatte keine Freude daran, aber sie zögerte auch nicht, sich oder Thrall zu verteidigen. Es war ein bitterer Kampf gewesen, überlegte Thrall. Ein Schamane, der die Kraft eines gesunden Elementars dazu einsetzte, dessen befleckten... Bruder zu vernichten. Konnte man das so bezeichnen, oder waren es nicht doch eher gleichrangige Wesen? Er war sich nicht sicher, welches Wort zutraf, nur dass sein Herz schmerzte, dabei zusehen zu müssen. In seinem Hinterkopf lauerte die nagende Frage: Ist das die Zukunft der Elementare von Azeroth, oder gibt es etwas, das ich tun kann, um das zu verhindern?

Er wandte sich Geyah zu, um ihre Frage zu beantworten. „Als ich noch jung war und unter Drek’Thars Anleitung lernte, traf ich die Elemente. Ich fastete und trank einen ganzen Tag lang nichts. Drek’Thar nahm mich zu einem bestimmten Ort mit, und ich wartete, bis die Elemente an mich herantraten. Ich stellte jedem eine Frage, als Teil meiner Prüfung, und weihte mich ihrem Dienst. Es war... sehr mächtig.“

Aggra und Geyah tauschten einen raschen Blick miteinander aus. „Das ist gut“, sagte Geyah, „obwohl es nicht der traditionelle Ritus des Übergangs ist. Drek’Thar hat unter diesen schwierigen Bedingungen sicherlich sein Bestes gegeben. Er war einer von nur sehr wenigen Schamanen, die noch übrig waren. Als du zu ihm kamst, waren die Frostwölfe damit beschäftigt, um ihr Überleben zu kämpfen, und deshalb konnte er keinen traditionellen Ritus der Sicht für dich vorbereiten. Du bist bislang sehr gut zurechtgekommen, Go’el, erstaunlich gut. Doch jetzt, nachdem du in deine Heimat zurückgekehrt bist, um zu lernen, ist es an der Zeit, sich auf die wahre rituelle Suche zu begeben.“

Aggra nickte. Sie blickte ernst drein und nicht mit ihrem sonst stets zutage tretenden Missfallen. Das Gegenteil schien der Fall zu sein, denn nach ihrer Körpersprache zu urteilen, brachte sie ihm nun Respekt entgegen.

„Ich tue, was ich tun muss“, sagte Thrall. „Glaubst du, es liegt daran, dass ich nicht das richtige Ritual vollziehen konnte? Ist das der Grund, weshalb ich nicht lerne, wozu ich hergekommen bin?“

„Beim Ritus der Sicht geht es um Selbsterkenntnis“, sagte Aggra. „Vielleicht musst du dich darum bemühen, bevor du weiteres Wissen akzeptieren kannst.“

Es war schwer, keinen Anstoß an ihren Worten zu nehmen. „Mehr als alles andere verfüge ich über Selbsterkenntnis“, sagte er steif. „Ich glaube, ich habe bereits eine Menge über mich gelernt.“

„Aber dennoch kann der mächtige Sklave nicht finden, was er sucht“, antwortete Aggra ein wenig angespannt.

„Seid friedlich, ihr beiden“, sagte Geyah sanftmütig, obwohl sie die Stirn runzelte. „Das Chaos, in dem die Welten sich befinden, ist schon groß genug, ohne dass zwei Schamanen einander bekämpfen. Aggra, du sagst, was du denkst, und das ist gut. Aber vielleicht hältst du von Zeit zu Zeit deine Zunge ein wenig im Zaum. Ich denke, das könnte eine gute Übung für dich sein. Und du, Go’el, wirst sicherlich zugestehen, dass auch jemand wie der Kriegshäuptling der Horde davon profitieren kann, sich selbst besser zu kennen.“

Thrall runzelte die Stirn. „Entschuldige, Großmutter, und auch du, Aggra. Ich bin wütend und enttäuscht, weil die Situation so verzweifelt ist. Ich kann nichts tun, um zu helfen. Doch es nützt natürlich niemandem, wenn ich meinen Ärger an euch auslasse.“

Aggra nickte. Sie wirkte verärgert, aber Thrall hatte gespürt, dass – zumindest dieses eine Mal – nicht er der Grund dafür war. Sie schien über sich selbst erzürnt zu sein.

Die junge Schamanin verwirrte ihn, das musste er sich ehrlich eingestehen. Er wusste einfach nicht, was er von ihr halten sollte. Thrall war es durchaus gewohnt, mit intelligenten, starken Frauen zu tun zu haben, hatte er doch zwei solcher Frauen gekannt: Taretha Foxton und Jaina Prachtmeer. Doch sie waren Menschen gewesen, und ihm war klar geworden, dass ihre Stärke eine völlig andere als die der Orcfrauen war. Er hatte Geschichten über seine Mutter Draka gehört, die krank geboren worden, doch durch ihren Willen und ihre Zielstrebigkeit physisch ebenso stark geworden war, wie sie es mental und emotional gewesen war. „Sie wurde zur Kriegerin gemacht“, hatte Geyah einst über Draka gesagt. „Es ist leicht, ein guter Krieger zu sein, wenn dir die Ahnen Schnelligkeit, Stärke und ein tapferes Herz schenken. Es ist jedoch nicht so leicht, wenn du dies alles einer Welt abringen musst, die es dir nicht geben will, so wie Aggra das musste.“

Nun sprach sie mit Thrall, obwohl sie Aggra ansah. „Der Geist deiner Mutter ist in dir, Thrall. Wie sie hast auch du dir alles selbst erarbeitet. Was du für dein Volk erreicht hast, wurde dir nicht in den Schoß gelegt, sondern du hast es dir erkämpft. Du bist ebenso der Sohn deiner Mutter wie der deines Vaters, Go’el, Sohn von Durotan – und von Draka.“

„Ich bin hierhergekommen, um zu lernen, was nötig ist, um meiner Welt helfen zu können“, sagte Thrall. „Doch ich würde diesen Ritus der Sicht gern so schnell durchführen, wie es möglich ist.“

„Du wirst so lange bleiben, wie es dauert“, sagte Aggra.

Thrall knurrte, entgegnete jedoch nichts, da er das bereits geahnt hatte.


Anduin war hinreichend klar, dass er kein „Ehrengast“ war. Vielmehr war er ein Gefangener, und zwar der wertvollste, den Moira hatte.

Der Brief, mit flinker Hand geschrieben, lag auf dem Tisch im Hauptraum, als Anduin nach einer in der Gesellschaft Rohans verbrachten Stunde zurückkehrte. Vier Tage waren vergangen, seit Moira und ihre Dunkeleisenzwerge in die Stadt gekommen waren. Er knirschte mit den Zähnen, als er sah, dass das rote Wachs mit dem königlichen Siegel von Eisenschmiede gekennzeichnet war. Er öffnete den Brief. Drukan, der „besondere Wächter“, der Anduin zugeteilt worden war, um sicherzustellen, dass „es ihm als Ehrengast an nichts mangelte“, schaute mürrisch auf.

Um die Ehre Eurer Gesellschaft heute Abend bei Einbruch der Dämmerung wird ersucht. Förmliche Kleidung ist erbeten und Pünktlichkeit unerlässlich.

Anduin widerstand dem Drang, den Brief zu zerknüllen und fortzuschleudern. Stattdessen lächelte er Drukan höflich zu.

„Bitte sagt Ihrer Majestät, dass ich gern kommen werde. Ich bin mir sicher, dass sie so schnell wie möglich von mir hören will.“ Zumindest, dachte er, werde ich so meinen Wachhund für ein Weilchen los. Er wartete, bis Drukan begriffen hatte, dass er dem Botengang nicht entgehen konnte. Der Zwerg blickte Anduin finster an und stapfte davon.

Anduin fand Drukans Mangel an Falschheit, Interesse und Sorge erfrischend. Zumindest log er nicht, was seine Gefühle betraf.

Anduin nahm ein ausgiebiges Bad und kleidete sich an. Moira mochte glauben, dass sie die Fäden in der Hand hielt, weil sie seine Anwesenheit eingefordert hatte. Doch indem sie auf förmlicher Kleidung bestand, gab sie Anduin die Möglichkeit, seine Krone und andere Insignien zu tragen, die ihn als ihr ebenbürtig kennzeichneten. Er war sich der Macht solcher Details sehr wohl bewusst. Nachdem Wyll ihm beim Ankleiden geholfen hatte, setzte er ihm die Krone auf, korrigierte ihren Sitz gut ein Dutzend Mal und holte dann einen Spiegel herbei.

Anduin blinzelte ein wenig. Er hasste es, wenn Erwachsene ihm sagten, wie groß er geworden sei, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatten. Doch nun war er gezwungen, das selbst festzustellen. Er hatte nie besonders auf sein Spiegelbild geachtet, doch nun erkannte er, dass eine gewisse Traurigkeit in seinem Blick lag. Er hatte nichts an sich, das auf eine behütete Kindheit hinwies, doch hatte er nicht damit gerechnet, dass man ihm die Anspannung der letzten Tage so deutlich ansah.

„Alles in Ordnung, Euer Hoheit?“, fragte Wyll.

„Ja, Wyll. Alles in Ordnung.“

Der ältere Diener beugte sich vor. „Ich bin mir sicher, dass Euer Vater sich sehr bemüht, um Euch zu befreien“, sagte er und hob die Stimme ein wenig an.

Anduin nickte unmerklich. „Gut“, seufzte er, „Zeit fürs Essen.“

Anduin wurde am Hohen Sitz vorbeigeführt und stellte zu seiner Verwunderung fest, dass nur zwei Gedecke auf einem erstaunlich kleinen Tisch hergerichtet worden waren. Offensichtlich sollte es eine vertrauliche Zusammenkunft werden.

Mit anderen Worten, er würde verhört werden.

Er nahm an, dass Moira sich an das Kopfende des Tisches setzen würde, und erwartete neben dem anderen Stuhl stehend ihre Ankunft.

Er wartete und wartete. Die Minuten verstrichen, und schließlich erkannte er, dass auch dies Teil des Spiels war, das sie spielte. Er kannte die Gepflogenheiten bei Hofe besser, als sie dachte. Anduin war sich seines Alters bewusst, und ihm war klar, dass die Leute ihn oftmals aus diesem Grund unterschätzten. Das konnte er zu seinem Vorteil nutzen, und weil er jung war, konnte er lange stehen, ohne dass ihm das unangenehm wurde.

Schließlich öffnete sich die Tür. Ein Dunkeleisenzwerg, der die Uniform von Eisenschmiede trug, trat vor, streckte bedeutungsvoll seine Brust heraus und verkündete mit donnernder Stimme: „Erhebt Euch, um Ihre Majestät Königin Moira von Eisenschmiede zu begrüßen!“

Anduin warf dem Zwerg ein halbherziges Lächeln zu und breitete seine Hände aus, um deutlich zu machen, dass er bereits stand. Der Prinz verneigte sich, als Moira eintrat, jedoch nicht tiefer, als die Etikette es vorschrieb, um deutlich zu machen, dass er ihr im Rang gleichgestellt war. Als er sich höflich lächelnd aufrichtete, bemerkte er, dass ein Anflug der Verärgerung über Moiras Gesicht huschte.

„Ah, Anduin. Ihr kommt gerade rechtzeitig“, sagte sie, während sie in den Raum rauschte. Ein Diener stellte einen Stuhl für sie bereit, und sie nahm Platz und nickte Anduin zu, um deutlich zu machen, dass er sich nun ebenfalls setzen dürfe.

„Ich glaube daran, dass Pünktlichkeit eine große Tugend ist“, sagte er. Er musste nicht erwähnen, dass sie ihn hatte warten lassen. Das wussten sie beide sehr wohl.

„Ich nehme an, dass Ihr eine angenehme und aufschlussreiche Zeit hattet und Euch mit meinen anderen Untergebenen unterhalten habt“, sagte sie und gestattete dem Diener, ihr die Serviette auf den Schoß zu legen.

Andere Untergebene? Wollte sie andeuten, dass Anduin... Nein, das tat sie nicht. Doch sie wollte, dass er genau das dachte. Anduin lächelte freundlich und nickte dem Diener, der ihm Wasser eingegossen hatte, seinen Dank zu. Moiras Glas war mit blutrotem Wein gefüllt. Bier gehörte offensichtlich nicht zu den bevorzugten Getränken der Königin.

„Mit Untergebenen meint Ihr natürlich die Dunkeleisenzwerge, nicht die Zwerge von Eisenschmiede“, sagte er freundlich. „Ich habe mich nicht viel mit Drukan unterhalten können, da er ein recht schweigsamer Geselle ist.“

Moira hob elegant eine Hand an den Mund und verbarg ein Lächeln. „Oh, mein Teurer, ja, das stimmt. Die meisten von ihnen reden nicht viel, wie Ihr wisst. Das ist einer der Gründe, warum ich so schrecklich froh bin, dass Ihr hier seid, mein lieber Freund.“

Anduin lächelte höflich und tauchte seinen Löffel in die Suppe.

„Ich freue mich schon sehr auf die langen Unterhaltungen, die wir während der nächsten Wochen und Monate führen werden.“

Anduin zwang sich, nicht in die Suppe zu husten, und schluckte schwer. „Obwohl ich überzeugt bin, dass diese Gespräche faszinierend wären“, das zumindest war keine Lüge, „glaube ich, dass mein Vater mich schon früher zurückerwartet. Ich fürchte, mehr als unsere Zusammenkunft heute Abend wird es nicht geben.“

Ein Flackern drang aus den Tiefen von Moiras Augen, gefolgt von einem spröden Lächeln. „Oh, Euer Vater wird Nachsicht mit mir zeigen müssen. Erzählt mir von ihm. Soweit ich weiß, hatte er in letzter Zeit einiges zu erleiden.“

Anduin war davon überzeugt, dass Moira alles wusste. Sie schien niemand zu sein, der lange wartete, um an die gewünschten Informationen zu gelangen. Nichtdestotrotz erzählte er ihr – während sie die Suppe zu sich nahmen und der Salat serviert wurde –, was allgemein über die Abenteuer seines Vaters bekannt war.

„Das muss aber sehr schwer für Euch gewesen sein, Anduin.“

Er glaubte zwar nicht, dass sie das wirklich interessierte, doch ihm kam plötzlich ein Gedanke. Er entschied sich, ihn gleich in die Tat umzusetzen.

„Das war es“, sagte er der Wahrheit entsprechend. „Doch es war noch viel härter zu erkennen, dass mein Vater die Richtung, die ich meinem Leben geben möchte, nicht akzeptiert. Die Gerüchte besagen, dass Ihr so etwas verstehen müsstet.“

Zum ersten Mal seit er sie kannte, schaute sie ihn mit einem völlig überraschten Gesichtsausdruck an. Der Löffel steckte noch in ihrem Mund, und ihre Augen waren weit aufgerissen vor Erstaunen. Sie sah verletzlich und nervös aus und beeilte sich, die Fassung wiederzuerlangen.

„Warum müsste ich das?“ Sie lachte falsch.

„Ich habe gehört, dass Magni nicht der beste Vater der Welt war, auch wenn er das sicher wollte – so wie der meine. Dass er Euch niemals ganz vergeben hat, dass Ihr nicht der Sohn wart, den er sich immer gewünscht hatte.“

Ihr Blick wurde undurchdringlich, doch ihre Augen glänzten, als wären sie mit unvergossenen Tränen gefüllt. Als sie sprach, war es, als ob Anduins Worte einen Damm gebrochen hätten. „Mein Vater war tatsächlich sehr enttäuscht über meinen Makel, als Frau geboren zu sein. Er konnte nicht glauben, dass ich nicht hierbleiben und ständig daran erinnert werden wollte, dass ich versagt habe, und das aus dem einfachen Grund, dass ich geboren wurde. Er war der Meinung, dass mein Ehemann mich verzaubert habe. Anders konnte er sich nicht erklären, dass ich mich in einen Dunkeleisenzwerg verliebt hatte. Und das stimmt tatsächlich, Anduin. Dagran Thaurissan verzauberte mich mit seinem Respekt. Er sorgte dafür, dass die Leute mir zuhören, wenn ich spreche. Er glaubte, dass ich auch als Frau herrschen könne, und zwar gut herrschen. Die Dunkeleisenzwerge haben mich aufgenommen, als mein Vater mich fortschickte.“

Sie lachte freudlos. „Das ist die einzige Magie, die Dagran Thaurissan und die Dunkeleisenzwerge bei mir angewendet haben. Mein Vater verachtete sie. Für ihn waren sie gerade gut genug, um zu kämpfen und zu töten. Doch es sind Zwerge, so wie jeder andere Klan der Zwerge auch – Erben der Erde. Die anderen Zwerge sollten sich dessen erinnern, und genau dafür werde ich sorgen.“

„Ihr seid die rechtmäßige Erbin“, stimmte ihr Anduin zu. „Magni hätte das respektieren und Euch dementsprechend erziehen müssen vom Tag Eurer Geburt an. Es tut mir leid, dass Ihr nur von den Dunkeleisenzwergen willkommen geheißen wurdet, und Ihr habt recht, wenn Ihr sagt, dass auch sie Zwerge sind. Aber Ihr werdet keine Eintracht herbeiführen können, indem Ihr das Volk von Eisenschmiede zwingt, so zu denken wie Ihr. Öffnet die Stadt. Lasst die Leute sehen, wie die Dunkeleisenzwerge wirklich sind. Sie können...“

„Sie können das haben, was ich ihnen erlaube!“, zischte Moira schrill. „Und sie werden tun, was ich ihnen sage! Ich habe das Gesetz auf meiner Seite, und Dagran – der Junge, den Magni sich so sehr wünschte – wird über sie herrschen, wenn ich einst gegangen bin. Sein Vater und ich...“

Sie machte eine Pause, und ihre gekünstelte gute Laune wich ehrlicher Wut. „Wusstet Ihr“, sagte sie, „das ist wirklich das erste Mal, dass mir dieser Gedanke kommt.“

Entmutigt durch ihre Rückkehr zu ihrem üblichen Verhalten, fragte Anduin: „Und welcher Gedanke wäre das?“

„Dass ich eine Kaiserin bin, nicht nur eine Königin.“

Ein Schauder lief Anduin den Rücken hinunter.

„Meine Güte! Das ändert alles. Ich muss über zwei Völker herrschen. So wie mein Junge auch, wenn er dazu alt genug ist. So hat er die Gelegenheit, Brücken zu bauen. Findet Ihr nicht auch?“

„Der Frieden ist stets ein hehres Ziel“, antwortete Anduin. Seine Hoffnung schwand. Einen Moment lang hatte sie ehrlich und unverstellt mit ihm gesprochen, doch dieser Moment war bereits wieder vorbei.

„Tatsächlich? Junge, Junge! Manchmal glaube ich, dass ich immer noch ein kleines dummes Mädchen bin.“

Nein, das tust du nicht, ebenso wenig wie ich. „Das kann ich nachfühlen. Manchmal glaube ich, dass ich nur ein dreizehnjähriger Junge bin“, sagte er.

Moira kicherte erneut. „Ah, Euer Humor macht mir Freude, Anduin. Obwohl ich überzeugt bin, dass Euer Vater Euch vermisst, bin ich absolut sicher, dass ich Euch noch nicht so bald gehen lassen kann.“

Anduin warf ihr ein Lächeln zu, von dem er sehnlichst hoffte, dass es nicht so falsch wirkte, wie es gemeint war.

Mehrere Stunden später, allein in seiner Unterkunft, schloss Anduin die Tür und lehnte sich erschöpft dagegen.

Moira war weder verrückt, noch stand sie unter irgendeinem Zauber. Er wünschte jedoch beinahe, es wäre so. Man hatte ihr Schlimmes angetan, das musste er zugeben, doch statt es in Stärke zu verwandeln, hatte sie zugelassen, dass ihr Ärger sie verzehrte. Sie war berechnend, wollte die Kontrolle über alles und jeden ausüben und ihrem Sohn ein Imperium hinterlassen. Doch etwas, das sie gesagt hatte, ergab einen Sinn: Der Frieden war eine gute Sache. Doch die Freiheit war das ebenso.

Er musste Eisenschmiede verlassen und jemanden wissen lassen, was hier geschah. Anduin atmete tief durch, fuhr sich mit den Händen durch sein Haar und machte sich daran, seine Sachen in dem kleinen Sack zu verstauen, den er für Tagesausflüge mit... Licht! Wie sehr er Aerin vermisste, selbst jetzt. Zugleich war er jedoch auch froh, dass sie nicht hier war und mit ansehen musste, was aus Eisenschmiede geworden war und wohl noch werden würde.

Er würde nicht viel brauchen: ein paar Kleidungsstücke und etwas Geld. Einige besondere, ihm ans Herz gewachsene Dinge hatte er aus Sturmwind mitgebracht, erkannte nun jedoch, dass er, angesichts der dringenden Notwendigkeit, so schnell wie möglich von hier fortzukommen, gut ohne sie auskommen konnte. Doch eine Sache bedeutete ihm zu viel und war zu wertvoll, um sie zurückzulassen.

Seit Magnis Tod hatte er ihn unter seinem Bett aufbewahrt, noch immer eingeschlagen in den Stoff, in den der Stab eingewickelt gewesen war, als Magni ihn Anduin geschenkt hatte. Er hoffte, dass Moira nichts von dem Stab wusste, da er vermutete, dass ihr der Gedanke, dass Magni ihn Anduin vermacht hatte, nicht sonderlich gefallen würde.

Nachdem er ihn ausgepackt hatte, berührte er den schönen Stab voller Ehrfurcht und Bewunderung. Furchtbrecher. Anduin konnte seinen Trost nun wahrlich gebrauchen. Einen Augenblick lang legte er seine Hand um den Stab, dann packte er ihn wieder ein und verstaute ihn sorgfältig in seinem Sack.

Es war an der Zeit. Er hatte sich entschlossen, Wyll von seiner Abreise nichts zu sagen. Je weniger der alte Diener wusste, desto eher würde man ihn wieder in Ruhe lassen. Anduin atmete tief ein, steckte die Hand in seine Tasche und schloss sie um den Ruhestein, den Jaina ihm gegeben hatte. Er kniff die Augen fest zusammen und erfüllte seinen Geist mit Bildern von Theramore, von Jainas kleiner Feuerstelle...

... und materialisierte sich dort.

Jaina starrte ihn verdutzt an. „Anduin, was machst du denn hier?“

Der Prinz von Sturmwind verschwendete keinen Gedanken an sie. Alles, was er tun konnte, war, auf den riesigen, zornig wirkenden Tauren zu blicken, der in seiner federgeschmückten Rüstung unmittelbar vor ihm stand.

24

„Was ist das?“, rumpelte der Taure in schwer akzentbelasteter, aber verständlicher Gemeinsprache.

„Baine, Anduin – haltet ein!“ Jaina streckte den beiden eine Hand entgegen.

„Baine? Baine Bluthuf?“, staunte Anduin.

„Anduin Wrynn?“

„Aufhören. Alle beide!“, rief Jaina, jetzt noch lauter. „Baine, ich habe Anduin ein Geschenk gegeben, einen Stein, der es ihm erlaubt, mich zu besuchen, wann immer er das möchte. Nach allem, was wir aus Eisenschmiede gehört haben, bin ich sehr, sehr froh, dich zu sehen.“ Sie schenkte Anduin ein rasches, aber herzliches Lächeln. „Ich entschuldige mich für Anduins unerwartetes Auftauchen, Baine, aber ich bin sicher, dass Ihr ihm vertrauen könnt.“

„Sein Vater liebt die Horde nicht gerade“, entgegnete Baine. „Ich glaube, dass Ihr nicht mit seinem Erscheinen gerechnet habt, Jaina, aber...“

„Ich bin nicht mein Vater“, sagte Anduin. Er beruhigte sich und begann zu verstehen, was hier gerade vorging. Baine Bluthuf war der Sohn Cairnes, des Oberhäuptlings der Tauren. Cairne und Thrall waren gute Freunde und die Tauren der Allianz nicht so feindlich gesinnt wie einige andere Völker der Horde. Wenn Jaina gute Beziehungen zu Thrall hatte, war es nachvollziehbar, dass sie sich mit Cairne traf, selbst wenn es nur im Geheimen geschehen konnte.

Anduins Gelassenheit schien den jungen Bullen zu beeindrucken. Baine entspannte sich sichtlich und betrachtete ihn eher neugierig als feindselig. „Nein“, sagte er, „wir sind nicht unsere Väter. Selbst wenn wir uns das wünschen würden.“

Etwas an seinem Tonfall sagte Anduin, dass etwas nicht in Ordnung war. Fragend blickte er zu Jaina hinüber und bemerkte, dass sie angespannt und unglücklich zu sein schien.

„Setzt euch beide hin“, sagte sie und wies auf die Feuerstelle. Baine war viel zu groß, um auf einem der Stühle Platz nehmen zu können. „Ich glaube, ihr habt einiges zu erzählen.“

„Ich wollte niemanden beleidigen“, sagte Baine, der weiterhin stand. „Aber ich riskiere eine ganze Menge, indem ich zu Euch komme, Lady Jaina. Und dem Erben von Sturmwind vertrauen? Ich befürchte, das ist zu viel verlangt.“

„Ich verstehe Eure Angst“, sagte Jaina, „und weiß, dass Ihr gerade jetzt auf Eure Probleme konzentriert seid. Aber behaltet im Hinterkopf, dass ich Euch beiden hier Zuflucht gewähre, und deshalb müsst Ihr Euch damit abfinden.“

„Wie könnt Ihr einem verbündeten Mitglied der Allianz Zuflucht bieten?“, schnaubte Baine.

„Weil Magni Bronzebart tot ist und seine Tochter Moira Bronzebart mit einer Horde von Dunkeleisenzwergen aus Schattenschmiede nach Eisenschmiede zurückgekehrt ist und sich selbst zur Kaiserin erklären will. Sie hat über Eisenschmiede eine Ausgangssperre verhängt und wird sehr wütend darüber sein, dass ich entflohen bin“, sagte Anduin geradeheraus. Baine hatte recht. Der Taure hatte keinen Grund, ihm zu vertrauen, dem Prinzen von Sturmwind... Es sei denn, Anduin gab ihm einen Grund dazu. Moira konnte ihre Absichten nicht mehr lange geheim halten. Baines riesiger gehörnter Schädel schwenkte herum, und er blinzelte Anduin einen Moment lang an.

„Nicht wenige würden Euch als Verräter bezeichnen, weil Ihr diese Information preisgegeben habt, junger Prinz“, sagte er ruhig.

„Was Moira tut, ist falsch, auch wenn sie die legitime Erbin Magnis ist“, sagte Anduin. „Doch einige ihrer Ziele und Pläne ergeben Sinn. Den Weg, auf dem sie das erreichen will, kann ich jedoch nicht gutheißen. Weil sie ein Zwerg ist und die Tochter eines Freundes, bedeutet das nicht, dass ich sie blind unterstütze. Und nur weil Ihr ein Mitglied der Horde seid, bedeutet das nicht, dass ich Euch nicht unterstützen würde.“

Er hielt seinen Blick unverwandt auf Baine gerichtet, aber aus dem Augenwinkel sah er, wie Jaina sich entspannte.

„Er hat Thrall getroffen, und sie mochten und respektierten sich“, sagte Jaina. „Ihr könntet Euch keinen besseren Fürsprecher wünschen, Baine.“

Baine nickte, wobei seine Ohren unruhig hin und her zuckten, wahrscheinlich vor Schmerz über den Tod seines Vaters. „Wäre Thrall nicht gegangen, würde ich Eure Hilfe nicht brauchen und...“, er machte eine Pause und atmete tief ein, bevor er die Luft durch die Nüstern wieder ausstieß, „... mein Vater wäre noch am Leben.“

Anduin keuchte und blickte Jaina an. Ihre Augen waren traurig, und sie nickte. „Baine hat es mir bereits erzählt“, sagte sie schnell.

„Es tut mir so leid“, sagte Anduin und meinte es ehrlich. Jeder, der die Horde kannte, wusste, dass Cairne ein fähiger, bescheidener Anführer und ein guter... Mann gewesen war. Doch sein Tod kam nicht unerwartet. Cairne war bereits alt gewesen. Es erschien Anduin merkwürdig, dass Baine so bestürzt war. Nein, es war keine Bestürzung, es war Wut. Jeder, der seinen Vater liebte, wäre bestürzt gewesen, wenn er starb... Aufgewühlt. „Was ist geschehen?“

„Nehmt Platz“, sagte Jaina freundlich. Dieses Mal kamen Anduin und Baine ihrem Wunsch nach und setzten sich auf den Boden. Jaina schenkte Tee für sie alle ein, stellte die Tassen auf ein Tablett und setzte sich mit überkreuzten Beinen zu ihnen. Anduin nahm eine Tasse, und nach einem Moment tat Baine es ihm gleich. Er betrachtete die kleine Tasse in seiner riesigen Hand und lachte. Das war wahrscheinlich das erste Lachen, vermutete Anduin, seit er vom Tod seines Vaters erfahren hatte.

Jaina blickte von einem zum anderen. „Keiner von euch weiß, wie sehr ich mir ein Treffen von uns dreien unter anderen Umständen gewünscht hätte“, sagte sie ruhig. „Aber zumindest treffen wir uns überhaupt. Vielleicht wird dieses Gespräch den Grundstein für zukünftige formalere Beratungen zwischen unseren Völkern bilden.“

Anduin erhob seine Tasse. „Auf bessere Zeiten“, sagte er. Jaina erhob die ihre ebenfalls und stieß mit ihm an. Nach einem kurzen Augenblick hielt auch Baine seine Tasse hoch und stieß mit den beiden an.

„Ich glaube... mein Vater wäre froh darüber“, sagte er. „Prinz Anduin. Lasst mich Euch berichten, welches Leid in den letzten Tagen geschehen ist.“

„Ich höre“, sagte der Prinz von Sturmwind.


„Hört Ihr mir zu?“, schrie Moira.

„Aye, Euer Exzellenz, ich...“

„Wie konnte er entkommen?“

„Das weiß ich nicht. Wir haben die Magier eingesperrt... Vielleicht hat es ein Hexenmeister von außen gemacht?“ Drukan wusste, wie dünn seine Rechtfertigung klang.

„Dagegen haben wir Sperren eingerichtet!“ Moira ging wütend auf und ab. Es war früher Morgen, und dies war nicht die Art von Neuigkeiten, mit denen sie um diese Uhrzeit behelligt werden wollte. Sie hatte sich nur ein Tuch übergeworfen, als Drukan ihr erregt die Nachricht überbracht hatte, dass ihr wertvolles Haustier entkommen war. „Nein, es muss etwas anderes gewesen sein. Vielleicht habt Ihr zu viel getrunken und tief und fest geschlafen, als er sich an Euch vorbeigeschlichen hat!“

Drukan runzelte die Stirn, erwiderte jedoch: „Ich trinke nicht im Dienst, Euer Exzellenz. Und selbst wenn er mir entwischt wäre, konnte er an den Wachen, die an jedem Eingang stehen, nicht vorbei.“

Moira legte ihre Finger auf ihre pochenden Schläfen und massierte sie. „Wie ist nicht wichtig. Wir...“ Ein listiges Lächeln umspielte plötzlich ihre Lippen. „Vielleicht irren wir uns aber auch.

Möglicherweise ist mein kleiner eingesperrter Prinz gar nicht geflohen.“ Drukan schaute sie verwirrt an. Sie seufzte. „Er hat eindeutig seine Unterkunft verlassen, aber vielleicht ist er noch in Eisenschmiede und versteckt sich hier. Es gibt viele Orte, an denen man sich in dieser Stadt verbergen kann.“

„Die gibt es tatsächlich...“

Sie lächelte süßlich. „Ich schicke Euch so viele Männer, wie Ihr braucht, um ihn zu suchen. Aber Ihr dürft keine Aufmerksamkeit erregen! Niemand darf wissen, dass er fort ist. Habt Ihr den alten tatterigen Diener befragt?“

Drukans Gesichtsausdruck hellte sich ein wenig auf. „Oh ja, in der Tat.“

„Achtet darauf, dass er nicht misshandelt wird. Wir wollen doch, dass Anduin... kooperativ ist.“

„Natürlich.“

„Das alles muss so unauffällig wie möglich geschehen. Wir sollten die Nachricht verbreiten, dass Anduin krank ist... Nein, nein, dann wird dieser lästige Rohan darauf bestehen, ihn zu besuchen. Was sollen wir tun, was sollen wir tun...“ Moira ging im Raum auf und ab, blieb an der Wiege ihres Sohnes stehen und schaukelte sie gedankenverloren.

