„Land in Sicht!“, rief der Ausguck. Der schlanke Blutelf hatte sich im Krähennest eingerichtet, einem so unsicheren Ort, dass eine echte Krähe es sich zweimal überlegen würde, darauf zu landen. Zumindest empfand Cairne es so. Doch der junge Ausguck sprang behände auf die Takelage, die Hände und die nackten Füße von einem Seil gesichert, und schien sich pudelwohl zu fühlen. Der ältere Taure, der den Blutelf vom Deck aus beobachtete, schüttelte den Kopf, als er ihm dabei zusah. Er war froh und auch ein wenig erleichtert, dass der erste Teil ihrer Reise nach Nordend überstanden war. Cairne Bluthuf, Anführer der Tauren, stolzer Vater und Krieger, mochte keine Schiffe.
Er war ein Geschöpf der guten, festen Erde, so wie sein gesamtes Volk. Natürlich hatten auch sie Boote, doch diese waren klein und blieben stets in Sichtweite zur Küste. Selbst die Zeppeline, diese neumodischen Flugapparate der Goblins, fühlten sich sicherer unter seinen Hufen an als ein Schiff. Vielleicht war es die schaukelnde Bewegung und die Tatsache, dass die See binnen eines Augenblicks extrem feindlich werden konnte. Oder es lag an der tödlichen Langeweile einer Reise wie dieser, von Ratschet zur Boreanischen Tundra. Doch eigentlich war es vollkommen unerheblich, denn jetzt, als ihr Ziel in Sicht kam, jubelte der alte Bulle.
Er reiste, wie es sich für jemanden seines Ranges gehörte, auf dem Flaggschiff der Horde, der Mannoroths Gebeine. Einige weitere Boote begleiteten das stolze Schiff. Ihre Laderäume waren, abgesehen von den Wasserfässern – und den Fässern, die mit Gordok-Ogerbräu gefüllt waren, das dazu bestimmt war, die Moral zu heben – und den unverderblichen Nahrungsmitteln leer. Cairne würde nicht mehr als einen Tag an Land bleiben können, während die Schiffe mit den Vorräten, die in Nordend nicht mehr benötigt wurden, und den letzten Soldaten beladen wurden. Diese Kerle würden sich zweifellos auf die Heimreise freuen.
Seine alten Augen konnten das Land durch den dichten Nebel noch nicht erkennen, doch er vertraute dem scharfen Blick des geübten Ausgucks der Sin’dorei. Cairne ging zur Reling und legte die Hände darauf. Unverwandt blickte er in den Nebel, während das Schiff sich dem Land näherte.
Er wusste, dass die Allianz auf einer der vielen Inseln im Südosten dieser Gegend die Valianzfeste errichtet hatte, was die Navigation erleichterte. Ihr eigentliches Ziel, die Kriegshymnenfeste, bot einen guten Blick auf das Land, was für die Horde viel wichtiger war als tiefe Häfen oder ein leichter Zugang zum Meer. Zumindest war es wichtiger gewesen.
Cairne blies sanft durch die Nüstern, als das Schiff langsam und vorsichtig vorwärtsglitt. Er machte nun im dichten Nebel andere Schiffe aus – beispielsweise das Wrack, dessen Kapitän offensichtlich nicht so klug gewesen war wie der Troll, der die Mannoroths Gebeine befehligte. Entweder war er angegriffen worden oder auf Grund gelaufen – vielleicht auch beides. „Garroshs Landeplatz“ wurde der Ort ganz unbescheiden genannt. Viel war vom Schiff des impulsiven jungen Orcs nicht übrig geblieben. Es war bis auf das Gerippe ausgeschlachtet worden, und die einst scharlachroten Segel, die das schwarze Zeichen der Horde trugen, waren verblasst und vom Wind zerfetzt. Der einzelne Wachturm, der nun in Sicht kam, war stark verwittert. Cairne konnte gerade noch die massige Silhouette eines Gebäudes ausmachen, das ohne Zweifel einmal eine große Halle gewesen war.
Garrosh, der Sohn des berühmten Orcs Grom Höllschrei, war unter den Ersten gewesen, die dem Ruf Nordends gefolgt waren. Cairne bewunderte den jungen Orc dafür, doch was er von ihm gehört und gesehen hatte, war ebenso vielversprechend wie erschreckend. Cairne war noch nicht so alt, dass er sich nicht mehr an das Feuer seiner eigenen Jugend erinnern konnte. Er hatte seinen Sohn Baine großgezogen und erlebt, wie der heranwachsende Taure das Gleiche durchlebt hatte wie er. Er wusste sehr wohl, dass Garroshs Verhalten zum Teil Ausdruck des Ungestüms eines jungen Mannes war, das wieder vergehen würde. Doch Cairne musste sich eingestehen, dass Garroshs Begeisterung und Hingabe ansteckend waren. Mitten in dem entmutigenden Krieg hatte Garrosh die Herzen und die Fantasie der Horde entfacht, und in ihnen war ein Stolz erwacht, der sich wie ein Waldbrand ausgebreitet hatte.
Garrosh war in jedem Sinne der Sohn seines Vaters. Grom Höllschrei war nie für seine Geduld oder seine große Weisheit bekannt gewesen. Er hatte stets als Erster gehandelt, brutal und rücksichtslos. Sein Kriegsruf war ein durchdringender, furchterregender Schrei, dem er seinen Nachnamen verdankte. Es war Grom gewesen, der zuerst vom Blut des Dämons Mannoroth gekostet hatte – Blut, das ihn befleckt hatte, wie auch alle anderen Orcs, die es getrunken hatten. Doch schließlich hatte Grom seine Gelegenheit zur Rache erhalten. Obwohl er als Erster dem dämonischen Blutrausch und Wahnsinn verfallen war, war es ihm gelungen, diesen wieder zu entkommen. Er hatte Mannoroth getötet, wodurch die Orcs ihre großen Herzen und ihren freien Willen zurückerhielten.
Garrosh hatte sich einst für seinen Vater geschämt. Er hatte ihn für einen Schwächling gehalten, weil er das Blut getrunken hatte, und für einen Verräter. Thrall hatte den jungen Mann aufgeklärt, und mittlerweile war Garrosh Höllschrei stolz auf seine Abstammung. Vielleicht sogar ein wenig zu stolz,, überlegte Cairne, obwohl Garroshs Begeisterung sich positiv auf die Krieger ausgewirkt hatte. Cairne fragte sich, ob Thrall Groms gute Taten nicht zu ausgiebig gelobt und so seine schlechten Eigenschaften ein wenig zu sehr heruntergespielt hatte.
Thrall, der Kriegshäuptling der Horde, ein weiser und tapferer Anführer, war bei mehr als einer Gelegenheit mit dem forschen jungen Garrosh aneinandergeraten. Bevor das Desaster an der Pforte des Zorns geschehen war, hatte Garrosh Thrall sogar zu einem Kampf in der Arena von Orgrimmar herausgefordert. Und vor noch gar nicht allzu langer Zeit hatte Garrosh sich von Varian Wrynns wütenden Sticheleien so sehr provozieren lassen, dass er den König von Sturmwind angegriffen und im Herzen von Dalaran eine heftige Auseinandersetzung mit ihm gehabt hatte.
Cairne musste jedoch Garroshs Erfolg und seine Bekanntheit anerkennen und ebenso die Begeisterung und die Hingabe, die die Horde ihm entgegenbrachten. Natürlich hatte Garrosh nicht, wie einige Gerüchte behaupteten, die Geißel allein zurückgeschlagen, den Lichkönig eigenhändig getötet und Nordend gesichert, sodass die Kinder der Horde nunmehr sorglos umhertollen konnten. Doch es war unbestreitbar, dass seine Ideen zum Erfolg geführt hatten. Er hatte der Horde das Gefühl eines wilden Stolzes und das Feuer für den Kampf zurückgegeben. Es war ihm stets gelungen, Entscheidungen, die zuerst verrückt zu sein schienen, in große Erfolge zu verwandeln.
Cairne war zu intelligent, um das als bloßen Zufall abzutun. So kühn Garrosh auch sein mochte, waren seine Erfolge doch nicht allein seiner Rücksichtslosigkeit geschuldet. Garrosh war genau das, was die Horde zu dem Zeitpunkt gebraucht hatte, der fraglos ihre dunkelste und verwundbarste Stunde gewesen war. Das wollte Cairne dem Jungen bereitwillig zugestehen.
„So, viel weiter müss’n wa nich mehr“, sagte Kapitänin Tula an Cairne gewandt und gab Befehl, die kleineren Boote abzutauen. „De Kriegshymnenfeste is’ nich mehr weit, genau nach Osten auf den Hügeln.“
Tula wusste genau, wovon sie sprach, denn in den vergangenen Jahren war sie zahllose Male zwischen hier und Ratschet hin- und hergefahren. Wegen dieser Kenntnisse hatte Thrall sie zur Kapitänin der Mannoroths Gebeine gemacht. Cairne nickte.
„Öffnet eines der Fässer mit dem Ogerbräu, um die Mannschaft für ihren Fleiß zu belohnen“, sagte er mit seiner tiefen, bedächtigen Stimme. „Aber lasst noch etwas für die tapferen Krieger übrig, die nach so langer Zeit nach Hause fahren.“
Tulas Blick hellte sich merklich auf. „Jawohl, Oberhäuptling“, sagte sie. „Danke. Wir nehm’n auch nur ein Fässchen.“
Cairne drückte ihre Schulter, nickte zustimmend und kletterte nicht ohne Beklemmung in das ihm so winzig erscheinende Boot, das ihn an den Strand bringen würde. Der Nebel klebte wie ein Spinnennetz an ihnen, widerlich und kalt. Sie stapften an zerborstenen Belagerungsmaschinen vorbei, an achtlos zurückgelassenen Waffen und Rüstungen. Schließlich passierten sie die Überreste eines schon vor langer Zeit verlassenen Bauernhofs, vor dem mehrere von der Sonne ausgebleichte Schweineskelette lagen. Als sie eine leichte Steigung hinaufgingen, bemerkte er, dass die Erde mit einer roten Pflanze bedeckt war, die sich trotz der Kargheit des Bodens hier gehalten hatte. Cairne respektierte das.
Die Kriegshymnenfeste ragte stolz und weithin sichtbar vor ihnen auf. Sie schien in der Mitte einer Senke zu liegen, deren Vertiefung eine natürliche Barriere bildete. Die Neruber, ein ausgestorbenes altes Volk von Spinnenwesen, von denen viele durch Nekromantenmagie wiederbelebt worden waren, hatten sie verschiedene Male angegriffen. Doch heute geschah das nicht mehr. Was einst starke, klebrige Spinnweben gewesen waren, waren nun nur noch abgenutzte oder sogar zerfetzte Überreste, die harmlos im Wind tanzten. Ebenso wie die Geißel waren auch die Neruber der Horde gewichen.
Eine rasche Bewegung zog Cairnes Aufmerksamkeit auf sich. Ein Kundschafter hatte die Standarte der Horde ausgemacht und eilte nun Cairnes Gruppe voraus. Cairne und seine Leute folgten dem Rand der Senke, bis sie auf einen Pfad stießen, der in sie hineinführte. Der Eingang war nicht beeindruckend, sondern offenbar nur für die einfachen Arbeiter bestimmt. Unvermittelt fand Cairne sich mitten in einer Schmiede wieder.
Doch hier flossen keine Ströme zischenden flüssigen Metalls durch die Rinnen, es ertönte kein Kling Kling der Hämmer auf den Ambossen. Cairnes Nase, die besser ausgebildet war als seine Augen, witterte den schwachen, schalen Geruch von Wölfen. Die Tiere hatten diesen Ort offensichtlich schon vor einiger Zeit verlassen und waren wohl von ihren Herren heimgeschickt worden. Die Waffen und die Munition, die noch hier lagerten, schienen schon seit Langem Staub angesetzt zu haben. Wenn Cairne erst einmal eine Bestandsaufnahme gemacht hatte, würden die Kodos – exzellente Lasttiere, die sie über die See mitgebracht hatten –die Ladung zu den Schiffen bringen.
Cairne spürte die Kälte an diesem Ort. Wäre die Schmiede noch in Betrieb gewesen, hätte hier eine solche Hitze geherrscht, dass auch der höhlenartige Außenbereich angenehm warm gewesen wäre. Doch jetzt, wo sie so still und verlassen dalag, hatte die Kälte Nordends das gesamte Areal durchdrungen. Cairne, ein erfahrener Veteran, war von der Größe der Schmiede überwältigt. Sie war weitaus größer als die Feste Grommash, vielleicht sogar größer als einige Städte der Horde. Eine riesige, offene und praktisch leere Schmiede. Seine Schritte und die seiner Begleiter hallten von den Wänden wider, als sie sich dem Zentrum der ersten Etage zuwandten.
Zwei Orcs, die in ein Gespräch vertieft waren, wandten sich um, als sie sich ihnen näherten. Cairne kannte sie beide und nickte ihnen höflich zu. Der Ältere mit der grünen Haut war Varok Saurfang, der jüngere Bruder des großen Helden Broxigar und Vater des kürzlich verstorbenen, von allen aufrichtig betrauerten Dranosh Saurfang. Viele Mitglieder der Horde hatten große Opfer in diesem Krieg bringen müssen, doch Varok hatte weitaus mehr als sie alle verloren.
Sein Sohn war mit Tausenden anderen bei Angrathar gefallen, der Pforte des Zorns. An diesem schwarzen Tag hatten die Horde und die Allianz Seite an Seite gegen die besten Truppen gekämpft, über die der Lichkönig verfügte, und das Monster sogar dazu gebracht, selbst auf dem Schlachtfeld aufzutauchen. Der junge Saurfang war gefallen, und seine Seele war von Frostgram aufgesaugt worden. Kurz darauf hatte ein Verlassener mit Namen Putress eine Pest losgelassen, die sowohl die Lebenden als auch die Toten vernichtet hatte.
Doch die Familie Saurfang hatte noch größeres Leid ertragen müssen. Die Leiche des jungen Kriegers war vom Lichkönig wiederbelebt worden, der den Untoten dann ausgesandt hatte, um all diejenigen zu töten, die er einst geliebt hatte. Ein fast schon erlösender Streich mit dem Schwert hatte seine widernatürliche Existenz beendet. Nur durch den Fall des Lichkönigs war es dem Hochfürsten Saurfang schließlich gelungen, den Leichnam seines Jungen nach Hause zu bringen – der nun wirklich tot war und dies auch blieb.
Saurfang war grauhaarig und stark und verkörperte nach Cairnes Meinung die besten Tugenden der Orcs. Er war weise und ehrenhaft, ein starker Arm in der Schlacht und ein kühler Kopf, wenn es um strategische Fragen ging. Cairne hatte Saurfang nicht mehr gesehen, seit dessen Sohn bei der Pforte des Zorns gefallen war, und nun erkannte er, dass Saurfang durch den Schmerz deutlich gealtert war. Ob auch er einen solchen Verlust und den damit einhergehenden überwältigenden Schmerz so mannhaft wie Saurfang ertragen hätte, wusste Cairne nicht zu sagen.
„Hochfürst“, knurrte Cairne und verneigte sich. „Als Vater bedaure ich, was Ihr erleiden musstet. Doch wisset, dass Euer Sohn als Held gestorben ist. Und was Ihr geschaffen habt, ehrt sein Andenken. Alles andere ist vom Winde verweht.“
Saurfang grunzte zustimmend. „Es tut gut, Euch wiederzusehen, Oberhäuptling Cairne Bluthuf. Ja... ich weiß, dass Ihr die Wahrheit sprecht. Ich schäme mich nicht einzugestehen, wie froh ich bin, dass dieser Krieg vorbei ist. Wir haben allzu viel verloren.“
Der jüngere Orc, der neben Saurfang stand, verzog das Gesicht, als würden ihm die Worte Saurfangs Übelkeit bereiten. Es fiel ihm offensichtlich schwer, den Mund zu halten. Seine Haut war nicht grün wie die der meisten Orcs, denen Cairne begegnet war. Vielmehr war sie lehmfarben, was ihn als Mag’har aus der Scherbenwelt auswies. Er hatte eine Glatze und trug nur einen braunen Zopf. Bei diesem Orc handelte es sich um Garrosh Höllschrei. Zweifellos hielt er es für unehrenhaft, Freude darüber zu bekunden, dass die Schlacht ausgestanden war. Der Taurenhäuptling wusste, dass der junge Orc noch lernen würde, dass es zwar gut war, für einen noblen Zweck zu kämpfen und zu siegen, dass der Friede jedoch ebenfalls etwas Ehrenhaftes war. Trotz des hart errungenen Sieges hatte Garrosh offensichtlich noch nicht genug vom Kampf, und das beunruhigte Cairne.
„Garrosh“, sagte Cairne. „Die Kunde von Euren Taten ist bis in den letzten Winkel Azeroths gedrungen. Ich bin mir sicher, dass Ihr ebenso wie Saurfang stolz seid auf Eure Erfolge.“
Dieses Kompliment war ehrlich gemeint, und Garroshs angespannte Haltung lockerte sich ein wenig. „Wie viele Eurer Soldaten werden mit uns zurückkehren?“, fuhr Cairne fort.
„Nahezu alle“, antwortete Garrosh. „Ich behalte nur eine Rumpfmannschaft mit Saurfang und einige andere hier und da an verschiedenen Außenposten. Ich glaube nicht einmal, dass er die überhaupt braucht. Die Kriegshymnenoffensive hat die Geißel zerschlagen und dem Rest unserer Feinde den Kampfgeist ausgetrieben. Deshalb sind wir ja ursprünglich hergekommen. Ich befürchte, dass mein früherer Berater hier nur herumsitzt, den Spinnen beim Spinnen zusieht und sich des Friedens erfreut, nach dem er sich so offensichtlich sehnt.“
Einen anderen als Saurfang hätten diese Worte verletzt. Cairne ärgerte sich über Garrosh, denn nach allem, was Saurfang erlitten hatte, war Garroshs Bemerkung hart und unpassend. Doch der alte Orc war Garroshs Rücksichtslosigkeit offenbar gewohnt, denn er grunzte lediglich unwirsch.
„Wir beide haben unsere Pflicht getan. Wir dienen der Horde. Wenn ich dafür kleine Spinnen beobachte statt große, dann soll mir das recht sein.“
„Und ich muss der Horde dienen, indem ich ihre siegreichen Soldaten heimbringe“, sagte Cairne. „Garrosh, welcher von Euren Männern leitet den Abzug?“
„Ich selbst“, antwortete Garrosh und überraschte Cairne mit diesen Worten. „Wir alle haben gesunde Schultern zum Tragen.“ Cairne hatte Garrosh bislang für ein Bürschchen gehalten, das sich einst seiner Herkunft geschämt hatte und einen eigenen Eingang brauchte, da sein gewaltiges Ego nicht durch eine gewöhnliche Tür passte. Und dennoch zögerte dieser Kerl nicht, die einfachsten Aufgaben gemeinsam mit seinen Soldaten zu übernehmen. Cairne lächelte zufrieden. Er verstand plötzlich ein wenig besser, warum Garroshs Orcs ihren Anführer so sehr verehrten.
„Meine Schultern sind nicht mehr ganz so kräftig wie einst, doch ich glaube, sie können noch immer tragen, was sie tragen müssen“, sagte Cairne. „Lasst uns an die Arbeit gehen.“
Es dauerte knapp zwei Tage, alles einzupacken, die Kisten auf die Kodos zu laden und zum Schiff zu bringen. Während sie arbeiteten, sangen viele der Orcs und Trolle Lieder in ihrer rauen, gutturalen Sprache. Cairne verstand sowohl Orcisch als auch Zandali und lächelte über den Unterschied zwischen den Texten der Lieder und dem, was hier tatsächlich geschah. Trolle und Orcs sangen fröhlich davon, Arme, Beine und Köpfe abzuhacken, während sie die Kisten auf den Rücken der Kodos festbanden. Doch sie waren guter Dinge, und Garrosh sang lauter als alle anderen.
Als sie schließlich Seite an Seite die Kisten zum Schiff trugen, fragte Cairne: „Warum habt Ihr die Landestelle verlassen, Garrosh?“
Garrosh verschob die Last, die auf seiner Schulter ruhte. „Dort sollte nie ein dauerhaftes Lager entstehen. Nicht in so großer Nähe zur Kriegshymnenfeste.“
Cairne beäugte die große Halle und den Turm. „Warum habt Ihr dann diese Gebäude hier gebaut?“
Garrosh antwortete nicht, und Cairne ließ ihn eine Weile in Ruhe. Garrosh mochte vieles sein, aber er war nicht wortkarg. Er würde reden... irgendwann.
Und tatsächlich, schon kurze Zeit später sagte Garrosh: „Wir haben sie nach unserer Landung errichtet. Anfänglich gab es keinerlei Probleme, doch dann trat plötzlich ein Feind aus dem Nebel, wie ich ihm noch nie zuvor begegnet bin. Offensichtlich wurdet ihr anderen nicht von ihm bedrängt. Doch ich frage mich die ganze Zeit, ob er zurückkommt.“
Ein Feind, der so mächtig war, dass er Garrosh aufhalten konnte? „Was war das für ein Feind, der Euch so viel Ärger bereitet hat?“, fragte Cairne.
„Man nennt sie Kvaldir“, sagte Garrosh. „Die Tuskarr glauben, dass es die wütenden Geister der getöteten Vrykul sind.“ Cairne tauschte einen Blick mit Maaklu Wolkenrufer aus, dem Taure, der neben ihnen herging. Wolkenrufer war Schamane, und als er Cairnes Blick bemerkte, nickte er. Niemand aus Cairnes Landungsgruppe hatte einen Vrykul gesehen, doch Cairne wusste von ihnen. Sie sahen wie Menschen aus – wenn Menschen denn größer als Tauren gewesen wären und eine Haut gehabt hätten, die mit Eis bedeckt war oder aus Metall oder Stein bestanden hätte.
Sie waren äußerst brutal und ausgesprochen kräftig. Cairne war daran gewöhnt, von Geistern umgeben zu sein, doch das waren ja auch die Vorfahren der Tauren. Ihre Gegenwart war etwas Positives. Der Gedanke, dass die Geister der Vrykul diesen Ort heimsuchten, war jedoch nicht gerade angenehm. Windrufer schien sich jedenfalls ein wenig unbehaglich zu fühlen.
„Die meisten meiner Krieger waren entsetzt, und die Vrykul waren so mächtig, dass wir uns zur Kriegshymnenfeste zurückziehen mussten. Als der Lichkönig fiel, konnte ich schließlich unseren Landeplatz zurückerobern.“
Genau darin lag Garroshs Schande. Nicht etwa darin, „Geister“ gesehen zu haben, wenn die Vrykul denn wirklich solche waren, sondern darin, dass er hatte weglaufen müssen. Kein Wunder, dass Garrosh nicht erwähnt hatte, warum sie den Landeplatz verlassen hatten, einen Ort, für den er als Namensgeber Stolz und Zuneigung hätte empfinden müssen.
Cairne senkte die Augen vor dem finster dreinblickenden Garrosh, der ganz offensichtlich glaubte, seine Ehre verteidigen zu müssen.
„Die Geißel kommt nicht an diese Küste“, fügte Garrosh hinzu. „Offensichtlich mögen selbst sie die Kvaldir nicht.“
Wenn die Kvaldir sie bisher nicht angegriffen hatten, würde Cairne sich ganz sicher nicht darüber beschweren. „Die Kriegshymnenfeste hat die bessere strategische Lage“, war alles, was er dazu sagte.
Am Mittag des zweiten Tages verabschiedete sich Cairne von Saurfang. Er ergriff die Hand des anderen. Garrosh hatte zwar Witze über den Frieden und die Ruhe gemacht, die hier herrschten, doch die Realität würde eine andere sein. Es würde mehr als genug Geister geben, die Saurfang heimsuchten, wenn auch nur in seinen Erinnerungen. Cairne wusste das, und als er in Saurfangs Augen blickte, erkannte er, dass dies auch dem Orc klar war.
Cairne wollte ihm erneut danken, ihn ermutigen, dafür loben, dass er seiner Aufgabe so erfolgreich nachgekommen war und klaglos eine solche Bürde trug. Doch Saurfang war ein Orc, kein Blutelf, und leichtfertige Komplimente waren weder erwünscht noch willkommen.
„Für die Horde“, war daher alles, was Cairne sagte.
„Für die Horde“, antwortete Saurfang, und das war genug.
Die Kämpfer, die zur letzten Welle der Kriegshymnenoffensive gehört hatten und nun Nordend verließen, schulterten ihre Waffen und machten sich daran, westwärts durch die Senke und hoch auf die Ebene von Nasam zu marschieren.
Wie immer auf diesem Weg umhüllte sie der Nebel. Cairne konnte nichts Übernatürliches darin erkennen, aber er gestand sich bereitwillig ein, nur ein Krieger und kein Schamane zu sein. Er hatte nicht erlitten, was Garrosh und seine Krieger erlebt hatten, und er hatte nicht gesehen, was sie gesehen hatten. Doch er wusste, dass solche Dinge wie wütende Geister sehr wohl existierten.
Der Nebel ließ sie nur langsam vorwärtskommen, doch nichts Ungewöhnliches geschah. Als sie schließlich den Strand erreichten, wo die kleinen Boote vertäut lagen, hielt Cairne plötzlich inne. Er spürte etwas. Seine Ohren zuckten, und er schnüffelte in die kühle, feuchte Luft.
Als er seine alten Augen anstrengte, um etwas in dem dichten Nebel erkennen zu können, machte er vage die geisterhafte Gestalt eines Schiffes aus. Nein, da war mehr als ein Schiff... zwei... drei...
„Kvaldir!“, brüllte Garrosh.
Einige wertvolle Augenblicke lang kämpfte jeder von ihnen gegen die Angst an und überwand sich dazu, sich auf den bevorstehenden Kampf vorzubereiten. Die Schiffe tauchten aus dem Nebel auf und waren mit Toten bemannt. Bleich waren sie, mit einem Stich ins Grünliche, verwest und mit Seegras bedeckt. Ihre Kleidung war durchnässt und zerrissen. Die Ruder wurden gehoben, und die Kvaldir sprangen schreiend und stöhnend ins Wasser und drängten auf den Strand zu.
Die riesigen und grausigen Gestalten bewegten sich schneller, als Cairne es für möglich gehalten hatte. Die Untoten bezogen Stellung zwischen den Kriegern der Horde und der Kriegshymnenfeste. Das zweite Schiff glitt neben die Mannoroths Gebeine, und die Wesen, die einige „Geister der Toten“ nannten, begannen die Lebenden zu töten. Am Strand zogen weitere Untote den Ring um Cairne und Garrosh enger und gingen rasch zum Angriff über. Einige von Garroshs Kämpfern starben, bevor sie auch nur die Chance hatten, sich zur Wehr zu setzen.
Cairne bewegte sich ebenfalls schneller, als man vermutet hätte. Anders als einige der Orcs, die sich versteckten oder schreckerfüllt davonrannten, hatte er keine Angst vor den Toten. Sollten sie doch nur kommen! Mit einem gellenden Schrei griff er einen der riesigen untoten Krieger an und versuchte, mit dem runenbedeckten Schaft seines uralten Speers einige andere zur Seite zu schlagen. Doch sie waren schnell und wichen dem Speer geschickt aus. Selbst über das Stöhnen und Schreien hinweg hörte Cairne den Wind, als sein Speer ins Nichts traf. Der Runenspeer war von einem Schamanen gesegnet worden, so wie alle Waffen Cairnes. Wenn er damit traf, würde er selbst einen Geist verletzen.
„Bleibt standhaft und kämpft!“, brüllte Cairne. „Wir können nirgendwohin fliehen!“
Er hatte recht. Sie waren zwischen der Feste und ihrem Schiff gefangen, das nun ebenfalls angegriffen wurde. Sie waren im Freien eingekesselt und...
Nein. Nicht im Freien.
„Rückzug!“, brüllte Cairne und widerrief so seinen letzten Befehl. Er erhob die Stimme so laut wie möglich über die unwirklichen Schreie der Kvaldir und die Kriegsrufe der wenigen Überlebenden der Kriegshymnenoffensive. „Rückzug zur großen Halle bei Garroshs Landeplatz!“ Dort konnten sie zu Atem kommen, ihr weiteres Vorgehen planen und sich neu gruppieren. Alles war besser, als hier zu stehen und abgeschlachtet zu werden ohne eine echte Strategie für einen Gegenangriff.
Cairne bedachte die Neigung der Orcs zu waghalsigen Aktionen und machte sich auf einen Widerspruch vonseiten Garroshs gefasst. Doch der nahm den Ruf auf, blies in sein Horn, das er an der Hüfte getragen hatte, und wies nach Westen. Augenblicklich bewegte sich die Horde in diese Richtung. Im Lauf schlugen die Krieger nach den untoten Kreaturen, doch einige schafften es nicht. Sie wurden enthauptet oder von den doppelschneidigen und sehr weltlich wirkenden Äxten der Kvaldir aufgeschlitzt. Selbst Cairne wurde hart bedrängt. Eine bleiche Hand schloss sich plötzlich um seinen Runenspeer und drohte ihm diesen aus der Hand zu reißen. Cairne widersetzte sich dem Angriff nicht, sondern ließ bewusst zu, dass das scheußliche Wesen ihn zu sich heranzog.
Keinem Feind würde es gelingen, ihm seinen Runenspeer abzunehmen.
Er stieß einen Kampfruf aus und stach zu.
Der Speer drang tief in den Feind ein. Die Augen des Kvaldirs weiteten sich. Er öffnete den Mund, spie Blut und sank zu Boden. Cairne starrte ihn an. Das waren Fleisch, Blut und Knochen! Garrosh hatte recht gehabt: Den Geschichten der Tuskarr war nicht zu trauen! Diese Geister waren lebendige Wesen. Und alles, was lebte, konnte auch sterben.
Diese Entdeckung trieb Cairne an, der sich nun stetig der großen Halle näherte. Sie wurde teilweise von dem seltsamen Nebel verdeckt, der jetzt weniger bedrohlich wirkte und den Vrykul als Deckung diente, denn um solche schien es sich bei den Geistern zu handeln. Einige seiner Krieger hatten die Halle bereits erreicht. Cairne sah mit Missfallen, dass zwei der drei Türen beschädigt waren. Eine Tür war nicht mehr vorhanden, und die zweite hing nur noch an einer Angel.
Sein Blick fiel auf einen Tisch, an dem sich an glücklicheren Tagen die Soldaten zu ihren Mahlzeiten versammelt hatten. Tatsächlich standen noch eine verstaubte Laterne, ein Krug und ein Teller auf ihm. Mit einem Arm fegte Cairne alles herunter und griff den Tisch mit beiden Händen. Grunzend hob er ihn an, stieß die Bänke und alles andere, das ihm im Weg stand, beiseite und eilte, so schnell er konnte, zur Tür.
Garrosh grinste. „Ihr seid schlau und stark, alter Bulle“, sagte er mit neidvoller, doch aufrichtiger Bewunderung in der Stimme. „Ihr da! Nehmt diese Kisten! Alle anderen: Los, rein mit euch, rein, rein!“
Die Soldaten gehorchten sofort. Cairne hielt den Tisch mit einer Hand hoch und wartete, bis auch der letzte Krieger, ein Troll, dessen aufgeschlitztes Bein stark blutete, in die große Halle hineingehumpelt war. In derselben Sekunde folgte Cairne ihm und verkeilte den Tisch in der Türöffnung. Keinen Herzschlag später erzitterte die behelfsmäßige Tür bereits unter den Schlägen ihrer Angreifer. Das Stöhnen der „Untoten“ war deutlich zu hören.
Cairne schluckte, während er die Tür zusätzlich verkeilte. „Sie sind Feinde, aber es sind lebendige Feinde!“, rief er. „Garrosh, Ihr hattet recht. Die Kvaldir sind ganz normale Vrykul. Sie benutzen den Nebel und die Verkleidung als Waffe, um Angst in die Herzen ihrer Gegner zu pflanzen, bevor sie angreifen. Auch ich bin darauf hereingefallen – bis der Runenspeer einen von ihnen aufgespießt hat und ich erkannte, was sie wirklich sind.“
„Was auch immer sie sein mögen, wir werden nicht mehr lange hier durchhalten“, keuchte Wolkenrufer und stemmte sich mit seinem breiten Rücken gegen die „Tür“, die immer wieder unter gewaltigen Schlägen erbebte. Andere Krieger kamen ihm zu Hilfe. Die Schamanen und Druiden in der Gruppe versuchten verzweifelt, sich um die Verwundeten zu kümmern, von denen es viele – zu viele – gab. Ein Drittel der ohnehin schon kleinen Gruppe war verletzt, einige davon schwer. „Die Kisten... sind da irgendwelche Waffen drin? Irgendetwas, das uns nützen kann?“
Es war eine gute Idee, doch die meisten Krieger hatten ihre Kiste fallen lassen, als sie sich in den Kampf gegen die Angreifer stürzten. Es wäre dumm gewesen, die schweren Kisten auf ihrer Flucht in die große Halle mitzunehmen.
„Wir haben nichts“, sagte Cairne. „Nichts außer unserem Mut.“
Er hatte gerade tief eingeatmet und hoffte, ein paar Worte sagen zu können, um seine und Garroshs Leute anzufeuern, als Garrosh ihn unterbrach.
„Ja, wir haben unseren Mut. Doch wir haben auch noch etwas anderes. Wir werden diesen falschen Geistern zeigen, welchen Preis es sie kostet, uns hereinlegen zu wollen. Sie glauben vielleicht, wir seien außerhalb der Feste leichte Beute für sie. Und sie wollen die Anlegestelle erobern. Doch diese Kerle werden den Zorn unserer Horde kennenlernen!“
Er ging in die Mitte der Halle und trat achtlos einen Webteppich beiseite, der auf dem Boden lag. Darunter kam eine Falltür zum Vorschein. Mit einem angestrengten Grunzen zog Garrosh sie langsam auf und ließ die Klappe krachend auf den steinernen Boden fallen. Eine winzige Kammer tat sich vor ihnen auf.
Und darin, aufgestapelt wie kleine Melonen, lagen zahllose Granaten.
Einige Männer jubelten, während die anderen Garrosh verwirrt anblickten.
„Ihr habt sie hier für den Notfall zurückgelassen, oder?“, fragte Cairne überrascht. „Für den Fall, dass die Kriegshymnenfeste fallen sollte.“
Die Orcs hielten nicht viel von Notfallplänen, wie Cairne wusste. Sie dachten nicht gern über eine mögliche Niederlage nach, doch es war offensichtlich, dass Garrosh genau das getan hatte. Er hatte eine Kiste mit wertvollen Waffen für den Fall versteckt, dass sie auf dem Rückzug gebraucht wurden.
Garrosh nickte knapp. „Es ist kein angenehmer Gedanke.“
Was noch an Kriegern von der Kriegshymnenoffensive übrig war, griff nach den kleinen, aber tödlichen Waffen. Das Anrennen gegen die Tür hatte während der ganzen Zeit nicht nachgelassen. Die Kisten, die sie vor dem Tisch aufgestapelt hatten, wurden immer weiter in den Raum hineingeschoben, und die Tischplatte begann bereits unter den kräftigen Hieben zu zersplittern. Cairne stemmte seinen Rücken dagegen, während die anderen sich mit Granaten versorgten. Garrosh erhob sich und nickte Cairne zu.
„Eins, zwei, drei!“, brüllte Cairne. Auf „drei“ traten die Orcs, die die beiden Türen bewachten, zurück. Cairne ließ den Tisch herunterkrachen, und die Orcs rissen die Türen auf. Garrosh hielt in jeder Hand eine schwere Kriegsaxt, stieß den Kriegsschrei seines Vaters aus und schlug nach den falschen Geistern. Er war ganz Tod und Verderben. Cairne trat zurück und ermöglichte den anderen so, zum Schiff vorzulaufen, wobei sie ihre Granaten unter die Vrykul warfen. Es gab mehrere Explosionen, und schon war der Weg frei – bis auf die Leichen. Sie hatten nur wenige wertvolle Augenblicke, bis die nächste Welle der Vrykul heranstürmen würde.
„Los, los!“, drängte Cairne, wandte sich um und griff nach seinem Speer. Er verstaute ihn schnell auf dem Rücken. Wenn er in den nächsten Minuten kämpfen musste, wäre sowieso alles verloren. Der echte Kampf würde auf dem Schiff stattfinden. Er nahm einen schwer verletzten Orc auf, als würde der Krieger nichts wiegen, und rannte, so schnell er konnte, auf das Schiff zu.
Die Mannoroths Gebeine war beschädigt und wurde angegriffen, doch sie schien noch seetauglich zu sein, wie Cairne mit einem raschen Blick feststellte.
Er spürte einen Stich im Herzen, als ein Troll keine vier Schritte vor ihm mit einer Axt im Rücken zu Boden stürzte. Später war noch genug Zeit, die Toten zu betrauern, doch jetzt konnte Cairne nichts anderes tun, als über den Leichnam zu springen und weiterzulaufen.
Seine Hufe versanken im Sand. Er fühlte sich langsam, und nicht zum ersten Mal verfluchte er, was das Alter seinem Körper angetan hatte. Mit einem hässlichen Schrei stürzte sich einer der Vrykul auf ihn. Der Feind schwang seine Axt mit seinen muskulösen Armen. Cairne umging ihn, so gut er konnte, doch er war nicht schnell genug und grunzte vor Schmerz, als der Vrykul ihm in die Seite hieb.
Endlich hatte er das Wasser erreicht, wuchtete seine Last in eine der kleinen Jollen, und sprang hinterher. Sofort wurde das kleine Boot abgestoßen, da es mit Verwundeten bereits nahezu überfüllt war. Augenblicklich wurde es zum Ziel der Feinde, und Cairne musste in dem kleinen, schaukelnden Boot die Vrykul bekämpfen, während zwei Orcs aus Leibeskräften ruderten. Als er kurz zum Strand zurücksah, war dieser mit den Leichen der falschen Geister bedeckt – und mit den Leichen der tapferen Mitglieder seiner Horde.
Doch einige der „Toten“ rührten sich noch. Cairne kniff die Augen zusammen und sprang aus dem Boot, als es neben der Mannoroths Gebeine längsseits ging. Halb schwimmend, halb watend arbeitete er sich zum Strand zurück, zu den Verwundeten. Cairne wollte alles in seiner Macht Stehende tun, damit nicht noch mehr Kämpfer ihr Leben lassen mussten.
Sechs Mal lief er hin und zurück und trug alle, die sich nicht selbst in Sicherheit bringen konnten, zur Mannoroths Gebeine. Garroshs Gruppe hatte ihre Granaten verbraucht, und der Strand war mit Blut getränkt. Der schreckliche schlammige Matsch machte ein saugendes Geräusch unter Cairnes Hufen. Er hörte Garroshs Kriegsruf, und dieser Schrei ermutigte die Krieger und auch Cairne, bis alle, die gerettet werden konnten, sich in Sicherheit befanden.
„Garrosh!“, rief Cairne.
Aus einem halben Dutzend Wunden blutend und laut keuchend sah Cairne sich nach Garrosh um. Er war dort drüben, wirbelte seine Äxte durch die Luft und brüllte etwas Unzusammenhängendes, während er zugleich Gliedmaßen abtrennte und über und über mit Blut bespritzt war. Er war so im Rausch des Kampfes gefangen, dass er Cairnes Rufe nicht hörte. Der Taure lief zu ihm und packte Garrosh am Arm. Erschreckt wirbelte der Orc herum, die Äxte erhoben, doch er fing den Hieb gerade noch rechtzeitig ab.
„Rückzug! Die Verwundeten sind an Bord der Mannoroths Gebeine! Der Kampf tobt jetzt auf dem Schiff!“, rief Cairne ihm zu und zerrte an seinem Arm.
Garrosh nickte. „Rückzug!“, erscholl seine Stimme weithin über das Schlachtfeld. „Rückzug zum Schiff! Wir setzen den Kampf dort fort und töten unsere Feinde auf dem Wasser!“
Die wenigen Kämpfer, die noch übrig waren, wandten sich augenblicklich um und hasteten zu den Booten, die sich bereits in Richtung der Mannoroths Gebeine in Bewegung setzten. Ein Vrykul zerrte eine unglückliche Trollkriegerin aus ihrem Boot und zog sie auf den Strand zurück, wo er ihr Arme und Beine abhackte. Cairne zwang sich, ihre Schreie auszublenden, und schob das letzte Boot mit all seiner Kraft ins tiefere Wasser, bevor auch er sich über die Reling schwang.
Auf dem Schiff befanden sich bereits mehrere der riesigen Humanoiden. Kapitänin Tula gab den Befehl zum Ablegen, und ihre Mannschaft gehorchte eiligst. Der Anker wurde gelichtet, und das Schiff nahm Kurs auf das offene Meer. Die Fahrzeuge der Vrykul folgten der Mannoroths Gebeine im kalten Nebel. Dieser Anblick war jetzt für alle weniger erschreckend, da sie wussten, dass sie es nicht mit einem toten Feind zu tun hatten. Doch die Gefahr war noch immer nicht abgewendet. Die Mannschaft hatte sich selbst verteidigen müssen, während die Soldaten der Kriegshymnenoffensive sich zum Schiff durchgekämpft hatten. Erst jetzt, da die Soldaten sich in den Kampf stürzten, konnte sie sich um ihre eigentlichen Aufgaben kümmern. Die Schiffe der Vrykul kamen längsseits, so nahe, dass Cairne, die grinsenden wilden Gesichter des tödlichen Feindes erkennen konnte.
„Lasst sie auf keinen Fall an Bord!“, rief Garrosh. Er erledigte einen Feind, sprang über den noch zuckenden Leib und hieb mit einem einzigen Streich die Hände eines Vrykul ab, der versuchte, sich über die Reling zu hieven. Der Vrykul schrie gellend vor Schmerz und stürzte in das eiskalte Wasser. „Tula! Bringt uns auf die See hinaus! Wir müssen sie abhängen!“
Die Mannschaft der Mannoroths Gebeine tat, was in ihrer Macht stand. Cairne, Garrosh und die anderen kämpften wie Dämonen. Soldaten mit Bogen und Gewehren feuerten auf die feindlichen Schiffe. Mehrere Bogenschützen setzten ihre Pfeile in Brand und zielten auf die Segel. Großer Jubel brandete auf, als einer von ihnen endlich traf. Die orangefarbenen Flammen waren selbst durch den kalten grauen Nebel zu sehen, und das Segel knisterte laut, als das Feuer sich immer weiter ausbreitete. Endlich erreichte die Mannoroths Gebeine die offene See. Cairne erwartete, dass die Vrykul ihnen folgen würden, doch zu seiner Überraschung brachen sie die Verfolgung ab. Er hörte sie in ihrer hässlichen Sprache wild durcheinanderschreien, während sie versuchten, das Feuer zu löschen, das ihr Schiff zu verschlingen drohte. Einige Vrykul eilten zum Bug und sandten dem sich rasch entfernenden Schiff der Horde wüste Verwünschungen hinterher.
Erst jetzt spürte Cairne seine Wunden und verzog voller Schmerzen das Gesicht. Er legte sich auf die Planken und schloss für einen Moment die Augen. Sollen die falschen Geister doch fluchen! Heute sind ihnen weniger Krieger zum Opfer gefallen, als sie erwartet haben.
Und für den Moment, dachte Cairne müde, war das auch genug.
„Ich fahre nicht gern von hier weg“, sagte Garrosh, als sie an Deck der Mannoroths Gebeine standen. Das Schiff war bereits seit mehreren Stunden unterwegs.
