Die Brille von Baka Bugwin
Max, du siehst ja die ganze Zeit auf die Straße. Gibt's da draußen was Besonderes?«
Ich zuckte zusammen und wäre beinahe aus dem Fenster gefallen. »Hast du mich aber erschreckt, Kofa! Du bist wirklich unglaublich leise.«
»Das gehört zu meinem Beruf - das weißt du doch«, sagte Kofa Joch, stellte seine Tasse mit Kamra auf den Tisch und machte es sich in meinem Sessel gemütlich. »Nun sag schon - was hast du da draußen gesehen?«
»Dass fast Vollmond ist und eine herrliche Sommernacht in schönster Blüte steht. Solche einfachen Dinge berühren mich immer tief. Zwar lassen sie in mir keinen Dichter erwachen und auch keinen Gott, der davon träumt, aus dem Totenreich zurückzukehren und wieder an die Macht zu gelangen, aber ... Ich rede Unsinn, stimmt's?«
»Ein bisschen«, sagte Kofa lächelnd, »doch es hält sich in Grenzen. Und die Nacht ist wirklich prächtig - wie geschaffen, mit einer wunderbaren Frau spazieren zu gehen, statt im Büro zu sitzen.«
»Ach, so einen Spaziergang könnte ich zu jeder Tagesund Nachtzeit machen«, seufzte ich. »Aber meine Freundin ist kein Fan von Mondscheinaktivitäten. Darum kann ich mit ihr nur zwischen Küche und Schlafzimmer promenieren - und das auch eher selten, da ich tagsüber schlafe und abends ins Büro gehe. Außerdem hat Lady Techi ihre Lebenseinstellung geändert und vertraut niemandem mehr, der nicht wenigstens ab und zu in den eigenen vier Wänden übernachtet. Mein Leben ist also ziemlich grausam.«
»Jammere nicht so viel, Max - das kauf ich dir nicht ab. Auf deiner Stirn steht in Großbuchstaben, dass du glücklich bist. Und weißt du was? Ich bin entschlossen, deine Gier nach romantischen Spaziergängen zu befriedigen.«
»Willst du mir zu diesem Zweck etwa die Dame deines Herzens überlassen?«, fragte ich erstaunt. »Du bist wirklich ein Freund!«
»Ach, nein. Du sollst mich nur begleiten. Das Schiff aus Arwaroch ist schon über zwei Wochen weg, und wir beide sind seither nicht mehr abends ausgegangen. Keine Ausflüchte - das hast du mir schon vor langer Zeit versprochen.«
»Sündige Magister - lieber sterbe ich, als dass ich diesen Eid nicht erfülle.«
In letzter Zeit war es im Haus an der Brücke schick, die seltsamen Besucher aus Arwaroch nachzuahmen, und man zitierte ihre pompösen Sprüche gern.
Ich trank meine Kamra aus, verließ den Platz am Fenster, legte den Todesmantel ab und hüllte mich in das unauffällige Grün meines dienstlichen Lochimantels. Er gefiel mir zwar überhaupt nicht, war für nächtliche Streifzüge aber bestens geeignet.
»Ich bin zu allem bereit, Kofa. Wohin führst du mich?«
»Dorthin, wo du noch nie gewesen bist - in eine Kneipe, die etwa hundert Jahre vor deinem seltsamen Auftauchen, pardon: vor deiner eigenartigen Ankunft in Echo, aus der Mode gekommen ist. Inzwischen gehen nur noch die Nachbarn dorthin. Und alte Romantiker wie ich. Denk dir - das ist der einzige Ort in der Hauptstadt, an dem ich ohne Probleme mein wahres Gesicht zeigen kann. Dort muss ich niemanden verfolgen und keine Ermittlungen anstellen, und alle Gäste kennen sich seit einer Ewigkeit.«
»Klingt interessant. Und was ist das für eine Kneipe?«
»Sie heißt Juffins Dutzend und ist eins der kleinsten Gasthäuser in Echo. Aber das bedeutet nicht, dass die Küche zu wünschen übrig ließe.«
»Wie heißt sie? Juffins Dutzend! Warum das denn? Ist die Besitzerin etwa scharf auf unseren Chef?«
»Die Besitzerin ist ein Mann.«
Wir gingen auf die Straße.
»Lass ihn stehen«, meinte Kofa und hielt mich zurück, als ich in meinen Wagen einsteigen wollte. »Du hast dich doch eben noch beklagt, dass niemand nachts mit dir durch die Stadt spazieren will. Wir gehen zu Fuß.«
»Ach, das war nur ein blinder Reflex.«
»Seine Reflexe sollte man beherrschen - vor allem, wenn sie unnütz sind. Wer nur aus Reflex handelt, bemerkt die Welt ringsum gar nicht.«
»Du redest schon wie Lonely-Lokley«, brummte ich. »Dabei ist die Nacht viel zu hübsch, um ihn nachzuahmen. Erzähl mir lieber mehr über dieses Wirtshaus.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Es gehört einem Mann namens Mochi Fa, der - unter uns gesagt - mit unserem Chef verwandt ist. Kurz nach seiner Ankunft aus Kettari hat Juffin diesem Mochi ein Dutzend Kronen geliehen und dann rasant Karriere gemacht. Damals bin ich ihm ständig nachgehetzt«, sagte Kofa mit nostalgischem Lächeln, berichtigte seine Erinnerung aber rasch: »Wenn ich's mir recht überlege, war Juffin damals schon Chef unserer Behörde. Das Ganze trug sich ja am Anfang der Epoche des Gesetzbuchs zu. Tagsüber, musst du wissen, hat Juffin fleißig gearbeitet, und abends hat er in ganz Echo Mau-Mau gespielt und dabei unverschämte Beträge gewonnen.«
»War das, bevor Seine Majestät Gurig VII. ihm verboten hat, in der Öffentlichkeit Mau-Mau zu spielen? Hat er das nicht mit Sorgen um die ökonomische Stabilität der Hauptstadt begründet?«
»Genau. Jeden Abend gab es mehr bankrotte Hauptstädter, und Juffin verließ jedes Mal eine andere Gaststätte mit einem Rucksack voller Geld. Und in seinen unschuldigen Augen stand stets nur die Frage: «Wer hat diesen Dummköpfen bloß Mau-Mau beigebracht?« Aber eines Tages traf er den groß gewachsenen Mochi, der ihm prompt vorhielt, es sei eine Schande, sein fürstliches Gehalt noch beim Kartenspiel aufzubessern - es gebe in Echo einfach keine soziale Gerechtigkeit. Juffin stellte daraufhin resolut fest, er habe die Welt nicht gemacht, und die Diskussion wurde hitzig. Ich glaube, das hat beiden richtig Spaß gemacht. Aber du kennst ja die Leute aus Kettari: Sie können sich überall verständigen - und am besten außerhalb ihrer Heimatstadt. Irgendwann jedenfalls tippten sie sich an die Nasenspitze, und die Sache war erledigt. Mochi überzeugte unseren Chef davon, man müsse sein Geld mit anderen Menschen teilen. Er ist wirklich enorm beredsam. Und noch eins musst du wissen: Damals war eine Krone viel mehr wert als heute. Viele rebellische Magister hatten große Geldreserven dabei, als sie das Vereinigte Königreich in aller Eile verließen. Damals reichten zwölf Kronen voll und ganz, um ein stattliches Haus zu kaufen und eine Stiftertafel am Eingang anzubringen, die den Namen des Wohltäters verzeichnete. Und dann war noch immer Geld genug da, um einen anständigen Koch und ein sechsköpfiges Orchester zu bezahlen. Na ja, die ersten Jahre jedenfalls leistete Mochi sich ein Orchester, merkte dann aber, dass es für ihn zu teuer wurde. Eigentlich schade, weil das eine gute Idee war. Aber das Wirtshaus namens Juffins Dutzend floriert noch heute - falls so ein kleines Wirtshaus überhaupt florieren kann. Dort gibt es nur zwölf Tische, und an den letzten setzt sich nie jemand. Er steht nur für den Fall bereit, dass Sir Juffin vorbeischaut.«
»Und? Taucht unser Chef dort oft auf?«
»Du kennst diesen Snob doch. Er lässt sich zu keinem Essen überreden, das nicht von unserer wunderbaren Madame Ziiinda stammt«, brummte Kofa. »Eigentlich geht er nur ins Fressfass. Zum letzten Mal hat man ihn meines Wissens vor fünfzig Jahren im Juffins Dutzend gesichtet.«
»Warum hast du mir diese Kneipe eigentlich nicht schon früher gezeigt?«
»Die dortige Küche kennen zu lernen, mein Junge, ist wie ein Ritterschlag«, stellte Sir Kofa mit Nachdruck fest. »Es ist unmöglich, dort mit einem Novizen hinzugehen.«
»Bin ich jetzt also reif genug dafür?«
»Das wohl nicht, aber ich bin heute milde gestimmt«, meinte Kofa lächelnd. »Schwein gehabt.«
In diesem Moment erreichten wir das Tor zu den drei Brücken. Doch statt in die Neustadt zu gehen, spazierten wir an der Stadtmauer entlang, traten in einen spärlich beleuchteten Torweg und landeten vor einer massiven Tür.
»Sind wir etwa schon da?«, fragte ich erstaunt.
»Kaum zu glauben, was? Ich habe mehrmals versucht, Mochi zu überreden, endlich eine Laterne neben den Eingang zu hängen. Tagsüber sieht man hier kaum etwas, und nachts
»Ja, ich an seiner Stelle würde nicht so geizig mit der Werbung in eigener Sache sein.«
»Das Problem ist, dass Mochi Ratschläge kaum erträgt und lieber den ganzen Tag welche erteilen würde. Außerdem kennen seine Stammkunden das Lokal gut, und neue Gäste braucht er ohnehin nicht. Er hat nur zwölf Tische, und einen davon muss er für Juffin frei halten. Aber jetzt komm endlich rein, Max.«
Mein Freund drückte mühsam die Klinke und öffnete nicht minder mühsam die Tür zum Paradies.
Ich kam in einen dunklen Raum und blinzelte verlegen, während meine Augen sich ans Dämmerlicht gewöhnten. Sir Kofa stupste mich in den Rücken und begrüßte die übrigen Gäste freundlich. Ich erkannte kein einziges Gesicht, leistete aber keinen Widerstand, setzte mich auf den ersten freien Stuhl, der sich als erstaunlich bequem erwies, und sah mich um.
Das Juffins Dutzend war ein kleines, nettes Wirtshaus nach meinem Geschmack. Die Einrichtung war schlicht, und an den Wänden hingen hübsche Bilder. Nur da und dort tummelte sich ein wenig Kitsch. Die wenigen Besucher erschienen mir wie Mitglieder eines elitären Clubs - keine auferstandenen Kreuzritter oder Träger des hiesigen Nobelpreises zwar, aber angenehm reservierte und doch sympathische Intellektuelle vom Schlage unseres Sir Kofa.
»Mein Leben lang habe ich geträumt, an einen Ort wie diesen zu geraten«, flüsterte ich ihm zu.
»Gefällt es dir hier wirklich?«, fragte er erfreut. »Ich war mir nicht sicher, ob du das alles zu schätzen weißt, aber jetzt bin ich froh. Hallo, Sir Kima, sind Sie aus Ihrem Keller geflüchtet? Daran haben Sie recht getan! So eine Nacht sollte man nicht allein in der Burg Jafach verbringen. Wollen Sie uns nicht Gesellschaft leisten?«
Ich erblickte einen älteren Mann in schlichtem Mantel. Er hatte so intensiv leuchtende blaue Augen, dass ich ganz verwirrt war.
»Kennen Sie sich noch nicht?«, fragte Kofa erstaunt. »Das ist Sir Kima Blimm, der Großvater von Lady Melamori. Du hast schon einiges aus seinem Keller gekostet, Max.«
»Wir kennen uns gut, aber nur vom Hörensagen. Jetzt können wir den offiziellen Begrüßungsritus durchführen«, erklärte der blauäugige Sir Kima lächelnd. »Du bist es wirklich!«, rief er dann und setzte hinzu: »Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich dich duze, Max.«
»Aber nicht doch. Wer so oft mit Sir Melifaro zu tun hat wie ich, ist gegen Beleidigungen immun.«
»Das verstehe ich gut«, meinte Kima kichernd und fragte dann deutlich besorgt: »Wie geht es meiner Enkelin? Könntet ihr mir ein wenig über sie erzählen?«
»Was gibt es da schon zu berichten?«, meinte Kofa achselzuckend. »Wenn sie ins Haus an der Brücke kommt, hat sie dieses seltsame Wesen aus Arwaroch auf dem Rücken. Und regelmäßig verirrt sie sich auf die Flure der Stadtpolizei, wo sie die Mitarbeiter von General Bubuta erschrickt, von denen einige echte Angst vor ihr haben. Das macht ihr einen Heidenspaß. Sehen Sie Ihre Enkelin so selten, Sir Kima?«
»Leider praktisch gar nicht. Das Mädchen hat sich mit ihren Eltern gestritten, als ihr Vater ein paar Bemerkungen über ihren exotischen Liebhaber machte. Ich war von Anfang an dafür, die Sache mit Geduld anzugehen. Dieser groß gewachsene junge Mann - wie heißt er noch ... ach ja, Alotho - geht jetzt endlich nach Arwaroch, und die Sache ist bald vergessen. Wie ist meine Enkelin bloß auf die Idee gekommen, den Streit mit ihrem Vater auf mich zu übertragen? Früher hat sie mich oft besucht und mir von ihren Problemen erzählt, aber das hat sich inzwischen alles geändert.«
Kima Blimm ließ den Kopf hängen und sagte dann: »Sündige Magister, ich rede zu viel. Wir sollten das Thema wechseln.«
»Der grausame Mochi kommt auf uns zu - da haben wir sowieso keine andere Wahl. Die nächste halbe Stunde sprechen wir nur übers Essen.«
Ein blonder Mann mit vielen grauen Haaren trat zu uns an den Tisch. Seine blauen Augen musterten uns streng. Er trug eine Brille mit viereckigem Metallgestell und einen schwarzen Lochimantel aus Leder. Aus der Enzyklopädie der Welt von Sir Manga Melifaro wusste ich, dass diese Kleidung typisch für Seeleute war, hatte in Echo bisher aber noch keinen solchen Ledermantel gesichtet.
»Mochi hält diese Sachen für praktischer. Wenn er einen Soßenfleck oder so was abbekommt, muss er den Mantel nicht ausziehen, sondern wischt ihn bloß ab und arbeitet weiter«, erklärte mir Kofa flüsternd.
»So einen vernünftigen Menschen hab ich hier schon lange nicht mehr getroffen«, rief ich begeistert.
»Guten Abend, Kofa! Guten Abend, Kima! Ich freue mich, Sie mal wieder zu sehen. Guten Abend, Max! Ich habe Sie auch ohne Ihren Todesmantel erkannt. Schön, dass Sie bei mir vorbeischauen.«
Alle diese Nettigkeiten hatte Mochi so gereizt gesagt, als hielte er uns am Ohr und wollte uns zwingen, eine Pirogge zu essen.
»Nimm das nicht so ernst, Max. So redet er mit allen«, meldete sich Sir Kofa per Stumme Rede, und ich merkte, dass ich mein Staunen nicht hatte verbergen können.
»Schon in Ordnung. Langsam gefällt mir das sogar. Er näselt so hübsch und vermeidet es, mich mit >Sir« anzureden. Das klingt angenehm demokratisch. Außerdem habe ich eine Vorliebe für Menschen, die vor mir und meiner Funktion keine Angst haben.«
»Da Sie heute erstmals bei mir sind, fühle ich mich verpflichtet, Ihnen bei der Auswahl des Menüs zu helfen«, sagte Mochi streng.
»Hör nicht auf ihn, Junge«, mischte Kofa sich ins Gespräch. »Ich weiß besser, womit du anfangen solltest.«
»Nein, Kofa, das wissen Sie nicht. Zurzeit wohnt die Schwester meiner Frau bei mir. Sie hat einen Mann aus Tulan geheiratet, und so haben Sie heute die einmalige Chance, einige Gerichte der dortigen Küche zu probieren. Das ist eine großartige Gelegenheit, Ihren Horizont zu erweitern.«
»Hört sich spannend an«, meinte ich.
»Das klingt nur so«, meinte Kofa skeptisch. »Diese Frau ist schon seit einem halben Jahr hier, und ich hatte bereits mehrfach Gelegenheit, die Küche von Tulan kennen zu lernen. Sie ist ganz einfach und völlig unspektakulär. Kushi auf kumanische Art dagegen - das ist wirklich etwas Besonderes. Oder Honigpute auf isamonische Art. Hast du schon bemerkt, dass es hier vor allem exotische Gerichte gibt?«
»Ich tue mein Bestes, die Leute davon zu überzeugen, dass wir nicht nur in einem Vereinigten Königreich leben, sondern in einer großen, rätselhaften Welt voller Völker, deren Kultur unsere Aufmerksamkeit verdient«, sagte der Wirt, und seine Stimme klang erneut gereizt. »Aber ich muss noch mal betonen, dass man all die Gerichte, von denen Sie eben gesprochen haben, Kofa, immer wieder bestellen kann, während die tulanische Küche
»Zu den Magistern mit Ihnen, Mochi! Servieren Sie mir also eine Spezialität aus Tulan. Davon werde ich schon nicht sterben«, sagte ich resigniert. »Schließlich hab ich mal fünf Hamburger auf einmal gegessen und überlebt.«
»Was hast du gegessen, Max?«, fragte Kima interessiert.
»Hamburger sind eine Spezialität der Leeren Länder, auf die wir sehr stolz sind«, sagte ich aufgeblasen. »Ich habe zwar den Verdacht, dass dabei nicht immer alles mit rechten Dingen zugeht, aber beweisen kann ich nichts.«
»Polemik gehört jedenfalls nicht zu deinen Stärken, Max«, seufzte Kofa enttäuscht. »Ich hätte nie gedacht, dass du so leicht zu überzeugen bist. Aber mach, was du willst - ich nehme Kushi.«
»Auf kumanische Art?«, fragte der Wirt so gereizt wie zuvor und notierte die Bestellung.
»Jedenfalls nicht auf tulanische Art.«
»Für mich bitte das Gleiche«, sagte Kima Blimm, der auch endlich einen Wunsch äußern musste. »Du, Kofa, bist in diesem Bereich der größte Experte. Deshalb ist deine Wahl für mich absolut verbindlich.«
»Siehst du?«, meinte Kofa und wandte sich mit einem viel sagenden Blick an mich. »So handeln kluge Menschen.«
»Macht nichts«, antwortete ich und winkte resigniert ab. »Ich habe mir ohnehin vorgenommen, alle Gerichte in diesem wunderbaren Wirtshaus zu probieren. In einem Jahr erkennst du mich nicht wieder. Dann bin ich der Stammgast hier und obendrein der Dickste im Lokal.«
»Gratuliere, Mochi. Sie haben einen neuen Stammkunden«, meinte Kofa lächelnd. »Und das ist mein Verdienst, denn ich habe ihn mitgebracht.«
»Besser spät als nie«, brummte der Wirt und nahm mir die Speisekarte weg, für die ich ohnehin keine Zeit hatte. »Wissen Sie schon, was Sie trinken wollen?«
Der Klang seiner Stimme ließ vermuten, er würde uns auspeitschen, wenn wir keine Antwort parat hätten.