„Ah... Wir sollten sagen, dass er zu einem Besuch nach Dun Morogh aufgebrochen ist. Ja! Das ist es.“ So würden sie gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Zum einen wäre es eine plausible Erklärung für Anduins Abwesenheit, zum anderen würde es den Eindruck erwecken, dass es in Eisenschmiede weiterhin möglich war, in Kontakt mit der Außenwelt zu treten, sofern Moira dies gebilligt hatte. Während sie weiter die Wiege schaukelte, bedeutete sie Drukan mit einem Wink ihrer Hand, sich an die Arbeit zu machen. „Husch! Kümmert Euch darum. Oh, einen Moment noch, Drukan!“ Sie betrachtete ihn kalt. „Ihr müsst sichergehen, dass niemand etwas von Anduins Verschwinden und davon, was hier geschehen ist, erfährt. Ich werde meine Pläne zu gegebener Zeit enthüllen, aber auf meine Art. Ist das klar?“

Drukan schluckte hörbar. „J-ja, Euer Exzellenz.“

Palkar kam mit frischem Fleisch zurück, um sein und Drek’Thars Abendmahl zuzubereiten, und stellte überrascht fest, dass ein stark verschmutzter Taurenbote auf ihn wartete. Es war einer von Cairnes Weitläufern, was bedeutete, dass die Botschaft, die er zu überbringen hatte, von einiger Bedeutung war. Palkar konnte getrocknetes Blut auf der Kleidung des wettergegerbten Boten erkennen. Er wusste nicht, ob es das Blut des Tauren war oder von jemand anderem stammte.

„Seid gegrüßt, Weitläufer“, sagte er. „Ich bin Palkar. Kommt herein und esst mit uns. Danach könnt Ihr uns die Botschaft mitteilen, die Euch hierher geführt hat.“

„Ich bin Perith Sturmhuf“, antwortete der Weitläufer, „und die Botschaft kann nicht warten. Ich werde sie jetzt Eurem Meister überbringen.“

Palkar zögerte. Er mochte es nicht, mit jemandem über Drek’Thars schwindende Gesundheit zu sprechen. „Ihr könnt sie mir mitteilen. Ich sorge dafür, dass sie ihn erreicht. Ihm geht es in letzter Zeit nicht besonders gut, und...“

„Nein“, sagte Perith geradeheraus. „Ich habe Anweisung, die Botschaft an Drek’Thar persönlich zu überbringen, und nichts anderes werde ich tun.“

Es gab keinen Ausweg. „Drek’Thars Geist ist nicht mehr das, was er einmal war. Ich kümmere mich um ihn. Wenn Ihr nur mit ihm sprecht, werden Eure Worte verloren sein.“

Der Taure zuckte mit den Ohren. Sein abweisender Gesichtsausdruck wurde etwas milder. „Ich bedauere, das zu hören. Unter diesen Umständen solltet Ihr Euch die Botschaft ebenfalls anhören. Aber ich muss mit ihm sprechen.“

„Ich verstehe. Kommt herein.“

Palkar schlug die Zeltplane zurück. Perith musste sich ducken, weil die Klappe nicht für ein Lebewesen seiner Größe gemacht war. Drek’Thar war wach und schien aufmerksam und aufnahmebereit zu sein. Er saß gute sechs Fuß von seiner Schlafstatt entfernt.

„Drek’Thar, wir haben einen Gast. Es ist einer von Cairnes Weitläufern, Perith Sturmhuf.“

„Meine Felle... Warum hast du sie weggelegt? Du bringst immer meine Dinge durcheinander, Palkar“, sagte Drek’Thar, und seine Worte kündeten von seiner Verwirrung.

Palkar half dem alten Orc behutsam auf, brachte ihn zu seinen Fellen hinüber und stützte ihn, als er sich wieder hinsetzte.

„Nun“, sagte Palkar zu Perith, „könnt Ihr Eure Botschaft überbringen.“

Perith nickte. „Sie ist ernst. Der Kern der Sache ist, dass unser geliebter Führer Cairne Bluthuf ermordet wurde und die Grimmtotems bei einem blutigen Putsch viele unserer Städte übernommen haben.“

Drek’Thar und Palkar starrten ihn erschrocken an. Die Botschaft schien Drek’Thar in einer seiner lichten Phasen zu erreichen.

„Wer hat den mächtigen Cairne erschlagen? Wer ist dafür verantwortlich?“, wollte der alte Orc mit einer Stimme wissen, die überraschend klar und kräftig klang.

Perith berichtete von dem Angriff auf die Druiden im Eschental und von Hamuul Runentotems knappem Entkommen. „Als Cairne von dieser Gräueltat erfuhr, forderte er Garrosh zum Mak’gora in der Arena heraus. Garrosh akzeptierte, jedoch nur unter der Bedingung, dass Cairne sich mit der Anwendung der alten Regeln einverstanden erklärte. Er verlangte einen Kampf bis zum Tod, und Cairne stimmte zu.“

„Dann fiel er in einem ehrlichen Kampf, und die Grimmtotems nutzten ihre Möglichkeit“, sagte Drek’Thar.

„Nein. Es sind Gerüchte aufgekommen, die besagen, dass Magatha Garroshs Klinge mit Gift behandelt hat, sodass der ehrenwerte Cairne nach einem noch so unbedeutenden Treffer sterben musste. Ich sah, wie sie die Klinge einölte, und ich sah Cairne fallen. Ich weiß nicht, ob Garrosh davon wusste oder selbst betrogen wurde, aber ich weiß, dass die Grimmtotems alles taten, was in ihrer Macht stand, damit die Kunde von Cairnes Tod Donnerfels nicht erreichte. Nur mit äußerster Mühe und dem Segen der Erdenmutter bin ich ihnen entwischt.“

Palkar starrte den Boten an, und sein Geist raste. Cairne war von der Matriarchin der Grimmtotems ermordet worden? Garrosh war entweder betrogen worden oder ein williger Mittäter... Beides war gleich schrecklich. Die Grimmtotems beherrschten nun die Tauren.

Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, doch Drek’Thar war offenbar völlig bei Sinnen und ganz bei der Sache. Er kam Palkar zuvor: „Was ist mit Baine? Gibt es Nachrichten von ihm?“

„Es erfolgte ein Angriff auf das Dorf der Bluthufe, doch Baine konnte entkommen. Niemand hat seitdem mehr von ihm gehört. Aber wir sind überzeugt, dass er lebt. Wenn er tot wäre, hätte Magatha das verkündet und mit der Zurschaustellung seines Kopfes bewiesen.“

Etwas störte Palkar, etwas, das Perith gesagt hatte...

„Dann gibt es noch Hoffnung. Wird Garrosh die Thronräuber unterstützen?“

„Dafür gibt es keinerlei Anhaltspunkt.“

„Wenn er tatsächlich an diesem ehrlosen Mord an Cairne beteiligt war“, fuhr Drek’Thar fort, „würde er vermutlich alles tun, um Baine zum Schweigen zu bringen. Er würde dafür sorgen, dass seine Verbündeten weiterhin Macht ausüben könnten. Der Kriegshäuptling muss augenblicklich von dieser Entwicklung unterrichtet werden.“

Der Kriegshäuptling muss unterrichtet werden...

Ich muss mit Thrall sprechen...Er muss wissen...

Ahnen...Er hatte recht gehabt!

Schweißtropfen rannen über Palkars Gesicht. Vor vielen Monden hatte Drek’Thar eine wilde fiebrige Vision gehabt, nach der er verkündete, dass in Kürze eine friedliche Versammlung von Druiden, Nachtelfen und Tauren angegriffen würde. Palkar hatte ihm geglaubt und Wachen ausgesandt, um die Versammlung zu „beschützen“, doch nichts war geschehen. Er hatte angenommen, dass diese „Vision“ nichts anderes gewesen war als ein Ausdruck von Drek’Thars zunehmendem geistigen Verfall.

Drek’Thar hatte jedoch recht gehabt. Während er mit Perith Sturmhuf sprach, schien sich der alte Schamane nicht an die Vision zu erinnern. Doch sie hatte sich bewahrheitet, und zwar genau so, wie er es vorausgesagt hatte. Eine friedliche Versammlung von Nachtelfen und Tauren war tatsächlich angegriffen worden und hatte in einem Massaker geendet. Es war lediglich viel später geschehen als erwartet.

Verzweifelt erinnerte sich Palkar an Drek’Thars letzte Träume, bei denen er laut geschrien hatte. „Das Land wird weinen, und die Welt wird auseinanderbrechen!“ Konnte es sein, dass dieser „Traum“ ebenfalls eine Vision gewesen war? Dass er wahr würde, so wie der Traum von der Versammlung der Druiden Wahrheit geworden war?

Palkar war ein Narr gewesen. Er hätte Thrall von dem Traum berichten müssen und den Kriegshäuptling entscheiden lassen sollen, ob er tätig werden wollte oder nicht. Palkar ballte seine Hände zu Fäusten. Er war nicht wütend auf Drek’Thar, sondern auf sich selbst.

„Palkar?“, sagte Drek’Thar.

„Tut mir leid... ich habe nachgedacht. Was hast du gesagt?“

„Ich habe gefragt, ob du eine Botschaft niederschreiben kannst“, sagte Drek’Thar in einem Tonfall, als habe er diese Bitte bereits mehrere Male äußern müssen – was gut sein konnte, wie Palkar wusste. „Wir müssen Thrall sofort davon berichten. Selbst einen Weitläufer wird es einige Zeit kosten, ihn zu finden. Wir können nur hoffen, dass wir noch die Möglichkeit haben, Baine zu helfen.“

„Natürlich“, antwortete Palkar und eilte davon, um sein Schreibzeug zu holen. Er würde schreiben, was auch immer Drek’Thar und der Weitläufer wollten. Und dann, am Ende des Schreibens, würde er dem Kriegshäuptling gestehen, dass er all das vor ihm verborgen hatte. Er würde seine Gründe erläutern und dann die Dinge ihren Lauf nehmen lassen.

Keinesfalls würde er riskieren, dass Drek’Thar ein zweites Mal recht behielt.

25

Thrall war überrascht, wie viel Aufwand betrieben wurde und wie viele Orcs an den Vorbereitungen für den Ritus der Sicht beteiligt waren. Er verstand nun Geyahs Kommentar über Drek’Thar besser, der als einer der letzten Schamanen der Orcs sein Bestes gegeben hatte. Offenbar wurde für den „richtigen“ Ritus der Sicht beinahe die ganze Gemeinschaft eingebunden.

Jemand kam, um ihm das rituelle Gewand anzupassen. Ein anderer bot ihm die Kräuter für den Ritus an. Ein dritter Orc erschien, um den Tanz- und Trommelzirkel zu leiten, und sechs weitere stellten ihre Trommeln und Stimmen zur Verfügung. Thrall war überrascht und bewegt. Schließlich sagte er zu Aggra: „Ich möchte keine Gefälligkeiten erhalten, die nur meiner Position geschuldet sind.“

Sie lächelte ihn verschmitzt an. „Go’el, all das geschieht, weil es für den Ritus der Sicht nötig ist, nicht weil du der Anführer der Horde bist. Du brauchst dir keinerlei Gedanken um die Horde zu machen.“

Das erleichterte ihn gleichermaßen, wie es ihn verlegen machte. Er fragte sich nicht zum ersten Mal, wie Aggra es fertigbrachte, dass ihm ihre Spitzen so unter die Haut gingen. Vielleicht ist es ein Geschenk der Elemente, vermutete er trocken, während sie mit hoch erhobenem Kopf davonging.

Er ärgerte sich wegen der Verzögerung, doch er konnte nichts dagegen unternehmen. Etwas in ihm sehnte das Ritual herbei. So vieles war für die Orcs verloren gewesen in den Jahren, bevor er zum Schamanen wurde. Ihm war klar, dass seine Erfahrung mit gemeinschaftlichen Riten lückenhaft war.

Drei Tage später war schließlich alles bereit, und unzählige Fackeln wurden in der Dämmerung entzündet. Thrall wartete bei Garadar, um zum Ort der Zeremonie geleitet zu werden. Aggra holte ihn ab, doch er musste zweimal hinschauen, bevor er sie erkannte.

In ihr langes, dichtes, rötlich braunes Haar waren Federn eingeflochten. Sie trug eine Lederweste und einen Kilt, die mit Federn und Perlen bestickt waren. Weißgrüne Symbole prangten auf ihrem Gesicht und überall auf ihrer braunen Haut. Aufrecht und stolz stand sie da. Das braune Leder setzte sich perfekt von dem dunkleren Braun ihrer Haut ab. Auf den Armen trug sie ein Bündel aus Kleidungsstücken, die so braun waren wie ihre Haut.

„Das ist für dich, Go’el“, sagte sie. „Es ist schlicht und einfach. Ein Gewand für die Initiation.“

„Ich verstehe“, sagte Thrall und wollte das Bündel entgegennehmen, doch sie gab es ihm nicht. „Ich bin nicht sicher, ob du das wirklich tust. Ich gestehe ein, dass du ein begabter und mächtiger Schamane bist, aber da ist noch so viel, was du nicht weißt. Wir tragen keine Rüstung bei unseren Initiationen. Es ist eine Wiedergeburt, kein Kampf. Wie eine Schlange legen wir die Haut desjenigen ab, der wir vorher waren. Wir müssen uns dieser Wiedergeburt ohne jegliche Lasten stellen, ohne engstirniges Denken und Ansichten, die wir zuvor vertreten haben. Wir müssen einfach, rein und bereit sein, um uns mit den Elementen zu verbinden und sie ihre Weisheit in unsere Seelen schreiben zu lassen.“

Thrall hörte genau zu und nickte respektvoll. Doch sie gab ihm das Bündel noch immer nicht. „Du bekommst auch eine Kette mit Gebetsperlen. Sie werden dir helfen, dich mit deinem inneren Ich zu verbinden. Berühre sie, wenn du spürst, dass du gerufen wirst.“

Jetzt erst übergab sie ihm das Bündel. „Ich bin gleich zurück“, sagte sie und wandte sich um.

Thrall betrachtete das schlichte braune Gewand, bevor er es langsam und respektvoll anlegte. Er fühlte sich... nackt. Er war es gewohnt, die unverwechselbare schwarze Plattenrüstung zu tragen, die einst Orgrim Schicksalshammer gehört hatte und an deren Gewicht er sich im Laufe der Jahre gewöhnt hatte. Dieses Gewand war leicht, zu leicht für seinen Geschmack. Er legte die Kette mit den Gebetsperlen um seinen Hals, rollte sie zwischen den Fingern hin und her und dachte angestrengt darüber nach, was Aggra gemeint hatte. Er würde wiedergeboren werden, hatte sie gesagt.

Als was? Als wer?

„Gut“, sagte Aggra und riss ihn aus seinen Überlegungen. „Offensichtlich steht dir die Initiationsrobe.“

„Ich bin bereit“, sagte Thrall leise.

„Noch nicht ganz. Du bist noch nicht bemalt.“

Sie ging zu einer kleinen Kiste, die an der Wand der Hütte stand, stöberte darin herum und nahm drei winzige Tiegel mit gefärbtem Lehm heraus. „Du bist zu groß. Setz dich.“

Thrall grinste innerlich und gehorchte. Sie trat zu ihm, öffnete eines der Behältnisse, tunkte ihren Finger hinein und machte sich daran, den Lehm in seinem Gesicht zu verteilen. Ihre Berührung war sanft, auffallend sanft für jemanden, den Thrall als so selbstsicher und energisch erlebt hatte. Der Lehm war kühl, und Thrall bemerkte den leicht süßlichen Geruch des Öls, mit dem Aggra sich eingerieben hatte.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte er.

„Die Farben sehen auf grüner Haut anders aus.“

„Ich fürchte, daran kann ich nichts ändern, Aggra, egal wie lange wir noch zusammenarbeiten“, sagte er. Seine Stimme und sein Gesichtsausdruck waren ernst und besorgt.

Ihr Blick begegnete dem seinen, und kurz furchte sie irritiert die Stirn. Dann lächelte sie, und plötzlich ging ihr Lächeln in ein herzhaftes Lachen über.

„Die Ahnen wissen, dass das stimmt“, sagte sie. „Offensichtlich müssen wir andere Farben verwenden.“

Sie lächelten und blickten einander an, bis Aggra ihren Blick senkte. „Vielleicht Blau und Gelb“, meinte sie und holte die entsprechenden Tiegel. Wortlos bemalte sie sein Gesicht weiter.

Schließlich nickte sie zustimmend, runzelte jedoch kurz darauf erneut die Stirn. „Dein Haar... einen Moment.“

Sie wischte sich die Hände ab. Ihre langen und flinken braunen Finger öffneten Thralls Zöpfe und flochten rasch einige Federn in sein Haar. „So. Jetzt bist du bereit, Go’el.“

Sie holte ein poliertes Stück Metall, das als Spiegel diente.

Thrall hätte sich beinahe nicht erkannt.

Seine grüne Haut war von Tupfern bedeckt, dazu gesellten sich gelbe und blaue Wirbel, als würde er eine Maske tragen. Sein Haar, in das Federn eines Windroc eingeflochten waren, fiel dicht auf seine Schultern. Normalerweise war er zurückhaltend, kontrolliert. Nun erkannte er, dass es...

„... wild aussieht“, sagte er leise.

„Wie die Elemente“, sagte sie. „Kaum etwas da draußen ist ruhig und geordnet, Go’el. Nun beginne deinen Ritus der Sicht, der mit ihnen verwandt ist. Sie warten.“

Thrall hatte schon einiges in seinem Leben erlebt. Als Kind hatte er zu kämpfen gelernt und Freundschaft und Härte erfahren. Er hatte sein Volk befreit und Dämonen bekämpft. Doch nun, als er Aggra nach draußen und an den Ort des Rituals folgte, stellte er fest, dass er nervös war.

Die Trommeln setzten ein, und Aggra straffte sich. Sie verlor ihre Leichtigkeit und ihre Aggressivität, und einen Moment lang schien sie ihm eine jüngere Version von Geyah zu sein. Mit anmutigem, ernstem Schritt bewegte sie sich vorwärts, und er verlangsamte sein Tempo, um sich dem ihren anzupassen. Es schien, dass die gesamte Bevölkerung Garadars gekommen war und an beiden Seiten des Weges Aufstellung genommen hatte. Die Fackeln erhellten die Finsternis ein wenig, doch hinter ihnen lauerten bereits die Schatten. Auf einen Stab gestützt erwartete sie Geyah. Sie sah schön aus, wenn auch gebrechlich, und ihr runzeliges Gesicht leuchtete. Thralls Großmutter lächelte. Er trat zu ihr und verneigte sich tief.

„Willkommen, Go’el, Sohn des Durotan, der der Sohn des Garad war.“ Thralls Augen weiteten sich leicht. Natürlich... Er hätte es schon früher erkennen müssen! Garad war sein Großvater, und hier stand er in Garadar, dem Ort, der nach Garad benannt war. „Kind der Elemente, das von ihnen erwählt wurde. Nicht sehr weit von diesem Ort entfernt, wachen die Elementare über uns. Sie werden die Zeremonie beobachten, die wir hier heute Nacht abhalten.“

Thrall blickte über das schwarze Wasser des Sees. Er konnte nur den Zorn des Feuers sehen, der sich langsam bewegte. Aber er wusste, dass auch die anderen dort waren.

„Es ist gut“, sagte er, wie er es gelernt hatte. „Ich biete meinen Körper und meinen Geist diesem Ritus der Sicht an.“

Aggra nahm seine Hand, führte ihn in die Mitte des Lagers aus Fellen, die auf dem Boden lagen, und setzte sich neben ihn.

„Wenn du auf diese Reise gehst“, sagte sie, „verlässt deine Seele den Körper. Wisse Folgendes: Während du dich auf deiner Reise durch die Welt des Geistes befindest, wacht dein Volk über deinen physischen Körper. Hier, nimm diesen Saft und trink ihn langsam.“

Sie reichte ihm einen Becher mit einer widerlich riechenden Flüssigkeit. Thrall nahm ihn entgegen, wobei seine Finger über die ihren strichen. Er schluckte die Flüssigkeit so schnell wie möglich herunter und mühte sich, das unangenehme Gebräu nicht wieder von sich zu geben. Als er Aggra den Becher zurückgab, begann er schon, sich leichter zu fühlen. Er protestierte nicht, als sie seinen Kopf sanft herunterzog und in ihren Schoß bettete. Es war eine merkwürdig zarte Geste von jemandem, der so kurz angebunden war und ihn so schroff zu behandeln pflegte, doch er wehrte sich nicht.

Sein Kopf drehte sich, und die Trommeln schienen durch seine Adern zu pulsieren, als würde er sie nicht hören, sondern spüren. Er hatte den Eindruck, dass das Geräusch sich mit seinem Herzschlag verband.

Aggras kühle Finger strichen durch sein Haar. Ihre Stimme – tief und sanft – schien von weit her zu kommen.

„Geh in dich selbst und aus dir heraus, Go’el. Nichts soll dich hier verletzen, obwohl du dich vielleicht vor dem fürchtest, was du sehen wirst.“


Thrall öffnete die Augen.

Eine schimmernde, neblige Gestalt stand vor ihm. Sie hatte leuchtende Augen, vier Beine, scharfe Zähne und einen Schwanz. Es war ein Geisterwolf, und er wusste, ohne zu verstehen warum, dass es Aggra war.

„Wirst du mich führen?“, fragte er den Wolf verwirrt. „Ich dachte, dass Großmutter...“

„Ich wurde auserwählt, dich zu führen. Komm“, unterbrach Aggra ihn. Ihre Stimme klang kräftig und einem Wolf angemessen. „Es ist an der Zeit. Folge mir!“

Plötzlich war auch Thrall ein Wolf. Die Welt veränderte sich vor seinen Augen: Einige Dinge wurden unwirklich, andere nahmen eine neue, merkwürdige Festigkeit an. Er schüttelte sich, fühlte sich leichter, war ein Teil des Nichts, das alles war, und folgte ihr in den wirbelnden Nebel.

Im gleißenden Licht der Mittagssonne traten sie in eine Arena. Thrall in seiner Geisterwolfsgestalt blinzelte verwirrt.

Er sah sich an.

„Was...“, sagte er. Seine Stimme hatte einen sonderbaren Klang. „Ich dachte, ich würde die Elemente treffen und...“

„Ruhe!“ Aggras Ermahnung war barsch und knapp, und Thrall gehorchte. „Beobachte nur. Versuche nicht, einzugreifen. Niemand hier kann dich sehen oder hören. Dies ist dein Ritus der Sicht, Go’el. Er zeigt dir genau das, was du wissen musst.“

Der Jetzt-Thrall nickte.

Der jüngere Thrall trug nur einige Teile einer Rüstung. Sein Körper schien gut in Form zu sein und war gebräunt. Schweiß glitzerte auf seiner grünen Haut. In der einen Hand hielt er ein Schwert und in der anderen einen Stab. Der Jetzt-Thrall wusste, wo er war: in der Arena der Burg Durnholde. Jubel und Buhrufe erhoben sich, und irgendwo dort oben, Obst essend und Wein trinkend, musste der verhasste Aedelas Schwarzmoor sitzen, der Mann, der ihm seine Kindheit geraubt und ihn zu einem Gladiator gemacht hatte. Wut brandete in ihm auf, als er sah, wie sein jüngeres Ich einen großen Bären bekämpfte.

„Das Feuer“, sagte Aggra, „war das erste der Elemente, das dich erwählt hat, Go’el. Es gab dir die Wut, die Empörung und die Leidenschaft, die dich in die Lage versetzten, gut und erfolgreich kämpfen zu können, und das stets aus den richtigen Gründen. Es brannte tief in dir, selbst in deinen dunkelsten Momenten.“

Thrall hörte zu, beobachtete sich selbst, überrascht, wie stark und anmutig, ja leidenschaftlich er im Ring gewesen war. Er wusste, dass er die dort erlernten Fähigkeiten angewendet hatte, um sein Volk zu befreien und zu beschützen.

Das war nicht das, was er zu sehen erwartet hatte, doch bei Aggras Worten nickte er. Das Feuer war tatsächlich in seiner Jugend zu ihm gekommen. Er dachte zurück an die Besorgnis, die noch immer in ihm loderte, und den Wunsch, seiner Welt zu helfen. Mit einem Hauch verständlichen Stolzes lächelte er, als sein jüngeres Ich seine Gegner besiegte und die Arme freudig emporreckte.

Der Nebel bedeckte die Szenerie wieder, wirbelte über den jubelnden, siegreichen jüngeren Thrall, bis er ihn völlig verdeckte. Thrall wartete neugierig auf die weiteren Visionen, die er auf dieser merkwürdigen Reise noch haben würde.

Der Nebel lichtete sich. Die lichtdurchflutete laute Arena war verschwunden. Stattdessen standen sie in einer nächtlichen bewaldeten Landschaft, in der die einzigen Geräusche die des sanften Windes und der umherschwirrenden Insekten waren. Thrall sah wieder sich selbst, wachsam, gejagt. Er stand vor einer Steinformation, die an einen Drachen erinnerte, der über das baumbestandene Land zu wachen schien. Der jüngere Thrall wandte seinen Kopf, betrachtete den dunklen, ovalen Eingang einer nahe gelegenen Höhle, und der Jetzt-Thrall wusste plötzlich, mit einem spontanen Anflug tiefen, alten Schmerzes, was geschehen würde.

Die Albträume. Er hatte sie bekämpft. So wie die ganze Welt.

„Muss ich mir das ansehen?“, fragte er leise und kannte die Antwort, noch bevor er die Frage ausgesprochen hatte.

„Wenn du verstehen und ein wahrer Schamane werden willst, dann musst du das allerdings“, sagte Aggra unerbittlich.

Der jüngere Thrall betrat die Höhle, und seine beiden Inkarnationen sahen eine junge Menschenfrau, die Taretha Foxton hieß. Tari... Schwarzmoors Mätresse, Thralls „Schwester“ im Geiste. Sie hatte ihr Leben riskiert, um ihn zu befreien, und dabei den Tod gefunden. Doch jetzt lebte sie noch. Sie war so unglaublich schön! In seinen Albträumen war er ihr immer wieder begegnet und hatte stets versucht, sie zu retten. Wieder und wieder hatte er es versucht in der Hoffnung, sie würde leben, lachen und lieben können, wie es ihr vorherbestimmt war. Doch jedes Mal hatte er versagt und musste ihren Tod aufs Neue miterleben...

Doch sie starb nicht, nicht jetzt, nicht hier. Gegen eine Wand gelehnt wartete sie auf ihn, und als er ihren Namen aussprach, schaute sie erschrocken auf und lachte dann. Ihr Gesicht war wunderschön, da die ehrlich empfundene Zuneigung zu ihm es erstrahlen ließ.

„Du hast mich erschreckt! Ich wusste gar nicht, dass du dich so leise bewegen kannst!“ Sie kam zu ihm und streckte ihm ihre Hände entgegen. Langsam ergriff der jüngere Thrall sie.

„Es tut immer noch weh“, sagte der Jetzt-Thrall zu Aggra. Sie schalt ihn nicht, dieses Mal nicht. Schweigend nickte sie mit ihrem Geisterwolfkopf.

„Dieser Schmerz und seine Heilung sind das Geschenk des Wassers“, sagte sie. „Tiefe Gefühle, Liebe. Das Herz ist gleichermaßen offen für die Freude und den Schmerz. Deshalb weinen wir... Wasser bewegt sich mit und durch uns.“

Er hörte ihr aufmerksam zu und erinnerte sich der Worte, die sie bei ihrem ersten wahren Treffen gesprochen hatten, als er sie erneut hörte. Tari gab ihm eine Karte und einige Vorräte, drängte ihn, sein Volk zu suchen, die Orcs. Sie sprachen über Schwarzmoor. Der Jetzt-Thrall, der wusste, was geschehen würde, wollte sich abwenden, musste jedoch feststellen, dass er das nicht konnte.

„Was ist mit deinen Augen?“, fragte der jüngere Thrall.

„Oh, Thrall... Das nennt man Tränen“, sagte Taretha leise mit belegter Stimme, während sie sich über die Augen wischte. „Sie kommen, wenn wir traurig sind oder krank in der Seele. Es ist, als ob unsere Herzen so voller Schmerz sind, dass kein Platz mehr für die Tränen ist.“

Und selbst jetzt, während er in der Geisterwelt umherreiste und keinen physischen Körper hatte, spürte der Jetzt-Thrall, wie Tränen in seine Augen stiegen.

„Taretha hat es verstanden“, sagte Aggra leise. „Sie kannte sowohl den Schmerz als auch die Liebe. Das Herz will überlaufen, und es ist das Wasser, das überfließt.“

„Sie hätte nicht sterben sollen“, knurrte der Jetzt-Thrall. Unausgesprochen blieben die Worte: Ich hätte einen Weg finden müssen, um das zu verhindern.

Aggras Antwort ließ ihn zurücktaumeln, als hätte sie ihm einen harten Schlag versetzt.

„Wirklich? Hätte sie das nicht?“

Er wirbelte zu ihr herum, schockiert und wütend über ihre Gefühllosigkeit. „Natürlich nicht! Sie hatte alles, wofür es sich zu leben lohnte. Ihr Tod hatte keinerlei Nutzen!“

Aggras Wolfsgestalt blickte ihn unerbittlich an. „Woher weißt du das, Go’el? Woher weißt du, dass nicht genau das ihre Bestimmung war? Das weiß nur sie allein. Möglicherweise war das, was sie getan hat, alles, wozu sie geboren wurde. Vielleicht wärst du von ihren Taten nicht so bewegt gewesen, wenn sie überlebt hätte. Es ist arrogant zu glauben, dass du alles wissen kannst. Es mag sein, dass du recht hast, aber ebenso gut kannst du dich irren.“

Ihre Worte ließen ihn in sprachloser Stille zurück. Seit er gesehen hatte, wie Aedelas Schwarzmoor Tarethas abgetrennten Kopf in dem gespenstischen Licht hochgehoben hatte, war er von Schuld erfüllt. Die Alpträume hatten lediglich den Zweck, ihm einzuhämmern: Ich hätte mehr tun müssen.

In Wirklichkeit gab es jedoch nichts, das er hätte tun können. Und nun, zum ersten Mal, war er gezwungen, sich mit der Vorstellung vertraut zu machen, dass vielleicht all das, was geschehen war... richtig gewesen war. Schmerzvoll und schrecklich, doch richtig.

Er würde sie niemals vergessen, und sein Leben lang würde er sie vermissen, doch das nagende Gefühl der Schuld begann zu schwinden.

„Für dich“, fuhr Aggra fort, die im Stillen noch immer versuchte, die Veränderung in seiner Seele zu verstehen, „war sie die Segnung des Wassers in deinem Leben. Dies, Go’el, war der Zeitpunkt, als das Element des Wassers in dein Wesen getreten ist.“

Er rang um Worte. Alles, was er hervorbringen konnte, war ein gehauchtes „Danke“.

Der Nebel wirbelte um die Füße der Gestalten aus der Vergangenheit. Obwohl er anfänglich diese Episode aus seinem Leben nicht noch einmal hatte erleben wollen, überkam den Jetzt-Thrall der Wunsch, zu schreien und darum zu betteln, noch einige Momente mit Taretha verbringen zu dürfen. Doch er wusste es besser. Es war ein bittersüßes Geschenk der Elemente gewesen, einhergehend mit der Einsicht, die Aggra ihm vermittelt hatte.

Leb wohl, teure Taretha. Dein Leben war ein Segen, dein Tod nicht umsonst, und es gibt nichtviele Menschenauf der Welt, die das von sich behaupten können. An dich wird man sich immer erinnern. Ich kann dich nun mit Frieden in meinem Herzen gehen lassen.

Die Elemente hatten ihm noch mehr zu zeigen.

Der Nebel wirbelte wild umher, verdeckte seine Vision, und schließlich erblickte er eine jüngere Version seiner selbst. Es war Winter, und er war bei den Frostwölfen. Er und Drek’Thar saßen am Feuer und hielten ihre Hände über die wärmenden Flammen. Drek’Thar war zu dieser Zeit bereits nicht mehr jung gewesen, doch sein Geist war noch immer messerscharf. Der Jetzt-Thrall war traurig, als er seinen Freund und Lehrer dort vor sich sah. Sein jüngeres Ich lauschte verzückt Drek’Thars sprachgewaltigem Bericht über das Band, das zwischen den Schamanen und den Elementen bestand. Schnee rieselte lautlos zu Boden. Der Jetzt-Thrall fühlte sich ruhig und konzentriert, und er spürte, wie der Schmerz der letzten Vision um Taretha langsam nachließ.

„Geerdet“, sagte er und verstand zum ersten Mal, woher das Wort stammte. „Wie die Erde. Das ist das Geschenk der Erde, oder?“

Der Wolf, der eigentlich Aggra war, nickte und fügte mit einem Anflug ihrer alten Kratzbürstigkeit hinzu: „Das erkennst du erst jetzt? Kein Wunder, dass du Schwierigkeiten hast.“

Thrall war ob ihrer schnippischen Antwort nicht irritiert, sondern vielmehr amüsiert. Vielleicht, dachte er, liegt das an der Ruhe und der Beständigkeit der Erde, die mich durchdringt. Allzu rasch schien dem Jetzt-Thrall der Nebel wieder aufzusteigen und die Szenerie zu verbergen. Aber er verstand, dass die Erde nun in ihm war. Jederzeit konnte er nun an diesem Ort des Friedens in sich gehen... Er lächelte... und erdete sich selbst.

Ein Element blieb noch übrig. An diesem Punkt angelangt, verstand er, dass der Ritus der Sicht dazu bestimmt war, ihm zu zeigen, dass die Elemente bereits in ihm waren, mit ihm und durch ihn lebten. Er begriff die wilde Leidenschaft des Feuers im Kampf, die liebende Natur des Wassers und die Ruhe und Beständigkeit der Erde. Aber er war neugierig zu erfahren, wie die Luft sich in ihm manifestieren würde.