Cairne starrte ihn an. „Nicht gern? Nordend erinnert doch nur an Blutbäder und Verluste. Viele unserer Besten und Klügsten wurden hier getötet. Ich habe es noch nie bedauert, ein Schlachtfeld zu verlassen.“
Garrosh schnaubte. „Es ist schon lange her, dass Ihr auf einem Schlachtfeld wart... alter Mann.“
Cairne zog die Augenbrauen zusammen und richtete sich auf, sodass er Garrosh überragte. „Für einen alten Mann scheint mein Gedächtnis jedoch besser zu sein als Eures, Jungspund. Was, glaubt Ihr, ist in den vergangenen Stunden geschehen? Sind Euch die Opfer, die Eure Soldaten gebracht haben, vollkommen egal? Verlacht Ihr die Wunden, die ich und die anderen davongetragen haben?“
Garrosh murmelte einige unverständliche Worte, antwortete jedoch nicht auf Cairnes Frage. Dem Tauren war klar, dass Garrosh eine Belagerung für weniger ehrenvoll hielt als einen glorreich geführten Kampf auf offenem Feld. Vielleicht glaubte er, es bedeute Schande, zunächst in der Feste eingesperrt gewesen zu sein. Cairne hatte zu viel erlebt, um so dumm zu sein. Doch das Blut rann heiß in den Adern des jungen Orcs. Er würde lernen müssen, dass nur zählte, wie man kämpfte, nicht wo oder wann, wollte man ehrenvoll aus dem Kampf hervorgehen. In diesem Sinne hatte die Horde sich tapfer geschlagen.
Das galt zugegebenermaßen auch für Garrosh. Sein waghalsiger Sprung ins Kampfgetümmel hatte sich ausgezahlt – zumindest dieses Mal. Diese Art des Vorgehens hatte angeblich bereits einige Male gute Ergebnisse erzielt, wenn man den Aussagen anderer Glauben schenkte. Darunter war sogar Saurfang, der den jungen Orc offensichtlich nicht mochte. Wann jedoch wurde aus Kühnheit Draufgängertum? Wann wurde der Instinkt zum Blutrausch? Als er trotz seines dicken Fells in dem schneidenden Wind, der von der arktischen See her wehte, zitterte, versteifte sich sein Körper, und die Wunden und die Erschöpfung machten sich bemerkbar. Cairne musste sich eingestehen, dass es tatsächlich geraume Zeit her war, dass er an einem größeren Kampf teilgenommen hatte. Nichtsdestotrotz konnte er sich noch immer sehr gut eines Feindes erwehren, wenn es denn sein musste.
„Die Horde hat gegen alle Erwartungen einen schrecklichen Feind in Nordend besiegt“, sagte Garrosh und kam auf das eigentliche Thema des Gesprächs zurück. „Jedes Leben auf dem Weg zum Ziel zählt für die Ehre und den Ruhm der Horde. Saurfangs Sohn ist gefallen, und für ihn und für alle anderen sollen Lok’vadnods geschrieben und gesungen werden. Eines Tages, sofern die kommenden Generationen es wünschen, wird auch für mich eines geschrieben werden. Aus diesem Grund fahre ich nicht gern von hier weg, Cairne Bluthuf.“
Cairne nickte. „Obgleich ich nicht annehme, dass Ihr Euch freuen würdet, wenn schon bald ein Lok’vadnod für Euch geschrieben werden musste, hm?“
Es war der klägliche Versuch Cairnes, etwas Humor in die Situation zu bringen, doch Grom Höllschreis Sohn machte keinerlei Anstalten, darüber zu lachen. „Wann auch immer der Tod kommt, werde ich ihm stolz entgegentreten. Ich werde für mein Volk kämpfen, mit einer Waffe in der Hand und einem Kriegsschrei auf den Lippen.“
„Hm“, knurrte Cairne. „Das ist ein ruhmreicher Weg voller Stolz und Ehre. Mögen wir beide mit solcher Würde gesegnet sein. Doch ich will noch ein wenig die Sterne betrachten, den Trommelzirkeln lauschen, die Kinder unterweisen und zusehen, wie sie größer werden, bevor ich mit dem Tod auf meine letzte Reise gehe.“
Garrosh öffnete seinen mit großen Hauern bewehrten Mund, doch es war, als habe der Wind seine Worte fortgeweht. Cairne, groß und schwer, wie er war, taumelte unter der Kraft des Sturms, der plötzlich aus dem Nichts heraus aufgekommen war. Das Schiff schlingerte unter ihnen und krängte, und plötzlich wurde das Deck von Wasser überspült.
„Was geschieht da?“, brüllte Garrosh. Selbst dieser laute Schrei ging im ohrenbetäubenden Heulen des Windes unter. Cairne kannte nicht den richtigen Seemannsausdruck für diese Art von Unwetter, doch das herauszufinden war jetzt das geringstes Problem. Kapitänin Tula lief auf dem Deck umher. Ihre für gewöhnlich blaue Haut war bleich und ihre Augen waren weit aufgerissen. Ihre Kleidung, schwarze Fußlappen, Hosen und ein schmuckloses weißes Hemd, waren völlig durchnässt und klebten ihr am Leib. Das schwarze Haar hatte sich aus dem Knoten gelöst und wirbelte im Wind umher.
„Was kann ich tun?“, fragte Cairne, den eher Tulas offensichtliche Besorgnis als der Sturm beunruhigte.
„Geht nach unt’n, damit ich mir keine Sorg’n um euch Landratt’n mach’n muss!“, rief sie, ohne sich um Rang und Höflichkeit Gedanken zu machen. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte Cairne gelacht. So streckte er wortlos seine große Hand aus, packte Garrosh wenig vornehm am Kragen und zerrte den protestierenden Orc zur Mitte des Schiffes, als eine Welle über die drei hereinbrach.
Wie von einer riesigen Hand wurde Cairne auf die Decksplanken geschleudert. Die Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst, und er schluckte Wasser, das die Luft ersetzt zu haben schien. So schnell wie sie gekommen war, zog sich die Welle wieder zurück und riss ihn und Garrosh beinahe über Bord – als seien sie dünne Zweige in einem Strom, der durch Quel’Thalas floss. Sie hielten sich gegenseitig fest, die Hände schmerzhaft ineinander verkrallt.
Eine weitere Welle spülte über sie hinweg. Sobald das Wasser wieder ablief, erhob sich Cairne, wobei seine Hufe tiefe Spuren in dem rutschigen hölzernen Deck hinterließen. Schnaubend und brüllend vor Anstrengung kämpfte er sich voran und zog Garrosh mit sich, bis der Orc endlich in der Lage war, sich aufzurichten. Im selben Moment zuckte in der Nähe ein Blitz über den Himmel, und das Krachen des Donners folgte nahezu unmittelbar.
Noch immer bewegte Cairne sich vorwärts, einen Arm um Garrosh gelegt, den anderen haltsuchend vor sich ausgestreckt, bis er den nassen, aber festen Türrahmen des Niedergangs packte und die beiden halb taumelnd, halb rutschend ins Innere des Schiffes gelangten.
Garrosh würgte Wasser, dann streckte er seine braune Hand aus und versuchte aufzustehen. „Feiglinge und Kinder bleiben drinnen, während die anderen ihr Leben riskieren“, keuchte er.
Cairne legte wenig sanft eine Hand auf Garroshs rüstungsbewehrte Schulter. „Und selbstsüchtige Narren stehen denen im Weg, die versuchen, Leben zu retten“, knurrte er. „Seid kein Tor, Garrosh Höllschrei. Kapitänin Tula muss sich um das Schiff kümmern, damit es nicht entzweibricht. Verschwendet nicht Eure wertvolle Kraft und Zeit darauf zu verhindern, über Bord gespült zu werden.“
Garrosh starrte ihn an, dann warf er seinen Kopf zurück und heulte wütend auf. Doch er versuchte nicht, wieder an Deck zu gelangen.
Cairne stellte sich auf ein im besten Fall langes, zermürbendes Warten ein. Im schlimmsten Fall wartete ein kalter, nasser Tod auf sie. Zu seiner Überraschung hörte der Sturm jedoch so schnell wieder auf, wie er begonnen hatte. Sie waren noch nicht wieder zu Atem gekommen, als die heftig schaukelnden Bewegungen des Schiffes merklich nachließen. Cairne und Garrosh blickten einander einen Moment lang verwundert an, wandten sich um und hasteten den Niedergang hinauf.
Unglaublicherweise kam die Sonne bereits hinter den schnell weiterziehenden Wolken hervor. Es war ein unpassend fröhlicher Anblick verglichen mit dem, was Cairne sah, als er auf das Deck hinaustrat.
Das Sonnenlicht glitzerte auf der ruhigen silbernen Oberfläche eines Ozeans voller Wrackteile. Cairne schaute sich bestürzt um und zählte die Schiffe. Es waren drei, und er betete zu den Ahnen, dass die anderen beiden Schiffe lediglich abgetrieben worden waren. Doch die Trümmer, die auf dem Wasser tanzten, waren ein stummer Hinweis darauf, dass sich sein Wunsch möglicherweise nicht erfüllen würde.
Überlebende, die sich an im Wasser treibende Kisten und Wrackteile klammerten, riefen um Hilfe, und sowohl Cairne als auch Garrosh eilten zu ihrer Rettung herbei. Zumindest konnten sie helfen, und so verbrachten sie die nächste Stunde damit, keuchende, durchnässte Orcs, Trolle und Tauren – und mitunter auch durchweichte Verlassene oder Blutelfen – aus dem Wasser zu bergen.
Kapitänin Tula verzog grimmig das Gesicht und war äußerst wortkarg, als sie ihre Befehle über das Deck bellte. Die Mannoroths Gebeine hatte überlebt. War es ein Hurrikan gewesen? Ein Taifun? Ein Orkan? Cairne wusste es nicht. Das Schiff war zum Glück weitgehend intakt und nun mit zitternden Überlebenden vollgestopft, die in Decken gehüllt auf dem Boden saßen. Cairne drückte einer jungen Trollkriegerin die Schulter, als er ihr einen Becher mit heißer Suppe gab, dann ging er zur Kapitänin.
„Was ist geschehen?“, fragte er ruhig.
„Ich will verflucht sein, wenn ich’s weiß“, lautete die Antwort. „Ich bin aufm Ozean unterwegs, seit ich klein war. Hab diese Reise schon Dutz’nde Male gemacht und die Kriegshymnenfeste mit Nachschub versorgt, bis die Kvaldir mich aufgehalten ham. Aber so was hab’ ich noch nich geseh’n.“
Cairne nickte ernst. „Ich hoffe, ich beleidige Euch nicht, wenn ich sage, dass ich mir so etwas gedacht habe. Glaubt Ihr, dass vielleicht...“
Ein Wutschrei der Empörung, wie er nur der Kehle eines Höllschreis entstammen konnte, unterbrach ihn. Cairne wirbelte herum und sah, wie Garrosh auf den Horizont wies. Er zitterte, doch es war offensichtlich, dass das aus Wut geschah, nicht aus Angst oder wegen der Kälte.
„Seht doch, dort!“, rief er. Cairne blickte in die angegebene Richtung, doch erneut versagten seine alten Augen. Nicht so die von Kapitänin Tula. Ihre Augen weiteten sich.
„Die ham die Flagge von Sturmwind“, sagte sie.
„Die Allianz? In unseren Gewässern?“, fragte Garrosh. „Das ist eine eindeutige Verletzung unseres Vertrages.“
Garrosh bezog sich auf ein Abkommen zwischen der Horde und der Allianz, das kurz nach dem Fall des Lichkönigs unterzeichnet worden war. Beide Seiten waren von dem langen Kampf ermattet und hatten deshalb einer zeitweisen Einstellung der Feindseligkeiten zugestimmt, wozu auch die Kämpfe im Alteractal, dem Arathibecken und der Kriegshymnenschlucht gehörten.
„Sind wir denn noch in Hordengewässern?“, fragte Cairne ruhig. Tula nickte.
Garrosh grinste. „Dann dürfen wir sie nach ihrem und unserem Gesetz angreifen! Dem Vertrag nach können wir unser Gebiet verteidigen, und dazu gehören auch diese Gewässer!“
Cairne konnte nicht glauben, was er da hörte. „Garrosh, wir sind nicht in der Lage, einen Angriff zu unternehmen. Noch scheinen sie nicht an uns interessiert zu sein. Habt Ihr einmal über die Möglichkeit nachgedacht, dass der Sturm, der uns so gebeutelt hat, auch sie vom Kurs abgebracht haben könnte? Dass sie nicht hier sind, um mit uns zu kämpfen, sondern aus Versehen?“
„Dann haben die Winde des Schicksals sie hergeweht“, sagte Garrosh. „Sie sollten sich ihrer Bestimmung ehrenvoll stellen.“
Cairne verstand sofort, was hier vor sich ging. Garrosh hatte eine perfekte Ausrede für einen Angriff, und er wollte diese Gelegenheit ganz offensichtlich nicht ungenutzt verstreichen lassen. Er konnte sich nicht an dem Sturm rächen, der die Schiffe der Horde beschädigt und viele seiner Leute das Leben gekostet hatte, doch er konnte seine Wut und Frustration auf das unglückliche Schiff der Allianz richten.
Zu Cairnes Ungemach nickte selbst Kapitänin Tula. „Wir brauch’n mehr Vorräte, um die Verluste zu ersetz’n“, sagte sie, strich sich über ihr Kinn und verengte die Augen gedankenverloren zu Schlitzen.
„Dann lasst uns einfordern, was uns rechtmäßig zusteht. Kann die Mannoroths Gebeine in den Kampf ziehen?“
„Aye, klar kann sie, mit ’n bisschen mehr Vorbereitung.“
„Ich bin mir sicher, dass Ihr viele Hände finden werdet, die Euch helfen“, meinte Garrosh. Tula nickte und eilte davon, wobei sie nach links und rechts Befehle erteilte. Garrosh hatte recht. Jedermann sprang auf, verzweifelt bemüht, etwas zu tun, irgendetwas, statt nutzlos herumzusitzen und das Schicksal zu beklagen. Cairne verstand dieses Verlangen, doch wenn sein Verdacht zutraf und die Mannschaft des Allianzschiffes ein unschuldiges Opfer des Sturmes war...
Das Flaggschiff wendete langsam, seine Segel blähten sich, und schon fuhren sie auf das „feindliche“ Schiff zu. Cairne konnte es nun deutlich erkennen, und sein Mut sank.
Die Besatzung des Schiffes traf keinerlei Anstalten, um dem offensichtlichen Verfolger zu entkommen. Das hätte sie auch gar nicht gekonnt, selbst wenn der Kapitän es gewollt hätte, denn das Schiff krängte stark nach backbord. Seine Segel waren von dem teuflischen Wind zerfetzt worden, der so grausam mit der Flotte der Horde gespielt hatte, und offensichtlich drang Wasser in den Schiffsrumpf ein. Cairne konnte gerade noch das Wappen erkennen, das die Flaggen des Schiffs zierte: der Löwenkopf von Sturmwind.
Garrosh lachte. „Ausgezeichnet“, sagte er. „Wahrlich ein Geschenk. Noch eine Gelegenheit, Varian zu zeigen, wie sehr ich ihn schätze.“
Das letzte Mal, als Garrosh und König Varian Wrynn von Sturmwind sich im selben Raum aufgehalten hatten, waren sie in Streit geraten. Cairne brachte den Menschen keine besonderen Sympathien entgegen, doch er hasste sie auch nicht. Hätte dieses Schiff das seine angegriffen, hätte er unverzüglich den Befehl erteilt, es unter Feuer zu nehmen. Doch der Kahn war stark beschädigt, sank möglicherweise sogar, und selbst ohne ihre „Hilfe“ würde er wahrscheinlich für immer im eisigen Wasser des Ozeans verschwinden.
„Rache ist kleinlich und unter Eurer Würde, Garrosh“, zischte Cairne. „Welche Ehre liegt darin, jemanden zu töten, der bereits ertrinkt? Ihr verletzt das Abkommen vielleicht nicht dem Wortlaut nach, doch seinem Geist widerspricht Eure Absicht in jedem Fall.“ Er wandte sich an Tula und hoffte, sie würde seine Meinung teilen. „Ich bin der Kommandeur dieser Mission, Kapitänin, und in dieser Funktion überstimme ich Garrosh. Ich befehle Euch, den Opfern des Sturms zu helfen. Ihre Anwesenheit ist keine Provokation, sondern ein Unfall, und es ist ehrenhafter zu helfen, als sie abzuschlachten.“
Tula blickte ihn ruhig an. „Mit allem nötigen Respekt, aber unser Kriegshäuptling hat Euch lediglich dazu ermächtigt, die Rückkehr der Kriegshymnenoffensive zu überwach’n. Oberanführer Garrosh hat das Kommando bei allen kriegerischen Entscheidungen.“
Cairne blieb der Mund offen stehen, als er Tula anstarrte. Sie hatte recht. Dieser Gedanke war ihm gar nicht gekommen, als sie mit Zähnen und Klauen den Überraschungsangriff der falschen Kvaldir abgewehrt hatten. Da waren er und Garrosh gleicher Meinung gewesen, und es hatte außer Frage gestanden, dass der Kampf absolut notwendig gewesen war. Aus diesem Grund hatte es keinen Streit darüber gegeben, höchstens über die Frage, wie man den Feind am wirkungsvollsten bekämpfte. Doch nun mussten sie Garrosh gehorchen, auch wenn Cairne den Befehl hatte, die Truppen nach Hause zu bringen. Dem war so, bis Thrall Garrosh förmlich seines Kommandos enthob. Cairne konnte nichts dagegen unternehmen.
Leise und nur für Garroshs Ohren bestimmt sagte er: „Ich bitte Euch. Tut das nicht. Unsere Feinde sind bereits geschlagen. Wenn wir ihnen nicht helfen, werden sie hier sterben.“
„Dann ist ein schneller Tod eine Gnade“, war Garroshs grausame Antwort. Wie zur Bestätigung erklang das Donnern der Kanonen. Cairne starrte auf das vom Glück verlassene Schiff der Allianz und sah, wie die Kanonenkugeln der Horde Löcher in den Schiffsrumpf rissen. Von den anderen Schiffen ergoss sich ein wahrer Pfeilregen über das Allianzschiff, und der Kriegsruf der Horde übertönte die Wellen und den Wind.
„Noch mal!“, brüllte Garrosh, rannte zum Bug und bebte wie ein blutrünstiger Wolf auf der Jagd, als sie sich dem Schiff weiter näherten.
Der Mast auf dem Allianzschiff war nun gebrochen, und Cairne konnte eine Gestalt an Deck erkennen, die wild eine weiße Fahne schwenkte. Wenn Garrosh sie bemerkte, so ließ er sich das nicht anmerken. Sobald die Mannoroths Gebeine längsseits gegangen war, stieß er ein wütendes Heulen aus, sprang auf das feindliche Schiff, eine Waffe in jeder Hand, und griff die Menschen an.
Cairne wandte sich angewidert ab. Rein rechtlich tat Garrosh nichts Verbotenes. Doch moralisch und spirituell betrachtet tat er das Falsche, ja etwas schrecklich Falsches. Cairne fragte sich düster, ob die Geister ihre Rache gegen die Horde richten würden oder lediglich gegen Garrosh. Vielleicht würden sie sogar ihm, Cairne Bluthuf, zürnen, weil er dabeigestanden hatte und nichts gegen Garrosh und sein grausames Tun unternommen hatte.
Es war schnell vorbei, zu schnell, soweit es die Orcs anging. „Haltet ein!“, rief Garrosh zu Cairnes Überraschung seinen Kriegern nach kurzer Zeit zu. Der Taure stellte seine langen Ohren auf und trat näher. Er war gespannt, was Garrosh vorhatte.
„Bringt mir den Kapitän!“, verlangte Garrosh. Kurz darauf eilte ein Troll herbei, der einen Mann an beiden Armen festhielt und vor Garrosh zu Boden stieß.
Garrosh trat die Gestalt mit dem Fuß. „Ihr befindet Euch in den Gewässern der Horde, Allianzhund.“
Der Mann, kräftig und groß für sein Volk, sonnengebräunt, mit kurz geschnittenem schwarzem Haar und einem adrett getrimmten Bart, starrte den Orc angsterfüllt an.
„Wir haben ein Abkommen...“
„Das nicht für unerlaubtes Eindringen in unser Gebiet gilt. Dies ist ganz offensichtlich ein kriegerischer Akt!“
„Ihr habt doch gesehen, in welchem Zustand sich unser Schiff befindet“, antwortete der Kapitän ungläubig. „Selbst ein Kaninchen hätte keinen Angriff von unserer Seite befürchtet!“
Das war genau das, was er nicht hätte sagen sollen. Garrosh trat ihm heftig in die Rippen, und Cairne konnte hören, wie eine oder zwei brachen. Der Mann grunzte, und sein Gesicht wurde bleich. Dann lief es rot an.
„Ihr haltet Euch in den Gewässern der Horde auf,“ wiederholte Garrosh. „In welchem Zustand Euer Schiff auch immer sein mag, ich habe das Recht auf meiner Seite, und das gilt für alles, was ich jetzt tue. Wisst Ihr, wer ich bin?“
Der Mann schüttelte den Kopf.
„Ich bin Garrosh Höllschrei, Sohn des großen Hordehelden Grom Höllschrei!“ Die Augen des Kapitäns weiteten sich, und er erbleichte erneut. Ganz offensichtlich schien er den Namen zu kennen – wenn nicht den Vornamen, so doch zumindest den Nachnamen. Grom Höllschrei hatte in der Allianz ebenso wie in der Horde einen legendären Ruf.
„Ich habe meine Feinde besiegt und beanspruche Euer Schiff für die Horde und Euch als Kriegsgefangenen. Die Frage ist nur, was ich jetzt mit Euch machen soll. Ich könnte Euer Schiff anstecken und Euch damit verbrennen lassen“, überlegte er und rieb sich das Kinn, „oder ich fahre einfach weiter. Es ist mir nicht entgangen, dass Ihr über keinerlei Rettungsboote verfügt. In diesen Gewässern wimmelt es von Haien, und ich bin mir sicher, dass sie den Geschmack von Allianzfleisch ebenso schätzen, wie es meine Trollkrieger tun.“
Der Kapitän schluckte schwer. Zweifellos war ihm nicht entgangen, dass es ein Troll gewesen war, der ihn zu Garrosh geschleppt hatte und der nun neben ihm stand. Der Troll kicherte und leckte sich übertrieben genüsslich die Lippen. Cairne und Garrosh wussten, dass die Dunkelspeertrolle keine Kannibalen waren, doch offensichtlich war dies dem Kapitän nicht bekannt.
„Mein Freund Cairne Bluthuf hier“, fuhr Garrosh fort und wies mit dem Daumen über seine Schulter, „drängt mich dazu, Gnade walten zu lassen. Und wisst Ihr was: Ich glaube, er hat möglicherweise recht.“
Der Blick des Kapitäns richtete sich auf Cairne. Der alte Bulle war überzeugt, dass er gerade ebenso überrascht dreinschaute wie der Mensch. Was machte Garrosh nur? Er hatte mit seinen Leuten das Schiff gestürmt, hatte alle Menschen bis auf eine Handvoll getötet. Und nun sprach er von Gnade!
„Heute, Kapitän, habe ich Euch den mächtigen Arm der Horde gezeigt, und ich zeige Euch ebenfalls ihre Gnade. Elf von Euch scheinen diesen... Sturm überlebt zu haben.“ Er lächelte kurz. „Wir werden Euch zwei Rettungsboote geben und einige unserer wertvollen Vorräte. Das und ein wenig Glück sollten ausreichen, um Euch in Sicherheit zu bringen. Und wenn Ihr nach Hause kommt, erzählt allen, was hier geschehen ist. Berichtet, dass Garrosh Höllschrei Tod und Leben für Euch und für Eure Leute war.“
Ohne ein weiteres Wort wandte er sich um und sprang behände zurück an Bord der Mannoroths Gebeine. Er sprach kurz und leise mit Tula, die nickte und nun ihrerseits Befehle erteilte. Cairne beobachtete, wie zwei kleine Beiboote mit einigen Vorräten beladen und zu Wasser gelassen wurden. Immerhin stand Garrosh zu seinem Wort. Der Taure beobachtete mit sorgenvollem Blick, wie die Menschen in die Boote kletterten und sich daranmachten, nach Nordend zurückzurudern.
Er ließ seinen Blick zu Garrosh wandern, der stolz und aufrecht dastand und seine Arme vor der Brust verschränkte. Er steckte noch immer in seiner Rüstung, die er trotz des Sturms nicht abgelegt hatte.
Garrosh war ein brillanter Taktiker, ein wilder Krieger, und wurde von seinen Leuten geliebt. Doch er hegte auch einen unbestimmten Groll, war ein Hitzkopf und musste noch lernen, was Respekt und Mitgefühl waren.
Cairne würde sofort nach seiner Rückkehr mit Thrall darüber sprechen. Was Garrosh anging, war er der Horde in Nordend in der Zeit des Kampfes von großem Nutzen gewesen. Und das sogar weitaus mehr als jeder andere. Cairne wusste jedoch, dass Garrosh seine Einstellung nur wenig nützen würde, wenn er nach Orgrimmar zurückkehrte. Diejenigen, die allein vom Einsatz ihres Schwerts lebten, wussten häufig nicht, was sie nach dem Krieg tun sollten. Aus ihrem Leben als Krieger gerissen, waren sie unfähig, ihre Leidenschaft und Energie in andere Bahnen als die gewohnten zu lenken, und einige Krieger endeten als verspätete Opfer des Krieges, der ihre Gefährten das Leben gekostet hatte. Sie starben in Wirtshäusern oder bei Straßenkämpfen statt im Gefecht. Nicht selten wurden sie zu verlorenen Seelen, die weiterexistierten, ohne wirklich zu leben.
Garrosh hatte zu viel Potenzial und verdiente es nicht, so zu enden. Cairne würde tun, was in seiner Macht stand, um Grom Höllschreis Sohn ein solch elendes Schicksal zu ersparen.
Doch Garrosh musste das auch wollen. Nach dem Eindruck, den Cairne von dem Orc gewonnen hatte, der von der Richtigkeit und Rechtmäßigkeit seines Tuns so überzeugt war, erschien es ihm fraglich, ob Garrosh imstande war, sein Leben in die richtigen Bahnen zu lenken.
Cairne blickte auf die sich langsam entfernenden Rettungsboote. Immerhin hatte Garrosh einige wenige Leben verschont, doch Cairne hegte den leisen Verdacht, dass diese Entscheidung allein Garroshs Arroganz zu verdanken war. Garrosh wollte, dass die Kunde von seinen Taten Varian erreichte, um den König weiter zu provozieren.
Cairne atmete tief durch und wandte sein Gesicht der Sonne zu, die in diesen nördlichen Gefilden zwar nur wenig Kraft entfaltete, doch zumindest präsent war. Er schloss die blassgrünen Augen und betete um Führung.
Und um Geduld. Sehr viel Geduld.
Es war ein Fest, wie Cairne es in Orgrimmar noch nie erlebt hatte. Und er wusste nicht zu sagen, ob es ihm gefiel oder nicht.
Es war keineswegs so, dass er die Soldaten nicht ehren wollte, die so tapfer gegen den Lichkönig und seine Schergen gekämpft hatten. Doch er wusste so gut wie einige andere und besser als die meisten, was dieser Krieg, der an mehreren Fronten geführt worden war, gekostet hatte. Er ärgerte sich ein wenig über die Verschwendung, mit der die Veteranen empfangen wurden.
Die Parade, die gerade in vollem Gange war, war Garroshs Idee gewesen. „Lasst die Leute ihre Helden sehen“, hatte er gesagt. „Lasst sie in Orgrimmar einmarschieren, und bereitet ihnen den Empfang, den sie sich verdient haben!“
Eine unfreundlichere Seele als Cairne hätte vielleicht angemerkt: Und sorgt dafür, dass auch ja jeder erfährt, dass Garrosh Höllschrei für den Sieg verantwortlich ist.
Garrosh hatte darauf bestanden, dass jeder Krieger, der an dem Feldzug in Nordend beteiligt gewesen war, ermutigt werden sollte, an der Parade teilzunehmen. Niemand erwartete die Verlassenen zu sehen oder die Veteranen der Sin’dorei, obwohl man es ihnen nicht verweigert hätte mitzumarschieren, wenn sie es denn gewünscht hätten. Sie hatten ihren eigenen Feldzug auf dem nördlichsten Kontinent der Welt bestritten. Nein, diese Parade bestand vornehmlich aus den Kriegern, die in den staubigen heißen Landen von Kalimdor lebten: Orcs, Trolle und Tauren. Cairne hatte den Eindruck, dass Vertreter eines jeden Volkes, das die Waffen erhoben oder einen Fluch gegen die Geißel ausgesprochen hatte, gekommen waren. Die endlos scheinenden Reihen der Krieger erstreckten sich von den Toren Orgrimmars bis hinter den Zeppelinturm.
Die Tradition der Rosenblüten verachtend, die von der Allianz bei solchen Gelegenheiten häufig befolgt wurde, war die Straße mit Pinienzweigen bedeckt worden, die, unter den Tritten der Krieger zerquetscht, einen angenehmen Duft verströmten. In Durotar wuchs nichts, was Pinienzweigen ähnlich war. Deshalb, das wusste Cairne, waren sie per Schiff aus großer Entfernung herbeigebracht worden. Er seufzte und schüttelte den Kopf angesichts dieser Extravaganz.
Groms Sohn marschierte gemeinsam mit den Veteranen der Kriegshymnenfeste an der Spitze der Parade und war der Erste am Tor, als dieses sich öffnete. Cairne neidete ihm diese Position nicht, denn er war in Kalimdor zurückgeblieben, während Garrosh nach Nordend gegangen war, so wie all diese tapferen Krieger. Die meisten Kämpfer waren Orcs, und dies hier war Orcgebiet. Dennoch ärgerte es ihn, dass der größte Teil der Menge mit Garrosh Schritt hielt, ihn bejubelte und sich wenig um die anderen Militäreinheiten scherte, die ebenso hart gekämpft hatten und nicht selten mehr vielversprechende junge Krieger verloren hatten. Diesen ermangelte es jedoch an einem charismatischen Anführer.
Thrall stand vor der Feste Grommash. Er trug seine unverkennbare schwarze Plattenrüstung, die einst Orgrim Schicksalshammer gehört hatte, nach dem Orgrimmar benannt worden war. In einer seiner riesigen grünen Fäuste hielt der Kriegshäuptling der Horde den Schicksalshammer. Thrall war eine beeindruckende Gestalt, und die Legenden über ihn eilten ihm stets voraus. Bei mehr als einer Gelegenheit war eine Schlacht nur dadurch gewonnen worden, dass er in seiner angsteinflößenden Rüstung auf dem Schlachtfeld erschienen war.
Neben ihm, leicht gebeugt, doch noch immer mächtig für einen Orc in den späten Fünfzigern, stand Etrigg. Er hatte die Horde nach dem Zweiten Krieg verlassen, in dessen Verlauf seine Söhne von Orcs verraten und im Kampf gefallen waren. Von der Korruptheit und der Verschwendungssucht der Orcs angewidert, hatte Etrigg gespürt, dass seine Dienste nicht mehr erwünscht waren. Er hatte sich der Horde erst dann wieder angeschlossen, als Thrall das Kommando übernommen und die Orcs zu ihren schamanischen Wurzeln zurückgeführt hatte. Er war einer von Thralls hochgeschätzten Beratern und vor Kurzem erst von einer Mission zurückgekehrt, bei der er dem Argentumkreuzzug in Zul’Drak geholfen hatte. Im Arm hielt er einen in Stoff eingeschlagenen Gegenstand.
Thralls strahlend blaue Augen, einzigartig unter den Orcs, waren auf die vorderste Reihe der Krieger gerichtet. Garrosh ließ sie direkt vor ihm anhalten. Thrall blickte ihn einen Moment lang an, dann neigte er in einer Geste des Respekts den Kopf.
„Garrosh Höllschrei“, sagte er mit seiner tiefen, donnernden Stimme, die leicht auch die hinten Stehenden erreichte. „Du bist der Sohn von Grom Höllschrei, meinem teuren Freund, und ein Held der Horde. Einst war dir nicht bewusst, welch großer Orc dein Vater war. Doch jetzt weißt du es, und auch du bist ein Held der Horde nach all dem, was du auf dem Feldzug in Nordend erreicht hast.
Wir stehen im Schatten der Rüstung und des Schädels unseres größten Feindes, Mannoroth, dessen Blut uns verdarb und unseren Geist für lange Zeit vernebelte. Der Feind, den dein Vater tötete und so sein Volk von einem schrecklichen Fluch erlöste.“
Er nickte Etrigg zu, der vortrat. Thrall nahm Etriggs Bündel an sich und schlug das Tuch zurück. Zum Vorschein kam eine Axt –nicht irgendeine Axt, sondern eine berühmte Waffe, die einen eigenen Namen trug. Ihre scharf geschliffene Klinge wies zwei Aussparungen auf, und wenn die Axt geschwungen wurde, sang sie ihren eigenen Kampfschrei – so wie ihr Besitzer es einst getan hatte –, was ihr zu ihrem Namen verholfen hatte.
Viele der Zuschauer erkannten sie, und ein Raunen durchlief die Menge.
„Das“, sagte Thrall feierlich, „ist Blutschrei. Es ist die Waffe deines Vaters, Garrosh. Es ist die Klinge, die Mannoroth tötete.
Eine beinahe unfassbar tapfere Tat, die Grom Höllschrei das Leben kostete.“
Garroshs Augen weiteten sich. Freude und Stolz breiteten sich auf seinem braunen Gesicht aus. Er streckte die Hände aus, um das Geschenk entgegenzunehmen, doch Thrall übergab es ihm noch nicht.
„Sie tötete Mannoroth“, wiederholte Thrall, „doch sie nahm auch das Leben des edlen Halbgotts Cenarius, der die ersten sterblichen Druiden unterrichtete. Wie jede Waffe kann sie zum Guten oder Bösen verwendet werden. Nutze diese Waffe weise, zum Wohle unseres Volkes. Es ist mir eine Ehre, dich zu Hause willkommen zu heißen. Empfange die Liebe und den Dank derjenigen, denen du mit deinem Blut, deinem Schweiß und deinem Geist gedient hast.“
Garrosh nahm die Waffe entgegen und wog sie prüfend in der Hand. Er schwang die Axt, als sei er dazu geboren worden – und, so vermutete Cairne, vielleicht war er das ja tatsächlich. Sie kreischte und heulte, schnitt durch die Luft, wie sie es einst getan hatte und wieder tun würde, um die Feinde der Horde zu töten. Er hob die Axt hoch über den Kopf, und erneut erscholl lauter Jubel im Tal der Weisheit. Garrosh schloss für einen Moment die Augen, als würde er sich buchstäblich in der Verehrung der Orcs sonnen. Cairne bezweifelte keinen Augenblick, dass dieses Geschenk unverdient war. Ein wenig Dankbarkeit für die Waffe und das Lob hätten Garrosh gut zu Gesicht gestanden.
„Veteranen, die Wirtshäuser sind für euch heute Nacht geöffnet. Esst, trinkt und singt von euren ruhmreichen Taten. Doch denkt daran, dass ihr den Bürgern Orgrimmars dient. Nicht sie sind eure Feinde.“ Thrall lächelte. „Der Nebel des Alkohols lässt diese Grenze oft verschwimmen.“
Wohlwollendes Gelächter ging durch die Menge. Cairne hätte so etwas erwarten müssen. Thrall hatte veranlasst, dass alle Gasthäuser für das Essen, die Getränke und die Übernachtungen entschädigt wurden. Doch es lag an den Gastwirten, ihre Gäste im Zaum zu halten. Die Horde würde nicht für zerstörte Stühle und Tische aufkommen, und es gab immer kaputte Stühle und Tische. Nicht zu vergessen einige gebrochene Nasen, doch die wurden als unvermeidliches Übel im Rahmen der Feierlichkeiten betrachtet. Cairne, dem ein solch wildes Treiben nicht lag – schon als er noch jünger gewesen war, hatte er keine Freude daran empfunden –, hielt die Übernahme der Kosten für einen Fehler. Doch er hatte nicht protestiert, als Thrall einen entsprechenden Vorschlag vorgetragen hatte.
Thrall winkte, und mehrere Karren, die von Kodos und Raptoren gezogen wurden, kamen in Sicht. Sie waren mit schweren Tüchern bedeckt. Auf Thralls Nicken hin traten einige Orcs vor, und auf „drei“ zogen sie die Tücher herunter, um Dutzende Fässer mit Starkbier zu enthüllen.
„Möge das Gelage beginnen!“, rief Thrall, und wilder Jubel und lauter Applaus erfüllten die Luft.
Die Parade war nun offiziell beendet, und die Veteranen eilten zu den Fässern, um eine lange Nacht einzuläuten, die für die meisten mit einem schmerzenden Kopf am nächsten Morgen enden würde. Cairne ging auf den Eingang der Feste Grommash zu und verharrte einen Moment, um sich den Totenschädel und die Rüstung anzusehen, von denen Thrall gesprochen hatte.
Die Rüstung war an einem riesigen toten Baum aufgehängt worden, damit jeder sie sehen konnte. Der Schädel des großen Dämonenlords, der auf dem Baum thronte, war von der Sonne ausgebleicht. Lange Hauer standen von den weißen Knochen ab, und die Plattenrüstung war so riesig, dass sie selbst von den mächtigsten Orcs, Trollen oder Tauren nicht getragen werden konnte. Cairne betrachtete sie eingehend, dachte an Grom und dankte seinem Geist für das Opfer, das die Orcs befreit hatte.
Mit einem langen Seufzer wandte er sich ab und betrat die Feste. Er hatte, wie es ihm zustand, sein Gefolge mitgebracht. Cairne hatte festlegen müssen, welchen Mitgliedern seines Volkes die Ehre zuteilwurde, an dem heutigen Fest teilzunehmen. Gewöhnlich begleitete ihn sein Sohn Baine, doch der hatte sich entschieden, in Mulgore zu bleiben.
Es wäre mir eine große Ehre, an dieser feierlichen Zeremonie teilzunehmen, hatte Baine geschrieben. Doch die größere Ehre besteht darin, dafür Sorge zu tragen, dass sich unser Volk in Sicherheit befindet, bis du, sein Anführer, wohlbehalten heimkehrst.
Die Antwort seines Sohnes gefiel Cairne, überraschte ihn jedoch nicht. Baine tat genau das, was sein Vater in dieser Situation auch getan hätte. Obwohl er sich gefreut hätte, seinen Sohn an seiner Seite zu haben, war Cairne froh über Baines Entscheidung, da er so die Gewissheit hatte, dass jemand während seiner Abwesenheit über das Volk der Tauren wachte.
Statt Baine hatte der Erzdruide Hamuul Runentotem ihn begleitet, der ein guter Freund und enger Berater war. Ebenfalls anwesend waren Mitglieder mehrerer Taurenstämme: der Morgenwandler, der Rachtotems – ein Stamm mit kriegerischer Ausrichtung, der mehrere seiner Söhne und Töchter geschickt hatte, um in Nordend gemeinsam mit Garrosh zu kämpfen –, der Himmelsjäger, der Winterhufe, der Donnerhörner und einiger anderer. Eher aus politischen als persönlichen Gründen hatte er die Matriarchin der Grimmtotems, Magatha, eingeladen, mit ihm an den Feierlichkeiten teilzunehmen.
Als einziger der Taurenstämme waren die Grimmtotems niemals offiziell der Horde beigetreten, obwohl Magatha auf Donnerfels lebte und ihr Stamm alle Rechte der Tauren genoss. Sie war eine mächtige Schamanin, die nach dem tragischen Unfalltod ihres Gatten die Führerschaft über die Grimmtotems übernommen hatte – ein Tod, der, wie gemunkelt wurde, nicht unbedingt ein Unfall gewesen war. Sie und Cairne waren bereits des Öfteren aneinandergeraten. Cairne war sehr froh, dass sie nach Donnerfels gezogen war und er sie zu dieser wichtigen Feier eingeladen hatte, denn er glaubte fest an das alte Sprichwort „Bleib deinen Freunden nah und deinen Feinden noch viel näher“. Magatha trat nicht öffentlich gegen ihn an, und er bezweifelte, dass sie das jemals tun würde. Sie mochte ihre Pläne und Ränke im Verborgenen schmieden, doch letztlich, so dachte Cairne, war sie ein Feigling. Sollte Magatha sich doch für mächtig halten, weil sie ihren Stamm anführte. Er, Cairne Bluthuf, war der wirkliche Anführer der Tauren.
Thrall setzte sich auf den riesigen Thron, von dem aus er den gesamten Raum überblicken konnte, und beobachtete, wie die Massen hereinströmten. Die Kohlenpfannen, die für gewöhnlich zu beiden Seiten des Throns brannten, waren gelöscht worden. Vor den kalten Pfannen standen nun zwei kleinere geschmückte Sitzgelegenheiten, die eigens für diesen Anlass dort aufgestellt worden waren. Auf Thralls Bitte hin nahmen Cairne und Garrosh diese Plätze ein – Garrosh, als Held der Stunde, zu Thralls rechter Seite. An verschiedenen Stellen im Raum hatten sich still und unauffällig die Kor’kron, Thralls Leibwächter, postiert.
Thrall blickte zu Cairne und Garrosh und beobachtete ihre Reaktionen. Cairne schien sich auf dem etwas zu kleinen Stuhl unwohl zu fühlen. Thrall verzog das Gesicht. Die orcischen Zimmerleute hatten hart daran gearbeitet, die Körpermaße des Tauren zu berücksichtigen, als sie den Stuhl angefertigt hatten. Doch offensichtlich war es ihnen nicht gelungen. Der alte Bulle war von Stolz erfüllt, als seine Leute eintraten. Er wusste ebenso wie Thrall, dass jeder von ihnen in diesem Krieg alles gegeben und mancher auch alles verloren hatte.
Die Jahre begannen ihren Tribut von dem Oberhäuptling zu fordern. Thrall hatte gehört, wie gut Cairne gekämpft hatte, als seine Gruppe angegriffen worden war. Wie er immer wieder zurückgelaufen war, um weitere Verwundete in Sicherheit zu bringen. Thrall überraschte das nicht. Er kannte Cairnes Mut nur zu gut, sein großes Herz und sein Mitgefühl. Was ihn überraschte, war die Zahl der Wunden, die der Taure in dem Gefecht davongetragen hatte und wie langsam er sich von ihnen zu erholen schien.
Thralls Herz schmerzte plötzlich. Er hatte so viele teure Freunde verloren – Taretha Foxton, das Menschenmädchen, das ihm gezeigt hatte, dass eine liebevolle Freundschaft zwischen den Völkern möglich war. Grom Höllschrei, der ihm so viel darüber beigebracht hatte, was es bedeutete, ein Orc zu sein. Und vielleicht schon bald Drek’Thar, der, laut dem Orc, der ihn pflegte, allmählich gebrechlich wurde und dessen Geist oft abschweifte. Der Gedanke, Cairne, der ihm so viele Jahre so nahegestanden hatte, irgendwann auch das letzte Lebewohl sagen zu müssen, war schmerzhaft.
Er wandte seine Aufmerksamkeit Garrosh zu. Der junge Höllschrei, mit Blutschrei auf dem Schoß, aß, trank und lachte laut. Er amüsierte sich offensichtlich gut. Doch ab und zu machte auch er eine Pause und blickte die Versammelten mit leuchtenden Augen und voller Stolz an. Thrall war die Begeisterung nicht entgangen, mit der die Bevölkerung von Orgrimmar Garrosh empfangen hatte. Nicht einmal er selbst, Thrall, war jemals so gefeiert worden. Doch so sollte es auch sein, dachte er. Nicht alle seine Entscheidungen waren bei seinem Volk beliebt, aber er wusste, dass er es gut führte und dass sein Volk ihn respektierte. Garrosh hingegen hatte bisher nichts anderes als Beifall und die Liebe seines Volkes erfahren.
Garrosh bemerkte, dass Thrall ihn ansah, und lächelte. „Es ist gut, hier zu sein“, sagte er.
„Genießt du das Lob, das du dir verdient hast?“, fragte Thrall.
„Natürlich. Doch es tut auch gut, andere Orcs zu sehen. Mitzuerleben, wie sie sich der Bedeutung, ein Orc zu sein, erinnern. Wie es ist, Kämpfe zu bestreiten, die Feinde zu besiegen, den Sieg mit derselben Hingabe zu feiern, mit der man ihn erkämpft hat.“
„Die Horde ist mehr als nur wir Orcs, Garrosh“, erinnerte ihn Thrall.