»Nichts«, sagte mein Kollege und lächelte breit. »Im Prinzip sind Max und ich dienstlich hier, dürfen also keine gefährlichen Getränke zu uns nehmen. Und auch Kima wird sich beherrschen, da er Zugang zum Weinkeller des Siebenzackigen Blattes hat.«
»Du hast nicht über mich zu verfügen«, protestierte Kima lächelnd. »Ich wollte Mochi gerade um ein paar edle Tropfen bitten. Man kann doch mal probieren.«
»Und ich trinke Kamra«, rief ich.
»Vor dem Essen? Sir Max, haben Sie denn keine Angst vor den Dunklen Magistern?«, fragte der Wirt streng.
Er schien drauf und dran, mir mit dem Zeigefinger zu drohen.
»Natürlich vor dem Essen«, rief ich. »Und nach dem Essen selbstverständlich auch. Seien Sie froh, dass ich mich beim Essen mit dem Trinken zurückhalte.«
»Danke für Backobst«, sagte der Wirt gereizt wie immer und zuckte die Achseln.
Obwohl er die ganze Zeit mufflig war, hatte ich seine Augen hinter der Brille ausgesprochen freundlich funkeln sehen. Mochi Fa hatte einen seltsamen, sehr rauen Charme. Ich verstand gut, warum mein Chef ihm vor langer Zeit Geld für dieses Wirtshaus geliehen hatte. Auch ich wäre an seiner Stelle weich geworden.
Mochi kam nach wenigen Minuten wieder an unseren Tisch, stellte ein paar Tassen mit Kamra vor uns ab, schüttelte erstaunt den Kopf, enthielt sich aber jeden Kommentars. Kima Blimm bekam ein kleines, dunkles Fläschchen.
»Das ist Wein aus Iraschi«, sagte der Wirt streng zu ihm. »Anders als die Kamra ist der Wein von dort durchaus genießbar - genau wie die Süßigkeiten.«
Das Essen kam eine halbe Stunde später. Mein namenloses Gericht aus Tulan erwies sich als verführerisch duftender Pilaw. Meine Gesprächspartner schüttelten den Kopf, aber ich war zufrieden.
»Und so was schmeckt dir?«, fragte Kofa erstaunt. »Na, mein Kushi ist sicher besser.«
»Ach, das probiere ich bestimmt auch mal. Weißt du, ich glaube, ich schaffe es sogar, Juffin mal wieder hierherzubringen.«
»Wirklich?«
»Vergiss bitte nicht, dass ich inzwischen Zugang zu den größten Geheimnissen von Lojso Pondochwa habe«, sagte ich augenzwinkernd. »Wenn etwas passiert, befindet sich sein einziges Kind in meiner Macht. Und eines Tages werde ich so überzeugt von mir sein, dass ich Juffin einfach mitbringe.«
»Kofa, kennst du den Herrn dort?«, fragte Kima Blimm plötzlich.
»Den mit der Brille? Nein. Der schreckliche Mochi hat heute offenbar Glück und gewinnt lauter neue Gäste.«
»Der Kerl hat sogar die gleiche Brille wie der Wirt«, sagte ich erstaunt und schaute mir den Mann genau an, dessen Lochimantel für die Jahreszeit etwas zu warm war.
»Worüber staunst du denn?«, schnaufte Kofa. »Das ist die Standardbrille. Wir haben in Echo nur einen Optiker.«
»Und der fertigt alle Brillen an?«
»Das reicht doch völlig. Es gibt nicht viele, die eine Brille tragen möchten. Und es gibt etliche Wege, das Sehvermögen zu verbessern. Aber manche Exzentriker behaupten, eine Brille würde ihnen stehen«, erklärte Sir Kofa.
»Nuli Karif trägt aber eine ganz andere Brille«, wandte ich ein. »Eine mit rundem Gestell.«
»Natürlich. Er ist Leiter unserer Zollbehörde und hat seine Brille bestimmt von einem Schmuggler bekommen, nachdem die beiden sich sechs Stunden lang prima unterhalten haben. Das jedenfalls würde zu ihm passen. Abes. jetzt trink deine Kamra, damit wir verschwinden können. Unter uns gesagt: Ich muss noch ein wenig arbeiten.«
»Du bist ja heute inkonsequent«, seufzte ich. »Erst willst du dich partout erholen, und jetzt musst du plötzlich arbeiten. Für mein schlichtes Gemüt ist das zu kompliziert.«
»Ich muss mich schon jetzt von euch verabschieden«, sagte Kima Blimm und gähnte herzhaft. »Ich gehöre ins Bett. Richtet meiner Enkelin einen schönen Gruß aus. Ich weiß, dass es sinnlos ist, sie von etwas überzeugen zu wollen. Also sagt ihr bitte nur, dass ich mich nach ihr sehne.«
»Aber gern«, meinte ich nickend. »Wenn Sie wollen, kann ich bei Lady Melamori auch ein gutes Wort für Sie einlegen. Manchmal bin ich ganz gut im Reden.«
»Das habe ich schon gemerkt«, lächelte Kima Blimm. »Ich würde mich freuen, wenn dir das gelingt.«
Er stand auf und verabschiedete sich, während Sir Kofa und ich noch eine Stunde sitzen blieben, da der strenge Mochi beschlossen hatte, wir dürften auf keinen Fall gehen, ohne eines seiner ausgezeichneten Desserts probiert zu haben. Zum Abschied schenkte Mochi mir einen besonders strengen Blick.
»Hat es Ihnen bei mir gefallen?«, fragte er gereizt.
»Und wie.«
»Dann kommen Sie ruhig öfter«, murmelte er und öffnete uns dabei die schwere Tür, als wollte er uns rauswerfen.
»Kofa«, seufzte ich müde zum Abschied, »du bist ein echter Wohltäter. Was kann ich dir als Gegenleistung bieten?«
»Befolge nächstes Mal meinen Rat und bestelle hier Kushi auf kumanische Art - das ist mir Lohn genug. Ich bin etwas verärgert darüber, dass du das heute nicht getan hast.«
In der Morgendämmerung kehrte ich ins Haus an der Brücke zurück und schlüpfte möglichst leise in meinen Todesmantel, um Kurusch nicht zu wecken. Durchs Fenster sah ich es langsam hell werden und fragte mich, warum ich mich überhaupt noch umgezogen hatte. Aber vielleicht würde ich unterwegs ja den letzten Nachtschwärmer treffen. Ein bisschen Spaß hatte ich schließlich verdient.
Ich beschloss, auf Techi zu hören und bei mir zu übernachten. Natürlich hatte ich dabei einen Hintergedanken: Ich wollte wissen, ob meine Süße mich vermisste oder Gefallen daran fand, allein zu sein. Ich hätte meine Seele darauf wetten können, dass man mich demnächst unter einem nichtigen Vorwand ins Haus an der Brücke riefe. Und Techi würde mir sicher bald erklären, sie habe sich daran gewöhnt, morgens über meine Schuhe zu stolpern, und wolle darauf nicht mehr verzichten.
Unterwegs kam mir der Gedanke, mein Haus in der Straße der gelben Steine wäre der ideale Ort für einen Horrorfilm, weil es dort still, leer und dunkel war. Selbst meine Katzen waren schon zu Techi umgezogen. Anders als ich fütterte meine Freundin die Tiere regelmäßig. Zudem hatte ich den Eindruck, dass Armstrong und Ella sich immer in dem nach ihnen benannten Wirtshaus aufhalten sollten. Das war auch die beste Werbung für das Lokal, denn inzwischen konnte man bei Techi abends keinen freien Tisch mehr finden. Es kamen immer wieder Schaulustige, um die seltsamen Katzen des nicht minder seltsamen Sir Max zu sehen. Ich nehme an, sie spekulierten vor allem darauf, mich anzutreffen. Durch meine Funktion nahm ich bei den Bewohnern von Echo einen Platz ein, der in meiner alten Heimat Politikern oder Schauspielern Vorbehalten war. Sie suchten keinen Kontakt zu mir, fanden es aber reizvoll, Freunden und Bekannten erzählen zu können, sie hätten mich dort gesehen. Dadurch florierte das Geschäft meiner Freundin, und selbst ich war mal zu etwas nutze.
Während ich über Werbetricks und meinen Status als halber Popstar nachdachte, betrat ich mein Haus, wischte Staub von den leeren Regalen, öffnete die Fenster und legte mich zufrieden schlafen.
Gegen Mittag weckte mich furchtbarer Lärm. Im Halbschlaf ging ich die Treppe runter und überlegte mir, was ich mit dem Gift machen sollte, das sich in meinem Gaumen gesammelt hatte. Sollte ich die Übeltäter anspucken oder ihnen besser einen Kugelblitz verpassen? Am besten wäre es vielleicht, mich zu beherrschen, in Ruhe zu frühstücken und zu schauen, wie es weiterging.
Im Wohnzimmer allerdings war nichts Besonderes passiert. Nur Techi saß auf dem Boden und sah empört auf meinen Sessel. Was dieses Möbelstück angeht: Wenn es reden könnte, hätte es sicher darüber geschimpft, so verlottert zu sein. Aber den Magistern sei Dank: Es blieb still.
»Max, du hast wahnsinnig eifersüchtige Möbel. Dieser Sessel hat mich umbringen wollen«, sagte Techi anklagend.
»Wieso das denn?«, fragte ich verwirrt.
»Ich hab bei dir vorbeigeschaut, um dir Guten Tag zu sagen, und gemerkt, dass ich etwas früh dran war. Ich weiß doch, dass du jeden knallhart abweist, der vormittags bei dir klingelt. Also hab ich mich entschieden, dich noch eine Stunde schlafen zu lassen, bin in dein Wohnzimmer gegangen, hab mir ein paar Zeitschriften gesucht und mich in den schrecklichen Sessel gesetzt. Er hat sehr seltsam reagiert. Der ist bestimmt verzaubert.«
Du hast Recht, und ich hab meine Ruhe, dachte ich bei diesem Gerede nur. Zu so brutaler Morgenstunde sind meine Geisteskräfte noch unterentwickelt.
»Das hast du davon, mich in meine Wohnung geschickt zu haben«, meinte ich dann. »So bist du gezwungen, hierherzukommen und dein Leben zu riskieren.«
»Ich wollte schon längst auf deine Kosten frühstücken«, erklärte Techi. »Und jetzt hab ich einen wunderbaren Grund dazu. Weißt du, was in der neuesten Ausgabe der Königlichen Stimme steht? Das wird dich interessieren.«
»Was steht denn da?«, fragte ich desinteressiert.
»Deine Untertanen proben den Aufstand.«
»Gegen wen?«, fragte ich baff.
»Ach, das sind interne Konflikte - Auseinandersetzungen innerhalb des Stamms. Ein Teil deines Volkes meint, man solle dich auch gegen deinen Willen zum König krönen. Die anderen bestehen darauf, dein Wunsch habe Gesetzeskraft.«
»Das finde ich auch«, sagte ich lächelnd. »Wenn alle Welt das doch so sehen würde!«
»Ach ja?«, meinte Techi und zog amüsiert eine Braue hoch. »Das kann ich mir vorstellen. Wie auch immer: Deine Untertanen kämpfen gegeneinander. Ist dir das wirklich egal?«
»Eigentlich ja«, seufzte ich. »Und würden sie keinen Gefallen daran finden, hätten sie sicher längst damit aufgehört. Wichtig ist, dass Seine Majestät König Gurig nicht auf die Idee kommt, ich solle dorthin reisen und Ordnung schaffen. Ich habe bessere Pläne für meine Zukunft.«
»Welche denn?«, fragte Techi kokett.
»Ach, nichts Besonderes. Gestern Abend hat mir Sir Kofa ein bezauberndes Plätzchen gezeigt, und jetzt möchte ich es auch in deiner Gesellschaft besuchen.«
»In meiner Gesellschaft? Aber ...«
»Es gibt kein Aber«, sagte ich streng. »Meine Wünsche sind Gesetz. Willst du etwa einen Konflikt herauf -beschwören?«
»Lieber nicht. Doch ich habe ein eigenes Wirtshaus, das abends geöffnet sein sollte. Wer wird mich dort vertreten? Deine Katzen etwa?«
»Bist du noch nie auf die Idee gekommen, dein Lokal einen Tag pro Woche geschlossen zu halten?«
»Eigentlich nicht. Soll ich das ausprobieren? Aber das ginge frühestens morgen. Schließlich müssen meine Kunden Bescheid wissen.«
»Na gut, morgen klingt besser als nächstes Jahr«, sagte ich gnädig. »Hoffentlich kommt Sir Juffin nicht auf geniale Ideen, was meine Person anlangt. Dagegen nämlich bin selbst ich machtlos.«
»Na schön, um den morgigen Tag mache ich mir jetzt noch keine Sorgen. Willst du mir nicht etwas zu essen anbieten?«, fragte Techi. »Schließlich hätte ich meinen Besuch bei dir fast mit dem Leben bezahlt.«
Ich bemühte mich also, weder meine Erwartungen noch die meiner Freundin zu enttäuschen. Das war nicht leicht, doch ich schaffte es.
Um auch die Ansprüche meines Chefs zu erfüllen, tauchte ich kurz nach Sonnenuntergang im Haus an der Brücke auf. Eigentlich hatte ich kaum Verspätung -höchstens anderthalb Stunden.
»Seid Ihr beschäftigt, Majestät?«, fragte mich Sir Juffin spöttisch. »Grübelt Ihr womöglich über das traurige Schicksal Eures armen Volkes nach?«
Natürlich las auch mein Chef Zeitung.
»Mein Herz blutet«, rief ich wie ein erfahrener Demagoge. »Mein kleines Volk hat den letzten Rest seines gesunden Menschenverstands verloren«, seufzte ich und warf mich theatralisch in meinen Sessel. Endlich konnte ich leidenschaftlich Trübsal blasen. »Ich mache mir Sorgen und verteidige meine Freiheit. Und was meinen Sie,
Juffin? Was könnte passieren, wenn die Anhänger der Monarchie gewinnen? Könnten mich diese netten Leute gegen meinen Willen zum König erklären? Werden sie meinetwegen in Echo einmarschieren? Oder schicken sie mir einen Killer und stopfen meine Leiche wie eine Trophäe aus? Oder haben sie womöglich vor, mich erneut zu entführen?«
»Warum so nervös, Max?«, fragte Juffin verständnislos. »Das ist doch eine lustige Geschichte, findest du nicht?«
»Meistens bin ich Ihrer Meinung, aber nicht immer. Ich fürchte schon den ganzen Tag, Sie und der König könnten mich in die Leeren Länder schicken, um diese armen Menschen zu versöhnen.«
»Wirklich? Na, dann hast du seltsame Vorstellungen von der Politik des Vereinigten Königreichs«, meinte Juffin kichernd. »Wen interessieren schon innere Konflikte in den Grenzgebieten? Soll sich der Dunkle Sack damit auseinandersetzen. Der langweilt sich ohnehin schon seit geraumer Zeit.«
»Welcher Sack?«, fragte ich erstaunt.
»Na, der Dunkle Sack - Graf Richiri Gatschilo Wuk, einziger Lord dieses hinterwäldlerischen Gebiets und früherer Erzieher unseres hochgeschätzten Friedenskönigs Gurig VII., ein echter Held der Vergangenheit und überhaupt eine starke Persönlichkeit. Ich muss euch irgendwann miteinander bekannt machen. Unter uns gesagt: Seine Heimat ist eine sehr hübsche Gegend. An deiner Stelle würde ich Sonderurlaub beantragen, um mir einen Eindruck von diesem Gebiet zu verschaffen.«
»Ich habe hier genug zu tun - den Magistern sei Dank«, widersprach ich entschieden. »Soll ich etwa nach dem ersten Abendessen im Juffins Dutzend die Stadt verlassen? Niemals!«
»Interessant, wohin es dich wieder mal verschlagen hat! Hat dich Sir Kofa etwa dorthin geschleppt?«
»Sie jedenfalls nicht! Warum besuchen Sie dieses Wirtshaus eigentlich nicht? Dort haben Sie doch einen eigenen Tisch. Ich an Ihrer Stelle würde
»Das kann ich mir nur zu gut vorstellen«, unterbrach mich Juffin spöttisch. Dann lächelte er breit und sagte: »Um ehrlich zu sein, meide ich dieses Lokal, um nicht die Hälfte oder mehr von Mochis Kundschaft zu verscheuchen. Seine Gäste blicken etwas enttäuscht zu meinem Platz herüber, freuen sich aber doch, dass er leer ist.«
»Warum das denn?«, fragte ich naiv.
»Weil ich ein schrecklicher Mensch bin«, sagte Juffin und zog dabei eine wüste Grimasse, die ihm ausgesprochen gut gelang. Dann machte er wieder ein normales Gesicht und zuckte die Achseln.
»Natürlich bin ich sehr nett, aber in dieser Welt gibt es nur wenige, die in das größte Geheimnis eingeweiht sind. In Mochis Wirtshaus verkehren fast nur Menschen, die im Einklang mit dem Gesetz leben und die Gesellschaft von Sir Kofa deshalb gern und vollauf genießen. Und meine Wenigkeit mit ihrer dunklen Vergangenheit trägt ganz und gar nicht dazu bei, dass die Besucher sich bei Mochi wohl fühlen.«
»Zu meinem persönlichen Wohlgefühl tragen Sie ungemein viel bei«, seufzte ich schmeichlerisch. »Sie haben also nicht vor, mit mir dorthin zu gehen?«
»Jedenfalls nicht heute. Sieh mich bitte nicht so erschrocken an, Max. Ich muss ein spannendes Verhör mit einem älteren Romantiker beenden, der in den letzten dreihundert Jahren mehrfach versucht hat, den Großen Magister Nuflin Moni Mach zu töten. Für mein Empfinden ist das ein klarer Beweis dafür, dass er in die nächste Psychiatrie gehört. Aber Nuflin war wirklich erschrocken und hat mich gebeten, mich dieses Falls persönlich anzunehmen. Zudem will ich meinem Landsmann nicht das Geschäft verderben. Dieser Mochi ist ein sehr ungewöhnlicher Mensch.«
»Genau darum geht es.«
»Ich hatte nie bezweifelt, dass du das einschätzen kannst. Also nimm's mir nicht krumm, Max. Außerdem bin ich nicht der Einzige, dessen Anwesenheit dir Freude macht.«
»Was meine Freundin Techi anlangt, habe ich den starken Verdacht, dass nicht Lojso Pondochwa ihr leiblicher Vater ist, sondern Sie, denn eure Seelenverwandtschaft macht mich stutzig. Auch sie sagt gern »Jedenfalls nicht heute«, wenn ich vorschlage, in eine nette Kneipe zu gehen.«
»Sei froh, dass es sich nur um Kneipenbesuche handelt«, kicherte Juffin. »Na schön, Max - mach jetzt, was du willst. Ich bleib noch zwei Stunden. Dann musst du wieder auftauchen. So stelle ich es mir jedenfalls vor.«
»Eine sehr originelle Idee!«, meinte ich kopfschüttelnd.