Der Nebel bildete sich erneut und löste sich kurz darauf wieder auf. Thrall sah sich selbst in der Feste Grommash. Es war wieder spät in der Nacht, doch zahlreiche Kohlenpfannen, Fackeln und Öllampen spendeten ausreichend Licht und Wärme. Er stand vor einem Tisch, der mit Karten und ausgebreiteten Schriftrollen bedeckt war. Neben ihm befand sich sein alter Freund Cairne Bluthuf.

Da diese Szene sich während der vergangenen Jahre immer wieder ereignet hatte, konnte er diesen Augenblick nicht genau zuordnen. Er lächelte, beobachtete wie sein anderes Ich und Cairne lebhaft miteinander über Verhandlungen, Landrechte und Verträge sprachen und wie sie Lösungen für verschiedene Probleme fanden. Die Szene veränderte sich schnell, und plötzlich war er bei Jaina, so wie er es ebenfalls schon viele Male gewesen war. Sie sprachen vom Frieden und wie sie ihn erreichen und sichern wollten.

Tiefer gehende Gefühle als die Sorge um die Sicherheit der Leute, die er anführte, beseelten ihn nicht – kein Gefühl des Verwurzeltseins und keine brennende Leidenschaft. War er mit Jaina und Cairne zusammen, benutzte Thrall seinen Kopf und nicht seine Muskeln. Die Gespräche, bei denen sie über Neuanfänge oder die Hoffnung darauf sprachen, waren von Rationalität geprägt, nicht von Emotionen.

Der Jetzt-Thrall nickte und verstand alles. Natürlich! Die Luft –das Element der Klarheit der Gedanken, der Inspiration, der Einsicht und des Neubeginns. Gemeinsam mit Cairne hatte er den Neuanfang gewagt, als die Orcs in Kalimdor angekommen waren, und einen provisorischen Frieden mit Jaina Prachtmeer geschlossen. All dies war mit Worten geschehen, die zuvor sorgfältig überdacht worden waren. Das war etwas, das von einem Orc für gewöhnlich nicht erwartet wurde, was Thrall jedoch während seines ganzen Lebens getan hatte – angefangen bei den ersten Büchern, die er verschlungen hatte, bis hin zu diesem Moment, in dem er die schwierige Entscheidung getroffen hatte, die Welt zu verlassen und in die Scherbenwelt, nach Nagrand zu reisen.

Er lächelte, und als die Szene zu verschwinden begann, ließ er sie leichten Herzens los. Er wusste, dass mit der Luft immer etwas Neues kommen würde, das ihn forderte und inspirierte.

Gemeinsam mit Aggra in ihrer Wolfsgestalt wartete er auf das fünfte Element, den schwer fassbaren Funken, der es den Schamanen ermöglichte, sich mit den anderen Elementen zu verbinden. Er wartete darauf, dass er sich manifestierte oder ihm ein Zeichen gab, das ihm helfen würde bei der Rettung der Welt. Die Zeit verging, doch nichts geschah. Thrall wurde unruhig, und schließlich wandte er sich verwirrt an Aggra. Mit einer Stimme, die seltsam widerhallte, fragte er: „Werde ich Azeroth retten können? Oder die Horde?“

Endlich hob der Nebel sich. Thrall sah sich in der schwarzen Rüstung Orgrim Schicksalshammers, die ihn als Anführer der Horde auswies. Er trug die große Waffe des soeben erst verstorbenen Orcs und sah wie ein wahrer Krieger aus. Doch in seinem grünen Gesicht stand Angst – Angst und ein schreckliches Gefühl des Verlustes. Der Schicksalshammer zersplitterte in mehrere Teile, die mit solcher Geschwindigkeit fortflogen, als wären sie von einem Gewehr abgefeuert worden. Die Rüstung knackte und knirschte und fiel von ihm ab. Thrall stürzte auf die Knie, gekleidet in das, was er gerade trug: die schlichte braune Robe eines Initiierten.

„Nein“, keuchte er. Plötzlich war er wach und starrte in ein dunkelhäutiges orcisches Gesicht, das sich über ihn beugte, prachtvoll bemalt, mit freundlichen Augen und breiten, lächelnden Lippen, die zwei kleine, scharfe Hauer entblößten. Er griff nach ihrem Arm.

„Aggra, ich habe versagt... oder ich werde versagen! Sie zeigten mir...“

„Schschsch“, beruhigte sie ihn und schüttelte den Kopf. Seine Panik schien sie nicht anstecken zu können. „Die Elemente haben dir ein Bild gezeigt. Es liegt an dir zu entscheiden, was es bedeutet.“

Als er langsam zu sich kam, fühlte er sich ein wenig benommen. Behutsam richtete Aggra ihn in eine sitzende Position auf. „Es schien völlig klar zu sein.“

„Ich habe es auch gesehen“, sagte sie. „Vertrau mir, wenn ich dir sage, dass die klarsten Visionen meist die verwirrendsten sind. Aber es gibt eine Möglichkeit, Klarheit zu erlangen. Ich glaube, du bist bereit, die Elementare des Zorns zu sehen. Du hast deinen Ritus der Sicht abgeschlossen und erkannt, dass du die Elemente in dir trägst. Du bist bereit.“

„Werden sie mir helfen, die Vision zu verstehen?“

Aggra zuckte die Achseln. „Vielleicht ja, vielleicht nein. Aber zumindest wird es nicht wehtun, oder?“

Er lächelte. Ihre ironische Art war genau das, was er jetzt brauchte.

„Wann?“

„Morgen“, sagte Aggra. „Morgen.“

26

Thrall war überrascht, dass der Thron der Elemente so leicht zugänglich war und so nah bei Garadar lag. Es war nicht mehr als ein kurzer Weg über den Himmelsweisensee zu einer kleinen Insel, die im Schatten der Berge lag. Als sie näher kamen, sah er moosbedecke, aufrecht stehende Steine, die ein Muster bildeten.

„Warum sind die Elementare des Zorns so nah?“, fragte er Aggra.

Sie lächelte verhalten, und in ihren Augen lag eher Unmut als Wut, als sie antwortete: „Wenn du die gewaltige Verkörperung einer elementaren Kraft wärst, wäre es dir dann nicht auch egal, dass jemand dich stören könnte?“

Völlig überrascht lachte Thrall. Aggras Lächeln wurde breiter. „Es gibt Mitglieder des Irdenen Rings, die sicherstellen, dass die Elementare des Zorns nicht mit Nebensächlichkeiten behelligt werden. Nur diejenigen, die ihrer Weisheit bedürfen und ihrer Hilfe würdig sind, dürfen mit ihnen sprechen. Doch auch das geschieht nur aus reiner Höflichkeit. Die Elementare des Zorns können das sicherlich selbst handhaben.“

Sie verließen den See und betraten nun sumpfigen Boden.

Und plötzlich waren sie da.

Vier riesige Wesen, die den kleineren Inkarnationen der Elemente ähnelten, mit denen Thrall so lange zusammengearbeitet hatte, näherten sich ihnen gemächlich. Sie waren wild und machtvoll. Selbst auf die Entfernung hin konnte Thrall ihre unglaubliche Stärke spüren. Nein, diese Wesen mussten nicht befürchten, dass jemand sie belästigte.

Mit sanfter, ehrwürdiger Stimme stellte Aggra jeden einzelnen vor. „Gordawg, Zorn der Erde, Aborius, Zorn des Wassers, Incineratus, Zorn des Feuers, und Kalandrios, Zorn der Luft. Wenn irgendjemand oder irgendetwas auf dieser Welt dir helfen kann, Go’el“, sagte Aggra mit ruhiger und ernster Stimme, „dann sind es diese Wesen. Geh und stell dich ihnen vor. Frag sie, was du sie fragen musst.“

Einen Augenblick lang fühlte sich Thrall in der Zeit zurückversetzt, zurück zu seinem ersten Aufeinandertreffen mit den Elementen. Einer nach dem anderen waren die Geister der Elemente zu ihm gekommen, hatten in seinem Geist und seinem Herzen gesprochen. Nun würden sie es auf dieselbe Weise wieder tun. An welches der Elemente sollte er sich als Erstes wenden? Er wählte Kalandrios, den Zorn der Luft, und ging auf ihn zu.

Nahezu augenblicklich spürte er, wie ihn die Kraft des Wesens durchdrang. Er taumelte, und der starke Wind riss ihn beinahe von den Beinen, aber er stemmte sich erfolgreich gegen die wirbelnde Luft.

Der große Zorn sah wie ein lebender Zyklon aus mit seinen starken Armen und den leuchtend roten Augen. Kalandrios ignorierte ihn zunächst, doch dann stemmte sich Thrall gegen den Wind, der Sand und Blätter aufwirbelte, die seine Haut aufzuscheuern drohten. Er schloss die Augen und streckte seinen Geist nach ihm aus, wie er es gelernt hatte.

Kalandrios, Zorn der Luft... Ich bin einen langen Weg gegangen, um deine Hilfe zu erbitten. Ich komme aus einem Land, das in großen Schwierigkeiten steckt, aber ich weiß nicht, warum es leidet. Ich habe es um Hilfe gebeten, doch es antwortet mir nicht. Bei meinem Ritus der Sicht sah ich mich selbst und dass ich das Land nicht retten konnte. Du, der die Schreie der Luft hier in der Scherbenwelt hört, kannst du mir helfen? Ist diese Vision wahr und unabänderlich?

Kalandrios richtete den Blick seiner roten Augen auf ihn, und Thrall spürte die Kraft darin. Er sprach, jedoch in Thralls Geist.

Was kümmern mich die Angelegenheiten der Luft in einem anderen Land? Meine Essenz leidet hier. Die Luft beherrscht die Kraft der Gedanken, Go’el, den man Thrall nennt, Sohn von Durotan und Draka. Du bist ein mächtiger Schamane, und nur aus diesem Grund höre ich mir deine Bitte überhaupt an. Das Beste, was ich dir anbieten kann, ist der Rat, darüber nachzudenken und zuzuhören. Denke darüber nach, was du auf deiner Suche gesehen hast. Mehr kann ich dir nicht bieten.

Kalandrios ging wieder, unfähig, ihm weitere Unterstützung zu gewähren. Thrall war enttäuscht, doch er unterdrückte das Gefühl. Es war sinnlos, wütend zu werden. Wenn Kalandrios hätte helfen können, dann hätte er das auch getan. Doch Thrall konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass Kalandrios’ Gedankengang einen Fehler aufwies.

Er blickte zu Aggra zurück und schüttelte den Kopf. Die Stimmen erklangen nur in seinem Herzen, die Orcfrau hatte Kalandrios’ Worte nicht hören können. Einst hätte sie über sein Versagen gelacht, das wusste er. Jetzt sah er, wie sich Betroffenheit auf ihrem Gesicht breitmachte.

Er ging zum nächsten Zorn, Incineratus, der Zorn des Feuers. Als Thrall näher trat, strömte das mächtige Wesen eine solche Hitze aus, dass er gezwungen war, sein Gesicht abzuwenden und es mit den Armen zu schützen. Wie sollte er sich dem Wesen nähern, wenn er Gefahr lief, dass ihm das Fleisch von den Knochen gebrannt wurde?

Die Antwort auf diese Frage manifestierte sich langsam. Er ignorierte die sengende Hitze und kam so zur Ruhe – das Element vom Geist des Lebens, den er in sich trug, unterstützte ihn. Thrall stellte sich seine Haut unversehrt, kühl und der Hitze des mächtigen Zorns gegenüber unempfindlich vor. Als er sich umwandte, öffnete er die Augen... und die Hitze schwand. Schließlich kniete er vor dem Zorn des Feuers nieder und wiederholte seine Frage.

Incineratus wandte seine ganze Aufmerksamkeit dem Orc zu. Selbst mit seiner neu gefundenen Stärke musste Thrall die Augen wegen der Hitze schließen, die das Wesen umgab, das nur wenige Schritte vor ihm stehen blieb. Thralls Kehle war wie ausgedörrt, doch er blieb, wo er war. Er war stark genug, um mit dem Wesen zu sprechen, und würde nicht verletzt werden.

Ich bin wütend, sagte der Zorn des Feuers in seinem Geist. Ich bin wütend darüber, dass meine Artgenossen hier leiden müssen, und ich bereue es mehr, als du dir vielleicht vorstellen kannst, dass ich dir nicht helfen kann. Ohne etwas Essenz vom Feuer dieser Welt kann ich unmöglich mit den Feuern sprechen, die dort brennen. Wie kann ich wissen, warum sie leiden, Schamane? Es ist dein Land, und es sind deine Beobachtungen. Ich spüre deine Leidenschaft, und ich gewähre dir die meine – die Leidenschaft zu tun, was immer nötig ist, damit die Welt heilen kann. Mehr kann ich nicht für dich tun.

Ein kleines Flimmern löste sich und stieß zu Thralls Kehle hinab. Er schrie auf und spürte ein scharfes Brennen, als es in ihn eindrang und sich um sein Herz zu legen schien. Es verbrannte schmerzhaft, aber er wusste, dass dies keine echte Flamme war. Thrall schlug mit der Hand auf sein Herz und fiel nach vorn, den Sturz mit einer Hand abfangend.

Aggra war sofort neben ihm. Ihre Berührung war kühl, und tröstend legte sie eine Hand auf seine Schulter. „Go’el, hat er dich verletzt?“

Thrall schüttelte den Kopf. Der Schmerz verging. „Nein“, sagte er, „nicht... nicht körperlich.“

Ihr Blick suchte den seinen, und dann betrachtete sie Incinera-tus. Der große Elementarzorn hatte sich bereits wieder auf den Weg gemacht. Sie suchte in ihrer Tasche nach einer Wasserflasche, doch Thrall legte seine Hand auf ihren Arm und schüttelte den Kopf.

„Nein“, krächzte er. „Incineratus... beschenkte mich mit dem Feuer der Leidenschaft, damit ich tun kann, was ich tun muss.“

Langsam verstand Aggra und nickte. „Wie du in der vergangenen Nacht erfahren hast, brennt dieses Feuer bereits in dir. Es ist in der Tat ein Geschenk. Nur sehr wenige haben den Hauch von Incineratus’ Feuer gespürt.“

Aus dem, was sie nicht sagte, konnte er schließen, dass ihr selbst diese Ehre nicht zuteilgeworden war, und er fühlte sich verpflichtet zu sagen: „Ich glaube nicht, dass das Geschenk für mich gedacht war, sondern vielmehr für die Elemente von Azeroth, damit ich ihnen besser helfen kann.“

„Ich habe darum gebeten, hier helfen zu dürfen“, sagte sie leise, „doch ich wurde nicht für würdig erachtet.“

Thrall ergriff ihre Hand. „Du bist begabt, Aggra. Es könnte doch sein, dass das Feuer, das in dir brennt, bereits ausreicht.“

Erschreckt suchte sie erneut seinen Blick. Er erwartete, dass sie ihm ihre Hand entzog, und bereitete sich auf eine heftige Antwort vor. Aggra ließ jedoch ihre Hand in der seinen, und ihre braunen Finger umspielten einen Moment lang seine grünen, bevor sie sie sanft drückte und wieder losließ.

„Es gibt noch zwei weitere Elementare, die du befragen kannst“, sagte sie. Offensichtlich hatte sie sich wieder unter Kontrolle. „Du verfügst über eine große Gabe, und vielleicht können dir Gordawg und Aborius mehr Unterstützung bieten als Incineratus und Kalandrios. Möglicherweise verhelfen sie dir zu ein wenig mehr Klarheit. Mich verwirren ihre Geheimnisse auch oft mehr, als dass sie mich erleuchten.“

Ihre Worte überraschten ihn, aber er musste ihr zustimmen. Manchmal waren das Feuer und die Luft ein wenig launisch.

Das metaphysische Feuer in seinem Herzen war zu einer lodernden Glut geworden, die er deutlich spüren konnte. Er ging weiter zu Aborius und bewegte sich im Kreis um den Thron der Elemente herum. Schließlich kniete er vor dem Zorn des Wassers nieder, der sich ihm augenblicklich zuwandte. Thrall hatte noch nicht einmal seine Bitte formuliert, als er schon spürte, wie Wasser sanft auf sein Gesicht plätscherte. Er blickte auf und leckte sich die Lippen. Es schmeckte süß und rein, das frischeste Wasser, das er je getrunken hatte.

Go’el, dein Schmerz und deine Verwirrung sind meinem Schmerz und meiner Verwirrung gleich. Viele Wesen kommen mit ihren Sorgen zu mir, aber nur wenige verspüren sie so stark wie du. Wenn ich dir nur in dieser Welt helfen könnte, in der die Wassertropfen existieren, die von mir stammen und dennoch nicht die meinen sind! Dein Herz brennt leidenschaftlich darauf, zu helfen und zu heilen. Und das, um eine Welt zu retten, die wahrlich in Not ist. Ich kann dir kein Geschenk wie Incineratus machen, aber ich sage dir, dass du dich deiner Gefühle nicht zu schämen brauchst. Das Wasser soll dir das Gleichgewicht geben, das du suchst, dich wieder auffüllen und erfrischen. Hab keine Angst vor dem, was du auf dieser Reise spürst. Noch hab Angst vor den Wunden deiner Seele, die du heilen musst.

Thrall war verwirrt. Ich? Ich habe keine Wunden, sondern verspüre großen Zorn und den Schmerz, der Folter, die meine Welt peinigt.

Der Zorn des Wassers wurde von Mitgefühl ergriffen. Man tritt seinen Bürden erst dann gegenüber, wenn man dazu bereit ist, nicht schon vorher. Aber ich sage dir erneut, Go’el, Sohn von Durotan, Sohn von Garad: Wenn die Zeit kommt, in der du bereit bist, deine Wunden zu heilen, habe keine Angst, tief darin einzutauchen.

Wasser lief nun über Thralls Gesicht. Wieder öffnete er den Mund, um die süße Flüssigkeit zu trinken, doch nun schmeckte sie warm und salzig. Es waren Tränen. Er weinte. Für einen Augenblick erlaubte Aborius ihm, das Mitgefühl der Elemente, das sie für ihn empfanden, zu spüren.

Thrall schluchzte, schämte sich dessen jedoch nicht, wusste er doch, dass seine Gefühle wahr und rein waren. Die Tränen waren ein Teil des Geschenks, das die liebende Taretha Foxton ihm gegeben hatte – ganz so, wie es ihm auf so beschämende Weise in der vergangenen Nacht gezeigt worden war. Thrall erkannte, dass sein Wunsch, die Welt, in die er hineingeboren worden war, zu heilen, noch stärker war als der, sein Volk zu befreien. Er war sogar stärker als der Wille, dafür zu sorgen, dass sein Volk sein eigenes Land bekam, wo es sicher und glücklich leben konnte. Nur wenn Azeroth sich von diesen merkwürdigen Verletzungen erholen konnte, nur wenn es nicht mehr bebte oder weinte, konnten die Horde und die Allianz wirklich erblühen und gedeihen.

Das war der Grund, warum er das Verlangen gespürt hatte, in die Scherbenwelt zu reisen, und warum er die Horde zurückgelassen hatte – die Horde, die er geliebt und bei deren Entstehung er mitgewirkt hatte. Eine andere Wahl hatte er nicht gehabt.

Zitternd stand er auf, legte einen Arm über seine Augen und wandte sich dem letzten Zorn zu.

Gordawg war der imposanteste Zorn, beeindruckender noch als der wilde Incineratus. Der Zorn der Erde war wie ein zum Leben erwachter Berg, und als Thrall auf ihn zuging, bebte der Boden unter ihm.

Gordawg schien keine Notiz von Thrall nehmen zu wollen und entfernte sich. Thrall folgte ihm eilig und streckte flehentlich seine Gedanken nach ihm aus. Plötzlich blieb Gordawg so abrupt stehen, dass Thrall beinahe in ihn hineingerannt wäre.

Schwer und langsam drehte der Zorn der Erde sich um und blickte auf den Orc hinab, der im Vergleich zu ihm so winzig klein war.

Was willst du von Gordawg?

Ich komme aus einem Land, das Azeroth genannt wird. Den Geistern der Elementare dort droht Ungemach. Sie geben ihrem Schmerz mit Bränden, Fluten und Erdbeben Ausdruck.

Gordawgs Augenbrauen zogen sich zusammen.

Schmerzen? Warum?

Ich weiß es nicht. Ich habe die anderen gefragt, aber ihre Antworten waren verwirrend. Ich weiß nur, dass sie leiden. Deine Artgenossen konnten mir nicht helfen, dieses Rätsel zu lösen.

Gordawg nickte, als hätte er nichts anderes erwartet.

Gordawg will helfen. Aber anderes Land, weit weg. Kann nicht helfen, ohne Land zu kennen.

Thrall war nicht überrascht. Aus diesem Grund hatten auch die anderen ihm nicht helfen können: Es war nicht ihre Welt.

Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Gordawg, es gibt ein Portal, das Zugang nach Draenor und Azeroth bietet – oder dem, was davon noch übrig ist. Einst war es geschlossen, damit die Zerstörung von Draenor meine Welt nicht mit sich riss. Jetzt könnte die Krankheit meiner Welt auf deine übergreifen, wenn ich sie nicht aufhalte. Kannst du nichts tun, um mir zu helfen? Indem du mir hilfst, könntest du möglicherweise die Scherbenwelt beschützen.

Gordawg hört, was du sagst. Gordawg versteht die Notwendigkeit. Aber dennoch sagt Gordawg erneut: Wenn es diese Welt hier wäre, dann Gordawg wüsste Bescheid. Das große Wesen kniete sich hin, nahm eine Handvoll Erde auf und stopfte sie sich vor Thralls verblüfften Augen in sein Maul. Ich schmecke. Ich kann sagen, wo diese Erde gewesen ist und was ihre Geheimnisse sind.

Thralls Augen weiteten sich angesichts der Idee, die ihm durch den Kopf schoss. Konnte es so einfach sein?

Er hatte immer einen kleinen Altar dabei – eine Feder, die die Luft repräsentierte, einen kleinen Kelch für das Wasser, Feuerstein und Zunder für das Feuer...

... und einen kleinen Stein für die Erde. Hastig kramte er in seinem Beutel herum. Seine Finger zitterten vor Hoffnung und Angst. Schließlich zog er seine Hand mit dem kleinen Stein aus dem Beutel.

Es war tatsächlich der Teil eines Elements aus Azeroth, während die anderen Gegenstände – der Feuerstein und der Zunder, der Kelch und die Feder – nicht mehr als Symbole waren. Doch dies war das Element selbst, das es repräsentierte.

Gordawg... Hier ist ein Stein von meiner Welt. Wenn du alles aus ihm herauslesen kannst, bitte ich dich, es mir anzuvertrauen.

Gordawg starrte ihn an. Der Stein war klein. Er beugte sich vor, streckte seine riesige Hand aus, und Thrall legte den Stein behutsam hinein.

Nicht viel für Gordawg zu schmecken, knurrte er. Aber Gordawg versucht. Gordawg will helfen.

Der Stein, der im Vergleich zu Gordawgs Hand nicht mehr als ein Sandkorn war, verschwand in dem riesigen Schlund des Zorns der Erde. Thrall blickte zu Aggra hinüber, die ihre Arme ausstreckte und mit den Schultern zuckte. Sie war ebenso verwirrt wie er.

Plötzlich knurrte Gordawg. Nicht die normale Art der Erde.

Nicht richtig. Wütend, ängstlicher Stein hier. Etwas hat ihn so gemacht!

Thrall hörte zu und konnte vor Aufregung kaum atmen.

Etwas war einst in Ordnung, aber ist nun falsch. War von der Welt, aber ist nun unnatürlich und finster. War verwundet, einst, aber nun ist geheilt – doch Heilung war falsch. Ist wütend. Will andere verletzen. Will Erde dazu bringen, andere zu verletzen. Muss aufgehalten werden!

Gordawg stampfte mit dem Fuß auf, und die Erde erbebte dröhnend.

Dieses Etwas, dachte Thrall. Ist es in Azeroth?

Stein befürchtet, dass es kommt. Ist nicht dort, noch nicht. Aber Stein hat Angst. Armer Stein. Gordawg hob die Hand, streckte die Finger aus und wies auf Thrall. Du hast Schrei von verängstigtem Stein gehört. Von allen Elementen. Diese Beben der Erde, riesige Wellen, Feuer ... Damit sagen Elemente, dass sie Angst haben. Du musst sorgen, dass sie nicht mehr verwundet werden... oder alles völlig vernichtet!

Wie kann ich das anstellen? Sag es mir, bitte!

Gordawg schüttelte seinen gewaltigen Kopf. Gordawg nicht weiß. Vielleicht andere Schamanen, die auch gehört von verängstigten Steinen, könnten etwas wissen. Aber ich habe schon zuvor geschmeckt etwas Ähnliches wie diese Angst. Fast dieselbe Art von Angst. Ich es in unserer Erde geschmeckt, kurz bevor die Welt in Teile zerbarst. Ist die Angst davor, zerbrochen zu werden. Zerschmettert zu werden.

Gordawg wandte sich um und marschierte davon. Thrall starrte ihm schockiert nach.

„Er hat den Stein gegessen, den du ihm gegeben hast“, sagte Aggra, die zu Thrall getreten war. „Konnte er dir helfen?“

„Ja“, sagte Thrall. Seine Stimme war nur ein Flüstern. Er räusperte sich und schüttelte den Kopf. „Er sagte mir, dass der Stein Angst hat. Dass alle Elemente Angst haben. Sie wissen, dass etwas Schreckliches passieren wird. Etwas, das einst gut war und in Harmonie mit der Welt lebte, aber jetzt unnatürlich ist.

Es wurde verwundet und brennt vor Verlangen, andere Dinge zu verletzen.“

Er wandte sich ihr zu. „Noch eine letzte Sache: Ich muss zurück nach Azeroth. Gordawg hätte mir nicht geholfen, wenn ich nichts dagegen unternehmen könnte. Ich muss herausfinden, wovor die Elemente sich so sehr fürchten... und alles in meiner Macht Stehende tun, um es aufzuhalten. Dieser Stein strahlte eine ähnliche Art der Angst aus wie Draenor, bevor...“

„... bevor es zerschmettert wurde“, beendete Aggra den Satz mit vor Angst weit aufgerissenen Augen. „Ja, Go’el. Ja! Wir dürfen eine solche Katastrophe nicht ein zweites Mal geschehen lassen!“


Nachdem der Rausch des Sieges über Cairne und die Erregung nachgelassen hatten – immerhin war Cairne Bluthuf eine Legende und eine der größten Gestalten in der Geschichte der Horde gewesen –, war Garrosh ein wenig überrascht, dass er keine Triumphgefühle empfand.

Cairne war derjenige gewesen, der ihn herausgefordert hatte. Garrosh konnte nicht mehr sicher sagen, warum Cairne ihm seine Beschuldigungen an den Kopf geworfen hatte. Er erinnerte sich nur noch daran, dass sie etwas mit einen Angriff auf mehrere Druiden zu tun gehabt hatten. Garrosh war nicht klar gewesen, wovon der Taure gesprochen hatte, doch nach dem demütigenden Schlag und der darauf folgenden Herausforderung zum Kampf hatte es keine Möglichkeit zur Umkehr gegeben. Für sie beide nicht. Der alte Bulle hatte gut gekämpft. Garrosh würde nie zugeben, dass er während des Kampfes befürchtet hatte, ihn nicht zu überleben. Doch schließlich hatte er gewonnen. Garrosh hatte das Blut des Oberhäuptlings der Tauren an seinen Händen, schuld an dessen Tod war er jedoch nicht. Es war ein ehrlicher Kampf gewesen, und die beiden Gegner hatten gewusst, dass nur einer von ihnen die Arena lebend verlassen würde. Der Ehre war Genüge getan.

Obwohl er keine Schuld an Cairnes Tod trug, bedauerte Garrosh, was geschehen war. Er hatte Cairne durchaus gemocht, wenn sie auch wiederholt aneinandergeraten waren. Es war eine Schande, dass Cairne es nicht vermocht hatte, seinen altmodischen Geist etwas Neuem zu öffnen, etwas, das getan werden musste.

Nachdem Garroshs Anhänger ihre wilde Siegesfeier beendet hatten, war Garrosh im Morgengrauen zur Arena zurückgekehrt. Cairnes Leichnam war schon vor Stunden fortgetragen worden. Wohin, wusste Garrosh nicht. Er hatte keine Ahnung, was die Tauren mit ihren Toten machten. Begraben, verbrennen?

Auf dem Boden der Arena waren noch Blutspuren zu sehen. Jemand musste sich darum kümmern, das Blut entfernen. Doch das hatte Zeit bis morgen. Jetzt ärgerte er sich darüber, dass er die wichtige Aufgabe, die Klinge seiner Axt zu reinigen, so lange vernachlässigt hatte. Wo war eigentlich...? Er sah sich um, und seine Besorgnis nahm zu, als er seine Waffe nicht finden konnte.

„Sucht Ihr nach Blutschrei?“ Erschrocken wandte er sich um und sah einen der Kor’kron am Rand der Arena stehen, der seine ehrenvolle Axt in den Händen hielt und sich verneigte. „Wir haben sie gefunden und an uns genommen.“

„Danke“, sagte Garrosh. Die ständige Gegenwart seiner Leibwächter war ihm ein wenig unangenehm, doch er musste zugeben, wie praktisch das zuweilen auch sein konnte. Er war wütend auf sich selbst, weil er sich so sehr hatte ablenken lassen, dass er Blutschrei glatt vergessen hatte. So etwas würde nicht noch einmal vorkommen. Er entließ den Leibwächter mit einem Wink. Der Kor’kron verneigte sich erneut, trat in die Schatten zurück und ließ Garrosh mit der Axt allein, die einmal seinem Vater gehört hatte.

Als er die Waffe betrachtete und dann auf das Blut in der Arena blickte, vernahm er eine Stimme hinter sich. Es war die Stimme eines Orcs, doch gehörte sie nicht zu einem Mitglied seiner Leibwache.

„Das ist ein großer Verlust für die Horde, und das weißt du auch.“

Garrosh blickte sich um und entdeckte Etrigg, der auf der Tribüne saß. Was machte der alte Orc hier? Er konnte sich nicht daran erinnern, Etrigg während des Kampfes gesehen zu haben. Doch sicherlich hatte auch er in der Arena gesessen und den Kampf aufmerksam verfolgt. Garrosh war zu beschäftigt gewesen, um darauf zu achten, wer auf den Zuschauerrängen saß.

Er dachte daran, den Orc zu maßregeln, stellte jedoch fest, dass er zu müde dazu war. „Das weiß ich, doch mir blieb keine andere Wahl. Er hat mich herausgefordert.“

„Viele haben gesehen, dass er dich herausgefordert hat. Das stelle ich nicht in Frage. Aber ist dir nicht aufgefallen, wie rasch er gefallen ist?“

Unbehagen machte sich in Garrosh breit. „Ich kann mich nicht mehr an die Einzelheiten erinnern. Es war... ein schneller und hitziger Kampf.“

Etrigg nickte und erhob sich schwerfällig. Seine Gelenke plagten ihn. Langsam ging er zu Garrosh in die Arena hinab. Beim Gehen sprach er weiter: „Das war es tatsächlich. Wie viele Treffer hast du abbekommen? Viele! Cairne fiel jedoch, nachdem du ihm einen einzigen unbedeutenden Kratzer zugefügt hast.“

„Es war ein guter Hieb“, verteidigte sich Garrosh. Seine Stimme hatte einen gereizten Klang angenommen. Stimmte das? Die Wunde war über Cairnes Brust verlaufen. Das stimmte doch, oder? Der Blutrausch hatte alles in seinem Kopf verschwimmen lassen...

„Nein“, sagte Etrigg bestimmt. „Es war ein langer, flacher Schnitt. Aber dennoch verteidigte er sich nicht, als dein tödlicher Hieb auf ihn herniedersauste.“ Mittlerweile stand er neben Garrosh. „Findest du das nicht auch merkwürdig? Ich schon. Und ich bin nicht der Einzige, der dieser Meinung ist. Cairne starb viel zu schnell, Garrosh, und wenn dir das nicht aufgefallen ist, so ist es das anderen sehr wohl. Anderen wie mir und Vol’jin, der vorhin mit mir darüber gesprochen hat. Nicht wenige fragen sich, warum ein so guter Krieger nach einer einzigen lächerlichen Schnittwunde zu Boden ging.“

Garrosh wurde langsam wütend. „Hör auf!“, knurrte er. „Was willst du damit sagen? Behauptest du, ich hätte nicht fair gekämpft? Hätte ich denn zugelassen, dass er mir derartige Wunden zufügt, wenn ich betrogen hätte?“

„Nein. Ich glaube nicht, dass du unehrenhaft gekämpft hast. Aber ich bin davon überzeugt, dass jemand anders sich nicht korrekt verhalten hat.“ Etrigg streckte einen knorrigen Finger aus und wies auf Blutschrei. „Du hast die Segnung der Schamanen mit dem heiligen Öl auf der Klinge erhalten.“

„So wie Cairne auch. So wie jeder andere auch, der in einem Mak’gora kämpft“, sagte Garrosh. „Es ist ein Teil davon. Das ist nicht unehrenhaft!“ Er hatte seine Stimme erhoben, und ein merkwürdiges Gefühl durchfuhr ihn. War es... Angst?