„Richtig. Doch wir sind der Kern, ihr Zentrum. Wenn wir fest daran glauben, wirst du weitere Siege der Horde erleben, Kriegshäuptling. Sogar noch mehr als das. Du wirst Orcs erleben, die auf sich und ihr Volk stolz sind. Und der Kriegsruf Für die Horde! wird nicht nur über ihre Lippen kommen, sondern aus ihren Herzen.“
Alle außer Thrall, Garrosh und Cairne saßen auf dem Boden. Der Stein war mit dicken, weichen Fellen bedeckt und alle drei Völker waren daran gewöhnt, ohne Stühle auszukommen. Die Luft in der Halle wurde von Kohlenpfannen, offenen Feuern und der Körperwärme der Anwesenden erwärmt. Thrall bemerkte, dass nur Magatha und ihre Grimmtotems verärgert dreinschauten. Alle anderen machten es sich gemütlich. Sie waren froh, hier zu sein und zu leben nach all dem Schmerz, Elend und Kampf.
Alles war sehr feierlich, doch Thrall wusste, dass die Menschen und die Elfen das nicht erkennen würden. Diener brachten große Tabletts, die sich unter den aufgetürmten Leckereien bogen. Das einfache, aber sättigende Mahl wurde mit den Händen gegessen: mit Bier marinierte Schweinerippchen, gebratene Bären und Rotwild. Keulen vom Zhevra drehten sich auf einem Spieß über dem Feuer, und es gab herzhaftes Brot für die pikanten Saucen sowie Bier, Wein und Rum, um all das hinunterzuspülen. Die Feste Grommash war von Gelächter und Jubel erfüllt, als die Gäste aßen und tranken. Die Diener trugen die Tabletts schließlich wieder ab, und gesättigt und zufrieden wandten die Versammelten ihre Aufmerksamkeit ihrem Anführer zu.
Jetzt, dachte Thrall, beginnt der weniger feierliche Teil.
„Wir sind froh und dankbar, dass so viele unserer tapferen Krieger sicher heimgekehrt sind, um das, was sie gelernt haben, in die Horde einzubringen“, begann Thrall. „Es ist richtig, zu feiern und das Erreichte zu ehren. Doch der Krieg hat seinen Preis, bezahlt sowohl mit den Leben der Gefallenen als auch mit Gold, um die Soldaten versorgen zu können. Durch einen Sturm auf hoher See, der mehrere unserer Schiffe zerstörte, haben wir Soldaten und dringend benötigte Vorräte verloren.
Der Sturm kostete uns nicht nur diese wertvollen Dinge. Diese Naturgewalt war kein Einzelereignis, und aus Kalimdor und selbst aus den Östlichen Königreichen habe ich Berichte über ähnliche Ereignisse erhalten. Diejenigen von euch, die wie ich in Orgrimmar leben, wissen von der Dürre, die so verheerende Auswirkungen hatte. Und wir spürten, wie die Erde unter unseren Füßen von Zeit zu Zeit bebte.
Ich habe mit vielen meiner Schamanen gesprochen und auch mit Mitgliedern des Irdenen Rings.“ Ein erneutes Stechen durchfuhr ihn, als er an den einen Schamanen dachte, dem er am meisten vertraut hatte, dessen Beurteilungen mittlerweile jedoch so unzuverlässig waren wie die eines kleinen Kindes. Drek’Thar, ich habe deine Erkenntnisse nie mehr gebraucht als jetzt. Doch nun ist es zu spät für dich, sie mit mir zu teilen.
„Wir tun alles, um herauszufinden, was die Elemente beunruhigt, wenn es denn so sein sollte. Oder umgekehrt, um herauszufinden, ob dies alles lediglich ein normaler Zyklus der Natur ist.“
„Normal?“, erklang eine barsche Stimme aus den hinteren Reihen. Thrall konnte den Sprecher nicht sehen, doch er klang wie ein Orc. „Dürre in einigen Gebieten, Überflutungen in anderen, Erdbeben – wie kann das normal sein?“
„Die Natur hat ihren eigenen Rhythmus“, sagte Thrall, völlig unbeirrt von der Unterbrechung. Er mochte Herausforderungen, denn sie hielten ihn geistig rege, und oft ließen sie ihn Wege erkennen, die ihm zuvor verborgen geblieben waren. „Es mag uns nicht gefallen, aber wir müssen uns ändern, um uns ihr anzupassen. Ein Feuer mag eine Stadt zerstören, doch es macht auch Platz für etwas Neues, und andere Pflanzen können wachsen. Es verbrennt Krankheiten und gefährliche Insekten. Es düngt den Boden. Überflutungen schwemmen Mineralien an Orte, wo sie zuvor nicht zu finden waren. Und was Erdbeben angeht, nun...“ Er lächelte. „Es sei Mutter Erde gegönnt, von Zeit zu Zeit zu grummeln.“
Leises Gelächter kam auf, und Thrall spürte, wie sich die Stimmung löste. Er selbst war sich nicht völlig sicher, ob das, was berichtet wurde, normal war. Anhand der Schlüsse, die er daraus zog, war er eher geneigt, das Gegenteil anzunehmen. Die Elemente schienen... chaotisch und erschüttert zu sein. Sie sprachen nicht klar zu ihm, wie sie es normalerweise taten, und er war besorgt. Doch es gab keinen Grund, sein Volk damit zu belasten, wenn es nicht unbedingt erforderlich war. Vielleicht wurde er zu sehr von anderen Dingen abgelenkt, denen er sich ebenfalls widmen musste. Die Ahnen wussten, dass es genug andere Dinge gab, die den Kriegshäuptling der Horde tatsächlich ablenkten.
„Es stimmt, dass Durotar, die neue Heimat der Orcs, ein rauer Ort ist. Doch das ist nichts Neues. Es ist schon immer eine schwierige Umgebung gewesen. Aber wir sind Orcs, und das Land nützt uns. Es nützt uns, weil es so rau ist, weil es brutal ist, weil nur wenige andere Wesen außer Orcs Leben daraus gewinnen können. Wir kamen von Draenor auf diese Welt, nachdem die Kriegsmagier es zum größten Teil leblos gemacht hatten. Wir hätten dieser Welt dasselbe antun können. Als ich die Horde wiederaufbaute, hätte ich durchaus fruchtbareres Land wählen können, aber ich tat es nicht.“
Ein Murmeln ging durch die Halle. Cairne blickte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Ohne Zweifel fragte er sich, warum Thrall sein Volk daran erinnerte, dass Durotar bestenfalls ein schwieriges Land war. Thrall nickte seinem alten Freund beinahe unmerklich zu und versicherte ihm so, dass er sehr wohl wusste, was er sagte.
„Ich tat es nicht, weil wir dieser Welt Unrecht angetan haben. Aber dennoch waren wir hier und hatten das Recht zu leben, eine Heimat zu finden. Ich wählte einen Ort, den wir zu unserem machen konnten – ein Land, das uns all das abverlangte, was es uns geben konnte. Hier zu leben hat viel dazu beigetragen, uns von dem Fluch zu reinigen, der unserem Volk so sehr schadete. Es hat uns stärker gemacht, härter, orcischer, als wir in einem fruchtbareren Land je geworden wären.“
Cairne entspannte sich, als das Murmeln sich in Zustimmung verwandelte. „Ich stehe zu dieser Entscheidung. Ich weiß sehr gut, was die Söhne und Töchter von Durotar in Nordend gegeben haben. Doch unser Land gab uns auch etwas. Niemand hätte die hohen Kosten für den Feldzug vorhersehen können. Aber hätten wir uns dem Ruf verweigern sollen?“
Niemand sprach. Keiner der Anwesenden hätte die Bitte um Hilfe abgeschlagen, wie hoch auch immer die Kosten gewesen sein mochten. „Das ist es, was unser Land uns gegeben hat. Und das, bis es beinahe nichts mehr zu geben hatte. Der Krieg im Norden ist beendet. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit nun auf unser eigenes Land richten und auf unsere eigenen Bedürfnisse. Es ist eine unglückliche Konsequenz der Ereignisse bei der Pforte des Zorns, dass die Allianz jetzt einen neuen Grund hat, sich gegen uns zu stellen. Einigen bedeutet das nichts, und andere sind sogar froh darüber. Doch ich versichere euch, dass niemand froh über die Tatsache sein kann, dass die Nachtelfen jeglichen Handel mit uns eingestellt haben.“
Jeder der Anwesenden wusste, was das bedeutete: kein Bauholz, keine Jagdrechte im Eschental, kein sicherer Durchgang dort, wo die Wächter patrouillierten. Für einen Moment herrschte betroffene Stille, bevor ein sorgenvolles Geraune anhob.
„Kriegshäuptling, wenn ich darf?“
Das war Cairne, mit seiner langsamen, ruhigen Stimme. Thrall lächelte seinem alten Freund zu. „Bitte. Dein Rat ist uns stets willkommen.“
„Unser Volk hat noch recht gute Verbindungen zu den Nachtelfen, über die die anderen Völker der Horde nicht verfügen“, fuhr Cairne fort. „Das Volk der Nachtelfen und das meine sind Anhänger der Lehren des Cenarius. Wir haben sogar ein gemeinsames Heiligtum, die Mondlichtung, wo wir uns friedlich zum Gespräch treffen, unser Wissen miteinander teilen und die Weisheit, die wir erlangt haben. Obwohl ich weiß, dass die Nachtelfen wütend auf die Horde sind, glaube ich doch nicht, dass alle Bande bereits zerschnitten sind. Ich denke, die Druiden wären gute Botschafter, um die Gespräche wiederaufzunehmen. Erzdruide Hamuul Runentotem kennt viele der Kaldorei.“
Cairne nickte dem Erzdruiden zu, der sich nun erhob. „In der Tat, Kriegshäuptling. Ich pflege mit ihnen eine Freundschaft, die schon seit vielen Jahren besteht. Sie mögen uns als Volk ablehnen, doch ihnen wäre der Gedanke an verhungernde Kinder kein Vergnügen, selbst wenn es die Kinder ihrer sogenannten Feinde sind. Ich habe eine hohe Position im Zirkel des Cenarius. Die Verhandlungen könnten eventuell wieder in Gang kommen, ganz besonders im Lichte der Kooperation, die wir durch das Abkommen erreicht haben. Wenn der Kriegshäupfling mir erlauben würde, an sie heranzutreten, könnten wir uns vielleicht durchsetzen, damit sie...“
„Uns gegen sie durchsetzen? Verhandeln? Pah!“ Garrosh spie tatsächlich auf den Boden, als er sprach. „Ich schäme mich, solches Geschwätz aus dem Mund eines Mitglieds der Horde zu hören! Was an der Pforte des Zorns geschehen ist, hat uns alle verletzt. Oder habt ihr alle schon Saurfang, den Jüngeren, vergessen und die vielen anderen, die mit ihm gefallen sind und als wandelnde Tote wiedererweckt wurden, um gegen uns zu kämpfen? Die Elfen können sich nicht mehr als wir darüber beschweren, angegriffen worden zu sein!“
„Unverfrorener Bengel“, knurrte Cairne und wandte sich an Garrosh. „Ihr benutzt den Namen von Saurfang, dem Jüngeren, zu Eurem Vorteil, obwohl Ihr öffentlich der Weisheit seines hinterbliebenen Vaters den Respekt verweigert.“
„Nur weil ich mit Saurfangs Taktiken nicht einverstanden bin, heißt das noch lange nicht, dass ich das Opfer seines Sohnes schmälere!“, gab Garrosh zurück. „Ihr, der Ihr an so vielen Schlachten teilgenommen habt in Euren vielen, vielen Jahren, solltet das eigentlich verstehen! Ja, ich bin anderer Meinung als er. Das sage ich ihm, wie ich es dir sage, Kriegshäuptling Thrall. Wir sollten nicht wie geprügelte Hunde jaulen und winseln, um die ach so zarten Gefühle der Nachtelfen nicht zu verletzen. Lasst uns jetzt ins Eschental gehen, bevor meine Truppen wieder heimgekehrt sind, und uns einfach nehmen, was wir brauchen!“
Cairne und Garrosh standen nun einander gegenüber und schrien sich an, als wäre Thrall nicht zugegen. Thrall hatte den Streit zwischen ihnen zugelassen, da er sich über das Verhältnis zwischen ihnen klar werden wollte. Doch nun hob er eine befehlende Hand, und seine Stimme war schneidend.
„So einfach ist es nicht, Garrosh!“
Garrosh wollte schon protestieren, doch Thrall blickte ihn warnend an, und der jüngere Orc schwieg widerwillig.
„Hochfürst Saurfang weiß das“, fuhr Thrall fort. „Cairne, ich und Hamuul wissen das. Du hast gerade deine ersten Schlachten gewonnen und dich darin mehr als würdig erwiesen. Doch du wirst schon bald lernen, dass nicht alles auf dieser Welt schwarz oder weiß ist.“
Cairne lehnte sich in seinem Stuhl zurück, scheinbar besänftigt, doch Thrall konnte deutlich sehen, dass Garrosh vor Wut kochte. Immerhin, dachte Thrall, hört er zu und schweigt.
„Varian Wrynns Haltung unserem Volk gegenüber wird immer kritischer.“ Thrall fügte nicht hinzu wegen dir, weil er wusste, dass Garrosh diese unausgesprochenen Worte sehr wohl heraushören würde. „Jaina Prachtmeer ist seine Freundin und ist uns freundlich gesinnt.“
„Sie zählt noch immer zum Abschaum der Allianz!“
„Sie gehört noch zur Allianz, das stimmt“, sagte Thrall. Seine Stimme wurde tiefer und lauter. „Doch wer mit mir gedient hat oder wer sich jemals die Mühe gemacht hat, eine historische Schriftrolle zu lesen, weiß, dass sie ein Mensch von großer Integrität und Weisheit ist. Glaubst du, dass Cairne Bluthuf nicht loyal ist?“
Garrosh schien durch den plötzlichen Themenwechsel aus der Fassung gebracht worden zu sein. Sein Blick schoss zu Cairne, der sich aufsetzte und laut schnaubte.
„Ich... natürlich nicht. Niemand in diesem Raum stellt seine Hingabe und die Treue zur Horde in Frage.“ Garrosh sprach vorsichtig. Er suchte die Falle. Thrall nickte. Garroshs Worte schienen der Wahrheit zu entsprechen.
„Das wäre auch reichlich dumm. Jainas Loyalität zur Allianz schließt nicht aus, dass sie all denen Frieden und Wohlstand sichert, die in Azeroth leben. Und das gilt auch für Cairnes Loyalität für die Horde. Sein Vorschlag klingt vernünftig. Wenn wir so verfahren, kostet uns das wenig, aber wir können viel gewinnen. Wenn die Nachtelfen offenen Verhandlungen zustimmen, schön und gut. Wenn nicht, müssen wir andere Wege suchen.“
Cairne blickte hinüber zu Hamuul Runentotem, der nickte und sagte: „Danke, Kriegshäuptling. Es ist meine tiefste Überzeugung, dass dies der richtige Weg ist, um sowohl die Erdenmutter zu ehren, die so erschüttert ist, als auch gleichzeitig das zu bekommen, was die Horde braucht, um sich von diesem schrecklichen Krieg zu erholen.“
„Wie immer, mein Freund, danke ich Euch für Euren Dienst.“ Thrall wandte sich an Garrosh. „Garrosh, du bist der Sohn von jemandem, der mir sehr teuer ist. Ich habe gehört, dass du der Held von Nordend genannt wirst. Das scheint mir ein passender Titel zu sein. Aber wie ich selbst erfahren musste, fällt es einem Kämpfer nach dem Krieg oft schwer herauszufinden, wo sein Platz ist. Ich, Thrall, Sohn von Durotan und Draka, verspreche dir, dass ich eine passende Position für dich finden werde, in der du deine Fähigkeiten und Kenntnisse zum Nutzen der Horde einbringen kannst.“
Er meinte das genau so, wie er es sagte. Thrall bewunderte Garrosh für seinen Einsatz in Nordend. Doch Garroshs Talente waren begrenzt, und Thrall brauchte Zeit, um darüber nachzudenken, wo er Garrosh am besten einsetzen konnte.
Offensichtlich verstand Garrosh Thralls Absichten nicht. Seine Augen verengten sich, und er knurrte leise.
„Wie der Kriegshäuptling es wünscht. Mit deiner Erlaubnis, großer Thrall, empfinde ich die Luft im Saal als ein wenig zu stickig.“
Ohne abzuwarten, erhob sich Garrosh, nickte Thrall gerade höflich genug zu, um den Regeln des Anstands zu entsprechen, und verließ den Saal.
„Der Junge ist ein Kodo, der sein Zaumzeug nicht mag“, murmelte Cairne.
Thrall seufzte. „Aber er ist zu wertvoll, als dass wir ihn verlieren dürfen.“ Er hob den Arm, räusperte sich und verkündete: „Die Luft ist wirklich stickig. Bringt mehr Flüssigkeit, um die trockenen Kehlen zu befeuchten!“
Jubel brandete auf, und die Menge war für den Moment abgelenkt. Thrall dachte über Cairnes und seine eigenen Worte nach und fragte sich, wie um alles in der Welt er einen wilden Kodo zähmen könnte, ohne ihn zu brechen.
Garroshs Rolle in der Horde stand nicht ganz oben auf Thralls Prioritätenliste, obwohl sie von einiger Bedeutung war. Es war das Wohl seines Volkes, die Horde als Ganzes und das Unglück der Elemente, was ihn am meisten beschäftigte. Sein Volk verlangte nach mehr Holz, um Häuser zu bauen, doch die ganze Welt schien beunruhigt.
Er hatte Durotar aus genau den Gründen ausgewählt, die er genannt hatte: weil es seinem Volk ermöglichte, für den Schaden zu büßen, den es angerichtet hatte, und weil dieses Land sie härter und stärker gemacht hatte. Doch er hatte nie erlebt, dass so viele Flüsse ausgetrocknet waren und so viele Bäume von einem Krieg verschlungen wurden, der, obwohl dringend notwendig, extrem zerstörerisch gewesen war.
Nein, dachte Thrall, als er an seinem Bierkrug nippte. Das Zähmen eines einzelnen rebellischen Kodos war derzeit das geringste seiner Probleme.
Dankbar atmete Garrosh die frische Nachtluft ein. Es war selbst nach Einbruch der Dämmerung noch trocken und warm, ganz anders als die kalte, feuchte Luft von Nordend. Doch dies hier war jetzt seine Heimat, nicht die Boreanische Tundra, nicht Nagrand in Draenor. Dieses ausgedörrte, ungastliche Land – die Stadt, die nach Orgrim Schicksalshammer benannt war, das Land nach Durotan, Thralls Vater. Er dachte einen Moment darüber nach und schnaubte vor Wut. Das Einzige, was seinen Namen trug, war ein kleines Stück der Küste, das ständig von falschen Geistern angegriffen wurde.
Er blieb unter dem Schädel und der Rüstung von Mannoroth stehen und spürte, wie sein aufgewühlter Geist sich etwas beruhigte. Als er sich ansah, was sein Vater erreicht hatte, empfand er großen Stolz. Es war gut, dass er gelernt hatte, stolz auf seine Herkunft zu sein. Doch er wollte seinen eigenen Weg gehen und nicht im Kielwasser der Taten seines Vaters schwimmen. Blutschrei, die Axt, die ihm jetzt gehörte, war auf seinen Rücken gebunden. Er griff danach und hielt die Waffe hoch, die den großen Feind seines Volkes getötet hatte. Seine braunen Hände schlossen sich fest um den Schaft.
„Euer Vater war genau das, was die Horde brauchte, als sie es brauchte“, erklang eine raue, tiefe weibliche Stimme hinter ihm. Garrosh wandte sich um und sah eine alte Taurenfrau. Er brauchte einen Moment, um sie zu erkennen, denn in der Dunkelheit waren nur das Glitzern des Sternenlichts auf ihren aufmerksamen Augen und die vier Streifen auf ihrem Maul sofort sichtbar. Als sich seine Augen den Lichtverhältnissen angepasst hatten, konnte er erkennen, dass sie wie eine Schamanin gekleidet war.
„Danke, ahm...?“ Er wartete darauf, dass sie sich ihm vorstellte. Sie lächelte.
„Ich bin die Ältestengreisin Magatha vom Grimmtotemstamm“, sagte sie.
Grimmtotem. Er hatte den Namen bereits einmal gehört. „Interessant, dass Ihr davon sprecht, was die Horde braucht, wo doch Euer Stamm der einzige Taurenstamm ist, der sich weigerte, der Horde offiziell beizutreten.“
Sie lachte leise. Ihre raue Stimme klang merkwürdig melodisch. „Die Grimmtotems tun, was sie wollen und wie sie es wollen. Vielleicht sind wir nicht der Horde beigetreten, weil wir keinen ausreichenden Grund dazu hatten.“
Garrosh nahm Anstoß an ihrer Bemerkung. „Was? Das reichte nicht aus?“ Er richtete seinen braunen kräftigen Finger auf den Schädel und die Rüstung des Grubenlords. „Unser Krieg gegen die Brennende Legion reichte nicht aus? Die Kriegshymnenoffensive war nicht genug, um die mächtigen Grimmtotems zu befriedigen?“
Gelassen beobachtete sie ihn. Sie schien von seinem Wortschwall nicht beeindruckt zu sein. „Nein“, sagte sie leise. „Es gefiel mir nicht. Doch die Geschichten darüber, was Ihr in Nordend getan habt... nun, das sind wirklich die Taten eines Helden. Wir Grimmtotems beobachten und warten. Wir erkennen Stärke, List und Ehre, wenn wir sie sehen. Es könnte sein, dass Ihr, Garrosh Höllschrei, wie Euer Vater genau das seid, was die Horde braucht. Wenn die Horde das herausgefunden hat, glaube ich, könnt Ihr Euch auf die Unterstützung der Grimmtotems verlassen.“
Garrosh war sich nicht sicher, worüber sie sprach, aber eine Sache war klar. Ihr gefiel, was er in der Feste gesagt hatte. Das konnte bedeuten, dass sie begrüßte, wie er die Dinge handhaben wollte. Das war möglich. Vielleicht würde endlich jemand anfangen, hier etwas zu tun.
„Habt Dank, Ältestengreisin. Ich nehme Eure Worte dankend an und hoffe, dass ich schon bald mehr als nur Worte der Unterstützung wert bin.“
Er dachte bereits darüber nach, den friedliebenden Thrall zu umgehen und dem mürrischen alten Cairne und der Horde zu geben, was sie brauchten. Der Trick war, dabei gewisse Grenzen nicht zu überschreiten.
Es war nicht die Zeit, um vorsichtig zu sein. Jetzt musste man mutig handeln. Das würden sie verstehen, wenn er Ergebnisse präsentierte.
Cairne und sein Gefolge waren früh auf den Beinen und bereits vor dem Morgengrauen reisefertig. Und das, obwohl die Feier bis in die ersten Morgenstunden gedauert hatte und er, als Ehrengast, bis zum Ende des Festes hatte ausharren müssen. Er wollte endlich nach Hause zurückkehren. Die Truppen, die er nach Nordend entsandt hatte, als Thrall zu den Waffen gerufen hatte, waren wilde Kämpfer und hatten sich gut geschlagen. Doch auch sie waren des Blutvergießens und der endlosen Strapazen müde. Einst ein nomadisches Volk, besaßen die Tauren jetzt eine Heimat, Mulgore, und sie war ihnen lieb und teuer. Heute begannen sie den letzten Teil der Reise zu den sanften Hügeln, stolzen Kuppen und ihren Lieben, die sie hatten zurücklassen müssen.
Sie hatten beschlossen, ihren Weg zu Fuß fortzusetzen, um noch ein wenig länger beisammenbleiben zu können, und empfanden das keineswegs als Mühsal. Als der Morgen anbrach und die anderen Hordekämpfer entweder noch ihren Rausch ausschliefen oder sich wegen ihrer Kopfschmerzen vor die Köpfe schlugen, hatten die Tauren Durotar bereits verlassen und marschierten in Richtung des Brachlands. Cairne schickte Perith Sturmhuf voraus, um Baine über ihr Kommen in Kenntnis zu setzen. Perith war einer der wenigen ausgewählten Kundschafter, die Weitläufer genannt wurden. Sie unterstanden allein Cairnes Kommando, und er vertraute ihnen die wichtigsten Informationen an. Nicht einmal Thrall verfügte über das Wissen, das Cairne mit den Weitläufern teilte. Dies war zwar kein wichtiger Auftrag, von dem Leben abhingen, doch Periths Augen leuchteten glücklich auf, als Cairne ihm diese besondere Aufgabe anvertraute. Er lief mit seiner üblichen Leichtigkeit voraus.
Der späte Nachmittag badete die Ebene von Mulgore in ein goldenenes Licht. Perith traf wieder auf Cairnes Gruppe, als sie sich der Abzweigung von Camp Narache und dem Dorf der Bluthufe näherte. Er ging neben Cairne her, während sie gemächlich nach Hause marschierten.
„Ich habe Baine informiert, wie Ihr befohlen habt“, sagte Perith. „Er versicherte, dass alles bereit sein wird.“
„Gut“, sagte Cairne. „Die Bewohner der Dörfer sollen wissen, dass bald viele Reisende einkehren werden. Ich will keinen meiner Leute hungrig sehen.“
„Ich glaube, Ihr werdet das, was Baine geplant hat... akzeptabel finden.“
Neugierig blickte Cairne seinen Boten an. In diesem Moment erklangen mehrere Hörner, und einige Kodos trampelten auf sie zu. Cairnes schwächer werdende Augen konnten nicht erkennen, wer auf den großen Tieren saß, doch seine Ohren konnten das Jubeln der anderen hören. Die Tauren sprangen von den Kodos, riefen, lachten, warfen Blumen und Kräuterbündel auf die ankommenden Helden.
„Willkommen daheim, Vater“, sagte Baine Bluthuf. Cairne wandte sich dem Klang der vertrauten Stimme zu, blinzelte und lächelte, als er den Umriss seines Sohns erkannte, der auf einem der großen Kodos saß.
Tränen brannten einen Moment lang in den Augen des alten Bullen. So sollte man zu Hause willkommen geheißen werden! Mit den glücklichen Rufen der Kinder und Familienangehörigen, mit dem Segen der natürlichen Welt. Einfacher, besser... auf Taurenart eben.
„Gut gemacht, mein Sohn“, sagte Cairne und schaffte es nur mit Mühe, seine Gefühle aus seiner Stimme herauszuhalten. „Gut gemacht!“
Baine, der so ruhig und beständig wie sein Vater war, strahlte vor Freude über Cairnes Rückkehr. Er sprang leichtfüßig von seinem Kodo herunter und kam auf seinen Vater zu. Sie ergriffen einander bei den Händen, gingen nebeneinander her und lösten sich ein wenig von der Gruppe der anderen, die ebenfalls von ihren Familien fröhlich empfangen wurden.
„Da sind noch mehr“, sagte Baine und beobachtete mit einem Lächeln, wie mehrere der Krieger die Straße nach Südwesten nahmen. Diese Glücklichen hatten ihr Heim bereits erreicht. „Auf der Straße zu unserem Haus warten noch andere, die dich willkommen heißen wollen.“
„Ich bin gerührt“, sagte Cairne. „Geht es allen gut?“
„Es wird ihnen noch besser gehen, wenn die Veteranen des Krieges zu Hause sind“, sagte Baine. „Wie war die Feier in Orgrimmar?“
„Sie war wie erwartet“, antwortete Cairne. „Es war sehr orcisch. Viele Waffen, viel Feiern, viel Brüllen. Unsere Leute wurden nicht schlecht behandelt.“
Baine nickte. „Das würde Thrall auch nie tun.“
Cairne reckte den Hals über seine Schulter und schwieg einen Moment. Dann fuhr er mit gesenkter Stimme fort: „Das würde er wirklich nicht. Dafür ist er zu weise und zu großherzig. Ich habe einen Auftrag erhalten, den nur wir durchführen können.“
Er berichtete seinem Sohn leise von Hamuuls Vorschlag. Baine hörte aufmerksam zu, und seine Ohren zuckten mehrmals.
„Das ist gut“, sagte er. „Ich bin selbst Krieger, aber ich sage dir, Vater, unser Volk hat genug vom Kämpfen. Wenn Hamuul glaubt, dass diese Gespräche helfen können, dann bin ich dabei, Vater. Ich unterstütze dieses Vorhaben, soweit es in meiner Macht steht.“
Nicht zum ersten Mal war Cairne dankbar, dass die Erdenmutter und seine Lebensgefährtin Tamaala ihm einen solchen Sohn geschenkt hatten. Obwohl Tamaala bereits vor vielen Jahren mit den Geistern gezogen war, lebte sie in ihrem Sohn weiter. Baine war ein großer Trost für seinen Vater. Er hatte die Spiritualität seiner Mutter, eine schnelle Auffassungsgabe, ein großes Herz, die Ruhe seines Vaters und – das musste Cairne eingestehen – eine gehörige Portion Sturheit. Der Taure musste nicht lange überlegen, ob er Mulgore in den fähigen Händen seines Sohnes lassen sollte. Er fragte sich, wie Thrall ein Leben ohne Gefährtin und ohne Nachkommen ertrug. Selbst Grom hatte einen Sohn. Vielleicht würde Thrall, jetzt, da der Krieg vorbei war, seine Gedanken auf solche Dinge wie eine Gefährtin und einen Erben richten.
„Wie hat sich unsere Lieblingsschamanin in meiner Abwesenheit gemacht?“
„Gut“, antwortete Baine. Sie sprachen über Magatha. „Ich habe sie genau im Auge behalten. Es wäre eine günstige Zeit gewesen, um Ärger zu machen, doch sie hat sich still verhalten.“
Cairne grunzte. „Es könnte allerdings Ärger geben. Der junge Garrosh Höllschrei ist ein Hitzkopf, und ich sah, wie sie die Halle in Orgrimmar verließ, um mit ihm zu sprechen.“
„Ich habe gehört, dass er ein großartiger Krieger ist“, sagte Baine langsam, „aber...“, er grinste, „auch ein Hitzkopf.“
Die beiden Bluthufe lächelten wissend. Cairne schlug seine Hand auf Baines Schulter und drückte fest zu. Baine bedeckte die Hand seines Vaters mit seiner eigenen.
Vor ihnen erhob sich Donnerfels majestätisch in den späten Nachmittagshimmel.
„Willkommen daheim, Vater! Willkommen daheim!“
Der Tag war kühl und leicht bewölkt, und als Jaina Prachtmeer die mit einem blaugoldenen Teppich bedeckten Stufen von Sturmwinds glorreicher Kathedrale hinaufging, begann es zu regnen. Ein Teil der Stufen war gesperrt, da sie nach dem Krieg gegen den Albtraum repariert werden mussten. Jaina verzichtete darauf, ihre Kapuze über ihr leuchtend goldenes Haar zu ziehen, und ließ die Tröpfchen auf ihren Kopf und ihr Gesicht fallen. Es schien, als würde der Himmel bei dem Gedanken an die Zeremonie weinen, die gleich in der Kathedrale stattfinden sollte.
Zwei junge Priesterinnen standen neben der Tür, lächelten und machten einen Knicks. „Lady Jaina“, sagte das zur Rechten stehende Mädchen ein wenig stammelnd. Dass sie errötete, war selbst bei ihrer dunklen Haut zu erkennen. „Man hat uns nicht gesagt, dass wir Euch erwarten. Wünscht Ihr, bei Seiner Majestät zu sitzen? Ich bin mir sicher, er würde sich über Eure Gesellschaft sehr freuen.“
Jaina schenkte dem Mädchen ein entwaffnendes Lächeln. „Danke, nein. Ich sitze gern bei den anderen.“
„Dann hier entlang, bitte“, sagte die Zwergenpriesterin und hielt Jaina eine Kerze hin, die noch nicht brannte. „Bitte nehmt das, Mylady, und setzt Euch, wo immer Ihr möchtet. Wir sind froh, Euch hier zu haben.“
Ihr Lächeln war ehrlich, wenn auch dezent und der Ernsthaftigkeit des Augenblicks angepasst. Jaina nahm die Kerze entgegen, trat in die Kathedrale und warf eine Handvoll Goldstücke in den Opferstock, der neben der Priesterin stand.
Sie atmete tief ein. Wegen der hohen Luftfeuchtigkeit in dem Gebäude war der Geruch der Räucherstäbchen viel intensiver als üblich, und in der Kathedrale des Lichts war es dunkler, als sie es in Erinnerung hatte. Die Kerzen brannten rauchend, und Jaina blickte die Reihen der Kirchenbänke auf der Suche nach einem freien Platz entlang. Sie fragte sich, ob es klug gewesen war, das Angebot der jungen Priesterin so schnell abzulehnen. Ah, da war etwas frei. Sie ging den Gang entlang und nickte einem älteren Gnomenpaar dankend zu, das ein wenig zur Seite rückte, um ihr Platz zu machen. Von hier aus hatte sie eine exzellente Sicht. Sie lächelte, als sie die vertrauten Gestalten von König Varian Wrynn und seinem Sohn Anduin sah, die so unauffällig wie möglich aus einem angrenzenden Raum traten.
Eigentlich konnte man Varian nicht wirklich als „unauffällig“ bezeichnen. Es kam ja nicht von ungefähr, dass der Orc Rehgar Erdenwut einen Gladiator aus ihm gemacht hatte, nachdem Varian vor einem Jahr halb ertrunken und ohnmächtig aufgefunden worden war. Ohne jede Erinnerung an seine Vergangenheit, hatte sich Varian gut an den brutalen Lebensstil gewöhnt. Damals hatte er nicht gewusst, dass er in zwei verschiedene Wesen geteilt worden war: Varian, der unter der Fuchtel des Drachen Onyxia gestanden hatte, und Lo’Gosh, ein furchteinflößender und mächtiger Gladiator. Varian verfügte über die Manieren, das Wissen und die Etikette des echten Varian. Lo’Gosh, ein Taurahe-Wort, das „Geisterwolf“ bedeutete und eine wilde Kreatur aus den Legenden bezeichnete, hatte alle Kämpferqualitäten des ursprünglichen Varian besessen. Varian war elegant, Lo’Gosh war stark. Varian war kultiviert, Lo’Gosh war brutal.
Diese beiden Hälften wurden schließlich wiedervereint, jedoch nicht vollständig. Manchmal schien es, dass Lo’Gosh die Oberhand über den großen, kraftvoll gebauten Körper gewann.
Mehr denn je dominierte König Varian Wrynn den Raum. Sein dunkles Haar war zu einem Knoten zusammengebunden, und eine breite Narbe entstellte das einstmals schöne Gesicht.
Anduin war das ganze Gegenteil von seinem Vater. Er war bleich, blond, schlank und ein wenig größer geworden, seit Jaina ihn das letzte Mal gesehen hatte. Obwohl er nicht die imposante Größe seines Vaters geerbt hatte und wohl, wie Jaina glaubte, eher nach seiner gertenschlanken Mutter kam und deshalb niemals ein so großer Mann werden würde wie Varian, war er nun ein Heranwachsender und kein Kind mehr. Anduin lächelte Bruder Sarno und den jungen Thomas an und nickte ihnen zu, als er und sein Vater das Kirchenschiff betraten, um Platz zu nehmen. Vielleicht spürte er Jainas Blick, denn er runzelte die Stirn und sah sich unauffällig um. Er war derart geübt in den Pflichten eines Prinzen, dass er keine Regung zeigte, als er sie erblickte. Doch seine Augen leuchteten, und er grüßte sie mit einem angedeuteten Nicken.
Alle Blicke wandten sich nun vom König und seinem Sohn ab und richteten sich auf Erzbischof Benedictus, der mit gemessenen Schritten zum Altar ging. Mit seiner durchschnittlichen Größe und seinem stämmigen Körperbau vermittelte er eher den Eindruck eines Bauern als eines heiligen Mannes. Er schien nie so richtig in die goldfarbenen und weißen Roben zu passen und sich in ihnen stets etwas unbehaglich zu fühlen. Doch wenn er mit seiner ruhigen, klaren und kräftigen Stimme zu sprechen begann, war es offensichtlich, dass das Licht ihn erwählt hatte.
„Liebe Freunde des Lichts, seid alle willkommen in dieser schönen Kathedrale, die sich niemandem verschließt, der mit offenem Herzen und demütigem Geist eintritt. Dieser Ort hat viele Momente der Freude erlebt und manche der Trauer. Heute haben wir uns hier versammelt, um die Gefallenen zu ehren, sich ihrer zu erinnern, sie zu betrauern und ihrem Opfer für unsere Allianz und für Azeroth Respekt zu zollen.“
Jaina blickte auf ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen. Das war einer der Gründe, warum sie nicht an einer gut sichtbaren Stelle der Kathedrale hatte Platz nehmen wollen. Ihre Romanze mit Arthas Menethil war nicht vergessen worden – nicht, als er Prinz war, ganz sicher nicht, als er der Lichkönig wurde, und schon gar nicht jetzt, da er besiegt worden war. Nur wegen ihm war diese traurige Zeremonie erforderlich. Einige der Anwesenden drehten sich zu ihr um, erkannten sie und warfen ihr teilnahmsvolle Blicke zu.
Nicht ein Tag verging, an dem Jaina nicht an Arthas dachte, sich fragte, ob es irgendetwas gab, das sie hätte tun oder sagen können, um den einst strahlenden Paladin von seinem dunklen Pfad abzubringen. Ihre Gefühle hatten sich während des Kriegs gegen den Albtraum gewandelt, als sie in einem Traum gefangen gewesen war, in dem sie ihn in der Tat davon abgehalten hatte, zum Lichkönig zu werden... indem sie an seiner statt zur Lichkönigin wurde...
Sie erschauderte, verdrängte die Gedanken an den schrecklichen Traum und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Erzbischof zu. „... die frostigen Länder weit im Norden“, sagte Benedictus. „Sie erlebten einen schrecklichen Feind mit einer Armee, von der niemand jemals wirklich geglaubt hatte, dass sie besiegt werden könnte. Und dennoch, dank der Segnungen des Lichts und dem Mut dieser Männer und Frauen – Menschen, Zwerge, Nachtelfen, Gnome, Draenei, ja, selbst Mitglieder der Horde – sind wir wieder sicher in unserer Heimat. Die Zahlen der Gefallenen sind erschütternd, und täglich kommen neue hinzu. Um euch ein Gefühl für die Verluste zu geben, wurde jedem Gläubigen hier eine Kerze ausgehändigt. Jede Kerze repräsentiert nicht ein, nicht zehn... sondern einhundert Leben der Allianz, die im Nordendfeldzug ausgelöscht wurden.“
Jaina spürte, wie ihr der Atem stockte. Sie starrte die Kerze an, die sie mit einer Hand umklammerte, und begann plötzlich zu zittern. Sie blickte sich um... Es mussten mindestens zweihundert Menschen in der Kathedrale sein. Und sie wusste, dass sich noch weitere, die an der Erinnerungszeremonie teilnehmen wollten, vor der Kirche versammelten, da die Kathedrale bereits überfüllt war. Zwanzig-, dreißig-, vielleicht vierzig- oder fünfzigtausend Menschen... alle tot. Einen Moment lang schloss sie die Augen und wandte ihre Aufmerksamkeit dann wieder dem Erzbischof zu. Jaina war sich schmerzlich bewusst, dass das Gnomenpaar neben ihr sie anstarrte und sich etwas zuflüsterte.
Als sie laute Stimmen und ein erschrecktes Keuchen aus dem hinteren Teil der Kathedrale vernahm, war sie beinahe erleichtert. Sie wandte sich um und sah zwei wettergegerbte Wächterinnen, die lebhaft mit den beiden Priesterinnen sprachen. Jaina stand auf und begab sich in Richtung des Ausgangs. Dabei bemerkte sie, dass Varian bereits in dieselbe Richtung ging.
Die Menschenpriesterin führte offensichtlich die beiden Wächterinnen gegen den Wunsch der verärgert scheinenden Zwergin in einen Raum auf der linken Seite des Eingangsbereichs. Jaina beeilte sich, zu ihnen zu gelangen. Als sie den Raum betrat, holte Varian sie ein. Sie hatten keine Zeit für eine Begrüßung, tauschten jedoch rasche Blicke miteinander aus.
Varian wandte sich an die beiden Paladine, die ebenfalls dazu-gestoßen waren. „Lord Grayson“, sagte er zu dem großen Mann mit dem schwarzen Haar und einer Augenklappe. „Gebt den Wächterinnen etwas zu essen und zu trinken.“
„Aye, Sire“, sagte der Paladin und beeilte sich, den Auftrag selbst zu erledigen. So waren die Paladine eben: Jeder noch so geringe Dienst, der einem anderen half, war vom Licht erfüllt.
„Setzt Euch“, sagte Varian.
Die größere der beiden Nachtelfen, eine violetthäutige Frau mit weißem Haar, schüttelte den Kopf. „Danke, Euer Majestät, aber das ist kein Höflichkeitsbesuch. Wir kommen mit schlechten Nachrichten und möchten so schnell wie möglich wieder zurückkehren.“
Varian nickte, und sein Körper spannte sich sichtlich an. „Dann berichtet mir.“
Die Nachtelfe nickte. „Ich bin Wächterin Valarya Flusslauf. Das ist Wächterin Ayli Laubflüsterer. Wir kommen mit Berichten über Angriffe der Horde im Eschental. Das Abkommen wurde gebrochen.“
Jaina und Varian schauten sich überrascht an. „Als wir das Abkommen unterzeichneten, wussten wir, dass es auf beiden Seiten einige Schwierigkeiten geben würde“, sagte Jaina zögernd. „Die Grenzen waren lange eine Quelle der...“
„Ich wäre nicht hier, wenn es sich nur um ein Scharmützel handeln würde, Lady Jaina Prachtmeer“, sagte Valarya eisig. „Wir sind keine Anfänger und wissen, dass es bei einem solchen Abkommen die üblichen Anlaufschwierigkeiten gibt. Doch hierbei handelt es sich um etwas anderes. Es war ein Gemetzel. Und das, obwohl die Horde versprochen hat, den Frieden zu wahren!“
Jaina und Varian hörten zu. Jainas Augen wurden immer größer, und Varian ballte langsam seine Fäuste, als sie die Einzelheiten der blutigen Geschichte erfuhren. Ein Dutzend Wächterinnen war überfallen worden, als sie einen Kräuter- und Mineralientransport bewachten, der durch die grünen Wälder des Eschentals führte. Niemand hatte überlebt. Ihr Tod wurde erst entdeckt, als der Treck bereits zwei Tage überfällig war. Die Karren und alles, was sie enthalten hatten, waren verschwunden.
Valarya schwieg und atmete tief durch, wie um sich selbst zu beruhigen. Ihre Wächterschwester trat neben sie und drückte ihre Schulter. Varian runzelte die Stirn, doch Jaina drängte darauf, mit der Unterredung fortzufahren.
„Das ist tatsächlich ein Bruch der Vereinbarung“, sagte sie, „Thrall muss davon erfahren. Doch auch wenn dem so ist: Ich verstehe immer noch nicht, warum Ihr das ein Gemetzel nennt statt eines unglücklichen, aber nicht ungewöhnlichen Zwischenfalls.“
Ayli zuckte und wandte sich ab. Jaina blickte von einer Wächterin zur anderen. Dies waren Kriegerinnen, die wahrscheinlich schon länger kämpften, als Jaina lebte. Was hatte sie so erschüttert?
„Lasst es mich so sagen, Lady Prachtmeer“, sagte Valarya mit zusammengepressten Zähnen. „Wir konnten ihre Leichen nicht mehr bergen.“
Jaina schluckte. „Warum nicht?“
„Weil sie systematisch in mehrere Teile zerhackt wurden“, sagte Valarya, „und diese Teile wurden von Aasfressern weggeschleppt. Das war natürlich, nachdem man ihnen die Haut abgezogen hatte. Wir wissen nicht, ob sie da noch gelebt haben oder nicht.“
Jainas Hand flog zu ihrem Mund. Bittere Galle stieg ihr in die Kehle. Das war mehr als ekelerregend, mehr als grausam...