»Also geh essen und störe die arbeitende Bevölkerung nicht länger«, sagte mein Chef mit Nachdruck.
Allein, doch hoch erhobenen Hauptes machte ich mich auf den Weg in mein neues Stammlokal. Weil ich in Echo viele Freunde und Kollegen hatte, war ich fast nie allein unterwegs und hatte - was das anging - inzwischen einiges nachzuholen. Und wer wusste schon, wann das Schicksal mir wieder das kostbare Geschenk machen würde, allein sein zu können.
Beinahe hätte ich den Weg verfehlt, aber dann gelang es mir doch noch, mich im Gewirr der Gassen zu orientieren und Juffins Dutzend zu finden. Dabei half mir vor allem der verführerische Duft, den ich schon von weitem erkannte.
»Jetzt weiß ich, dass es Ihnen bei mir gefällt«, fuhr Mochi Fa mich an.
Er musterte mich so vorwurfsvoll, als hätte ich der Menschheit seit meinem letzten Besuch in seinem Lokal etwas Schreckliches angetan. Schuldbewusst zuckte ich zusammen, setzte mich auf den nächsten freien Platz und hoffte, nicht aus dem Gasthaus geworfen zu werden.
Diesmal gelang es mir, eine Expedition in die Wunderwelt der tolanischen Küche abzulehnen, und ich bestellte das von Sir Kofa gepriesene Kushi auf kumanische Art.
»Möchten Sie die Kamra auch heute wieder vor dem Essen?«, fragte mich Mochi spöttisch.
»Selbstverständlich - und nach dem Essen auch.«
Kaum war ich wieder allein, sah ich mich um. Das Wirtshaus war fast leer - natürlich kamen die Stammgäste eher spät am Abend. Aber an einem der weiter entfernten Tische saß der Mann, der mir schon am Vortag aufgefallen war und den selbst Sir Kofa nicht hatte identifizieren können. Ich erkannte ihn an Lochimantel und Brille - der gleichen, die auch Mochi Fa trug. Ich spürte Sympathie für den Unbekannten, weil auch er dieses Wirtshaus ins Herz geschlossen hatte.
Ich bekam meine Kamra, rauchte genüsslich eine Zigarette und stellte mich darauf ein, lange auf mein Essen warten zu müssen. Aber hier erfüllte mich selbst das Warten mit sinnlichem Behagen. Mich befiel die wohlige Trägheit, die nur Besucher guter Restaurants kennen. Allenfalls bereute ich ein wenig, keine Zeitung dabeizuhaben.
»Guten Abend, Sir Max. Wie ich sehe, kennen auch Sie dieses Wirtshaus.«
Ein groß gewachsener, gut aussehender Mann im schwarzen Lochimantel begrüßte mich freundlich vom Eingang her und trat an meinen Tisch.
»Sir Rogro!«, rief ich erstaunt. »Ich freue mich, Sie hier zu treffen, und muss sagen, dass Sie ein ausgezeichnetes Gedächtnis haben.«
»Sie haben mich ja auch nicht vergessen«, entgegnete der Besitzer und Chefredakteur der Königlichen Stimme, der auch anonymer Mehrheitsaktionär beim Trubel von Echo war.
Wir waren uns so gut wie unbekannt, da wir uns nur ein paar Mal flüchtig begegnet waren, doch Melamori hatte mir seine Biografie in aller Ausführlichkeit geschildert, vor allem, was seine stürmische Jugend anging, die mir den groß gewachsenen Intellektuellen sehr sympathisch gemacht hatte.
»Ich dachte gerade, es wäre eigentlich nicht schlecht, eine Zeitung dabeizuhaben«, sagte ich lächelnd zu ihm.
»Was dieses Lokal anlangt, haben Sie völlig Recht. Hier wartet man nämlich lange aufs Essen«, pflichtete der Pressezar mir bei.
»Setzen Sie sich doch zu mir«, schlug ich vor. »Sofern Sie nichts anderes Vorhaben, versteht sich.«
»Stellen Sie sich vor: Ich habe nichts anderes vor. Eigentlich hatte ich erwartet, allein zu essen, da ich sehr früh dran bin. In Juffins Dutzend gleich nach Sonnenuntergang einzukehren, ist eine ziemlich dumme Idee, aber was bleibt mir übrig? Wenn ich nicht vor Mitternacht in der Redaktion erscheine, bricht alles zusammen. Kennen Sie das?«
»Natürlich. Ich erlebe Nacht für Nacht nichts anderes - mit dem kleinen Unterschied allerdings, dass sich ohne mich rein gar nichts bewegt.«
»Sie Glücklicher, Max! Ohne mich bricht alles zusammen - davon habe ich mich schon mehrmals überzeugen müssen.«
Mochi Fa trat zu uns, wünschte dem Neuankömmling etwas, das nach »Guten Abend!« klang, gab ihm eine umfangreiche Speisekarte und verschwand.
»Wie geht es meinem Protege?«, fragte ich vorsichtig. »Ich hoffe, Sie nehmen mir nicht übel, dass ich Ihnen einen neuen Mitarbeiter vermittelt habe.«
»Sie meinen Ande Pu? Nein, nein - ich bin sehr zufrieden mit ihm, denn seine Anwesenheit traumatisiert die übrigen Angestellten. Leider taucht er recht selten am Arbeitsplatz auf. Immerhin kann er aber sehr gut schreiben.« Rogro hielt kurz inne und fuhr dann flüsternd fort: »Das wollte ich Sie schon lange fragen: Im Frühling letzten Jahres ist Ande Pu mit Ihnen in den Wald von Mahagon gefahren. Danach hat er ein paar wirklich sensationell gute Artikel verfasst, in denen er vor allem von seinen eigenen Erfolgen berichtet hat - hat er das wirklich selbst erlebt?«
Ich erinnerte mich daran, wie mutig der kleine runde Ande Pu in die Senke gesprungen war, in der immerfort Tote auftauchten, und nickte energisch.
»Ja, das ist wirklich so gewesen. Er hat anderen ein ausgezeichnetes Beispiel gegeben. Ohne ihn hätte ich nicht gewusst, wie ich es je nach Hause hätte schaffen sollen.«
»Tja«, seufzte Rogro begeistert. »Ich wusste immer, dass er zu denen gehört, die zwar viel Wirbel machen, sich in ernsten Situationen aber als tapfer erweisen.«
»Er ist ein Musterbeispiel natürlicher Verwegenheit«, meinte ich. »Er kann zwar nicht allzu gut kämpfen, ist aber sehr geschickt darin, dem Gegner das Leben schwer zu machen.«
»Das glaube ich«, sagte Sir Rogro lächelnd. »Als er bei mir auftauchte und meinte, er wolle Sie daheim besuchen, um einen Artikel über Sie und Ihre Katzen zu schreiben, wirkte er, als stünde er kurz vor seiner Hinrichtung. Damals hätte ich wetten mögen, dass er sich nicht trauen würde, Sie zu besuchen, sondern sich in eine gemütliche Kneipe setzt und sich alles ausdenkt.«
»Ach«, sagte ich und musste lächeln, weil ich mich an sein plötzliches Auftauchen erinnerte. »Vielleicht hätte er das besser getan.«
Wieder unterbrach Mochi unser Gespräch und beugte sich streng über unseren Tisch. Er sah aus, als wollte er zwei dreiste Lumpen zurechtweisen, brachte uns aber nur das Essen und verlor dabei ein paar knappe Worte über die Länder, aus denen die Gerichte stammten, mit denen er uns verwöhnte. Dann ließ er uns gnädigerweise mit dem Essen allein.
Begeistert sah ich dem majestätisch wirkenden Wirt nach und merkte, dass er zu dem Gast im dunklen Lochimantel ging, ein paar Worte mit ihm wechselte und sich dann mit dem Zeigefinger an die Schläfe tippte. Offenbar war diese Geste nicht nur in meiner alten Heimat bekannt. Dann verließ Mochi rasch den Tisch, und der Mann im dunklen Mantel stand auf und verließ das Lokal. Meine Neugier war erwacht, und ich nahm mir vor, Mochi zu fragen, was der Brillenträger Dummes gesagt hatte.
Sir Rogro und ich begannen zu essen. Als wir unser Gericht vertilgt hatten, beschlossen wir, uns zu duzen. So demokratisierend wirkt die Atmosphäre in Juffins Dutzend! Der langsame Prozess, aus einer Bekanntschaft eine Freundschaft werden zu lassen, war auf gutem Weg. Ich begann, mich in diesem Lokal als Stammgast zu fühlen, entspannte mich, lächelte breit und hätte beinahe zu schnurren begonnen.
Den Zwischenfall mit dem Brillenträger allerdings vergaß ich dennoch nicht, und als Mochi mir die zweite Portion Kamra brachte, sagte ich zu dem finster blickenden Wirt: »Ich bin der neugierigste Mensch in dieser schrecklichen Stadt und brenne auch jetzt wieder vor Wissbegier. Erzählen Sie mir doch, was Ihnen der Mann in Brille und Lochimantel gesagt hat. Ich habe Sie beide zufällig beobachtet.«
»Ich weiß selber nicht, was ich davon halten soll«, brummte Mochi. »Er wirkte ganz normal und hat brav das Essen gelobt. Alles war wie üblich. Aber dann hat er eine Grimasse gezogen und >Komm mit!< gesagt. Ich dachte erst, ich hätte mich verhört, und fragte: »Was, bitte, soll ich tun, Sir?« Er sah mich an wie die Schlange das Kaninchen und wiederholte den Befehl. Das war ein Verrückter, und das hab ich ihm auch gesagt. Daraufhin war er still, bezahlte und verschwand. Halten Sie das etwa für normal?«, fragte Mochi irritiert.
»Eigentlich nicht. Aber vielleicht war er von Ihrer Küche so begeistert, dass er Sie unbedingt in sein eigenes Wirtshaus mitnehmen wollte.«
»Meinen Sie?«, fragte Mochi leicht geschmeichelt, fuhr dann aber in seinem üblichen Ton fort: »Ich brauche kein anderes Wirtshaus. Ich bin mit meinem Lokal sehr zufrieden.«
»Das ist gut so«, sagte ich erfreut. »Wenn Sie Ihren Laden schließen, muss ich mich im Churon ertränken gehen.«
»Schau an, wie gut es Ihnen hier gefällt!««, frotzelte Mochi, und wer ihn dabei durchs Fenster beobachtet hätte, hätte denken können, ich hätte ihm gerade eine böse Überraschung beschert.
Rogro und ich verließen zusammen das Lokal.
»Wenn du willst, kann ich dich zum Haus an der Brücke fahren«, schlug er mir vor. »Anders als du bin ich mit dem Wagen gekommen.«
»Nicht nötig«, sagte ich dankend. »Ich habe - den Magistern sei Dank! - keine Eile. Und der Spaziergang zum Haus an der Brücke ist meine einzige Chance, die wunderbare Nacht nicht zu versäumen. Der wahnsinnige Vollmond versetzt mich immer wieder in Verzückung.«
»Stimmt, die Nacht ist sehr hübsch, aber Vollmond ist erst morgen«, bemerkte Sir Rogro.
»Tatsächlich?«, fragte ich. »Dabei wirkt der Trabant kreisrund!«
»Tja, in solchen Fragen ist nicht das menschliche Auge maßgebend, sondern die Berechnungen der Astronomen. Infolge verschiedener kosmischer Kräfte unterscheiden sich bestimmte Mondphasen nicht sehr stark. Unser himmlischer Begleiter will uns nach wie vor ein Rätsel bleiben. Zwischen zwei Vollmonden vergehen gewöhnlich sechsunddreißig Tage. Doch ich bin kein Experte, interessiere mich aber für Astronomie.«
»Ach, auch davon hast du Ahnung?«, fragte ich.
»Warum nicht? Das ist ein Hobby wie jedes andere. Als ich noch im Orden des Siebenzackigen Blattes war, hat Astronomie sogar zu meinen Hauptbeschäftigungen gehört. Damals habe ich aber vor allem an Zank und Streit gedacht. Übrigens kenne ich mich auch mit Astrologie aus - soll ich dir vielleicht dein Horoskop stellen?«
»Vielen Dank, aber daraus wird nichts. Ich kenne weder Tag noch Ort meiner Geburt«, log ich. Schließlich konnte ich unmöglich einem Journalisten erzählen, dass ich durch die Hintertür nach Echo gekommen war.
Sir Juffin begegnete mir auf der Türschwelle.
»Auf die Minute pünktlich«, nickte er respektvoll. »Gute Nacht, Max.«
»Gute Nacht«, echote ich.
Ich durfte davon ausgehen, dass niemand meine Nachtruhe störte. Erst Techi würde mich am nächsten Morgen wecken, und dagegen hatte ich natürlich nichts.
Tatsächlich störte mich niemand. Nur das Licht des fast vollen Mondes klopfte leise an meine Lider und ließ
mein Blut rauschen. Mir war rasch klar, dass ich mich vom Fenster wegdrehen musste. Ich machte es mir im Sessel bequem, legte den Turban als Kissenersatz auf den Tisch, kuschelte mich in den Todesmantel und war Minuten später selig eingeschlummert.
Deshalb war ich am nächsten Morgen in Topform und beschloss sogar, auf meinen Chef zu warten, um ihm zu sagen, dass er am Abend nicht mit meiner Anwesenheit würde rechnen können. Ich hatte nämlich vor, Techi in ein wunderbares Wirtshaus zu führen, und sie hatte nichts dagegen.
»Eigentlich fangen alle normalen Menschen genau damit an«, begann Juffin schon an der Tür.
»Wie bitte?«, fragte ich ratlos.
»Erst füttern sie ein nettes Mädchen, dann verführen sie es. Aber bei dir ist es natürlich umgekehrt - wie immer.«
Ich sah verlegen drein. »Haben Sie etwa schon wieder meine Gedanken gelesen? Selbst solche Dummheiten?«
»Zu den Magistern mit dir, Junge. Das habe ich gar nicht nötig - du denkst nämlich manchmal laut«, klärte mein Chef mich auf. »Na schön, viel Spaß heute Abend. Und jetzt geh. Immerhin hast du nur selten Ideen, die so gut sind, dass ich ihre Verwirklichung nicht verhindern will. Kofa ist sicher entzückt, wenn er den Grund deiner heutigen Abwesenheit erfährt. Er glaubt nämlich, das Essen und die Liebe seien die wichtigsten Dinge des Lebens. Denk bitte ein wenig über die Reihenfolge nach.«
»Vielen Dank«, sagte ich lächelnd. »Nachdem es mir gelungen ist, Techi dazu zu bringen, ihr Gasthaus einen Abend in der Woche zu schließen, überkommen mich - offen gesagt - merkwürdige Ahnungen. Was passiert wohl, wenn so ein Narr ins Wirtshaus geht und beschließt, mittels Magie 5861. Grades unsere schöne Welt in Schutt und Asche zu legen?«
»Das droht dir nicht«, lächelte Juffin tröstend. »Die menschlichen Möglichkeiten sind auf Magie 234. Grades beschränkt, und man kann nicht annehmen, dass sich irgendwer so viel Mühe gibt, bloß um dir den Abend zu verderben.«
»Sie kennen die Menschen nicht gut genug«, seufzte ich. »Um dieses Zieles willen sind sie zu fast allem bereit - da habe ich meine Erfahrungen.«
»Jetzt hab ich schon fast Mitleid mit dir«, gab mein Chef zu. »Aber keine Sorge - sollte heute wirklich jemand ganz Echo zum Teufel schicken wollen, versuche ich, die Stadt ohne deine Hilfe zu retten.«
Rasch sprang ich in den Saal der allgemeinen Arbeit und konnte mein Glück kaum fassen. Das Wort von Sir Juffin Halli ist viel wert, denn man kann sich immer darauf verlassen.
Bevor es mir aber gelang, nach Hause zu gehen, musste ich noch eine Tasse Kamra mit meinen Kollegen trinken, die nacheinander auftauchten. Schließlich rief mich die erstaunte Techi per Stumme Rede: »Max, ist etwas passiert?«, fragte sie. »Ich bin wieder bei dir zu Hause und möchte den Zustand deiner Möbel prüfen. Eigentlich hatte ich dich bei dieser Gelegenheit wecken wollen. Weißt du, frühmorgens machen solche Gemeinheiten besonders viel Spaß.«
»Es ist nichts passiert. Ich habe durchschlafen können. Und jetzt gehe ich nach Hause. Bleib also tapfer und hüte dich vor meinen Möbeln.«
»Ich werde mein Möglichstes tun, aber beeil dich bitte, denn deine Möbel sind verhext, und ich bin schutzlos.«
Ich sprang von Melifaros Sessel. Die Schlafmütze kam als Letzter zum Dienst, und ich blieb bis kurz vor Mittag in seinem Büro. Das Tagesantlitz von Sir Juffin lebte in meiner Gegenwart geradezu auf und meinte: »Du denkst wohl, solange du nicht auf die Straße gehst, bleibt die Zeit stehen, was?«
»Beinahe. Ich fürchte, ich habe die Gesellschaft einer wunderbaren Lady dem Anblick deiner Fratze geopfert. Das war dumm von mir - findest du nicht?«
»Meine Fratze ist gar nicht so unansehnlich«, sagte Melifaro beleidigt.
»Stimmt eigentlich«, pflichtete ich ihm bei. »Aber ich bevorzuge Abwechslung.«
Techi saß in meinem Wohnzimmer und las den Trubel von Echo. Ihre herrlichen Silberlocken sahen nur gerade eben hinter der Zeitung hervor. Meine wunderbare Lady hatte sich auf dem Stuhl ausgestreckt, als wäre er ein Sofa.
»Ach deshalb«, seufzte ich vorwurfsvoll.
Die Zeitung flatterte zu Boden, und ich erblickte eines der schönsten Frauengesichter von Echo.
»Was redest du da, Max?«
»Nichts Besonderes«, meinte ich lächelnd. »Es ist nur so, dass es in Echo nun ein Geheimnis weniger gibt. Jetzt ist mir klar, warum meine Stühle immer kaputtgehen.