„Sieh dir die Farbe und die Konsistenz des Öls an“, sagte Etrigg. „Es ist schwarz und schmierig. Nein! Im Namen der Ahnen, fass es nicht an!“

Der größte Teil der Klinge, die Cairne Bluthufs Leben ein Ende gesetzt hatte, war mit getrocknetem Blut bedeckt. Doch an einer kleinen Stelle konnte Garrosh noch die klebrige, schwarze Substanz erkennen, die so gar nicht dem goldenen, funkelnden Öl glich, mit dem die Klingen normalerweise bei einem Mak’gora eingerieben wurden.

„Wer hat Blutschrei gesegnet, Garrosh Höllschrei? Wer segnete die Axt, die Cairne Bluthuf tötete?“ Etriggs Stimme bebte vor Wut, doch richtete sich diese Wut nicht gegen Garrosh.

Garroshs Magen schien revoltieren zu wollen. „Magatha Grimmtotem“, sagte er. Seine Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern.

„Es war nicht dein Können im Kampf, das Cairne getötet hat. Es war das Gift eines bösen Ränkeschmieds, der einen Gegner vernichten wollte und dich als sein Werkzeug benutzt hat. Weißt du, was in Donnerfels geschehen ist, während du deinen vermeintlichen Sieg gefeiert hast?“

Garrosh wollte es nicht hören. Er starrte auf die Klinge, doch Etrigg gab nicht auf.

„Meuchelmörder der Grimmtotems haben Donnerfels, das Dorf der Bluthufe und andere Taurenfestungen übernommen. Die Lehrer, die mächtigen Schamanen, Druiden und Krieger – sie alle sind tot. Unschuldige Tauren wurden im Schlaf abgeschlachtet. Baine Bluthuf wird vermisst und ist vielleicht auch bereits gefallen. Blut fließt aus einer friedlichen Stadt, weil du so von Stolz erfüllt warst, dass du gar nicht mitbekommen hast, was direkt vor deinen Augen geschah!“

Garrosh hatte mit wachsendem Schrecken zugehört und bellte nun: „Genug! Ruhe, alter Mann!“ Sie starrten einander unverwandt an.

Etwas in Garrosh zerbrach. „Sie raubte mir meine Ehre“, sagte er ruhig. „Sie nahm mir meinen Sieg. Ich werde nie wissen, ob ich stark genug war, Cairne Bluthuf in einem ehrlichen Kampf zu schlagen. Etrigg, du musst mir glauben!“

Zum ersten Mal in dieser Nacht zeigten die Augen des alten Orcs einen Hauch von Sympathie. „Das tue ich, Garrosh. Niemand hat jemals deine Ehre im Kampf in Frage gestellt. Wenn Cairne wüsste, warum er so rasch starb, würde er es ebenso sehen. Aber heute Nacht wurden Zweifel gesät, Zweifel darüber, ob du ehrlich gekämpft hast. Sie reden darüber, tuscheln miteinander. Nicht jeder versteht das so wie ich und Cairne Bluthuf.“

Garrosh starrte wieder auf die besudelte Waffe. Magatha hatte seine Ehre gestohlen und den Respekt, den die Horde, die er so sehr liebte, ihm entgegengebracht hatte, geraubt. Sie hatte ihn ebenso benutzt wie Blutschrei, die Waffe, die sein Vater einst geführt hatte. Die Axt war mit Gift beschmiert worden und zum Werkzeug eines niederträchtigen Feiglings geworden. Auch sie hatte man entehrt. Magatha hatte mit ihrer hinterlistigen Tat der Schamanentradition Schande bereitet. Hinzu kam noch, dass manch einer tatsächlich glaubte, Garrosh habe freiwillig bei diesem frevelhaften Tun mitgewirkt.

Nein! Er würde Vol’jin und jedem anderen, der diese Lügen verbreitete, zeigen, was er von ihnen hielt. Garrosh schloss die Augen, legte seine Hand um den Griff der Axt und ließ sich von seiner Wut davontragen.

27

Jainas erster Gedanke, als Anduin sich so unerwartet und beinahe unmittelbar vor ihr materialisierte, war, Kontakt zu seinem Vater aufzunehmen. Obwohl Moira die Kommunikation mit den Bewohnern von Eisenschmiede völlig unterbunden hatte, waren bereits am Tag nach Anduins Verschwinden die ersten Gerüchte aufgekommen. Varian hatte augenblicklich versucht, Kontakt zu seinem Sohn aufzunehmen, und eiligst einige Briefe geschrieben. Als sie jedoch nicht beantwortet wurden, war er zutiefst besorgt gewesen und schließlich wütend geworden.

Jaina war keine Mutter, doch sie hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was Varian durchmachte. Das galt sowohl für die Gefühle eines Vaters, der erst vor Kurzem mit seinem Sohn wieder vereint worden war, als auch für die eines Königs, der sich um die Sicherheit seines Reichs sorgte. Noch drängender, als die Ängste eines Vaters zu beruhigen, musste die möglicherweise explosive politische Lage entschärft werden. Manchmal begann und endete die Politik mit zwei Leuten. Obwohl sie Baine niemals zuvor begegnet war, hatte sie bereits einiges von ihm gehört. Sie hatte seinen Vater gekannt, respektiert und auch gemocht. Baine war zu ihr gekommen, hatte alles riskiert und darauf vertraut, dass sie ihm helfen würde. Jaina kannte Anduin sehr gut und wusste, dass, sobald der erste Schreck abgeklungen und das Misstrauen erst einmal beseitigt war, zwischen den beiden ein vernünftiges Gespräch zustande kommen würde.

Zu diesem Zweck hatte sie die Ängste der beiden gemindert und sie ermuntert, miteinander zu sprechen. Die Nachrichten, die die beiden mitbrachten, waren schrecklich. Baine hatte von der Ermordung seines Vaters durch Garrosh und Magatha berichtet und das darauffolgende Gemetzel beschrieben. Es war einer der blutigsten Putsche, von denen Jaina je gehört hatte. Anduin wusste von einer heimkehrenden Tochter zu erzählen, deren rechtmäßiger Anspruch auf den Thron nicht die Tyrannei rechtfertigte, mit der sie den Bürgern ihres Landes das Leben schwer machte.

Beide waren sie Flüchtlinge, jeder auf seine Art. Jaina hatte versprochen, ihnen Unterschlupf zu gewähren und sie zu unterstützen, so gut sie es vermochte, obwohl sie noch nicht genau wusste, wie sie das tun sollte.

Ihre Stimmen waren heiser von dem langen Gespräch, und nicht nur Jaina hatte Mühe, wach zu bleiben. Dennoch empfand sie ein gutes Gefühl bei dem, was sie hier taten. Baine hatte ihr verraten, dass seine Begleiter auf seine Rückkehr warteten. Wenn er nicht zu einem verabredeten Zeitpunkt zurückkehrte, würden sie davon ausgehen, dass er verraten worden war. Jaina öffnete ein Portal zu dem Ort, an den er zu gelangen wünschte, und er trat hindurch und ließ Anduin und Jaina allein zurück.

„Das war...“ Anduin suchte nach Worten. „Er tut mir so leid.“

„Mir auch... und vor allem all die armen Tauren auf Donnerfels und im Dorf der Bluthufe und in den anderen Orten, die angegriffen wurden. Was Thrall angeht... Ich weiß nicht, was er tun wird, wenn er diese Nachricht erfährt.“ Ihr war klar, dass es dem ehrenhaften Orc das Herz brechen würde. Letztendlich war all das nur geschehen, weil er Garrosh für die Dauer seiner Abwesenheit zum Anführer der Horde gemacht hatte. Thrall würde am Boden zerstört sein.

Sie seufzte und verdrängte diese Gedanken, wandte sich Anduin zu und drückte ihn liebevoll. Bei seiner Ankunft hatte sie das versäumt. „Ich bin so froh, dass du in Sicherheit bist!“

„Danke, Tante Jaina“, sagte er, drückte sie ebenfalls und löste sich dann aus ihrer Umarmung. „Mein Vater ... Kann ich mit ihm reden?“

„Natürlich“, sagte Jaina. „Komm mit.“

Die Wände in Jainas kleinem, gemütlichen Raum waren – wenig überraschend – von Büchern bedeckt. Sie berührte drei Bände in einer bestimmten Reihenfolge. Anduin schaute mit offenem Mund zu, wie das Bücherregal zur Seite glitt und ein schlichter ovaler Spiegel zum Vorschein kam, der an der gegenüberliegenden Wand hing. Er schloss den Mund, als er sein Spiegelbild bemerkte. Mit offen stehendem Mund sah er wirklich zu dumm aus.

Jaina schien das nicht bemerkt zu haben. Sie murmelte eine Beschwörung und bewegte die Hände. Das Spiegelbild von Anduin, Jaina und dem Raum verschwand, und an seine Stelle trat ein wirbelnder blauer Nebel.

„Ich hoffe, er ist in der Nähe“, sagte sie und runzelte die Stirn. „Varian?“

Einige Sekunden verstrichen, bevor der blaue Nebel Gestalt annahm. Anduin konnte einen braunen Haarknoten ausmachen. Die Gesichtszüge der Gestalt waren von einem helleren Blau... Eine Narbe, die über das Gesicht verlief...

„Anduin!“, schrie Varian Wrynn.

Jaina musste angesichts der Liebe und der Erleichterung in Varians Stimme und in seinem Gesichtsausdruck lächeln.

Anduin grinste. „Hallo, Vater.“

„Ich habe Gerüchte gehört... Wie bist du... Natürlich, der Ruhestein“, sagte Varian und beantwortete damit seine eigene Frage. „Jaina, ich schulde dir einen riesigen Gefallen. Du hast Anduin möglicherweise das Leben gerettet.“

„Es war seine eigene Klugheit, die ihn an den Stein erinnert hat“, entgegnete Jaina. „Ich gab ihm nur das Werkzeug an die Hand.“

„Anduin... hat diese Zwergenhexe dir etwas angetan?“ Varians dunkle Augenbrauen zogen sich zusammen. „Wenn ja, dann werde ich...“

„Nein, nein“, beeilte sich Anduin seinem Vater zu versichern. „Ich glaube auch nicht, dass sie das getan hätte. Dazu war ich ihr zu wichtig. Lass mich dir erzählen, was geschehen ist.“

Schnell und präzise berichtete er seinem Vater von den Geschehnissen in Eisenschmiede. Es waren nahezu dieselben Worte, die er bei seinem Bericht für Baine und Jaina verwendet hatte. Nicht zum ersten Mal bewunderte Jaina den kühlen Kopf auf den Schultern des jungen Mannes, vor allem, da er – und auch sie – mit sehr wenig Schlaf auskamen, und das unter den gegebenen Umständen.

„Du siehst also, ihr Anspruch ist legitim“, schloss Anduin.

„Nicht jedoch der auf den Kaiserthron “, gab Varian zurück.

„Nun, das stimmt, aber sie ist die Prinzessin von Eisenschmiede und wird Königin, sobald die offizielle Krönung stattgefunden hat. Sie müsste... ihre Untertanen gar nicht einsperren.“

„Nein“, antwortete der König, „das müsste sie tatsächlich nicht.“ Sein Blick huschte zu Jaina. „Jaina, ich werde nicht bekannt geben, dass Anduin erfolgreich entkommen ist. Soll Moira ruhig noch eine Weile schmoren. Aus diesem Grund muss ich dich um einen Gefallen bitten.“

„Natürlich kann Anduin hierbleiben“, antwortete Jaina, noch bevor Varian eine entsprechende Frage hatte stellen können. „Niemand weiß, dass er hier ist, und die wenigen, die ihn bei mir gesehen haben, sind absolut vertrauenswürdig. Wann immer du es wünschst, kann er nach Hause zurückkehren.“

Anduin nickte. Er hatte diese Entscheidung erwartet, aber Jaina bemerkte dennoch seine Enttäuschung. Sie konnte es ihm nicht verübeln. Jeder andere in seiner Position hätte nach Hause zurückkehren wollen, um mit alldem nichts mehr zu tun haben zu müssen.

„Danke“, sagte Varian. „Natürlich werde ich weiterhin öffentlich so verwirrt tun, wie Moira es erwartet.“

„Ich auch. Wir lassen sie denken, dass sie ihren Putsch erfolgreich verbergen konnte. Und in der Zwischenzeit...“

„Keine Angst.“ Varian lächelte kalt. „Ich habe einen Plan.“

Mit diesen Worten verschwand er. Jaina blinzelte überrascht.

„Er schien wütend zu sein“, sagte Anduin ruhig.

„Nun, das ist er ganz sicher. Auch ich war wütend, als ich von der Gefahr hörte, in der du dich befandest. Varian ist schließlich dein Vater.“

Anduin seufzte. „Ich wünschte, ich könnte mehr tun, um dem Volk von Eisenschmiede oder den Tauren zu helfen.“

Jaina widerstand dem Drang, ihm durchs Haar zu fahren. Anduin war kein Kind mehr, und obwohl er sicherlich zu höflich war, um sich dagegen zu sträuben, würde er diese Geste wohl nicht sehr schätzen. Sie begnügte sich damit, ihm zuversichtlich zuzulächeln.

„Anduin, ich bin mir sicher, du wirst einen Weg finden.“


Anduin war gleichermaßen überrascht wie erfreut, als er erfuhr, dass Baine Bluthuf um seine Anwesenheit bei dem nächsten Treffen mit Jaina gebeten hatte. Obwohl der Wohnraum, in dem sie am vergangenen Abend miteinander gesprochen hatten, ein merkwürdiger Ort für solch bedeutsame Verhandlungen war, hatte Anduin nichts dagegen, als Jaina ihn erneut als Versammlungsort vorschlug. Auch Baine hatte keinerlei Einwände, wenn es auch offensichtlich war, dass der Raum für seinen massigen Körper viel zu klein war. Anduin fragte sich, ob auch Baine die Behaglichkeit des Raums gespürt hatte, in dem sich Jaina an kalten, regnerischen Tagen mit ihren Freunden traf, um die Kälte mit munterer Konversation, heißem Tee und wohlschmeckenden Keksen vergessen zu machen. Vielleicht hatte sich etwas von der guten Laune hier erhalten und wurde von Baine wahrgenommen.

Es ist eine merkwürdige Art, Verhandlungen zu führen, dachte Anduin und erinnerte sich an das Treffen in Theramore, das nun schon so lange zurücklag. Hier gab es keine förmlichen Erklärungen, keine Waffen, die man ablegen musste, keine Wachen. Nur drei Leute.

Diese Vorstellung gefiel ihm.

Baine und Jaina hatten bereits Platz genommen, als Anduin zu ihnen stieß. Auf ihn wirkte der Taure ein wenig ruhiger, jedoch auch trauriger als bei ihrem Treffen am Tag zuvor. Anduin grüßte Baine höflich und herzlich und verneigte sich vor ihm wie vor einem Gleichgestellten. Baine erwies ihm ebenfalls seinen Respekt, indem er seine Brust und seine Stirn berührte. Anduin lächelte. Es war ein unbeholfenes Lächeln, doch als er Baine ansah, gewann es an Sicherheit.

Baine, Jaina und Anduin saßen wieder auf dem Boden. Anduins Rücken war dem Feuer zugewandt, und er genoss die behagliche Wärme. Jaina brachte ein Tablett mit Tee herbei und stellte es in ihre Mitte. Dieses Mal, fiel Anduin auf, hielt sie einen übergroßen Becher für ihren Gast bereit.

Baine bemerkte das ebenfalls und machte ein sanftes, schnaubendes Geräusch. „Danke, Lady Jaina“, sagte er. „Ich sehe, die Details entgehen Euch nicht. Thrall tat wohl daran, Euch zu vertrauen, denke ich.“

„Danke, Baine“, gab Jaina zurück. „Thralls Vertrauen bedeutet mir sehr viel. Ich würde es nie aufs Spiel setzen... oder Eures.“

Baine nahm einen Schluck aus dem Becher, der, auch wenn er außergewöhnlich groß war, in seinen Händen winzig schien. Er starrte einen Moment lang in den Becher. „Einige der Verlassenen können aus Teeblättern lesen“, sagte er. „Ist Euch diese Kunst vertraut, Lady Jaina?“

Jaina schüttelte den Kopf. „Nein, das ist sie nicht“, erwiderte sie. „Aber mir wurde gesagt, dass gebrauchte Teeblätter sich gut für den Kompost eignen.“

Es war ein schwacher Scherz, doch alle drei lachten herzlich. „Das ist ebenso gut. Ich brauche kein Orakel, das mir sagt, was mir die Zukunft bringt. Vielmehr habe ich nachgedacht und um Weisung durch die Erdenmutter gebetet. Ich habe sie gebeten, mein Herz zu leiten, das voller Schmerz und Wut ist.“

„Was sagt Euch Euer Herz?“, fragte Jaina leise.

Baine blickte sie mit seinen ruhigen braunen Augen an. „Mein Vater wurde mir durch Verrat genommen, und mein Herz schreit nach Rache für diese verabscheuungswürdige Tat.“ Seine Stimme klang fest, beinahe schon monoton, aber dennoch schreckte Anduin instinktiv zurück. Baine war niemand, dessen Rache er herausfordern wollte.

„Mein Herz sagt: Sie nahmen ihn dir, also nimm ihnen das Leben. Nimm den Grimmtotems das Leben, die mitten in der Nacht in die friedliche Stadt ihres eigenen Volkes eingedrungen sind und ihre Opfer erstickten oder erstachen. Opfer, die zu fest schliefen oder zu überrascht waren, um sich zur Wehr setzen zu können. Nimm ihrer Matriarchin das Leben, die Garroshs Klinge vergiftete, statt sie mit heiligem Öl zu salben. Nimm dem arroganten Narren das Leben, der es gewagt hat, gegen meinen Vater anzutreten, und nur gewinnen konnte, indem er sich erniedrigte...“

Baine erhob die Stimme, und die Ruhe in seinen Augen wich der zunehmenden Wut. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, die so groß waren wie Anduins Kopf, und sein Schwanz peitschte unruhig hin und her. Abrupt unterbrach er sich mitten im Satz und atmete tief durch.

„Wie Ihr seht, ist mein Herz jetzt gerade nicht sehr weise. Aber in einem Punkt gebe ich ihm recht: Ich muss das Land meines Volkes zurückerobern – Donnerfels, das Dorf der Bluthufe, den Sonnenfels, Camp Mojache und alle anderen Dörfer und Außenposten, die von den Grimmtotems angegriffen wurden und wo unschuldiges Blut vergossen wurde.“

Anduin merkte, dass er zustimmend nickte. Er war aus vielen Gründen vollkommen einer Meinung mit Baine. Die Grimmtotems sollten für ihre Gewalt und ihre Grausamkeit nicht auch noch belohnt werden. Baine würde ein besserer Anführer sein als Magatha. Zudem bestand nur mit dem jungen Tauren als Anführer seines Volkes Hoffnung auf einen Friedensschluss mit der Allianz.

„Ich glaube auch, dass das richtig ist“, sagte Jaina, aber Anduin bemerkte die Zurückhaltung und die Vorsicht in ihrer Stimme. Er wusste, dass sie sich fragte, was genau Baine vorhatte und worin ihr Beitrag bestehen sollte. Sie musste gewillt sein, auf ihre eigene Art zu helfen, denn sonst hätte sie Baine nicht einmal gestattet, mit ihr zu sprechen. Er schwieg und ließ Baine fortfahren.

„Doch da ist etwas, das ich nicht tun kann, nicht tun darf, auch wenn mein Herz es will. Ich kann es nicht tun, weil ich weiß, dass mein Vater es nicht gutgeheißen hätte, und ich muss seine Wünsche ehren, das, wofür er gekämpft und dem er sein Leben geweiht hat. Meine Gefühle sind unwichtig.“ Baine seufzte schwer. „Sosehr ich es auch will... ich darf Garrosh Höllschrei nicht angreifen.“

Jaina entspannte sich merklich.

„Garrosh ist von meinem Kriegshäuptling Thrall ernannt worden. Mein Vater schwor Thrall Loyalität, ebenso wie ich, und glaubte in seinem Herzen, dass Garrosh verantwortlich für den Angriff auf die Schildwachen vom Eschental war und wohl auch für den Überfall auf die friedliche Zusammenkunft der Druiden. Deshalb veranstaltete er ja das Mak’gora gegen Garrosh, zum Besten der Horde. Er stand sogar noch zu seiner Herausforderung, als Garrosh die Regeln änderte und das Mak’gora so zu einem Kampf auf Leben und Tod machte. In dieser Situation tat er das Richtige und ließ sich nicht von Wut, Hass oder Rache leiten.“

Baines Stimme brach. „Seine Motive waren die Liebe zur Horde und das Verlangen, sie in Sicherheit zu wissen. Er war gewillt, sein Leben für sie aufs Spiel zu setzen, und er hat es für sie verloren.“

Anduin sprudelten die Worte aus dem Mund, bevor er sie aufhalten konnte. „Aber niemand würde Euch das Recht auf Rache abstreiten. Vor allem, wenn Ihr beweisen könnt, dass Garrosh Magatha die Klinge vergiften ließ! Der Angriff auf die Druiden...“

Jaina war mit Anduins Einwurf nicht einverstanden, und Baine schien erschreckt. Er schwang seinen großen Kopf herum und blickte Anduin an.

„Ja, aber was Ihr nicht versteht – und vielleicht auch Ihr nicht, Jaina –, ist, dass mein Vater die Herausforderung zum Mak’gora aussprach. Der Ausgang des Kampfes beendet die Sache ein für alle Mal. Die Erdenmutter hat gesprochen.“

„Aber Garrosh hat doch betrogen...“

„Wir haben zwar den Beweis dafür, dass Magatha die Klinge vergiftet hat, aber wir können nicht beweisen, dass Garrosh davon wusste. Im Herzen meines Vaters gab es keinen Zweifel. Aber in meinem Herzen sind Zweifel. Wenn ich ihn herausfordere ohne die absolute Sicherheit, dass ich recht habe, ignoriere ich die uralten Traditionen meines Volkes. Wenn ich sage, dass mir diese Gesetze nicht gefallen und ich ihnen nicht gehorche, dann verleugne ich die Erdenmutter. Was macht das aus mir, junger Anduin?“

Anduin nickte bedächtig. „Ihr könnt nicht behaupten, das Mak’gora sei ein gerechter Weg, um Recht von Unrecht zu scheiden, und es dann später als ungerecht bezeichnen, weil Euch der Ausgang des Kampfes nicht gefallen hat.“

Baine schnaubte zustimmend. „Ihr versteht es, sehr gut. Mein Vater forderte Garrosh heraus in dem Versuch, der Horde zu helfen. Doch wenn ich das tue, werde ich sie auseinanderreißen. Ich würde die Lebensart der Tauren zerstören, alles, wofür sie gekämpft haben, und das in dem fehlgeleiteten Versuch, eben sie zu retten. Dafür hat Cairne Bluthuf sein Leben nicht gegeben. Also werde ich es nicht tun.“

Anduin spürte, wie ein Schauder seinen Rücken hinablief. Er wusste, was zahllose Menschen und auch andere Völker der Allianz von den Tauren und der Horde hielten. Oft genug hatte er gehört, wie es geflüstert wurde und manchmal sogar gebrüllt. Monster wurden die Mitglieder der Horde genannt. Für viele waren die Tauren kaum mehr als gewöhnliche Tiere. Doch Anduin wusste, dass er in der zugegebenermaßen kurzen Zeit, die er auf dieser Welt war, nie zuvor eine solche Rechtschaffenheit in einer schwierigen Situation erlebt hatte.

Ihm war klar, dass Baine mit dieser Entscheidung nicht völlig im Reinen war. Der Taure wusste, was richtig war, aber er wollte es nicht tun. Anduin erkannte, woher diese Erkenntnis stammte, dass Baine auch nicht glaubte, dass er es konnte.

Baine glaubte nicht, dass er ein ähnlich großer Taure sein könnte, wie sein Vater es gewesen war. Hinter seinen Worten, die offensichtlich das Resultat schmerzhafter Überlegungen waren, lauerte die Angst zu versagen.

Anduin wusste nur zu gut, wie es war, im Schatten eines mächtigen Vaters leben zu müssen. Es war für jedermann, der Augen und Ohren hatte, offensichtlich, dass Baine und Cairne sich sehr nahegestanden hatten. Anduin spürte, wie bei dieser Erkenntnis Neid in ihm aufstieg. Gegenwärtig stand er Varian nicht gerade besonders nahe, obwohl das einmal anders gewesen war. Er sehnte sich nach diesen Zeiten zurück. Wie würde er sich fühlen, wenn sein Vater ihm so brutal und überraschend genommen würde? Wie hatte sich Varian gefühlt, als dessen Vater ermordet worden war? Was hätte sein Vater getan, wenn er nicht über die Weisheit von Anduins Namensvetter Anduin Lothar verfügt hätte?

Wäre Anduin in der Lage gewesen, diesen Schmerz zu empfinden – den Baine ganz sicher nicht vortäuschte –, hätte er dann immer noch den Weg gewählt, der für sein Volk der beste war? Oder hätte er vielmehr seinen eigenen Wünschen nachgegeben?

„Ich bin gleich wieder da“, sagte Anduin plötzlich. Er erhob sich, verneigte sich und spürte Jainas und Baines neugierige Blicke auf sich ruhen, als er zu dem Raum rannte, den Jaina ihm zur Verfügung gestellt hatte. Unter dem Bett lag das Bündel, das er mitgebracht hatte, als er mit Hilfe des Ruhesteins aus Eisenschmiede und Moiras goldenem Käfig geflohen war. Hastig griff er danach und eilte zu Jaina und Baine zurück. Jaina hatte eine schmale Furche zwischen den Brauen, die Anduin verriet, dass sie über sein Verhalten ein wenig verärgert war. Er setzte sich wieder, griff in den Beutel und holte den in Stoff eingeschlagenen Gegenstand hervor.

„Baine... ich weiß nicht... Vielleicht ist das ein wenig zu forsch von mir, und ich weiß wirklich nicht, ob es Euch interessiert, was ich denke, aber... ich möchte, dass Ihr versteht, warum ich diesen Weg wähle. Und ich glaube, es ist der richtige.“

Baine kniff seine Augen zusammen, unterbrach ihn jedoch nicht.

„Doch... mir scheint es so...“ Anduin suchte nach Worten, und die Röte in seinem Gesicht nahm zu. Er wurde von einem Impuls geleitet, den er nicht verstand, und er hoffte, er würde es nicht bereuen. Er atmete tief ein.

„Ich habe den Eindruck, dass Ihr selbst nicht glaubt, dass der gewählte Weg der richtige ist. Dass Ihr Euch sorgt, dass... Ihr nicht fähig sein könntet, ihn zu gehen. Dass Ihr bezweifelt, der beste Anführer Eures Volkes sein zu können, wie es Euer Vater war.“

„Anduin...“

Jainas Stimme war scharf und enthielt eine unmissverständliche Warnung.

Baine hielt eine Hand hoch. „Nein, Lady Jaina. Lasst ihn ausreden.“ Sein Blick bohrte sich in Anduins blaue Augen.

„Aber... ich glaube, dass Cairne Bluthuf sehr stolz darauf wäre, was Ihr hier heute Abend gesagt habt. Ihr seid wie ich: Wir wurden geboren, um dereinst unsere Völker anzuführen. Darum haben wir nicht gebeten, und jeder, der glaubt, dass unser Leben leicht und angenehm ist... weiß nicht, was das für uns bedeutet. Jemand glaubte einst an mich und gab mir dies hier.“

Er packte den Gegenstand aus und legte ihn in seinen Schoß. Furchtbrecher fing das Licht des Feuers ein und funkelte hell. Anduin strich über die alte Waffe, während er sprach. Seine Hand wollte sich um sie legen, doch er widerstand diesem Wunsch.

„König Magni Bronzebart gab mir dies in der Nacht vor... vor dem Ritual, bei dem er den Tod fand. Es ist eine alte Waffe namens Furchtbrecher. Wir reden über Verpflichtungen, und manchmal sind die Dinge, die von uns erwartet werden, nicht das, was wir wirklich tun möchten.“ Er blickte Baine an. „Ich glaube, die Tauren sind wütend und auf Rache aus. Einige werden nicht glücklich darüber sein, dass Ihr nicht auch nach Rache dürstet. Doch Ihr wisst, dass Ihr auf dem richtigen Weg seid – für Euch und auch für sie. Zwar wissen sie es jetzt noch nicht, doch eines Tages werden sie es verstehen.“

Er hob Furchtbrecher in die Höhe und umfasste den Stab behutsam mit beiden Händen. Magnis Worte fielen ihm wieder ein: Er hat schon Blut geschmeckt, und in manchen Händen, so ist es überliefert, hat er auch schon Blutungen gestillt. Hier, nimm ihn. Halte ihn in der Hand. Sehen wir, ob der Stab dich mag.

Er wollte die Erinnerung an Magni nicht loslassen. Wenn jemals eine Sache für jemanden gemacht wurde, dann diese Waffe für dich, hatte der König gesagt.

Doch Anduin war sich dessen nicht so sicher. Vielleicht war Furchtbrecher ihm nur für eine kurze Zeit bestimmt gewesen. Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.

Er gab Baine die Waffe. „Hier, nehmt ihn. Haltet ihn und lasst uns... lasst uns sehen, ob er Euch mag.“

Baine war verwirrt, tat jedoch, wie ihm geheißen. Der Stab war zu groß für Anduin, aber dennoch wirkte er in Baines riesigen Händen klein. Baine betrachtete die Waffe und seufzte, stieß den Atem aus und entspannte sich. Anduin lächelte sanft, als er dies sah.

Einige Sekunden später begann Furchtbrecher hell zu leuchten.

„Er mag Euch wirklich“, sagte Anduin leise und spürte ein vages Gefühl des Verlustes. Er hatte nicht einmal die Chance gehabt, die Waffe zu führen, bevor sie weitergegeben werden wollte. Doch zugleich verspürte er kein Bedauern darüber, was getan werden musste. Aus einem Grund, den Anduin nicht verstand – und vielleicht niemals verstehen würde –, hatte das Licht Baine erwählt, so wie es einst ihn erwählt hatte.

„Der Stab glaubt auch, dass Ihr die richtige Entscheidung getroffen habt. Er hat Vertrauen in Euch... so wie ich und so wie Jaina. Bitte nehmt ihn. Ich glaube, er wurde mir nur anvertraut, um ihn Euch hier und heute zu übergeben.“

Einen Moment lang verharrte Baine bewegungslos. Dann jedoch legten sich seine langen Finger um Furchtbrecher.

Anduin spürte das Licht sanft in seiner Brust und in seinem Herzen kitzeln. Immer noch unsicher, hob er die Hand. Der Stab leuchtete grell, und plötzlich war Baine in ein sanftes Licht getaucht, das ebenso schnell verschwand, wie es gekommen war. Baines Augen weiteten sich. Er atmete tief ein und verfiel vor Anduins Augen in eine tiefe Ruhe.

Jetzt erkannte Anduin das Gefühl, nur dass es dieses Mal von ihm ausging, um Baine zu beruhigen: Baine fühlte denselben Frieden, den Anduin verspürt hatte, als Rohan ihm mit einem Segen gegen seine Angst geholfen hatte. Baine hob den Kopf.

„Es ist eine große Ehre, die Ihr, Anduin und Magni Bronzebart mir zuteilwerden lasst. Seid versichert, dass ich das sehr zu schätzen weiß.“

Anduin lächelte. Jaina blickte mit großen Augen ehrfürchtig von Baine zu Anduin und wieder zurück. Ein sanftes, zustimmendes Lächeln umspielte ihre Lippen.

Der Taure blickte auf die leuchtende Waffe. „Licht“, sagte er. „Mein Volk glaubt nicht, dass die Dunkelheit böse ist, Anduin. Sie ist natürlich und deshalb richtig. Aber auch wir haben unser eigenes Licht. Wir ehren die Augen der Erdenmutter, die Sonne und den Mond – An’she und Mu’sha. Keines ist besser als das andere. In dieser Waffe spüre ich eine Seelenverwandtschaft mit ihnen, selbst wenn sie aus einer Kultur stammt, die so völlig anders als die meine ist.“

Anduin lächelte sanft. „Licht ist Licht, egal welcher Quelle es entstammt“, stimmte er zu.

„Ich wünschte, ich hätte etwas Vergleichbares, dass ich Euch schenken könnte“, sagte Baine. „Es gibt sicherlich ehrenvolle Waffen, die in meiner Familie weitergegeben wurden, aber die befinden sich zurzeit leider nicht in meinem Besitz. Das Einzige, das ich Euch geben kann, ist der Rat, den mein Vater mir einmal gegeben hat. Unser Volk bestand einst aus Nomaden. Erst in den vergangenen Jahren haben wir unsere Wanderung aufgegeben und uns in Mulgore niedergelassen. Es war eine Herausforderung, aber wir schufen Dörfer und Städte des Friedens, der Stille und der Schönheit. Wir veränderten die Orte, an denen wir lebten, in unserem Sinne. Sie kennzeichnet, wer und was wir sind. Und genau das will ich wieder erreichen. Mein Vater sagte einst, Zerstörung sei leicht. Seht, welchen Schaden die Grimmtotems in nur einer Nacht anrichten konnten. Aber etwas zu erschaffen, das Bestand hat, das, so sagte mein Vater, ist eine Herausforderung. Ich werde mein Leben dem Ziel widmen, all das, was er erschuf – Donnerfels und alle anderen Dörfer, den Frieden zwischen den Mitgliedern der Horde – zu erhalten, auf dass sich das nie wieder ändern möge.“

Anduin spürte, wie sein Herz anschwoll und er sich bei diesen Worten beruhigte. Es war tatsächlich eine Herausforderung, aber er wusste, dass Baine, Sohn des Cairne, dieser Aufgabe gewachsen war.