„Die Haut hing wie Leinen an einem nahe gelegenen Baum. Und darauf standen mit Elfenblut geschrieben Symbole der Horde.“
„Thrall!“, brüllte Varian. Er wirbelte zu Jaina herum und schaute sie wütend an. „Er hat das veranlasst! Und du hast mich davon abgehalten, ihn zu töten, als ich die Möglichkeit dazu hatte!“
„Varian“, sagte Jaina und kämpfte darum, nicht die Fassung zu verlieren. „Ich habe Seite an Seite mit ihm gekämpft. Ich habe geholfen, mehrere Abkommen mit ihm auszuhandeln, Abkommen, die er stets eingehalten hat. Nichts, aber auch gar nichts an dieser Geschichte deutet auf irgendetwas hin, das er tun oder anordnen würde. Wir haben keinen Beweis, dass er diesen Überfall erlaubt hat, und...“
„Keinen Beweis? Jaina, es waren Orcs! Er ist ein Orc, und er ist der Anführer der verdammten Horde!“
Ihr Magen beruhigte sich wieder, und sie wusste, dass sie recht hatte. „Die Defias sind auch Menschen“, sagte Jaina sehr ruhig. „Bist du für deren Taten verantwortlich?“
Varian zuckte zusammen, als wäre er geschlagen worden. Einen Augenblick lang glaubte sie, zu ihm durchgedrungen zu sein. Die Defias waren sein persönlicher Feind und hatten Varian viel genommen. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, und sein finsterer Blick wirkte durch die große Narbe in seinem Gesicht noch schrecklicher. Er sah nicht mehr wie er selbst aus.
Er wirkte wie Lo’Gosh.
„Du wagst es, mich daran zu erinnern?“, knurrte er leise.
„Das tue ich. Jemand muss dich wieder zur Vernunft bringen.“ Sie trat der Wut von Lo’Gosh, dem Teil von Varian, der kalt, schnell und brutal war, nicht mit ihrer eigenen Wut entgegen, sondern bediente sich einer Sachlichkeit, wie sie es schon viele Male zuvor erfolgreich getan hatte.
„Du regierst das Königreich Sturmwind, das mächtigste Reich in der Allianz. Thrall führt die Horde an. Du kannst Gesetze machen, Regeln aufstellen und Abkommen eingehen, und genau das kann auch Thrall. Aber er kann die Handlungen jedes einzelnen seiner Bürger nicht besser kontrollieren als du. Das kann niemand.“
Varian blickte finster drein. „Was, wenn du falschliegst, Jaina? Was, wenn ich recht habe? Du bist ja dafür bekannt, Leute falsch einzuschätzen.“
Jaina zuckte schmerzvoll unter diesen Worten zusammen. Sie brachten Arthas zu ihr zurück. So handelte Lo’Gosh, so hatte er seine Gladiatorenkämpfe gewonnen – hinterhältig, jedes Mittel nutzend. Er wollte um jeden Preis gewinnen. Ihr Albtraum kehrte zurück, aber sie schob ihn beiseite. Jaina atmete tief ein und riss sich zusammen.
„Viele von uns kannten Arthas gut, Varian. Auch du. Du hast jahrelang mit ihm zusammengelebt und das Monster in ihm ebenfalls nicht gesehen. Genauso wenig wie sein Vater oder Uther.“
„Nein, das habe ich nicht. Aber ich mache denselben Fehler nicht noch einmal, du jedoch schon. Sag mir eines, Jaina: Wenn du gewusst hättest, was aus Arthas werden würde ... hättest du versucht, ihn aufzuhalten? Hättest du den Mut gehabt, deinen Geliebten zu töten, oder hättest du um des lieben Friedens willen zugesehen wie eine jammernde friedliebende kleine Frau, die...“
„Vater!“
Das Wort, von einer hohen Jungenstimme gesprochen, knallte wie eine Peitsche durch den Raum. Varian wirbelte herum.
Anduin stand in der Tür. Seine blauen Augen waren weit aufgerissen, und sein Gesicht war bar jeder Farbe. Mehr noch als der Ausdruck des Schocks lag etwas anderes auf seinem Gesicht. Es war bittere Enttäuschung. Vor Jainas Augen änderte sich Varian schlagartig. Fort war die kalte rasende Wut von Lo’Gosh. Auch seine Haltung änderte sich. Er war wieder Varian.
„Anduin...“ Varians Stimme war fest, jedoch waren die Sorge um seinen Sohn und ein leichtes Bedauern herauszuhören.
„Rette die Situation“, sagte Anduin empört. „Du bleibst hier drin und... tust, was immer du auch hier tust. Ich gehe wieder nach draußen und werde durch meine Anwesenheit unser Volk wissen lassen, dass es jemandem wichtig ist, was es verloren hat. Selbst wenn es nur ein jammernder kleiner Pazifist ist.“
Er machte auf dem Absatz kehrt und umfasste einen Augenblick lang den Türrahmen. Jaina beobachtete, wie sein Rücken sich straffte, wie er sich durchs Haar fuhr, sich zusammenriss und das würdevolle Gesicht so aufsetzte, wie er eine Krone aufgesetzt hätte. Er war so rasch erwachsen geworden. Die beiden Wächterinnen schauten einander kurz an. Varian stand einen Moment lang da und blickte stumm dorthin, wo sein Sohn noch kurz zuvor gestanden hatte. Er seufzte laut.
„Jaina, warum gehst du nicht auch zurück?“ Er lächelte verhalten. „Keine Angst. Die Wächterinnen und ich werden in aller Ruhe besprechen, was getan werden muss.“
Jaina nickte. „Hast du danach einen Augenblick Zeit für mich?“
„Natürlich.“ Er wandte sich wieder an die beiden Elfen. „So, was meintet Ihr, wann die Angriffe stattfanden?“
Die Besprechung wurde mit gedämpften Stimmen geführt. Jaina wandte sich um und verließ leise den Raum. Sie kehrte nicht zu derselben Kirchenbank zurück, auf der sie vorher gesessen hatte, sondern ging in den hinteren Bereich der Kathedrale, stand in den Schatten, beobachtete, hörte zu und tat das, was sie am besten konnte: nachdenken.
Eine Stunde später war die Messe vorbei. Jaina hatte eigentlich nicht mehr daran teilnehmen wollen, doch in ihrem Verlauf erkannte sie, dass sie hierbleiben musste, und zwar für zwei Leute. Einer der beiden war sie selbst. Nach der Hälfte der Predigt bemerkte sie, wie sie den Kopf neigte und Tränen ihre Wangen hinabliefen, als sie diejenigen betrauerte, die alles gegeben hatten, um gegen das Böse zu bestehen. Und sie betrauerte den jungen, ernsten Mann, der Arthas Menethil einst gewesen war. Durch die Tränen fand sie einen Frieden, den sie bis zu diesem Moment nicht gekannt hatte.
Und was das andere betraf...
Sie kehrte in den kleinen Raum zurück, in dem Varian die Wächterinnen empfangen hatte. Die Elfen waren fort, doch der König von Sturmwind saß an einem kleinen Tisch und hatte den Kopf in die Hände gestützt. Er blickte auf, als sie eintrat, obwohl sie die Tür so leise wie möglich geöffnet hatte. Varian warf ihr ein müdes Lächeln zu.
„Es tut mir leid, dass ich vorhin die Kontrolle verloren habe.“
„Das sollte es dir auch.“
Er nickte und erkannte die Wahrheit in ihrer Bemerkung. „Das tut es. Was ich gesagt habe, war unangemessen und falsch.“
Jaina wurde ein wenig zugänglicher. „Ich nehme deine Entschuldigung an. Aber ich bin nicht die Einzige, die eine Entschuldigung verdient.“
Varian verzog das Gesicht, nickte jedoch zustimmend. „Ich wünschte, er hätte das nicht gesehen, aber nun ist es leider geschehen.“
Sie setzte sich in den Stuhl ihm gegenüber, bereit, ihm zuzuhören. „Erzähl mir, was du beschlossen hast.“
Varian hatte dem Vorschlag zugestimmt, mehrere Alchemisten ins Eschental zu entsenden, um mit den Nachtelfen sowohl den Ort des Gemetzels als auch das gefundene Blut und die Kleidungsreste zu untersuchen. Ein unbewaffneter Sendbote, der zweifellos vor Angst schlotterte, würde zu Thrall geschickt werden, um die unmissverständliche Forderung nach einer Untersuchung der Vorgänge im Eschental zu überbringen.
„Das ist... sehr maßvoll von dir“, merkte Jaina an.
„Meine Handlungen sollten darauf beruhen, was ich weiß, und nicht darauf, was ich vermute. Sollte sich jedoch herausstellen, dass Thrall hinter dieser Gräueltat steckt, dann sei versichert, dass ich gegen Orgrimmar ziehen werde und mir seinen Kopf hole. Es ist mir egal, ob ich dazu berechtigt bin oder nicht. Ich werde es tun.“
„Wenn er das tatsächlich sein sollte, gehe ich mit dir“, sagte Jaina. Sie war sich sicher, dass Thrall über den Angriff genauso schockiert und erschreckt sein würde wie Varian und sie. Auch wenn er nicht Varians Freund war, so war er doch immer ein ehrenhafter Feind gewesen. Thrall hätte niemals eine Verletzung des Abkommens angeordnet, ganz zu schweigen von einem solch grausamen Überfall.
„Ich wollte mit dir über Anduin sprechen“, sagte sie und wechselte das Thema.
Varian nickte. „Anduin ist der geborene Diplomat. Er versteht die Notwendigkeit, in den Krieg nach Nordend zu ziehen. Aber er sehnte sich noch immer nach Frieden. Und ich scheine nicht in der Lage zu sein, mein Verlangen nach Krieg zu unterdrücken. Die Dinge waren gut, als ich zurückkam, aber...“
„Nun, er ist noch jung“, sagte Jaina leichthin.
„Er hat Bolvars Tod nur schwer ertragen. Sehr schwer.“
Bei dem Namen bewegte sich Jaina unruhig.
„Ich habe erkannt, wie nah sich die beiden gekommen waren, während ich fort war. Bolvar war wie ein Vater für Anduin.“
„Weiß... er es?“, fragte Jaina leise.
Varian schüttelte den Kopf. „Und ich hoffe, dass er das niemals erfahren wird.“
Nach dem Sieg über den Lichkönig war eine schreckliche Neuigkeit enthüllt worden, nämlich die Tatsache, dass es immer einen Lichkönig geben musste, da die Geißel ansonsten zügellos durch die Welt tobte. Jemand musste den Helm tragen, der nächste Lichkönig werden, sonst wäre alles, wofür sie gekämpft hatten, umsonst gewesen. Bolvar, der durch das Feuer des Drachen, das sein Leben gerettet hatte, so schrecklich entstellt war, dass er wie ein Mensch aus lebender Asche aussah, hatte darauf bestanden, diese fürchterliche Aufgabe zu übernehmen. Er trug nun die Krone des Lichkönigs, saß auf dem Dach der Welt und war für immer ein Gefangener der Untoten. Selbst jetzt, in diesem Moment, füllten sich Jainas Augen mit Tränen bei dem Gedanken an ihn.
„Anduin hatte eine schwere Zeit deswegen“, sagte Jaina mit rauer Stimme. Sie räusperte sich und fuhr fort: „Doch Bolvar war nicht sein Vater. Das bist du, und ich weiß, dass er froh ist, dass du zurückgekehrt bist, aber...“
„Aber er will seinen Vater zurück, nicht Lo’Gosh. Das ist völlig verständlich. Jaina... manchmal weiß ich nicht, wo der eine anfängt und der andere aufhört. Ich... mag es nicht, den Jungen um mich zu haben... dass er bei mir lebt, während ich versuche, das herauszufinden.“
„Ich habe dasselbe gedacht. Und ich habe eine Idee...“
Als sie die Kathedrale verließ, zog Jaina ihre Kapuze über den Kopf. Es regnete noch immer, ja, der Regen war sogar noch stärker geworden. Doch das störte sie nicht. Sie lebte in Theramore und war feuchtes Wetter gewohnt.
Weil sie nach Sturmwind teleportiert worden war, hatte sie kein Pferd. Aus diesem Grund ging sie schnellen Schrittes durch die nassen Straßen auf die Burg Sturmwind zu. Es war kein langer Weg, doch sie trat in einige Pfützen, und als sie an der Burg ankam, war sie völlig durchnässt und zitterte vor Kälte.
Die Wachen kannten sie und nickten höflich, als sie eintrat. Mehrere Diener kamen eiligst zu ihr, boten an, ihr den Umhang abzunehmen und ihr ein heißes Getränk zu bringen. Sie winkte alle Angebote ab, lächelte freundlich und dankte für die Aufmerksamkeit. Weil sie eine wohlbekannte Besucherin war, wunderte sich niemand darüber, wo sie hingehen wollte, als sie sich nach dem Weg erkundigte.
Jaina passierte die Empfangsräume und den Thronsaal und gelangte dann in den privaten Bereich der Burg. Sie erreichte ihr Ziel, ordnete ihr feuchtes Haar und klopfte an die Tür zu Anduins Gemächern.
Sie erhielt keine Antwort. Jaina versuchte es erneut. „Anduin? Ich bin es, Jaina“, sagte sie mit gedämpfter Stimme.
Sie hörte das leise Tappen von Füßen, die sich der Tür näherten, dann öffnete sie sich einen Spaltbreit. Ernste blaue Augen blickten zu ihr empor und schließlich an ihr vorbei.
„Ich bin allein“, versicherte sie ihm. Anduin nickte und ging einen Schritt zurück, um sie in sein Zimmer eintreten zu lassen.
Die Burg von Sturmwind war großzügig angelegt, obwohl sie dem Vergleich mit Lordaerons einstigem Palast nicht standhalten konnte. Jaina erinnerte sich an Prinz Arthas’ Räume, als sie Anduins Zimmer betrat. Er war zeit seines Lebens ein Prinz gewesen, während Varians Abwesenheit sogar König, und dennoch war dieser Raum ausgesprochen schlicht und spartanisch eingerichtet. Das Bett war klein und eignete sich eher für das Kind, das er einst gewesen war, als für einen angehenden jungen Mann. Er würde bald ein größeres brauchen, überlegte sie. Anduin wuchs so schnell. Der Bettrahmen war schmucklos, und es gab keinerlei Wandgemälde außer einem Porträt, das Anduin und seine Mutter – Königin Tiffin – zeigte, als der Junge noch ein Säugling gewesen war. Jaina vermutete, dass sie kurz nach Vollendung des Bildes gestorben war – getötet von einem Stein, der sie während eines Aufstands der Defias getroffen hatte. Auf dieses Ereignis hatte sie sich in dem Gespräch mit Varian bezogen, als sie versucht hatte, ihm Thralls Standpunkt zu verdeutlichen. Tiffins Sohn hatte seine Mutter nie kennengelernt.
Ein einfacher Nachttisch mit einem Wasserkrug und einer Waschschüssel stand neben dem Bett. Nur wenige Fuß weit entfernt befand sich eine Kohlenpfanne, um dem Raum im Winter die ärgste Kälte zu nehmen. Eine Tür führte in einen anderen Raum, in dem vermutlich Anduins Kleidung aufbewahrt wurde, da Jaina keinen Kleiderschrank ausmachen konnte. In der Mitte des Raums stand ein einzelner Stuhl vor einem kleinen Tisch, auf dem Bücher, Pergamente, Tinte und eine Schreibfeder lagen. Höflich bot Anduin ihr den Stuhl an, nahm ihr den nassen Umhang ab und hängte ihn an einen Haken. Dann stellte er sich mit verschränkten Armen neben den Stuhl. Er war offensichtlich noch immer wegen der Unterhaltung mit seinem Vater verärgert.
„Du bist völlig durchnässt“, sagte er ohne jede weitere Einleitung. „Lass mich dir heißen Tee bestellen.“
„Danke. Das wäre sehr freundlich.“ Sie lächelte ihn an.
Anduin lächelte zurück, aber es wirkte gekünstelt, und seine Augen blickten sie ausdruckslos an. Er zog an einer Kordel neben der Tür.
„Ich schwöre, dass du so groß wie dein Vater bist, wenn ich dich das nächste Mal besuche“, neckte Jaina den Jungen und hoffte, ihn so ein wenig aufheitern zu können. Sie lehnte sich in dem Stuhl zurück.
Anduin verzog leicht das Gesicht. „Welche Version meines Vaters?“ Seine Stimme war sorgfältig moduliert, wie es sich für einen Prinzen geziemte, doch seine Worte hatten eine Schärfe, die Jaina, die ihn so gut kannte, zurückzucken ließ.
„Dein Vater ist verärgert, dass du das mitbekommen hast“, sagte sie sanft.
„Ich bin mir sicher, dass er das ist“, antwortete Anduin im gleichen Tonfall wie zuvor. „Es gibt noch so viele andere Dinge, die ich in meinem Alter bereits erlebt habe.“
Er stand aufrecht da, seine Hände hinter dem Rücken verschränkt. War er schon jemandem versprochen? Jaina wurde klar, dass sie die Antwort auf diese Frage nicht kannte, und hoffte, dass das nicht der Fall war. Anduin hatte recht. Er hatte schon einiges in seinem kurzen Leben gesehen, und sie wünschte ihm, dass ihm noch etwas Zeit blieb, um einfach nur ein Junge zu sein.
„Oh, hab Erbarmen“, sagte sie und wedelte leicht verärgert mit der Hand. „Du machst mich nervös, wenn du da stehst, als hättest du einen Besen verschluckt. Los, setz dich aufs Bett und rede mit mir. Du weißt, dass mir Förmlichkeiten nicht liegen.“
Wie Eis, das unter den ersten wärmenden Sonnenstrahlen der Frühlingssonne schmolz, bildete sich ein leichtes Lächeln auf Anduins Lippen. Sie winkte ihn zu sich. Sein Lächeln wurde zu einem Grinsen, leicht unsicher zwar, aber immerhin.
Ein leises Klopfen erklang an der Tür. Ein grauhaariger Diener stand im Türrahmen.
„Was kann ich für Euch tun, Euer Hoheit?“
„Etwas Friedensblumentee. Zwei Tassen. Oh...“ Anduin wandte sich an Jaina. „Ist dir kalt? Wyll könnte die Kohlenpfanne für uns anzünden.“
Jaina hob eine Augenbraue und machte eine nachlässige Geste in Richtung der Kohlenpfanne. Augenblicklich fing der Span unter den Kohlen Feuer.
„Nicht nötig, aber trotzdem danke.“
Anduin lachte bei dem Anblick. „Ich vergaß. Dann nur Tee. Oh, und etwas Brot und Honig. Und etwas pikanten Dalarankäse. Und ein paar Äpfel.“ Jaina war gerührt. Anduin erinnerte sich daran, dass Jaina Äpfel und Käse liebte. „Danke.“
Jaina unterdrückte ein Lächeln. Der Junge wurde ganz offensichtlich erwachsen. Nachdem Wyll sich entfernt hatte, kam Anduin ihrer Bitte nach und setzte sich auf sein Bett. Er beobachtete sie mit seinen strahlend blauen Augen, die mehr sahen, als die Erwachsenen vermuteten.
„So, das ist besser. Ich bin nicht hier, um dich zu belehren oder mich für deinen Vater zu entschuldigen“, fuhr Jaina fort. „Ich bin hier, damit du ein wenig Spaß hast, wenn du das möchtest.“
Er hob eine seiner goldenen Augenbrauen. „Oh? Spaß?“ Er betonte das Wort mit übertriebener Verlegenheit. „Was war das noch mal?“
„Etwas, von dem du anscheinend ein wenig mehr brauchst. Dein Vater ist wütend, dass du das mitbekommen hast. Er und ich haben miteinander gesprochen. Wir beide sind der Meinung, dass es dir gefallen könnte, von Zeit zu Zeit hier herauszukommen.“
Er beobachtete sie neugierig. „Was genau schwebt dir vor?“
„Was hältst du davon, mich in Theramore zu besuchen?“ Anduin war bereits einmal während eines schrecklichen Sturms in Theramore gewesen, um an den Friedensverhandlungen teilzunehmen, die so rüde unterbrochen worden waren. Sie hoffte, seine Erinnerungen an diesen Ort ein wenig positiver gestalten zu können.
Doch Anduin schien von der Abenteuerlust der Jugend beseelt zu sein, denn statt unglücklich auszusehen, strahlte er. „Das Grenzgebiet besuchen? Das würde ich sehr gern! Ich bekomme normalerweise nicht viel davon zu sehen. Gibt es dort immer noch Drachenkämpfe?“
„Wohl kaum“, sagte Jaina mit einem spöttischen Seufzer. „Aber ich bin mir sicher, dass es dort mehr als genug Möglichkeiten für einen Dreizehnjährigen gibt, in Schwierigkeiten zu geraten.“
„Fast dreizehneinhalb“, verbesserte Anduin sie mit der Ernsthaftigkeit der Jugend.
„Ja, du hast recht.“
„Aber... es ist eine sehr lange Reise.“
„Nicht für eine Magierin.“
„Nein, natürlich nicht. Ich meinte auch nicht dich, Tante Jaina, ich meinte mich.“
Jaina lächelte. „Ich habe hier eine Kleinigkeit, die dir die Reise ein wenig erleichtern könnte.“ Sie griff in den Beutel an ihrem Gürtel und zog einen kleinen ovalen Kristall hervor, auf dem blasse blaue Runen zu erkennen waren. „Hier! Fang!“
Jaina warf Anduin den Kristall zu. Mit Leichtigkeit fing der Junge den Stein. „Er ist schön“, sagte er nach einem kurzen Blick darauf, untersuchte ihn dann gründlich und fuhr die Runen mit einer Fingerspitze nach.
„Er ist schön und sehr selten. Halte ihn vor dich und schließe nicht deine Finger darum. Erkennst du die Runen?“
Anduin blickte den Stein an. „Dort stehen dein Name und das Wort... Heim“, sagte er.
„Das stimmt. Offensichtlich hast du deine Studien fortgesetzt. Ich habe ihn für dich gemacht, da ich mir dachte, dass du vielleicht dein altes Tantchen Jaina besuchen möchtest.“
Er blickte sie finster an und schob eine blonde Locke aus dem Gesicht. „Du bist nicht alt“, sagte er.
„Und du solltest bei der Diplomatie bleiben“, entgegnete sie grinsend. „Aber ja. Er wird Ruhestein genannt.“
„Aber die Rune bedeutet Heim“.
„Ja, das stimmt. Doch Heimstein klingt so seltsam. Ruhestein ist melodischer.“
Anduin lachte, bewegte den Ruhestein in seiner Hand hin und her und sagte in leicht überheblichem Tonfall: „Vertraue einem Mädchen bei solchen Dingen.“
„Manche Königreiche sind wegen weniger entstanden oder untergegangen“, sagte Jaina.
„Das stimmt“, gab er zu. „Also, wie funktioniert dieser Ruhestein?“
„Schließ deine Hand fest darum und konzentrier dich.“
Überrascht öffnete er die Augen und beobachtete, wie ein schwaches blaues Licht erst ihre Hand umgab, dann seine.
„Das bindet dich an den Stein“, sagte Jaina leise. Er nickte verständnisvoll und schloss erneut die Augen. „Konzentrier dich. Nimm den Stein in dich selbst auf. Mach ihn dir zu eigen.“
Anduin gehorchte.
Jaina stand auf, trat zu ihm und legte ihre Hand darüber. Ein schwaches blaues Licht umgab erst ihre und schließlich auch seine Hand.
Anduin blickte den Stein an und grinste fasziniert. „Das ist reine Magie, richtig? Keine Erfindung der Gnome?“
Jaina nickte. „Es tut mir leid, aber er wird dich nur nach Theramore und von dort wieder nach Hause bringen.“
„Ich will ja nicht die Zwerge und ihre Greifen um ihre Arbeit bringen“, sagte Anduin mit diesem seltsamen Anflug von Pragmatismus, der sich ab und zu bei ihm bemerkbar machte.
„Sei vorsichtig, wenn du ihn benutzt“, warnte Jaina und erhob sich. „Er wird dich direkt zu meiner Feuerstelle bringen. Der frühe Nachmittag ist eine gute Zeit dafür.“
Anduin beobachtete den Stein weiter, lächelte, und Jainas Herz hob sich. Sie hatte genau das Richtige getan. Als sie ihm ihre Arme entgegenstreckte, erhob Anduin sich von seinem Bett und drückte sie. Er wurde erwachsen, dachte sie und umarmte ihn. Seine Schultern waren breiter als in ihrer Erinnerung. Anduins Kopf lag auf ihrer Schulter. Dieser Junge kannte nichts als Herausforderungen, Mühsal und Verlust, und dennoch konnte er lachen, konnte sein „Tantchen“ umarmen und aufgeregt sein bei der Vorstellung, das Grenzgebiet zu besuchen.
Licht, lass ihn noch ein wenig länger ein Junge sein. Lass ihn zumindest etwas Frieden erleben, bevor er die Aufgaben eines Erwachsenen übernehmen muss... wieder einmal.
„Du könntest das bereuen, Tante Jaina“, sagte er, löste sich aus ihren Armen und betrachtete sie ernsthaft.
Ihr Herz bebte beim Tonfall seiner Stimme. „Warum sagst du das, Anduin?“
„Weil ich dich vielleicht ständig besuchen werde.“
Erleichterung überkam sie. „Das werde ich gerade noch so ertragen können.“ Jaina Prachtmeer, Herrscherin von Theramore und mächtige Zauberin, lachte wie ein junges Mädchen und zerzauste das goldene Haar des Prinzen von Sturmwind.
Zur Abwechslung war das Wetter einmal trocken und der Himmel größtenteils klar, als die beiden Orcs auf ihren Wölfen durch die Düstermarschen ritten. Es waren männliche Orcs, der eine älter als der andere. Mit ihrer alten, schmutzigen Bekleidung machten sie den Eindruck, bereits seit Wochen in dem Sumpfgebiet unterwegs zu sein. Sie hatten übergroße Umhänge um ihre Leiber geschlungen, eine weise Vorsichtsmaßnahme an einem Ort, an dem es für gewöhnlich häufig regnet. Ihre Wölfe hatten ein überraschend dünnes Fell und schienen zu gesund, um solch offensichtlich armseligen Herren zu gehören, obwohl auch sie jetzt verdreckt waren von dem weiten Weg durch Matsch und Schlamm.
Die Reise endete damit, dass sie zu einer der kleinen Inseln an der Küste schwimmen mussten, an einen Ort namens Tidenbucht. Die Reiter schwammen Seite an Seite mit den Wölfen durch das Wasser. Als die Orcs wieder festen Boden unter den Füßen hatten, brachten sie sich rasch in Sicherheit, da die Wölfe das Wasser aus ihrem Fell schütteln würden, sobald sie an Land kamen.
Der jüngere Orc zog ein Fernrohr unter seinem Umhang hervor und hielt es an sein rechtes Auge. „Wir liegen gut in der Zeit“, sagte er.
Eine Jolle näherte sich der Insel. Eine einzelne, in einen weiten Umhang gehüllte Gestalt saß in dem kleinen Boot. Ihre kleinen bleichen und schwielenlosen Hände legten den Schluss nahe, dass die Person weiblichen Geschlechts war – und ein Mensch.
Der jüngere Orc watete ins Wasser, als das Boot der Menschenfrau die Insel fast erreicht hatte. Rasch packte er den Bug, zog das Boot auf den Strand und reichte der Frau eine Hand, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein. Ohne zu zögern, ergriff sie die große raue Hand – die ihre war so klein, dass sie mit ihr kaum zwei Finger des Orcs umfassen konnte – und erlaubte, dass man ihr half.
Nachdem sie aus dem Boot gestiegen war, streifte sie ihre Kapuze ab und enthüllte ihr leuchtend goldenes Haar und ein strahlendes Lächeln.
„Thrall“, sagte Jaina Prachtmeer mit ihrer angenehmen Stimme. „Ich hoffe, dass wir uns irgendwann einmal unter besseren Vorzeichen treffen können.“
„Wenn es nach dem Willen der Ahnen geht, wird dieser Tag wohl nicht so schnell kommen“, knurrte Thrall herzlich mit seiner tiefen Stimme. Auch er schob nun seine Kapuze zurück und enthüllte ein bärtiges orcisches Gesicht und Augen, die so blau wie die Jainas waren.
Jaina drückte seine Hand und wandte sich dann Thralls Begleiter zu, einem älteren Orc mit schütterem Bart. Sein weißes Haupthaar war zu einem Knoten gebunden. „Etrigg“, sagte sie und machte einen leichten Knicks.
„Lady Jaina.“ Etriggs Tonfall war weniger herzlich als Thralls, aber dennoch freundlich. Mit einem Nicken entfernte er sich in Richtung des höher gelegenen Geländes, um dort Wache zu halten, während sein Kriegshäuptling und die Menschenmagierin miteinander sprachen.
Jaina wandte sich wieder an Thrall, ihre Stirn war in Falten gelegt. „Danke, dass du dich hier mit mir triffst. In Anbetracht der... letzten Ereignisse dachte ich, ein anderer Treffpunkt als unser üblicher beim Klingenhügel sei besser geeignet. Die Nachricht von dem... Zwischenfall im Eschental hat sich mittlerweile in Sturmwind verbreitet.“
Thrall verzog das Gesicht und bleckte die Zähne. „Auch ich habe von den Ereignissen im Eschental erfahren.“ Seine Stimme brodelte vor verhaltener Wut.
Jaina gestattete sich ein Lächeln. „Ich wusste, dass du unmöglich dahinterstecken konntest. Die Gerüchte, die besagten, du seist für den Vorfall verantwortlich, konnten nicht zutreffen.“
„Natürlich treffen sie nicht zu!“ Thrall spie die Worte beinahe aus. „Ich würde eine solche Barbarei niemals zulassen. Wenn ich ein Abkommen mit der Allianz treffe, dann beabsichtige ich auch, es einzuhalten.“ Er seufzte und fuhr sich über sein Gesicht. „Doch ich muss eingestehen, dass Orgrimmar und das Brachland dringend Rohstoffe und andere Güter benötigen, von denen es mehr als ausreichend im Eschental gibt.“
„Aber man kann sich doch nicht auf diese Weise ihrer bemächtigen“, sagte Jaina.
„Das weiß ich“, zischte Thrall, fügte dann jedoch in deutlich freundlicherem Tonfall hinzu: „Aber jemand anderes versteht solche... Feinheiten offensichtlich nicht. Jaina, ich habe diesen Überfall nicht befohlen, und ich bin außer mir über das Maß an Brutalität gegen die Wächterinnen. Ich bedaure zutiefst die Verletzung des Vertrags, doch leider sind die Vorgänge im Eschenwald in der Horde auf breite Zustimmung gestoßen.“
„Zustimmung?“ Jainas Augen weiteten sich. „Ich kenne die blutrünstige Natur der Horde ein wenig, aber ich muss gestehen, dass ich ihr so etwas nicht zugetraut hätte. Ich hatte gedacht, du...“
„Ich habe getan, was ich für das Beste hielt“, sagte Thrall und fügte dann leise hinzu, „obwohl ich das manchmal durchaus in Frage stelle.“ Lauter fuhr er fort: „Wir haben eine gewalttätige Geschichte, Jaina. Und je mehr uns das Schicksal abverlangt, um uns am Leben zu erhalten, desto mehr geht uns das an die Substanz.“
„Hast du Varians Boten empfangen?“
Die Falten auf Thralls Gesicht vertieften sich. „Das habe ich.“ Sie wussten beide, was in Varians Brief gestanden hatte. Varian hatte die Botschaft sehr höflich gehalten – zumindest für seine Verhältnisse – und verlangt, dass Thrall eine förmliche Entschuldigung aussprach, das Abkommen neu bestätigte, die gewalttätigen Handlungen verurteilte und die Verantwortlichen der Justiz der Allianz übergab. Sollte Thrall diese Forderungen erfüllen, wollte Varian über die „himmelschreiende Verletzung des Abkommens, das den Frieden und die Zusammenarbeit zwischen unseren Völkern fördern soll“ hinwegsehen.
„Was willst du tun? Weißt du, wer es getan hat?“
„Ich habe keinen Beweis, aber einen Verdacht. Ich kann diese Tat nicht gutheißen.“
„Nein, natürlich kannst du das nicht“, sagte Jaina und blickte ihn unsicher an. „Thrall, was ist los?“
Er seufzte. „Ich kann sie nicht billigen“, wiederholte er, „aber ich werde nicht tun, was Varian verlangt.“
Den Mund vor Schreck leicht geöffnet, starrte sie ihn einen Augenblick lang an. „Was meinst du damit? Varian glaubt, dass du absichtlich das Abkommen verletzt hast. Seine Forderung ist nicht unvernünftig, und wenn du so reagierst, lieferst du ihm einen Grund, die Situation eskalieren zu lassen. Das könnte schon bald zu einem Krieg führen!“
Thrall streckte seine große grüne Hand aus. „Bitte hör mich an. Ich werde Varian einen Brief schreiben, in dem ich ihm mitteile, dass ich den Überfall nicht genehmigt oder gar befohlen habe. Ich übernehme jedoch dafür die Verantwortung. Natürlich will ich keinen Krieg, aber ich kann mich nicht für die Gewalttat entschuldigen, noch werde ich die Verdächtigen der Allianz übergeben. Sie gehören der Horde an und werden von ihr gerichtet. Sie Varian zu überlassen wäre... nein. Das wäre Verrat am Vertrauen meines Volkes. Und mal ehrlich: Es wäre einfach falsch. Varian würde eine solche Forderung von mir auch nie erfüllen, noch sollte er es.“
„Thrall, wenn du den Befehl nicht gegeben hast, dann bist du nicht verantwortlich, und...“
„Ich bin verantwortlich, denn ich führe mein Volk. Es ist eine Sache, mein Volk dafür zu rügen, das Gesetz gebrochen zu haben. Es ist jedoch eine ganz andere Sache, wenn der Eindruck entsteht, ich würde das Selbstwertgefühl meiner Leute angreifen, ihre ureigenste Identität. Du verstehst nicht, wie die Horde denkt, Jaina“, sagte Thrall ruhig. „Wenn ich meiner außergewöhnlichen Jugend etwas verdanke, dann ist es die Fähigkeit, die Dinge von beiden Seiten betrachten zu können. Mein Volk hungert, es dürstet nach sauberem Wasser, es braucht Holz für den Bau von Häusern. Meine Leute glauben, dass ihnen Unrecht angetan wurde, als die Nachtelfen den Handel mit uns eingestellt haben. Sie sehen den Unwillen, unsere grundlegenden Bedürfnisse zu befriedigen, als einen brutalen Akt an, und irgendwo hat sich irgendjemand entschlossen, es ihnen mit gleicher Münze heimzuzahlen.“
„Nachtelfen abzuschlachten und ihnen die Haut abzuziehen als Rache für eine Handelsblockade – bezeichnest du das als mit gleicher Münze heimzahlen!“ Jainas Stimme wurde lauter.
„Handelsblockaden sind dafür verantwortlich, dass Kinder verhungern, dass sie den Elementen ausgesetzt sind und krank werden. Diese Logik ist mir nur zu verständlich, und das gilt auch für andere. Wenn ich diesen Angriff öffentlich verurteile, nachdem er uns erfolgreich mit den Gütern versorgt hat, die wir so verzweifelt brauchen, wäre das, als würde ich das Bedürfnis nach diesen Waren selbst verdammen. Ich würde schwach wirken, und glaub mir, es gibt genügend Kräfte bei uns, die aus einem solchen Moment der Schwäche ihren Vorteil zu ziehen wissen. Es ist ein tückischer Weg, den ich gehe, meine Freundin. Ich muss mein Volk tadeln – jedoch nur bis zu einem gewissen Punkt. Für die Verletzung des Abkommens werde ich mich entschuldigen, jedoch nicht für den Diebstahl. Und auch nicht für den Mord oder die Art, wie die Täter vorgegangen sind.“
„Ich bin... enttäuscht, dass du diesen Weg wählst, Thrall“, sagte Jaina ehrlich.
„Deine Meinung ist mir wichtig. Das ist sie immer. Dennoch werde ich nicht vor Varian kriechen oder das verzweifelte Verlangen meines Volkes nach diesen Gütern herunterspielen.“
Jaina schwieg eine kurze Zeit lang. Sie hatte die Arme fest um ihre Brust geschlungen und blickte zu Boden. „Ich glaube, ich verstehe“, sagte sie schließlich. Die Worte kamen ihr nur langsam über die Lippen und klangen bitter. „Licht, wie ich es hasse, das zu sagen. Aber eine Sache, die du verstehen musst, ist, wie sehr der Zwischenfall an der Pforte des Zorns der Beziehung zur Allianz geschadet hat. Wir haben allein dort beinahe fünftausend Männer und Frauen verloren, Thrall. Besonders der Tod von Hochlord Bolvar Fordragon wurde von sehr vielen Menschen persönlich genommen.“
„Das Gleiche gilt für den Tod von Saurfang, dem Jüngeren“, entgegnete Thrall. „Der beste und klügste Vertreter der Horde wurde im Zenit seines Leben niedergemetzelt und dann wiederbelebt als... Denk nicht, dass die Horde in diesem Konflikt keine Verluste erlitten hätte.“
„Oh, das tue ich keineswegs. Aber... es ist schwer zu ertragen. Und das besonders, da so viele unserer Toten auf das Konto der Horde gehen. Das war nicht die Geißel.“
„Putress gehörte nicht zur Horde!“, knurrte Thrall.
„Diesen Unterschied machen nicht viele. Und selbst jetzt noch bestehen Zweifel daran, und das weißt du.“
Thrall nickte und knurrte leise. Jaina wusste, dass Thralls Wut nicht ihr galt, sondern Putress und den anderen, die hinter diesem Angriff gesteckt hatten, denjenigen, die der Horde Treue gelobt hatten und hinter ihrem Rücken Ränke schmiedeten.
„Zuerst dies und jetzt das. Es wird schwer für die Führung der Allianz, dir zu trauen“, fuhr Jaina fort. „Nicht wenige Leute, darunter auch Varian, sind der Meinung, dass du nicht genug unternimmst, um den Vorfall aufzuklären. Ein öffentlicher Tadel aller Aspekte dieses Überfalls würde für lange Zeit das Bild, das die Allianz von dir und der Horde hat, verbessern. Und seien wir ehrlich: Es war keine unbedeutende Rauferei. Es war ein schreckliches Gemetzel.“
„Das stimmt. Doch wenn ich die mutmaßlichen Täter der Allianzjustiz übergebe, wäre dies ein Schock, von dem sich meine Leute nie wieder erholen. Es würde sie beschämen, und deshalb werde ich das nicht tun. Sie würden mich absetzen, und das völlig zu Recht.“
Jaina betrachtete ihn ruhig. „Thrall, ich glaube nicht, dass du dir des Ernstes der Lage bewusst bist. Es ist keine gute Idee, etwas, das du ablehnst, aus taktischen Gründen gutzuheißen, denn es wird der Horde letztlich nur Krieg bringen. Und Varian...“
„Varian ist ein Hitzkopf“, zischte Thrall.
„So wie Garrosh.“
Thrall lachte plötzlich. „Die beiden sind sich ähnlicher, als ihnen klar ist.“
„Und genau das könnte dazu führen, dass noch mehr Leute getötet werden. Das ist viel zu früh nach dem Feldzug in Nordend.“
„Du weißt, dass ich keinen Krieg möchte“, sagte Thrall. „Ich versuche, mein Volk vor sinnlosen Konflikten zu bewahren. Aber um ehrlich zu sein, und nach allem, was du gesagt hast, habe ich nicht den Eindruck, dass Varian geneigt ist, mir zuzuhören. Er würde mir nicht glauben, selbst wenn ich den Angriff öffentlich verurteilen würde. Oder doch?“
Jaina antwortete nicht, und die Falte auf ihrer Stirn wurde tiefer. „Ich... ich würde ihn ermutigen, es zu tun.“
Thrall lächelte traurig und legte sanft seine große Hand auf ihre schmale Schulter. „Ich werde den Wortbruch durch die Horde verurteilen... aber das ist auch alles.“ Er blickte sich um.
„Ich habe Durotar als Heimat gewählt, um meinem Volk einen neuen Start zu ermöglichen. Medivh riet mir, meine Leute herzubringen, und ich hörte auf ihn, obwohl ich nichts von dem Ort wusste. Als ich ankam, sah ich das raue Land. Es war nicht grün wie die Östlichen Königreiche. Selbst Orte, die so reich an Wasser sind wie dieser, bieten wenig zum Leben. Ich entschied mich trotzdem hierzubleiben, um meinem Volk die Chance zu geben, seinen Geist mit diesem Land zu messen. Der Geist meines Volkes ist noch immer mächtig, aber das Land ...“ Er schüttelte den Kopf. „Ich glaube, Durotar hat alles gegeben, was es kann. Ich muss mich darum kümmern und letztlich auch um mein Volk.“
Jainas Blick suchte den seinen. Sie wischte sich eine Locke ihres goldenen Haars aus den Augen, eine sehr mädchenhafte Geste. Doch ihr Gesichtsausdruck und ihre Worte waren die einer Anführerin. „Ich weiß, dass die Horde anders funktioniert als die Allianz, Thrall, aber... wenn du es doch schaffst, auf meinen Rat zu hören, eröffnen sich dir neue Möglichkeiten, die dir andernfalls verschlossen bleiben.“
„Uns stehen zu allen Zeiten viele Wege offen, Jaina“, meinte Thrall. „Unsere Untertanen vertrauen uns, und wir sind es ihnen schuldig, jeden einzelnen zu überprüfen.“
Sie streckte die Hand nach ihm aus und umfasste seine Rechte. „Dann muss ich hoffen, dass das Licht dich leitet, Thrall.“
„Und ich hoffe, deine Ahnen wachen über dich und beschützen dich und die deinen, Jaina Prachtmeer.“
Sie lächelte ihn ebenso herzlich an, wie es ein anderes blondhaariges Menschenmädchen in einer noch nicht so fernen Vergangenheit getan hatte, und kehrte zu ihrem kleinen Boot zurück. Als Thrall ihre Jolle ins Wasser schob, meinte er die kleine Falte auf ihrer Stirn zu erkennen, die ihm verriet, dass sie besorgt war.
Er war es nicht minder.
Thrall verschränkte die Arme und sah zu, wie das Wasser sie nach Hause trug. Etrigg trat leise zu seinem Kriegshäuptling.
„Es ist schade“, sagte Etrigg, sich scheinbar auf nichts Bestimmtes beziehend.
„Was?“, fragte Thrall.
„Dass sie kein Orc ist. Sie ist stark, schlau und großherzig – eine wahre Anführerin. Jaina würde starke Söhne gebären und tapfere Töchter. Eines Tages könnte sie dir eine gute Gefährtin sein, wenn sie das will. Wirklich schade, dass sie kein Orc ist und dir deshalb nicht gehören kann.“
Thrall konnte nicht anders. Er warf seinen Kopf zurück, lachte laut und erschreckte einige Krähen, die auf einem Baum in der Nähe saßen. Ärgerlich krächzend und in einem Wirbel aus schwarzen Flügeln machten sie sich auf den Weg zu einem ruhigeren Ort.
„Wir haben gerade die Kriege gegen den Lichkönig und den Albtraum bestanden“, sagte Thrall, „und unser Volk hungert, dürstet und kehrt zur Barbarei zurück. Der König von Sturmwind glaubt, ich sei ein brutaler Mörder, und die Elemente sind taub gegenüber meinen Bitten um Verständnis. Und du sprichst von Gefährtinnen und Kindern?“
Der alte Orc war völlig gelassen. „Gibt es denn eine bessere Zeit dafür? Thrall, wir leben in ungewissen Zeiten. Das gilt auch für deine Position als Kriegshäuptling der Horde. Du hast keine Gefährtin, keine Kinder, niemanden, der dein Blut weiterträgt, wenn du zu den Ahnen gehst. Du scheinst nicht einmal daran interessiert zu sein.“
Thrall knurrte. „Ich habe anderes im Kopf als Liebesspiele, eine Gefährtin und Kinder.“
„Wie ich bereits sagte... Genau diese Gründe sind es ja, warum es so wichtig ist. Außerdem liegt darin auch Trost und eine Klarheit, die du nur in den Armen einer wahren Gefährtin und nirgendwo sonst finden kannst. Nichts erfreut das Herz mehr als das Lachen der eigenen Kinder. Diese Dinge hast du zu lange vernachlässigt – Dinge, die mir sehr wohl vertraut sind, auch wenn sie mir genommen wurden. Ich würde diese Erfahrung für nichts eintauschen, egal, ob in diesem oder einem anderen Leben.“
„Ich brauche keine Belehrung“, zischte Thrall.
Etrigg zuckte die Achseln. „Vielleicht stimmt das. Vielleicht musst du sprechen, nicht ich. Thrall, du bist besorgt. Ich bin alt und habe viel gelernt. Eines der Dinge, die ich gelernt habe, ist zuzuhören.“
Etrigg sprang ins Wasser, und sein Wolf folgte ihm auf dem Fuße. Thrall stand einen Augenblick lang nachdenklich am Strand, bevor er ihm folgte. Als sie die Küste erreichten, kletterten die beiden Orcs immer noch schweigend auf die Rücken ihrer Wölfe. Während sie stumm nebeneinander herritten, ordnete Thrall seine Gedanken.