Ich hoffe, deine Kunden wissen, dass dein Lokal heute geschlossen ist.«
Techi nickte und fragte dann vorsichtig: »Max, hättest du etwas dagegen, wenn ich mir für den Abend ein anderes Gesicht zulegen würde?«
»Warum sollte ich? Dein Gesicht versetzt mich zwar in Euphorie, aber mach, was du willst. Was ist? Hast du Angst vor Klatschmäulern?«
Techi zuckte kühn die Achseln. »Unsinn. Ich werde nur nicht gern angestarrt. Weißt du, mein Leben lang bin ich aus den verschiedensten Gründen angeglotzt worden. Lojso Pondochwas Tochter zu sein, ist eben kein Zuckerschlecken. Und wenn ich auch dich bäte, dir ein neues Gesicht zuzulegen - wäre das zu viel verlangt?«
»Mach mit mir, was du willst. Aber in Juffins Dutzend essen nur nette Leute - die starren niemanden an.«
»Gut möglich. Ich würde mich aber trotzdem freuen, wenn du meine Bitte erfüllst«, meinte Techi.
»Na schön. Das wird wirklich spaßig, wenn statt uns zwei andere Gestalten dort essen. Ich werde Kofa Joch bitten, aus mir einen Schönling zu machen. Hast du besondere Ansprüche an deinen Begleiter?«
»Du brauchst Sir Kofa wegen dieser Kleinigkeit nicht zu bemühen. Ich kann auch einiges.«
»Wirklich?«, fragte ich erstaunt. »Das ist ja eine Neuigkeit. Umso besser! Dann werde ich im Spiegel also den Mann deiner Träume sehen. Ich zittere schon vor Angst.«
»Nein, das geht nicht«, entgegnete Techi und lachte los. »Um aus dir den Mann meiner Träume zu machen, müsste ich nur eine Kleinigkeit verändern, und nach diesem Eingriff würde dich weiterhin jeder erkennen.«
»Und welcher Eingriff wäre das?«, wollte ich wissen.
»Ich müsste nur deine Zunge verkürzen.«
»Du könntest wirklich netter zu mir sein! Ich habe eben mit Melifaro gesprochen. Im Vergleich zu ihm bin ich geradezu still.«
Techi schwieg und umarmte mich herzlich. Das war auch besser so.
Nachdem wir den ganzen Tag bei mir verbracht hatten, erschien mir das Haus in der Straße der gelben Steine endlich gemütlich. Zum ersten Mal empfand ich Gefallen an meiner so praktischen wie geräumigen Wohnung. Für mich allein hatte ich zwar zu viel Platz, aber zu zweit war es durchaus gemütlich. Das erschien mir eine gute Voraussetzung, um in meinen vier Wänden gemeinsam glücklich zu sein.
Gleich nach dem Frühstück begann Techi zu zaubern. Sie konnte ihre Klienten zwar nicht so gut maskieren wie Sir Kofa und brauchte für das, was bei ihm nur Sekunden dauerte, viel mehr Zeit und Anstrengung, aber ihre Bemühungen waren alles andere als vergeblich. Nach einer halben Stunde sahen wir völlig verändert aus.
Für meinen Geschmack hatte Techi ein wenig übertrieben. Wir waren ein absolut unauffälliges Paar, und mein neues Gesicht erweckte bei niemandem große Begeisterung. Doch auch Techi hatte sich in eine sympathische, dabei aber ganz durchschnittliche Frau verwandelt. Solche angenehmen, aber völlig ausdruckslosen Gesichter trifft man in Echo überall. Doch meine Freundin war mit dem Ergebnis sehr zufrieden, und auch ich leistete keinen Widerstand. Schließlich wollte ich alles tun, damit aus unserem ersten gemeinsamen Ausgehen ein unvergessliches Erlebnis wurde. Schon jetzt wünschte ich mir, die einmalige Prozedur zur Gewohnheit zu machen.
»Ich habe das seltsame Gefühl, fremde Leute gehen für uns essen, und wir müssen dafür zahlen«, sagte ich angesichts unserer Metamorphose.
»Das macht doch nichts. Schließlich bist du ziemlich reich, mein Nachtantlitz«, entkräftete eine Unbekannte meine finanziellen Bedenken.
Glücklicherweise war es Techi nicht gelungen, sich auch von ihrem Charakter zu trennen. Das machte mir die Frau mit dem fremden Gesicht viel sympathischer.
Wir traten auf die Straße.
»Ich fürchte, wir müssen zu Fuß gehen, meine Partisanin, denn mein Wagen fällt garantiert auf«, sagte ich.
»Natürlich machen wir das. Es ist ja nicht weit. Außerdem erwarte ich, von dir aufs Beste unterhalten zu werden. Wenn ich dir sage, seit wie vielen Jahren es mir nicht mehr vergönnt war, mit einem Mann Hand in Hand durch die nächtliche Stadt zu spazieren, wird mein Greisenalter dich die Flucht ergreifen lassen.«
»Nie und nimmer, Liebste. Unter uns gesagt: Du weißt auch nicht, wie alt ich bin.«
Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie sie reagieren würde, wenn sie erführe, wie alt ich wirklich war. In dieser Welt kommt ein Mensch von zweiunddreißig Jahren gerade erst in die Schule. Daher musste mein Alter in unserer Beziehung eines der wenigen süßen Geheimnisse bleiben.
Nachdem ich es einmal mehr geschafft hatte, mich zu verirren, erreichten wir schließlich Juffins Dutzend. Erst beim vierten Anlauf fand ich den Eingang, doch Techis Geduld war unendlich, und sie tat, als wäre mein fieberhaftes Suchen ganz normal.
»Hier ist es aber gemütlich«, sagte sie, kaum dass wir das Lokal betreten hatten. »Du hast Recht - das ist ein sehr nettes Wirtshaus.«
»Es ist immer wieder schön, wenn die Meinung eines Profis mit der eines Laien übereinstimmt«, erklärte ich und führte sie am Ellbogen an einen Tisch. »Mach dich auf einen Kampf gefasst, Liebste. Gleich kommt der grausame Sir Mochi und versucht, uns von der tolanischen Küche zu überzeugen. Dagegen müssen wir uns mit Händen und Füßen wehren.«
»Ich hab noch nie tolanisch gegessen. Ist das wirklich so schlimm?«
»Na ja, eigentlich schmeckt es wunderbar.«
»Dann verrate mir doch bitte, Liebster, wogegen wir uns wehren sollen.«
»Keine Ahnung. Wir bräuchten Sir Kofa. Der würde uns das sicher erklären. Ich kann seine Worte nur wiederholen, ohne sie zu verstehen.«
»Guten Abend, meine Herrschaften.«
Mochi Fa sah mich gleichmütig an, und ich merkte, dass er mich nicht erkannte. Techi hatte sich nicht umsonst bemüht.
»Ich bin Max, aber behalten Sie das bitte für sich«, flüsterte ich ihm zu. »Heute bin ich inkognito unterwegs, weil meine Begleiterin von ihrem und meinem Gesicht tödlich gelangweilt ist.«
»Natürlich«, sagte Mochi und nickte freundlich. »Hier ist die Karte.«
Unser Wirt war heute seltsam sanftmütig, und das ließ mich die Ohren spitzen. Er stand still an unserem Tisch, ohne sich in die Bestellung einzumischen. War er etwa krank?
»Ich würde gern einen anständigen Wein trinken«, sagte Techi verträumt. »Etwas Südliches. Haben Sie vielleicht Weine aus Tascher?«
»Natürlich.«
»Dann nehme ich den besten.«
»Den Strui Gaparochi also«, sagte Mochi, nickte ergeben und verschwand.
»Denken Sie bitte an meine Kamra vor dem Essen«, rief ich ihm nach.
»Natürlich.«
Seine immer gleiche Antwort warf mich aus der Bahn. Schließlich prägte seine gereizte und herablassende Art sonst die Atmosphäre des Lokals, und das nicht zu knapp.
»Ich glaube, er ist heute nicht in Form«, meinte ich schuldbewusst zu Techi. »Schade - ich dachte, du würdest mehr Spaß mit ihm haben.«
»Keine Sorge, es gefällt mir hier wirklich«, meinte sie lächelnd. »Außerdem können wir dieses Abenteuer jederzeit wiederholen. Du kannst sogar als Erster kommen und ihn zur Weißglut treiben, damit er völlig durchdreht, wenn ich dann auftauche - falls dir wirklich so viel daran liegt, dass er mich beschimpft.«
»Unbedingt«, nickte ich. »So machen wir es demnächst.«
Mochi kehrte mit unseren Getränken zurück. Der Wein Strui Gaparochi erwies sich als dickflüssig, bernsteinfarben und likörähnlich.
»Ich möchte die tolanische Küche probieren«, verkündete Techi. »Sie brauchen den Koch aber nicht anzutreiben, denn wir haben vor, länger zu bleiben - stimmt's, Max?«
»Genau«, sagte ich lächelnd. »Ich habe keine weiteren Pläne für den Abend.«
»Wie Sie wünschen«, nickte Mochi phlegmatisch und verschwand wieder Richtung Küche. Ich sah ihm perplex nach. Woher mochte sein Stimmungswechsel rühren?
Endlich beschloss ich, mich nicht länger mit so dummen Sachen zu beschäftigen, und sah mich ein wenig um. Zu meinem Erstaunen entdeckte ich erneut den Mann mit dem dunklen Lochimantel und der Brille. Er saß an seinem Lieblingsplatz am Fenster. Ich erinnerte mich an das lustige Ereignis vom Vortag und erzählte Techi davon, doch sie lachte nicht, sondern zog die Stirn kraus.
»Warte mal, Max - diese Geschichte erinnert mich an etwas. Aber woran?«
»Vielleicht hat er dir den gleichen Vorschlag gemacht.«
»Unsinn, ich sehe ihn zum ersten Mal. Aber deine Geschichte habe ich schon gehört.«
»Weißt du, ich habe die blöde Angewohnheit, ein und dasselbe mehrmals am Tag zu erzählen.«
»Nein, das war vor Jahren. Aber ich kann mich wirklich nicht genau daran erinnern. Zu den Magistern mit dem Mann mit Brille - es gibt Interessanteres auf der Welt.«
Das sah ich genauso. Aber ehrlich gesagt beschäftigte mich diese Geschichte so sehr, dass ich mir vornahm, dem Unbekannten zu folgen. Wer weiß - vielleicht würde sich dabei etwas Aufregendes ergeben.
Nach einer halben Stunde rief Techi den Wirt zu sich.
»Der Wein aus Tascher, den Sie mir serviert haben, war ganz in Ordnung. Aber wissen Sie - ich glaube, ich bin zu sehr an meine Weinsorte gewöhnt, also an Oskij Ash. Könnten Sie mir davon ein Glas bringen?«
»Natürlich«, sagte Mochi, nickte und verließ energischen Schrittes sein Wirtshaus.
»Wo läuft er denn hin?«, fragte ich ratlos.
»Keine Ahnung. Aber irgendwann kehrt er sicher zurück, und dann kannst du ihn verhören«, meinte Techi achselzuckend. »Max, warum sitzt du eigentlich die ganze Zeit wie auf glühenden Kohlen da? Liegt das am Vollmond?«
»Wie jeder vom Kleinen Geheimen Suchtrupp werde auch ich misstrauisch, wenn ich ein mysteriöses Verhalten beobachte«, antwortete ich belustigt und setzte nach einer kurzen Denkpause hinzu: »Weißt du, das ist ein Reflex bei mir. Etwa um diese Zeit beginnt normalerweise mein Dienst.«
»Verstehe. Du bist gerade angriffslustig und suchst nach einem Geheimnis, das du lüften kannst«, meinte Techi. »Zum Glück bin ich in ganz anderer Stimmung. Um diese Zeit könnte ich literweise Getränke aller Art ausschenken. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der hiesige Wirt darauf spekuliert, ich würde mich für ihn hinter die Theke stellen. Er hat das Gesicht eines Menschen, der jeden für sich einzuspannen vermag.«
»Nach meiner Einschätzung würde er dir allerdings mindestens die Hälfte deines Trinkgelds wieder abnehmen.«
Mochi kehrte binnen weniger Minuten zurück und war ganz durchnässt. Allem Anschein nach hatte es zu gießen begonnen.
»Hier ist Ihr Wein, Lady«, sagte er und zog eine Flasche aus dem Mantel.
Wir sahen erstaunt drein.
»Sind Sie etwa meinetwegen einkaufen gegangen?«, fragte Techi. »Vielen Dank, aber das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie diesen Wein nicht führen, hätte ich etwas anderes bestellt.«
»Natürlich. Nächstes Mal sage ich Ihnen Bescheid«, antwortete Mochi und nickte ergeben. »Aber Sie haben mich um Oskij Ash gebeten, und ich habe ihn für Sie besorgt - also trinken Sie ihn jetzt bitte.«
»Vielen Dank«, wiederholte Techi leicht erschrocken. »Sehr nett von Ihnen. Ist unser Essen schon fertig?«
»Vermutlich. Soll ich es Ihnen bringen?«
»Ja, bitte.«
Techi war so gerührt, dass sie beinahe geweint hätte. Ich auch - aber nur, weil ich da noch nicht wusste, was es mit dem Verhalten des Wirts auf sich hatte. Wir warfen Mochi einen ungläubigen Blick nach.
»Er ist in dich verliebt, meine Liebe«, sagte ich mit lindem Spott. »Das ist die einzig denkbare Erklärung. Hättest du dein Gesicht nicht verändert, hätte ich ihn womöglich zum Duell gefordert, aber so lohnt sich das nicht.«
»Du kennst dich bei Frauengesichtern wirklich nicht aus«, seufzte Techi. »Ich habe mich hübsch gemacht, und du redest Unsinn, statt mir etwas Nettes zu sagen.«
»Etwas muss ich ja reden, wenn Mochi nicht in Form ist«, rechtfertigte ich mich.
Unser Wirt erschien erneut, diesmal mit zwei Tellern. Techi machte sich gleich über die so gelobte tolanische Spezialität her. Ich musterte Mochi unverwandt. Mein Herz klopfte wie verrückt und hätte sich am liebsten losgerissen - meine beiden Herzen, um genau zu sein.
Der Wirt beugte sich wieder zu dem Besucher im schwarzen Lochimantel, wechselte ein paar Worte mit ihm und trat dann rasch auf die Straße.
»Jetzt reicht's mir aber«, flüsterte ich Techi zu. »Er ist schon wieder nach draußen gegangen. Was ist heute bloß mit ihm los?«
»Er hat offenbar sehr anspruchsvolle Gäste«, erklärte meine Freundin. »Dieser großartige Wirt fürchtet anscheinend um die Reputation seines Lokals. Nach meinem Empfinden tut er das zu sehr. Aber jetzt iss, mein Lieber - ich hätte es nie für möglich gehalten, dass du es schaffen würdest, eine geschlagene Minute vor einem vollen Teller zu sitzen, ohne davon zu kosten.«
Schuldbewusst beugte ich mich vor und begann zu essen.
Wer hätte gedacht, dass ich mich als stolzer Besitzer von Geheimratsecken und einer Fellmütze aus Isamon in diesem Gasthaus so prächtig ernähren kann, dachte ich beim Schlemmen und überlegte, den Koch zu mir nach Hause zu entführen.
Nichtsdestotrotz ließ ich den seltsamen Besucher im dunklen Lochimantel nicht aus den Augen. Weil ich zugleich auch die Tür, durch die Mochi verschwunden war, im Blick behalten musste, wünschte ich mir sehnlich, der Wirt möge bald zurückkehren. Seine Abwesenheit verdarb mir den Appetit. Aber er kam nicht wieder, und plötzlich stand auch der Mann im Lochimantel auf und verließ das Lokal.
»Sieh mal, der Mann mit der Brille ist auch weg«, sagte ich und schüttelte erschüttert den Kopf.
»Der hat sein Essen bestimmt nicht bezahlt«, seufzte Techi. »Armer Mochi Fa! In dieser schrecklichen Stadt gibt es wirklich ungemein viele Gauner. Er hätte besser eine Aufsicht eingestellt.«
»Sir Kofa hat erzählt, dieses Lokal sei ein klassischer Familienbetrieb, in dem niemand arbeitet, der nicht eng mit dem Besitzer verwandt ist. Seine Frau werkelt in der Küche, ihre Schwestern helfen ihr dabei, und die Kinder stören. Mochi pendelt zwischen Restaurant und Küche. Außerdem essen hier nur Stammgäste, die sich untereinander kennen - außer uns und dem Mann mit der Brille natürlich. Diese Geschichte gefällt mir nicht.«
»Wirklich nicht?«, fragte Techi und sah mich aufmerksam an. »Quäl dich doch nicht so. Folge dem seltsamen Kerl ruhig und frag ihn, warum er sich so merkwürdig verhält. Oder hast du Angst vor dem Regen?«
»Unsinn! Warum sollte ich davor Angst haben?«, fragte ich gereizt. »Aber wie sieht das denn aus? Ich kann dich doch nicht erst ausführen und dann verschwinden - das ist nicht mein Stil. So bin ich nicht erzogen.«
»Um mich brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Ich hab ein paar Zeitungen dabei, die ich deinetwegen heute Morgen nicht zu Ende lesen konnte.«
»Meinetwegen? Immer bin ich an allem schuld! Willst du mich wirklich loswerden?«
»In diesem Zustand ja. Es ist für mich viel besser, wenn du jetzt losziehst und nicht bleibst und mir mit deiner ungestillten Neugier auf die Nerven fällst. Übrigens ist dein Teller noch immer voll. Geh am besten dem geheimnisvollen Mann nach. Oder such Mochi Fa - ein aufmerksamer Wirt wie er darf wirklich nicht so lange abtauchen.«
»Na, wenn du meinst«, sagte ich und stand entschieden auf. Doch dann fiel mir etwas ein, und ich setzte mich wieder.
»Du willst den Geheimnissen also doch ihren Lauf lassen und in Ruhe essen?«, fragte Techi erfreut. »Ich hab ja geahnt, dass du klüger bist, als es den Anschein hat.«
Im Gegenteil - ich bin viel dümmer als ich aussehe, dachte ich verstohlen. Aber weil ich so mächtig bin, habe ich aufgehört, über mein Handeln nachzudenken. Womöglich sollte ich mich ab und an besinnen.
Das eigentliche Problem bestand nämlich darin, dass ich nicht einfach jemandem auf die Spur treten durfte, denn das tötete durchschnittlich gesunde Menschen binnen Minuten - und ich konnte nicht sicher sein, den Mann im Lochimantel so rasch zu finden, und wusste nicht, ob Mochi Fa, dessen Leben mir immer wichtiger wurde, so kerngesund war, wie es schien. Ich kenne so manchen, der kräftig und gesund aussieht, aber ein schwaches Herz hat.
Also beschloss ich, unsere Verfolgungsmeisterin Lady Melamori Blimm zu rufen. Ich meldete mich per Stumme Rede bei ihr und versuchte, ihr die komplizierte Situation in aller Kürze zu schildern. Es war zwar noch nichts Ernstes geschehen, doch meine Ahnungen täuschten mich nie. Davon konnte Melamori inzwischen ein Lied singen.
Ihre Reaktion war für mich völlig überraschend.