„Was hat Euer Vater denn noch gesagt?“, fragte er. So, wie sein Sohn ihn beschrieb, schien Cairne sehr weise gewesen zu sein, und er wollte mehr über ihn erfahren.

Baine schnaubte leise vor Lachen, das warm und ehrlich klang. Doch gleichzeitig lag Schmerz darin, denn die Erinnerung an den Tod seines Vaters war noch allzu frisch.

„Iss dein Gemüse.“

28

Die Grimmtotems waren mächtig und sehr gut ausgebildet. Während andere Tauren in ihrer Kindheit lernten, in Harmonie mit der Natur zu leben und die Große Jagd zu erforschen, wurde den Grimmtotems beigebracht, wie man kämpfte. Sie lernten, schnell und effektiv zu töten – mit den Händen, ihren Hörnern und jedem anderen Gegenstand, der als Waffe dienen konnte. Kam es zum Kampf, standen die Siegeschancen für die Grimmtotems stets gut. Sie kämpften nicht ehrenhaft, sie kämpften, um zu gewinnen. Doch ihre Anzahl war nicht unerschöpflich und Magatha konnte nur eine bestimmte Anzahl von Orten ins Visier nehmen. Sie hatte sich darauf konzentriert, die Hauptstadt zu zerstören, von der aus Cairne regiert hatte. Sie lag im Herzen von Mulgore, dem einzigen Ort, dem die Tauren sich als „Heimat“ verbunden fühlten. Ihr zweites Ziel hatte darin bestanden, Cairnes Sohn Baine zu töten. Das erste Ziel hatte sie erreicht. Als die Sonne aufging, lagen Hunderte Leichen in und um Donnerfels herum. Die Grimmtotems hatten bei ihrem Angriff zwei Strategien verfolgt: Zum einen wurden all diejenigen ermordet, die hohe Positionen innehatten, damit sie sich den Grimmtotems nicht entgegenstellen konnten. Zum anderen wurde größtmöglicher Terror unter den Tauren verbreitet, und jeder, der eine Waffe gegen die Grimmtotems erhob, wurde getötet.

Die Toten lagen steif in ihrem geronnenen Blut, darunter viele, die lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren. Doch diese Toten waren auch ein mächtiges Instrument, um Angst zu schüren. Magatha und die Grimmtotems hielten Donnerfels sowie sämtliche Ressourcen der Stadt und hatten Geiseln in ihrer Gewalt, die bei möglichen Verhandlungen ein wichtiges Pfand darstellten. Die letzten Angriffe, der Tod Cairnes und das Verschwinden seines Sohnes hatten die Tauren zutiefst erschüttert. Sie war sich sicher, dass die Tauren sie in dem verzweifelten Versuch, die Normalität wiederherzustellen, als Anführerin akzeptieren würden.

Baine dagegen war durch Magathas Netz geschlüpft, und ein Spion hatte sie über Sturmlieds Verrat informiert. In Cairne Bluthufs Hütte sitzend, kochte sie vor Wut. Sie hatte Sturmlied natürlich auf die Liste der zu Ermordenden gesetzt, gab sich jedoch nicht der Hoffnung hin, dass er bald in ihre Fänge geriet. Zweifellos war er bei dem Heuchler, wie sie Baine nun nannte, und hatte andere ermutigt, ihn zu begleiten. Sturmlied würde mit Baine sterben, wenn dieser erst einmal gefunden war.

Wie sie es vorhergesehen hatte – denn Magatha war alles andere als eine Närrin –, hatten die Tauren in abgelegeneren Gebieten wie Feralas und natürlich der Druidenhochburg, der Mondlichtung, ihre Rebellion begonnen. Boten von anderen Stämmen hatten die Nachricht von ihrem Widerstand überbracht. Die Ärmsten sahen nun stoisch ihrer Exekution als Strafe für das Überbringen schlechter Nachrichten entgegen, was Magatha zutiefst irritierte.

Es kursierte auch das Gerücht, der Heuchler halte sich auf der Mondlichtung versteckt und habe ein Abkommen mit der Allianz getroffen im Austausch für die Zusicherung freien Handels, sobald Donnerfels zurückerobert war. Auch wurde gemunkelt, er habe die Macht der Erdenmutter selbst hinter sich und seine Schamanen und Druiden seien in der Lage, Bäume in Marsch zu setzen, die auf ihrer Seite kämpften.

Bei alldem war sich Magatha einer Sache sicher: Baine versammelte Unterstützer um sich, und wenn er stark genug war, würde er sie herausfordern.

Sie war so tief in Gedanken versunken, dass Rahauro zwei Versuche benötigte, bis er endlich ihre Aufmerksamkeit erlangte. Sie schnaubte, wütend auf ihre Tagträumerei, die den Jüngeren als Anzeichen der Senilität erscheinen würde, und bemühte sich, ihre Wut nicht auf ihren treuen Diener zu lenken, sondern auf den jungen Boten, der vor ihr stand. Ihre Ohren richteten sich auf, als sie begriff, wer ihn gesandt hatte.

Sie winkte mit der Hand. „Sprich.“

„Ältestengreisin Magatha, ich komme vom Kriegshäuptling Garrosh Höllschrei.“

Ihre Augen weiteten sich. Vor zwei Tagen hatte sie eine Botschaft an Garrosh mit der Bitte um Unterstützung geschickt. Sie wusste, dass Baine eher früher als später angreifen und breite Unterstützung finden würde. Ihr Brief war voller Komplimente und Lobpreisungen darüber gewesen, wie Garrosh die Horde führte. Zudem hatte sie eine förmliche Allianz zwischen den Grimmtotems und der Horde in Aussicht gestellt für den Fall, dass Garrosh ihr Unterstützung gewährte. Sicherlich hatte er Verwendung für die... einzigartigen Methoden der Grimmtotems. Magatha hatte gehofft, eine Antwort in Form von Truppen zu erhalten, die ihr dabei helfen sollten, Donnerfels zu verteidigen. Offensichtlich hatte Garrosh jedoch einige Fragen oder wollte sie von seinen Absichten in Kenntnis setzen.

Wie auch immer, sie war über die schnelle Antwort erfreut. Freundlich lächelte sie den Orc an.

„Ihr seid uns willkommen, Bote. Bitte... gönnt Euch eine kleine Erfrischung. Dann lest vor, was uns Euer Herr geschrieben hat.“

Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete, während der Orc dankbar einen langen Zug aus dem Wasserschlauch nahm, etwas zu essen jedoch ablehnte. Schließlich verneigte er sich, zog ein rundes ledernes Behältnis aus seinem Beutel und entnahm ihm eine Schriftrolle. Mit klarer, lauter Stimme las er vor:

„An Magatha, die Ältestengreisin der Grimmtotems.

Der Kriegshäuptling der Horde, Garrosh Höllschrei, sendet Euch seine aufrichtigen Wünsche für einen langsamen und qualvollen Tod.“

Ein entsetztes Aufstöhnen ging durch den Raum. Magatha schwieg bewegungslos, schoss dann jedoch mit einer Geschwindigkeit, die ihr Alter Lügen strafte, hoch, schlug dem Boten mit der flachen Hand hart ins Gesicht und entriss ihm die Schriftrolle. Sie musste sie auf Armlänge von sich halten, da ihre Augen stetig schlechter wurden, und las weiter.

Es ist mir zu Ohren gekommen, dass Ihr mir meinen rechtmäßigen Sieg geraubt habt. Cairne Bluthuf war ein Held der Horde und ein ehrbares Mitglied dieses stets ehrenhaften Volkes. Mit Abscheu und Wut habe ich entdecken müssen, dass Ihr mich dazu gebracht habt, seinen Tod durch einen ruchlosen Verrat herbeizuführen.

Solche Methoden mögen bei einem abtrünnigen, ehrlosen Stamm oder dem sonstigen Abschaum der Allianz üblich sein, doch ich verachte ein derartiges Verhalten. Es war mein Wunsch, ehrlich gegen Cairne zu kämpfen und zu gewinnen oder zu verlieren. Nun werde ich niemals erfahren, wer der Stärkere von uns beiden war, und der Ruf des Verräters wird meinen Schritten folgen bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich Euren Kopf auf einer Lanze präsentiere und Euch als die wahre Verräterin entlarve.

Ich werde meine treuen Orcs nicht ausschicken, damit sie mit Eurem verräterischen, kriecherischen Stamm zusammen in den Kampf ziehen. Euer Sieg oder Eure Niederlage liegt nun in den Händen der Erdenmutter. Wie auch immer, ich freue mich darauf, von Eurem, Tod zu hören.

Ihr seid nun allein, Magatha, ohne jeden Freund und so verhasst, wie Ihr es schon immer wart. Genießt Eure Einsamkeit.

Ihre Hand hatte bereits zu zittern begonnen, als sie erst die Hälfte des Briefes gelesen hatte. Nachdem sie die Lektüre beendet hatte, warf sie den Kopf zurück, brüllte rasend vor Wut und stieß ihre Hand vor sich. Ein Blitz schoss vom Himmel herab, krachte durch das reetgedeckte Dach und erschlug den Boten.

Der beißende Geruch von brennendem Fleisch erfüllte den Raum. Jeder der Anwesenden starrte auf den grünen Leichnam, aus dessen verkohlter Brust Rauch aufstieg, bis zwei Krieger ihn aufhoben und hinaustrugen, ohne einen entsprechenden Befehl erhalten zu haben.

Magatha atmete schwer und schnaubte wütend. Ihre Fäuste waren geballt.

„Ältestengreisin?“ Rahauros Stimme klang vorsichtig. Selten hatte er seine Herrin so zornig gesehen.

Nur mit Mühe gelang es Magatha, sich wieder unter Kontrolle zu bringen. „Wie es scheint, verweigert Garrosh Höllschrei den Grimmtotems jegliche Hilfe.“ Sie würde ihre Stammesbrüder nicht mit den wüsten Beleidigungen beschämen, mit denen Garrosh seine Botschaft so großzügig ausgeschmückt hatte.

„Dann sind wir auf uns allein gestellt?“ Rahauro schien leicht besorgt.

„Das sind wir, so, wie wir es immer waren. Sorgt Euch nicht, Rahauro. Ich habe auch diese Möglichkeit berücksichtigt.“

Tatsächlich hatte sie das jedoch keineswegs. Sie war überzeugt gewesen, der junge Höllschrei sei auch weiterhin leicht zu lenken. Diese dämliche „Ehre“, von der die Orcs – und um der Wahrheit Genüge zu tun, auch ihr eigenes Volk – so besessen waren, war wie eine Schlange, die im Gras lauerte. Immer bereit zuzubeißen, wenn man es am wenigsten erwartete. Dummerweise hatten die Kor’kron Blutschrei so schnell geborgen, dass sie keine Möglichkeit mehr gehabt hatte, das Gift von der Klinge zu wischen.

Sie musste nur Baine Bluthuf töten, um die Ordnung in Mulgore wiederherzustellen. Die Tauren würden sich beruhigen und sie als ihre neue Anführerin akzeptieren. Und dann, aus einer Position der Stärke heraus, würde sie sehen, ob Garrosh Höllschrei nicht doch bereit war, seine Ansichten zu ändern.

In der Zwischenzeit würde sie sich auf den unausweichlichen Angriff des Heuchlers vorbereiten müssen.


Eine kühle Meeresbrise wehte durch den Raum, der über Jazziks Gemischtwarenladen lag. Der Taure, der nervös auf und ab ging und dessen schwarzes Fell mit den weißen Markierungen ihn eindeutig als Grimmtotem auswies, war froh darüber. Er war hierher bestellt worden.

„Ah, Ihr habt es geschafft, gut“, erklang eine Stimme hinter ihm. Der Taure wandte sich um und nickte Gazlowe zu, dem Anführer der Goblins von Ratschet. Gazlowe winkte ihm grüßend zu. „Keine Angst. Dies ist meine Stadt. Solange Ihr hier seid, geschieht Euch nichts. Ich weiß, dass Euer Anführer mir ein Angebot machen will.“

Der Grimmtotem nickte. „In der Tat.“

Gazlowe wies auf einen Tisch und zwei Stühle. Der Taure setzte sich, vorsichtig zuerst, dann ein wenig zuversichtlicher, als er sicher war, dass der Stuhl unter seinem Gewicht nicht zusammenbrechen würde.

„Wir brauchen verschiedene Dinge.“

Gazlowe holte seine Pfeife und einen kleinen Beutel mit Kräutern aus der Tasche. Während er die Pfeife stopfte, sprach er weiter. „Ich kann Euch fast alles besorgen, jedoch nicht umsonst. Das hat keine persönlichen, sondern rein geschäftliche Gründe, versteht Ihr?“

Der Taure nickte. „Ich bin bereit, für Eure Dienste zu zahlen. Hier ist unsere Liste.“ Er schob eine kleine Pergamentrolle über den Tisch. Gazlowe beendete das Stopfen der Pfeife und entzündete sie, bevor er seine grüne Hand ausstreckte, das Pergament zu sich heranzog und es entrollte. Seine Augen weiteten sich.

Wie viele Bomben?“

„Ihr könnt lesen, Freund Goblin.“

„Ich dachte, dass da eine Null zu viel steht. Oder vielleicht sogar zwei Nullen.“ Seine Lippen schmiegten sich um den Pfeifenstiel. „Ui, ui! Sieht so aus, als könnte ich mir ein weiteres Schiff leisten. Vielleicht sogar eine weitere Stadt.“ Sein Blick suchte den des Grimmtotems. „Ihr seid Euch sicher, dass Ihr das bezahlen könnt?“

Statt einer Antwort löste der Taure einen Beutel von seinem Gürtel. Er war größer als seine riesige Faust und klirrte verheißungsvoll, als er auf dem Tisch landete. „Zählt ruhig nach. Mir wurde gesagt, es sei ein fairer Betrag.“

„Selbst wenn ich Euch einen guten Preis mache, wäre das ein kleines Vermögen“, entgegnete Gazlowe. Er öffnete den Beutel. Die Nachmittagssonne ließ das Gold verführerisch glitzern. „Da soll mich doch...“

„Könnt Ihr mir sämtliche Dinge auf der Liste besorgen?“

Gazlowe kratzte sich am Kopf. Er war offensichtlich hin- und hergerissen zwischen einer ehrlichen Antwort und einer, die er zu geben bereit war. „Vielleicht“, sagte er nach einem Moment, zog erneut an seiner Pfeife und blies den Rauch aus seiner großen Hakennase. „Vielleicht.“

„Binnen weniger Tage.“

Gazlowe hustete, wobei der Rauch in kurzen Stößen aus seinem Mund entwich. „Was?“

Der Grimmtotem zog einen zweiten Beutel hervor, der zwar nicht ganz so groß war wie der erste, aber doch einen recht ansehnlichen Umfang hatte. „Mein... Anführer weiß, dass für eine rasche Lieferung extra gezahlt werden muss.“

Der Goblin pfiff leise. „Euer Anführer ist schlau“, sagte er. Erneut betrachtete er die Liste und seufzte. „Es wird hart werden, aber... ja. Ja, ich kann Euch all das besorgen.“ Er zögerte. Der Grimmtotem saß geduldig auf der anderen Seite des Tisches, aber er wusste, dass im Kopf des Goblins ein Krieg tobte.

Mit einem Seufzen, das tief und gequält klang, zog Gazlowe eine Faustvoll Münzen aus dem zweiten Beutel und schob ihn dann wieder zurück. Der Grimmtotem blickte ihn verwirrt an. Ein Goblin, der das Geld nicht nahm, das ihm freiwillig angeboten wurde?

„Hört mir zu“, sagte Gazlowe. „Erzählt das bitte nicht weiter, aber... ich... ahm... unterstütze Eure Aktion.“

Der Taure blinzelte. „Das... das freut mich.“

Gazlowe nickte und erhob sich. „In vier Tagen habe ich alles da. Nicht eher.“

„Einverstanden.“ Auch der Taure stand nun auf und wandte sich zum Gehen.

„Großvater?“

Der Grimmtotem wandte sich um.

„Sagt Baine, dass ich seinen Vater sehr mochte.“

Sturmlied Grimmtotem lächelte sanft. „Das werde ich.“


Die Armee war auf dem Vormarsch.

Obwohl Baine sich seiner Entscheidung, keine Rache an Garrosh Höllschrei zu üben, sicher war, würde er den Orc nicht um Hilfe bitten. Das bedeutete, dass er auf sich allein gestellt war. Glücklicherweise verbreitete sich die Geschichte von Magathas Verrat wie ein Lauffeuer. Camp Mojache war noch nicht an die Grimmtotems gefallen, und jedermann dort kämpfte verzweifelt darum, dass das so blieb. Man konnte keinen einzigen Krieger entbehren. Den Verteidigern des Freiwindpostens war es gelungen, den Angriff der Grimmtotems abzuwehren, und sie blieben den Bluthufen loyal ergeben. Jeder, der kämpfen konnte, hatte sich sofort freiwillig gemeldet, als Baine dort um Unterschlupf gebeten hatte. Mittlerweile verfügte er über zwei Dutzend gesunde Krieger und einige andere, die zwar dringend etwas Übung benötigten, deren Begeisterung und Leidenschaft das mangelnde Training jedoch mehr als wettmachten. Cairne war überall beliebt gewesen, und sein Sohn wurde respektiert und geschätzt. Es stand außer Frage, dass ein Taure, der nicht zu den Grimmtotems gehörte – oder vor ihnen in Angst lebte – sich nicht auf Baines Seite stellen würde.

Baine trug Furchtbrecher mit großem Stolz. Er hatte niemandem erklärt, wie er in den Besitz des Stabes gelangt war, da er Anduin auf keinen Fall in Gefahr bringen wollte. Die Waffe hatte seit Jahrzehnten kein Tageslicht mehr gesehen, vielleicht sogar seit Jahrhunderten. Trotz ihrer Größe würde sie nicht als Zwergenwaffe erkannt werden. Nahezu jede Waffe schien in den Händen eines Tauren klein zu sein. Wenn er nach Furchtbrecher gefragt wurde, sagte er nur: „Die Waffe wurde mir von einem Freund geschenkt, als Geste des Vertrauens und des Glaubens an meine Sache.“ Diese Erklärung schien den meisten auszureichen.

Sie zogen die Goldstraße hinauf und auf Camp Taurajo zu. Vom Sonnenfels hatte sie eine Nachricht erreicht. Die Tauren hatten dort einen Angriff zurückgeschlagen und sandten Truppen, um ihn zu treffen. Baines Armee marschierte völlig offen durch das Land und versteckte sich nicht. Jeder Grimmtotemspion, der sie zu Gesicht bekam, sollte Magatha berichten, dass sie sich nicht fürchteten. Tatsächlich wuchs ihre Zahl weiter an, als sie die feuchten Sümpfe der Düstermarschen hinter sich ließen und das trockene Brachland betraten.

Es waren nicht nur Tauren zu ihnen gestoßen, die ihre Sache unterstützen wollten. Mehrere Trolle waren unter ihnen, einige Orcs und sogar ein oder zwei der Verlassenen oder Sin’dorei. Die Verlassenen waren der Ansicht, dass sie den Tauren etwas schuldeten, da diese ihnen erlaubt hatten, der Horde beizutreten. Der Rest waren Söldner, die er dank Jaina, die ihm einen stattlichen Geldbetrag hatte zukommen lassen, hatte anheuern können. Ihre Künste würden sich, davon war Baine überzeugt, als entscheidend erweisen.

Ein Kodo erschien auf der Straße. Als er näher kam, erkannte Baine, dass Sturmlied auf dem Tier saß.

„Bringst du gute Neuigkeiten?“, fragte Baine.

„So gut wie nur eben möglich“, antwortete Sturmlied. „Gazlowe hat zugesichert, binnen vier Tagen alles, was wir brauchen, zu besorgen. Er hat nicht einmal die volle Summe angenommen. Vielmehr sagte er, ich solle Euch ausrichten, dass er Cairne stets mochte und Eure Sache unterstützt.“

„Wirklich?“ Baine blickte überrascht auf. „Eine Loyalitätserklärung von einem Goblin. Ich bin erfreut.“

Hamuul hatte mit den anderen Druiden gesprochen und trat nun vor. „Wie Ihr vorhergesagt hattet, wissen die Grimmtotems, dass wir kommen. Unsere Spione berichten, dass Donnerfels sich auf eine Belagerung vorbereitet. Die gute Nachricht ist, dass sie ihre gesamten Ressourcen und alle Krieger dort zusammenziehen und uns nicht auf der Straße angreifen werden.“

Baine nickte. „Sie glauben, Donnerfels sei unmöglich einzunehmen und der Kampf auf der Straße eine unnötige Verschwendung von Leben.“

Sturmlied schnaubte. „Ihr hättet Gazlowes Gesicht sehen sollen, als er die Liste durchlas. Die Matriarchin und ihre Anhänger werden eine große Überraschung erleben.“

Die Verstärkung vom Sonnenfels war zwar nicht sehr zahlreich, aber überraschend schnell eingetroffen. Die Krieger warteten bereits auf Baine, als er den Weg erreichte, der westwärts der südlichen Goldstraße nach Mulgore führte. Sein Herz hob sich, als er willkommen geheißen wurde und der Ruf „Baine! Baine! Baine!“ ertönte.

„Hört nur“, sagte Hamuul leise zu ihm. „Ihr bringt ihnen Hoffnung. Euer Plan ist kühn und riskant, aber das ist genau das, was zum Erfolg führen wird. Ihr habt die Beständigkeit Eures Vaters und Eure Fantasie, Baine Bluthuf, und Ihr werdet die Schlacht siegreich bestehen.“

„Ich bete darum, dass Ihr recht behaltet“, sagte Baine. „Wenn wir versagen, befürchte ich das Schlimmste für unser Volk.“


In Donnerfels, das vor kurzer Zeit noch von den lauten Siegesfeiern der Grimmtotems erfüllt gewesen war, herrschte völlige Stille. Der erste Sieg, durch Hinterlist in der Nacht errungen, war leichtgefallen. Doch nun bereiteten sich die Grimmtotems darauf vor, eine Armee abzuwehren, die von einem berühmten Anführer befehligt wurde. Es galt nicht mehr, harmlose schlafende Opfer abzuschlachten. Donnerfels eignete sich hervorragend zur Verteidigung, und die Grimmtotems konnten einer langen Belagerung standhalten. Dennoch freute Magatha sich keineswegs darauf, in der Stadt eingeschlossen zu sein.

Es war dumm gewesen von Baine, sich der Stadt so offen zu nähern. Zwar hatte er dadurch neue Anhänger gewinnen können, doch zugleich konnte der Feind die Zeit nutzen, um sich auf die Belagerung vorzubereiten. Und Magatha hatte genau das getan.

Den Donnerfels zu erklettern war nicht unmöglich, aber schwierig, und das ganz besonders für Tauren. Erschwerend kam hinzu, dass die Verteidiger der Stadt sie bereits erwarteten. Die Aufzüge waren der Schlüssel: Wenn sie verkabelt wurden, um sie auf Knopfdruck in die Luft fliegen zu lassen – eine Aufgabe, an der die Ingenieure der Grimmtotems höchstwahrscheinlich gerade arbeiteten –, blieb Baines Truppen nichts anderes übrig, als ihr Lager am Fuß des Felsens aufzuschlagen und die Stadt auszuhungern. Lief alles so ab, wie die Grimmtotems es wünschten, würde die Explosion einige von Baines Anhängern in den Tod reißen. Gegen die magischen Methoden der Infiltration wurden bereits Maßnahmen ergriffen, und die Portale waren geschlossen.

Es würde ein langes Warten werden. Die Tage der Vorbereitung, die Baine ihnen verschafft hatte, waren gut genutzt worden. Die Grimmtotems hatten eine große Menge Nahrungsmittel und andere Vorräte auf den Donnerfels geschafft, und Magatha hatte ihre Leute aus dem Dorf der Bluthufe herbeigerufen, um die Hauptstadt zu verteidigen. Je länger sie nachdachte, desto ruhiger wurde sie. Baine würde genauso geschlagen werden wie sein Vater, und ihre Herrschaft über die Tauren wäre gesichert.

Sie schlief in der Hütte, die vormals Cairne Bluthuf gehört hatte. Plötzlich wurden ihre angenehmen Träume von einem strahlend hellen Blitz unterbrochen. Der Donner ließ nicht lange auf sich warten und erschütterte die Erde. Regen fiel auf die Hütte, als Magatha von ihrem Lager aufsprang und schnaubte. Ein weiterer blendender Blitz zuckte über den Himmel. Als Schamanin und Taurenfrau waren Stürme nichts Fremdes für Magatha, doch dieser schien besonders wild zu sein. Sie schnupperte und lauschte, all ihre Sinne waren alarmiert. Vielleicht bildete sie sich das nur ein, doch sie war nicht deshalb so alt geworden, weil sie ihre Instinkte ignorierte. Rasch warf sie sich ihre Robe und einen Umhang gegen den sintflutartigen Regen über und lief ins Freie.

Magatha blinzelte, als die Regentropfen über ihr Gesicht liefen, und blickte nach oben. Der grauschwarze Himmel war mit Gewitterwolken verhangen, von denen die Sterne verdeckt wurden. Das war nichts Ungewöhnliches, hieß dieser Ort doch Donnerfels.

Beruhigt, dass es nichts anderes war als ein besonders schwerer Sturm, wollte sie schon ihre Kapuze über den Kopf streifen.

Doch dann sah sie es. Es kam aus der Deckung, die ihm die Gewitterwolken gewährt hatten. Ein violettes Flugschiff schwebte heran. Ihm folgte ein zweites und ein drittes... Sie stöhnte, als sie erkannte, was sich Donnerfels da näherte.

Zeppeline!“, schrie Magatha.

29

Kaum hatte Magatha die Worte ausgesprochen, wurden lange Taue von den Zeppelinen heruntergeworfen, und mehrere Tauren, Orcs und Trolle glitten rasch daran herunter. Die Überraschung war so gelungen, dass viele der Angreifer unbehelligt den Boden erreichen konnten, bevor die Grimmtotems mit Gewehren und Bogen auf sie feuerten.

Auf dem Boden angekommen, begann der Feind mit seinem Angriff. Drei der Angreifer gingen sofort auf Magatha los. Nun völlig wach, furchte sie die Stirn und griff in ihren Beutel, den sie stets an der Seite trug. Ihre Finger schlossen sich um eines ihrer Totems. Die Elemente antworteten sofort: Der Himmel wurde plötzlich von gezackten Blitzen erhellt, von denen mehrere wie Speere auf den Feind hinabstießen. Viele Angreifer fielen, doch in dem allgemeinen Durcheinander brachte sich ein weiterer Zeppelin in Position und lud seine gefährliche Fracht ab.

Magatha zischte und hob die Hände zum Himmel empor. Blitze krachten in einen der Zeppeline. Er fing augenblicklich Feuer. Der Brand breitete sich rasend schnell aus und verschlang das riesige Flugschiff binnen weniger Sekunden. Der Pilot schaffte es noch, den Zeppelin in einen der Flugtürme stürzen zu lassen.

Magatha fluchte. Die Wyverns waren in dem Turm gefangen und konnten nun nicht mehr eingesetzt werden. Der Goblinpilot hatte dafür gesorgt, dass sein zerstörtes Schiff doch noch einen Zweck erfüllte.

Doch sie hatte keine Zeit, lange über diesen Zwischenfall nachzudenken. Eine große Explosion erschütterte die Oberste Mesa von Donnerfeis. Der erste Zeppelin warf Bomben ab. Leichen und Körperteile flogen durch die Luft, beleuchtet vom schwachen rosafarbenen Licht des Tagesanbruchs. Rahauro packte die Matriarchin und zog sie in Sicherheit. Sie schlug wütend nach ihm und kehrte zum Ort des Kampfes zurück.

„Geht zu den Wyvern und greift aus der Luft an!“, schrie sie. „Wir haben einen der Zeppeline heruntergeholt, und jetzt holen wir uns den anderen!“

„Die... zwei anderen“, korrigierte Rahauro.


Eine große Sturmkrähe landete neben Baine. Ihre Gestalt verwandelte sich, und Hamuul sagte zu seinem Häuptling: „Wir haben einen der Zeppeline verloren. Ihre gesamte Aufmerksamkeit ist auf die Oberste Mesa konzentriert. Sturmlieds Gewitterwolke hat ihre Aufgabe bestens erfüllt.“

Baine nickte zufrieden. Die erste Welle war die schwerste gewesen. Sie hatten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite und verbreiteten heillose Angst und großen Schrecken. Magatha und ihre besten Kämpfer hatten sich nun auf die Oberste Ebene begeben und kämpften gegen mehrere Dutzend Tauren, die sich von den Zeppelinen abgeseilt hatten. Sie sollten von den langsameren, aber schwieriger aufzuhaltenden Spezialeinheiten ablenken, die im Verborgenen zu den Anhöhen der Jäger, Ältesten und Geister vordrangen. Baine ließ die Grimmtotems ihre eigene Medizin schmecken: Ein Verteidiger nach dem anderen wurde ausgeschaltet. Doch statt Schamanen, Druiden und Jäger zu ermorden, wie es die Grimmtotems getan hatten, schnitten Baines Truppen lediglich die Seile der Brücken durch, die die kleineren Anhöhen mit der Hauptebene verbanden. Einige Pfeile, Kugeln und ein wenig Zauber würden den Abgrund zwischen den Anhöhen überwinden, doch würde das nicht viel ausrichten können.

Mehrere Söldnertrolle erkletterten schnell und geübt den Fels. Die Bomben, die von den Grimmtotems vorsorglich gelegt worden waren, um genau das zu vereiteln, wurden vorsichtig entschärft.

Die Aufzüge waren wie erwartet mit Sprengladungen gesichert. Sie unschädlich zu machen, war komplizierter und dauerte länger als die Entschärfung der Bomben. Doch das Ablenkungsmanöver an der Obersten Mesa hatte seinen Zweck erfüllt, und niemand hatte daran gedacht, die Aufzüge zu sprengen.

Bis jetzt.


Die Wyvern, die den Absturz des Zeppelins in den Flugturm überlebt hatten, wurden schnell für den Flug vorbereitet und zur Bekämpfung der Zeppeline eingesetzt. Grimmtotemjäger setzten sich auf die geflügelten, löwenähnlichen Kreaturen und konnten nun die Mannschaften und die Kämpfer an Deck unter Feuer nehmen. Selbst die Druiden, die sich in Sturmkrähen verwandelt hatten und sich jetzt in den Kampf stürzten, nahmen sie ins Visier. Doch die Grimmtotems erlebten einen stürmischen Empfang, da sie mit einem Hagel aus Gewehrkugeln und Pfeilen erwartet wurden. Magatha sah, wie ein Grimmtotemjäger von einer großen gehörnten Katze angesprungen wurde, die ihre Zähne tief in die Kehle des glücklosen Tauren schlug. Der Druide und der Jäger stürzten von dem Wyvern, doch der Druide verwandelte sich in eine Sturmkrähe und fing sich wenige Meter über der Mesa ab. Der Jäger krachte hart auf den Boden und rührte sich nicht mehr.

Überall lagen Leichen herum. Es war Zeit zum Rückzug. Einige Magier der Verlassenen lebten nahe einer Höhle, in der sich mehrere kleine Seen befanden, die als die Teiche der Visionen bekannt waren Sie würde ein Portal erschaffen, durch das sie sich in Sicherheit bringen konnte. Die Rampe, die zur nächsten Mesa hinabführte, war von den Zeppelinen bombardiert worden und brannte lichterloh. Magatha vollführte eine Geste, wandte sich um und sprang zur zweiten Mesa hinab. Rahauro und mehrere andere Grimmtotems folgten ihr, ihre Waffen in der Hand haltend. Überall tobten blutige Kämpfe. Ein Schatten fiel auf Magatha, und als sie hochblickte, sah sie einen der beiden Zeppeline.

„Zu den Teichen der Visionen!“, schrie sie. „Und lasst die Bomben in den Aufzügen hochgehen. Danach kommt zu mir!“

„Sofort, Ältestengreisin, sagte Cor. Die Bomben waren seine Idee gewesen, und nun eilte er, um ihren Befehl auszuführen.

Magatha lief zu der Hütte, die zur Brücke führte. In nur wenigen Herzschlägen würde sie...

Schlitternd kam sie zum Stehen. Ihre Hufe rutschten über das abgetretene Holz. Gorm hob seine Hand gerade noch rechtzeitig, um die Matriarchin davor zu bewahren, in den Spalt zu stürzen, der vor ihr klaffte.

„Sie haben die Seile durchtrennt!“, rief er und zerrte Magatha in Sicherheit.