Es gab etwas, über das er mit niemandem gesprochen hatte, nicht einmal mit Etrigg. Er hätte es Drek’Thar sagen können, wäre der Schamane noch im Besitz seiner geistigen Fähigkeiten gewesen. Doch so behielt Thrall es für sich. Es war der eiskalte Knoten eines ängstlich gehüteten Geheimnisses. In seinem Inneren tobte ein Krieg.
Nach einiger Zeit sagte er: „Du wirst es noch verstehen, Etrigg. Auch du hattest nicht nur im Krieg Kontakt zu den Menschen. Ich lebe in zwei Welten. Ich wurde von Menschen aufgezogen, jedoch als Orc geboren. Und ich vereine die Stärke der beiden Völker in mir. Ich kenne beide Welten. Dieses Wissen war einst die Grundlage meiner Macht, und ich kann ohne Übertreibung sagen, dass ich dadurch zu einem einzigartigen Anführer mit besonderen Fähigkeiten wurde. Ich konnte mit beiden Seiten arbeiten, als die Einheit aller für das Überleben in Azeroth wichtig wurde.
Meine Herkunft diente sowohl mir als auch der Horde. Doch ich muss mich fragen, ob das auch jetzt noch zutrifft.“
Etrigg blickte auf die Straße vor ihm und grunzte nur, womit er Thrall zum Fortfahren ermutigte.
„Ich möchte mich um mein Volk kümmern, es versorgen, ihm Sicherheit geben, damit meine Untertanen ihre ungeteilte Aufmerksamkeit ihren Familien und der Tradition widmen können.“ Thrall lächelte schwach. „Eine Gefährtin finden, Kinder bekommen. All die Dinge zu haben, auf die jedes denkende Wesen ein Recht hat. Niemand sollte erleben müssen, wie die eigenen Eltern oder Kinder in den Krieg ziehen und nicht mehr zurückkommen. Und wer sich immer noch nach dem Krieg sehnt, erkennt nicht, was ich erkannt habe: Die Horde besteht zum größten Teil aus Älteren und Kindern. Eine ganze Generation ist nahezu vollständig verloren.“
Er spürte die Müdigkeit in seiner Stimme, und Eitrig tat dies auch, wie seine Antwort zeigte. „Du klingst, als ob deine Seele krank sei, mein Freund. Es sieht dir gar nicht ähnlich, an dir selbst zu zweifeln oder derart niedergeschlagen zu sein.“
Thrall seufzte. „Es scheint, dass meine Gedanken in diesen Tagen düster sind. Der Verrat in Nordend ... Jaina kann sich nicht vorstellen, wie gelähmt, wie schockiert ich war. Es bedurfte all meiner Kraft, die Horde davor zu bewahren, sich aufzulösen. Diese neuen Kämpfer... sie haben sich ihre ersten Sporen an Untoten verdient. Das ist ein großer Unterschied dazu, einen lebenden, atmenden Feind anzugreifen, der selbst eine Familie hat und Freunde, der lacht und schreit. Es ist leicht für sie, von der Gewalt abgestumpft zu werden, und schwierig für mich, sie mit Argumenten zu zügeln, die Verständnis und vielleicht sogar ihr Mitgefühl einfordern.“
Etrigg nickte. „Ich bin einst von der Horde weggegangen, weil ich von ihrem Hang zur Gewalt angewidert war. Ich sehe das genauso wie du, Thrall, und ich sorge mich auch, dass die Geschichte sich wiederholen könnte.“
Sie hatten die Schatten des Sumpflandes verlassen und ritten auf der Straße nordwärts. Die brütende Hitze machte ihnen zu schaffen. Thrall blickte sich an dem Ort um, der so trefflich Brachland genannt wurde. Die Umgebung war trockener denn je, brauner als jemals zuvor, und er entdeckte nur wenige Anzeichen für Leben. Die Oasen, die Rettung des Brachlandes, hatten auf ebenso mysteriöse Weise begonnen auszutrocknen, wie sie dereinst erschienen waren.
„Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal in Durotar den Regen auf meinem Gesicht gespürt habe“, sagte Thrall. „Warum schweigen die Elemente gerade zu dieser Zeit, wenn eindeutig etwas nicht in Ordnung ist?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich erinnere mich an die Ehrfurcht und die Freude, mit der Drek’Thar mich zum Schamanen ernannt hat, aber dennoch höre ich nichts.“
„Vielleicht werden ihre Stimmen von den vielen anderen, denen du derzeit lauschst, ausgelöscht“, vermutete Eitrig. „Um viele Probleme zu lösen, muss man sich manchmal auf ein einziges konzentrieren.“
Thrall bedachte die Worte seines Reisegefährten. Sie erschienen ihm weise. So vieles würde leichter werden, wenn er verstand, was mit diesem Land nicht stimmte und wie er es heilen konnte. Sein Volk hätte zu essen, hätte wieder Schutz. Die Horde würde keinen Grund mehr haben, den anderen etwas wegzunehmen, die nur Bitterkeit und Hass in ihren Herzen trugen. Die Spannungen zwischen der Horde und der Allianz würden abgebaut. Und vielleicht konnte Thrall sich dann darauf konzentrieren, was Eitrig gesagt hatte, und seine Nachfolge regeln, um letztlich Glück und Frieden zu erlangen.
Er wusste genau, an welchem Ort er zuhören konnte.
„Ich war nur einmal im Land meines Vaters“, sagte er dem älteren Orc. „Ich frage mich, ob eine weitere Reise dorthin angebracht wäre. Draenor war eine Welt, die mehr als ihren gerechten Anteil an elementarem Schmerz und Gewalt erfahren hat. Die Scherbenwelt, in die es sich verwandelt hat, könnte sich immer noch daran erinnern. Meine Großmutter, Geyah, ist eine mächtige Schamanin. Sie könnte mich anleiten bei meinem Versuch, den verwundeten Elementen dort zu lauschen. Vielleicht haben die Schamanen dort Wissen aus dem Schmerz ihrer eigenen Welt erlangt, das uns helfen könnte, die Schmerzen Azeroths zu lindern.“
Etrigg grunzte, doch Thrall kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass das Glimmen in seinen Augen Zustimmung signalisierte.
„Je rascher du das tust, desto eher schaukelst du ein kleines Kind auf deinen Knien“, sagte er. „Wann willst du aufbrechen?“
Thrall, dessen Herz durch die Entscheidung erleichtert war, lachte.
Jaina ruderte gleichmäßig, tief in Gedanken versunken. Etwas beunruhigte Thrall, etwas Wichtigeres als die gegenwärtige Situation. Er war ein intelligenter, fähiger Anführer, mit einem großen Herzen und einem weisen Geist. Doch Jaina war überzeugt, dass die Billigung des brutalen Angriffs im Eschental zu nichts Gutem führen konnte. Zwar würde sich Thrall möglicherweise das Wohlwollen seines Volkes erhalten, doch zugleich würde er das der Allianz verlieren – zumindest das, was von dem einstigen Vertrauen noch übrig war. Sie musste herausfinden, was hinter alldem steckte, und dann sofort handeln. Ein zweiter Zwischenfall wie im Eschental würde schreckliche Auswirkungen haben.
Sie legte an, vertäute die kleine Jolle und ging gedankenverloren zur Burg. Jaina sorgte sich um Thrall und seine Beziehung zur Horde. In der langen Zeit, die sie ihn nun schon kannte, hatte er niemals so unsicher gewirkt. Sie war fassungslos angesichts seiner Entscheidung, wie weiter zu verfahren sei. Thrall würde in seinem Herzen solch unnötige Gewalt niemals dulden. Aber wie konnte er es dann nach außen hin?
Die Herrscherin von Theramore lächelte den Wachen flüchtig zu und stieg den Turm zu ihren privaten Gemächern hinauf. Dann war da noch Varian, der sich noch immer damit schwertat, seine beiden Ichs miteinander in Einklang zu bringen – das war offensichtlich. Es wäre besser gewesen, er hätte ein wenig Ruhe gehabt, doch das ließ das Schicksal nicht zu. Die Allianz war von einem Mann – wenn man ihn denn noch so nennen wollte – in den Krieg getrieben worden, der einst ihr Jugendfreund gewesen war und nun Zehntausende Lebewesen abgeschlachtet hatte. Und was war mit dem jungen Anduin? Er war fähig, jung, einfühlsam und schlau. Aber er wollte einen Vater, der ein Vater war, nicht jemanden, der...
Sie betrat die Wohnstube, wo ein behagliches Feuer im Kamin prasselte. Es war später Nachmittag, und aus diesem Grund war sie nicht überrascht festzustellen, dass die Diener den Tisch für den Tee gedeckt hatten.
Sie war jedoch überrascht, den blonden Heranwachsenden zu sehen, der eine Tasse samt Untertasse auf seinem Schoß balancierte und sich mit einem verschmitzten Grinsen zu ihr umwandte.
„Hallo, Tante Jaina“, sagte er. „Dein Ruhestein funktioniert einwandfrei.“
„Herrje, Anduin!“, sagte Jaina, erschreckt, aber erleichtert. „Wir haben uns doch erst vor wenigen Tagen getroffen!“
„Ich hatte dich gewarnt, dass du mich jetzt öfter sehen würdest“, sagte er neckend.
„Nun, dann ist das mein Glück.“ Sie fuhr ihm liebevoll durch sein Haar und ging zur Anrichte, um sich eine Tasse Tee einzuschenken.
„Warum hast du diesen hässlichen Umhang an?“, fragte Anduin.
„Ach der“, sagte Jaina. „Ich wollte keine Aufmerksamkeit erregen. Du möchtest doch auch nicht immer erkannt werden, wenn du ausreitest, oder?“
„Mir macht das nichts aus“, sagte Anduin. „Aber ich habe ja auch keine geheimen Treffen mit irgendwelchen Orcs mitten im Nirgendwo.“
Jaina wirbelte herum und verschüttete ihren Tee. „Woher...“
„Ja!“ Anduin schaute entzückt drein. „Ich hatte recht! Du warst unterwegs, um dich mit Thrall zu treffen.“
Jaina seufzte und wischte über ihr Kleid, dankbar, dass es nur das grobe, schmutzige war und nicht ihr schönes Alltagskleid. „Du bist scharfsinniger, als gut für dich ist, Anduin“, sagte sie.
Anduin war sichtlich ernüchtert. „So habe ich überlebt“, sagte er ernst. Jaina spürte, wie sich ihr Herz vor Mitgefühl für den Jungen zusammenzog, doch er suchte keinen Trost. „Ich muss zugeben, ich bin überrascht, dass du dich mit ihm triffst. Von den Wächterinnen habe ich erfahren, dass der Angriff recht brutal gewesen ist. Keine Sache, die Thrall gutheißen würde.“
Sie hielt ihre Teetasse in der Hand, ging zum Kamin und zog sich einen Stuhl heran. „Das ist deshalb so, weil er es nicht gutgeheißen hat.“
„Also wird er sich entschuldigen und die Mörder ausliefern?“
Jaina schüttelte den Kopf. „Nein. Es wird eine Entschuldigung geben, jedoch nur für den Bruch des Vertrages. Dafür, wie der Zwischenfall abgelaufen ist, wird er nicht um Entschuldigung bitten.“
Anduin schaute überrascht. „Aber... wenn Thrall doch nicht dafür verantwortlich war und er es nicht gutheißt – warum tut er es dann nicht? Wie will er so das verlorene Vertrauen wiedererlangen?“
Ja, wie will er das?, überlegte Jaina, sagte es jedoch nicht. „Eines der Dinge, die du noch lernen musst, Anduin, ist, dass du manchmal nicht das tun kannst, was du gerne tun würdest oder für das Richtige hältst – zumindest nicht sofort. Thrall will sicherlich keinen Krieg mit der Allianz. Er will zu unser aller Vorteil kooperieren. Aber die Horde denkt über viele Dinge anders als die Allianz. Die Demonstration seiner Macht und Stärke ist der Schlüssel für die Fähigkeit eines Anführers, über sie zu herrschen.“
Anduin runzelte die Stirn. „Das klingt wie Lo’Gosh“, murmelte er.
„Ironischerweise ja. Dieser Aspekt deines Vaters passt recht gut zur Mentalität der Horde“, sagte Jaina. „Das ist einer der Gründe, warum er als Gladiator so erfolgreich war, während seiner kurzen... Karriere.“
„Also kann Thrall nicht riskieren, das Verbrechen jetzt zu verurteilen, meinst du das?“ Anduin steckte sich einen mit Sahne und Marmelade bestrichenen Keks in den Mund. Für einen kurzen Augenblick wurden Jainas Sorgen bezüglich der Gefahr eines neuen Krieges durch den Gedanken verdrängt, ob sie ausreichend Gebäck und kleine Sandwiches im Haus hatte, um den Appetit des Heranwachsenden zu stillen. Sie seufzte. Wäre doch das Füllen von Anduins Magen das drängendste ihrer Probleme!
„Im Wesentlichen stimmt das.“ Sie wollte keine Details enthüllen, und fügte deshalb lediglich hinzu: „Aber ich weiß, dass er es nicht tun wird, und ich weiß ebenso, dass er selbst darüber mehr als entsetzt ist.“
„Glaubst... du, dass er so etwas noch einmal zulassen wird?“
Es war eine ernsthafte Frage, die einer ebenso ernsthaften und wohlüberlegten Antwort bedurfte. Sie nahm sich ausreichend Zeit, bevor sie antwortete.
„Nein“, sagte sie schließlich. „Das ist leider nur meine Meinung, aber ich glaube, das hat ihn überrascht. Nun weiß er davon.“
Anduin leerte seine Tasse, stand auf und ging zur Anrichte, um sich frischen Tee einzugießen und kleine Küchlein und Sandwiches auf seinen Teller zu häufen. „Du hast recht, Tante Jaina“, sagte er ruhig. „Manchmal kann man nicht das tun, was man will. Es gilt, auf die richtige Zeit zu warten und darauf, dass man genügend Unterstützung hat.“
Jaina lachte in sich hinein. Dieser Junge war bereits im Alter von zehn Jahren König gewesen. Natürlich hatte er in Gestalt von Hochlord Bolvar Fordragon einen klugen Ratgeber gehabt, doch sie wusste, dass er viele Dinge selbst entschieden und erledigt hatte. Vielleicht hatte er nie eine so weitreichende Entscheidung treffen müssen wie Thrall, doch er konnte sich sicher in ihn einfühlen.
Wie so oft vermisste sie die weisen, ironischen Bemerkungen Magna Aegwynns. Sie wünschte, die große Lady, die frühere Wächterin von Tirisfal, würde noch leben, um ihren klugen, wenn auch nicht selten scharfzüngigen Rat beizusteuern. Was hätte Aegwynn mit Anduin gemacht, diesem zu ernsten, aber gutherzigen Jungen, der hier an ihrem Feuer saß?
Jainas Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Sie wusste genau, was Aegwynn getan hätte: die Situation entspannen.
„Nun, Anduin“, sagte Jaina, und spürte beinahe körperlich die Gegenwart der weisen alten Frau. „Erzähl mir alles über den neuesten Klatsch bei Hofe.“
„Klatsch?“ Anduin schaute sie ungläubig an. „Darum habe ich mich nie geschert.“
Jaina zuckte mit den Achseln. „Dann erfinde eben etwas.“
Anduin kehrte drei Minuten zu spät nach Sturmwind zum Essen zurück, materialisierte sich in seinem Zimmer und stellte fest, dass Wyll seine Kleidung bereits herausgelegt hatte. Er spritzte sich schnell etwas Wasser aus der Waschschüssel ins Gesicht, legte für das Abendessen förmliche Kleidung an und huschte nach unten, um zu seinem Vater zu stoßen.
Es gab Räumlichkeiten für große Bankette, aber für gewöhnlich nahmen Anduin und sein Vater ihre Mahlzeiten in Varians Privatgemächern ein. Die letzten Male waren diese steif und ungemütlich verlaufen. Zwischen Varian und Anduin Wrynn stand der Schatten Lo’Goshs. Doch nun, als er auf seinem Stuhl saß und nach seiner Serviette griff, blickte Anduin die Tafel hinunter und betrachtete seinen Vater ohne die Verärgerung, die seinen Blick zuvor stets getrübt hatte. Durch den Besuch bei Jaina war sein Kopf frei geworden. Es war gut gewesen, Sturmwind für eine kurze Weile zu entfliehen.
Als er seinen Vater anblickte, sah er nicht Lo’Gosh. Er sah einen Mann, der allmählich kleine Fältchen um die Augen herum bekam. Es waren Zeichen des Alters und der Müdigkeit, nicht des Kampfes. Er sah die Anspannung, die von den zahllosen Entscheidungen herrührte, die Varian tagtäglich zu treffen hatte, Entscheidungen die Geld kosteten oder eine noch wertvollere Währung, nämlich Leben. Er hatte kein Mitleid mit seinem Vater –Varian brauchte das auch nicht –, er empfand Mitgefühl.
Varian blickte auf und warf seinem Sohn ein müdes Lächeln zu. „Guten Abend, Sohn. Wie war dein Tag? Hattest du ein wenig Spaß?“
„Allerdings“, sagte Anduin und tauchte seinen Löffel in die gehaltvolle Schildkrötensuppe. „Ich habe Tante Jainas Ruhestein benutzt, um ihr einen Besuch abzustatten.“
„Ach, du hast es tatsächlich getan?“ Varians braune Augen schauten interessiert. „Wie hat es funktioniert? Hast du etwas erfahren?“
Anduin zuckte mit den Achseln. Plötzlich überkamen ihn Zweifel. Es schien so aufregend gewesen zu sein, doch jetzt, als er sich daran erinnerte und seinem Vater davon berichten wollte, war es... nun, es war einfach nur ein Besuch zum Tee gewesen und nicht viel mehr.
„Wir haben über einige Dinge gesprochen. Und... ahm... Tee getrunken.“
„Tee?“
„Tee“, bestätigte Anduin. „Es ist kalt und feucht in Theramore. Da kann es nicht schaden, Tee zu trinken und etwas zu essen.“
Varian schüttelte den Kopf und griff nach einer Scheibe Brot und dem Käse. „Nein, das kann nicht schaden. Und sicherlich warst du in guter Gesellschaft. Habt ihr über die aktuelle Lage gesprochen?“
Anduin spürte, dass er errötete. Er wollte Jaina nicht verraten, auch nicht unabsichtlich. Doch ebenso wenig wollte er seinen Vater anlügen. „Kurz.“
Ein scharfer Blick huschte über Anduins Gesicht. Lo’Gosh war nicht anwesend. Doch Anduin spürte, dass er nicht fern war. „Hast du Orcs gesehen?“
„Nein.“ Diese Frage konnte er ehrlich beantworten. Er spielte mit seiner Suppe, denn der Appetit war ihm schlagartig vergangen.
„Ah, aber Jaina schon.“
„Das habe ich nicht gesagt...“
„Ist schon in Ordnung. Ich weiß, dass sie und Thrall sich gut verstehen. Ich weiß auch, dass Jaina die Allianz niemals verraten würde.“
Anduins Gesicht hellte sich auf. „Nein, das würde sie wirklich nicht. Niemals.“
„Du... sympathisierst mit ihr, oder? Und mit den Orcs oder der Horde?“
„Ich... Vater, wir haben vor Kurzem so viele Menschenleben verloren“, platzte Anduin heraus, legte den Löffel beiseite und betrachtete Varian aufmerksam. „Du hast Erzbischof Benedictus gehört. Beinahe fünfzigtausend! Ich weiß, dass viele unserer Leute von der Horde getötet wurden, aber viele andere wurden es nicht, und die Horde erlitt ebenfalls schreckliche Verluste. Sie ist nicht der Feind, sie...“
„Ich weiß nicht, welchen anderen Begriff du benutzen würdest, um jemanden – etwas – zu beschreiben, der den Wächterinnen das antun würde, was die Orcs ihnen angetan haben.“
„Ich dachte...“
„Oh, Thrall hat auf mein Schreiben geantwortet, den Bruch des Vertrags verurteilt und mir versichert, dass er alles unternimmt, damit so etwas nicht noch einmal geschieht. Aber glaubst du, er hätte auch nur ein Wort zu dem gesagt, was den Elfen angetan wurde? Nichts! Wenn er so zivilisiert ist, wie du und Jaina glauben, warum schweigt er dann zu einer so grausamen Tat?“
Anduin blickte seinen Vater traurig an. Er konnte nicht sagen, was er wusste, und selbst wenn er es gekonnt hätte, stammten seine Informationen aus zweiter Hand. Er fragte sich, ob er jemals das Wesen der Politik wirklich verstehen würde. Jaina, Aegwynn und sogar sein Vater hatten seine Klugheit gelobt, doch er fühlte sich verwirrter denn je... und das in nahezu jeder Hinsicht. Was er wusste, beruhte mehr auf Intuition als auf Logik, und das war etwas, das weder Varian noch Lo’Gosh wirklich verstehen würden. Er wusste nur, tief in seinem Innern, dass Thrall nicht so war, wie Varian ihn sah. Doch er konnte es einfach nicht besser erklären.
Varian beobachtete seinen Sohn scharf und seufzte im Stillen. Er mochte Jaina, er respektierte sie, doch sie war keine Kriegerin. Er war nicht gegen friedliche Beziehungen mit den ehemaligen Feinden seines Volkes, wie Anduin zu glauben schien, und seine Zustimmung zu dem Waffenstillstand war der Beweis dafür. Es war nur so, dass die Sicherheit seines Volkes für ihn an erster Stelle stand. Nur ein Narr streckte die Hand der Freundschaft aus, wenn sie höchstwahrscheinlich abgeschlagen wurde.
Anduin war nicht schwach. Das hatte er immer wieder bewiesen in Situationen, die andere, die doppelt so alt waren wie er, in Panik und Verzweiflung gestürzt hätten. Doch er war ... Varian suchte nach dem richtigen Wort und fand es schließlich: weich. Anduin war nicht der Beste im Umgang mit schweren Waffen, doch das Bogenschießen und Messerwerfen beherrschte er perfekt. Vielleicht fehlte ihm noch das Verständnis dafür, was einen Krieger auszeichnete, und er war zu gutherzig. Dieser Wesenszug konnte eines Tages seinen Tod bedeuten.
„Ich bin froh, dass du die Möglichkeit nutzt, Jaina zu besuchen“, sagte Varian und wischte seinen mittlerweile leeren Suppenteller mit ein wenig Brot aus. Dann nickte er den Dienern zu, die sich sofort daranmachten, das Geschirr und das benutzte Besteck abzuräumen. „Ich glaube, das ist eine wirklich gute Idee.“
Anduin blickte zu ihm auf. Varian erkannte schmerzlich berührt, dass der Gesichtsausdruck seines Sohnes vorsichtig, ja beinahe misstrauisch war. „Aber?“, fragte Anduin offen.
Varian lächelte. „Aber“, wiederholte er und betonte das Wort absichtlich, „ich glaube, es wäre ebenfalls eine gute Idee, wenn du auch ein wenig Zeit woanders verbringen würdest, und zwar mit anderen Leuten als Jaina und mir.“
Der misstrauische Gesichtsausdruck Anduins verwandelte sich in Neugier. „Was meinst du?“
„Ich denke an Magni Bronzebart“, sagte Varian. „Du magst ihn doch, oder?“
Anduin schien erleichtert. „Sehr sogar. Ich mag die Zwerge und bewundere ihren Mut und ihre Verlässlichkeit.“
„Gut! Würdest du gern eine Zeit lang bei ihm in Eisenschmiede bleiben? Du warst noch nie länger dort, und ich glaube, es wäre gut, wenn du das tust. Die Zwerge – mit Ausnahme der Dunkeleisenzwerge natürlich – stehen in enger Verbindung zu uns. Magni mag dich, und ich bin mir sicher, er kann dir alles Mögliche beibringen. Außerdem wärst du nicht allzu weit entfernt, für den Fall, dass du deinen einsamen alten Vater besuchen möchtest.“
Anduin grinste breit, und Varian fühlte sich nun deutlich besser. Das war eine wirklich gute Idee gewesen. „Die Tiefenbahn kann mich direkt nach Sturmwind zurückbringen“, meinte Anduin.
„Genau“, sagte Varian. „Also ist es beschlossene Sache?“
„Ja, das klingt nach einer Menge Spaß“, sagte Anduin. „Ich wollte etwas Zeit damit verbringen, mehr über die Forscherliga zu erfahren, und die Ausstellung ihrer wertvollsten Exponate ist in Eisenschmiede. Vielleicht kann ich sogar mit einigen der Mitglieder sprechen.“
Die Diener kamen mit dem zweiten Gang, geröstetes Wildbret in einer gehaltvollen Sauce. Anduin aß mit gesundem Appetit. Sein Hunger, der, wie es Varian schien, zwischenzeitlich ein wenig nachgelassen hatte, war offensichtlich zurückgekehrt.
Wenn der Junge einige Zeit mit der Forscherliga verbringen wollte, um etwas dazuzulernen, würde Varian ihn nicht aufhalten. Das war eine gute Beschäftigung für einen zukünftigen König. Er hatte jedoch bereits mit Magni gesprochen, und sie waren übereingekommen, Anduins Kampftraining ein wenig zu forcieren. Magni würde es verstehen, Anduin dafür zu begeistern. Varian selbst hatte unter der fachmännischen Führung des Zwergs gestanden und wusste, dass dieses Training seinem Sohn von Nutzen sein würde. Vielleicht würde es helfen, aus diesem vielversprechenden, aber feinfühligen Jungen einen Mann zu machen.
Thrall wurde durch den warnenden Klang der Hörner aufgeschreckt und erwachte. Sofort sprang er von seiner Schlafstatt auf. Der beißende Rauch verriet ihm die Natur des Notfalls, noch bevor er die Worte hörte, die Entsetzen und Schrecken in die Herzen der Bürger von Orgrimmar pflanzen würden.
„Feuer! Feuer!“
Als er gerade seine Kleidung überwarf, stürmten zwei Kor’krons in den Raum.
„Kriegshäuptling! Was sollen wir tun?“
„Bringt mir einen Wyvern! Alle Mann zum See nahe der Geisterhütte, außer den Schamanen! Weckt sie und bringt sie zum Ort des Feuers! Bildet eine Löschkette, um die nahe liegenden Gebäude zu schützen!“
„Ja, Kriegshäuptling!“ Einer der Kor’krons hielt Schritt mit Thrall, während der andere vorauslief, um die Befehle des Kriegshäuptlings weiterzugeben. Thrall hatte kaum die Burg verlassen, als ihm auch schon die Zügel des Wyvern in die Hand gedrückt wurden. Er sprang auf das große Tier und ließ es augenblicklich abheben.
Thrall hielt sich an dem Tier fest, als es beinahe senkrecht aufstieg. Von dort oben hatte er einen guten Überblick und sah sofort, wo das Feuer bereits außer Kontrolle geraten war. Er hatte befohlen, dass die meisten der Feuer, die für gewöhnlich Tag und Nacht in Orgrimmar brannten, wegen der extremen Dürre gelöscht wurden. Besser wäre es jedoch gewesen, jegliches Feuer zu verbieten.
Mehrere Gebäude hatten bereits Feuer gefangen. Thrall verzog das Gesicht, als ihm der Gestank verbrannten Fleisches in die Nase stieg. Wahrscheinlich wehte er vom Schlachthaus herüber. Drei Gebäude standen in hoch auflodernden Flammen, die die Nacht erleuchteten.
Im Lichtschein des Feuers konnte Thrall herumhuschende Gestalten erkennen. Die Schamanen versammelten sich wie befohlen an der Brandstelle, während andere die umliegenden Gebäude mit Wasser bespritzten, um ein Übergreifen der Flammen zu verhindern.
Er lenkte das Tier in Richtung des Feuers und tätschelte liebevoll seinen Hals. Der Wyvern musste den Rauch riechen und die Gefahr spüren, aber dennoch gehorchte er Thralls Befehlen und widersetzte sich nicht, als sein Herr ihn immer näher an das Zentrum des Feuers herantrieb. Der Rauch war dicht und schwarz und die Hitze so stark, dass Thrall sich einen Moment lang fragte, ob sie seine Kleidung entzünden oder das tapfere Tier versengen würde. Doch er war Schamane, und er war imstande, diesen Brand zu zähmen.
Er landete, sprang von dem Wyvern und entließ ihn wieder in die Luft. Die Echse hob augenblicklich wieder ab, froh, einige Entfernung zwischen sich und die Gefahr bringen zu können, nachdem er seinem Reiter brav gedient hatte. Die Gestalten wandten sich Thrall zu und bildeten eine Gasse, um ihren Kriegshäuptling hindurchzulassen. Nur die Schamanen rührten sich nicht. Sie standen bewegungslos, die Augen geschlossen, die Arme erhoben, und kommunizierten mit dem Feuer, so wie auch Thrall es nun tun würde.
Er trat zu ihnen, beruhigte sich und griff mit seinem Geist nach dieser einzelnen elementaren Flamme.
Bruder Feuer... Du kannst großen Schaden anrichten, aber auch den Lebenden viel Gutes tun, wenn du sie mit deiner Berührung erwählt hast. Du hast die Häuser der anderen als Brennmaterial benutzt. Dein Rauch brennt in unseren Augen und Lungen. Ich bitte dich, kehre zurück zu den Orten, wo wir dich dankbar beherbergen. Verletze keinen weiteren unserer Leute.
Das Feuer antwortete. Dieses Element war nur eines von vielen, die wütend und launisch handelten, wild und unkontrollierbar.
Nein, wir wollen nicht zurück in die Gefangenschaft der Lagerfeuer, Kohlenpfannen oder kleinen Feuerstellen. Wir mögen es, frei zu sein, und wollen über diesen Ort rasen und alles auf unserem Weg verschlingen.
Thrall spürte ein Flackern der Besorgnis. Niemals zuvor war eine Bitte, die direkt aus dem Herzen kam und von der Sorge um die Sicherheit anderer erfüllt war, so rundweg abgelehnt worden.
Er fragte erneut, legte mehr von seinem eigenen Willen in die Bitte und verdeutlichte den Schaden, den das Element seinem Volk antat – einem Volk, das dieses Element in seiner Stadt stets willkommen geheißen hatte.
Widerstrebend, unwillig wie ein mürrisches Kind begann das Feuer zu ersterben. Thrall spürte, wie seine Schamanen ihn dabei unterstützten, ihm ihre Konzentration liehen, sein Bitten förderten, und er war dankbar dafür.
Das Feuer verschlang mehrere Gebäude und umfangreichen persönlichen Besitz, bevor es schließlich nachließ. Glücklicherweise fand niemand den Tod, doch Thrall wusste, dass einige seiner Leute durch den Rauch Schaden davongetragen hatten. Er würde...
„Nein“, flüsterte er. Ein aufsässiger Funke trieb mit dem Wind und steuerte auf ein weiteres Gebäude zu. Thrall griff nach ihm, spürte seine zerstörerische Absicht, seine Weigerung, ihn zu respektieren.
Thralls Augen standen weit offen, beobachteten den Weg der kleinen Flamme. Wenn du auf diesem Weg weitergehst, kleiner Funke, wirst du großen Schaden anrichten.
Ich muss brennen! Ich muss leben!
Es gibt Orte, an denen du glühen kannst und deine Wärme willkommen ist. Finde sie, aber zerstöre nicht die Gebäude oder lösche das Leben meines Volkes aus!
Eine Sekunde lang schien der Funke zu verglimmen, doch dann brannte er wieder mit erneuerter Kraft.
Thrall wusste, was er zu tun hatte. Er hob die Hand. Vergib mir, Bruder Feuer, aber ich muss mein Volk vor dem Schaden bewahren, den du verursachen kannst. Ich habe gefragt, ich habe gebettelt, doch jetzt warne ich dich.
Der Funke schien zu zucken, setzte aber dennoch seinen tödlichen Weg fort.
Thrall verkrampfte seine Hände mit grimmigem Gesicht.
Der Funke brannte aufsässig weiter, bis er schließlich zu einem schwachen Leuchten glimmender Asche verging. Er würde keinen Schaden mehr anrichten.
Die Gefahr war gebannt, doch Thrall war aufgebracht. Auf diese Art durften die Schamanen nicht mit den Elementen sprechen. Ihr Verhältnis war stets von gegenseitigem Respekt geprägt gewesen, nicht von Drohungen, dem Wunsch nach Kontrolle und dem Willen zur Zerstörung. Natürlich konnte der Geist des Feuers niemals ausgelöscht werden, denn er war weitaus größer als alles, was ein Schamane oder eine Gruppe von Schamanen jemals hätte bändigen können. Der Geist des Feuers war ewig, wie all die Geister der Elemente. Doch ein Teil dieser elementaren Manifestation hatte sich aufsässig und unwillig gezeigt, und leider war dies kein Einzelfall, sondern Ausdruck einer beunruhigenden Entwicklung der Elemente, die plötzlich trotzig und rebellisch waren, anstatt zu kooperieren. Aus diesem Grund hatte Thrall sie vollständig seinem Willen unterwerfen müssen. Die anderen Schamanen riefen nun Regen herbei, um für den Fall Vorsorge zu treffen, dass ein weiterer abweichender Funke lebte und sich auf dem Weg der Zerstörung befand.
Thrall stand im prasselnden Regen. Der Orc ließ das Wasser über seine riesigen grünen Schultern laufen und von den Händen herabtropfen. Was im Namen der Ahnen geschah hier?
„Nun, natürlich schaffen wir das“, sagte Gazlowe. „Ich meine, wir sind Goblins, natürlich schaffen wir es. Versteht Ihr, was ich meine? Wir haben es ja auch beim ersten Mal geschafft. Ja, verehrter Kriegshäuptling, selbstverständlich können wir den zerstörten Teil von Orgrimmar wieder aufbauen. Macht Euch keine Sorgen deswegen.“
Zwei Kor’kron standen einige Schritte entfernt, ihre riesigen Äxte trugen sie auf dem Rücken. Mit verschränkten Armen beobachteten sie die Szene und wachten stumm über ihren Kriegshäuptling. Thrall redete mit dem Goblin, der gemeinsam mit anderen einige Jahre zuvor dabei geholfen hatte, Orgrimmar zu errichten. Er war schlauer, intelligenter, skrupelloser und weniger aufdringlich als viele andere Vertreter seines Volkes. Dennoch war er ein Goblin, und aus diesem Grund wartete Thrall auf den Haken an der Sache.
„Nun, das ist gut. Und wie teuer wird das werden?“
Der Goblin griff in einen kleinen Beutel, den er mitgebracht hatte, und holte einen Abakus hervor. Seine langen, flinken grünen Finger flogen über das Rechengerät, während er mit sich selbst sprach, „... nimm die Eins... berücksichtige die Kosten der Materialien zum Nachkriegstarif... plus die Arbeit...“
Nun nahm er ein Stück Kohle und einen Bogen Pergament aus seinem Beutel und schrieb eine Zahl nieder, die die grüne Haut des Orcs erbleichen ließ. „So viel?“, fragte Thrall ungläubig.
Gazlowe schaute unglücklich. „Nun gut... Ich sage Euch etwas: Ihr wart stets außerordentlich gut zu uns und zudem äußerst korrekt bei unseren Geschäften mit Euch. Wie wäre es mit...“
Er schrieb eine zweite Zahl auf den Pergamentbogen. Sie war nicht so hoch wie die erste, doch der Unterschied war nur gering. Thrall gab Etrigg den Bogen weiter, und dieser pfiff beeindruckt.
„Wir brauchen mehr Güter“, war alles, was Thrall sagte. Er stand auf und ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Die Kor’kron folgten ihm im Gleichschritt. Gazlowe blickte Thrall und seinen Beschützern stumm nach.
„Ich denke, das war ein Ja. Das war doch ein Ja, oder?“, fragte er Etrigg schließlich. Der Alte nickte, und seine Augen verengten sich. Durch die offen stehende Tür beobachtete er, wie Thralls Gestalt immer kleiner wurde, als der Kriegshäuptling die Feste Grommash verließ.
Obwohl Thrall in Orgrimmar sehr bekannt war, waren die Bewohner der Stadt doch höflich genug, ihrem Kriegshäuptling einen gewissen Freiraum zu lassen. Die Kor’kron, die ihn beschützten, trugen dazu nicht unwesentlich bei. Wenn Thrall die Stadt durchstreifen wollte, nun, dann war das seine Sache. Und so geschah es, dass Thrall die staubigen Straßen hinabschlenderte, die noch immer von Asche bedeckt waren, und die Luft atmete, die noch immer nach Rauch schmeckte. Er musste einfach ein wenig herumlaufen, sich bewegen, um nachdenken zu können. Seine Leibwächter kannten ihn gut genug, um ihn in Ruhe zu lassen.
Die Summe, die Gazlowe genannt hatte, war von einer astronomischen Höhe. Doch Orgrimmar war die Hauptstadt der Horde und musste wiederhergestellt werden. Unglücklicherweise verstärkte die Tragödie die Fragen, die Thrall während des Tages und auch während seiner Träume beschäftigten: Warum waren die Elemente so aufgewühlt, und wie konnte er die Horde nach dem Krieg am besten anführen?
Die Entscheidung, die er während des Gesprächs mit Etrigg getroffen hatte, war richtig. Thrall wusste mit Bestimmtheit, dass er in die Heimat seines Volkes reisen musste, nach Nagrand, wo das Erbe des Schamanismus schon so lange praktiziert wurde, dass seine Wurzeln sich in den grauen Vorzeiten verloren. Geyah war weise und ihr Geist noch immer klar. Sie und alle Nachfolger, die sie selbst ausgebildet hatte, würden die Antworten kennen, die er hier in Azeroth nicht finden konnte – die Antworten auf Fragen, von denen Thrall nicht einmal wusste, dass er sie stellen musste. Je mehr er darüber nachdachte, desto deutlicher wurde es, dass dies das Richtige war, das absolut Richtige. Die Schamanen der Scherbenwelt hatten gelernt, wie man eine auseinandergebrochene Welt retten konnte. Sie waren es, die den verstörten Elementen Azeroths helfen konnten.
Thrall wusste auch, dass er sich die Notwendigkeit der Reise nach Nagrand nicht einredete, um sich selbst zu beruhigen. Sein Volk litt großes Leid. Sogar das grüne Mulgore spürte bereits die Auswirkungen der Dürre, die sich zunehmend nach Westen ausbreitete. Das Feuer der vergangenen Nacht war der Beweis dafür, dass etwas geschehen musste. Das nächste Feuer würde vielleicht Orgrimmar oder Donnerfels verwüsten – oder der nächste Sturm Theramore und damit Jaina Prachtmeer von der Landkarte wischen. Er musste handeln, bevor alles Leben und jegliche Lebensgrundlage verloren waren.
So konnte er der Horde am besten dienen. Er wusste, dass er einzigartig war – ein Krieger und Schamane, der sowohl in der Welt der Menschen als auch bei den Orcs verwurzelt war. Kein anderer konnte das sein, was er war, und niemand sonst konnte tun, was er tat. Denn niemand sonst besaß die Erfahrung und die Fähigkeiten, über die er verfügte.
Doch die Horde durfte nicht handlungsunfähig sein, wenn er nicht an der Spitze stand. Eines Tages würde auch Thrall sterben, wie jeder andere mit den Ahnen gehen. Einen Moment lang gestattete er sich, die Dinge so zu sehen, wie Etrigg es tat. Er dachte über ein Kind und eine Gefährtin nach. Es musste eine tapfere und starke Frau sein, mit einem großen Herzen – eine Gefährtin, wie es Draka für seinen Vater, Durotan, gewesen war. Er hatte seine Eltern nicht kennengelernt, aber er hatte viele Geschichten über sie gehört. Sie hatten gut zusammengepasst, und ihre Herzen hatten wie eines geschlagen. Einander in inniger Liebe zugetan, hatten sie während der dunkelsten Tage Seite an Seite zusammengestanden und sogar ihre Leben gemeinsam hingegeben, um Thrall zu beschützen. Als er über die Straßen der Hauptstadt der Horde schlenderte, wurde Thrall bewusst, dass er letztlich genau das tat, was Etrigg angeregt hatte. Er sehnte sich nach einer tapferen Gefährtin, die mit ihm die harten und die guten Zeiten teilte, und nach einem Kind aus dieser Verbindung, einem guten Sohn oder einer Tochter.
Aber er hatte keine Gefährtin und ebenso wenig ein Kind. Vielleicht war das auch gut so. Er musste keine trauernde Familie zurücklassen, wenn er irgendwann einmal ging, nur die Horde, die lernen musste, ohne ihn auszukommen. Vielleicht konnte sie das jetzt schon – für eine kurze Zeit zumindest, damit er nach Nagrand reisen konnte, um herauszufinden, was mit den Elementen los war, und um ihr merkwürdiges Verhalten zu beenden, das so viele Leben forderte.
Für einen Moment schloss er die Augen. Die Kontrolle der Horde, die er gegründet hatte, abzugeben, war, als gäbe man ein geliebtes Kind in die Obhut eines anderen. Was, wenn irgendetwas schiefging?
Doch etwas ging bereits schief. Ein anderer würde die Horde eine Zeit lang anführen müssen. Thrall nickte und spürte, wie sich sein Herz und seine Seele etwas beruhigten. Ja, das war es, was er tun musste. Die Frage war nicht mehr, ob er es tun sollte, sondern wann. So schnell wie möglich. Nun musste er entscheiden, wem er sein geliebtes „Kind“ anvertrauen sollte.
Der Erste, der ihm einfiel, war Cairne, sein ältester Freund in Kalimdor. Cairne und er dachten in vielen Dingen gleich, und er war weise und regierte sein Volk gut. Doch Thrall war ebenso wie seinem Freund bekannt, dass einige Hordemitglieder Cairne für altmodisch hielten und als jemanden betrachteten, der nicht wusste, was die Horde wirklich brauchte. Schon jetzt sorgten die Grimmtotems für Unruhe in Cairnes Stadt. Wie sehr würden die Unruhe und das Gerede erst zunehmen, wenn Thrall einen ältlichen Tauren zum Führer der Horde machte?
Nein, Cairne würde zwar definitiv eine wichtige Rolle zukommen, doch es konnte nicht die des Anführers sein. Ein Orc wäre besser geeignet, einer, den das Volk kannte und respektierte.
Thrall seufzte schwer. Die perfekte Wahl war eine, die er nicht treffen konnte – Saurfang, der Jüngere, charismatisch und für sein Alter bereits sehr weise, war einer der hellsten Sterne am Himmel der Hordekrieger gewesen, bevor er aufgrund eines niederträchtigen Verrats getötet worden war. Sein Vater war zwar nicht völlig gebrochen, doch von den jüngsten Ereignissen stark mitgenommen. Der Orc war auch zu alt, so wie Cairne und sein Berater Etrigg. Thrall erkannte, dass es nur eine Wahl gab, und er verzog das Gesicht.
Es gab nur einen, der als Anführer in Betracht kam, einen Einzigen, der jung und lebendig war, den jeder kannte, der von allen geliebt wurde und der zudem ein unvergleichlicher Krieger. Einer, der die verschiedenen Fraktionen der Horde vereinigen konnte und sie auch noch mit Stolz erfüllte.
Eine perfekte Galionsfigur.
Thralls Blick wurde immer finsterer. Ja, Garrosh wurde geliebt, und er war ein guter Kämpfer, wenngleich etwas unbesonnen und impulsiv. Thrall war gerade dabei, ihm die absolute Macht zu überlassen. Ein Wort ging ihm durch den Kopf: Thronräuber. Doch er glaubte nicht wirklich, dass etwas Derartiges geschehen würde. Garrosh brauchte etwas, das sein Ego befriedigte – ein Ego, an dessen Größe er nicht ganz unschuldig war, wie Thrall jetzt erkannte. Er hatte sich gesorgt, weil Garrosh seinen Vater verachtete, und hatte ihm zeigen wollen, dass Grom Höllschrei viel Gutes für die Horde getan hatte. Doch vielleicht hatte er ein besseres Bild von Grom entstehen lassen, als es den Tatsachen entsprach. Wenn dem so war, dann war er für die Arroganz des jüngeren Höllschrei zumindest zum Teil verantwortlich. Er hatte Groms Leben nicht retten können, und deshalb hoffte er, dessen Sohn unterstützen und an die Hand nehmen zu können.