»Max«, sagte sie streng, »gib mir bitte dein Ehrenwort, dass mein Großvater Kima Blimm nicht neben dir sitzt und dir eingeredet hat, er wünsche sich nichts mehr, als sich mit mir zu versöhnen. Ich kenne seine Tricks - so was würde gut zu ihm passen.«
»Wie kommst du denn darauf? Seit wann bist du so misstrauisch? Dein Opa ist nirgendwo zu sehen. Außerdem bin ich im Moment gar nicht zu erkennen, da Techi mein Gesicht verändert hat. Ich habe kleine Augen, eine durchschnittliche Nase und einen sehr markanten Unterkiefer - vermutlich den hübschesten von Echo.«
»Du hast dein Äußeres verändert?«, fragte Melamori erstaunt. »Na gut, ich komme. Geh mir doch entgegen, um mich abzuholen. Ich kenne den Weg zu Juffins Dutzend nämlich nicht. Warum hast du überhaupt dein Aussehen geändert? Hast du von vornherein mit etwas Unangenehmem gerechnet?«
»Nein, das war Techis Idee. Sie hat mich heute wohl zum ersten Mal bei Tageslicht gesehen und daraufhin beschlossen, alle Fehler, die die Natur bei mir gemacht hat, zu verbessern. Aber ich fürchte, das hat nicht hingehauen.«
»Wirklich nicht? Ich hätte schwören mögen, es könnte nicht schlimmer werden als es war.«
»Ach, hör schon auf, dich über mich lustig zu machen. Komm besser möglichst schnell zu mir. Ende.«
Nach diesem merkwürdig bezaubernden Gespräch sah ich Techi schuldbewusst an und sagte: »Jetzt gehe ich wirklich. Ich habe eben Melamori per Stumme Rede gerufen und muss ihr entgegenlaufen.«
»Mochi Fa ist tatsächlich nicht zurückgekehrt«, seufzte Techi. »Deine Vorahnungen haben nicht getrogen - leider.«
»Wirst du meine Abwesenheit denn überleben?«, fragte ich, weil ich um jeden Preis Kavalier bleiben wollte.
»Das schaffe ich schon«, meinte sie nur und winkte ab. »Ich habe schließlich auch deine Anwesenheit überlebt.«
Trotz ihrer Kulleraugen und ihrer wie gemeißelt wirkenden Nase war meine Techi noch immer, wie sie eigentlich war, nämlich wunderbar.
Als ich auf die Straße kam, bog eben Lady Melamoris Wagen um die Ecke. Das Wetter war nicht gerade für Abenteuer gemacht, denn es regnete stark. Aber ich hatte keine Wahl.
»Toll!«, rief ich Melamori zu. »Du fährst von Tag zu Tag schneller.«
»Und du siehst wirklich lustig aus«, sagte sie kichernd. »Hat Techi dich so zugerichtet? Profiarbeit!«
»Was hast du denn erwartet?«, brummte ich. »Na schön, lass uns Mochi suchen.«
»Gut, Max. Vergiss bitte, was ich dir über Kima erzählt habe. Was den angeht, hat mich der Vorfolgungswahn gepackt, fürchte ich. Aber in den letzten Tagen hat meine Familie alles Mögliche unternommen, um sich mit mir zu versöhnen. Sie war über Alothos Abreise ganz erleichtert - als ob seine Abwesenheit etwas an meinen Gefühlen für ihn ändern könnte.«
Melamori zog ihre Schuhe aus, machte ein paar unentschiedene Schritte auf den Eingang von Juffins Dutzend zu und sah mich dann erschrocken an.
»Ich glaube, ich hab gefunden, was wir suchen. Mochi hat vor etwa einer halben Stunde vor dem Lokal gestanden und ist dann weggegangen. Ich entdecke sicher gleich, wohin.«
Meine beiden Herzen schienen aneinanderzustoßen. »Gibt es außer Mochis Spur vielleicht noch eine andere?«
»Ja.«
Aus meinen Ahnungen wurde langsam ein unbestimmter, aber begründeter Verdacht. Die Sache sah böse aus.
»Gehört die zweite Spur etwa einem mächtigen Zauberer? «
»Mir kommt sie eher wie die Spur eines ganz normalen Menschen vor. Allerdings hat sie etwas Abstoßendes, das aber nicht von Zauberei herrühren dürfte. Genauer kann ich das leider nicht sagen.«
»Schön«, meinte ich und nickte. »Wir sollten uns diesen Mochi auf jeden Fall genauer ansehen. Mit der anderen Spur können wir uns später beschäftigen.«
»Mochi ist vor dem Lokal in ein A-Mobil gestiegen und weggefahren«, stellte Melamori Sekunden später fest. »Aber er saß nicht am Steuer - da bin ich mir sicher. Max, klemm dich hinter den Lenker meines Wagens und folge meinen Anweisungen. So sind wir schneller.«
Ich erfüllte ihre Bitte, und binnen Sekunden nahmen wir die Verfolgung auf.
»Da vorne rechts ... Fahr nicht so schnell - ich schaffe es ja kaum, dir rechtzeitig zu sagen, wo du abbiegen sollst. Wir holen die beiden noch rasch genug ein ... Jetzt wieder rechts.«
»Was ist überhaupt zwischen dir und deinem Großvater vorgefallen? Ihr habt euch doch früher nie gestritten! Ich finde ihn sehr sympathisch und verstehe gar nicht, dass du dich mit ihm zanken kannst.«
»Eigentlich hast du Recht ... Hier links ... Kima und ich waren wirklich befreundet - diesen Eindruck jedenfalls hatte ich. Und deshalb bin ich jetzt auch so sauer auf ihn. An die Dummheiten meiner Eltern bin ich ja gewöhnt, aber von ihm hätte ich das nicht gedacht. Er hat zwar immer an mir herumkritisiert, aber etwas anderes hatte ich ohnehin nicht erwartet. Er hat immer so getan, als sei alles in Ordnung, und mich dabei doch ständig zu belehren versucht. Und natürlich hat er gedacht, ich würde seine Schulmeisterei nicht bemerken. Genau das hat mich jetzt wütend gemacht.«
»Wir verlassen ja die Stadt!«, rief ich erstaunt.
»Na und? Die Menschen, die wir suchen, sind ganz in der Nähe. Das spüre ich.«
»Prima. Was hat dir Kima überhaupt unterjubeln wollen?«
»Das fragst du ihn am besten selbst. Er hat bestimmt gedacht, er sollte mir ein paar Lebensweisheiten beibringen. Als Alotho nach Arwaroch reiste, besuchte ich noch am selben Tag meinen Großvater. Das hatte ich schon als Kind getan. Wenn etwas nicht stimmte, konnte ich immer zu ihm gehen. Aber in diesem Fall hätte ich besser mit dir geredet.«
»Sündige Magister - was hat er dir denn gesagt?«
»An sich nichts Besonderes. Aber es hat mich trotzdem auf die Palme gebracht. Er hat lange um den heißen Brei herumgeredet und gemeint, er verstehe mich sehr gut. Ist dir eigentlich schon aufgefallen, dass Echo voller Menschen ist, die genau wissen, was mit dir los ist? Und dann hat mein Großvater auch noch gesagt: >Du glaubst, dir widerfährt etwas ganz Außergewöhnliches. Dabei ist das, was du erlebst, völlig normal. Liebe ist nämlich eine Falle der Natur, um uns dazu zu verleiten, Nachkommen in die Welt zu setzen.« Genau das hat er gesagt! Es fällt mir schwer, dir zu erklären, warum mich ausgerechnet dieser Satz so wütend gemacht hat, Max.«
»Na ja, er ist ziemlich zynisch«, meinte ich. »Verliebte sind sich in der Regel nicht darüber im Klaren, wie banal ihre Geschichte auf Außenstehende wirkt. Hätte mir jemand vor einigen Jahren so etwas gesagt, wäre ich sofort ausgerastet.«
»Und wie würdest du heute reagieren?«, fragte Melamori vorsichtig. »Würdest du solche Äußerungen jetzt gelassen nehmen?«
Ich zuckte die Achseln. »Inzwischen ist mir die Meinung anderer zu diesem Thema egal. Aber vielleicht überschätze ich meine Geduld, weil sich seit langem niemand mehr so massiv in mein Leben hat einmischen wollen.«
»Übrigens«, begann Melamori lächelnd, »siehst du den Wagen dort vorn? Dein kostbarer Mochi sitzt drin - darauf gebe ich dir Brief und Siegel.«
»Ausgezeichnet. Und jetzt, Unvergessliche?«
»Jetzt lassen wir uns überraschen«, meinte Melamori leichthin, denn als typische Verfolgungsmeisterin dachte sie in diesem Moment nur daran, die Jagd zu beenden und sich die Beute zu schnappen. So war die Welt nun mal. Ich musste mich also auf eigene Faust vor eventuellen Gefahren schützen.
Das war leichter gesagt als getan. Ich wusste nicht mal, ob Mochi überhaupt Hilfe brauchte. Vielleicht hatte er etwas Wichtiges zu tun oder sich hier zu einem Schäferstündchen verabredet. Doch es war zu spät, die Geschichte auf sich beruhen zu lassen. Deshalb machte ich, was mir als Erstes in den Sinn kam: Ich beschleunigte, überholte das für uns so interessante A-Mobil, kehrte um und fuhr Mochi entgegen. Ich spürte, dass Melamori neben mir in Deckung ging und kaum mehr atmete. Meine einzige Hoffnung war, dass der Fahrer des anderen Wagens kein Kamikaze war.
Der Mann mit der Brille war zwar kein Kamikaze, aber so erschrocken, dass er beschleunigte, statt zu bremsen, und bei dem Versuch, mir auszuweichen, im Graben landete. Ich hielt fluchend an und lief zu dem anderen Wagen.
In diesem Moment interessierte mich nur, ob Sir Mochi den Unfall gesund überstanden hatte. Ich hoffte innig, mein neues Lieblingsgasthaus müsste nicht wegen eines Todesfalls geschlossen werden. Sofort beugte ich mich über unseren Wirt. Er war bewusstlos, und ich befürchtete das Schlimmste.
»Mochi, ich verbiete Ihnen zu sterben«, flüsterte ich mit zitternder Stimme.
Das war womöglich nicht sehr intelligent, funktionierte aber seltsamerweise. Mochi öffnete die Lider und sagte demütig: »Wie Sie wünschen.«
Ich atmete erleichtert auf. »Alles in Ordnung?«
»Ich weiß es nicht.«
Jetzt erst merkte ich, dass sein Gesicht ganz blutig war. Das sah nicht gut aus.
»Ich fahre mit Ihnen zu Sir Juffin«, sagte ich fröhlich. »Der bringt Sie sicher wieder auf die Beine.«
»Wie Sie wünschen«, sagte Mochi und nickte matt. Dann rappelte er sich auf und kam zu unserem Wagen.
Nun erst dachte ich daran, mir auch den Fahrer anzusehen, doch der Platz am Steuer war leer. Offenbar war der Brillenträger getürmt, als ich mich um Mochi gekümmert hatte.
Doch der mysteriöse Mann hatte es nicht weit geschafft, sondern lag einige Schritte entfernt im Graben. Er war tot - das war sofort klar. Sicher war er aus dem Wagen geschleudert worden und hatte sich beim Aufprall das Genick gebrochen.
Eigentlich hätte mich sein Tod betrüben sollen, aber meine beiden Herzen reagierten darauf seltsam gleichgültig. Irgendwie war ich mir sicher, dass der Tod dieses Menschen im Lochimantel kein bedeutendes Ereignis war.
Ich wunderte mich über meine Gelassenheit, zuckte die Achseln und ging zu meinem A-Mobil.
»Was ist mit dem Fahrer?«, fragte Melamori.
»Er ist tot. Das ist sicher schlimm, aber irgendwie ist es mir egal. Außerdem kenne ich seine Rolle in diesem Spiel ganz und gar nicht.« Ich wandte mich an Mochi, der es sich auf dem Beifahrersitz bequem gemacht hatte.
»Wie geht es Ihnen?«
»Gut, danke. Aber ich kann nichts sehen - meine Brille, wissen Sie?«
»Ach, verzeihen Sie. Ich bin wirklich ein Dummkopf -die hab ich ganz vergessen.«
Ich suchte den Straßengraben ab, setzte mich dann in den Unfallwagen und sah mich sorgfältig um. Direkt neben der Fahrertür lag eine Brille. Ich hob sie auf und suchte weiter. Immerhin waren hier zwei Brillenträger verunglückt, und ich vermutete, bisher nur die Brille des Toten gefunden zu haben. Die zweite lag hinterm Beifahrersitz. Ich staunte, denn alle vier Gläser waren heil geblieben. Nur ein Gestell war etwas verbeult. Wir Menschen sind zerbrechlich, dachte ich, aber unser Besitz ist zäh.
Ich kehrte zu meinem Wagen zurück und zeigte dem Wirt beide Brillen: »Die sind für Sie, Mochi. Ich weiß leider nicht, welche Ihnen gehört.«
Er nahm die linke Brille und setzte sie auf. »Die ist es jedenfalls nicht, denn damit sehe ich noch weniger als ohne.« Dann schob er sich die rechte Brille auf die Nase und nickte zufrieden.
Gedankenverloren hielt ich die überflüssige Brille in Händen. Sie hatte dem Mann im Lochimantel gehört und sich binnen Minuten in ein sentimentales Andenken verwandelt.
Melamori musterte mich so neugierig wie gelassen. Offenbar kamen ihr die Geschehnisse nicht weiter ungewöhnlich vor. Mochi hantierte indessen die ganze Zeit mit seiner Brille herum. Offenbar hatte er nichts Wichtigeres im Kopf.
Mit der Rückfahrt beeilte ich mich nicht und fragte mich ohnehin, ob Mochi überhaupt medizinische Hilfe benötigte, da er inzwischen wieder recht gut aussah. Er benahm sich nur noch etwas seltsam.
Ich beschloss, mich ein wenig mit ihm zu unterhalten.
»Warum waren Sie eigentlich mit diesem Kerl unterwegs? Angesichts des vollbesetzten Lokals hat mich Ihr plötzliches Verschwinden so erstaunt, dass ich Ihnen gefolgt bin. Was hat Ihnen der Mann im dunklen Lochimantel denn erzählt?«
»Er hat nur >Komm mit!< gesagt«, erklärte Mochi, »und mich gebeten, am Eingang auf ihn zu warten. Genau das hab ich getan.«
»Moment mal«, unterbrach ich ihn. »Hier stimmt doch was nicht. Er hat Ihnen doch gestern genau das Gleiche gesagt, und da haben Sie ihn zum Teufel geschickt! Können Sie mir Ihren Sinneswandel erklären?«
»Nein.«
»Warte, Max - du stellst die falschen Fragen«, mischte Melamori sich ein. »Sir Mochi, sagen Sie uns doch bitte, warum Sie mit dem Unbekannten weggegangen sind.«
»Wie Sie wünschen. Ich kann heute einfach niemandem etwas abschlagen. Ich habe das Gefühl, es wird etwas Furchtbares passieren, wenn ich eine Bitte ablehne. Verstehen Sie mich nun besser?«
»Mehr oder weniger«, sagte Melamori, sah den Wirt aber bestürzt an.
»Wie bist du auf die Idee gekommen, ihm ausgerechnet diese Frage zu stellen«, wollte ich von ihr per Stumme Rede wissen, da es mir taktlos erschienen wäre, in Mochis Beisein über ihn zu reden.
»Darauf hättest du von allein kommen können. Du hast ihn doch selbst angefleht, wieder lebendig zu werden, und auch dieser Bitte hat er brav Folge geleistet.«
»Was?«, fragte ich frappiert.
»Du hast dich nicht verhört. Ich war noch auf seiner Spur, als der Unfall passierte - also irre ich mich nicht. Mochi starb tatsächlich, wurde aufgrund deiner Bitte aber wieder lebendig. Nach meinem Eindruck geht es ihm inzwischen wieder so gut, dass wir ihn nicht mal zu Sir Juffin bringen müssen. Noch vorhin hatte er eine blutende Wunde, und jetzt ist nur noch eine Schramme zu sehen -und zwar nicht, weil du ein grandioser Heiler bist, sondern weil Mochi alles tut, worum du ihn bittest.«
»Tja«, seufzte ich, »mein Kopf ist vermutlich zu klein, um so komplizierte Dinge zu verstehen.«
Ich wandte mich wieder an Mochi: »Aber gestern Abend hatten Sie noch nicht das Bedürfnis, jede Bitte zu erfüllen, oder? Ich kenne Sie ein bisschen und weiß, dass das nicht Ihr Stil ist.«
»Stimmt. So was passiert mir - den Magistern sei Dank -nicht jeden Tag«, sagte Mochi und nickte freundlich.
»Also kennen Sie das schon?«, fragte ich erstaunt.
»Das geschieht mir seit der Kindheit - aber nur selten. Wissen Sie, Sir Max, dieser Zustand dauert bei mir immer nur einen Tag, und meine Familie ist froh, wenn es mal wieder so weit ist.«
»Das verstehe ich gut«, meinte ich und lachte herzlich. Auch Mochi lächelte höflich. Melamori nahm mir die Brille des Unbekannten ab und untersuchte sie.
»Ich kann nicht herausfinden, woher der Tote stammt. Die Spur eines Toten verschwindet sehr schnell. Nur sein Eigentum kann einem dann noch behilflich sein. Max,
vielleicht hast du ja mehr Glück. Du zeigst uns doch so oft, wie leicht es ist, die menschlichen Möglichkeiten zu übertreffen. Aber dafür müssen wir in Juffins Dutzend zurück, weil sich nur dort die Reste der Spur befinden -wenn überhaupt.«
»Also fahren wir wieder dorthin. Das ist auch besser für Mochi. Nach diesem anstrengenden Abenteuer kommt er endlich nach Hause.«
»Wir müssen den Toten noch einpacken«, erinnerte mich Melamori. Sie hatte einen schuldbewussten Blick, weil immer ich solche unangenehmen Aufgaben zu erfüllen hatte. Ich seufzte, ging wieder zum Straßengraben und machte die mir so geläufige Handbewegung. Sekundenbruchteile später war die Leiche zwischen Daumen und Zeigefinger meiner Linken verschwunden. Dass ich sofort das starke Bedürfnis hatte, mir die Hände zu waschen, zeigte mir, wie blank meine Nerven mal wieder lagen.
»Lasst uns fahren, Leute«, rief ich mit forcierter Munterkeit und setzte mich ans Steuer.
»Prima«, rief Melamori und sah wieder zufrieden aus, da sie das Ende unserer unerwarteten nächtlichen Rallye schon absehen konnte. »Schön, Max«, sagte sie lächelnd zu mir. »Endlich bist du wieder der Alte. Es ist eine echte Freude, dich anzuschauen.«
»Wirklich? Tja - Techi hat zwar ihr Bestes getan, konnte aber nicht damit rechnen, dass ich um diese Zeit noch immer nicht zuhause bin. Sie ist zwar keine Hellseherin, aber mir reicht schon, dass sie die Tochter von Lojso Pondochwa ist.«
»Hellseherei hat noch nie zu den Stärken des Ordens der Wasserkrähe gehört«, stellte Melamori erstaunlich ernst fest. »Dafür haben seine Mitglieder andere Qualitäten. Vielleicht sollte ich mir auch eine Brille anschaffen, Max - was meinst du?«, fragte sie, nachdem sie die ganze Zeit mit der Brille des Toten hantiert hatte.