„Das kann ich sehen, Dummkopf!“ Sie wurde von einer Explosion unterbrochen. Magatha wandte sich zur Mesa um und sah dort Rauch aufsteigen, wo gerade noch einer der Aufzüge gewesen war. Sie lächelte. Nun war der nächste dran. Gespannt wartete sie auf das Geräusch der Explosion. Wenn der zweite Aufzug zerstört war, lag Donnerfels offiziell unter Belagerung, doch darauf hatten sie sich gut vorbereitet.

Die zweite Explosion blieb jedoch aus.

Der Aufzug erreichte die Spitze. Baine Bluthuf stürzte heraus, und zwar so schnell, dass Rahauro ihn nicht mehr abfangen konnte. Unmittelbar hinter Baine stürmten ein Bär, ein Grimmtotem und mehrere andere Krieger voran. Magatha griff nach ihrem Totem, doch noch bevor sich ihre Finger darum schließen konnten, war Baine bereits bei ihr. Er führte kein Schwert, sondern etwas, das wie ein Stab aussah, der viel zu klein für ihn zu sein schien.

Als der Stab ihre Seite traf, wurde ihr schlagartig die Luft aus den Lungen gepresst. Sie trug keine Rüstung, und der Schlag warf sie um. Schmerz durchfuhr sie, und noch bevor sie um Atem ringen konnte, war Baine Bluthuf über ihr und hielt diese sonderbare Waffe hoch. „Ergebt Euch!“, schrie er. „Ergebt Euch, Mörderin und Verräterin!“

Sie öffnete den Mund, doch kein Wort kam über ihre Lippen. Sie konnte noch immer nicht einatmen, geschweige denn sprechen. Baines braune Augen verengten sich vor... Freude? Panik durchfuhr sie, als sie erkannte, dass sie ihm mit ihrem Schweigen die Erlaubnis gegeben hatte zuzuschlagen.

„Ich... ergebe mich!“, krächzte sie. Ihre Worte waren wegen der Kampfgeräusche kaum zu verstehen.

Baine senkte den Stab. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, wie er die Faust ballte. Dann wusste sie nichts mehr.


Baine blickte über die Grimmtotems, die sie gefangen genommen hatten. Viele waren verletzt, und er hatte befohlen, ihre Wunden zu versorgen. Weiße Verbände prangten nun auf schwarzem Fell. Die Zahl der Grimmtotems war durch die wilde Schlacht deutlich verringert worden, aber sie hatten in einem ehrlichen Kampf verloren. Es war der erfolglose Versuch gewesen, die Stadt zu halten, die sie durch Verrat und Hinterlist erobert hatten. Baine bedauerte sie nicht.

Die Frage war nun, was er mit den Überlebenden machen sollte. Vor allem mit ihrer Anführerin!

Magatha war unter den Verwundeten, doch ihr Stolz schien nicht gelitten zu haben. Aufrecht und gerade wie immer stand sie da, flankiert von zwei Behütern von Donnerfels, die nach einer Entschuldigung zu suchen schienen, um sie töten zu können. Etwas in Baine teilte dieses Verlangen. Am liebsten hätte er ihr den Kopf abgeschlagen und ihn zur Warnung am Fuß des Berges auf einen Spieß gesteckt. So wie man es mit dem Kopf des Drachen gemacht hatte... Ja, gestand er sich ein, das wäre ihm eine Genugtuung.

Doch sein Vater hätte so etwas nie getan, und Baine wusste das nur zu gut.

„Mein Vater hat Euch auf Donnerfels aufgenommen, Magatha“, sagte er. Bewusst sprach er sie nicht mit ihrem Titel an. „Er hat Euch gut behandelt, war gastfreundlich, und das sogar noch, als er bereits wusste, dass Ihr etwas gegen ihn im Schilde führt.“

Ihre Augen verengten sich, und die Nüstern bebten nervös, doch ihre Wut machte es ihr unmöglich, etwas zu erwidern. Außerdem war sie zu gerissen, als dass sie sich eine Blöße gegeben hätte.

„Ihr habt ihm diese Behandlung vergolten, indem Ihr Garrosh Höllschreis Waffe vergiftet und zugesehen habt, wie mein Vater unter Schmerzen einen unehrenhaften Tod gestorben ist. Die Ehre unseres Volkes verlangt, dass ein Leben mit einem Leben vergolten oder zumindest eine Herausforderung zum Mak’gora ausgesprochen wird. Diese Herausforderung würde Euch gelten, nicht Garrosh, der nur ein ahnungsloses Werkzeug bei Eurem niederträchtigen Spiel war.“

Magatha verspannte sich kaum merklich und wartete auf die Herausforderung. Baine lächelte bitter. „Ich glaube an die Ehre, und mein Vater ist für sie gestorben. Ein Anführer muss jedoch auch etwas anderes respektieren. Er muss auch Mitleid walten lassen und wissen, was das Beste für sein Volk ist.“

Er trat vor, bis er Auge in Auge, Huf an Huf vor ihr stand und sie es war, die zurücktreten musste und die Ohren senkte.

„Ihr liebt Eure Annehmlichkeiten, Magatha Grimmtotem. Ihr liebt die Macht. Ich werde Euch Euer Leben lassen, doch Ihr werdet nichts mehr davon haben.“ Er streckte die Hand aus. Einer der Behüter von Donnerfels legte einen kleinen Beutel hinein. Magatha riss entsetzt die Augen auf, als sie ihn erkannte.

„Ihr wisst, was das ist. Es ist Euer Totembeutel.“ Baine griff in den Beutel und holte eines der kleinen geschnitzten Totems heraus. Sie verkörperten die Verbindung, die zwischen Magatha und den Elementen bestand, die sie kontrollierte. Er hielt das Totem zwischen zwei kräftigen Fingern hoch und zerbröselte es. Sie versuchte, ihren Schrecken und die Angst angesichts dieser Tat zu verbergen, jedoch gelang ihr das nicht.

„Ich glaube keinen Moment daran, dass damit Eure Verbindung zu den Elementen völlig abreißt“, sagte Baine. Dennoch zerstörte er auch ein zweites, drittes und schließlich ein viertes Totem. „Aber ich weiß, dass es den Zorn der Elemente entfachen wird. Es wird Euch einige Zeit kosten, ihre Gunst wiederzuerlangen. Zugleich werdet Ihr vor ihren Augen gedemütigt. Ich glaube, Demut ist genau das, woran es Euch mangelt. Das ist jedoch noch nicht alles, was Euch erwartet.

Ihr werdet in das karge und unwirtliche Steinkrallengebirge verbannt. Dort könnt Ihr Euch eine neue Existenz aufbauen, so gut Euch das eben gelingt. Verletzt niemanden, und niemand wird Euch verletzen. Greift an, und Ihr seid der Feind, und dann werde ich niemanden bestrafen, der Euch etwas antut. Bei einem erneutem Verrat, Magatha, werde ich Euch höchstpersönlich aufsuchen, und selbst der Geist von Cairne Bluthuf, der mich zur Ruhe drängt, wird mich dann nicht davon abhalten können, Euch den Kopf abzuschlagen. Haben wir uns verstanden?“

Sie nickte.

Baine schnaubte unwillig, zog sich zurück und betrachtete die anderen. „Es sind einige unter euch, die mit dem Blutvergießen nicht einverstanden waren, so wie Sturmlied Grimmtotem. Jeder von euch, der mir, dem Volk der Tauren und der Horde Loyalität gelobt und sich öffentlich von dem Makel distanziert, der mit dem Namen Grimmtotem verbunden ist, wird begnadigt. Den anderen sei Folgendes gesagt: Geht mit eurer sogenannten Matriarchin in die Wildnis. Teilt ihr Schicksal und betet, dass ihr mein Gesicht niemals wiedersehen müsst.“

Er wartete. Einen Moment lang bewegte sich niemand. Dann jedoch trat eine junge Frau vor, die zwei kleine Kinder an den Händen hielt. Sie kniete vor Baine nieder und neigte den Kopf, und ihre Kinder taten es ihr gleich.

„Baine Bluthuf, ich war an dem Gemetzel in dieser Nacht nicht beteiligt. Aber ich gestehe, dass mein Mann dabei war. Ich möchte, dass meine Kinder hier aufwachsen, in der Sicherheit dieser friedlichen Stadt, wenn Ihr uns denn unter Euch dulden wollt.“

Ein schwarzer Bulle trat neben die Frau, legte eine Hand auf ihre Schulter und ließ sich neben ihr auf die Knie fallen. „Für das Wohl meiner Gefährtin und Kinder übergebe ich mich Eurem Urteil. Ich bin Tarakor, und ich war es, der den Angriff geführt hat, bei dem Sturmlied desertiert ist. Ich habe niemals Gnade in meinem Leben erfahren, aber ich bitte für meine unschuldigen Kinder, wenn schon nicht für mich selbst.“

Immer mehr Grimmtotems traten vor, bis ungefähr ein Viertel der Gefangenen vor Baine kniete. Er war nicht so vertrauensselig zu glauben, dass er sie nicht im Auge behalten musste. Er würde ihnen jegliche Möglichkeit nehmen müssen zu kämpfen, zumindest für eine gewisse Zeit. Wer mit Magatha in die Verbannung ging, hatte nichts als Scham und Bedeutungslosigkeit zu erwarten. Deshalb hatten wohl viele einen so plötzlichen Gesinnungswandel durchgemacht. Doch einige von ihnen, das wusste er auch, bezeugten ihm aus lauteren Gründen ihre Loyalität. Vielleicht würden sich die anderen ja auch noch ändern. Es war ein Risiko, das er eingehen musste, wenn er wirklich erreichen wollte, dass sein Volk geheilt wurde.

Baine gestattete sich, bei Magathas Anblick, als immer mehr ihrer ach so loyalen Grimmtotems die Seite wechselten, ein wenig Freude zu empfinden. Er vermutete, dass sein Vater mit seinem Vorgehen einverstanden gewesen wäre.

„Noch jemand?“, fragte er. Als die restlichen Grimmtotems dort stehen blieben, wo sie waren, nickte er. „Zwei Dutzend Behüter von Donnerfels werden euch in eure neue Heimat bringen. Ich kann nicht wirklich sagen, dass ich euch Glück wünsche, doch zumindest wünsche ich euch nicht den Tod.“

Unverzüglich wurden sie zu den Aufzügen geführt, und er beobachtete einen Moment lang ihren Abmarsch. Magatha blickte nicht zurück.

Meine Worte waren kein leeres Geschwätz, Magatha Grimmtotem. Wenn ich Euch jemals wiedersehen sollte, werde ich mich nicht zurückhalten, selbst wenn An’she mich führt.


Garrosh hatte sich einst seiner Herkunft geschämt, und es hatte einige Zeit gebraucht, bis er verstanden und akzeptiert hatte, wer er war und woher er kam. Schließlich hatte er es sogar begrüßt. Mit Zuversicht erfüllt, hatte er Ehre für sich und die Horde errungen und sich an Schmeicheleien gewöhnt. Doch als er und sein Gefolge nun die sich windende Rampe zum vereinbarten Treffpunkt in den Landen der Tausend Nadeln hinaufstiegen, spürte er die Blicke der Tauren auf sich ruhen, und seine Nervosität nahm zu.

Es war kein gutes Gefühl, Unrecht gehabt zu haben. Tatsächlich hätte er sich gewünscht, Cairne in einem ehrenhaften Kampf besiegt zu haben. In einem Kampf, in dem er und der Tauren, den er für einen edlen Krieger hielt, Respekt erworben hätten. Magatha hatte ihm diese Möglichkeit geraubt und einen hässlichen Schatten auf seinen Ruf geworfen. Und das in den Augen vieler... zu vieler. Warum dachten sie so schlecht von ihm? Er war doch ebenso ein Opfer wie Cairne.

Er straffte sich und beschleunigte seine Schritte. Baine wartete auf ihn. Er war größer als Cairne – vielleicht stand er aber auch nur aufrechter da, als der alte Bulle es für gewöhnlich getan hatte. Baine hielt das riesige Totem seines Vaters an der Seite. Hamuul Runentotem, Sturmlied Grimmtotem und mehrere andere standen hinter ihm und warteten.

Garrosh betrachtete den Tauren von oben bis unten und schätzte ihn ab. Groß, kräftig, mit einer Ruhe gesegnet, wie Garrosh sie auch bei Cairne beobachtet hatte, wartete er gelassen.

„Garrosh Höllschrei“, sagte Baine mit seiner tiefen Stimme und neigte den Kopf.

„Baine Bluthuf“, antwortete Garrosh. „Ich denke, wir haben viel zu besprechen.“

Baine nickte Hamuul zu. Der alte Erzdruide warf den anderen, die hinter Baine standen, einen Blick zu und gab ihnen ein Zeichen. Sie neigten die Köpfe und traten mehrere Schritte zurück, sodass die beiden Anführer sich unter vier Augen unterhalten konnten.

„Ihr habt mich meines Vaters beraubt, den ich sehr geliebt habe“, sagte Baine geradeheraus.

So also sollte gespielt werden: keine falschen Höflichkeiten, die Garrosh sowieso verachtete. Also gut.

„Euer Vater hat mich herausgefordert. Ich hatte keine andere Wahl, als die Herausforderung anzunehmen, da sonst meine Ehre – und die seine – für immer befleckt gewesen wäre.“

Baines Gesichtsausdruck änderte sich nicht. „Ihr habt hinterhältig gehandelt und Gift verwendet, um zu siegen. Das befleckt Eure Ehre weit mehr.“

Garrosh war versucht, eine scharfe Erwiderung vorzubringen, doch stattdessen atmete er tief durch. „Sosehr es mich beschämt, es zuzugeben: Auch ich wurde von Magatha Grimmtotem hereingelegt. Sie hat Blutschrei vergiftet. Ich werde niemals wissen, ob ich Euren Vater in einem fairen Kampf hätte besiegen können. Ich wurde ebenso von ihr betrogen wie Ihr.“

Er fragte sich, ob Baine wusste, wie viel ihn dieses Eingeständnis kostete.

„Ihr steht hier mit Eurer befleckten Ehre, weil sie Euch ausgetrickst hat. Mir wurde mein Vater genommen, und ich musste mir die Leichen der Unschuldigen ansehen, die hingeschlachtet wurden. Einer von uns hat mehr verloren als der andere, denke ich.“

Garrosh schwieg. Seine Wangen glühten, und er wusste, dass Baine recht hatte. „Ich erwarte die Herausforderung, die der Vater ausgesprochen hat, nun von seinem Sohn“, sagte er schließlich.

„Diese Herausforderung werde ich nicht aussprechen.“

Garrosh runzelte die Stirn. Er verstand nicht. Baine fuhr fort: „Glaubt nicht, dass ich nicht gern mit Euch kämpfen würde, Garrosh Höllschrei. Welches Gift auch immer auf der Klinge gewesen sein mag, es war Eure Hand, die meinen Vater niederstreckte. Aber Tauren sind nicht so engstirnig. Die wahre Mörderin ist Magatha, nicht Ihr. Mein Vater forderte ein Mak’gora, und der Streit zwischen euch beiden ist beigelegt, auch wenn es durch Magathas Verrat kein ehrlicher Kampf war. Für Cairne Bluthuf kam immer das Volk der Tauren zuerst. Es braucht so viel Schutz und Unterstützung, wie es durch die Horde bekommen kann, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit es die auch bekommt. Ich kann nicht behaupten, sein Andenken zu ehren, wenn ich gleichzeitig missachte, was das Beste für mein Volk ist.“

„Auch ich liebte und respektierte meinen Vater und habe mich stets bemüht, sein Andenken in Ehren zu halten. Ich wollte niemals Cairne Bluthuf entehren. Dass Ihr das versteht, zeigt mir, dass Ihr Eurem Volk ein guter Anführer seid.“

Baines Ohren zuckten. Er war noch immer wütend, obwohl Garrosh ihn nicht im Geringsten beleidigte.

„Dennoch... Eure Nachsicht mit den Grimmtotems verwirrt mich. Ich habe gehört, dass Ihr keine Rache an ihnen verübt habt. Hier scheint Euer Mak’gora oder, besser noch, Eure Rache angebracht zu sein. Warum habt Ihr die Grimmtotems nicht getötet? Oder zumindest ihre hinterlistige Matriarchin?“

„Was auch immer die Grimmtotems sein mögen, sie sind Tauren. Mein Vater vermutete bereits, dass Magatha eine Verräterin war, und er behielt sie in der Nähe, um sie unter Kontrolle zu haben. Er wählte diesen Weg, um eine Teilung unseres Volkes und weiteren Streit zu vermeiden. Ich respektiere diesen Wunsch. Es gibt andere Wege, ihre Untaten zu bestrafen, Wege, die möglicherweise mehr als gerecht sind.“

Garrosh dachte einen Moment über Baines Worte nach, und ihm war klar, dass er die Wünsche seines Vaters ebenso respektiert und befolgt hätte. „Es ist gut, die Wünsche des Vaters zu befolgen und die Erinnerung an ihn zu ehren.“

Baine lächelte kalt. „Nachdem ich nun genügend Beweise habe, dass Magatha eine Verräterin ist, habe ich sie verbannt und ihrer Macht beraubt. Dieselbe Bestrafung wird allen Grimmtotems zuteilwerden, die sie begleiten. Viele haben sich von ihr und ihren Handlungen losgesagt und sind bei uns geblieben. Es gibt nun eine separate Grimmtotemfraktion, die Sturmlied anführt, der mir das Leben rettete und sich mir gegenüber als loyal erwiesen hat. Magatha und jeder Grimmtotem, der ihr folgt, wird getötet, sobald sie Taurengebiet betreten. Damit ist dem Wunsch nach Rache ausreichend Genüge getan. Ich werde meine Zeit nicht damit verschwenden, Rache zu üben, wenn meine Kraft beim Wiederaufbau besser eingesetzt werden kann.“

Garrosh nickte. Er hatte alles über den jungen Bluthuf erfahren, was er wissen wollte, und war beeindruckt.

„Dann biete ich Euch den vollen Schutz und die Unterstützung der Horde an, Baine Bluthuf.“

„Und ich für meinen Teil biete für diesen Schutz und die Unterstützung die Loyalität des Taurenvolks.“ Baines Worte klangen steif, aber ehrlich. Garrosh wusste, dass er dem Wort des Tauren vertrauen konnte.

Er streckte seine Hand aus, und Baine ergriff sie.

„Für die Horde“, sagte Baine ruhig, obwohl seine Stimme bebte.

„Für die Horde“, antwortete Garrosh.

30

Es begann mit einem Gewitter.

Anduin hatte sich an die regelmäßigen und nicht seltenen wilden Regenstürme in Theramore gewöhnt. Doch bei diesem ging ihm der Donner durch Mark und Bein und ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Immer wieder erhellten Blitze den Raum. Erneut krachte der Donner, und der Regen prasselte so hart gegen das Fenster, dass er glaubte, die Tropfen würden es zerschmettern.

Er stand auf und schaute nach draußen... oder versuchte es zumindest. Der Regen lief in so dichten Strömen am Fenster hinab, dass er unmöglich etwas erkennen konnte. Stimmen wurden im Gang laut. Er runzelte kurz die Stirn, warf sich etwas über und streckte seinen Kopf zur Tür hinaus, um herauszufinden, was geschehen war.

Jaina lief an ihm vorbei. Auch sie war offensichtlich gerade erst aufgewacht und hatte sich hastig etwas übergeworfen. Ihr Blick war klar, ihr Haar jedoch noch ungekämmt.

„Tante Jaina! Was ist los?“

„Eine Überschwemmung“, antwortete sie kurz angebunden.

Für eine Sekunde fühlte sich Anduin in die Zeit des Felssturzes in Dun Morogh zurückversetzt, als ebenfalls wütende, verstörte Elemente ihren Zorn an Unschuldigen ausgelassen hatten. Aerins Gesicht fiel ihm ein, aber er wischte die Erinnerung daran sofort beiseite.

„Ich komme.“

Jaina setzte bereits zu einem Protest an, lächelte dann jedoch nur besorgt und nickte. „In Ordnung.“

Rasch zog er seine Stiefel an, griff sich seinen Umhang und schon rannte er in Begleitung von Jaina und mehreren Dienern und Wachen nach draußen.

Der peitschende Regen und der tosende Wind rissen ihn beinahe von den Füßen. Das Wasser schien von der Seite statt von oben zu kommen und raubte ihm für einen Moment den Atem. Auch Jaina hatte Schwierigkeiten beim Gehen. Wie Betrunkene taumelten sie vorwärts.

Anduin wusste, dass Vollmond war, doch die schweren Wolken schluckten das Licht, das der Mond ihnen hätte spenden können. Die Wachen trugen Laternen, die nur wenig gegen die Finsternis ausrichteten. Eine Fackel wäre bei diesem sintflutartigen Regen keine Hilfe gewesen. Anduin zuckte zusammen, als seine Füße bis zu den Knöcheln im Wasser versanken. Sobald sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er, dass die ganze Umgebung mit Wasser bedeckt war. Es war nicht tief... noch nicht.

Im Gasthaus und in der Mühle brannten Lichter, und die Rufe waren wegen des Regens und des ständigen Donners kaum zu hören. Das Gasthaus lag auf einem Hügel, doch die Mühle stand bereits mehrere Zentimeter tief im Wasser.

„Leutnant Aden!“, schrie Jaina. Ein berittener Soldat riss sein Pferd herum und ritt auf sie zu. „Wir öffnen die Tore der Zitadelle für jeden, der Zuflucht sucht. Bringt sie hinein!“

„Aye, Mylady!“, rief Aden zurück. Er zerrte an den Zügeln und ritt unverzüglich in Richtung Mühle.

Jaina hob die Hände zum Himmel. Anduin konnte nicht hören, was sie sagte. Einen Herzschlag später fuhr er vor Schreck zusammen, als das Bild eines riesigen Drachenkopfes neben ihr erschien. Das Untier öffnete sein Maul und stieß eine riesige Flamme aus, die über das Wasser fuhr und es zum größten Teil verdampfen ließ. Sofort strömte Wasser nach, doch der Drachenkopf schien unermüdlich zu sein. Er spie unablässig Feuer, und Jaina nickte zufrieden.

„Zu den Docks!“, rief sie Anduin zu. Mutig rannte er, so schnell er konnte, durch das Wasser, das immer tiefer wurde, da der Boden sich absenkte. Ihm bot sich ein Anblick, der unter normalen Umständen komisch gewesen wäre, nun aber Ausdruck des Chaos war, das um sie herum herrschte: Alle Greifen waren ausgeflogen und hatten sich auf den verschiedenen Gebäuden niedergelassen. Ihre Gefieder waren völlig durchnässt, und sie krächzten aufsässig und blickten auf ihre Flugmeister herunter, die bettelten und fluchten: „Bitte, komm runter! Nun mach schon, du dämliches Vieh!“

Das Wasser reichte Anduin jetzt bis an die Knie, aber er, Jaina und die Wachen kämpften sich weiter entschlossen voran. Die Leute hatten sich, ebenso wie die Greifen, auf den am höchsten gelegenen Punkt geflüchtet. Dieser bot ihnen zwar Schutz vor dem ansteigenden Wasser, doch immer wieder zuckten Blitze über den Himmel, und was den Leuten anfänglich als gute Idee erschienen war, stellte sich nun als gefährlich heraus, da sie leicht von einem der Blitze erschlagen werden konnten. Anduin und die Wachen halfen einigen erschreckten Händlern und ihren Familien, wieder nach unten zu klettern und sich so in Sicherheit zu bringen.

Anduin zitterte. Sein Umhang und seine Stiefel waren völlig durchnässt. Das Wasser war eisig kalt, und er konnte seine Füße nicht mehr spüren. Dennoch machte er weiter. Menschen waren in Gefahr, und er musste ihnen helfen.

Er hatte gerade ein weinendes kleines Mädchen hochgehoben, als ein weiterer Blitz die Nacht erhellte. Als die Kleine sich an ihn klammerte, schaute er über ihre Schulter und bemerkte ein weißes, gezacktes Flackern in der Nähe des Piers. Ein ohrenbetäubender Donner folgte unmittelbar darauf, begleitet von den entsetzten Schreien einiger Menschen und dem Krachen berstenden Holzes. Zwei Schiffe, die an dem Pier vertäut waren, schaukelten wild im Wasser und wirbelten herum, als hätte ein wütender Riese sie geschubst.

Das Mädchen kreischte und umklammerte seinen Hals so fest, als ob es ihn erwürgen wollte. Ein weiterer Blitz raste über den Himmel, und Anduin hatte den Eindruck, als näherte sich eine riesige Welle den Docks. Er blinzelte und versuchte, sich den Regen aus den Augen zu wischen, der noch immer unablässig vom Himmel strömte und ihm über das Gesicht lief. Was er nun sah, konnte unmöglich wahr sein.

Ein weiterer Blitz erhellte die Umgebung, und die merkwürdige Welle war verschwunden – ebenso wie die Docks von Theramore und die beiden Schiffe. Er hatte sich nicht geirrt. Der Blitz hatte den Großteil der Docks zerschmettert, und die wütenden Wassermassen des Ozeans hatten den Rest besorgt. Trotz des prasselnden Regens hatte er das Gefühl, irgendwo Feuer gesehen zu haben.

Jaina packte ihn an der Schulter und brüllte ihm ins Ohr. „Bring sie zurück in die Zitadelle!“

Anduin nickte und spie das Regenwasser aus, das ihm in den Mund gelaufen war. „Ich komme dann gleich wieder zurück!“

„Nein! Das ist zu gefährlich!“ Jaina brüllte aus Leibeskräften gegen den Sturm an.

Wut und Enttäuschung machten sich plötzlich in Anduin breit. Er war kein Kind mehr. Er hatte starke Arme und einen kühlen Kopf. Verdammt, er konnte helfen! Doch er wusste auch, dass Jaina recht hatte. Er war der Erbe des Throns von Sturmwind und durfte sich nicht unnötig in Gefahr bringen. Einen Fluch murmelnd, wandte er sich um und watete durch das eiskalte Wasser.

Er zitterte nicht mehr, als er bei der Zitadelle eintraf, wo einige Diener die Opfer der Überschwemmung mit trockenen Tüchern versorgten und ihnen heißen Tee und etwas zu essen anboten. Anduin übergab das Mädchen behutsam einer alten Frau, die sofort herbeigeeilt war, als sie ihn bemerkt hatte. Er wusste, dass er völlig durchnässt war und seine Kleidung wechseln musste. Doch er konnte sich nicht dazu durchringen. Einer von Jainas Helfern blickte auf und sah ihn stirnrunzelnd an. Anduin starrte dumpf vor sich hin. Er war bis auf die Knochen durchgefroren. In einem fernen Teil seines Geistes erkannte er, dass er möglicherweise einen Schock erlitten hatte.

„Ich wünschte, ich hätte Furchtbrecher bei mir“, murmelte er.

Den Diener, der ihn in einen Nebenraum führte, ihm aus der nassen Kleidung half und ihm ein viel zu großes Hemd und eine Hose zuwarf, nahm er kaum wahr. Bevor er mitbekam, was mit ihm geschah, war er in grobes, aber warmes Tuch gehüllt und saß mit einem Becher heißen Tees in der Hand vor dem Feuer. Der Diener verschwand. Es gab noch viele andere, die seine Hilfe brauchten. Wenige Augenblicke später zitterte Anduin wie Espenlaub, und erst jetzt bemerkte er, dass ihm allmählich wieder warm wurde.

Nach einiger Zeit fühlte er sich gestärkt und wieder ausreichend bei Kräften, um den Hilfebedürftigen beistehen zu können, die in die Zitadelle strömten. Er ging in sein Zimmer, wechselte seine Kleidung und kehrte zurück, um den anderen ebenso gut zu helfen, wie ihm geholfen worden war. Er sorgte für heiße Getränke und trockene Tücher und hängte die nassen Kleidungsstücke auf Leinen, die eilig überall gespannt worden waren.

Der Regen hörte nicht auf, und das Wasser stieg immer weiter, trotz Jainas Drachenkopf, der noch immer versuchte, es aufzuhalten. Jaina kämpfte bis zur völligen Erschöpfung, erneuerte den Zauber alle paar Minuten und half den Flüchtlingen, wo sie nur konnte. Immer mehr Leute suchten Zuflucht in der Burg und saßen in den zahlreichen Räumen dicht gedrängt auf dem hölzernen Boden. Schließlich nahm Anduin an, dass sich in der Burg, in den Quartieren der Wachen und in dem Gasthof alle Bewohner Theramores versammelt hatten.

Gegen Ende des zweiten Tages gestattete Jaina sich eine Pause. Sie setzte sich hin, aß und trank etwas. Mehrfach hatte sie ihre Kleidung gewechselt, doch auch das, was sie jetzt am Leib trug, war bereits wieder klatschnass. Anduin holte ihr einen Stuhl, stellte ihn in ihrem kleinen, gemütlichen Zimmer nah ans Feuer und brachte ihr etwas heißen Tee. Jaina zitterte so stark, dass die Tasse auf der Untertasse hin- und herrutschte, während sie ihn aus blutunterlaufenen, erschöpften Augen ansah.

„Du solltest nach Hause zurückkehren. Wir wissen nicht, wann das Wasser wieder abfließt, und ich kann nicht mehr für deine Sicherheit garantieren.“

Anduin wirkte unglücklich. „Ich kann den Leuten hier helfen“, sagte er. „Ich tue nichts Unüberlegtes, Jaina, das weißt du doch.“

Sie streckte die Hand nach ihm aus, als wollte sie ihm durch sein blondes Haar fahren, schien jedoch selbst dafür zu schwach zu sein. Ihre Hand fiel schlaff auf ihren Schoß, und sie seufzte.

„Es ist ja nicht so, dass du gleich deinem Vater begegnen wirst“, murmelte sie und trank einen Schluck Tee.

„Was meinst du damit?“

Jaina erstarrte mitten in der Bewegung, die Tasse auf halbem Weg zur Untertasse, und blickte Anduin an. Sie schien verzweifelt nach einer Lüge zu suchen, doch offensichtlich war sie zu erschöpft, um auf die Schnelle etwas zu erfinden.

„Was ist mit meinem Vater? Wo ist er?“ Und dann wusste er es. Er starrte sie erschreckt an. „Er wird Eisenschmiede angreifen, oder?“

„Anduin“, begann Jaina. „Moira ist eine Tyrannin. Sie...“

„Moira? Ach komm, Tante Jaina, sag mir bitte, was er vorhat!“

Jainas Stimme zitterte vor Müdigkeit und war voller Resignation, als sie ihm seine schlimmsten Befürchtungen bestätigte.

„Varian reitet mit einer Elitetruppe nach Eisenschmiede. Sie wollen Moira töten und die Stadt befreien.“

Anduin konnte nicht glauben, was er da hörte. „Wie wollen sie in die Stadt kommen?“

„Durch den Tunnel der Tiefenbahn.“

„Man wird sie erwischen.“

Jaina rieb sich die Augen. „Anduin, wir reden über SI:7-Kämpfer. Die lassen sich nicht erwischen.“

Anduin schüttelte langsam den Kopf. „Nein, das werden sie wohl tatsächlich nicht. Du hast recht. Ich muss Theramore verlassen.“

Jaina runzelte die Stirn, und die kleine Falte auf ihrer Stirn trat wegen ihrer Erschöpfung deutlicher hervor als sonst. „Nein. Du gehst nicht nach Eisenschmiede!“

Er knurrte beinahe vor Verzweiflung. „Jaina, hör mir zu, bitte! Du warst immer vernünftig. Und jetzt musst du auch vernünftig sein. Moira hat üble Dinge getan – die Stadt abgeriegelt, unschuldige Leute ins Gefängnis gesteckt. Aber sie hat König Magni nicht getötet, und sie ist seine Tochter. Sie ist die rechtmäßige Erbin, und nach ihr wird ihr Sohn den Thron übernehmen. Einiges von dem, was sie vorhat, finde ich sogar richtig, nur versucht sie leider, es auf die falsche Art zu erreichen.“

„Anduin, sie hält die ganze Stadt – Eisenschmiede, die Hauptstadt der Zwerge – als Geisel.“

„Weil sie die Bronzebartzwerge noch nicht kennt, ihnen nicht vertraut. Jaina, in manchen Dingen ist sie ein ängstliches kleines Mädchen, das die Liebe ihres Vaters vermisst.“

„Ängstliche kleine Mädchen, die über Städte herrschen, können gefährliche Dinge tun, und sie müssen aufgehalten werden.“

„Indem sie getötet werden? Sollte man Moira nicht besser an die Hand nehmen und anleiten? Sie wünscht sich, dass die Bronzebartzwerge die Dunkeleisenzwerge als ihre Brüder annehmen, die sie ja auch sind. Sollte man sie dafür ermorden? Und möglicherweise auch ihr Kind? Hör mir zu, Jaina, bitte. Wenn Vater sie angreift, werden viele Leute sterben, und die Erbfolge der Zwerge wird unterbrochen. Statt sich zu einem Volk zusammenzufinden, werden die Zwerge in einen neuen Bürgerkrieg geführt! Ich habe versucht, meinen Vater aufzuhalten, siehst du das denn nicht? Ich wollte, dass er einsieht, dass es einen anderen Weg gibt.“

„Nein und noch mal nein! Du bist erst dreizehn Jahre alt, der Thronerbe und nur unzureichend auf deine zukünftige Aufgabe vorbereitet. Glaubst du, es wäre Sturmwind von Nutzen, wenn du getötet wirst?“ Sie atmete tief ein und dachte nach. Anduin schwieg. „In Ordnung. Wenn du das unbedingt tun willst... Du könntest recht haben... Aber dann komme ich mit. Gib mir ein paar Stunden, um die Situation hier in den Griff zu bekommen und...“

„Er ist jetzt auf dem Weg. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren, das weißt du! Ich kenne meinen Vater, und du kennst ihn ebenso gut. Was immer auch geschehen wird, es wird schnell vonstattengehen und ein böses Ende heraufbeschwören. Ich aber kann Leben retten. Lass es mich wenigstens versuchen.“

Jainas Augen füllten sich mit Tränen, und sie wandte sich ab. Anduin drängte sie nicht weiter. Er vertraute ihr und wusste, dass sie die richtige Entscheidung treffen würde.