Dennoch, Etrigg wäre hier, um Garrosh zu beruhigen, und ebenso Cairne, wenn Thrall seine alten Freunde darum bat. Außerdem würde er ja nicht lange fort sein. Sollte Garrosh doch ruhig für eine gewisse Zeit seinen Platz in der Feste Grommash einnehmen, mit Cairne und Etrigg an seiner Seite. Garrosh hatte sich bereits eine eigene Meinung über den Zwischenfall im Eschental gebildet, und Thrall wusste, dass Cairne sich eher auf den Orc draufsetzen würde, als ihm irgendetwas durchgehen zu lassen. Es gab nicht viel, was Garrosh tun konnte, um der Horde wirklich zu schaden. Im Gegensatz dazu – das musste Thrall sich eingestehen – konnte Garrosh viel tun, um sie zu begeistern.
Ihr Anführer wäre fort. Sie würden vermutlich ängstlich und besorgt sein, doch Garrosh würde sie daran erinnern, dass sie stolz, wild und unbesiegbar waren, und die Horde würde jubeln und zufrieden sein, wenn Thrall mit der wahren Antwort auf die Probleme, die sie quälten, zurückkehrte. Er würde das Land beruhigen. Dies war seine Chance, alles zum Besseren zu wenden. Wenn er das Land und die Elemente jedoch ignorierte, würde kein glorreicher Sieg im Kampf jemals die Katastrophen wettmachen, die dann unausweichlich folgen mussten.
Garrosh salutierte, als er vor Thrall stand. „Ich bin hier wie befohlen, Kriegshäuptling. Wie kann ich der Horde dienen?“
„Genau aus diesem Grund habe ich dich hierher gerufen. Komm mit mir.“
Thrall hatte auf dem Thron gesessen, als Garrosh eingetroffen war, flankiert von vier großen, einschüchternden Kor’kron. Er hatte einen von ihnen vorausgeschickt, um den jungen Orc eine Weile warten zu lassen, und keine Anstalten getroffen aufzustehen, während Garrosh keine andere Wahl blieb, als vor ihm stehen zu bleiben. Thrall erhob sich nun, langsam und kontrolliert, und breitete die Arme zu einer freundlichen, leicht väterlichen Geste des Willkommens aus. Garrosh musste lernen, wo sein Platz war, bevor Thrall ihn positiv beeinflussen konnte.
Er nickte dem Kor’kron zu, der zackig salutierte und blieb, wo er war, als Thrall Garrosh in seine privaten Gemächer führte. Hier konnten sie miteinander sprechen, ohne dass ihnen jemand zuhörte. „Du weißt, ich bin ebenso sehr Schamane wie Krieger“, sagte Thrall.
„Natürlich.“
„Du hast selbst genug gesehen, um zu wissen, dass die Elemente zutiefst verstört sind. Beispielsweise diese merkwürdigen Wellen, denen ihr auf dem Heimweg von Nordend begegnet seid, oder das Feuer, das in Orgrimmar getobt hat.“
„Ja, das ist mir bewusst. Aber wie kann ich daran etwas ändern?“
„Das kannst du nicht. Doch ich kann es.“
Garroshs Augen verengten sich. „Und warum tust du dann nichts, Kriegshäuptling!“
„Ich kann nicht als Kriegshäuptling etwas dagegen unternehmen, Garrosh, sondern nur als Schamane. Du stellst dieselbe Frage, mit der ich gerungen habe: Warum tue ich es nicht? Die Antwort ist: Es zu tun, würde bedeuten, dass ich Orgrimmar und Azeroth verlassen muss.“
Garrosh schaute alarmiert. „Azeroth verlassen? Das verstehe ich nicht!“
„Ich werde nach Nagrand reisen. Die Schamanen dort gehen mit Elementen um, die schrecklich gelitten haben. Dennoch gibt es Orte, an denen das Land noch immer grün ist. Vielleicht kann ich in Erfahrung bringen, warum das so ist... und dieses Wissen unseren bedrohten Elementen hier anbieten.“
Garrosh lächelte und entblößte dabei seine großen Hauer. „Meine alte Heimat“, sagte er. „Ich würde sie gern wiedersehen. Mit der Großmutter reden, bevor sie uns verlassen hat, um mit den Ahnen zu ziehen. Sie war es, die mich und so viele andere geheilt hat, als die roten Pocken uns befallen hatten.“
„Sie ist ein großer Schatz“, stimmte Thrall zu, „und einer, dessen Weisheit ich suche.“
„Wirst du bald zurückkommen?“
„Das... weiß ich nicht“, sagte Thrall ehrlich. „Es könnte einige Zeit dauern, das zu lernen, was ich lernen muss. Ich vermute, ich werde nicht allzu lange fort sein, doch es könnten schon einige Wochen sein, vielleicht sogar Monate.“
„Aber... die Horde! Wir brauchen einen Kriegshäuptling!“
„Ich gehe ja nach Nagrand, um der Horde zu helfen“, sagte Thrall. „Sorge dich nicht, Garrosh. Ich werde sie nicht im Stich lassen. Ich reise dorthin, um der Horde zu dienen. Es geht nicht anders. Wir alle dienen der Horde. Selbst ihr Kriegshäuptling tut das – vielleicht sogar gerade der Kriegshäuptling. Und ich weiß sehr gut, dass auch du ihr treu dienst.“
„Das tue ich, Kriegshäuptling. Du warst derjenige, der mich gelehrt hat, stolz auf meinen Vater zu sein und auf das, was er für andere getan hat... für die Horde.“ Garroshs Stimme klang ernst, und seine reinen Gefühle traten offen in seinem Gesicht zutage. „Ich bin noch nicht lange ein Teil der Horde, aber ich habe bereits genug gesehen, um zu wissen, dass ich wie mein Vater für sie sterben würde.“
„Du bist bereits dem Tod gegenübergetreten und hast ihn besiegt“, erklärte Thrall. „Viele seiner Schergen hast du getötet und mehr für diese neue Horde getan als manch anderer, der ihr schon seit ihren Anfängen angehört. Eines musst du wissen: Ich würde niemals gehen, ohne jemanden zu benennen, der sich um die Horde kümmert, selbst nicht für so kurze Zeit.“
Die Augen des jungen Orcs weiteten sich, dieses Mal jedoch vor Aufregung. „Du... du machst mich zum Kriegshäuptling?“
„Nein. Aber ich werde dich darin unterweisen, wie du die Horde an meiner Stelle führen sollst, bis ich zurückkehre.“
Thrall hätte nie erwartet, einmal erleben zu dürfen, wie Garrosh um Worte rang. Doch nun schien der braunhäutige Orc einen Moment lang sprachlos. „Ich kenne den Kampf, sagte er, „und weiß viel über Taktik, wie man die Truppen sammelt. Damit kenne ich mich aus. Lass mich auf diese Art dienen. Finde einen Feind für mich, dem ich gegenübertreten kann, und ich werde ihn besiegen. Du wirst sehen, wie stolz ich der Horde auch weiterhin diene. Aber von Politik verstehe ich nichts oder vom... Regieren. Ich halte lieber ein Schwert in meiner Hand als eine Schriftrolle!“
„Das verstehe ich“, sagte Thrall, ein wenig amüsiert darüber, dass er dem so stolzen Garrosh gut zureden musste. „Doch du wirst nicht ohne Ratgeber sein. Ich werde Etrigg und Cairne, die beide seit Jahren ihre Weisheit mit mir teilen, bitten, dich zu führen und zu beraten. Politik kann man lernen. Deine offensichtliche Liebe zur Horde jedoch nicht!“ Er schüttelte den Kopf. „Diese Liebe ist mir jetzt wichtiger als politischer Scharfsinn. Und davon, Garrosh Höllschrei, hast du im Überfluss.“
Immer noch schien Garrosh ungewöhnlich zögerlich zu sein. Schließlich sagte er: „Wenn du mich für würdig befindest, dann wisse dies: Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um den Ruhm der Horde zu mehren!“
„Wir brauchen im Moment keinen Ruhm“, entgegnete Thrall. „Es wird ohne Frage noch genug Herausforderungen für dich geben. Die Ehre der Horde ist bereits gesichert. Stelle ihre Bedürfnisse über deine eigenen, wie es dein Vater getan hat. Die Kor’kron werden angewiesen, dich so gut zu beschützen wie mich. Ich gehe als Schamane nach Nagrand, nicht als Kriegshäuptling der Horde. Nutze die Gelegenheit gut und ebenso den Rat von Cairne und Etrigg.“ Er machte eine Pause, und ein Lächeln glitt über seine Lippen. „Würdest du ohne Waffen in den Kampf ziehen?“
Garrosh blickte ihn verwirrt an, ob des plötzlichen Themenwechsels. „Das ist eine dumme Frage, Kriegshäuptling, und das weißt du.“
„Oh. Das ist mir klar. Ich möchte nur sichergehen, dass du verstehst, über welch mächtige Waffen du verfügst“, sagte Thrall. „Meine Berater sind meine Waffen, während ich darum kämpfe, stets das Beste für die Horde zu tun. Sie sehen Dinge, die ich nicht sehe, und zeigen mir Möglichkeiten auf, von denen ich nicht wusste, dass sie mir offenstanden. Nur ein Narr würde so etwas verachten. Und ich halte dich nicht für einen Narren.“
Garrosh lächelte und entspannte sich ein wenig, als ihm Thralls Absicht klar wurde. Mit einem Hauch seiner früheren Arroganz sagte er: „Ich bin kein Narr, Kriegshäuptling. Du würdest mich nicht bitten zu dienen, wenn du das dächtest.“
„Das stimmt. Also, Garrosh, willst du die Horde anführen, bis ich zurückkehre? Wirst du den Rat von Etrigg und Cairne annehmen, wenn sie ihn dir anbieten?“
Der junge Höllschrei atmete tief ein. „Es ist mein größtes Verlangen, die Horde nach besten Kräften anzuführen. Und deshalb, ja, tausend Mal ja, mein Kriegshäuptling. Ich werde sie so gut führen, wie ich kann, und ich werde den Rat deiner Berater annehmen, wie du es vorschlägst. Ich weiß, welch unglaubliche Ehre du mir erweist, und ich werde mich ihrer würdig erweisen.“
„Dann ist es vollbracht“, sagte Thrall. „Für die Horde!“
„Für die Horde!“
Oh, ihr Ahnen, dachte Thrall, als Garrosh sich mit vor Zufriedenheit und Stolz geschwellter Brust entfernte. Ich bete, dass ich das Richtige tue.
Zwei Wochen später trat Anduin Wrynn, der seine persönlichen Dinge bereits mit einem früheren Zug vorausgeschickt hatte, aus der Tiefenbahn und wurde augenblicklich beinahe von zwei kräftigen Armen erdrückt. „Willkommen, Junge!“, sagte König Magni Bronzebart. Anduin versuchte zu antworten, bekam jedoch keine Luft und verharrte reglos, während Magni fortfuhr: „Wir freuen uns, dich bei uns als Gast begrüßen zu dürfen. Du bist ja ganz schön groß geworden. Ich erkenne dich kaum wieder!“
Magni ließ den nach Luft schnappenden Anduin mit einem zischenden Geräusch los. Der Prinz lächelte den König und die junge Zwergin an, die neben ihm stand. Er vermutete, dass seine Gründe hierherzukommen nicht dieselben waren wie die seines Vaters, ihn zu Magni Bronzebart zu schicken. Doch das war ihm vollkommen gleichgültig. Er war fort von zu Hause, ein Junge, der auf eine völlig andere Kultur stieß, nachdem er schon zu lange auf Sturmwind begrenzt gewesen war.
„Es ist gut hier zu sein, Euer Majestät“, sagte er. „Danke, dass Ihr mich aufnehmt.“
„Dafür musst du mir nicht danken, Junge. Wir brauchten mal wieder einen kräftigen Tritt in den Hintern. Hier wurde alles schon zu steif.“ Magni schlug ihm auf den Rücken. „Komm jetzt, ich habe die Räume für dich herrichten lassen. Einige Diener habe ich vorausgeschickt, damit sie alles vorbereiten. Aber ich würde dir gern Aerin vorstellen“, er wies auf die junge Zwergenfrau. „Sie ist deine Leibwächterin, obwohl ich bezweifle, dass das Volk von Eisenschmiede dich belästigen wird.“
Aerin lächelte ihm fröhlich zu. „Schön, Euch zu treffen“, sagte sie und verneigte sich höflich.
Sie war eine vorbildliche Vertreterin der weiblichen Zwerge: kurvenreich, mit rosigen Wangen und langem braunem Haar, das ihr bis tief in den Rücken reichte. Sie trug ihre Rüstung, als wöge sie nicht mehr als ein Kleid, und schüttelte ihm herzlich die Hand. Anduin bemerkte, dass der Großteil ihrer Kurven aus Muskeln bestand. „Aerin gehört zu meinem Gefolge. Sie wird sich gut um dich kümmern.“
„Aye, und ich stamme ebenfalls aus Eisenschmiede, bin also hier geboren und aufgewachsen“, sagte Aerin stolz. „Es freut mich, Eure Führerin sein zu dürfen, solange Ihr hier seid, Euer Hoheit.“
„Danke“, sagte Anduin. „Bitte nenn mich Anduin.“ Obwohl auch die Zwerge seiner königlichen Familie zutiefst ergeben waren, lag in ihrer Art, den Adligen zu begegnen, eine angenehme Leichtigkeit die Anduin gefiel.
„In Ordnung“, stimmte Aerin zu, „dann also Anduin.“
„Gehen wir zu deiner Unterkunft, damit du dich einrichten kannst“, sagte Magni, wandte sich um und schritt mit so flinkem Tempo voran, dass Anduin kaum Schritt halten konnte. „Ich glaube, dir wird gefallen, was ich für dich ausgesucht habe“, sagte er und zwinkerte.
„Wäre es möglich, dass ich zuerst die Große Schmiede besuche?“, fragte Anduin. „Ich würde sie gerne sehen.“
„Natürlich!“, sagte Magni. „Ich bin immer stolz, wenn ich sie jemandem zeigen kann.“
Eisenschmiede war buchstäblich um eine riesige Schmiede herum erbaut worden. Die Luft war schwer und beinahe erstickend heiß, ein Kontrast zur kalten Frische der schneebedeckten Umgebung vor den Toren der Hauptstadt der Zwerge. Doch der scharfe Geruch hier war anders und erinnerte in keinster Weise an eine Menschenstadt. Anduin liebte ihn. Als sie die Schmiede erreichten, zuckte er angesichts der drückenden Hitze leicht zusammen und zog rasch seine Jacke aus. Er blickte heimlich zu Aerin hinüber. Anduin trug nur ein leichtes Leinenhemd und Reiterhosen und war bereits nass geschwitzt. Aerin und Magni hatten ihre Rüstung angelegt und schienen von der Hitze völlig unbeeindruckt zu sein. Die Konstitution der Zwerge war beeindruckend.
Doch die Hitze war beim prächtigen Anblick der Schmiede rasch vergessen. Ströme von geschmolzenem Metall plätscherten wie Wasser und leuchteten in allen Schattierungen von Rot, Gelb und Orange. Die Schmiede war so überwältigend groß, dass Anduin sie kaum erfassen konnte. Zumindest hatte sein Kopf Mühe damit.
„Aye, das ist ein großartiger Anblick“, sagte Magni. Anduin stimmte ihm zu. Nach einer Weile wurde ihm die Hitze doch zu viel, und er ging dankbar zu dem relativ kühlen Korridor zurück. Mehrere Zwerge und Gnome bewegten sich zielstrebig durch die Gänge, und die hier postierten Wachen nickten ihrem Herrscher höflich zu.
Anduin wurde langsamer, denn die Richtung, die sie einschlugen, verwirrte ihn. Er vermutete, dass er in den königlichen Gemächern wohnen würde, die nahe dem Hohen Sitz lagen. Er war ein Prinz, also wurde das von ihm erwartet. Er hatte sich schon gefragt, ob er dort überhaupt Schlaf finden würde, weil der Hohe Sitz direkt neben der Schmiede lag. Sie war Tag und Nacht in Betrieb und strahlte diese unglaubliche Hitze aus. Aber es hatte den Anschein, als würden sie diesen Teil von Eisenschmiede verlassen.
Er wollte bereits fragen, wann sie ankommen würden, als er den Mund staunend öffnete. Das Gebäude, das sich vor ihm erhoben hatte, wirkte von außen wie ein gewöhnlicher Bau in der typischen Architektur von Eisenschmiede. Auch an den mit Bogen überspannten Türen war ihm nichts Bemerkenswertes aufgefallen. Doch als er das Gebäude betrat, erspähte Anduin etwas, das sein Herz hüpfen ließ.
An der Decke hing das Skelett eines riesigen geflügelten Reptils, das von Drähten zusammengehalten wurde. Hingerissen ging Anduin darauf zu. „Was ist das?“
„Es ist ein Pteradon“, sagte Aerin. „Ausgegraben im Krater von Un’Goro. Schrecklicher Ort. Ich war selbst lange dort.“
„Nun, Junge, bringen wir dich zu deiner Unterkunft, bevor du die Stadt weiter besichtigen kannst“, unterbrach ihn Magni. Seine Augen leuchteten, als würde er einen Witz machen, den Anduin nicht verstand.
Anduin seufzte, warf einen letzten wehmütigen Blick auf den Pteradon und nickte. „Natürlich, Sire. Ich werde ja wohl einige Wochen lang hier sein. Ausreichend Zeit zum Amüsieren gibt es später noch. Also, auf zu meiner Unterkunft.“
„In Ordnung“, sagte Magni. Er bewegte sich nicht.
„Euer Majestät? Meine Unterkunft?“
Aerins Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen.
Was war hier nur los?
Langsam hob Magni den Finger und wies nach links. „Wir sind bereits da!“ Er warf den Kopf zurück und lachte. Aerin fiel in das Lachen ein, und Anduin spürte, wie sich ein unsicheres Grinsen auf seinem Gesicht breitmachte. „Ich habe für dich und dein Gefolge die Unterkünfte hier einrichten lassen. Genau gegenüber der Bibliothek. Ich habe mir gedacht, dass du der königlichen Gemächer ein wenig überdrüssig bist. Und ich weiß irgendwoher, wofür du dich interessierst.“
„Danke, Euer Majestät!“
„Pfft“, sagte Magni, und winkte mit der Hand ab. „Ich kenne dich schon, seit du ein Säugling warst. Das hier ist meine Heimat. Hier kannst du mich Onkel nennen, wenn du möchtest.“
Ein flüchtiger Ausdruck der Trauer huschte über sein Gesicht. Einen Moment lang dachte Anduin, dass er von dem Begriff „Onkel“ herrührte, doch er erkannte, dass es eine andere Anrede war, die Magni Bronzebart vermisste: Vater. Magni hatte nur ein Kind, eine Tochter namens Moira. Vor einigen Jahren hatten die Diener des Dunkeleisenherrschers Dagran Thaurissan sie entführt. Magni war davon überzeugt, dass Dagran seine Tochter mit magischen Mitteln verführt und sie verzaubert hatte, so dass sie glaubte, ihn zu lieben. Als Magni eine Gruppe aussandte, um Thaurissan zu töten und die verzauberte Moira zu befreien, weigerte sie sich jedoch, nach Hause zurückzukehren. Sie hatte verkündet, dass sie schwanger sei und der Mord an ihrem Ehegatten eine fürchterliche Wut in ihrem Herzen entfacht habe. Magni war am Boden zerstört gewesen. Seitdem hatte er nichts mehr von Moira oder ihrem Kind – dem Erben zweier Königreiche – gehört.
Großvater zu werden hätte ein freudiges Ereignis sein sollen. Magni hätte seine Tochter bei sich in Eisenschmiede haben sollen, sein Enkelkind hätte auf seinen Knien spielen sollen. Anduin wusste nicht einmal, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, und er wollte Magni nicht danach fragen. Stattdessen hatten sich Kind und Enkelkind von dem König entfremdet und waren von einem finsteren Zauber gebannt, der bis über den Tod des Herrschers hinaus wirkte. Zumindest glaubte Magni das.
Der düstere Augenblick verging schnell, und Magni lächelte wieder, obwohl das listige Flackern aus seinen Augen verschwunden war. „Das Abendessen gibt es um acht Uhr. Sei pünktlich. Deine Kampfübungen mit Aerin beginnen morgen.“
Anduin war überrascht. Er sollte kämpfen? Enttäuscht ließ er die Schultern sinken. Eigentlich hätte er so etwas erwarten müssen, hatte doch sein Vater diesen Besuch arrangiert. Zumindest schien Aerin eine gute Gesellschafterin zu sein, und er würde sicher noch ausreichend Zeit finden, um die Bibliothek zu durchstöbern und mehr über die Forscherliga herauszufinden.
„Ja, Onkel.“ Anduin lächelte den Zwerg an und bemerkte erleichtert, dass die Anrede Magnis angespannte Gesichtszüge zumindest ein wenig löste. Der Zwerg nickte, tätschelte Anduins Arm, wandte sich um und entfernte sich in Richtung des Hohen Sitzes. Anduin blickte ihm nach und wandte sich dann an Aerin.
„Sind all meine Begleiter angekommen?“
„Ja, schon vor einiger Zeit.“
Er grinste. „Dann gehe ich in die Bibliothek!“
Am folgenden Morgen starrte Anduin auf dem Rücken liegend an die Decke eines abgelegenen Bereichs des Hohen Sitzes. Sein ganzer Körper war zerschrammt, und alles tat ihm weh. Dennoch bewunderte er die Kampfkünste der Zwerge.
„Schon wieder auf dem Boden, kleiner Löwe?“ Ein „Tss, tss“ der Missbilligung folgte. „Das ist jetzt schon das dritte Mal.“
Jeder seiner Muskeln schmerzte. Anduin streckte eine Hand aus und umfasste Aerins kleineren, aber deutlich stärkeren Arm. Sie zog ihn auf die Beine, als wöge er nichts. Sein linker Arm hing an der Seite herunter, der Schild war immer noch daran gebunden. Sein Schwert lag mindestens zwei Schritte weit entfernt auf dem Boden. Seufzend trottete Anduin hinüber, um es aufzuheben. Er schloss die Hand um das Heft, was ihm bereits Schmerzen verursachte, und hob die Waffe mit großer Mühe auf.
Aerins blaue Augen blitzten zu dem Schild, und sie hob bedeutungsvoll eine Augenbraue. Sein Arm hing noch immer schlaff herunter.
„Ich, äh... kann ihn nicht hochheben“, sagte Anduin und spürte, wie sein Gesicht rot anlief.
Aerin sah einen Augenblick lang verärgert aus, dann lächelte sie vergnügt.
„Das macht nichts, kleiner Löwe. Heute wollte ich nur deine Stärke testen und deine Fähigkeiten einschätzen. Du bist eine ganze Weile bei uns. Wenn wir dich zu deinem Vater zurückschicken, bist du ein ganzer Zwerg. Du wirst schon sehen!“
Am Nachmittag des vergangenen Tages, als sie zusammen durch Eisenschmiede geschlendert waren, hatte sie begonnen, ihn „kleiner Löwe“ zu nennen, und er hatte nichts dagegen. Anduin wusste, dass diese Bezeichnung nur dazu angetan war, ihn zu ermutigen. Trotzdem zuckte er innerlich zusammen.
Er wusste, dass sein Vater glaubte, dass er nicht das Zeug zum Krieger hatte. Ihm war klar, dass einer der Gründe, warum Varian ihn hierher geschickt hatte, darin zu suchen war, dass er „härter werden sollte“ und die Zwerge einen „Mann aus ihm machen“ sollten. Anduin war sich schmerzlich bewusst – nun sogar körperlich –, dass er tatsächlich nicht das Zeug zum Krieger hatte. Er war gut im Bogenschießen und Messerwerfen, weil er ein scharfes Auge und eine ruhige Hand hatte. Doch wenn er mit schwereren Waffen umgehen musste, schien sein leichter Körperbau ein Hindernis darzustellen. Die Schwerter und Lanzen fühlten sich nie gut in seinen Händen an. Und egal wie hart er auch trainierte und wie viele Stunden er mit dieser stämmigen, fröhlichen Zwergin übte, aus ihm würde kein „ganzer Zwerg“ werden, ganz gleich, was sie sagte.
„Es tut mir leid“, sagte er. „Du bist eine gute Ausbilderin, Aerin. Ich bin mir sicher, ich werde mich verbessern.“
„Ja, ich weiß, dass du das wirst“, sagte sie und winkte ihm zu. Zum ersten Mal erkannte er, dass sie wirklich hübsch war. Er lächelte zurück und bedauerte es, sie belogen zu haben. Anduin war sich absolut nicht sicher, dass er sich verbessern würde. Er spürte, wie seine Stimmung sich verdüsterte, weil er bereits erwartete, Aerin zu enttäuschen. Sie hatte schon damit begonnen, ihre Ausrüstung zusammenzusuchen, und pfiff fröhlich vor sich hin. Er half ihr, hängte die Übungswaffen auf und klopfte die gepolsterte Rüstung aus. Dabei versuchte er nicht zu keuchen, während seine überanstrengten Muskeln protestierten.
„Ich glaube, ich gehe in meine Unterkunft zurück und nehme ein Bad“, sagte er und wischte sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn.
„Aye, aber etwas wollte ich noch loswerden“, sagte Aerin geradeheraus. Anduin starrte sie eine halbe Minute lang an, gedemütigt von ihrem verräterischen Grinsen, das ihre Lippen umspielte, und er erkannte, dass sie ihn gerade neckte – wieder einmal. Er lachte unsicher. „Lass mich wissen, wenn du etwas brauchst“, sagte Aerin. „Ich nehme dich gern später auf einen Ritt mit.“
Der Gedanke daran, auf einem der riesigen Widder, die von den Zwergen als Reittiere benutzt wurden, hin- und hergeworfen zu werden, ließ Anduin erbleichen. „Nein, ich werde ein Weilchen drinnen bleiben und mich meinen Studien widmen.“
„Nun, wenn dir nach etwas frischer Luft ist, schick einfach nach mir.“
„Das werde ich. Vielen Dank noch mal.“
„Gerne, jederzeit!“ Mit einem fröhlichen Pfeifen verließ Aerin den Raum. Anduin kam nicht umhin zu bemerken, dass sie noch nicht einmal richtig ins Schwitzen geraten war. Er seufzte und kehrte in seine Unterkunft zurück.
Ein gutes heißes Bad und der Wechsel seiner Kleidung verbesserten seine Stimmung, und er beschloss, einen Spaziergang zum Mystikerviertel zu unternehmen. Er brauchte ein wenig Licht.
Als er dort eintraf, wusste Anduin, dass er eine gute Entscheidung getroffen hatte. Er spürte, wie der Druck auf seiner Brust nachließ. Irgendwie erschien ihm das Mystikerviertel strahlender, obwohl er sich nicht sicher war, ob es nur ein Lichtspiel war oder an den Materialien lag, die bei der Konstruktion des Viertels verwendet worden waren. Auch der sanft leuchtende Teich wirkte beruhigend. Er wusste nicht, welchem Zweck er diente, wenn er denn überhaupt einen solchen haben sollte. Anduin holte eine Münze hervor, formulierte einen Wunsch und warf sie in das Wasser. Gespannt beobachtete er, wie sich das goldene Glitzern für eine Sekunde im Licht brach, bevor die Münze langsam hinabsank. Er war beruhigt, als er in die Tiefe blickte und sah, dass bereits viele Münzen auf dem Grund des Teiches lagen. Stufen führten in das Wasser hinein. Diente der Teich nur zum Schwimmen oder auch rituellen Zwecken? Er würde Aerin irgendwann einmal danach fragen. Im Augenblick jedoch wollte er unbedingt jedes unangemessene Verhalten vermeiden.
Durch den offenen Durchgang begab er sich in die Halle der Mysterien und lächelte, als das blaue, purpurne und weiße Licht ihn umfing. Fünf Säulen, jede verziert mit einem sich wiederholenden geometrischen Muster in Gold und Blau, trugen die Decke. Dieser Ort schien ihm nicht mehr ganz so heilig wie die Kathedrale, aber das Licht war immer noch da. Gestern und auch noch an diesem Morgen hatte er den Eindruck gehabt, dass jedermann in Eisenschmiede eine Plattenrüstung trug, selbst bei der Verrichtung ganz alltäglicher Dinge. Erleichtert stellte er fest, dass diese Räume voller Gnome und Zwerge waren, die sich in weiche, fließende Gewänder gehüllt hatten.
Etwas Kleines, Festes, das sich schnell bewegte, stieß gegen seinen Oberschenkel, und er taumelte zurück. „Was...“
„Oje!“, erklang ein leises Quieken. „Dink sucht nach...“
„Autsch!“ Ein zweites Irgendetwas, klein, hart und sich ebenfalls rasch bewegend, rammte Anduins Oberschenkel, worauf seine Beine – die noch von den Übungsstunden mitgenommen waren – einknickten. Bevor er sich wieder fangen konnte, war er auf den kalten Steinboden gestürzt. Er zuckte zusammen, gab jedoch keinen Laut von sich, als er sich wieder erhob.
„Tut mir schrecklich leid!“ Anduin blickte auf zwei Gnome hinab. Es schien sich um Bruder und Schwester zu handeln. Die beiden hatten weißes Haar und blaue Augen, die jetzt vor Verlegenheit weit aufgerissen waren, und trugen gelb-blaue Roben. Die Frau hielt ein Buch in der Hand und errötete. „Es tut mir leid, ich habe hier reingeschaut und nicht gesehen, wo ich hintrat. Ich weiß nicht, wie Dinks Entschuldigung lauten wird!“
„Ich bin dir gefolgt, Bink!“, sagte der Mann, der offensichtlich Dink hieß. „Tut mir ebenfalls leid, junger Freund. Manchmal konzentrieren wir uns mehr auf eine bestimmte Sache, als gut für uns ist!“
„Für Euch und uns“, sagte Bink, und lächelte gewinnend. Sie versuchte, den Staub von Anduins Knien zu wischen, doch Anduin zuckte kurz vor Schmerz zusammen, trat einen Schritt zurück und zwang sich zu einem Lächeln.
„Mir tut es auch schrecklich leid! Ist schon in Ordnung. Ich hätte auch besser aufpassen sollen.“
Die beiden Gnome strahlten ihn an, dann verneigten sie sich und huschten fort. Amüsiert, aber leicht angeschlagen sah Anduin ihnen nach.
„Ah, hier seid Ihr, Junge“, erklang eine tiefe, freundliche Stimme. „Lasst mich Euch helfen.“
Plötzlich durchströmte Anduin eine angenehme, sanfte Wärme, und er wandte sich um. Ein älterer Zwerg stand leise singend vor ihm und bewegte dabei seine Hände hin und her. Sein langer weißer Bart war in zwei Zöpfe und einen Pferdeschwanz geteilt. Sein Kopf war kahl, doch im Nacken prangte ein weiterer Pferdeschwanz. Seine grünen, faltigen Augen verzogen sich zu einem Lächeln. Einen Herzschlag später erkannte Anduin, dass der Schmerz fort war – das Stechen in seinen Knien, das Brennen seiner Muskeln und die Steifheit in seinen Gliedern, die von den Kampfübungen herrührten. Er fühlte sich erholt und erfrischt, als hätte er die ganze Nacht geschlafen und wäre gerade aufgewacht.
„Danke.“
„Gern geschehen, Junge. Seid Ihr vielleicht der junge Prinz aus Sturmwind, den wir erwartet haben?“
Anduin nickte und streckte die Hand aus. „Angenehm, Euch kennenzulernen...“
„Hohepriester Rohan. Das Licht sei mit Euch. Wie findet Ihr unsere ruhmreiche Stadt?“
„Indem ich die Tiefenbahn benutze“, witzelte Anduin. Der uralte Witz entfuhr ihm, bevor er es bemerkt hatte. Seine Augen weiteten sich vor Schreck, und seine Wangen röteten sich. „Ich... entschuldigt... ich wollte nicht...“
Zu seiner Überraschung und Erleichterung warf der Hohepriester seinen kahlen Kopf in den Nacken und lachte herzlich. „Oh, den habe ich schon lange nicht mehr gehört. Bin darauf reingefallen, oder?“ Sein Gelächter ging in ein Kichern über.
Anduin entspannte sich und grinste. „Es ist ein wirklich schlechter Witz. Ich entschuldige mich.“
„Gut, ich vergebe Euch, wenn Ihr mir einen besseren erzählt“, sagte Rohan.
„Ich werde es versuchen...“
„Heutzutage wird viel zu wenig gelacht, sage ich immer. Oh, das Licht ist eine ernsthafte Sache, aber ohne Witz gibt es keine hellen Köpfchen, oder?“
Anduin beobachtete ihn zweifelnd und fragte sich, ob es respektlos war, wenn er angesichts dieses Kalauers aufstöhnte. Sein Gesichtsausdruck blieb nicht unbemerkt, doch Rohans Grinsen wurde noch breiter. „Aye, ich weiß, das ist ein miserabler Witz. Deshalb würde ich gern ein paar neue von Euch hören. Nebenbei gefragt: Was führt Euch in die Halle der Mysterien?“
Aha, so wurde dieser Ort also genannt. Anduin wurde plötzlich wieder ernst. „Ich... vermisse nur das Licht.“
Der alte Zwerg lächelte sanft, und dieses Mal war seine Stimme weich und ernst, aber keineswegs weniger freundlich. „Es ist niemals weit weg, mein Junge. Wir tragen es in uns selbst, obwohl es natürlich die Seele labt, die Gesellschaft anderer an einem besonderen Ort zu suchen. Ihr seid hier jederzeit herzlich willkommen, Anduin Wrynn.“
Rohan hatte ihn nicht mit seinem Titel angesprochen. Anduin wusste, dass er vor dem Licht keinen Titel hatte, und eben das war auch Rohan bekannt. Er erinnerte sich daran, was sein Vater einst gesagt hatte, nachdem er einige Zeit wieder zu Hause gewesen war. Hätte es Anduin oder das Volk von Sturmwind, das sich auf ihn verließ, nicht gegeben, wäre Varian gerne Lo’Gosh geblieben und hätte weiter im Ring gekämpft. Er hätte die unkomplizierte, wenn auch kurze und brutale Existenz als Gladiator seinem Leben als König mit all seinen Schwierigkeiten und der damit verbundenen Verantwortung vorgezogen.
Als er im sanften blauen Licht die gewundene Treppe zu den etwas ruhigeren Räumen hinaufging, deren angenehme Wärme durch mehrere Kohlenbecken verstärkt wurde, erkannte Anduin, dass er die Sehnsucht seines Vaters verstand. Natürlich sehnte er sich nicht wie Varian nach dem Kampf, der Brutalität im Ring und der ständigen Gefahr eines plötzlichen Todes, nein, was Anduin sich wünschte, war der scheinbar flüchtige Luxus des Friedens. Frieden, um in Ruhe zu lernen und den Menschen zu helfen. Eine Priesterin fegte hinter ihm den Boden und lächelte freundlich und versonnen. Ihr Gesicht strahlte einen großen inneren Frieden aus.
Anduin seufzte. Priester zu werden war nicht seine Bestimmung, denn er war als Prinz geboren worden. Das Schicksal würde Krieg und Gewalt für ihn bereithalten und politisches Taktieren und strategisches Denken von ihm verlangen.
Doch jetzt, hier in der Halle der Mysterien, saß Anduin Wrynn –ohne Titel – ruhig und still da und dachte nicht an seinen Vater oder Thrall, ja nicht einmal an Jaina. Vielmehr stellte er sich eine Welt vor, in der jedermann jede Stadt besuchen konnte und dort mit offenen Armen willkommen geheißen wurde.
Drek’Thar wand sich unruhig im Schlaf und warf sich von einer Seite auf die andere. Visionen zerrten an ihm, quälten und ärgerten ihn. Es waren kaum sichtbare, unsichere, unklare Visionen von Frieden und Wohlstand, Katastrophen und Ruin. All das existierte nur in seiner Vorstellung.
In seinen Visionen konnte er wieder sehen. Er stand irgendwo, doch unter seinen Füßen war nichts. Überall um ihn herum, über und unter ihm, waren Sterne, tiefschwarze Sterne. Die Geister der Erde, der Luft, des Feuers und des Wassers – wütend und unglücklich – tobten wild umher, griffen nach ihm und flehten ihn an. Als er sich ihnen mit offenem Herzen zuwandte, stießen sie ihn mit einer solchen Wut zurück, dass er ins Taumeln geriet. Wenn sie Kinder gewesen wären, hätten sie geweint.
Um ihn herum donnerte Wasser herab, gepeitscht von der Luft, die sich als Wind manifestierte. Stürme, stark und mächtig, erfassten die Schiffe und zerbrachen sie wie Spielzeug. Cairne und Groms Jungs waren auf solch einem Schiff... Nein, nein, es war Thrall... Doch dann war es auch schon belanglos, wer auf dem Schiff war, denn es wurde in seine Einzelteile zerschmettert.
Als es bereits so aussah, als ob Drek’Thar dem Angriff des Feuers erliegen würde, verschwanden die Flammen schlagartig. Er war heil und unversehrt. Drek’Thar atmete schwer und zitterte. Die Augenblicke dehnten sich aus. Nichts geschah, doch die Vision ging weiter.
In diesem Moment spürte er das Beben unter seinen Füßen und wusste aus ihm unerfindlichen Gründen, dass die Luft, das Wasser und das Feuer ihren Schmerz bereits kundgetan hatten. Das Beben der weinenden Erde unter seinen Füßen würde schrecklich sein, das konnte er fühlen. Bilder blitzten in seinem Geist auf: eine schneebedeckte Landschaft, ein Wald...
Er schrie, richtete sich auf, und seine Augen blinzelten. Gnädigerweise sah er nur die Finsternis. Seine ausgestreckten Hände griffen wie immer nach Palkar.
„Was ist los, Großvater?“, fragte der jüngere Orc. Seine Stimme war klar und kräftig, unbekümmert von allem Bösen, das Drek’Thar heimsuchte.
Der alte Schamane öffnete den Mund, um zu antworten, doch plötzlich waren seine Gedanken so dunkel wie seine Augen. Er hatte geträumt .., etwas Wichtiges... etwas, das er weitergeben musste.
„Ich... ich weiß es nicht“, flüsterte er. „Etwas Schreckliches wird geschehen, Palkar. Aber ... ich weiß nicht was... Ich weiß es nicht!“
Er schüttelte sich und schluchzte frustriert und ängstlich.
Die Tränen, die über sein Gesicht rannen, waren warm.
Anduin entwickelte im Laufe der Tage eine gewisse Routine. Morgens absolvierte er das Kampftraining mit der scheinbar unermüdlichen und stets lebhaften Aerin. Wenn sie nicht trainierten, ritten sie gemeinsam durch die Landschaft. Obwohl Widder niemals seine Lieblingsreittiere werden würden, genoss Anduin die Möglichkeit, nach draußen zu kommen. Die klare Luft ließ ihn beinahe schwindeln, und die schneebedeckte Landschaft unterschied sich sehr von dem gemäßigten Klima Sturmwinds. Seine Zuneigung zu Aerin wuchs beständig. Er konnte sich darauf verlassen, dass sie ihn weder physisch noch verbal verletzte, und das empfand er als ausgesprochen angenehm. Einmal hatte er sie nach Moira gefragt.
„Ach, das ist eine verworrene Geschichte“, hatte sie geantwortet.
„Für mich klingt sie recht einfach. Moira wurde entführt, verzaubert und brach Magnis Herz.“
„Es stimmt schon, dass er sie vermisst“, sagte Aerin, „aber er war auch nicht immer der beste Vater.“
Anduin war überrascht. Er hatte sich den Zwerg stets als einen geradezu perfekten Vater vorgestellt. Sicherlich würde er jemanden so akzeptieren, wie er war, und nicht versuchen, ihn zu dem zu machen, den er gern haben wollte.
„Er war nicht grausam oder so etwas. Aber... nun... Ihre Hoheit hatte das falsche Geschlecht. Magni hatte sich immer einen Sohn gewünscht, der nach ihm regieren sollte. Er spürte, dass eine Frau dieser Aufgabe nicht gewachsen war.“
„Jaina Prachtmeer ist eine wundervolle Anführerin ihres Volkes“, entgegnete Anduin.
„Aye, nicht lange nachdem Moira verschwunden war, nahm Seine Majestät mich und einige andere Frauen in seine Elitewache auf “, sagte Aerin. „Ich glaube, er hat schließlich eingesehen, dass er sich ein wenig unfair verhalten hatte. Ich habe die Hoffnung, dass Vater und Tochter eines Tages die Möglichkeit haben, sich wieder zu versöhnen.“
Anduin hoffte das ebenso. Es schien, dass Schwierigkeiten zwischen einem Vater und seinem Kind nicht nur bei den Menschen auftraten.
Auf seinen Ausritten mit Aerin lernte er die Leute der Nachbargebiete von Kharanos und Stahlrosts Depot kennen. Einmal gelangten sie sogar nach Thelsamar in Loch Modan, wo sie zu Mittag aßen und Anduin am Ufer eines Sees einschlief. Zwei Stunden später erwachte er mit einem schmerzhaften Sonnenbrand.
„Ach, ihr Menschen seid nicht schlau genug, aus der Sonne zu gehen“, neckte ihn Aerin.
„Warum bist d u nicht verbrannt?“, fragte Anduin ärgerlich. Neunzig Prozent der Zeit, die sie gemeinsam verbrachten, trug Aerin eine Rüstung, und die restliche Zeit lebte sie im Untergrund. Ihre Haut war viel bleicher als die seine.
„Ich habe im Schatten eines Felsens geschlafen“, sagte sie.
Er starrte sie mit offenem Mund an. „Warum hast du mir das nicht vorgeschlagen?“
„Ich dachte, du findest das besser selbst heraus. In Zukunft wirst du doch darauf achten, oder?“ Sie lächelte ihm freundlich zu, und obwohl er schreckliche Schmerzen litt und die Farbe eines gekochten Hummers angenommen hatte, war er ihr keineswegs böse. Er zischte, als er sein Hemd wieder anzog. Den feinen Runenstoff, der sonst weich wie eine Feder war, auf seiner Haut zu spüren, war die reinste Qual. Aerin hatte recht. Er würde nie wieder an einem sonnigen Tag einschlafen, ohne sicherzugehen, dass er gut geschützt im Schatten lag.
Er kehrte in seine Unterkunft zurück und fand einen Brief vor, der in Magni Bronzebarts schwungvoller Handschrift verfasst war:
Anduin!
Komm zum Hohen Sitz, sobald du zurückgekehrt bist. Bring auch Aerin mit.
Er hatte darauf gehofft, Hohepriester Rohan wegen des Sonnenbrands um Hilfe bitten zu können, doch Magnis Aufforderung duldete zweifellos keinen Aufschub. Er zeigte Aerin den Brief, deren Augen sich vor Schreck weiteten. Sie nickte, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Hohen Sitz. Trotz des schmerzenden Sonnenbrands lief Anduin, so rasch er konnte. Sorge überkam ihn. War etwas mit seinem Vater geschehen? War schließlich doch noch ein Krieg zwischen der Horde und der Allianz ausgebrochen?
Magni war bereits zugegen und beugte sich über einen Tisch. Zwei andere Zwerge, deren Kleidung von der Reise schmutzig war, standen neben ihm. Ein weiterer Zwerg blickte aufgeregt drein. Anduin erkannte in ihm sofort den Hochforscher Muninn Magellas, den Kopf der Forscherliga. Er war ein schneidiger Zwerg mit rotem Haar und ebensolchem Bart, der es liebte, eine Schutzbrille zu tragen. Auf dem Tisch lagen drei steinerne Tafeln.
Anduin kam rutschend zum Stehen und tauschte einen schnellen verwirrten Blick mit Aerin, die jedoch nur ratlos mit den Achseln zuckte. Offensichtlich war sie genauso verwirrt wie er.
„Ah, Anduin, Junge, komm her! Das willst du sicher sehen!“ Magni winkte ihn zu sich, wobei seine Augen vor Aufregung leuchteten. Erleichterung erfüllte Anduin, doch dann überkam ihn eine leichte Verärgerung.