»Manche Leute wirken damit plötzlich sehr intelligent. Setz das Ding doch mal auf. Wenn ich dann nicht erschrocken wegschaue, kannst du davon ausgehen, dass sie dir steht.«
Melamori setzte die Brille auf und zupfte mich am Lochimantel. »Na, Max - wie gefall ich dir?«
»Nicht schlecht, aber irgendwie ähnelst du Sir Mochi. Hoffentlich haben seine Frau und seine Kinder jetzt keine Probleme, Original und Fälschung zu unterscheiden.«
»Mochi, dieser schreckliche Mensch behauptet, ich würde Ihnen ähnlich sehen - stimmt das?«, fragte Melamori, sah den Wirt dabei an und rief entsetzt: »Max, halt sofort an!«
Ich bremste erst und erschrak dann - gut, dass es nicht umgekehrt war. Der Wirt allerdings wirkte völlig normal: lebendig, gesund und höflich erstaunt. Melamori sah ihn nun ohne Brille an.
»Entschuldigen Sie, meine Herren«, sagte sie und lächelte schuldbewusst. »Mit Herrn Mochi ist offenbar alles in Ordnung - anders als mit meinen Nerven ... oder mit dieser Brille.« Sie sah erneut hindurch und reichte sie mir dann: »Überzeug dich selbst, Max.«
Ich setzte die Brille auf und sah Melamori an. »Tja, ich glaube, das ist Fensterglas.«
»Du sollst nicht mich anschauen, sondern Sir Mochi. Um ihn geht es doch die ganze Zeit.«
Ich tat, wie mir geheißen, und staunte: Sein Gesicht leuchtete im Halbdunkel in einem seltsamen Blau. Das sah zwar sehr hübsch aus, beunruhigte mich aber nicht wenig.
»Na«, meinte ich, als ich die Brille absetzte. »Das wird ja immer interessanter. Melamori - hast du schon mal etwas Ähnliches erlebt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Was ist denn mit meinem Gesicht?«, wollte Mochi wissen.
»Mit dem ist alles in Ordnung«, beruhigte ich ihn. »Aber die Brille lässt es verändert erscheinen. Am besten bringen wir Sie ins Haus an der Brücke, damit Sir Juffin sich damit beschäftigt. Er kann nämlich selbst kniffligste Fälle lösen.«
»Aber am liebsten würdest du selber die Lösung finden, stimmt's?«, fragte Melamori verständnisvoll.
»Ja«, seufzte ich und drehte einen kleinen Dolch mit Magieanzeiger in den Händen.
Jetzt war zu klären, ob es sich bei der Brille um einen mittels verbotener Magie hergestellten Gegenstand handelte. Das jedenfalls konnte ich auch ohne meinen Chef feststellen.
Der Zeiger zitterte zunächst ein wenig und sprang dann vehement auf die weiße Hälfte des Anzeigefelds.
»Seltsam, oder?«, fragte Melamori und zog ein finsteres Gesicht. »Wir sind daran gewöhnt, dass zur Herstellung auffälliger Gegenstände immer schwarze Magie vonnöten ist.«
»Aber hier ist weiße Magie im Spiel!«, rief ich. »Weiße Magie 18. Grades, um genau zu sein. Die ist zwar offiziell auch verboten, aber seitdem Köche sie in gewissen Fällen einsetzen dürfen, sieht man das nicht mehr so eng.«
»Du hast Recht. Wir achten nicht mehr auf den Einsatz von weißer Magie - so verbreitet ist er schon. Aber Magie 18. Grades kann gefährlich sein und zu ganz anderen Zwecken dienen als nur dazu, ausgefallene Gerichte zuzubereiten.«
»Siehst du - noch ein Indiz dafür, dass hier etwas nicht stimmt. Also auf zu Sir Juffin.«
Wenige Minuten später bremste ich vor Juffins Dutzend. Diesmal fand ich den Eingang sofort.
Techi saß noch immer dort, was mich sehr erstaunte. Ihr Gesicht nahm langsam wieder seinen Normalzustand an, doch sie war noch nicht ganz die Alte. An ihrem Tisch saßen inzwischen drei sympathische Männer in mittleren Jahren. Einer davon war mein Bekannter Rogro Schill, der es heute offenbar geschafft hatte, die neueste Ausgabe der Königlichen Stimme sich selbst zu überlassen. Vielleicht hatte er seine Redakteurspflichten aber auch schon erledigt. Die beiden anderen Männer kannte ich nicht, hatte aber den Eindruck, sie schon gesehen zu haben - vielleicht sogar hier. Die ganze Gesellschaft lachte fröhlich, und die leere Flasche Oskij Ash bezeugte, dass die vier ihre Zeit nicht vergeudet hatten.
»Sie kommen gerade noch rechtzeitig, Sir Mochi«, rief Techi. »Ich hatte schon Ihren Posten übernehmen wollen. Jemand muss sich schließlich um die Getränke kümmern. Max, dass du den Wirt gefunden hast, ist wirklich eine Heldentat. Jetzt weiß ich endlich, was für ein Glück ich hatte, dich kennen zu lernen.«
»Ich hab ihn gefunden!«, protestierte Melamori, streckte mir die Zunge heraus und verbarg sich hinter dem Rücken des Wirts.
»Das sind goldene Worte, Lady. Vielen Dank, dass Sie alle auf mich gewartet haben«, sagte Mochi höflich, fuhr dann jedoch mit ersten Anzeichen seiner üblichen Gereiztheit fort: »Aber es wäre ja wohl noch schöner, wenn meine Besucher sich eigenhändig in meinem Weinkeller bedienen würden. Wo kämen wir da hin?«
»Jetzt möchte auch ich einen guten Tropfen trinken«, sagte ich und ließ mich müde auf dem Stuhl neben Techi nieder. »Schenken Sie mir bitte etwas Kräftiges ein, Mochi - aber nicht zu viel.«
»Gut«, nickte der Wirt. »Normalerweise schließe ich um diese Zeit, aber heute ist offenbar alles anders. Wie lange war ich denn weg?«
»Zwei Stunden, glaube ich«, sagte Sir Rogro.
»Zweieinhalb«, korrigierte ihn Techi.
»Ich fühle mich verpflichtet, mich bei Ihnen für meine lange Abwesenheit zu entschuldigen. Lady Techi, verraten Sie mir bitte, was meine Frau in dieser Zeit gemacht hat. Hat sie nach mir gesucht?«
»Ja, aber ich habe sie beruhigt und gesagt, Sie seien mit Sir Max unterwegs, und in seiner Gesellschaft könne Ihnen nichts zustoßen. Aus Dankbarkeit hat sie uns mit einer Spezialität des Hauses verwöhnt.«
Langsam fand Mochi zu seiner Form zurück, verschwand brummelnd in der Küche und kam mit einem Fläschchen zurück.
»Ich hab etwas für Sie, Sir Max: Bomboroki! Ein wirklich gepfeffertes Tröpfchen von einer Insel im Ukumbrisehen Meer. Ich hab es eigentlich selbst trinken wollen, doch ich glaube, heute Abend kann ich Sie verwöhnen -schließlich haben Sie mir das Leben gerettet.«
»Ich muss nur herausfinden, welchen Umständen Sie fast zum Opfer gefallen wären. Die Brille des Toten gefällt mir gar nicht.«
Schnell trank ich mein Glas leer, stand auf und ging zu dem Tisch, an dem der Mann im dunklen Lochimantel gesessen hatte. Ich wollte den Fall möglichst rasch lösen.
Die Spur eines Toten ähnelt der eines Lebenden ganz und gar nicht. Es ist leicht, sie zu finden, aber sehr unangenehm, sie zu untersuchen.
Ringsum und in meinem Innern war es ganz leer. Ich spürte mit jeder Faser meines Körpers, dass ich eines Tages sterben musste und auch alle anderen einmal von der Bühne würden abtreten müssen. Das vermittelte mir ein erschlagendes Gefühl von Sinnlosigkeit.
Ich quälte mich einige Minuten mit diesem deprimierenden Gefühl herum, bis mir die Atemübungen von Sir Schürf Lonely-Lokley einfielen. Er hatte mich früher hartnäckig zwingen müssen, sie regelmäßig zu machen, doch nach ein paar tiefen Atemzügen spürte ich, dass meine düstere Stimmung zwar nicht vergehen, aber keine so große Rolle mehr spielen würde.
»Na, Max, bestimmt hast du die Spur des Toten schon entdeckt«, meinte Melamori. »Wie leicht dir alles fällt! Kannst du mir nicht beibringen, wie du das machst?«
»Lieber nicht.« Ich musste mit Worten geizen, weil mir das Reden sehr schwerfiel. »Ich mag gar nicht sagen, wie schlimm das alles hier ist. Kannst du dich noch daran erinnern, wie du auf die Spur von Dschifa Savancha - dem Anführer der Räuber von Mahagon - getreten bist? Ich glaube, mir geht es jetzt noch schlimmer.«
»Wenn das so ist, solltest du dich mit solchen Sachen besser nicht beschäftigen.«
»Ich schaff das schon.«
Ich sprang von der ekelhaften Spur des Toten ab, atmete tief durch, wechselte von einer gequälten zu einer ausgeglichenen Stimmlage und stellte fest: »Ich muss mich auch endlich mal nützlich machen. Außerdem ist der Mensch ein seltsames Wesen, das sich sogar an das Schlimmste gewöhnen kann. Schluss damit - ich muss jetzt ins Haus an der Brücke. Ich hab schließlich noch immer einen Toten in der Handfläche. Vielleicht wäre es gar nicht schlecht, wenn Juffin ihn sich mal ansehen würde. Melamori, kannst du mich hinfahren?«
»Gern, aber wenn du nichts dagegen hast, trinke ich noch ein Gläschen. Dir könnte das auch nicht schaden.«
»Jetzt könnte ich einen Schluck Kachar-Balsam gebrauchen - mehr als alles andere. Ich glaube, ich hab zuhause noch ein allerletztes Tröpfchen davon. Das ist zwar meine einzige, dafür aber ziemlich teure Sucht.«
»Du hast noch ganz andere Süchte«, mischte Techi sich belustigt ein, lächelte über den Tisch hinweg und sah mich dabei aus dunklen Augen vorsichtig und aufmerksam an.
»In einer halben Stunde komme ich wieder. Schließlich endet die Spur des Toten hier«, sagte ich laut und meldete mich dann per Stumme Rede bei meiner Freundin: »Mach dir keine Sorgen um mich.«
Melamori erreichte das Haus an der Brücke binnen fünf Minuten - gut möglich, dass selbst ich es nicht schneller geschafft hätte.
»Toll!«*, rief ich. »Warte in meinem Büro auf mich, ja?«
Sie nickte, und ich ging direkt ins Leichenschauhaus, wo ich die Linke energisch schüttelte, was den Toten im dunklen Lochimantel in Normalgröße auf den Boden purzeln ließ.
Dann wusch ich mir die Hände, um zwischen mich und den Tod zumindest eine Seifenschicht zu legen, und ging hinauf in mein Büro.
Dort saß Melamori auf Juffins Sessel und strich dem schläfrigen Kurusch zärtlich übers Federkleid. Der Vogel war für seine Verhältnisse zu früh wach und darum schlecht gelaunt und plusterte sich deshalb etwas auf.
Zuerst ging ich zu Juffins Schreibtisch, zog die Flasche Kachar-Balsam aus ihrem Versteck, nahm einen großen Schluck, spürte sofort die wohltuende Wirkung der besten Arznei dieser Welt und fühlte mich beinahe wie neu geboren.
»Was hast du eigentlich vor?«, fragte mich Melamori.
»Als Erstes fahre ich noch mal in Mochis Lokal und trete dem Verstorbenen auf die Spur, um herauszufinden, von woher er in die Stadt gekommen ist.«
»Wäre es nicht besser, damit auf Juffin zu warten? Er kommt sicher gleich. Wir können ihm die seltsame Brille zeigen und ihm die fangfrische Leiche präsentieren. Womöglich kennt er den Toten sogar. Auf alle Fälle kann er uns sagen, wie wir weiter vorgehen sollen.«
»Da hast du sicher Recht, aber ich will keine Zeit verlieren. Je schneller wir mit dieser Geschichte fertig werden, desto besser für uns. Darum machen wir es so: Ich beschäftige mich weiter mit diesem unangenehmen Fall, und du informierst Juffin per Stumme Rede über den Stand der Dinge. Sollte unser Chef finden, dass ich der Sache nicht gewachsen bin, meldet er sich sicher umgehend bei mir. Und sollte er meinen, dass ich alles richtig mache, bin ich unterdessen schon ein gutes Stück weiter. Einverstanden?«
»Natürlich«, sagte Melamori. »Ich will nur nicht, dass du dich mit dieser schrecklichen Spur beschäftigst. Das tut dir nicht gut.«
»Keine Sorge«, meinte ich und winkte ab. »Ich weiß, was ich mir Zutrauen kann.«
»Dann will ich dich nicht weiter aufhalten. Nur eine Frage habe ich noch: Magst du dich nicht umziehen? Seit Stunden bist du wieder im Dienst und trägst noch immer Zivil. Sir Juffin hätte dich dafür schon längst ein paar Tage ins Cholomi-Gefängnis geschickt - zur Abschreckung.«
»Ein Ausflug ins Gefängnis ist so etwa das Letzte, wovon ich träume. Danke, dass du mich daran erinnert hast.«
Schnell zog ich meinen dunkelblauen Lochimantel aus und schlüpfte in den schwarzgoldenen Todesmantel. Er war warm und trocken, also ideal. Zum Abschied schob ich mir noch ein Fläschchen Kachar-Balsam in die Manteltasche. Womöglich würde es mir bei der Bewältigung meiner Aufgabe noch wertvolle Hilfe leisten - wie die Atemübungen von Sir Lonely-Lokley.
Lady Melamori blickte finster. »Dieser seltsame Fall macht mich fertig«, murmelte sie. »Wenn dir nichts zustößt, versöhne ich mich mit meinem Großvater - Ehrenwort.«
»Versprichst du das etwa mir?«, fragte ich erstaunt. »Dabei ist mir euer Streit ziemlich egal.«
»Nein, das gelobe ich mir selbst. Als Kind hab ich das oft getan. Man muss dafür nur etwas wählen, das man ungern tun würde.«
»Vielen Dank«, lächelte ich. »Jetzt bin ich sicher, dass mir nichts Böses zustoßen kann.«
In Juffins Dutzend war es fast leer. Nur Rogro Schill saß gähnend neben Techi. Der tapfere Kämpfer für das Chrember-Gesetzbuch erwies sich als besterzogener Gentleman diesseits und jenseits des Churon. Zwar schlief er beinahe im Sitzen ein, wollte seine Begleiterin aber nicht allein im Lokal hocken lassen.
»Willst du dich noch ein wenig zu uns setzen?«, fragte mich Lady Techi. »Oder ruft die Pflicht?«
»Natürlich ruft die Pflicht, aber wer hört schon auf sie? Ich trinke gerne mit euch beiden eine Tasse Kamra -schließlich bin ich seit gestern Morgen ununterbrochen auf den Beinen. Ich hoffe, Mochi hat noch genug Energie, mir eine anständige Kamra zu machen.«
»Der ist längst schlafen gegangen, hat uns aber freundlicherweise diesen Krug hingestellt. Da ist sicher noch eine Portion für dich drin.«
»Ihr seid so nett, dass ich gleich vor Rührung weine. Es ist wirklich liebenswürdig, Rogro, dass du die Lady nicht allein hier sitzen lässt, denn das könnte sie auch zuhause tun. Ich hatte Techi eingeladen, musste aber aus beruflichen Gründen verschwinden.«
»Ich brauche von dir kein Dankeschön, denn ich liebe es, mit einer hübschen Frau zu flirten.«
»Ach, ich dachte, du interessierst dich nur für die Wissenschaften, vor allem für Astronomie.«
»Mit den Sternen beschäftige ich mich, wenn keine hübsche Frau in der Nähe ist. Das passiert zum Glück selten.«
»Was Astronomie angeht, habe ich noch eine Frage«, sagte ich, da mir plötzlich etwas einfiel. »Gestern Abend glaubte ich, wir hätten Vollmond, und du meintest, es sei frühestens heute Nacht so weit. Sag mir doch, ob ich wirklich zu dumm bin, den Vollmond zu erkennen.«
»Zu dumm nicht, Max, aber es ist für Laien wirklich kaum sicher einzuschätzen, ob der Mond ganz rund ist.«
»Schön«, meinte ich erfreut. »Dann mag sich der Mann im dunklen Lochimantel letzte Nacht auch geirrt haben. Und noch eine Frage, diesmal an euch beide: Techi, gestern Abend hast du im Scherz gesagt, der Vollmond beeinflusse mich womöglich. Was meint ihr zwei - ist das wirklich so?«
Meine Gesprächspartner nickten energisch.
»Aber natürlich können bei Vollmond mit jedem seltsame Dinge geschehen«, erklärte Techi.
»Ich muss euch noch was sagen. Gestern habe ich einige interessante Details über den Wirt erfahren. Von Zeit zu Zeit widerfährt ihm etwas Ungewöhnliches: Er kann einen Tag lang niemandem etwas abschlagen - egal, worum man ihn bittet. Ich will euch drastische Einzelheiten ersparen, aber eines möchte ich wissen: Kann dieses seltsame Verhalten mit den Mondphasen Zusammenhängen?«
••Durchaus«, sagte Rogro. »Jeder psychische Zustand, der sich periodisch wiederholt, ist dem Mond zuzurechnen. Ich hoffe, dir ist damit geholfen, Max. Jedenfalls wirkst du zufrieden wie eine Katze, die einen Truthahn verspeist hat.«
»Macht Truthahn Katzen glücklich?«, fragte Techi amüsiert. »Na, jetzt weiß ich, womit ich Ella und Armstrong füttern werde, Max.«
»Armstrong ist der Gefräßigere«, stellte ich fest. »Aber vielen Dank für eure Hilfe. Rogro, was meinst du - vielleicht sollte ich Urlaub nehmen und mir von dir ein paar Stunden lang Astronomie erklären lassen. Ich habe immer davon geträumt, mehr über das Universum zu erfahren.«
Techi beobachtete mich nach wie vor, sah aber nicht mehr so ängstlich drein. Offenbar traute sie mir - den Magistern sei Dank! - wieder mehr zu.