„Ich...“

„Eines Tages werde ich König sein, und das nicht nur für eine kurze Zeit. Mein Vater wird nicht mehr da sein, und niemand weiß, wann dieser Tag kommen wird. Es könnte schon heute Nacht geschehen... Das Licht bewahre uns davor, dass es wirklich so kommt. Aber du weißt das, und ich weiß es auch. Und meinem Vater ist es ebenso bewusst. Meine Bestimmung ist es, Sturmwind zu regieren, dazu wurde ich geboren. Ich kann mich jedoch dieser Bestimmung nicht stellen, wenn ich wie ein Kind behandelt werde.“

Jaina biss sich auf die Unterlippe und schlug die Hände vors Gesicht. „Du hast recht“, sagte sie schließlich ruhig. „Du bist kein kleiner Junge mehr. Dein Vater und ich wünschten, dass du es noch wärst. Du hast schon so viel gesehen, so viel getan...“ Sie atmete tief durch. „Du passt auf, dass du nicht gefangen genommen wirst, Anduin Wrynn“, erklärte sie nun mit einer Stimme, die hart und zornig klang. Anduin erschrak, erkannte jedoch kurz darauf, dass sie nicht auf ihn wütend war, sondern weil es keine andere Lösung gab. „Du hältst deinen Vater auf und sorgst dafür, dass sich das Risiko, das du eingehst, lohnt, verstanden?“

Anduin nickte stumm. Sie packte ihn am Arm und drückte ihn so fest, als würde sie ihn das letzte Mal umarmen. Vielleicht stimmte das ja auch. Es war ein letzter Gruß an den Jungen, der er gewesen war. Er erwiderte ihre Umarmung und spürte den kalten Hauch der Angst. Stärker als die Furcht war jedoch ein Gefühl der Stille und der Ruhe, das sich im Zentrum seines Wesens ausbreitete und ihm sagte, dass er das Richtige tat.

Jaina tätschelte seine Wange. Tränen liefen ihr Gesicht hinab, als sie sich zu einem Lächeln zwang.

„Möge das Licht mit dir sein“, sagte sie, trat zurück und begann einen Zauber zu wirken, der ein Portal erschuf.

„Das ist es“, sagte Anduin. „Ich weiß es.“ Er trat durch das Portal.


Finsternis lag über der Stadt, als sie durch die Straßen schlichen, die zu dieser nächtlichen Stunde völlig leer waren. Sie gingen nach Norden, in den verrauchten Zwergendistrikt.

In Richtung der Tiefenbahn.

Die Station lag völlig verlassen da, und die Bahn war nirgendwo auszumachen. Alle paar Meter waren entlang der Gleise hell leuchtende Scheinwerfer angebracht, die der Sicherheit und dem Wohlbefinden der Fahrgäste dienten. Jetzt war die Bahn „wegen Reparaturarbeiten geschlossen“. Varian hatte befohlen, alle Lichter im Bereich von Sturmwind zu löschen. Die achtzehn anderen Männer und Frauen, die nun auf das Gleisbett sprangen und leichtfüßig und lautlos die Schienen entlangrannten, waren es gewohnt, sich in der Finsternis zu bewegen. Varian jedoch verursachte einige Geräusche und runzelte die Stirn. Er war das schwächste Glied in der Kette, da seine Ausbildung so ganz anders verlaufen war als die seiner Mitstreiter. Obwohl er ebenso tödlich sein konnte wie sie, unterschied sich seine Art des Kampfes deutlich von der ihrigen. Aus diesem Grund war er gern bereit, sich führen und belehren zu lassen. Alle neunzehn Kämpfer trugen Masken, um ihre Identität zu verbergen.

Der Anführer dieses Teils der Mission war Owynn Graddock, ein Zwerg mit dunkler Haut, schwarzem Haar und ebensolchem Bart. Mathias Shaw, der Kopf von SI:7, hatte ihn persönlich für diese Aufgabe ausgewählt. Obwohl die meisten Krieger bei diesem Einsatz Menschen waren, nahmen auch mehrere Zwerge und einige Gnome daran teil. Varian hatte darauf bestanden, sie mitzunehmen. Jeder geübte Meuchelmörder konnte diese Aufgabe übernehmen, aber Zwerge und Gnome zogen letztlich den größten Vorteil aus der Befreiung von Eisenschmiede.

Graddock hatte beinahe die gesamte Strecke des Bahntunnels ausgekundschaftet, so dass die Gruppe wusste, was ihr bevorstand.

„Die Glaswand, die das Wasser des Sees zurückhält, ist völlig in Ordnung“, fuhr Graddock fort. „Eigentlich hatte ich erwartet, dass die Dunkeleisenzwerge sie zerstört haben, denn so könnte man die Tunnel fluten und Aktionen wie die unsere verhindern. Ich glaube, Moira will die Bahn eventuell doch noch benutzen –vielleicht um Sturmwind anzugreifen. Für uns ist das ein großer Glücksfall.

Doch zurück zu dem Weg, der vor uns liegt. Ich habe einige Dunkeleisenzwerge hier herumstreichen sehen. Deshalb...“ Er schaute auf, und der Blick aus seinen ernsten braunen Augen richtete sich auf Mathias und Varian. „Hier beginnt die Schlacht.“

Rasch und leise bewegten sie sich vorwärts, bis sie den unterirdischen See erreichten, der sich hinter dem dicken Glas erstreckte. Varian widmete ihm nur einen flüchtigen Blick. Er war völlig auf die Mission konzentriert.

Ein intensiver, widerlich süßlicher Geruch erreichte Varians Nase: Pfeifentabak. Er lächelte unter seiner Maske, weil seine Feinde sich so leichtfertig verraten hatten. Sofort wurde er langsamer, ebenso wie seine Begleiter. Im gedämpften Licht sah er, wie Graddock seinen Leuten signalisierte, sich auf den Kampf vorzubereiten.

Die Leute von SI:7 benutzten verschiedene Waffen – Dolche und Dornen, die mit Gift versehen waren, und Handschuhe mit speziellen Vorrichtungen. Varian zog seine Maske so weit herunter wie möglich, damit sie ihm nicht vom Kopf rutschte, und griff nach seinen beiden Kurzschwertern. Er hätte lieber das vertraute Shalamayne mitgenommen, doch das hätte seine Identität sofort preisgegeben – etwas, das er unbedingt vermeiden wollte.

Ein weiteres Zeichen von Graddock, und sie schlichen vorsichtig vorwärts. Selbst Varian bewegte sich nun vollkommen lautlos. Er lernte dazu. Nach wenigen Metern konnte er deutlich fünf Zwerge ausmachen. Sie saßen auf ihren Decken. Bierkrüge und die Überreste eines Mahls standen in der Nähe. Varian konnte es nicht glauben: Sie spielten seelenruhig Karten.

Graddock hielt die Hand hoch und ließ sie dann einmal sinken, zweimal, dreimal.

Die Kämpfer sprangen auf.

Varian war sich nicht sicher, wie sie miteinander kommunizierten, aber es schien, dass seine Begleiter sich wortlos verständigten. Auf jeden der Zwerge stürzte sich ein schwarz gekleideter Kämpfer. Die Gegner hatten nicht einmal mehr Zeit zu einem überraschten Warnruf. Varian stürmte vor, beide Schwerter erhoben, und unterdrückte nur mit Mühe einen Kampfschrei. Doch die fünf Zwerge waren bereits tot. Einer hatte ein Messer im Auge. Das Genick eines anderen war gebrochen. Das Gesicht des dritten war als Reaktion auf ein schnell wirkendes Gift angeschwollen, und Schaum quoll ihm aus dem Mund. Ein männlicher Gnom namens Brink, glatzköpfig und für einen Vertreter seiner Rasse ausgesprochen gefährlich aussehend, und eine Menschenfrau erhoben sich und reinigten geübt ihre Waffen.

Sie näherten sich Eisenschmiede.

31

„Anduin!“ Rohans Stimme war voller Wärme und Überraschung, als er den Jungen plötzlich in der Halle der Mysterien auftauchen sah. „Wir haben gehört, dass Ihr entkommen seid. Warum um alles in der Welt seid Ihr zurückgekommen?“

Anduin trat aus dem Portal und huschte schnell in eine Ecke der Halle. Rohan folgte ihm und sprach leise und drängend.

„Moira ist wegen Euch auf dem Kriegspfad. Sie hat alles bereits zweimal durchsuchen lassen, und ihre Lakaien haben jeden Winkel von Eisenschmiede überprüft. Sie hat natürlich nichts verlauten lassen, aber jeder weiß, wonach sie sucht.“

„Ich musste zurückkommen“, sagte Anduin leise. „Mein Vater startet einen Angriff, um Eisenschmiede zu befreien, und ich muss ihn aufhalten. Er will Moira töten, da er glaubt, dass sie eine Thronräuberin ist.“

Rohans weiße Augenbrauen zogen sich zusammen. „Sie ist zwar eine lausige Königin und hat einige gute Leute ins Gefängnis geworfen, doch sie ist die rechtmäßige Erbin des Throns, und das gilt auch für den kleinen Hosenscheißer, den sie mitgebracht hat.“

„Genau“, sagte Anduin, dankbar, dass Rohan sofort verstand, worauf er hinauswollte. „Was sie tut, ist falsch. Das ist vor allem mir klar, denn sie wollte mich als Gefangenen hierbehalten und mich nie wieder gehen lassen. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass mein Vater sie ermorden darf. Es ist nicht seine Stadt, und er wird nicht mehr erreichen als einen Aufstand und einen Bürgerkrieg. Zudem ist manches von dem, was Moira sich vorgenommen hat, durchaus nicht falsch.“

„Wie habt Ihr das herausgefunden? Seid Ihr Euch sicher, dass Eure Informationen verlässlich sind?“

Anduin wollte Jaina nicht ins Spiel bringen und nickte deshalb nur. „So wie das Licht mich führt, Vater Rohan, vertraue ich diesen Informationen.“

„Nun, Ihr seid ein Prinz, kein demütiger Priester wie ich. Wenn Ihr denkt, dass es die Wahrheit ist, dann tue ich das ebenfalls. Ihr habt recht. Unsere Anführerin zu ermorden ist nicht der richtige Weg... Es gibt Leute, denen gefällt, was sie tut. Ich helfe Euch, Junge. Wie kann ich Euch von Nutzen sein?“

Anduin erkannte, dass er noch gar nicht so weit gedacht hatte. „Ahm“, begann er, „ich weiß, dass mein Vater durch den Tunnel der Tiefenbahn kommt, aber ich weiß nicht, wann er hier eintrifft. Wir sollten versuchen, ihn aufzuhalten.“

„Hm“, sagte Rohan, „wie so viele Dinge ist das leichter gesagt als getan. Ihr seid zwar noch ein Junge, aber Ihr habt nicht die Gestalt eines Zwergs. Zudem suchen die Dunkeleisenzwerge nach Euch.“

„Wir müssen eben vorsichtig sein“, sagte Anduin, „und ich muss mich ducken. Los!“


Die achtzehn SI:7-Kämpfer und der König von Sturmwind kletterten auf den Bahnsteig. Mehrere Dunkeleisenzwerge erwarteten sie bereits, wurden jedoch schnell und gnadenlos ausgeschaltet. Der Kampf hatte einige Aufmerksamkeit erregt, und eine kleine Gruppe, die vornehmlich aus Gnomen bestand, starrte die Männer und Frauen in ihren Masken und dem schwarzen Leder erstaunt an und fragte sich, ob sie Freunde oder neue Feinde waren.

„Keine Angst“, versicherte ihnen Graddock. „Wir suchen Moira und ihre Leute, nicht die guten Menschen von Eisenschmiede.“

Die Gnome jubelten.

Sie eilten weiter zur Halle der Forscher, in der sich zu dieser Zeit niemand aufhalten würde. Von dort aus war es nur ein kleines Stück an der Großen Schmiede vorbei zum Hohen Sitz. Der Gnom namens Brink hatte den Weg erkundet und meldete sich zurück.

„Dreiundzwanzig“, sagte er mit rauer Stimme. „Zehn sind Dunkeleisenwachen.“

„Nur zehn? Ich hatte mehr erwartet“, sagte Graddock. „Los geht’s.“


Anduin musste sich doch nicht ducken. Eine der Priesterinnen war Alchemistin und hatte sich bereit erklärt, einen Unsichtbarkeitstrank für ihn anzurühren. „Er hält nicht sehr lange an“, warnte sie ihn, „und schmeckt wie abgestandene Stiefel.“

„Ich kann recht schnell laufen“, versicherte ihr Anduin und nahm das kleine Fläschchen. Er entkorkte es und hustete, als ihm ein stechender Geruch in die Nase stieg. Die Priesterin hatte wohl recht, wenn sie sagte, dass der Trank nicht besonders gut schmeckte.

„Na dann, runter damit“, sagte er und hob das Fläschchen an die Lippen.

„Wartet einen Moment“, unterbrach ihn Rohan. „Da draußen geschieht gerade etwas...“

Im Hauptbereich herrschte Aufruhr. Mehrere Wachen rannten nervös herum und schienen noch grimmiger als üblich dreinzuschauen.

„Ich hoffe, dass Ihr nicht entdeckt werdet“, sagte Rohan ruhig. Eine der Wachen lief zur Halle der Mysterien, und Anduin zog sich in den Schatten zurück, bereit, den Trank zu sich zu nehmen, sobald es erforderlich wurde.

„Heiler! Kommt schnell, Ihr werdet gebraucht!“

„Was ist los?“, fragte Rohan und schaffte es, den Eindruck zu erwecken, gerade aus dem Schlaf gerissen worden zu sein.

„Es hat Kämpfe bei der Tiefenbahn gegeben“, sagte die Dunkeleisenwache.

„Wirklich?“ Rohan sprach mit lauter Stimme, damit Anduin ihn gut hören konnte. „Wie viele Verletzte? Ist der Ort abgeriegelt worden?“

„Ungefähr zehn. Nein, er ist nicht abgeriegelt worden, und es scheint auch Kämpfe in der Großen Schmiede zu geben. Bringt alle Priester her! Sofort!“

Rohan warf hastig einen entschuldigenden Blick über die Schulter, sammelte dann seine Sachen ein und eilte mit den anderen Priestern davon. Anduin war auf sich allein gestellt.

„Zu spät“, murmelte er. Wenn sein Vater und seine Meuchelmörder bereits bei der Schmiede waren...

Er hob das Fläschchen an die Lippen und schluckte den Trank in einem Zug hinunter, wobei er angewidert das Gesicht verzog.

Anduin Wrynn rannte, so schnell seine Beine ihn trugen, auf den Hohen Sitz zu, zu Moira... und zu seinem Vater.


Die ersten Wachen wurden leise erledigt. Die Gruppe verschmolz mit den Schatten und gönnte sich eine kurze Pause. Gegenüber der Schmiede lag der Hohe Sitz... Und genau dort standen einige Dunkeleisenzwerge.

„Wir teilen uns in zwei Gruppen auf. Ihr“, sagte Graddock und wies auf neun seiner Gefährten, „bleibt bei mir. Wir nehmen uns die Wachen bei der Schmiede vor. Die anderen gehen mit dem König. Bringt ihn zu Moira, koste es, was es wolle. Ist das klar?“

Er erhielt ein einmütiges Nicken zur Antwort. Trotz der Gefahren, denen sie sich gegenübersahen, schien keiner der Kämpfer nervös oder gar bekümmert zu sein. Varian bemerkte sogar, wie Brink herzhaft gähnte und sich genüsslich streckte. Er vermutete, dass diese Mission für sie etwas Alltägliches war, so wie er seinerzeit als Gladiator jeden Tag Gegner getötet hatte, die doppelt so groß gewesen waren wie er.

„In Ordnung. Lasst uns anfangen.“

Sofort bewegte sich die erste Gruppe vorwärts. Varian, dessen Augen sich in den vergangenen Stunden an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah, wie sie in der Finsternis verschwand. Nach kurzer Zeit hörte er Schreie: Die SI:7-Kämpfer griffen an, schnitten Kehlen durch, ergriffen verschreckte Zwerge und warfen sie in die Schmelze der Schmiede.

„Los, los!“ Brink stieß Varian mit dem Ellbogen in die Seite. Der König von Sturmwind brauchte keine weitere Ermutigung. Seine Gruppe stürmte die Große Schmiede entlang. Auf halbem Weg trafen sie auf die Wachen der Dunkeleisenzwerge, die hier postiert worden waren, und warfen ihnen Schmähungen zu. Varian freute sich nach dem ganzen nächtlichen Herumgeschleiche auf den offenen Schwertkampf Mann gegen Mann. Mit einem Kriegsschrei stürzte er sich auf die ersten Gegner. Schwerter prallten klirrend gegen Äxte und Schilde, und im trüben Licht stoben die Funken. Der Dunkeleisenzwerg war gut, das musste Varian ihm zugestehen. Vier Mal gelang es ihm, Varians Schläge abzublocken, bevor der König einen Gegenangriff abwehrte und dem Zwerg durch eine Lücke in seiner Rüstung das Schwert in die Brust trieb.

Er wirbelte herum, ließ sein Schwert kreisen und brachte eine andere Wache zu Fall. Der Zwerg schrie vor Schmerz auf, und Varian trat ihm hart ins Gesicht und hieb ihm mit seinem zweiten Schwert den Kopf von den Schultern. Er sah nicht mehr, wie der Kopf über den Boden rollte, denn er hielt bereits Ausschau nach dem nächsten Feind.

Seine Gruppe war in den Hohen Sitz eingedrungen. Schnell und gnadenlos hatten sie jeden Widerstand gebrochen. Natürlich würde Moira zu dieser Stunde nicht auf dem gestohlenen Thron sitzen, sondern sich mit ihrem Kind in ihren Privatgemächern aufhalten und schlafen.

Varian stürmte vorwärts. Die Tür, die zu den Räumen der falschen Königin führte, war das Einzige, woran er dachte. Aus vollem Lauf krachte er mit der gepanzerten Schulter gegen sie, doch sie hielt seinem Angriff stand. Immer wieder rannte er gegen die Tür an, und plötzlich hatte er zwei SI:7-Kämpfer zur Seite, die ebenfalls ihre Schultern einsetzten.

Schließlich zersplitterte die Tür. Halb rannten sie, halb taumelten sie in den Raum. Varian hörte eine Frau schreien und das Weinen eines verschreckten Kindes. Er achtete nicht darauf und schlug mit seinen Schwertern auf die beiden Zwerge ein, die ihn plötzlich angriffen. Sie fielen schnell, und seine Rüstung war über und über mit ihrem Blut befleckt. Eines seiner Schwerter war fest im Brustkorb eines Zwergs verkeilt, und nach einem vergeblichen Versuch, es wieder freizubekommen, ließ Varian die Waffe einfach stecken. Er wirbelte herum, ergriff das ihm verbliebene Schwert mit beiden Händen und suchte seine Beute.

Moira Bronzebart lag im Nachthemd und mit zerzausten Haaren im Bett. Ihre Augen waren vor Schreck weit aufgerissen. Varian riss sich die Maske herunter, die sein Gesicht verdeckt hatte, und Moira stöhnte entsetzt auf, als sie ihn erkannte. Mit zwei Schritten war er bei ihr, packte sie am Arm und zerrte sie aus dem Bett. Sie wehrte sich, doch seine Hand hatte sich wie ein Schraubstock um ihren Oberarm geschlossen.

Sie stolperte, als er sie aus dem Raum zog, doch das war ihm völlig egal. Die sich heftig wehrende Zwergin hinter sich herziehend, marschierte Varian in den offenen Bereich nahe der Schmiede, wo sich mittlerweile die Bewohner von Eisenschmiede versammelten. Während er sie mit einer Hand festhielt, presste er ihr mit der anderen die Klinge seines Schwertes gegen den Hals.

„Seht die Thronräuberin!“, schrie Varian, der seine Identität nicht länger geheim halten musste. Seine Stimme hallte durch den Raum. „Sie ist das Kind, das Magni Bronzebart zahllose Tränen hat vergießen lassen, sein geliebtes kleines Mädchen. Wie sehr würde er leiden, könnte er sehen, was sie seiner Stadt und seinem Volk angetan hat!“

Die Menge starrte ihn ungläubig an. Selbst die Dunkeleisenzwerge wagten nicht, sich zu bewegen, solange ihre Kaiserin sich in unmittelbarer Gefahr befand.

„Dieser Thron gehört nicht Euch. Ihr habt ihn Euch durch Täuschung angeeignet, durch Lügen und gemeine Intrigen, ebenso wie den Titel der Königin, den Ihr nicht verdient habt. Eure eigenen Untertanen habt Ihr bedroht, obwohl sie nichts Unrechtes getan haben. Ich will Euch keinen Augenblick länger auf dem geraubten Thron se...“

Vater!“

Die Stimme schnitt ihm das Wort ab, und für eine Sekunde ließ der Druck der Klinge an Moiras Kehle etwas nach. Doch dann hatte Varian sich wieder im Griff. Er ließ die Zwergin nicht aus den Augen, als er antwortete.

„Du solltest nicht hier sein, Anduin. Fort mit dir. Dies ist kein Ort, an dem du dich aufhalten solltest.“

„Aber es ist mein Ort!“ Die Stimme kam näher, bewegte sich mit der Menge auf ihn zu. Moiras Blick wanderte von Varian zu seinem Sohn, doch sie traf keine Anstalten, ihn um Hilfe zu bitten. Vielleicht war ihr klar, dass jede Bewegung unweigerlich damit enden würde, dass Varian ihr sein Schwert tief in ihre bleiche Kehle stieß.

„Du hast mich hierher geschickt! Du wolltest, dass ich das Zwergenvolk kennenlerne, und das habe ich. Ich kannte Magni gut, und ich war hier, als Moira kam. Ich erlebte, welcher Aufruhr mit ihrer Ankunft verbunden war und wie beinahe ein Bürgerkrieg ausbrach, als die Leute zu den Waffen griffen, um sich von Moira zu befreien. Was auch immer du von ihr halten magst, sie ist dennoch die rechtmäßige Erbin Magnis!“

„Vielleicht hat sie das richtige Blut“, zischte Varian, „aber auf ihren Geist trifft das nicht zu. Sie steht unter einem Zauber, mein Sohn. Davon war Magni stets überzeugt. Sie wollte dich als Gefangenen hier festsetzen und hielt eine ganze Menge anderer Leute ohne Grund gefangen.“ Er neigte leicht den Kopf. „Sie eignet sich nicht als Anführerin, denn sie vernichtet alles, was Magni geschaffen hat! Alles, für das er... gestorben ist!“

Anduin trat vor, eine Hand flehentlich ausgestreckt. „Sie wurde nicht verzaubert, Vater. Magni zog es vor, das zu glauben und die Wahrheit zu verkennen: Er selbst hat Moira vertrieben, weil sie nicht der männliche Erbe war, den er sich immer so sehnlich gewünscht hatte.“

Varians schwarze Augenbrauen zogen sich zusammen. „Du besudelst das Andenken eines ehrenvollen Mannes, Anduin.“

Sein Sohn wich nicht zurück. „Du kannst ein ehrenhafter Mann sein und dennoch Fehler machen“, fuhr er unerbittlich fort. Die Augen seines Vaters zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen, und er wusste, dass er vorsichtig sein musste. „Moira wurde von den Dunkeleisenzwergen angenommen. Sie verliebte sich, heiratete nach den Gesetzen ihres Volkes und gebar ihrem Mann ein Kind. Sie ist die rechtmäßige Zwergenerbin. Nur die Zwerge dürfen entscheiden, ob sie Moira als ihre Königin anerkennen oder nicht. Es ist nicht unsere Stadt.“

„Sie hat dich als Geisel gehalten, Anduin!“, hallte Varians Stimme durch den Saal, und Anduin zuckte leicht zusammen. „Dich, meinen Sohn! Das dürfen wir ihr nicht durchgehen lassen! Ich lasse nicht zu, dass sie dich und eine ganze Stadt zu Geiseln macht. Das tue ich auf keinen Fall, verstehst du?“

Sein Junge, sein schöner Sohn... Es war schwer für Varian, nicht vor Wut zu brüllen und der Thronräuberin die Klinge in den Hals zu rammen, sich nicht daran erfreuen zu können, wie ihr heißes dunkles Blut über seine Hand floss, und nicht sicher sein zu können, dass die Gefahr, die Moira für seinen Sohn darstellte, für immer gebannt war. Er konnte es tun. Er konnte all das tun. Und er wollte es so sehr...

„Dann soll sie sich vor dem Gesetz verantworten, vor ihrem Volk. Vater ... du bist ein guter König, einer, der stets das Beste für sein Volk will. Du glaubst an das Gesetz, an die Gerechtigkeit. Du verübst keine Selbstjustiz. Es ist leicht...“ Anduin unterbrach sich, und ein merkwürdiger Ausdruck lag auf seinem jungen Gesicht... als würde er sich an etwas erinnern. „Es ist leicht, etwas zu zerstören. Etwas Gutes zu erschaffen, etwas Richtiges, etwas, das bleibt – das ist schwer. Es ist leicht, sie zu töten. Doch du musst daran denken, was das Beste für Eisenschmiede ist. Für die Zwerge – und zwar für sie alle. Was ist falsch daran, den Zwergen die Entscheidung zu überlassen, wie viel oder wie wenig sie mit der Weltpolitik zu tun haben wollen? Was ist falsch daran, den Dunkeleisenzwergen die Hand entgegenzustrecken, wenn sie dazu bereit sind?“

Gemurmel wurde laut. Varian blickte sich um und schnaufte. Rohan räusperte sich.

„Der Junge spricht die Wahrheit, Euer Majestät. Etwas von dem, was Moira sagt, ist weise. Nur hat sie sich recht närrisch verhalten. Aber dennoch sie ist unsere Prinzessin, und wenn sie gekrönt wurde, ist sie unsere Königin.“

„Wenn Moira stirbt und es keinen Erben gibt, dessen Anspruch auf den Thron unzweifelhaft ist, wird ein Bürgerkrieg ausbrechen!“, fuhr Anduin fort. „Glaubst du wirklich, dass das für das Zwergenvolk das Beste ist? Glaubst du, Magni hätte das gewollt? Das würde auch Sturmwind mit in den Krieg ziehen – und die Nachtelfen und die Gnome. Kannst du auch für sie Entscheidungen treffen?“

Varians Hand zitterte ein wenig, und Moira stöhnte leise, als die Klinge ihre Kehle leicht ritzte. Ein Blutstropfen lief ihren Hals hinab.

Du verübst keine Selbstjustiz.

Es ist leicht, etwas zu zerstören.

Ich will das Richtige tun, dachte Varian. Aber wie kann ich etwas erschaffen, das von Dauer ist? Sie ist die rechtmäßige Erbin, und die Zwerge dürfen sich einander zuwenden. Es ist nicht meine Stadt. Dies ist ihre Stadt, ihre Königin oder ihre Thronräuberin. Wenn wir nur B rann finden könnten oder Muradin, dann...

Er blinzelte.

„Sosehr ich auch wünschte, dass es nicht stimmt“, sagte er barsch zu Moira, die ihn aus weiten, erschreckten Augen anblickte, „habt Ihr tatsächlich einen rechtmäßigen Anspruch auf den Thron. Aber genau wie ich, Moira Bronzebart, müsst Ihr versuchen, besser zu sein, als Ihr es derzeit seid. Ihr braucht mehr als nur den richtigen Stammbaum, um Euer Volk weise zu regieren. Ihr müsst Euch den Respekt und die Liebe Eurer Untertanen verdienen.“

Er stieß sie von sich. Moira taumelte zurück, schien jedoch nicht fliehen zu wollen. Wie konnte sie auch? Sie war von der Bevölkerung der Stadt umzingelt, die sie mit harter, grausamer Hand hatte beherrschen wollen.

„Offensichtlich kann man Euch nicht zutrauen, frei und gerecht über Eisenschmiede zu herrschen. Zumindest nicht allein. Das habt Ihr deutlich klargemacht. Diese Leute sind nicht irgendwelche Dunkeleisenzwerge, über die zu herrschen Ihr gewohnt seid. Diese Zwerge bestehen aus drei Klans. Dunkeleisen, Bronzebart und Wildhammer. Ihr wollt die Zwergenvölker zusammenbringen? Schön. Dann braucht jeder dieser Klans einen Vertreter. Eine Stimme, der Ihr... beim Licht, der Ihr zuhören werdet!“ Varian überlegte noch, während er sprach. Die Wildhammerzwerge hatten offensichtlich wenig Interesse an Eisenschmiede gezeigt, lebten weit entfernt und bildeten eine eigene Nation. Moira würde nicht ihre Königin sein.

Doch hier ging es um mehr als nur um den Titel. Es ging um die Zwerge als ein Volk. Und es ging darum, wie Anduin es bereits gesagt hatte, einen Bürgerkrieg zu verhindern. Es fühlte sich richtig an – richtig genug, um abzuwarten, ob es gelang. Am Ende würden die Zwerge das selbst entscheiden müssen.

Moira sagte nichts, blickte sich nur mit weiten, angsterfüllten Augen um. Sie sah tatsächlich wie ein kleines erschrecktes Mädchen aus, wie sie da in ihrem Nachthemd stand...

„Drei Klans, drei Anführer. Drei... Hämmer“, sagte Varian. „Ihr sprecht für die Dunkeleisenzwerge, in die Ihr eingeheiratet habt, Falstad steht für die Wildhammerzwerge und Muradin oder Brann oder wen auch immer wir finden, für die Bronzebärte. Ihr werdet ihren Wünschen und Bedenken Gehör schenken und mit ihnen für das Wohl des Zwergenvolks arbeiten, nicht um Eure Eitelkeit zu befriedigen. Habt Ihr mich verstanden?“

Moira nickte...

„Wir behalten Euch im Auge. Sehr genau sogar. Statt Euer Leben hier auf dem Boden des Hohen Sitzes enden zu lassen, habt Ihr eine zweite Chance bekommen. Eine Chance, um zu beweisen, dass Ihr die Zwerge anführen könnt.“ Er beugte sich über sie. „Enttäuscht mich nicht.“

Varian nickte ihr knapp zu. Die Klingen der SI:7-Kämpfer waren so schnell weggesteckt, wie sie gezogen worden waren. Moira hatte sich an die Kehle gefasst und behutsam den harmlosen Schnitt betastet. Sie zitterte sichtlich, und ihre frostige Eleganz und falsche Freundlichkeit waren verschwunden.

Varian war mit ihr fertig. Er wandte sich zu Anduin um, sah, wie sein Sohn freudig lächelte, und nickte stolz. Mit zwei Schritten war er bei ihm und drückte ihn an sich. Jetzt erst bemerkte er den Applaus. Das Klatschen wurde immer lauter und von Rufen und zustimmenden Pfiffen begleitet. Namen wurden gerufen: „Wildhammer!“, „Bronzebart!“ Und wie Anduin und Rohan gesagt hatten, auch „Dunkeleisen!“

Varian blickte zu den Hunderten Zwergen, die lächelten und ihm zujubelten. Moira stand allein, ihre Hand immer noch an der Kehle. Sie hielt den Kopf gesenkt.

„Siehst du, Vater?“, sagte Anduin und brachte mit seinen Worten Varian in die Gegenwart zurück. „Du hast genau das Richtige getan. Ich wusste es.“

Varian lächelte. „Ich brauchte jemanden, der fest daran glaubte, bevor ich es selbst konnte“, antwortete er. „Komm, Sohn. Kehren wir heim.“


Thrall und Aggra eilten zurück nach Garadar und erlebten einen enttäuschenden Empfang. Insbesondere ihre Großmutter Geyah blickte traurig und erhob sich, um Thrall zu umarmen. Ein Taure stand neben ihr, groß und muskulös. Thrall erkannte in ihm Perith Sturmhuf, und er spürte, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich. „Etwas Schreckliches ist geschehen“, sagte Thrall. Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. „Was ist los?“

Geyah legte eine Hand auf sein Herz. „Tief in deinem Herzen weißt du, dass es richtig war, nach Nagrand zu kommen, was auch immer in deiner Abwesenheit geschehen sein mag.“

Thrall blickte Aggra an, die so bestürzt dreinschaute wie er selbst. Er zwang sich, Ruhe zu bewahren. „Perith, sprich.“

Der Taure gehorchte. Seine Stimme war ruhig und ließ seine Gefühle nur bei der Erwähnung bestimmter Namen erkennen. Er sprach von einem verräterischen Mord an unschuldigen Druiden, die sich friedlich versammelt hatten, und von einem wütenden Cairne, der Garrosh herausgefordert hatte. Von dem Tod des großen Oberhäuptlings, der sich als Giftmord herausgestellt hatte, verübt von Magatha Grimmtotem. Perith erzählte von dem Gemetzel in Donnerfels und beim Dorf der Bluthufe und dem Sonnenfels. Als er geendet hatte, hielt er eine Schriftrolle in der Hand. „Palkar, Drek’Thars Diener, schickt dir dies.“

Thrall entrollte das Pergament. Er musste sich anstrengen, damit seine Hände nicht zitterten. Als er Palkars Worte las, zitterte sein Herz. Anders als alle gedacht hatten, trafen Drek’Thars Visionen noch immer zu, auch wenn sein Geist nicht mehr ganz klar war. Die Feder hatte an mehreren Stellen getropft, als Palkar Drek’Thars letzte Warnung niedergeschrieben hatte: Das Land wird weinen, und die Welt wird auseinanderbrechen...