„Eure Nachricht klang dringend, Euer M... äh... Onkel Magni“, sagte er und trat vor. Der Sonnenbrand machte sich bei jeder Bewegung schmerzhaft bemerkbar.
„Ach, es ist nichts Dringendes, aber ausgesprochen faszinierend! Komm, schau es dir selbst an!“
Einer der Zwerge nickte und rückte beiseite, so dass Anduin neben Magni und Magellas an den Tisch treten konnte. Er blickte auf die Tafeln und erkannte nun, dass es nicht drei waren, sondern eine einzige, die in drei Stücke zerbrochen war. Auf jedem der Teile stand etwas geschrieben. Anduin beherrschte mehrere Sprachen, doch diese war ihm gänzlich unbekannt.
„Mein Bruder Brann hat sie mir geschickt“, sagte Magni. Er zog einen der Handschuhe aus und ließ die nackten, kräftigen Finger in einer erstaunlich sanften Berührung über die Texte fahren. „Er war fasziniert und dachte, ich sei es vielleicht auch.“ Magni blickte Anduin an. „Sobald ich sie sah, habe ich nach dir geschickt. Ich vermute, du weißt gar nicht, was da vor dir liegt.“
Anduin lachte verlegen und schüttelte den Kopf. „Ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob das überhaupt schon einmal jemand zu Gesicht bekommen hat, zumindest seit sehr langer Zeit. Diese Schrift stammt nämlich von den Irdenen.“
Anduin lief eine Gänsehaut über den Rücken, und er starrte mit großem Respekt auf die drei Teile der Tafel. Die Irdenen waren Schöpfungen der Titanen, die vor sehr langer Zeit gelebt hatten. Von diesen Irdenen wiederum stammten die Zwerge ab. Der Stein, der dort vor ihm auf dem Tisch lag, war unbeschreiblich alt, vielleicht zehntausend Jahre oder noch älter. Mit zitternder Hand griff er nach einem der Teile und berührte es so sanft, wie Magni es getan hatte, und mit dem gebotenen Respekt.
„Wisst Ihr, was sie bedeuten?“
„Nein, ich bin in diesen Dingen nicht sehr bewandert. Selbst Brann hatte seine Schwierigkeiten damit. Deshalb hat er sie den Experten in der Halle geschickt. Er hat etwas geschrieben... Lass mich mal nachsehen...“ Magni nahm ein Stück Pergament auf, das auf dem Tisch lag. „Etwas über... das Einswerden mit der Erde.“
„Hmmpf“, machte Aerin. Sie war eher praktisch veranlagt. Die Zwergin hatte offensichtlich nicht sehr viel Vorstellungskraft und sich bei den wiederholten Besuchen in der Halle der Forscher immer dermaßen gelangweilt, dass Anduin sie jetzt entließ, wenn er sich dort hinbegab. „Eins mit der Erde werden? Klingt für mich, als ob man mich begraben will.“
Anduin warf ihr einen raschen Blick zu und richtete seine Aufmerksamkeit sofort wieder auf die Tafel. „Was glaubt Ihr, was sie bedeutet? Diese Annahme ist recht vage.“
„Das stimmt, und man muss Klarheit in diesen Dingen haben“, sagte Magni nickend. Er beobachtete Anduin nachdenklich. „Du bist wirklich klug, Anduin. Weißt du, was gerade in der Welt vorgeht?“
Anduin war verwirrt ob dieser Frage. „Ich weiß, dass zwischen der Allianz und der Horde beträchtliche Spannungen herrschen“, antwortete er und fragte sich, ob es das war, worauf Magni abzielte. „Und dass die Horde Ärger verursacht, weil ihre Vorräte aufgrund des Krieges aufgebraucht sind.“
„Gut, gut.“ Magni nickte zustimmend. „Jedoch nicht wegen des Krieges. Folge der Argumentationsreihe, mein Junge.“
Anduin runzelte die Stirn. „Nun... weil Durotar ein raues Land ist“, sagte er. „Es gab nie viele Vorräte.“
„Und jetzt sind es weniger, weil...?“
„Wegen des Krieges und...“ Anduins Augen weiteten sich, als er verstand. „Wegen der außergewöhnlichen Dürren.“
„Genau.“
„Und wo wir gerade darüber sprechen... Tante Jaina hat gesagt, dass es einen schrecklichen Sturm gab, kurz bevor ich sie besucht habe. Sie meinte, dass es der schlimmste war, den sie je erlebt hat. Und es gab Berichte von einem merkwürdigen Hurrikan, der viele Schiffe beschädigte, die von Nordend zu entkommen versuchten.“
„Ja!“ Magni schrie beinahe vor Aufregung. „Schreckliche Stürme, Fluten an mehreren Orten, Dürren an anderen... Etwas stimmt nicht, Junge. Ich bin kein Schamane, aber die Elemente sind mit Sicherheit zurzeit nicht glücklich. Diese Tafel könnte vielleicht einen Hinweis darauf enthalten, was mit ihnen nicht stimmt.“
„Wirklich? Glaubt Ihr wirklich, dass etwas so Altes uns heute helfen kann?“
„Alles ist möglich, Junge. Auf jeden Fall“, flüsterte Magni übertrieben leise, „haben wir etwas in die Hände bekommen, das schon seit Langem kein Tageslicht mehr gesehen hat, oder?“
Er schlug Anduin auf den Rücken. Genau auf den Sonnenbrand.
Die Übersetzung ging nur quälend langsam vonstatten, und immer wieder mussten sie von vorn beginnen. Es war nicht gerade hilfreich, dass die Übersetzer Anduin ein wenig selbstgefällig erschienen und ihre Irrtümer nur unwillig eingestanden. Jeder Einzelne interpretierte den Text auf seine Weise.
Hochforscher Magellas bestand darauf, dass er sich auf eine metaphysische Vereinigung bezog. „Eins mit der Erde werden“, wiederholte er. „Sich mit ihr vereinen. Ihren Schmerz spüren.“
Berater Beigrum, ein runzeliger Alter mit zittrigen Händen und einer Stimme, die man in ganz Eisenschmiede hören konnte, wenn er sie erhob, spottete: „Bah! Muninn, Ihr denkt zu sehr an die Mädchen. Ihr seht ‚eins werden‘ in wirklich allem.“
Magellas, der unablässig verstohlene Blicke zu der anmutigen Aerin geworfen hatte, lachte laut auf. „Nur weil Ihr seit Jahrzehnten nichts mehr mit Mädchen zu tun hattet, bedeutet das nicht...“
„Nun, nun, all dieses zweideutige Gerede ist nichts für junge königliche Ohren!“, schalt Aerin, die der Unterhaltung bislang wortlos gefolgt war, die Zwerge.
Anduin lief rot an. „Es ist in Ordnung“, sagte er. „Ich meine... ich weiß über diese Dinge Bescheid.“
Unfähig zu widerstehen, neckte Aerin ihn. „Ach, weißt du das wirklich?“
Anduin wandte sich rasch Beigrum zu. „Was glaubt Ihr, was es bedeutet?“, fragte er in der Hoffnung, das Thema wechseln zu können.
„Nun, ich glaube, wir werden es nicht wirklich wissen, bevor wir nicht alles übersetzt haben. Die Interpretation eines Satzes hängt oft vom Zusammenhang ab. Nimm zum Beispiel: Ich bin hungrig. Wenn wir es im Zusammenhang mit. ,Meine Frau kocht das Essen in der Küche. Ich kann die in Bier köchelnden Schweinerippchen bereits riechen. Ich bin hungrig‘ – nehmen, dann ist damit der wirkliche Hunger gemeint, oder nicht?“
„Beigrum, Ihr spielt mit mir. Es ist bereits nach Mittag“, sagte Aerin.
„Doch wenn der Zusammenhang folgender ist: ‚Ich war vier Jahre lang eingesperrt. Alles, was ich sehe, sind graue Wände. Ich träume von freien Flächen und Sonnenlicht. Ich bin hungrig‘, dann ist das eine ganz andere Sache.“
„Mein Gott, Ihr seid ein Poet“, sagte Aerin beeindruckt. Anduin war es nicht minder.
„Ich verstehe, was Ihr meint“, sagte er. „Ich habe es nie so gesehen. Was...“
Ein dumpfes Beben unterbrach ihn. Anduin keuchte erschreckt auf, als der Boden unter ihm vibrierte, obwohl das Beben so leicht war, als stünde er auf einem riesigen schnurrenden Tier. Ein weiteres Geräusch erklang über ihnen. Anduin blickte auf und sah Hunderte von Büchern erbeben und langsam aus den Regalen wandern.
Drei Gedanken schossen ihm gleichzeitig durch den Kopf. Einmal, dass all diese Bücher und das unbezahlbare Wissen, das sie enthielten, im Begriff waren, aus einer großen Höhe herunterzufallen. Das würde die Bücher beschädigen, wenn nicht gar ihre völlige Zerstörung bedeuten. Der zweite Gedanke war, dass die Bücher, die aus großer Höhe zu Boden zu fallen drohten, ihnen auf die Köpfe prallen würden. Und schließlich dachte er, dass die Teile der Tafel zerspringen würden, wenn sie vom Tisch fielen. Er machte einen Satz nach vorne, ergriff sie und presste die unersetzlichen Stücke fest an sein Herz.
„Passt auf“, schrie Aerin, packte die Arme von Anduin und Beigrum und zerrte die beiden in den langen Bogengang, der die Bibliothek von der Ausstellungshalle trennte. Anduin glaubte, dass er die Halle sofort verlassen sollte, und lief weiter, bis sich Aerin mit einem Grunzen auf ihn warf. Im Fallen drehte er sich und landete hart auf der Hüfte. Aerin krachte in seinen Rücken. Die Tafelteile waren unversehrt.
„Nein, Anduin! Lauf nicht hinaus! Bleib im Bogengang!“
Ihre Warnung kam keine Sekunde zu spät. Sie beide lagen unmittelbar unter dem Skelett des Pteradon. Es klapperte wild und schwang an seiner Aufhängung hin und her. Die knochigen Flügel flatterten, als seien sie plötzlich zum Leben erwacht. Die Drähte, die das Skelett zusammenhielten, hatten bislang lediglich der Schwerkraft trotzen müssen. Doch jetzt wirkten weit größere Kräfte auf sie ein, denen sie nicht standhalten konnten. Die Flügel des Skeletts krachten herunter. Einen schrecklichen Moment lang schaute Anduin starr nach oben, als der Tod auf ihn herabstürzte.
Doch plötzlich legten sich stämmige, kräftige Arme um seine Schultern. Sein Gesicht wurde auf die kalte Steinplatte gepresst, als Aerin sich über ihn warf. Sie gab ein schmerzhaftes „Uff von sich, als einer der Knochen auf ihre Rüstung krachte und die Luft aus ihren Lungen presste.
Einen Herzschlag später war alles vorbei. Aerin rollte sich von Anduin herunter. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Nachdem er sich aufgesetzt hatte, schaute er sich vorsichtig um. Die Bücher aus den Regalen lagen auf dem Boden, so wie er es erwartet hatte, ebenso wie die meisten anderen Werke, die auf den Tischen gelegen hatten.
„Die Tafel!“, schrie Beigrum dröhnend und sprang auf.
„Ich habe sie“, sagte Anduin.
„Guter Junge!“ Magellas war die Erleichterung anzuhören.
Aerin erhob sich, zuckte jedoch bei jedem Schritt leicht zusammen. Anduin folgte ihr, die Teile der Tafel noch immer gegen seine Brust pressend.
„Du hast mir das Leben gerettet“, sagte er ruhig und starrte Aerin mit großen Augen an.
„Ach“, sagte sie und winkte ab. „Du hättest dasselbe für mich getan. Ich wäre eine schlechte Leibwächterin, wenn ich nicht darauf vorbereitet wäre, dein Leben zu retten, wenn es erforderlich ist, oder?“
Er nickte und warf ihr ein dankbares Lächeln zu. Sie winkte spielerisch zurück.
„Sind alle anderen in Ordnung?“, fragte Anduin und gab Beigrum die Tafel.
„Sieht so aus... Oh, die schönen Bücher“, sagte Magellas mit echtem Schmerz in der Stimme. Anduin nickte ernst.
„Ich sollte nachsehen, ob jemand Hilfe braucht“, meinte Aerin.
„Du musst bei mir bleiben. Also kannst du nicht allein gehen, oder?“ Anduin hatte sie da, wo er sie haben wollte, und sie starrte ihn finster an. „Gehen wir zur Halle der Mysterien“, schlug Anduin vor. „Wenn jemand verletzt ist, werden sie Heiler brauchen.“
Er verließ die Halle der Forscher und eilte schnell zur Halle der Mysterien. Aerin, die sich offenbar wieder vollkommen erholt hatte, ging neben ihm her.
Dutzende Leute standen in kleinen Gruppen überall in der Halle. Einige wurden getragen oder auf dem Rücken eines Widders abtransportiert. Mehrere Zwerge lagen auf dem kalten Steinboden, während ihre Lieben verzweifelt um sie weinten oder nach den Priestern riefen, von denen nur wenige vor Ort waren, und die rasch ihre Heilgebete murmelten.
„Oje“, stöhnte Aerin. „Offenbar haben wir noch Glück gehabt.“
Anduin nickte. „Rohan ist nicht hier , sagte er. „Das bedeutet, dass es woanders noch viel schlimmer sein muss.“ Er griff sanft nach einer Priesterin, als diese an ihnen vorbeieilte. „Entschuldigt mich, aber wo ist der Hohepriester Rohan?“
„Er wurde fortgerufen“, sagte sie.
„Wohin?“
„Kharanos. Das Beben war dort stärker als hier. Nun muss ich mich aber um diese Leute dort kümmern!“
„Komm“, sagte Anduin zu Aerin.
„Was?“
„Wir gehen nach Kharanos. Ich habe gelernt, wie man in Notsituationen hilft“, sagte Anduin. „Ich kann Wunden versorgen, Knochen richten, Verbände anlegen – helfen, bis die richtigen Heiler zu den Leuten kommen.“
„Und wie viele Knochen hast du schon gerichtet?“
„Ahm... keinen. Aber ich weiß, wie es geht!“ Er packte ihre Arme und schüttelte sie. „Aerin, hör mir zu! Ich kann helfen! Ich kann doch hier nicht nur herumstehen und zusehen!“
„Dann hilf diesen Leuten hier“, sagte die praktisch veranlagte Zwergin.
Anduin blickte sich um. Augenblicklich erkannte er, dass das Blut auf dem Boden von einer geheilten Verletzung stammte, nicht von der Wunde selbst. Die meisten derjenigen, die verletzt waren, konnten laufen, saßen auf dem Boden und sprachen mit anderen Zwergen. Dies war nicht länger eine Unfallstelle, obwohl die Priester noch eine Weile beschäftigt sein würden.
„Sie brauchen mich nicht“, sagte er ruhig. „Ich will denen helfen, die wirklich Hilfe nötig haben. Bitte... lass uns nach Kharanos gehen.“
Ihr Blick suchte den seinen, und sie seufzte. „In Ordnung. Aber du darfst nicht in Gefahr geraten, verstanden?“
Er lächelte. „Gut. Wir sollten uns beeilen.“
Anduin klammerte sich an den großen Widder, als dieser den vereisten Weg von Eisenschmiede zu dem kleinen Dorf im Schatten der Hauptstadt in vollem Galopp hinabstürmte. Er hatte keine andere Wahl, als dem sicheren Tritt des Tieres zu vertrauen, und er erkannte zu seiner Überraschung, dass dieses Vertrauen mehr als gerechtfertigt war. Der Widder stolperte nicht einmal. Das große Tier war bequemer zu reiten als ein Pferd, aber das bedeutete nicht, dass er den halsbrecherischen Ritt genoss.
Als sie in Kharanos eintrafen, wurden sie von mehreren Gebirgsjägern empfangen, die dort stationiert waren.
„Beeilt euch! Mehrere Leute sind in der Stadt gefangen!“, rief einer von ihnen. „Gebt mir Euren Widder, Mädchen! Ich reite nach Eisenschmiede, um mehr Hilfe zu holen!“
Augenblicklich rutschte Aerin von ihrem Widder und gab die Zügel dem Gebirgsjäger, der sofort in den Sattel sprang und davonsprengte. Ohne ein weiteres Wort kletterte sie hinter Anduin, und die beiden ritten grimmig weiter. Die Schäden waren hier viel schlimmer als in Eisenschmiede. Anduin sah beinahe ein Dutzend Leute, die im Freien behandelt wurden. Er suchte nach Rohan und fand ihn über eine ältere Zwergenfrau gebeugt. Anduin glitt von dem Reittier und lief gerade rechtzeitig zu dem Hohepriester, um zu sehen, wie er ein Tuch über die reglose Gestalt zog.
Rohan blickte auf. Seine Augen wirkten älter, als Anduin sie je gesehen hatte. „Prinz Anduin“, sagte er. „Ich habe mir gedacht, dass Ihr kommen würdet. Ihr kennt Euch ein wenig mit Erster Hilfe aus, oder?“
Anduin nickte. „Ich bin zwar kein Zwerg, doch ich habe einen recht starken Rücken“, sagte er. „Ich habe gehört, dass in einigen Gebäuden Leute eingeschlossen sind.“
„Aye“, sagte Rohan. „Die Heiler sind nur wenige und haben keine starken Rücken. Aerin, geht und helft den anderen. Ich gebe dem Jungen hier Arbeit.“
„Aye“, sagte Aerin. „Holen wir diese Leute aus der Gefahr und an die frische Luft!“
Während der nächsten Stunden arbeitete Anduin unablässig. Als immer mehr Opfer aus dem Geröll gezogen wurden, heilte Rohan diejenigen, die am schwersten verletzt waren. Die Verletzten, die leichtere Wunden davongetragen hatten, überließ er Anduin. Der Prinz reinigte die Wunden, verband sie, lächelte, und irgendwann bemerkte er, dass Rohan ihn zufrieden beobachtete.
Während er die Verletzten versorgte, dachte er über seinen Vater nach. Varian war ein Krieger. Anduin wusste, dass er das nicht war. Kämpfe und der Gedanke daran, anderen Verletzungen zuzufügen, hatten dem Menschenprinzen niemals dieses Gefühl der Freude gegeben, das er jetzt empfand, während er Leid linderte, statt es zu verursachen, den Leuten half, statt sie zu verletzen. Natürlich war der Krieg manchmal eine düstere und schreckliche Notwendigkeit, so wie in Nordend, doch Anduin wusste tief in seinem Herzen, dass er sich stets nach Frieden sehnen und sich immer darum bemühen würde. Die Verletzungen, die die Leute hier davongetragen hatten, waren schlimm genug. Anduin wollte nicht darüber nachdenken, wie er sich fühlen würde, wenn er diese Verwundeten in der Schlacht behandeln müsste und nicht nach einer Naturkatastrophe.
Jemand hatte einen Kessel mit Schnee gefüllt und über ein Feuer gehängt. Das Wasser war heiß und sauber. Anduin schüttete einige Tropfen eines Heiltranks in einen Krug und fügte mehrere Blätter der Friedensblume hinzu. Dann gab er den Krug einer jungen Gnomenmutter. Sie ließ ihre beiden Kinder, einen Säugling und ein Kleinkind, daraus trinken, bevor sie selbst das Gefäß zum Mund führte.
„Ihr seid sehr freundlich, Sire“, sagte sie. „Danke.“
„Gern geschehen“, gab Anduin zurück, tätschelte den kleinen Kopf des Säuglings und ging zu einem mürrischen älteren Zwerg, der lautstark mit einer Heilerin stritt. Die Priesterin, eine Nachteile, die in Kharanos zu Besuch weilte, betupfte einen stark blutenden Schnitt auf der Stirn des Zwerges.
„Mir geht es gut, verdammt noch mal. Geht und kümmert Euch um jemanden, der wirklich verwundet ist. Sonst könnt Ihr Euch mit einer gebrochenen Nase in die Warteschlange einreihen!“
„Sire, wenn Ihr bitte stillhalten könntet...“
„Ich will nicht, dass Ihr Eure wertvollen Heilkünste für einen unbedeutenden Schnitt vergeudet!“, bellte der Zwerg. „Warum...“
Die Erde bebte erneut. Dieses Mal hatte Anguin das Gefühl, auf einem bockenden Pferd das Gleichgewicht halten zu müssen. Er stürzte hart auf den gefrorenen Boden. Wütend und wild rumpelte es unter ihm. Schützend legte er die Hände um seinen Kopf, hielt den Atem an und wartete darauf, dass das Beben nachließ. Überall um ihn herum hörte er Schreie, hoch und erschreckt, und ein dumpfes, knackendes Geräusch. Anduin kämpfte gegen die Angst an, während er die Augen fest zukniff und zum Licht betete. So etwas hatte er nicht erwartet. Das erste Beben hatte er gut überstanden, doch nun schien ihn die Vernunft verlassen zu haben. Er wurde sich bewusst, dass sich unter die Schreie, die überall erklangen, auch seine eigenen mischten.
Etwas Warmes und Beruhigendes erfasste ihn, und er spürte die vertraute Berührung durch das Licht. Der Druck auf seiner Brust schwand plötzlich, und er konnte wieder frei atmen. Die Erde hob sich noch immer unter ihm, doch er konnte jetzt wieder klar denken und war in der Lage, seine Gefühle zu kontrollieren, und nicht umgekehrt. Auch die anderen schienen ruhiger zu werden. Das schreckliche Geräusch der Schreie mischte sich nicht mehr mit dem Grummeln der bebenden Erde.
Es schien ewig zu dauern, doch irgendwann klang das Nachbeben ab. Anduin hob vorsichtig den Kopf. Sein Atem kondensierte in der kalten Luft, als er sich umsah. Die Gnomenfrau und ihre Kinder waren in Ordnung. Dasselbe galt auch für den mürrischen Zwerg und die Elfe, obwohl beide kreidebleich vor Schreck und Angst waren. Wo war... ah... da war Rohan. Er musste es gewesen sein, der ihn und die anderen beruhigt hatte, indem er das Licht benutzte, um sie vor dem lähmenden Angriff der Angst zu schützen. Anduin legte die Hände auf die Erde und ertastete etwas Feuchtes. Eine schreckliche Sekunde lang dachte er, dass es Blut sei, doch es war braun und kalt. Was... Langsam erhob er sich auf die Beine und starrte auf die Flüssigkeit an seinen Händen. Vorsichtig roch er daran.
Es war... Bier.
Eine Sekunde lang schossen ihm alle möglichen Gedanken durch den Kopf, doch dann wurde ihm klar, was geschehen sein musste. Er wirbelte herum und sah mehrere zerbrochene Fässer und eine unheilvolle weiße Schicht, wo einst ein Gebäude gestanden hatte.
Die Brauerei Donnerbräu war eingestürzt, und der Schnee, der von dem hinter der Brauerei gelegenen Berg herabgerutscht war, hatte die Ruine zugedeckt.
„O Licht“, stöhnte Anduin. Diese Worte waren eine innige Bitte um Hilfe, als er auch schon zu laufen begann und nach einigen Sekunden dort ankam, wo einmal ein gemütliches Gasthaus gestanden hatte. Andere Zwerge traten zu ihm, riefen sich Ermutigungen zu, nahmen Schaufeln zur Hand und begannen zu graben. Auch ein Gnomenmagier eilte in seiner vor Erregung flatternden Robe herbei. „Keine Panik! Ich kann den Schnee schmelzen!“, rief er und bereitete sich darauf vor, seine Worte in die Tat umzusetzen.
„Nein!“, brüllte Anduin. „Ihr überflutet alles!“
Der Gnom mit seinem leuchtend roten Haar, das zu zwei Zöpfen geflochten war, schaute ihn an, nickte jedoch zustimmend, als er die Logik in Anduins Worten erkannte.
„Wind“, erklang eine sanfte Stimme. Eine elegante, langbeinige Draeneifrau trat vor und blickte Anduin an. Er fragte sich, wie es geschehen konnte, dass ein dreizehnjähriger Junge hier plötzlich das Kommando hatte, und dachte verzweifelt nach. Ja... richtig geleitet und kontrolliert konnte der Wind den Schnee wegblasen, ohne eine Gefahr für die in der Ruine Eingeschlossenen heraufzubeschwören. So konnten sie besser erkennen, wie viel Erde unter der weißen Decke lag.
„Äh... ja“, sagte er stotternd. „Aber seid vorsichtig!“
Die Draeneifrau schloss die Augen, bewegte ihre langen blauen Finger und schüttelte ihr blauschwarzes Haar. Trotz der Ernsthaftigkeit der Lage starrte Anduin sie einen Moment lang an, gefangen von ihrer Schönheit und Anmut. Der junge Prinz lief rot an und konzentrierte sich auf die Magie, die die Schamanin wirkte.
Er spürte einen leichten Schlag, und ein kleiner Umriss erschien. Er war fassförmig, erfüllt von einem gleißenden Licht, und Anduin wusste sofort, dass es ein Totem war – eine Methode der Schamanen, die Elemente zu kontaktieren, sie herbeizurufen und zu kontrollieren.
Strahlende Juwelen schienen umherzuwirbeln, und verschiedene Runen, die er nicht erkennen konnte, bewegten sich langsam im Kreis. Einen Augenblick später bildete sich ein kleiner Staubteufel, blauweiß und wirbelnd. Er wurde größer, als die Schamanin zu singen begann, und mit einer Bewegung ihrer Hand ließ sie ihn frei. Doch er bewegte sich nicht. Die Draenei öffnete die Augen. Sie war verwirrt und sagte etwas in einer Sprache, die Anduin nicht verstand. Der kleine Elementar, den sie gerufen hatte, gehorchte ihr jedoch noch immer nicht.
Die Verwirrung auf ihrem Gesicht schien sich in Furcht zu verwandeln. Sie sprach erneut, wobei ihre Stimme einen zunehmend flehenden Tonfall annahm, und schließlich bewegte das Totem sich vorwärts, wirbelte umher und blies den Schnee fort, so dass die Zuschauer einige Schritte zurücktreten mussten. Einige Augenblicke später war es vollbracht. Der Schnee war fort, und die grauen Steine, die einst das Dach der Brauerei gewesen waren, lagen vor ihnen. Der Elementar wirbelte auf der Stelle, immer schneller und schneller, bis er schließlich wieder verschwand. Aus dem Augenwinkel heraus sah Anduin, wie die junge Draenei eine zitternde Hand auf ihr Gesicht legte.
Die Menge strömte wieder vor, begierig, den Eingeschlossenen zu helfen. Anduin war unter ihnen.
„Wartet, wartet!“, brüllte Rohan. „Ruhe!“ Jeder gehorchte und starrte den Hohepriester an, der die Augen schloss und lauschte. Anduin hörte es nach einem Moment: ein schwaches Klopfen und Klirren. Jemand dort drinnen war noch am Leben. Nun erklang auch das Geräusch gedämpfter Stimmen, doch es war zu schwach, um es verstehen zu können.
„Verschwendet die Luft nicht!“, rief Rohan mit seiner tiefen Stimme. „Wir können euch hören und kommen zu euch!“
Die Leute gruben mit den Händen. Manche brachten Werkzeuge mit, um zu helfen. Wenig überraschend für Anduin, war Aerin in vorderster Reihe dabei, sich durch den Schutt zu wühlen. Ihre Arme bebten nach einiger Zeit vor Ermüdung, aber ihre Entschlossenheit war stärker als die Erschöpfung. Stein für Stein wurde der Schutt abgetragen, und einer nach dem anderen kamen staubige, verwundete Körper zum Vorschein. Rohan versuchte auch diejenigen zu heilen, die er nicht berühren konnte. Er konzentrierte sich, sein Blick war scharf und seine Bewegungen so schnell, dass sie sein Alter Lügen straften. Anduin spürte, wie Tränen in seine Augen traten, Tränen der Freude und Dankbarkeit für diesen Zwerg und die Segnungen des Lichts, als immer weitere Opfer des Erdbebens lebend und wohlbehalten geborgen wurden.
„Wie viele Stockwerke noch?“, fragte Anduin. Er machte einen Moment Pause, um sich die Stirn abzuwischen. Es war kalt, aber von der harten Arbeit schwitzte er heftig.
„Drei“, sagte ein Zwerg neben ihm.
„Nein, v-vier“, korrigierte ihn ein anderer. Es war Beim, der Brauereibesitzer, der ganz in der Nähe saß. Er hatte eine Decke über die Schultern geworfen und umfasste mit beiden Händen eine Tasse dampfenden Tees. Er zitterte, als er sprach. „Es gibt Räume tief u-unten für die Gäste, die über Nacht bleiben. Wir hatten aber heute keine Gäste, und ich g-glaube, dass niemand dort unten war.“
„Dank sei dem Licht für kleine Wunder“, murmelte Rohan. ..Drei Etagen, um die wir uns noch kümmern müssen.“
„Och, das ist keine so große Aufgabe“, spöttelte Aerin, obwohl die Müdigkeit auf ihrem Gesicht sie Lügen strafte. „Je schneller wir es wiederaufbauen, desto eher können wir wieder die Krüge mit dem guten alten Donnerbräu erheben!“
Beifall brandete auf, und zum ersten Mal, seit das Beben eingesetzt hatte, sah Anduin ein Lächeln auf einigen Gesichtern. Es lenkte ihn zwar nicht von der Notwendigkeit ab, sich um die Verwundeten zu kümmern, aber es löste die Spannung ein wenig, und die Arbeit ging leichter von der Hand.
Das, was einmal der erste Stock des Gebäudes gewesen war, war jetzt von den Trümmern, den Verletzten und, so schlimm es auch war, von einigen Leichen befreit. Wieder klopfte jemand rhythmisch, und wieder erleichterte dieses Geräusch die Leute. Mehrere Gnome waren die Ersten, die sich freiwillig durch einen kleinen Durchbruch in die Reste des nächsten Stockwerks zwängten. Sie hatten sich Seile um die Hüften gebunden, an denen sie zogen, um den oben Gebliebenen mitzuteilen, wie viele Überlebende es gab: drei. Das Loch wurde rasch erweitert, und noch während die anderen es freiräumten, sprangen Aerin und ein anderer Zwerg hinein.
Die Hoffnung war groß, und die Rettungsmaßnahmen verliefen reibungslos. Immer mehr Leute kamen, um ihre Hilfe anzubieten. Nahrung, heiße Getränke und Decken wurden herumgereicht. Schließlich blickte Anduin auf den noch immer schwebenden Rohan, der ihn bemerkte und ihm zunickte.
„Keine Angst, Junge, wir werden alles wiederaufbauen. Wir Zwerge sind hart im Nehmen, und das sind unsere Freunde, die Gnome, auch. Und glaub mir, die Brauerei wird das Erste sein, das wiederaufgebaut wird!“
Anduin lachte mit all den anderen und ging frohgemut zurück an die Arbeit. Es hatte wieder zu schneien begonnen, was nicht gerade hilfreich war. Er war durchnässt und fror, aber seine Arbeit half ihm, das auszublenden. Seine Finger waren zerkratzt und blutig. Er hätte Rohan bitten können, ihn mit einem schnellen Gebet zu heilen, doch er wusste, dass andere sich in weitaus schlimmerem Zustand befanden als er. Seine Finger würden sich schon wieder erholen. Die Verletzungen, die andere erlitten hatten, waren schwieriger zu...
Unvermittelt setzte ein weiteres Nachbeben ein. Anduin hatte kaum Zeit, um beiseitezuspringen, als sich der Boden unter ihm hob. Er landete hart auf dem Rücken, denn der Wind hatte ihn umgeweht, und er schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft. Schmerzhaft prasselten kleine Felsstücke auf ihn herab. Die Erde beendete schließlich ihr wütendes Beben, und zum gefühlten tausendsten Mal an diesem Tag stand Anduin auf, wischte sich das Blut aus den Augen und blickte zur Brauerei hinüber. Einen Augenblick lang weigerte er sich zu glauben, was er sah.
Es gab keine Brauerei mehr. Nichts mehr, nicht einmal die Ruine, die das vorhergehende Nachbeben zurückgelassen hatte. Nur ein schreckliches Loch klaffte im Boden. Staub stieg auf und vermischte sich mit dem friedlich fallenden Schnee.
Aerin. Rohan senkte sich herab und berührte den Stein, hielt sein Ohr daran und lauschte. Nach einigen Sekunden klopfte er erneut. Dann seufzte er, trat zurück und schüttelte langsam den Kopf.
Etwas in Anduin machte Klick.
„Nein!“, schrie er und stürmte vorwärts. Die Angst gab ihm neue Kraft. Er zwang seine kalten und steifen Finger, ihm zu gehorchen, als sie in den großen Steinhaufen griffen und einen Felsblock beiseiterollten, um sofort nach dem nächsten zu greifen. „Aerin!“, schrie er, und seine Stimme klang rau. „Aerin, halt aus, wir holen dich da raus!“
„Junge“, sagte eine freundliche Stimme.
In dem Tonfall schwang etwas mit, das er nicht anerkennen wollte. Er ignorierte Rohans Stimme und machte weiter. Er atmete hastig und flach. „Aerin, halt aus! Wir k-kommen!“
„Junge“, erklang Rohans Stimme erneut, diesmal beharrlicher. Anduin spürte eine Hand auf seiner Schulter und schüttelte sie ärgerlich ab. Aus verschwommenen Augen sah er den Priester an, sah die Anteilnahme und die Trauer auf dem alten Gesicht und wollte es nicht wahrhaben. Er blickte sich zu den Helfern um, die reglos dastanden. Einigen liefen Tränen über das Gesicht. Sie alle schauten fassungslos und schockiert drein.
„Niemand klopft“, wiederholte Rohan unerbittlich. „Es... ist vorbei. Niemand hätte das überleben können. Kommt mit, Junge. Ihr habt getan, was Ihr konntet, und noch viel mehr.“
„Nein!“, schrie Anduin, schlug mit den Armen um sich und verpasste Rohan nur knapp. „Das wisst Ihr nicht! Wir können nicht aufgeben! Sie antworten nicht, weil sie verwundet sind, vielleicht ohnmächtig. Wir müssen uns beeilen... müssen sie da rausholen... müssen sie da rausholen...“
Rohan stand stumm neben ihm und machte keinen weiteren Versuch, den jungen Menschenprinzen aufzuhalten. Anduins Tränen strömten über sein Gesicht. Stein um Stein bewegte er, bis seine schlanken Schultern vor glühendem Schmerz zu schreien schienen, seine Hände überall bluteten und taub wurden und sich auf den schneebedeckten Steinen verkrampften. Verzweifelt streckte Anduin eine Hand aus. Er versuchte, seine Freundin zu finden, doch die lag unter dem undurchdringlichen Stein eingeschlossen, den die Erde unbarmherzig hatte herniederkrachen lassen.
„Aerin“, flüsterte er, nur für ihre Ohren bestimmt, wo immer sie auch sein mochte. „Aerin... es tut mir leid... Es tut mir so unsäglich leid...“
Jetzt widersetzte er sich den sanften Händen nicht mehr, die über seinen erschöpften Körper fuhren und ihn hochhoben. Er akzeptierte sie, unfähig weiterzukämpfen. Sein Herz schmerzte, und sein Körper war zu ausgelaugt, um zu protestieren. Das Letzte, das er spürte, bevor die gnädige Ohnmacht ihn schließlich umfing, war die sanfte Berührung der knorrigen Hände auf seinem Herzen und seiner Stirn. Und die gütige Stimme Rohans, der ihm befahl, sich auszuruhen, auszuruhen und zu heilen.
Das Letzte, was er in seinem Geiste sah, war ein fröhliches, von braunem Haar eingerahmtes Zwergengesicht, das lächelte, wie Aerin es immer getan hatte und in seinem Herzen immer tun würde.
Magni wirkte älter, als Anduin ihn jemals erlebt hatte.
In den zwei Tagen seit dem Unglück bei der Brauerei hatte Anduin lernen müssen, dass die Opfer von Kharanos sehr viele Leidensgenossen hatten. Das Beben war nicht auf einen Ort begrenzt gewesen, sondern hatte die Städte in ganz Khaz Modan erschüttert. Ein Teil des Hafens von Menethil lag nun auf dem Grund des Ozeans, und viele Ausgrabungsstellen von Uldaman bis Loch Modan waren zumindest teilweise verschüttet worden. Das Beben hatte sich von einem lokalen Zwischenfall zu einer nationalen Krise ausgewachsen.
Die Tragödie hatte den Zwergenkönig altern lassen, aber es lag eine Zielstrebigkeit in seinem Blick, die jedem, der in seine Augen schaute, signalisierte, dass Magni Bronzebart nicht aufgeben würde. Er blickte auf, als Anduin den Hohen Sitz betrat, und winkte ihn zu sich. Diesmal jedoch nicht mit der Freundlichkeit, die er bei anderen Gelegenheiten gezeigt hatte, sondern eher befehlend. Anduin eilte an die Seite des Königs.
„Ich will nicht überstürzt handeln“, begann Magni, „aber beim Licht, jetzt wünschte ich, ich hätte schneller gehandelt. Wir hätten all diese Leben retten können. Auch Aerin.“
Anduin schluckte schwer. Am Vortag war ein Gottesdienst für die Toten von Khaz Modan gehalten worden, der für Anduin schwerer zu ertragen gewesen war als der in Sturmwind. Bei diesem hatte man sich an viele Tausend Gefallene erinnert, deren Leben über einen langen Zeitraum hinweg ausgelöscht worden waren. Anduin hatte den Tod seines Freundes Bolvar Fordragon betrauert, doch der war bereits viele Monate her. Der Verlust von Aerin war neu und schwer zu ertragen. Es tat so unglaublich weh... Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf Magnis Worte.
„Ich... verstehe nicht“, sagte er. „Geht es um die Tafel?“
„Aye“, sagte Magni. „Ich habe die Übersetzer angetrieben, und sie sind sich recht sicher, dass sie nun wissen, was darauf steht. Lass es mich dir vorlesen.“ Er räusperte sich und beugte sich vor. Seine Augen flackerten über den merkwürdigen Buchstaben, und seine Stimme nahm einen tieferen Klang an, als er laut und feierlich die archaisch klingenden Worte las.
„ Und hier ist das Warum und das Wie, um wieder eins mit dem Berg zu werden. Denn sieh, wir sind die Irdenen, die dem Land entstammen, und seine Seele ist die unsere, seine Qual ist die unsere, sein Herzschlag ist der unsere. Wir singen sein Lied und weinen ob seiner Schönheit. Wer wollte nicht heimkehren ? Das ist das Warum, o Kinder der Erde.
Hier ist das Wie. Geht zum Herzen der Erde. Sucht diese drei Kräuter: Bergsilbersal bei, schwarzer Lotus und Geisterpilze. Mit einer Prise der Erde, die sie nährte, trinkt den Saft. Sprecht diese Worte mit lauterer Absicht, und der Berg wird antworten. So werdet ihr werden, was ihr einst wart. Ihr sollt heimkehren, und ihr sollt eins mit den Bergen werden.“
Magni sah Anduin mit seinem durchdringenden Blick an. „Verstehst du das?“
Anduin dachte kurz nach. „Ich... glaube ja... Dieser... dieser Ritus lässt Euch mit Azeroth selbst sprechen?“
„Ja, es scheint so. Und wenn wir mit Azeroth selbst sprechen, dann können wir fragen, was mit diesem verdammten Nether los ist, und Hilfe finden, einen Weg, um es zu heilen. Vielleicht gibt es dann diese unnatürlichen Fluten nicht mehr, die Dürren und die Erdbeben. Anduin... hier geht es um mehr als simple Felseinstürze. Etwas Großes geschieht gerade. Wusstest du, dass auch aus weit entfernten Gegenden von Beben berichtet wird? Sogar aus Teldrassil!“
„Das... kann nicht möglich sein... Oder doch?“
Magni schüttelte den Kopf. „Normalerweise nicht. So funktionieren solche Dinge nicht... Zumindest nicht auf natürliche Weise.“
Anduin schwieg einen Moment und dachte nach. „Sind einige dieser Kräuter nicht giftig?“
„Deshalb wollen sie ja, dass man sie mit der Erde trinkt“, sagte Magni. „Manche Böden neutralisieren bestimmte Gifte. Keine Angst, ich habe das mit den besten Kräuterkundigen von Eisenschmiede besprochen. Ich habe keine Lust, dabei vornüberzukippen und mir an die Kehle zu fassen.“
Anduin starrte ihn an. „Ihr? Ihr wollt das selbst ausprobieren? Das klingt eher danach, als ob es ein Schamane tun sollte.“
„Nein, Junge. Mein Reich ist am schlimmsten von diesen Naturkatastrophen betroffen. Die Zwerge leiden am meisten, und ich führe sie an. Wir sind die Kinder der Titanen, Anduin. Wir entstammen der Erde mehr als jedes andere Volk. Deshalb ist es nur recht und billig, dass ich das tue. Und was für ein König wäre ich, wenn ich die anderen den Gefahren des Unbekannten aussetze, während ich mich feige in Sicherheit befinde? So geht das nicht bei uns Zwergen, Junge.“
„Genauso wenig wie bei meinem Vater“, sagte Anduin und erkannte die Wahrheit seiner Worte, noch während er sie aussprach.
„Nein, Varians Art wäre das sicher nicht“, stimmte Magni zu. „Nun, die Gelehrten sind der Meinung, dass dieses Ritual auch hier in Eisenschmiede seine Wirkung entfalten sollte. Ich muss nur so tief hinunter, wie ich kann, bis zum Herzen der Erde.“ Er lächelte Anduin an. „Nicht jeder kennt unsere geheimen Orte, aber ich glaube, dir kann ich vertrauen. Du hast ein tapferes Herz, Anduin, auch wenn du rappeldürr bist und viel zu feinfühlig, ein richtiger Menschengrünschnabel.“
Anduin lächelte. Dabei hatte er sich noch vor zwei Tagen gefragt, ob er das je wieder könnte. Aerin wäre die Erste, die ihn dafür getadelt hätte, ein solch trauriger Zeitgenosse zu sein. „Aerin versprach, mich zu einem Zwerg zu machen“, sagte er. Seine Stimme fing sich ein wenig, klang jedoch noch immer überraschend brüchig.
„Ah“, sagte Magni und schenkte ihm ein trauriges Lächeln. „Das ist ihr, nach dem, was ich hier vor mir sehe, bereits gelungen.“
Anduin schluckte erneut.
„Nun“, sagte Magni, „ich habe nach einigen Kräuterkundigen geschickt, um die notwendigen Zutaten zu besorgen. Morgen früh sollte alles bereit sein.“
„So bald schon?“
„Aye, je eher, desto besser, denke ich. Azeroth sollte beginnen, mit mir zu reden, damit ich mich darum kümmern kann. Meinst du nicht?“
Anduin nickte. Das Licht allein wusste, ob es noch weitere Nachbeben geben würde.
Anduin wollte zurück in seine Räume gehen, doch stattdessen trugen ihn seine Füße zur Halle der Mysterien. Er hatte sie in den vergangenen beiden Tagen gemieden. Aus irgendeinem Grund wollte er Rohan nicht wiedersehen, aber er konnte nicht sagen, warum. Vielleicht, weil er spürte, dass er in den Augen des Hohepriesters versagt hatte, oder weil er so wütend auf Rohan gewesen war, der ihn vom Ort der Katastrophe weggeholt hatte. Doch nun stand er vor der Halle, atmete tief durch und ging hinein. Wie immer spendete das Licht ihm Trost. Dennoch wollte er mit niemandem sprechen und stieg in die obere Etage hinauf, wo sich für gewöhnlich weniger Leute aufhielten. Plötzlich hörte er eine sanfte Stimme und zuckte leicht zusammen, als er Rohan erkannte. Er hielt die Augen geschlossen, sein Kopf war gebeugt, und er hoffte, dass der Zwerg ihn nicht bemerken würde. Er hörte Schritte näher kommen, die plötzlich stehen blieben. Eine Hand legte sich sanft auf seine Schulter.
Anduin spürte eine wohlige Wärme durch seinen Körper strömen. Leise sagte Rohan: „Ihr seid ein guter Junge, Anduin Liane Wrynn. Ihr habt ein gutes Herz. Und wenn es bricht, wird es wieder heilen.“
Als der Zwerg sich zurückzog, erkannte Anduin, dass er keine Magie benutzt hatte. Aber dennoch fühlte er sich besser. Heilen, so schien es, konnte auf vielerlei Arten erfolgen.