»Ich sehe, ihr seid gut drauf - vor allem die Dame meines Herzens«, meinte ich. »Dann kann ich dich ja guten Gewissens nach Hause gehen lassen - sogar in Gesellschaft dieses dir noch recht unbekannten Mannes.«
»Das kann ich auch allein«, meinte Techi kopfschüttelnd. »Du bist heute vielleicht gnädig!«
»Aber Sir Rogro ist ein Gentleman alter Schule und wird sicher nicht zulassen, dass du einsam durch Dunkelheit und Regen ziehst. Er kann dich gegen jeden Angriff verteidigen.«
»Du bist wirklich ein Hellseher, Max«, stellte der Chefredakteur der Königlichen Stimme feierlich fest.
»Sieh dich aber vor, wenn du auf die Spur des Toten trittst«, sagte Techi im Ton einer Lehrerin.
»Diesen Rat nehme ich mir zu Herzen und gebe dir dafür auch einen: Wenn du zuhause bist, leg dich sofort ins Bett und warte nicht sehnsüchtig auf mich.«
»Nach so viel Alkohol bleibt mir ohnehin nichts anderes übrig«, meinte Techi achselzuckend. »Und glaub nicht, dass ich morgen schmachtend am Fenster stehe und dich erwarte - das ist wirklich nicht mein Stil.«
Ich winkte den beiden zum Abschied und ging an den Tisch, an dem am Abend zuvor der Unbekannte im Lochimantel gesessen hatte. Zuerst nahm ich einen großen Schluck Kachar-Balsam, dann machte ich fleißig einige von Lonely-Lokleys Atemübungen. Ein paar Sekunden lang schnaufte ich laut, aber langsam fand ich mein Leben wieder ganz erträglich. Ich merkte, dass ich meine Krise überwunden hatte, und trat vorsichtig auf die Spur des Toten, ohne mich von meiner Angst lähmen zu lassen.
Sir Juffin erreichte mich noch rechtzeitig per Stumme Rede. Ich stieg gerade in meinen Dienstwagen, denn auch der Tote war im A-Mobil zum Wirtshaus gefahren. Jetzt musste ich nur noch herausfinden, woher er gekommen war.
»Guten Tag, Max.«
»Was? Ist schon heller Tag?«, fragte ich erstaunt.
»Wenn man mich aus dem Bett zerrt und ins Haus an der Brücke zwingt, hat offenbar ein neuer Tag begonnen. Du weißt doch, dass ich es nicht ertragen kann, nachts zu arbeiten.«
»Schon gut. Was wissen Sie eigentlich über den Toten?«
»Wenig. Aber diese Brille, Max - du bist schon wieder ein Glückspilz, denn du bist auf etwas sehr Interessantes gestoßen. Aber davon später mehr. Was machst du gerade? Plünderst du meinen Vorrat an Kachar-Balsam?«
»Na ja, im Augenblick hetze ich eher durch die Gegend, um die Spur des Toten zurückzuverfolgen. Deshalb kann ich mich auch schlecht mit Ihnen unterhalten. Am besten sagen Sie mir einfach, was ich tun soll.«
»Das wüsste ich selber gern. Bleib ihm ruhig auf der Spur. Ich hoffe, das fällt dir nicht allzu schwer.«
»Eigentlich nicht. Wie Sie wissen, war ich schon mal tot. Insofern ist er mein Seelenverwandter.«
»Gut. Sag mir Bescheid, wenn du an ein Ziel gelangst. Und geh bitte auf keinen Fall in ein unbekanntes Haus, ohne mit mir Rücksprache zu halten. Ich habe schon einiges erlebt und neige inzwischen zu besonderer Vorsicht.«
»Ich verspreche Ihnen, auf mich Acht zu geben. Das Leben ist kurz, und ich habe noch nicht vor zu sterben. Richten Sie Melamori einen schönen Gruß aus. Ende.«
Dann nahm ich den letzten Schluck Kachar-Balsam und beschleunigte kräftig. Je schneller ich diesen Fall löste, desto besser.
Zum Glück musste ich die Stadt diesmal nicht verlassen. Die Spur führte aufs linke Flussufer. Ich überquerte die Brücke namens Kamm von Echo und befand mich nun inmitten kleiner Gassen und wunderbarer Obstgärten. Ich irrte etwas herum und landete plötzlich vor einem baufälligen Tor.
Ich stieg aus und sprang ein gutes Stück zur Seite. Das ist die beste Methode, um die Spur zu verlassen, auf der man sich gerade befindet. Es gibt zwar Menschen, die -wie Lady Melamori - dafür nur die Schuhe ausziehen müssen, aber ich gehöre nicht dazu.
Das Frühlicht war herrlich. In der Viertelstunde, in der ich der Spur des Toten mit dem Wagen gefolgt war, hatte ich vergessen, wie wunderbar die Welt sein konnte und wie toll es war, quicklebendig und heiter mit nackten Füßen im Gras zu stehen und den Morgenhimmel auf sich wirken zu lassen.
Ich setzte mich auf den feuchten Boden und rauchte eine Zigarette. Dass ich zitterte, lag weder an den unangenehmen Erlebnissen noch an meiner Verzückung. Dennoch beschloss ich, erneut ein paar Atemübungen zu machen. Die Situation war so absurd, dass ich paradoxerweise wieder zur Besinnung kam. Wie besprochen, meldete ich mich per Stumme Rede bei Juffin.
»Meine Suche ist zu Ende. Ich stehe hier vor einem Haus am linken Flussufer.«
»Fein. Kannst du mir etwas genauer sagen, wo du bist?«
»Ganz in der Nähe des Petow-Friedhofs. Mehr weiß ich auch nicht. In den Gassen hier finde ich mich nicht zurecht.«
»Kein Wunder. Aber in der Gegend dort kenne ich nicht ein einziges verdächtiges Haus - außer der Residenz von Sir Maba Kaloch natürlich. Doch ich habe Sir Schürf gebeten, dir Gesellschaft zu leisten. Du kannst bald mit ihm rechnen.«
»Das freut mich aber«, sagte ich. »Was meinen Sie -kann ich das Grundstück betreten, oder soll ich besser warten?«
»Das kann ich von hier aus nicht sagen. Bleib besser an Ort und Stelle. Ich kenne dich ja schon ein wenig und weiß, dass du etwas übermütig bist.«
Ehrlich gesagt: Seine Vermutung, ich könnte auf eigene Faust weiterermitteln, schmeichelte mir.
»Jedenfalls kann ich dir einige interessante Neuigkeiten über den Toten und seine Brille erzählen«, fuhr mein Chef fort. »Der Mann, den du gestern getötet hast, ist ein ganz normaler, völlig unauffälliger Mensch. Und das verstehe ich nicht. Soweit ich weiß, steht das Haus, vor dem du wartest, seit Jahren leer. Wenn du es mit Schürf betrittst, versuch auf alle Fälle, die Spur des Hauseigentümers ausfindig zu machen. Vielleicht habt ihr Glück und könnt noch weitere Spuren entdecken. Ich wünsche dir viel Erfolg. Und wenn ihr Probleme habt, meldet euch bitte sofort per Stumme Rede bei mir. Ich versuche jetzt, im Großen Archiv weitere Details über den Besitzer herauszufinden. Ende.«
»Was würde ich bloß ohne Sie anfangen!«, rief ich und griff zur nächsten Zigarette.
Ich rauchte, faulenzte ein wenig und dachte, ich könnte eigentlich etwas Vernünftiges tun, solange Lonely-Lokley noch nicht da war - zum Beispiel ins Haus gehen.
Das Tor ließ sich leicht öffnen, da das Schloss nur provisorisch war. Ohnehin ist es in Echo unüblich, sein Grundstück zu sichern. Manchmal passieren zwar auch hier Einbrüche, aber viele Leute finden es trotzdem ausreichend, ihr Haus nur mit einem Talisman zu schützen.
Plötzlich hörte ich ein Knurren, drehte mich um und erstarrte. Aus einer Ecke gähnte mir das Maul eines riesigen Hundes entgegen. Ich war auf alles Mögliche gefasst, aber nicht darauf, so einem Monster zu begegnen. Außerdem habe ich Angst vor Hunden - sogar mehr als vor Ratten. Die Bestie, die mich da anstarrte, war zweifelsohne ein aufs Töten gedrillter Kampfhund.
»Oje«, seufzte ich. Das war zwar nicht besonders geistesgegenwärtig, aber mein Kopf war völlig leer. Ich erinnerte mich rasch der Ratschläge, die ich als Kind für diese Situation bekommen hatte: dem Hund nicht den Rücken zuwenden; keine schnellen Bewegungen machen; möglichst ruhig und selbstsicher stehen bleiben.
Als ich mir all dies vor Augen geführt hatte, kam das Tier auf mich zu. Es war ein wunderschöner, riesiger Hund, der in meinen erschrockenen Augen einem Bären ähnelte. Er schaute mich ruhig an und bellte nicht einmal, doch ich merkte, dass ich vor Angst wie gelähmt war.
Aber spucken konnte ich doch noch! Plötzlich fiel mir auf, dass ich schon lange kein erschrockener, hilfloser Junge mehr gewesen war.
Natürlich spuckte ich, traf das Tier aber nicht. Nur das Holztor bekam ein kleines Loch, doch mehr konnte ich nicht ausrichten. Ich wäre liebend gern geflohen - am besten durch die Luft. Aber ich beherrschte mich, blieb, wo ich war, und spuckte erneut.
Ich hätte nicht gedacht, in so kurzer Zeit die ganze Palette von Gefühlen zu erleben: Kaum sah ich den Hund tot am Boden liegen, verwandelte sich meine lähmende Angst in geradezu euphorische Erleichterung.
Das Monster mit der schwarzen Schnauze war erst das zweite Lebewesen, das ich mit meiner Spucke getötet hatte. Ich hatte also zu wenig Opfer auf dem Gewissen, um mir etwas darauf einbilden zu können. Wenn ich aber all die dazuzählte, die ich auf andere Weise ums Leben gebracht hatte, konnte ich allmählich beginnen, meinen Todesmantel mit Stolz zu tragen.
Nun kam ein A-Mobil um die Ecke. Es fuhr so langsam, dass es fast nicht zu hören war. Verwundert stellte ich fest, dass Sir Schürf in der Nuckelpinne saß.
»Guten Tag, Max«, sagte er beim Aussteigen, und sein Blick verweilte sekundenlang auf dem toten Hund. »Ich hatte dich immer für tierlieb gehalten.«
»Und ich dachte immer, die Tiere lieben auch mich. Aber so täuscht sich der Mensch. Kurusch würde sich über diese Einsicht sicher freuen.«
»Hat der Hund dich angegriffen? Interessant. Gut, gehen wir ins Haus. Sir Juffin vermutet, dass es leer steht, aber sei trotzdem vorsichtig und bleib hübsch hinter mir. Du hast dein Soll an Selbstverteidigung für heute erfüllt.«
»Das sehe ich auch so. Ich hätte nicht einmal etwas dagegen, wenn du allein ins Haus gehen würdest.«
»Ich fürchte, deine Anwesenheit ist unentbehrlich«, entgegnete Schürf und gab sich Mühe, seiner versteinerten Mimik etwas Mitleid abzuringen.
Der Schnitter des Lebensfadens zog die Schutzhandschuhe aus, und seine tödlichen weißen Handschuhe schimmerten, als wollten sie der aufgehenden Sonne Konkurrenz machen.
Allem Anschein nach war der große Hund der einzige Bewohner des Hauses. Entgegen Juffins Ankündigung konnte ich keine Spur eines mächtigen Zauberers entdecken.
»Mist!«, rief ich und trat ärgerlich gegen einen Stuhl, der mitten im Wohnzimmer stand.
Als er zerbrach, zuckte ich zusammen. Meine Nerven lagen blank.
»Was ist los, Max?«, fragte Lonely-Lokley. »In so einem Zustand sehe ich dich zum ersten Mal.«
»Und - gefalle ich dir so?«, fragte ich lächelnd.
Ehrlich gesagt: Ich fühlte mich besser, denn ich hatte all meinen Ärger an dem Möbelstück ausgelassen.
»Ob du mir gefällst? Geschmackssache. Ich glaube, es hat dir nicht sehr gut getan, dem Toten auf die Spur zu treten. An deiner Stelle würde ich ein paar Atemübungen machen. Ich kann ja währenddessen mal durchs Haus gehen. Vielleicht entdecke ich einen zweiten Eingang. Nach meinem Gefühl muss es hier so was geben.«
Schürf verschwand, und ich befolgte seinen klugen Rat. Zwar hatte er ein ausgesprochenes Faible für seine Übungen, doch sie hatten auch mir stets geholfen.
Nach wenigen Minuten war ich bester Laune, was ganz und gar nicht zu den Ereignissen passte. Ich war womöglich sogar etwas übermütig, aber das ist ja keine Sünde.
»Max, kannst du zu mir kommen?«, hörte ich Lonely-Lokley aus dem Keller fragen. »Ich hab hier unter der Treppe eine Geheimtür gefunden, die wir uns genauer ansehen sollten.«
Sekunden später quetschte ich mich durch eine Tür, die allenfalls die Größe eines Toilettenfensters hatte.
»Schürf, was ist denn das für ein ...?«, begann ich, verstummte aber, weil mir alles klar vor Augen lag.
»Hast du noch nie Menschenknochen gesehen? Oder bist du nie auf die Idee gekommen, dass wir alle mit so einem Skelett rumlaufen?«, fragte Schürf gelassen.
Offenbar machte er sich nicht über mich lustig, sondern erwog diese Möglichkeiten ganz sachlich.
»Natürlich weiß ich, dass der Mensch aus vielen Knochen besteht«, sagte ich und erschrak über meinen lehrerhaften Ton. »Aber so viele Skelette habe ich noch nie gesehen. Was mag hier los gewesen sein? War das etwa ein Kannibalentreff?«
»Möglich«, meinte Lonely-Lokley ungerührt. »Nach meinem Eindruck hat es hier allerdings nur einen Kannibalen gegeben, denn ich entdecke keine weiteren Spuren.«
»Stimmt. Die anderen Spuren gehören zu den Skeletten, und das zehrt an meinen Nerven. Sind wir wirklich in die Höhle eines Kannibalen geraten? Ich folge jetzt der Spur des toten Brillenträgers - mal sehen, was dabei herauskommt.«
»Manchmal erschrickst du mich«, seufzte Schürf. »Willst du dieses Risiko tatsächlich eingehen? Übrigens habe ich mich gerade per Stumme Rede bei Juffin gemeldet, und er befiehlt uns, sofort ins Haus an der Brücke zurückzukehren.«
»Warum das denn? Was ist passiert?«
»Bis jetzt noch nichts. Juffin ist der Meinung, es gibt effektivere Methoden, diesen Fall zu lösen. Zum Beispiel will er den unbekannten Toten, den du in deiner Handfläche zu uns gebracht hast, wieder zum Leben erwecken. Dann kannst du dich mit ihm unterhalten. Vielleicht erzählt er dir einiges. Du hast schließlich einen guten Draht zu den Toten - das war ja schon im Wald von Mahagon so.«
»Na, keine Spuren gefunden?«, fragte Juffin uns schon an der Tür. »Unser Gegner ist offenbar klüger als wir dachten. Unsere Chancen, seine Spur komplett zurückzuverfolgen, waren ohnehin nie günstig. Max, dein trauriges Gesicht passt mir nicht. Arbeite bitte an deiner Mimik.«
»Wenn Sie die Knochen gesehen hätten, würden Sie anders reden.«
»Ich habe in meinem Leben schon viele Menschenknochen gesehen - das kannst du mir glauben, Freundchen. Doch im Gegensatz zu dir macht mir dieser Anblick nichts aus. Also gut, geht Kamra trinken und esst was. Schürf, versuch doch, dieses Nervenbündel ein wenig aufzubauen. Ich gehe derweil ins Leichenschauhaus. Ich denke, in einer halben Stunde ist unser toter Freund gesprächig. Es gibt also noch was für dich zu tun, Max.«
»Wollen nicht Sie mit ihm reden?«, fragte ich erstaunt.
»Wenn du willst, kann ich mit jedem reden, auch mit Magister Nuflin Moni Mach. Aber bei wiedererweckten Toten ist das eher aussichtslos. Die reagieren auf alle Fragen ganz gleichgültig, weil sie - wie soll ich sagen? -nichts zu verlieren haben. Aber du bist ein Glückspilz, und darum gelingt es dir vielleicht, ihm etwas zu entlocken.«
Fassungslos sah ich meinen Chef an. »Das ist ja ganz was Neues. Ist diese Verantwortung nicht etwas zu groß für mich?«
»Du musst dich wohl langsam daran gewöhnen«, meinte Juffin, lächelte spöttisch und verschwand im Flur. Schürf und ich blieben mit einem Tablett aus dem Fressfass zurück. Trotz all der nekrophilen Eindrücke war mein Appetit zum Glück nicht geringer geworden.
»Schürf, findest du die ganze Geschichte nicht ziemlich seltsam, selbst für hiesige Verhältnisse? In Echo lebt ein gewisser Mochi Fa. Er ist eigenwillig und nörglerisch, spürt aber ab und an das Bedürfnis, jede Bitte zu erfüllen - von Befehlen ganz zu schweigen. Ich bin mir sicher, dass er diese weiche Phase nur bei Vollmond erlebt. Und unser Kannibale hat offenbar davon gewusst -auch dessen bin ich mir gewiss. Er war aber nicht fit in Astronomie, und das wurde ihm zum Verhängnis. Er kam einfach zu früh zu Mochi, um »Komm mit!* zu sagen. Mochi war empört. Ich habe zufällig selbst gesehen, wie er seinem Gast den Vogel gezeigt hat. Zum Glück konnte ich mich am nächsten Tag noch an diese Geste erinnern, an dem Tag also, als Mochi ihm lammfromm folgte. Und schließlich ist bei diesem Fall - um uns Ermittlern das Leben noch schwerer zu machen -auch eine Brille wichtig, durch die Mochis Gesicht in seltsamem Licht erscheint.«
»Warte, Max, nicht so schnell«, unterbrach mich Lonely-Lokley. »Ich weiß, was du meinst, denn ich kenne die Legende, die sich um Brillen und Mondphasen rankt.«
»Dann schieß los - ich kenne sie nämlich nicht.«
»Bedenk bitte, dass ich kein besonders guter Erzähler bin. Die Legende geht so: Vor sehr langer Zeit, noch vor der Geburt von König Mjenin nämlich, existierte in dieser Welt der mächtige Clan der Mondbullen. Leider weiß ich nicht mehr genau, wie sie lebten und womit sie sich beschäftigten. Diese Mondbullen gediehen prächtig, bis sie eines Tages mit ihrem Gönner, dem Mond, in Streit gerieten. Die Einzelheiten kenne ich leider nicht. Ich weiß nur, dass der Mond von seinen Anhängern die Befolgung seltsamer Rituale verlangte, und das haben die Mondbullen abgelehnt.«
»Vielleicht waren sie einfach zu faul dazu«, vermutete ich kichernd.