Die Welt wird auseinanderbrechen. So, wie es einer anderen Welt bereits widerfahren war...

Thralls Gedanken rasten, und er lehnte das Angebot, sich zu setzen, ab. Er stand wie festgenagelt da und fragte sich: War es richtig gewesen, nach Nagrand zu kommen? War das wenige Wissen, das ich hier erlangt habe, den Verlust Cairnes und den Tod von so vielen friedliebenden Tauren wert? Selbst wenn ich recht hatte: Komme ich noch rechtzeitig?

„Baine“, sagte er schließlich. „Was ist mit Baine?“

„Über ihn weiß ich nichts, Kriegshäuptling“, sagte Perith, „aber es wird angenommen, dass er am Leben ist.“

„Und Garrosh? Was hat er getan?“

„Bislang nichts. Er scheint darauf zu warten, welche Seite den Sieg davonträgt.“

Thralls Hände ballten sich zu Fäusten. Er spürte eine federleichte Berührung, blickte hinab und sah, wie Aggras Hand die seine berührte. Ohne zu wissen, warum, Öffnete er die Faust und gestattete seinen Fingern, sich mit den ihren zu vereinen. Er atmete tief ein.

„Dies...“ Seine Stimme brach, und er versuchte es erneut. „Dies sind schlimme Nachrichten. Mein Herz weint um die Toten.“ Er blickte zu Geyah. „Heute habe ich von den Elementen einiges erfahren, das mir dabei helfen kann, Azeroth zu heilen. Ich hatte gehofft, erst in einigen Tagen abreisen zu müssen, aber wie du sicherlich verstehst, muss ich sofort aufbrechen.“

„Natürlich“, antwortete Geyah. „Wir haben deine Sachen bereits gepackt.“

Einerseits war er dankbar für ihre Fürsorge, doch andererseits hatte er gehofft, noch ein wenig Zeit zu haben, um sich zu sammeln. Die kluge Geyah erkannte das sofort. „Ich bin mir sicher, du wirst noch meditieren wollen, bevor du aufbrichst“, sagte sie, und Thrall nickte ihr erleichtert zu.

Er verließ Garadar und ging zu einem kleinen Gehölz. Eine Herde wilder Talbuks beobachtete ihn wachsam, bevor die Tiere nervös mit ihren Schwänzen wedelten und ein Stück weit fortliefen, um in Ruhe weitergrasen zu können.

Thrall setzte sich auf den Boden und fühlte sich tausend Jahre alt. Er hatte Schwierigkeiten, die bestürzenden Nachrichten zu verarbeiten. Konnte das wirklich alles wahr sein? Der Mord an den Druiden, Cairnes Tod, ungezählte tote Tauren mitten im Herzen ihres Landes? Er spürte, wie sich alles um ihn herum drehte, und bettete seinen Kopf in seine Hände.

Sein Geist wanderte zurück zu dem letzten Gespräch mit Cairne, und Schmerz erfüllte sein Herz. Warum hatte er seinem alten Freund so unfreundliche Worte gesagt – und ausgerechnet diese Worte waren das Letzte gewesen, was Cairne von ihm gehört hatte. Der Tod dieses einen schien ihn stärker zu treffen als all die unschuldigen Leben, die nach dem Mord an Cairne ausgelöscht worden waren. Denn es war Mord gewesen. Kein ehrenhafter Tod in der Arena, sondern ein heimtückischer Giftmord.

Er zuckte zusammen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte, und fuhr hemm. Aggra saß neben ihm. Wut stieg in ihm auf, und er zischte: „Bist du hier, um dich an meinem Unglück zu laben, Aggra? Um mir wieder vorzuwerfen, was für ein jämmerlicher Kriegshäuptling ich doch bin? Oder möchtest du mir vorhalten, dass meine Loyalität sowohl den Menschen als auch unserem Volk gegenüber das Leben eines meiner liebsten Freunde gekostet hat und das von zahllosen Unschuldigen?“

Ihre braunen Augen blickten unglaublich sanft, als sie schweigend den Kopf schüttelte.

Thrall schnaubte und blickte zum Horizont. „Wenn du es tätest, wäre das nichts, was ich nicht schon selbst getan hätte.“

„Das habe ich angenommen. Man braucht keine Hilfe, wenn man sich Vorwürfe macht.“ Sie sprach leise, und Thrall vermutete, dass sie entsprechende Erfahrungen gemacht hatte. Aggra zögerte, doch dann sagte sie: „Ich hatte mich in dir getäuscht und möchte mich entschuldigen.“

Er winkte ab. Nach dem, was er sich gerade hatte anhören müssen, waren Aggras schneidende Kommentare das Geringste seiner Probleme. Doch sie gab nicht auf.

„Als ich das erste Mal von dir hörte, war ich aufgeregt. Ich bin mit den Geschichten über Durotan und Draka aufgewachsen und verehrte ganz besonders deine Mutter. Ich... ich wollte wie sie sein. Und als ich von dir hörte... Wir alle hier dachten, du würdest nach Nagrand heimkehren. Doch du bliebst in Azeroth, selbst nachdem wir, die Mag’har, uns der Horde angeschlossen hatten. Du gingst Allianzen ein mit merkwürdigen Wesen, und ... ich... ich fühlte mich verraten, weil Drakas Sohn sein Volk verlassen hatte. Aber dann kamst du zurück. Doch nur ein einziges Mal, und du bliebst auch nicht lange. Ich konnte nicht verstehen, warum.“

Thrall hörte aufmerksam zu und unterbrach sie nicht.

„Dann kamst du wieder und wolltest an unserem Wissen teilhaben, an dem Wissen, das wir mit Schmerz und Mühe erkauft hatten. Du wolltest nicht die Welt retten, die unser Volk hervorgebracht hatte, sondern diesen merkwürdigen, fremden Ort. Ich war so unglaublich wütend darüber, und deshalb war ich so abweisend zu dir. Es war selbstsüchtig und oberflächlich von mir.“

„Warum hast du deine Meinung geändert?“, fragte er neugierig.

Sie hatte wie er zum Horizont geblickt, doch jetzt wandte sie den Kopf und sah ihn an. Das Licht des späten Nachmittags beleuchtete ihr braunes und so überaus orcisches Gesicht. Thrall, der daran gewöhnt war, Harmonie und Schönheit in den Gesichtern der Menschenfrauen zu finden, wurde plötzlich von ihrem Anblick überrascht.

„Es begann bereits vor dem Ritus der Sicht“, sagte sie leise. „Da hatte ich damit begonnen, meine Ansichten über dich zu ändern. Du hast den Köder nicht geschluckt, bist mir nicht wie ein Fisch ins Netz gegangen. Auch hast du deinen Einfluss bei unserer Großmutter nicht geltend gemacht, um von einer anderen Lehrerin unterwiesen zu werden. Je mehr ich dir zusah und zuhörte, desto mehr erkannte ich... dass dir diese Sache wirklich wichtig ist.

Ich war bei dir und erlebte, wie du wie ein wahrer Schamane mit den Elementen lebtest, und ich sah und teilte deinen Schmerz und deine Freude. Ich beobachtete dich mit Taretha, mit Drek’Thar, mit Cairne und Jaina. Du lebst, woran du glaubst, auch wenn du das zuvor nicht verstanden hast. Du bist kein machthungriges Kind, das ständig nach einer neuen Herausforderung sucht, sondern du kämpfst, um für deine Leute das Beste zu tun – und zwar für alle, nicht nur für die Orcs oder die Horde. Auch für deine Rivalen willst du nur das Beste. Du willst das“, sagte sie und schlug mit ihrer braunen Hand in einer liebevollen Geste flach auf den Boden, „was das Beste für die Welt ist.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob das, was ich getan habe, wirklich das Beste ist“, gestand Thrall leise ein. „Wenn ich geblieben wäre...“

„Dann hättest du nicht gelernt, was du hier gelernt hast.“

„Cairne würde noch leben. Und auch die Tauren vom Donnerfels und...“

Ihre Hand schoss vor und packte ihn am Arm. Ihre Nägel schnitten ihm tief und schmerzhaft ins Fleisch. „Was du gelernt hast, könnte alles retten. Alles!“

„Oder nichts“, entgegnete Thrall. Er zog seinen Arm nicht zurück, sondern schaute zu, wie das Blut unter ihren Nägeln hervorquoll.

„Du hast die Möglichkeit ergriffen, die sich dir bot, statt dem unausweichlich scheinenden Untergang tatenlos entgegenzusehen. Wenn du nichts getan hättest, dann wärst du nicht Kriegshäuptling geworden. Du wärst ein Feigling und einer solchen Ehre unwürdig.“ Ihr Gesicht nahm einen enttäuschten Ausdruck an. „Doch wenn du dich nun in Selbstmitleid ergehen willst, dann heul nur, armer Go’el. Tu das, wenn es das ist, was du möchtest. Doch das wirst du ohne mich tun müssen.“

Sie wollte bereits aufstehen, doch Thrall packte sie am Handgelenk. Aggra blickte ihn überrascht an.

„Wie hast du das gemeint?“, fragte er.

„Wenn du es vorziehst, dich dem Selbstmitleid hinzugeben, statt zu handeln, dann beweist du, dass ich mich in dir getäuscht habe. In diesem Fall würde ich dich nicht nach Azeroth begleiten.“

Er verstärkte den Druck auf ihr Handgelenk. „Du... du wolltest mit mir nach Azeroth gehen? Warum?“

Aggras Gesicht nahm einen seltsamen Ausdruck an, und schließlich platzte es aus ihr heraus: „Weil ich herausgefunden habe, dass ich nicht mehr von dir getrennt sein will, Go’el. Doch offenbar habe ich mich getäuscht. Du bist nicht der, für den ich dich gehalten habe. Ich gehe nicht mit jemandem, der...“

Thrall zog sie in seine Arme und presste sie an sich. „Ich wünsche mir, dass du mit mir kommst. Geh mit mir, wo immer unser Weg uns auch hinführen mag. Ich habe mich daran gewöhnt, dass du mich korrigierst, wenn ich falschliege... Ich höre deine Stimme gern, wenn du sanft mit mir sprichst. Mir wäre es unerträglich, dich nicht in meiner Nähe zu haben. Kommst du mit? An meiner Seite?“

„Um... dich zu beraten?“

Er nickte. Seine Wange lag auf ihrem Kopf. „Um meine Weisheit zu sein, meine Luft, meine Beständigkeit, als Erde...“, er atmete tief ein, „und meine Leidenschaft und mein Herz, als mein Feuer und Wasser. Und wenn du es möchtest, dann will ich all das auch für dich sein.“

Er spürte, wie sie in seiner Umarmung erbebte, sie, die starke und mutige Aggra. Sie löste sich ein wenig von ihm und legte die Hand auf seine Brust. Ihr Blick suchte den seinen. „Go’el, solange du dieses große Herz hast, um zu führen – und zu lieben –, gehe ich mit dir bis zum Ende der Welt und darüber hinaus.“

Er strich leicht über ihre Wange – grüne Haut berührte braune –, und dann beugte er sich langsam vor, um seine Stirn sanft an die ihre zu legen.

32

Das Leichenhemd, das die Tauren ihrem Oberhäuptling Cairne Bluthuf angelegt hatten, war von exquisiter Qualität und hatte die Farben der Erdenmutter – Hellbraun, Braun und Grün.

Wie es die Tradition der Tauren vorschrieb, wurden die Toten im Rahmen einer besonderen Zeremonie verbrannt. Der Leichnam wurde auf einen Scheiterhaufen gelegt, die Asche fiel auf die Erde, und der Rauch stieg zum Himmel auf. Erdenmutter und Himmelsvater würden den geehrten Toten willkommen heißen, und An’she und Mus’sha seinen Übergang bezeugen.

Wie immer trug Thrall die Rüstung, die der verstorbene Orgrim Schicksalshammer ihm vermacht hatte. Ihr Gewicht behinderte ihn ein wenig, und Thrall konnte den Scheiterhaufen nur mühsam erklimmen, um zu dem Verstorbenen zu gelangen und zu sehen, was von Cairne übrig geblieben war. Tränen verschleierten seinen Blick.

Thrall war nach Azeroth zurückgeeilt. Er und Aggra hatten sich kurz mit Baine getroffen, und bei dieser Gelegenheit hatte Thrall den Wunsch geäußert, kurze Zeit mit Cairnes Leichnam allein sein zu dürfen. Diese Bitte war ihm gewährt worden. Später würde es lange Gespräche geben über das weitere Vorgehen und die erforderlichen Vorbereitungen. Doch nun saß Thrall bei seinem alten Freund, während die Sonne träge ihrem Weg über den blauen Himmel von Mulgore folgte. Thrall atmete tief ein und sagte leise: „Cairne, mein alter Freund... Bist du noch hier?“

Sowohl die Tauren als auch die Orcs glaubten, dass die Geister der Toten manchmal mit denen sprachen, die sie im Leben geliebt hatten. Sie sprachen Warnungen aus, erteilen Ratschläge oder spendeten Segen.

Thrall wäre schon für eines davon dankbar gewesen.

Seine Worte wurden von der sanften Brise erfasst und fortgetragen. Nichts und niemand antwortete ihm. Thrall senkte den Kopf.

„Und so bin ich wahrlich allein, denn du bist gegangen, mein alter Freund“, sagte er. „Ich kann dich nicht um Rat oder Vergebung bitten, wie ich es hätte tun müssen.“

Nur das sanfte Säuseln des Windes antwortete ihm.

„Wir sind im Streit auseinandergegangen, du und ich. Zwei, die niemals böse aufeinander hätten sein sollen, zwei, die alt genug waren, um zu wissen, dass man so nicht Abschied voneinander nehmen darf. Ich war verärgert, weil ich meine Ziele nicht erreichen konnte. Deshalb wandte ich mich von dir ab, als du weise zu mir sprachst. Das habe ich nie zuvor getan, und sieh nur, was geschehen ist. Du liegst da, ein Opfer der Heimtücke und des Verrats, und ich kann dir nicht in die Augen sehen und dir sagen, wie mir mein Herz bei diesem Anblick bricht.“

Seine Stimme versagte, und es dauerte einen Moment, bis er die Fassung wiedererlangte. Seine Rüstung wog schwer, und er schwitzte darin.

„Dein Sohn... Cairne, du wärst stolz auf ihn. Aber ich weiß ja, wie stolz du stets auf ihn warst. Er ist wahrlich dein Sohn, und er wird dein Erbe gut verwalten. Alles, wofür du gekämpft hast, wird er an eine neue Generation weitergeben. Er ließ nicht zu, dass der Schmerz seinen Geist beherrschte. Baine hat sich für die Sicherheit unserer Völker eingesetzt und sein brennendes Verlangen nach Rache unterdrückt. Die Tauren leben wieder in Frieden, was, wie ich weiß, alles war, was du dir für sie wünschtest. Selbst in den Untiefen des Schreckens – so wie in dieser fürchterlichen dunklen Nacht – überlebten dein Volk und der Geist der Horde.

Die Grimmtotems sind nun offiziell unsere Feinde, statt verräterische Betrüger zu sein, denen du dein Herz geöffnet hattest. Sie hatten sich dein Vertrauen erschlichen und eiskalt einen Schlag gegen dich geplant. Die Tauren werden nicht noch einmal von ihnen überrascht werden – niemals. Und was Garrosh angeht... Ich glaube wirklich, dass er nichts von Magathas Verrat wusste. Er ist vieles, aber ein verräterischer, intriganter Mörder ist er nicht. Garrosh will unbedingt wissen, ob er ehrlich gewonnen hat, damit er sich legitim in der Ehre sonnen kann. Er...“

Thrall verstummte. Er war zutiefst bestürzt über den Mord an seinem Freund und über das Gemetzel, das Cairnes Tod gefolgt war. Doch gleichzeitig war er froh, dass die Tauren unter einem solch fähigen Anführer wie Baine wieder in Frieden lebten.

„Cairne“, sagte er langsam. „Ich habe die Horde gegründet. Ich hauchte ihr ihren Geist ein, gab ihr ein Ziel, eine Richtung. Aber dennoch... scheint mir diese Aufgabe, dieses Ziel... nicht länger meine Bestimmung zu sein. Wie kann ich die Horde führen, wenn meine Bestimmung eine andere ist?“

Seine einst so sicheren Instinkte ließen nach. Er vergrub sein Gesicht in den Händen, und die schwarze Rüstung knarrte bei jeder Bewegung. Thrall fühlte sich... verloren... zerrissen. Wieder sah er sich im Nebel stehen... bei dem Ritus der Sicht, und seine Rüstung knarrte und fiel von ihm ab. Die Angst hatte ihn fest im Griff... Er war völlig hilflos. Ihn schmerzte die Erkenntnis, dass die Horde unweigerlich in einen Bürgerkrieg geraten würde, wenn er mit seinem Geist und seinem Herzen nicht bei ihr war. Wie sehr er auch verurteilte, was Garrosh in seiner Abwesenheit angerichtet hatte, so war doch er selbst es gewesen, der den jungen Höllschrei zum Kriegshäuptling gemacht hatte. Er trug die Verantwortung für das, was geschehen war, in gleichem Maße wie Garrosh. Letztlich konnte man dem Jungen nur vorwerfen, dass er die Herausforderung mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen angenommen hatte. Er würde die Horde nicht zwingen zuzusehen, wie er und Garrosh sich deshalb bekämpften.

„Ich habe es dir noch nie erzählt, aber ich wünschte, ich hätte es. Weißt du“, fuhr er ruhig fort, „meiner Meinung nach warst du stets das Herz der Horde, Cairne. Du und die Tauren. Während viele andere in der Horde den Krieg herbeisehnten und dunklen Pfaden folgten, hörtest du auf die Weisheit der Erdenmutter und rietest uns, andere Wege zu gehen. Du hast uns Vergebung und Mitleid gelehrt und warst unser Herz, unser wahres spirituelles Zentrum.“

Als er diese Worte aussprach, wusste Thrall, dass es an der Zeit war, seinem Herzen zu vertrauen. Es führte ihn fort von Orgrimmar, fort von der Horde, hin zu einer leidenschaftlichen und heißblütigen jungen Schamanin und den stolzen orcischen Traditionen, die sie repräsentierte.

Es führte ihn zum Herzen der Welt.

Voller Schmerz schloss er die Augen. Er wollte nicht, dass diese Entscheidung die richtige war. Es war zu schwer und würde einen großen Umbruch bedeuten. Viele Leute würden verletzt sein. Es gab so viele Gründe, warum er bleiben sollte, und alle schienen sie vernünftig und logisch zu sein, wichtig und sogar überlebenswichtig. Und doch war da der eine Grund, aus dem er gehen sollte. Er war mystisch und mysteriös und schien ihm alles andere als einleuchtend zu sein.

Aber es war die richtige Entscheidung, die einzige Entscheidung. Wind kam auf, zupfte sanft an seinem Haar und zerrte an seiner Seele. Seine Haut prickelte. Thrall erkannte, dass die Entscheidung bereits getroffen war.

Ihm war sehr deutlich gezeigt worden, was er zu tun hatte: Wenn er weiterhin Kriegshäuptling blieb, würde er versagen. Um die Horde und seine Welt zu retten, blieb ihm nur eines zu tun, und er wusste genau, was das war.

Langsam stand Thrall auf. Die untergehende Sonne, An’she für das Taurenvolk, verwandelte seine schwarze Rüstung in einen Rausch der Farben. Bedächtig begann er, sich ihrer zu entledigen. Als Erstes löste er die Schulterstücke und legte sie ab. Mit einem klirrenden Geräusch fielen sie in das weiche grüne Gras. Als Nächstes öffnete er die Halterungen der Brustplatte. Einst war sie von einem Schlag durchbohrt worden, der Schicksalshammer das Leben gekostet hatte. Der Schlag war hinterhältig gewesen, denn er war von hinten gekommen: Ein Speer hatte den Rückenpanzer zerschmettert und die Brustplatte von innen durchbohrt. Thrall hatte befohlen, sie zu reparieren, damit sie wieder verwendet werden konnte.

Stück für Stück legte er die Rüstung von Orgrim Schicksalshammer, die Rüstung des Kriegshäuptlings der Horde, ab und warf ihre Teile auf einen Haufen. Thrall griff in seinen Beutel und holte ein schlichtes braunes Gewand hervor, zog es sich über den Kopf und legte sich eine Kette mit Gebetsperlen um den Hals. Aggras Worte fielen ihm wieder ein. Wir tragen keine Rüstung bei unseren Initiationen. Es ist eine Wiedergeburt, kein Kampf. Wie eine Schlange legen wir die Haut desjenigen ab, der wir vorher waren. Wir müssen uns dieser Wiedergeburt ohne jegliche Lasten stellen, ohne engstirniges Denken und Ansichten, die wir zuvor vertreten haben. Wir müssen einfach, rein und bereit sein, um uns mit den Elementen zu verbinden und sie ihre Weisheit in unsere Seelen schreiben zu lassen.

Er zog die Stiefel aus und erhob sich. Seine nackten grünen Füße standen fest auf dem Boden, auf der harten Erde. Er breitete die Arme aus und warf den Kopf zurück. Seine blauen Augen waren geschlossen. Er begrüßte die Ankunft der Dämmerung nicht als der Kriegshäuptling in seinem zeremoniellen Gewand, denn das war er nicht mehr. Die Elemente hatten es ihm gezeigt. Möglicherweise hatte er gerade noch rechtzeitig gehandelt, sich entschlossen, die Rüstung und den Titel des Kriegshäuptlings abzulegen. Die Entscheidung lag in seinen Händen, und er hatte sie frei und in aller Ruhe getroffen.

Thrall war Schamane. Seine Verantwortlichkeit lag nicht länger bei der Horde, sondern bei Azeroth selbst und den Elementen, die um Hilfe schrien. Er musste sie vor der schrecklichen Katastrophe bewahren, die ihnen drohte, und sie heilen, wenn sich herausstellen sollte, dass er nicht rechtzeitig gekommen war. Der Wind, der immer noch warm und sanft blies, schien ihn zu streicheln.

Thrall senkte den Kopf und öffnete die Augen. Sein Blick fiel ein letztes Mal auf den Leichnam seines Freundes. Als An’she im Westen unterging und Donnerfels zu einer atemberaubenden Silhouette machte, fiel ein letzter Strahl auf seinen Körper. Auf Cairnes Brust waren alle rituellen Verzierungen angebracht, die er im Leben getragen hatte – Federn, Perlen, Knochen. Doch da lag noch etwas anderes, Teile eines zerbrochenen Stabes, die mit Blut und Schnitzereien bedeckt waren.

Thrall erkannte, dass er auf die Überreste des legendären Runenspeers der Bluthufe hinabblickte, den Blutschrei zerschmettert hatte, bevor Garrosh den tödlichen Hieb ausgeführt hatte.

Mit dieser Erkenntnis überkam ihn ein unbeschreibliches Gefühl des Verlustes, und Thrall begriff, dass der Schmerz, den er bis zu diesem Moment verspürt hatte, nichts war im Vergleich zu dem Leid, das er nun empfand. Er würde sein ganzes Leben ohne die freundlichen Worte, die Weisheit und den Humor seines alten Freundes bestehen müssen.

Aus einem Impuls heraus sprang er wieder auf den Scheiterhaufen. Die Stangen, die das Holz vor dem Herunterrutschen bewahrten, wackelten ein wenig, gaben unter seinem Gewicht jedoch nicht nach. Vorsichtig legte er eine Hand auf Cairnes Stirn und nahm dann behutsam und ehrfürchtig das kleinste Stück des zerbrochenen Runenspeers an sich. Als er es in seiner Hand umdrehte, durchfuhr ihn ein Schauder.

Der Splitter, den er ausgesucht hatte, wies nur eine einzige Rune auf: Heilung. Er würde ihn behalten, um sich an Cairne zu erinnern und immer mit seinem Herzen in Kontakt zu stehen.

Thrall sprang leichtfüßig von dem Scheiterhaufen herunter und ging langsam in Richtung der untergehenden Sonne. Er blickte nicht zurück.

Der Wind ließ ihn frösteln, nachdem die Sonne hinter dem Horizont versunken war. Es gab noch so vieles, das mit Baine besprochen werden musste, so viele Dinge, die erledigt werden mussten. Doch vorher wollte Thrall noch ein wenig mit Aggra auf diesem friedlichen Land sitzen. Sie war noch nie hier gewesen, aber wie er hatte auch sie die Freundlichkeit und Ruhe dieses Ortes gespült. Sie...

Einen Kontinent entfernt fuhr Drek’Thar, der ein wenig gedöst hatte, aus dem Halbschlaf auf. Ein Schrei entrang sich seiner Kehle.

Die Ozeane werden kochen!“

Das Bett des Ozeans war aufgebrochen, und Meilen entfernt zog sich die Flut wie ein Vorhang von dem Hafen von Sturmwind zurück. Schiffe lagen plötzlich auf dem Meeresboden, und die Bürger der Stadt, die gerade einen gemütlichen Nachmittagsspaziergang auf den schönen steinernen Kais machten, blieben stehen, schirmten ihre Augen gegen das Licht der untergehenden Sonne ab und tuschelten überrascht miteinander.

Der Ozean zog sich einen Moment lang in sich selbst zurück, kehrte dann jedoch mit tödlicher Wucht zurück. Die großen Schiffe, die zu solch exotischen, weit entfernten Orten wie Auberdine oder der Valianzfeste fuhren, wurden zerschmettert wie Spielzeugschiffe unter dem Fuß eines zornigen Kindes. Ihre Überreste und die Leichen der Seeleute wurden in die Docks geschleudert. Das Wasser zerstörte die Hafenanlagen und riss die nunmehr entsetzt schreienden Spaziergänger mit sich fort, während es unerbittlich vorwärtsströmte. Es stieg immer weiter und überflutete alles, was sich ihm in den Weg stellte. Sogar die mächtigen Steinlöwen, die über dem Hafen Wache hielten, verschwanden im Wasser. Erst dann kam es zum Stehen.

Weiter südlich hatte sich ein Spalt in der Erde vor der Küste von Westfall aufgetan und ein gewaltiges Loch in den Boden gerissen. Der Ozean war wütend und verängstigt, und er richtete seinen Zorn gegen das Land, das mit Verzweiflung antwortete.

Drek’Thar klammerte sich an Palkar, schüttelte ihn und rief: „Das Land wird weinen, und die Welt wird auseinanderbrechen!“

Unter Thrall splitterte die Erde.

Er sprang beiseite und rollte sich ab. Kaum wieder auf den Füßen, wurde er erneut umgeworfen. Der Boden unter ihm drängte aufwärts, als würde Thrall auf einer großen Kreatur reiten, die ihn hoch und immer höher hob. Er krallte sich am Boden fest, unfähig, aufzustehen oder gar zu fliehen. Wohin hätte er auch fliehen können?

Erde, Boden und Stein, ich erbitte eure Ruhe. Sagt mir, was euch verängstigt, und ich werde ,..

Die Erde erhob ihre Stimme. Es war ein Dröhnen, ein gequälter Schrei.

Thrall spürte den Riss in der Welt. Er befand sich nicht hier, nicht in Donnerfels, nicht einmal in Kalimdor – er lag im Osten, mitten im Ozean, im Zentrum des Mahlstroms... Das war es also, wovor die Elemente solche Angst hatten. Ein Beben, ein Kataklysmus, die Erde brach auf, wie Draenor aufgebrochen war. Aufgrund seiner Verbindung mit den Elementen spürte Thrall ihre Panik. Er warf den Kopf zurück und stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus, bevor er in Ohnmacht fiel.


Er erwachte von der sanften Berührung liebevoller Finger, die über sein Gesicht strichen. Als er die Augen öffnete, sah er Aggra, die mit einem besorgten Gesichtsausdruck auf ihn hinabblickte. Sie entspannte sich, als er ihr schwach zulächelte.

„Du bist härter, als du aussiehst, Sklave“, neckte sie ihn und konnte ihre Erleichterung nicht verbergen. „Einen Moment lang dachte ich, du hättest dich entschlossen, zu den Ahnen zu gehen.“

Thrall sah sich um und begriff, dass er in einem der Zelte auf Donnerfels lag, möglicherweise auf der Anhöhe der Geister. Baine stand neben ihm.

„Wir haben Euch auf dem Boden liegend gefunden, nur ein kleines Stück von der Begräbnisstätte entfernt, und haben Euch hergebracht, mein Freund“, sagte Cairnes Sohn. Er lächelte. „Mein Vater liebte Euch im Leben, Thrall, Sohn von Durotan, aber ich glaube nicht, dass Ihr ihm so schnell in den Tod nachfolgen sollt.“

Thrall richtete sich mühsam auf. „Die Warnung, die Gordawg uns gab...“, sagte er. „Wir sind zu spät.“

Aggras Augen waren voller Mitgefühl. „Ich weiß. Aber ich weiß auch, wo die Wunde entstanden ist.“

„Im Mahlstrom“, sagte Thrall. „Das habe ich erfahren, bevor ich...“ Er verzog das Gesicht.

Sie berührte seine Schulter, fuhr über den weichen Stoff seiner Robe. „Du trägst deine Rüstung nicht mehr“, sagte sie ruhig.

„Nein“, antwortete Thrall, „das tue ich nicht.“ Er lächelte sie liebevoll an. „Ich habe meine Haut abgestreift.“ An Baine gewandt sagte er: „Wenn Ihr... Wenn ich Euch bitten dürfte, sie holen zu lassen. Obwohl ich die Rüstung nicht mehr tragen werde, möchte ich, dass sie nach Orgrimmar gebracht wird. Sie ist ein wichtiger Bestandteil unserer Kultur.“

„Natürlich, Thrall. Das wird erledigt.“

Aggra lehnte sich zurück und blickte die beiden an. „Also was machen wir jetzt?“

Thrall streckte die Hand aus und ergriff die des jungen Bluthuf. „Baine... Ihr wisst, ich kam zurück in der Hoffnung, der Horde und den Elementen zu helfen. Ich glaube, ich kann beides noch immer erreichen. Nur... als Kriegshäuptling ist mir das nicht möglich.“

Baine lächelte traurig. „Ich mag Garrosh Höllschrei nicht, obwohl ich sicher bin, dass er von dem Gift auf seiner Axt nichts wusste. Mir wäre es lieber, wenn Ihr die Horde anführt. Aber nach allem, was geschehen ist, kann ich verstehen, dass Ihr gehen müsst. Es sind Berichte hereingekommen... An jedem Ort an der Küste, der nach Süden ausgerichtet ist, gab es Flutwellen und Stürme. Theramore, Sturmwind, Westfall, Ratschet, Dampfdruckpier, Unterstadt, sie alle sind von schweren Beben erschüttert worden. Feuer, die durch Blitzschläge verursacht wurden, brennen im Eschental.“

Thrall schloss die Augen. „Euer Verständnis macht es mir leichter, Baine. Ich liebe die Horde. Gemeinsam mit Eurem Vater habe ich sie zu dem gemacht, was sie heute ist. Aber es gibt eine dringendere Angelegenheit, und um diese muss ich mich kümmern, und zwar sofort. Ich schicke eine Botschaft nach Orgrimmar und bereite mich darauf vor, mit dem Schiff abzureisen und diese... Wunde der Welt zu untersuchen. Die Horde muss selber sehen, wie sie ohne mich zurechtkommt.“

Drek’Thar weinte. Die Tränen strömten unaufhaltsam aus seinen blinden Augen. Palkar zweifelte nicht an der Vision des alten weisen Mannes. Zwar spürte er nichts, zumindest nicht hier und nicht physisch, aber er fühlte das Leid der Welt. Als Drek’Thar weinend sein Gesicht dem jüngeren Orc zuwandte, wartete Palkar darauf, was der Seher ihm mitteilen würde. Das Blut in seinen Adern schien zu gefrieren, als er die Worte des Alten hörte. „Jemand bricht die Tür auf! Lasst ihn nicht herein!“ Drek’Thars Visionen hatten sich bisher stets bewahrheitet. Er hatte immer recht behalten, und Palkar bezweifelte nicht, dass es auch dieses Mal so sein würde. Die Frage war nur: Wer war dieser mysteriöse Eindringling?

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