Als er in sein Zimmer zurückkam, fand er Wyll vor, der mit einer Botschaft von Magni auf ihn wartete. Er bat Anduin darum, in seine Gemächer zu kommen. Der Prinz war verwirrt, machte sich jedoch augenblicklich auf den Weg.
Magni wartete bereits auf ihn. Der Raum, in dem er Anduin empfing, war überraschend klein, gemütlich und sehr zwergenmäßig – ganz anders als die großen, luftigen Räume der Menschen. Eine Kohlenpfanne glomm fröhlich vor sich hin, und der Tisch war reich gedeckt mit einfachen, aber herzhaften Speisen. Anduins Magen knurrte hörbar, und ihm wurde bewusst, dass er schon seit Stunden nichts mehr gegessen hatte. Seit Aerins Tod hatte er keinen großen Appetit gehabt. Doch als er jetzt das geröstete Fleisch, die Früchte, das Brot und den Käse erblickte, schien sein Hunger mit aller Kraft zurückzukehren. Das Leben ging offensichtlich weiter. Sein Körper hatte Bedürfnisse, die befriedigt werden mussten, auch wenn, wie Rohan es genannt hatte, das Herz gebrochen war.
„Komm herein, Junge“, empfing Magni ihn. „Nimm dir einen Stuhl und greif zu.“ Magnis Teller war bereits mit allen möglichen Leckereien vollgepackt. Anduin tat, wie ihm geheißen und genoss das gegrillte Lamm, den Dalarankäse und die Trauben.
„Ich wollte vor dem Ritual morgen ein paar Worte mit dir wechseln“, sagte Magni, griff nach seinem Krug und nahm einen großen Schluck Bier. „Nach dem Hauptbeben hatte ich ein kurzes Gespräch mit Aerin.“
Der Bissen blieb Anduin im Hals stecken. Er griff nach seinem Glas mit Saft, um das plötzlich völlig geschmacklose Essen herunterzuspülen.
„Sie sagte, sie hätte nie jemanden erlebt, der sich mehr angestrengt hat, und sie hat schon so manchen Krieger ausgebildet. Aber sie sagte auch, dass Waffen dir nicht gerade liegen. Dir fehlt das richtige Gefühl dafür.“
Der Menschenprinz spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. Hatte er Aerin so sehr enttäuscht?
„Und da sie ein schlaues Mädchen ist... war..., erkannte Aerin einen geborenen Krieger, wenn sie einen sah. Und ebenso jemanden, der nicht dazu geboren war.“
Der König biss in einen saftigen Apfel, kaute und beobachtete Anduins Reaktion. Der Junge legte das Messer und die Gabel nieder und wartete darauf zu hören, was Magni zu sagen hatte. Ohne Zweifel etwas Nettes, aber Geringschätziges, etwas, das so klang, als hätte Anduin ihn nicht enttäuscht.
„Ich habe auch mit Rohan gesprochen“, fuhr Magni fort. „Wenn man seine schrecklichen Witze erträgt, wird man gewahr, dass in dem Kerl viel Weisheit steckt. Er konnte mir gar nicht genug von dir erzählen und davon, wie du dich nach jedem Treffen mit ihm verbessert hast. Wie du dich verpflichtet fühltest, den Verletzten zu helfen. Wie lange du über den Punkt hinaus gearbeitet hast, an dem du vor Erschöpfung hättest aufhören sollen.“ Er nahm einen weiteren langen Zug aus seinem Krug, dann setzte er ihn ab und wandte sich wieder Anduin zu. „Junge, hast du je darüber nachgedacht, dass du nicht für das Leben als Krieger geschaffen bist und es etwas anderes gibt, das du tun solltest?“
Anduin starrte auf seinen Teller. Da er von Aerin erfahren hatte, wie sehr Magni sich einen Sohn gewünscht hatte und keine Tochter, war er sich nicht sicher, wie der Zwergenkönig die Meinung seines Vaters zu dieser Sache aufnehmen würde. Schließlich sagte er ehrlich und offen: „Mein Vater will, dass ich ein Krieger werde. Ich habe stets gewusst, dass er sich das in seinem Herzen wünscht.“
Magni legte eine Hand auf Anduins Schulter. „Ach, das ist vielleicht sein Wunsch, weil er selbst ein Krieger ist. Aber dein Vater ist ein guter Mann. Letztlich will er nur, dass du das Richtige für dich und das Königreich tust. Es ist keine Schande zu heilen, Junge, das Licht zu lieben, die Leute zu begeistern und ihnen Hoffnung zu geben. Nichts davon ist falsch. Das ist für dein Königreich ebenso wichtig wie das Kämpfen.“
Anduin spürte einen Schauder, der keineswegs unangenehm war. Ganz im Gegenteil, es war beinahe ein Aufleuchten – ein Aufleuchten der Erkenntnis. Es hinterließ eine merkwürdige Ruhe und Zufriedenheit. Ein Priester sollte er sein, jemand, der mit dem Licht arbeitete, der heilte, nicht verletzte, jemand, der andere begeisterte, indem er ihnen Klarheit schenkte und sie dazu brachte, ihr Bestes zu geben, statt düstere Gefühle in ihnen wachzurufen. Er dachte über den Frieden nach, der ihn stets umgab, wenn er eine Kathedrale oder das Mystikerviertel in Eisenschmiede besuchte. Das Verlangen nach diesem Frieden zehrte an seiner Seele. Es fühlte sich beinahe an wie eine Heimkehr, als er den Zwergenkönig so sprechen hörte. Anduin sah Magni an, und sein Blick suchte den des mächtigen Kriegers und großen Königs.
„Glaubt... glaubt Ihr das wirklich?“
„Aye, das tue ich. Und solange wir einen anderen Kampflehrer für dich suchen, wäre ich sehr erfreut, wenn du in aller Ruhe mit Hohepriester Rohan sprichst.“
Anduin wollte keinen anderen Kampflehrer. Er wollte Aerin, fröhlich und pragmatisch und geradeheraus. Aber er nickte. „Das werde ich, Sire.“
„Gut!“ Sie beendeten ihr Mahl und sprachen noch ein wenig miteinander. Als die letzte Traube in Anduins Mund verschwunden und der letzte Tropfen Bier von Magni getrunken worden war, klopfte der Zwerg auf seinen Bauch und lächelte den Menschenprinzen an. „Nun denn, wir sollten zu Bett gehen. Doch vorher habe ich noch etwas für dich.“
Er erhob sich von seinem Stuhl und ging zu einer alten Kiste hinüber. Anduin folgte ihm neugierig. Der Deckel knarrte protestierend, als Magni ihn öffnete. In dem Behältnis lagen mehrere mit Stoff bedeckte Gegenstände, deren Umrisse Anduin zu der Vermutung veranlassten, es könne sich um Waffen handeln. Magni nahm einen von ihnen und hob ihn heraus. Sorgfältig packte er ihn aus.
Es war tatsächlich eine Waffe, ein Stab. Er leuchtete wie der helle Tag, obwohl er schon sehr alt sein musste. Der Knauf war silbern und mit sich überkreuzenden Bändern aus Gold bestückt, in die Runen eingraviert waren. Kleine Edelsteine funkelten hier Lind dort. Es war ein eleganter Stab von großer Schönheit und Macht.
„Dies“, sagte Magni belehrend, „ist Furchtbrecher. Die Waffe ist bereits mehrere Hundert Jahre alt. Dieser Stab wurde durch die Bronzebartlinie weitervererbt. Er hat schon Schlachten in der Scherbenwelt und hier in Azeroth erlebt, er hat Blut geschmeckt, und in manchen Händen, so ist es überliefert, hat er auch schon Blutungen gestillt. Hier, nimm ihn. Halte ihn in der Hand. Sehen wir, ob der Stab dich mag.“
Mehr als nur ein wenig eingeschüchtert – die Waffe war groß für jemanden, der so schmächtig gebaut war wie er – streckte Anduin eine Hand aus und griff den Schaft des Stabes. Sofort spürte er eine kühle Ruhe, die von der Waffe in seine Hand überging. Von dort aus breitete sie sich über seinen ganzen Körper aus. Er atmete tief ein und ließ den Atem wieder entweichen. Dabei spürte er, dass sein Körper – der schon so lange physisch und emotional angespannt war – sich deutlich entspannte. Die Unsicherheit und die Sorge waren nicht verschwunden, doch wurden sie durch die Berührung Furchtbrechers zurückgedrängt.
Als er den Mund öffnete, um Magni seine Gefühle kundzutun, hätte er schwören können, dass die Waffe leicht glühte.
„Wie ich vermutet hatte“, sagte Magni. „Er mag dich.“
„Er... lebt?“
„Nein, nein, mein Junge, aber du weißt so gut wie ich, so gut wie jedermann, der eine Waffe führt, dass sie ihre Vorlieben und Abneigungen haben, genauso wie wir auch. Zuweilen sind sie pinge lig. Ich dachte mir, dass du und Furchtbrecher gut zusammenpasst. Er gehört dir.“
Anduin schaute den König mit offenem Mund an. „Ich... ich kann unmöglich...“
„Oh, aye, du kannst und du wirst. Furchtbrecher liegt hier schon seit einiger Zeit herum und wartet auf die richtige Hand, die ihn führt. Du magst kein Waffenträger wie dein Vater sein, aber du kannst einen guten Kampf bestreiten. Furchtbrecher beweist das. Mach weiter, Junge. Wenn jemals eine Sache für jemanden gemacht wurde, dann diese Waffe für dich.“
Anduin blinzelte. Er weinte schnell dieser Tage, doch als er den wunderschön gefertigten Stab in seinen Händen hielt, schämte er sich dieses spontanen Gefühls nicht. Furchtbrecher. Das hatte Rohan für ihn getan, als er in Panik verfallen war: die Angst gebrochen, sein Bestes hervorgebracht. „Danke. Ich werde ihn stets in Ehren halten.“
„Natürlich wirst du das. Nun aber ab ins Bett mit dir, Junge. Ich muss noch einige Vorbereitungen treffen, dann begebe auch ich mich zur Ruhe. Man braucht eine Mütze voll Schlaf, wenn man ein langes Gespräch mit der eigenen Welt führen will, nicht wahr?“ Anduin lachte. Er verließ Magnis Gemächer weder fröhlich noch glücklich, sondern ausgesöhnt mit den Geschehnissen der vergangenen Tage. Er legte die wertvolle Waffe auf den Nachttisch neben seinem Bett, und nachdem er die Kerze gelöscht hatte, strahlte der Stab in der Dunkelheit des Raums einen kaum sichtbaren Glanz aus. Als Anduin in den Schlaf hinüberglitt, fragte er sich, ob es verrückt war zu glauben, der Stab wache über ihn.
Anduin erkannte, dass Magnis Lob ernst gemeint gewesen war. Er war tatsächlich der einzige Mensch – sogar die einzige Person, die kein Zwerg oder Gnom war –, der an dem Ritual im Hohen Sitz teilnahm. Magni trug seine festlichste Rüstung. Fort war der onkelhafte Zwerg, den Anduin so sehr mochte. Heute würde sich Magni ganz seinem Volk widmen, und jeder Zoll an ihm, so klein er auf Anduin auch wirken mochte, war ein König. Anduin hatte ebenfalls die besten Sachen angezogen, die er mitgebracht hatte, fühlte sich aber dennoch fehl am Platze. Glücklicherweise kannte er viele der Zwerge.
Eine Person jedoch war nicht anwesend. Er vermisste sie auf schmerzliche Weise und fragte sich, was sie von alldem gehalten hätte. Was hätte Aerin darüber gedacht? Hätte sie es als abergläubischen Unfug abgetan oder als eine vernünftige Methode angesehen, an die dringend benötigten Informationen zu kommen? Er würde es nie erfahren.
Magnis Blick glitt über die Versammlung. Es waren nicht viele – Hohepriester Rohan, einige Kräuterkundige, Hochforscher Magellas und Berater Beigrum von der Forscherliga. „Ich wünschte, meine Brüder wären hier“, sagte Magni ruhig. „Aber es blieb keine Zeit, um sie zu benachrichtigen. Kommt, lasst uns gehen. Jeder Augenblick, den wir verstreichen lassen, verstört das arme Azeroth noch mehr.“
Ohne ein weiteres Wort ging er auf eine große Tür am Eingang des Hohen Sitzes zu. Anduin hatte diese Tür schon früher bemerkt, sich jedoch nie nach ihr erkundigt. Auch hatte niemand sie je erwähnt. Magni nickte, und zwei Diener traten vor, die gemeinsam einen großen Schlüssel in ihren Händen hielten. Ein weiterer Diener brachte eine hohe Leiter herbei. Die Tür war derart riesig, dass selbst der etwas größere Anduin nicht an das Schloss herangekommen wäre. Die Zwerge kletterten vorsichtig auf die Leiter und brachten den Schlüssel in Position. Gemeinsam drehten sie ihn um. Er bewegte sich mit einem lauten Knarren, und das Schloss öffnete sich gut hörbar. Die Zwerge kletterten die Leiter wieder hinunter und trugen sie fort.
Einen Moment lang geschah nichts, doch dann schwang die Tür langsam von selbst in Richtung der Zuschauer auf. Eine gähnende Finsternis wurde sichtbar.
Die beiden Diener, die die Tür geöffnet hatten, legten den Schlüssel beiseite und gingen der kleinen Prozession voraus. Sie entzündeten Fackeln entlang des Wegs, der nach und nach abwärts führte. Die Luft war kühl und feucht, roch jedoch nicht abgestanden. Anduin erkannte, dass es unter Eisenschmiede große unterhöhlte Bereiche geben musste.
Schweigend folgten sie dem Gang, der immer weiter in die Tiefe führte. Er war völlig gerade angelegt, ohne jede Biegung. Einer der Diener ging ein Stück voraus, und als sie das Ende des Gangs erreicht hatten, glühte dort bereits eine Kohlenpfanne. Anduin keuchte überrascht, als er sah, dass der Gang in einer großen Höhle mündete.
Er hatte einen weiteren Gang erwartet, doch was er jetzt erblickte, erschreckte ihn. Unter seinen Füßen lag eine Plattform, von der aus zwei Wege abzweigten. Der erste bestand aus einer Treppe, die nach oben führte und deren Stufen mit einem überraschend neu aussehenden Teppich bedeckt waren. Der zweite verlief nach unten und bestand aus glattem, schmucklosem Stein. Was Anduin jedoch den Atem raubte, war das, was er an den Wänden und der Decke über ihnen sah.
Klare, leuchtende Kristalle ragten dort hervor. Sie fingen das Licht der Kohlenpfanne und der Fackeln ein, die von den Dienern getragen wurden. Obwohl Anduin wusste, dass er sich das nur einbildete, schienen die Kristalle zu blinken und ein reines weißes Licht abzugeben.
„Die Kristalle... sie sind so wunderbar“, sagte er leise zu Rohan, der neben ihm herging.
Der Priester lachte. „Kristalle? Junge, das sind keine Kristalle. Das sind Diamanten.“
Anduins Augen weiteten sich, und er legte den Kopf in den Nacken, um die leuchtende Decke mit großer Neugier und noch größerem Respekt zu betrachten.
Magni ging zielgerichtet zu den Stufen auf der breiten Plattform zu, die groß genug war, dass die ganze Gruppe darauf Platz finden konnte. Er drehte sich zu ihnen um und nickte erwartungsvoll.
„Ich glaube, es ist kein Zufall, dass wir eine Tafel, deren Informationen uns sehr nützlich sein könnten, genau zu dem Zeitpunkt entdeckt haben, an dem wir sie brauchen“, sagte er. Seine Stimme hallte durch die Höhle. „Fast alle hier Anwesenden haben vor drei Tagen jemanden verloren, den er oder sie geliebt hat. Berichte von überall her künden davon, dass momentan etwas völlig schiefläuft. Die Erde ist verletzt, und sie bebt... schreit um Hilfe. Wir sind Zwerge und entstammen der Erde. Ich habe Vertrauen in das Wort der Irdenen und glaube an das, was ich hier tue. Dieser Ritus, der unaussprechlich alt ist, wird mich diese arme, geschundene Welt retten lassen. Bei meinem Blut und meinen Knochen, bei der Erde und dem Stein, dann soll es so geschehen.“
Anduins Nackenhaare richteten sich auf. Obwohl Magnis Rede spontan erfolgt war, raubte ihm etwas daran den Atem. Er hatte das Gefühl, geradewegs in das Herz der Erde hinabgestiegen zu sein, und genauso stieg er in dieses Ritual hinab, das so tief und unergründlich war.
Beigrum, eine Schriftrolle in der Hand, trat vor. Magellas stand neben ihm, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Neben den beiden befand sich Reyna Steinzweig, eine Kräuterkundige, die zum Volk der Zwerge gehörte und ein kristallenes Fläschchen mit einer dunklen Flüssigkeit bereithielt. Beigrum räusperte sich und sprach in einer merkwürdigen Sprache, die hart klang und Anduin erschaudern ließ. Es schien kälter zu werden hier drinnen.
Nach jedem Satz flüsterte Magellas die Übersetzung in Anduins Ohr. Der junge Prinz erinnerte sich daran, dass Magni ihm dieselben Sätze bereits vorgelesen hatte.
„Und hier ist das Warum und das Wie, um wieder eins mit dem Berg zu werden“, intonierte Beigrum. „Denn sieh, wir sind die Irdenen dieses Landes, und seine Seele ist die unsere, seine Qual ist die unsere, sein Herzschlag ist der unsere. Wir singen sein Lied, weinen ob seiner Schönheit. Wer wollte nicht heimkehren? Das ist das Warum, o Kinder der Erde.“
Heimkehren. Azeroth war wirklich die Heimat von ihnen allen, dachte Anduin, als Beigrum mit den genauen Anweisungen fortfuhr, wie man den Trank zubereiten musste. Seine Heimat lag nicht in Sturmwind, auch nicht bei seinem Vater oder Tante Jaina. Die Heimat war dieses Land, diese Welt. Genau hier, sie standen mitten im „Herzen der Erde“, umgeben von Diamanten und Stein, die ihnen Schutz boten, statt bedrückend zu wirken. Magni würde zum verwundeten Azeroth sprechen und herausfinden, wie man es am besten heilen konnte. Es war wahrlich ein vornehmes Ziel.
„ Mit einer Prise der Erde, die sie nährte, trink den Saft. Sprich diese Worte mit lauterer Absicht, und der Berg wird antworten. So werdet ihr werden, was ihr einst wart. Ihr sollt heimkehren, und ihr sollt eins mit den Bergen werden.“
Reyna trat nun vor und gab Magni das dunkle Elixier. Ohne zu zögern, nahm der Zwergenkönig das Fläschchen an sich, hob es an die Lippen und trank es aus. Er wischte sich die Lippen ab und gab es Reyna zurück
Magellas überreichte ihm nun eine Schriftrolle. Ein wenig stockender als Beigrum las Magni laut in der alten Sprache, während Magellas wieder für Anduin übersetzte.
„In mir ist die Erde selbst. Wir sind eins. Ich bin darin und sie in mir. Ich höre auf die Antwort, der Berge.“
Magni gab die Schriftrolle zurück und breitete flehentlich seine Arme aus. Er schloss die Augen, konzentrierte sich und runzelte tue Stirn.
Was nun geschehen würde, wusste niemand. Würde der Berg plötzlich zu sprechen beginnen? Wenn ja, wie würde seine Stimme klingen? Würde er nur zu Magni sprechen, und was würde dieser hören? Konnte Magni zu dem Berg sprechen? Würde...
Magni riss verwundert die Augen auf, und sein Mund verzog sich zu einem sanften Lächeln. „Ich... ich kann hören...“ Er hob seine Hände an die Schläfen. „Die Stimmen sind in meinem Kopf. Es sind sehr viele.“ Er kicherte leise, und sein Gesicht drückte fassungslose Freude und Triumph aus. „Es ist nicht nur eine Stimme. Es sind... Dutzende, vielleicht Hunderte. Alle Stimmen der Erde!“
Anduin erschauderte, doch seine Lippen bildeten ein Lächeln. Magni hatte recht! Auch Anduin konnte die Erde nun hören. Es war so verwirrend, mit ihr zu sprechen.
„Kannst du mich verstehen?“, fragte Beigrum aufgeregt. „Was sagen sie denn?“
Plötzlich warf Magni den Kopf zurück und krümmte sich zusammen. Er schien zurücktaumeln zu wollen, doch seine Füße waren wie festgewachsen. Nein, nicht festgewachsen... Anduin erkannte, dass Magnis schwarze Stiefel beinahe durchsichtig wurden, als wären sie aus Glas gefertigt... oder Kristall... oder Diamant...
Eins mit dem Berg werden...
Nein, oh nein, das durfte nicht sein...
Dann zuckten Magnis Beine, und eine Ausbuchtung aus transparentem Stein bildete sich darüber. Wie ein lebendiger Brei bewegte die Masse sich an seinen Beinen empor und dann an seinem Leib. Mit einem ächzenden Knirschen bildete sie hier und dort Spitzen und lange Kristall Speere aus, als sei Magni Bronzebart selbst ein Kristall, der Ableger schuf. Magni öffnete den Mund zu einem langen, durchdringenden Schrei, hob die Arme hoch über seinen Kopf und ballte die Fäuste. Diamantener Schlamm umgab die Fäuste, schoss hervor, umschloss den Körper des Königs.
Magni schrie noch immer voller Furcht. Der klare flüssige Stein drang in seinen Mund ein, ließ ihn mitten im Schrei verstummen und härtete so schnell aus, dass der Zwergenkönig keine Zeit mehr hatte, die Augen zu schließen.
Alle starrten mit offenem Mund auf Magni. Als das markerschütternde Geräusch von den diamantenen Wänden der Höhle widerhallte wie kein Schmerzens- oder Schreckensschrei je zuvor, fiel die Erstarrung von ihnen ab.
Rohan begann, heilende Zauber zu wirken. Magellas und Beigrum stürmten vor, zerrten mit aller Kraft an Magnis Armen und versuchten erfolglos, ihn fortzuzerren. Alles war viel zu rasch geschehen. Es war zu spät. Das Echo des Schreis verklang. Magni schien in Stein verwandelt worden und darin eingeschlossen zu sein. Sein Kopf war zurückgeworfen, die Arme ausgestreckt, die Sehnen an seinem Nacken standen hervor, und die Hände waren fest ineinander verschränkt. Bizarre scharfkantige Kristalle glitzerten auf ihm.
Anduin unterbrach die entsetzliche Stille. „Ist er... Könnt Ihr...“
Rohan trat nahe an Magni heran, legte eine Hand auf den Arm des Königs und schloss die Augen. Eine einzelne Träne trat unter seinen geschlossenen Lidern hervor, als er schließlich schweigend den Kopf schüttelte.
Anduin starrte ihn an. Unglaube durchfuhr ihn, derselbe Unglaube, der ihn erfasst hatte, nachdem das Land gebebt und Aerin unter dem tonnenschweren Gewicht des Gesteins zerschmettert worden war. Unmöglich... Das war unmöglich!
Er wandte seinen Blick Magellas zu, der ebenso bestürzt dreinschaute wie er.
„Ich war sicher“, murmelte Magellas, „dass es nicht wörtlich gemeint war... Wir haben jede einzelne Quelle überprüft...“
„Ihr meint, es hat funktioniert! Das Ritual sollte so ablaufen?“, schrie Anduin. Seine Stimme brach vor Schreck und aufgrund des Schocks.
„Nicht wörtlich“, sagte Magellas und schien von Panik erfüllt. „Aber wir... wir h-haben es korrekt ausgeführt...“
Anduin konnte nicht anders und sprang vorwärts. Mit einem Schrei packte er den Zeremoniendolch, und bevor einer der Anwesenden etwas unternehmen konnte, hatte er die Gestalt des versteinerten Königs an der Schulter erwischt. Der Dolch zerbrach, eine Hälfte wirbelte davon. Der Aufprall erschütterte Anduins Hand, und er ließ den Rest des Dolchs fallen. Er fasste sich an die schmerzende Hand und blickte vor sich hin.
Nicht ein einziger Kratzer war zu sehen. Magni hatte sich in eines der härtesten Materialien auf der Welt verwandelt.
Anduin starrte auf den diamantenen Brocken, der einst ein lebendiger, gesunder Zwerg gewesen war. Einige Worte des Rituals fielen ihm wieder ein. „Denn sieh, wir sind die Irdenen, die dem Land entstammen... Wer wollte nicht heimkehren?...So werdet ihr werden, was ihr einst wart. Ihr sollt heimkehren, und ihr sollt eins mit den Bergen werden.“
Die Zwerge waren Abkömmlinge der Titanen. Magni war geworden, was sie einst gewesen waren, und hatte dafür mit seinem Leben bezahlt. „Er ist heimgekehrt“, flüsterte Anduin mit vor Kummer belegter Stimme. Tränen stiegen in seine Augen und ließen den Anblick Magni Bronzebarts verschwimmen. Als der Fackelschein von der Statue reflektiert wurde, sah Anduin nur das wunderschön gebrochene Licht, das vor seinen Augen tanzte.
Er blinzelte, schluckte, und Tränen rannen ihm über die Wangen. Der freundliche Zwerg hatte nur das Beste für sein Volk erreichen, mit der verwundeten Welt sprechen und ihr helfen, sie heilen wollen. Um dieses Ziel zu erreichen, war er für seine Welt verloren gegangen.
Was würden die Zwerge nun tun?
Anduin erkannte nicht, wie viel Trost in dem steten Hämmern aus der Schmiede gelegen hatte, bis es schließlich verklang.
Er hatte nicht gedacht, dass Eisenschmiede eine belebte, geschäftige Stadt wie Sturmwind sein könnte, doch als das Hämmern plötzlich aufhörte und die Hallen nicht mehr von dem charakteristischen Zwergengelächter erfüllt waren, wurde ihm bewusst, dass in der Stadt eine ganz eigene Fröhlichkeit geherrscht hatte. Und nun, wo mehr Leute als je zuvor nach Eisenschmiede kamen, um Magni Bronzebart ihren Respekt zu erweisen, war das Leben düster und freudlos. In der Stunde der Katastrophe war die Frage der Nachfolge zu einem drängenden Problem geworden. Greifen wurden augenblicklich ausgeschickt, um Magnis Brüder Brann und Muradin zu suchen. Bislang hatten sie keinen Erfolg gehabt.
Anduin hatte nach Hause reisen wollen, doch sein Vater war zu ihm geeilt. Alle Anführer der Allianz waren entweder persönlich erschienen, um Magnis Andenken zu ehren, oder wurden von Abgesandten vertreten. Der junge Prinz hatte immer schon die Hohepriesterin Tyrande Wisperwind treffen wollen, die so lange die Nachtelfen angeführt hatte und gezwungen gewesen war, von ihrer großen Liebe, dem Erzdruiden Malfurion Sturmgrimm, getrennt zu leben. Auch war Anduin neugierig auf Scharfseher Nobundo, den Gebrochenen, der von den Elementen berührt worden war und seinem Volk den Schamanismus gebracht hatte. Velen, der Anführer der Draenei, hatte ihn nach Eisenschmiede geschickt, um den Grund zu ehren, aus dem Magni gestorben war: den Versuch, die Erde zu heilen, die Elemente zu verstehen. So kam es, dass Anduin neben Jaina und seinem Vater stand, einige Schritte entfernt von der Hohepriesterin der Nachtelfen und Malfurion – der Legende unter den Erzdruiden und dem ersten Schamanen, den die Allianz gekannt hatte. Unter anderen Umständen wäre er darüber erfreut gewesen, doch als sie mit ernsten Mienen auf die diamantene Gestalt blickten, die einst Magni Bronzebart gewesen war, wünschte er sich, dass er diese berühmten Personen nie hätte treffen müssen, hatte dieses Privileg doch einen solch hohen Preis gekostet.
Selbst die Goblins hatten einen Abgesandten geschickt und ebenso die Horde. Es war ein Zeichen höchsten Respekts, den Thrall und die Horde dem Zwergenvolk damit erwiesen. Obwohl viele die Blutelfe und den Tauren misstrauisch beäugten, konnte Anduin nichts Feindseliges an ihrem Verhalten erkennen.
Ratgeber Beigrum war vorgetreten, um die Lücke zu füllen, bis einer der Brüder Magnis gefunden wurde und in Eisenschmiede eintraf. Er war ausgewählt worden, da er keinerlei politische Ambitionen besaß, Eisenschmiede und seine Leute in- und auswendig kannte und seine Loyalität zum Zwergenvolk außer Frage stand. Er fühlte sich ganz offensichtlich zutiefst unwohl in dieser Funktion, wusste jedoch, dass jemand die Zügel der Macht in die Hand nehmen musste, bis sie dem rechtmäßigen Anführer übergeben werden konnten.
Nun trat er vor und blickte die Abgesandten einen nach dem anderen an. „Eure Anwesenheit ist eine große Ehre“, sagte er. Seine Stimme klang belegt. „Ich wünschte, wir hätten einen fröhlichen Anlass, um hier zusammenzukommen. Magni war nicht nur ein großer Zwerg – viele Anführer waren groß. Magni... war auch gut. So etwas ist viel schwerer zu finden. Er wäre erfreut gewesen, euch alle hier zu sehen... Aye, auch Euch“, sagte er zu den Vertretern der Horde. „Weil ihr mit offenem Herzen und großem Respekt hierhergekommen seid.“ Die Blutelfe schien sich nicht sicher zu sein, ob sie beleidigt worden war oder nicht. Doch der Taure nickte ernst.
„Hohepriesterin Tyrande... Euer Glaube und Eure Geduld waren Magni wohl bekannt, und er sprach mit großem Respekt von Eurem Volk. Erzdruide Malfurion, Ihr habt so viel getan, um unserer Welt zu helfen. Magni wäre sehr erfreut gewesen, Euch zu seinen Lebzeiten zu empfangen.“
Sein Blick fiel auf die Menschen. „Lady Jaina... Manchmal wusste Magni nicht, was er von Euch halten sollte, aber er hat Euch immer sehr gemocht. König Varian, Ihr wart wie ein Bruder für ihn. Und Anduin, Junge, Ihr habt keine Ahnung, was Ihr Magni bedeutet habt.“ Anduin biss sich fest auf die Lippe und dachte an den wahrscheinlich unbezahlbaren Stab, den Magni ihm so bereitwillig geschenkt hatte. Vielleicht hatte er doch eine schwache Vorstellung davon, wie der verstorbene König ihn gesehen hatte.
Der ältere Zwerg räusperte sich. „Nun, ahm... ich danke Euch für Euer Kommen.“ Als die Versammelten ihn misstrauisch anblickten, trat Rohan vor.
„Bitte... Ihr alle seid eingeladen, zum Hohen Sitz zu kommen und Eure Geschichten über Magni mit uns zu teilen. Wir halten Erfrischungen für Euch bereit.“
Leises Gemurmel war unter den Ehrengästen zu hören, als sie die Treppen hinuntergingen, weg von der verzerrten, in Edelstein eingefassten Gestalt, die so viel mehr als ein Diamant war und doch letztlich nur einen Diamanten darstellte.
Anduin merkte nicht, dass er den diamantenen Zwergenkönig anstarrte, bis sich eine Hand sanft auf seine Schulter legte. „Prinz Anduin, komm mit“, bat Jaina freundlich.
„Ja, komm, Sohn“, sagte Varian. „Unsere Anwesenheit ist noch für einige Zeit vonnöten.“
Stumm nickte Anduin, löste den Blick von dem diamantenen Magni und betete leise zum Licht, dass Muradin oder Brann bald gefunden würden, nach Eisenschmiede kämen und so ein wenig die Trauer vertrieben, die wie eine schwarze Wolke über der Stadt lag. Er vermutete jedoch, dass die Zwerge niemals völlig über das unvorhergesehene und brutale Ende ihres geliebten Königs hinwegkommen würden.
„Gut, das ist der Letzte“, sagte Thrall. Er setzte die Feder ab und betrachtete ernst das Pergament. Dies war die letzte offizielle Amtshandlung, die er für längere Zeit vornehmen würde: die Genehmigung für den Wiederaufbau der zerstörten Gebäude in Orgrimmar. Wieder einmal war das notwendig geworden. Es schien ihm, dass die Stadt gerade erst begonnen hatte, sich von dem Krieg gegen den Albtraum zu erholen, als sie ein zweiter Schicksalsschlag ereilt hatte. Gazlowe hatte den Preis für die Arbeiten ein zweites Mal gesenkt, und Thrall war von dieser Geste sehr bewegt gewesen, auch wenn das verlangte Honorar noch immer viel zu hoch war. Auch hatte der Goblin einer Ratenzahlung statt der üblichen Vorauszahlung zugestimmt und angedeutet, den Preis nochmals zu korrigieren, wenn er bestimmte Materialien nicht selbst besorgen musste. Thrall war ein wenig erleichtert, dass er solch lästige Details wie Kosten, Bauanweisungen und Vorratshaltung fortan Garrosh überlassen konnte. Solch „langweilige“ Dinge waren ein notwendiger Teil des Lernprozesses, um ein guter Anführer zu werden, und Garrosh würde nicht umhinkommen, sich damit zu beschäftigen.
Mit einem zufriedenen Nicken ließ er die Schriftrollen für Garrosh liegen und erhob sich. Er würde die Reise allein machen. Auf seinen Befehl hin würde ihn kein Kor’kron begleiten. Ihre Aufgabe war nun, Garrosh Höllschrei zu beschützen, den derzeitigen Kriegshäuptling der Horde. Sie wurden nicht gebraucht, um einen einzelnen Schamanen zu bewachen, der zu einer anderen Welt reiste, um dort nach Wissen zu suchen. Sein Abschied wurde nicht mit Fanfaren oder einem großen Spektakel verkündet. Zum einen waren solche Spielereien zu teuer, zum anderen wollte er vermeiden, dass seine Abreise für die Horde eine zu große Bedeutung erhielt. Obwohl er kein Geheimnis daraus machte – das wäre seiner Ansicht nach ebenso unsinnig gewesen, wie seine Reise herauszuposaunen –, wünschte er, dass die Reise und seine zeitweise Abwesenheit als eine unbedeutende Angelegenheit angesehen wurden.
Natürlich hatte er Cairne benachrichtigt. Er hatte seinen alten Freund über seine Entscheidung informiert, die Gründe dafür erklärt und Cairnes Rat für Garrosh erbeten, für den Fall, dass er gebraucht wurde. Er hatte bislang noch keine Antwort erhalten, was ihn überraschte. Cairne war für gewöhnlich sehr schnell in solchen Dingen. Thrall vermutete, dass der Taurenanführer noch genug mit den Nachwirkungen des Krieges zu tun hatte.
„Leb wohl, mein alter Freund“, sagte Thrall zu Etrigg. „Achte darauf, dass der Junge die kleinen Dinge ebenso gut erledigt wie die großen.“
„Das werde ich, Kriegshäuptling“, sagte Etrigg. „Bleib nicht zu lange in unserer Heimat. Garrosh wird sein Bestes geben, aber er kann dich nicht ersetzen.“
Thrall umarmte seinen Freund, klopfte ihm herzlich auf den Rücken und nahm den kleinen Sack auf, in dem sich die wenigen Dinge befanden, die er mitnehmen wollte. Ohne großes Aufsehen verließ der Kriegshäuptling der Horde die Feste Grommash und ging durch die immer noch heiße Nachtluft in Richtung des Flugturms.
„Du machst einen schrecklichen Fehler“, erklang plötzlich eine tiefe, donnernde Stimme in der Dunkelheit.
Überrascht von diesen Worten hielt Thrall inne und wandte sich zu Cairne Bluthuf um. Cairne stand unter dem toten Baum, der den Schädel des Dämons und seine einstmals undurchdringliche Rüstung trug. Der große und hochgewachsene Oberhäuptling der Tauren hatte seine Arme vor der breiten Brust verschränkt, und sein Schwanz zuckte hin und her. Sein Gesicht zeigte offene Missbilligung.
„Cairne! Es tut gut, dich zu sehen. Ich hatte gehofft, von dir noch vor meiner Abreise zu hören“, sagte Thrall.
„Ich glaube nicht, dass du sehr erfreut sein wirst. Das, was ich dir zu sagen habe, wird dir nicht gefallen“, entgegnete der Taure.
„Ich habe immer auf das gehört, was du zu sagen hattest“, antwortete Thrall und fügte hinzu: „Deshalb habe ich dich auch gebeten, Garrosh während meiner Abwesenheit zu beraten. Sprich.“
„Als der Bote mit der Nachricht erschien“, sagte Cairne, „dachte ich, schließlich doch noch senil geworden zu sein und Fieberträume zu haben wie der arme Drek’Thar. Zu lesen, dass du Garrosh Höllschrei zum Anführer der Horde machst, war ein wahrer Schock für mich!“
Er hatte ruhig und ernst begonnen. Cairne wurde nicht schnell ärgerlich, aber es war klar, dass er einige Zeit gehabt hatte, um über diese Sache nachzudenken, und sie ihn sehr verstörte. Seine Stimme wurde tiefer und lauter, während er sprach. Thrall blickte ihn ruhig an. Dies war nicht der Ort, wo er ein solches Gespräch führen wollte.
„Lass uns das in aller Abgeschiedenheit besprechen“, begann Thrall. „Mein Quartier und meine Ohren stehen dir offen.“
„Nein“, antwortete Cairne und stampfte mit Nachdruck mit einem seiner kräftigen Hufe auf. Thrall blickte ihn überrascht an. „Ich stehe hier, im Schatten dessen, was einst dein größter Feind war, und das aus einem guten Grund. Ich erinnere mich an Grom Höllschrei. Ich erinnere mich an seine Leidenschaft, seine Gewaltbereitschaft und seine Unberechenbarkeit. Ich erinnere mich an den Schaden, den er angerichtet hat. Er mag als Held gestorben sein, als er Mannoroth getötet hat, und ich bin der Erste, der das anerkennt. Aber um Himmels Willen, er hat viele Leben genommen und seine Taten glorifiziert. Es dürstete ihn nach Blut, nach Gewalt, und er stillte diesen Durst mit dem Blut Unschuldiger. Es war richtig von dir, Garrosh von den Heldentaten seines Vaters zu berichten. Doch die weniger schönen Dinge, die Grom Höllschrei tat, entsprechen leider ebenfalls der Wahrheit, und sein Sohn muss auch von ihnen erfahren. Ich bin hier, um dich zu bitten, dich dieser Dinge zu erinnern, der dunklen und der hellen, und endlich einzusehen, dass Garrosh der Sohn seines Vaters ist.“
„Garrosh war niemals vom Dämonenblut befleckt wie Grom“, sagte Thrall ruhig. „Er ist starrköpfig, aber das Volk liebt ihn. Er...“
„Das Volk liebt ihn, weil es nur seinen Ruhm sieht!“, zischte Cairne. „Seine Torheit sieht es jedoch nicht.“ Er wurde leiser. „Auch ich sah den Ruhm, sah die taktischen Fähigkeiten und die Weisheit, und mit ein wenig Anleitung und Führung sind das vielleicht die Samen, die in Garroshs Seele Wurzeln schlagen. Aber er handelt viel zu voreilig, ohne nachzudenken, und ignoriert die innere Weisheit. Es gibt Dinge an ihm, die ich respektiere und mag, Thrall. Versteh mich nicht falsch. Doch er ist noch nicht fähig, die Horde zu führen, genauso wenig wie Grom es war. Zumindest nicht ohne dich, der ihn mäßigt, wenn er überreagiert, und besonders nicht jetzt, wo die Dinge mit der Allianz so schlecht stehen. Weißt du, dass viele der Meinung sind, jetzt sei eine gute Zeit, um Eisenschmiede anzugreifen, nachdem Magni in Diamant verwandelt wurde und noch kein Nachfolger gefunden ist?“
Thrall wusste davon. Als er die Nachricht vom Ableben des Zwerges erhalten hatte, war ihm klar gewesen, dass derartige Forderungen aufkommen würden. Aus diesem Grund hatte er so rasch seine Abgesandten zur Trauerfeier geschickt und eine Sin’dorei und einen Tauren dazu auserwählt, von dem er wusste, dass er gemäßigte Ansichten vertrat.
„Natürlich weiß ich das“, seufzte Thrall. „Cairne... es ist doch nicht für lange.“
„Das ist doch egal! Der Junge hat nicht das Temperament eines Anführers, wie du einer bist. Oder sollte ich sagen, wie du es warst? Der Thrall, den ich kenne, der ein Freund der Tauren wurde und ihnen so sehr half, würde nicht leichtfertig die Horde, die er selbst wiederbegründet hat, einem Bürschchen übergeben, das noch grün hinter den Ohren ist!“
Thrall fühlte Zorn in sich aufsteigen. Cairne hatte seinen großen Huf genau auf Thralls Sorgen gelegt, auf die Befürchtungen, die er nicht abschütteln konnte. Doch er wusste, dass er keine andere Wahl hatte. Kein anderer als Garrosh konnte die Verantwortung übernehmen.
„Du bist mein ältester Freund in diesem Land, Cairne Bluthuf“, sagte Thrall, und seine Stimme klang gefährlich ruhig. „Du weißt, dass ich dich respektiere. Aber die Entscheidung ist getroffen. Wenn du wegen Garroshs Unreife besorgt bist, dann nimm ihn an die Hand, wie ich dich gebeten habe. Lass ihn an deiner großen Weisheit und Erfahrung teilhaben. Ich... brauche dich jetzt, Cairne. Ich benötige deine Unterstützung, nicht deine Ablehnung. Dein kühler Kopf mäßigt Garrosh, doch dein Tadel spornt ihn nur weiter an.“
„Du bittest mich um Weisheit und Erfahrung. Ich habe darauf nur eine einzige Antwort: Übertrage Garrosh nicht diese Macht. Dreh deinem Volk nicht den Rücken zu und überlass es nicht diesem arroganten Hitzkopf. Das ist mein Rat, Thrall, die Weisheit vieler Jahre, die mit Blut, Leid und Kampf erkauft wurde.“
Thrall versteifte sich. Das war das Letzte, was er wollte. Doch es war nun einmal geschehen, und als er sprach, war seine Stimme kalt und schneidend.
„Dann haben wir uns nichts mehr zu sagen. Meine Entscheidung ist gefallen. Garrosh wird die Horde während meiner Abwesenheit führen. Und es liegt an dir, ob du ihm zur Seite stehst oder die Horde den Preis für deine Sturheit zahlen lässt.“
Ohne ein weiteres Wort wandte Thrall sich um und ging in die Finsternis der schwülen Nacht hinaus. Er hoffte, dass Cairne ihm folgen würde, doch der alte Bulle blieb, wo er war. Thralls Herz war schwer, als er zu dem Wyvern trat, den Sack festzurrte und sich in den Sattel schwang. Der Wyvern sprang himmelwärts. Seine ledrigen Flügel schlugen ruhig und rhythmisch und verursachten eine kühle Brise, die dem Orc über das Gesicht strich.
Cairne blickte seinem alten Freund nach. Niemals hätte er gedacht, dass es so weit kommen würde – ein Streit über etwas, das ein derart offensichtlicher Fehler war. Er wusste, dass Thrall im Grunde genauso dachte, doch aus irgendwelchen Gründen verfolgte der Orc seinen Weg unbeirrt weiter.
Thralls Worte taten Cairne weh. Er hatte nicht erwartet, dass der Orc seine Bedenken so schnell und entschieden übergehen würde. In Garrosh steckte Tugend, Cairne hatte es gesehen. Doch die Rücksichtslosigkeit, das taube Ohr für klugen Rat, die brennende Sucht nach Lob und Anerkennung – Cairnes Schwanz peitschte hin und her, und seine Gedanken wühlten ihn auf. Diese Charaktereigenschaften Garroshs mussten gezügelt werden, und natürlich würde Cairne dabei eine Rolle spielen. Garrosh würde seine Worte ignorieren, doch Cairne würde ihm seinen Rat zumindest anbieten.
Er blickte zu Mannoroths Schädel auf und schaute in die dunklen Augenhöhlen.
„Grom, wenn dein Geist hier ist, dann hilf uns, deinen Sohn anzuleiten. Du hast dich für die Horde geopfert. Ich weiß, du willst nicht, dass dein Sohn sie zerstört.“
Er bekam keine Antwort. Wenn Grom tatsächlich hier war, zusammen mit dem großen Bösen, das er vernichtet hatte, so sprach er nicht zu ihm. Cairne war auf sich allein gestellt.