»Max, du lachst, hast aber durchaus Recht. Die Faulheit des Menschen ist oft Ursache unbegreiflicher Tragödien. So war es auch im Fall der Mondbullen: Der Fluch des Trabanten erreichte sie, und sie zerstreuten sich über die ganze Welt, vermischten sich mit anderen Menschen und verloren so ihre Kraft und ihre mystische Verbindung zu unserem rätselhaften Himmelsbegleiter. Man nimmt an, dass viele Nachfolger der Mondbullen durchaus erfolgreich, aber auch sehr eigensinnig sind. Allerdings lassen sie sich kaum von normalen Menschen unterscheiden - nur bei Vollmond sind sie erstaunlich weich«, sagte Lonely-Lokley und sah gedankenverloren in die Ferne. ••Die Legende gefällt mir nicht besonders. Man nimmt an, diese Menschen warten darauf, dass der Mond aufgeht und ihnen sagt: -Kommt mit!* Dann wird sich der alte Clan erneut finden und wieder an die Macht gelangen. Aber denk daran: Es gibt auch Nachkommen der Mondbullen, die von ihrer Identität nichts wissen und sich nur bei Vollmond ein wenig ändern. Ihrem Schicksal haftet durchaus etwas von einem Fluch an.«
»Du bist ein fantastischer Erzähler, Schürf. Deine Geschichte war präzis und klar. Aber was ist mit der Brille? Was weißt du darüber?«
»Gar nichts, aber mein logisches Denken flüstert mir, dass jemand eine Methode entdeckt haben muss, die Nachkommen der Mondbullen zu erkennen. Und ich vermute, dass die Brille genau diesem Zweck dient.«
»Nach unserem Ausflug in die Welt des Kannibalismus kann ich nur fragen: um sie zu essen?«
»Das könnte durchaus der Grund sein«, meinte Lonely-Lokley ruhig. »Wer einen Menschen isst, verleibt sich einen Teil seiner Macht ein. Es lohnt zwar nicht, normale Menschen zu verputzen, aber mächtige Zauberer zu verspeisen, zeigt durchaus Wirkung. In der Ordensepoche war das gang und gäbe, obwohl solche Taten - anders als ungebildete Menschen glauben - keine besondere Bedeutung hatten. Vielleicht ist jemand auf die Nachkommen der Mondbullen scharf, um sich ihre Macht einzuverleiben. Das halte ich für eine plausible Erklärung. Ich würde mich also nicht wundern, wenn du Recht hättest.«
Verlegen und bescheiden wie ich war, konnte ich bei dieser Bemerkung nur die Augen verdrehen. Eigentlich aber brannte ich vor Neugier und wollte Sir Schürf fragen, ob er schon an solchen Mahlzeiten teilgenommen hatte. Vor meinem inneren Auge sah ich ihn gierig an einem Knochen nagen.
»Schockiert dich das etwa?«, fragte Lonely-Lokley kopfschüttelnd. »Das finde ich aber seltsam. Dem Toten kann es doch egal sein, wie man mit ihm umgeht. Oder hast du Angst, dass du auch mal jemanden verspeisen musst? Keine Sorge, die Ordensepoche ist seit Jahrzehnten vorbei. Außerdem gibt es bessere Wege, sich die Kraft anderer einzuverleiben.«
»Steht mir der Schock denn so deutlich im Gesicht?«, fragte ich schuldbewusst.
»Inzwischen nicht mehr.«
»Max, dein Patient ist fertig. Auf in die Leichenhalle!«
»Der Chef hat sich per Stumme Rede bei mir gemeldet und mich zu sich gebeten. Schürf, kommst du mit?«, bat ich Lonely-Lokley. »Das würde mich beruhigen.«
»Gut, gehen wir. Ich bin auch gespannt.«
Wir gingen zusammen in das kleine Zimmer, das im Haus an der Brücke als Leichenhalle diente.
Juffin saß mit gekreuzten Beinen auf dem Boden. »Setzt euch zu mir, Jungs«, rief er freundlich. »Schaut euch dieses wunderbare Produkt meiner geschickten Hände an. Ich hatte gehofft, mich nie mehr mit so was beschäftigen zu müssen.«
Der Tote lag in einem zerknitterten dunklen Lochimantel reglos in der Ecke.
»Meine Reanimationsversuche sind nicht sehr erfolgreich gewesen«, meinte Juffin. »Hätte ich es gründlicher machen wollen, hätte ich einige Tage dafür gebraucht. Darum hat der Bursche ziemliche Probleme, sich zu bewegen, aber das ist auch gut so. Ich habe nämlich keine Lust, ihn wieder einzufangen. Ich glaube, er kann mit mir reden, doch leider will er nicht sprechen.«
»Aber mit mir wird er sicher reden«, sagte ich etwas gereizt. »Was bleibt ihm schon anderes übrig?«
Ich war seltsam überzeugt, meine Kugelblitze abfeuern und darauf achten zu müssen, mich nicht von meinen Emotionen überwältigen zu lassen. Ich rechnete damit, Juffin und Schürf würden einen Wasserfall von Ratschlägen auf mich einregnen lassen, aber Fehlanzeige: Sie warteten ruhig ab, bis ich mich daranmachte, den Toten zu verhören.
Ich zügelte meine rasenden Gedanken und schnippte mit der Linken. Ein kleines, durchsichtiges Feuer erschien auf meinen Fingerspitzen, fuhr gegen die Brust des Toten, flammte auf und verschwand.
»Ich stehe Euch zu Diensten, Herr«, sagte der Tote sanft.
Ich seufzte sichtlich erleichtert. Juffin sah mich belustigt an, sagte aber nichts. Ich wandte mich ihm zu: »Brauchen Sie außer der Adresse noch weitere Informationen?«
»Die vor allem. Und dann befiehl ihm bitte, auf meine Fragen zu antworten. Schürf und du, ihr braucht keine Zeit mit weiteren Untersuchungen zu verlieren.«
»Toll«, sagte ich und wandte mich dem Toten zu. »Wohin wolltest du Mochi fahren? Ich brauche die Adresse und die genaue Wegbeschreibung.«
»Man muss die Stadt durch das Tor Kagilamuch verlassen und immer geradeaus fahren, bis alle Häuser hinter einem liegen. Der Weg führt dann durch einen Hain, hinter dem ein kleines Dorf liegt. Ich weiß nicht, wie es heißt, aber man kann es nicht verfehlen. Hinter dem Dorf beginnt der Wald, und der Mensch, in dessen Auftrag ich gehandelt habe, lebt in diesem Wald. Es ist leicht, sein Haus zu finden, denn es führt nur ein Weg dorthin. Wenn er zu Ende ist, müssen Sie aussteigen und nach links gehen. Nach ein paar Minuten stehen Sie vor seinem Haus. Wenn das Licht brennt, sieht man das Gebäude schon von weitem. Das war's.«
»Lebt dein Chef dort allein?«
»Ja. Er lässt zwar noch andere für sich arbeiten, aber sie tauchen dort nur selten auf.«
»Hat er vielleicht einen großen Hund?«
»Nein - Baka Bugwin hat keine Angst, vor niemandem.«
»Baka Bugwin? Der also steckt hinter dieser romantischen Geschichte!«, unterbrach ihn Sir Juffin.
»Warum finden Sie diese Geschichte romantisch?«, fragte ich erstaunt.
»Baka war ein sehr enthusiastischer Junge. Man warf ihn aus dem Orden des Geheimen Krauts. Er schrieb zwar geniale Gedichte, plauderte aber ab und zu die größten Geheimnisse seines Ordens aus. Ich hätte damals gern wissen wollen, wie er überhaupt an diese Geheimnisse gelangt war - schließlich war er nur ein bescheidener Novize. Zum Glück hatte der damalige Große Magister Chona ein Faible für moderne Dichtung. Sonst hätte man Baka womöglich an Ort und Stelle umgebracht. Aber seine Gedichte haben bis heute nichts von ihrer Kraft verloren. Bleibt also bitte tapfer, ihr Lieben, falls er etwas aus dem Gedächtnis rezitieren sollte.«
»Für Gedichte bin ich kaum zu begeistern«, seufzte ich. »Mich reizt fast alles, aber sicher keine Poesie - die ideale Voraussetzung also, um Literaturkritiker zu werden.«
»Literaturkritiker? Was ist denn das für ein Beruf?«, fragte Lonely-Lokley interessiert.
»Einer der gefährlichsten Berufe der Welt«, meinte ich. »Kritiker lesen fleißig, was andere geschrieben haben, und versuchen ihnen dann zu erklären, warum es ihnen nicht gefallen hat. Manche bemühen sich sogar, mit dieser Tätigkeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen.«
»Seltsame Beschäftigung«, sagte Schürf gedankenverloren.
Ich wollte schon mit ihm darüber diskutieren, da stieß Sir Juffin mir den Ellbogen in die Seite.
»Max«, meinte er hastig, »hast du schon alles geklärt?«
»Ich glaube ja. Was meinen Sie?«
»Ich finde die Adresse am wichtigsten - und die kennst du schon. Ich werde mich weiter mit dem Mann unterhalten, und wenn ich etwas Interessantes herausgefunden habe, sage ich dir per Stumme Rede Bescheid.«
»Juffin, vielleicht muss Max nirgendwohin«, rief Lonely-Lokley unvermittelt. »Wie Sie wissen, kann ich alles allein erledigen.«
»Stimmt, Schürf. Aber hast du etwas dagegen, wenn er dich begleitet?«
»Nicht das Geringste. Ich möchte nur nicht, dass er sein Leben riskiert, wenn sich das vermeiden lässt.«
»Er kann auch bei mir bleiben, die Treppe runterfallen und sich das Genick brechen. Man weiß nie, wann man sein Leben riskiert. Also fahrt ruhig zu zweit.«
Ich lauschte ihrem Gespräch und blickte von einem Gesicht zum anderen.
»Hört auf, mich zu erschrecken. Ich hab schon Angst genug. Aber soweit ich es verstanden habe, muss ich sowieso mitkommen, weil ich die Sache ins Rollen gebracht habe.«
»Richtig«, meinte Juffin. »Ich möchte dich gar nicht erschrecken, sondern die ganze Sache eher philosophisch betrachten. Ich habe nicht die Vorahnung, dass du demnächst die Treppe herunterfällst - das schwöre ich dir. Fahrt bitte los und bringt mir den Kopf des verrückten Dichters Baka.« Bei diesen Worten zwinkerte Juffin mir zu und ergänzte: »Ich habe vor, ihn zu verspeisen.«
Ich sah meinen Chef ehrlich erschrocken an, und Juffin lachte laut.
»Seltsam«, meinte Schürf kopfschüttelnd. »Wo ist denn dein Humor geblieben, Max?«
Demonstrativ wühlte ich in den Taschen meines Mantels und schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Als ich aus dem Haus ging, hatte ich ihn noch - dessen bin ich mir sicher.«
»Du verlierst ihn einfach immer wieder«, meinte Juffin mit gespieltem Ärger. »Übrigens hast du den Toten vergessen. Du fährst einfach weg, und ich muss mich mit ihm quälen.«
Ich wandte mich der Leiche zu und sagte streng: »Du musst dich mit diesem Mann unterhalten und all seine Fragen beantworten - auch wenn sie dir indiskret Vorkommen. Und wenn der Mann dir zu sterben befiehlt, musst du auf ihn hören.«
»Gut, mein Herr«, sagte der Tote phlegmatisch.
Schürf und ich verließen die Leichenhalle. Ich dachte an Juffins Worte und hielt mich auf der Treppe am Geländer fest.
»Warum wolltest du eigentlich allein fahren«, fragte ich, als wir in meinem A-Mobil saßen. »Kannst du mich etwa nicht mehr ertragen?«
»Ich liebe es, wenn du so gereizt bist«, sagte Schürf, »doch es ist ganz anders: Ich habe keine dummen Vorahnungen; ich habe nur den Eindruck, dass der Tod dich aufmerksamer beobachtet als andere. Aber ich will nicht,
dass du vor meinen Worten erschrickst, und ich denke auch nicht, dass du bald sterben musst.«
»Was willst du mir damit sagen?«
»Nur das, was du gehört hast. Der Tod beobachtet dich. Deshalb solltest du ihn nicht grundlos reizen.«
»Schon gut. Ich hätte nie gedacht, dass mich mal wer zur Vorsicht mahnen würde. Ich bin von Natur aus sehr ängstlich. Ist dir das noch nicht aufgefallen?«
»Das bildest du dir nur ein. Manche Leute überschätzen ihre Eigenschaften.«
Wir rasten aus der Stadt und kamen nach ein paar Minuten in ein Wäldchen.
»Hier ist es aber seltsam«, meinte ich. »Bisher dachte ich, die Bäume in Uguland würden genauso aussehen wie bei uns in den Leeren Ländern, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. In meiner Heimat gibt es außerdem sehr hübsche Häuschen, und ich würde gern eins davon besitzen. Das, was hier steht, sieht dagegen nicht gerade einladend aus.«
»Dieses Dorf steht seit Anfang der Traurigen Zeit leer.«
»Und warum hat man es nicht abgerissen?«
»Wieso denn? Im Vereinigten Königreich gibt es Platz genug, und niemand siedelt gern dort, wo etwas Schreckliches passiert ist.«
»Jetzt verstehe ich allmählich«, seufzte ich. »Unser großer, aber gescheiterter Dichter Baka Bugwin hat nicht zufällig ein Haus in einem abgelegenen Wald bezogen.«
»Natürlich nicht. An seiner Stelle hätte ich das Gleiche getan. Wir müssen in den schmalen Weg dort biegen.«
»Ich kann nicht behaupten, dass er sich für A-Mobile eignet, aber da kann man nichts machen«, seufzte ich.
Nach ein paar Minuten war der Weg endgültig nicht mehr befahrbar. Also stiegen wir aus und gingen zu Fuß. Sir Schürf streifte seine Schutzhandschuhe ab, und ich sah begeistert auf seine tödlichen Hände.
»Du würdest staunen, wenn du wüsstest, wie sehr mich dieser Anblick beruhigt«, sagte ich lächelnd. »Ich meine deine Pfoten.«
»Warum sollte ich darüber staunen? Der Anblick meiner Pranken beruhigt mich selbst immer wieder. Ich glaube, links vor uns sehe ich ein Gebäude. Das dürfte das Haus von Baka Bugwin sein.«
Das Haus war erstaunlich leicht zu finden. Der Tote hatte uns nicht belogen. Baka Bugwin versuchte nicht einmal, sich zu verstecken. Offenbar hatte er wirklich vor niemandem Angst.
»Sei bitte vorsichtig und bleib hinter meinem Rücken«, ermahnte mich Lonely-Lokley.
»Und wenn er uns von hinten angreift?«
»Rede keinen Unsinn, Max. Es ist sehr schwer, mich zu überraschen. Außerdem spüre ich, dass er nicht allein ist.«
»Hat ihm ein treuer Diener eine Lieferung Frischfleisch besorgt?«, fragte ich lächelnd. »Wer weiß, vielleicht werden wir ja zum Essen eingeladen - Gastfreundschaft und so.«
»Nein, das zweite Wesen ist kein Mensch, aber ich weiß noch nicht, worum es sich sonst handelt. Sei jetzt endlich still und rechne mit allem.«
Jetzt wirkte sogar Lonely-Lokley ziemlich beunruhigt -falls das überhaupt möglich war.
Wir betraten den großen Bungalow. Es war absolut still.
»Hier ist niemand«, flüsterte ich.
»Sie sind unten«, flüsterte Schürf zurück. »Ich spüre sie im Keller.«
Wir gingen die kleine Treppe runter. Meine Augen wurden langsam zu denen eines echten Bewohners von Uguland, und ich konnte sehr gut im Dunkeln sehen.
»Wir müssen noch tiefer runter«, erklärte Schürf.
Also nahmen wir eine noch kleinere Treppe, die diesmal nicht aus Stein, sondern aus Holz war. Höchst konzentriert betrat ich Stufe für Stufe und dachte an Sir Juffin und seine philosophischen Erwägungen über Treppenstürze und andere Lebensrisiken. Doch auch diesmal passierte mir nichts.
Ich stieg die schmale Treppe so vorsichtig runter, dass ich fast gestürzt wäre. Grelles Licht blendete mich. Ich sah nur, dass sich Lonely-Lokleys Linke hob. Aufs Schlimmste gefasst, ging ich in die Hocke und erwartete, vor meinen Augen werde sich eine große Schlacht mit allen Helden der Vergangenheit zutragen. Doch es passierte etwas ganz anderes: Schürf senkte die Hand, und ein wenig silberne Asche rieselte dort auf den Boden, wo eben noch Baka Bugwin gestanden hatte.
»Das war es schon?«, fragte ich etwas enttäuscht. »Sind wir so schnell mit ihm fertig geworden?«
»Wie immer«, sagte Schürf achselzuckend. »Aber das war noch nicht alles. Baka Bugwin haben wir erledigt,
aber hier hält sich noch jemand auf. Wir müssen ihn möglichst rasch finden. Am besten wäre es, wenn er zu uns runterkäme. Pass auf - ich rufe ihn jetzt.«
Schurfs leuchtende Hände malten im Dunkeln seltsame Muster. Ihr Nachbild blieb lange auf meiner Netzhaut zurück und hatte etwas Hypnotisches. Die Magister mögen wissen, wozu diese Trance gut war. Zum Glück war sie schnell vorbei.
»Er kommt nicht«, sagte Sir Schürf enttäuscht. »Versehentlich habe ich dich statt seiner verzaubert. Also müssen wir ihn suchen gehen, Max. Es ist zwar nicht besonders angenehm, ihm in diesem riesigen Keller nachzuspüren, aber ich sehe keine andere Möglichkeit.«
»Na gut. Um was für ein Wesen handelt es sich denn?«
»Um ein mir unbekanntes Wesen. Vielleicht ist es sogar gefährlich - wir werden ja sehen.«
Plötzlich klopfte eins meiner Herzen an den Brustkorb.
»Schürf«, rief ich, »lass uns gehen! Jetzt bin ich ...«
Mich überkam eine warme Welle fremder Wahrnehmungen, und ein paar Minuten lang war ich nicht mehr ich selbst. Aber in der dunkelsten Ecke meiner Seele blieb mir etwas Bewusstsein erhalten und gab mir leise zu verstehen, dass es keine Wunder mehr wollte, sondern davon träumte, endlich nach Hause zurückzukehren und nie wieder in eine gefährliche Situation zu geraten. Plötzlich öffnete ich mich einer ganz neuen Bewusstseinsschicht, glaubte, drei fünfzigjährige Kiefern zu sein, verlor mich dann, fand mich wieder und sah mich von außen als ein in Fell gewickeltes Wesen.
Dann kehrte alles schnell und leicht zum Normalzustand zurück - vielleicht verdächtig schnell, aber ich war trotzdem zufrieden, schielte auf das unbewegte Gesicht von Lonely-Lokley und musste lachen. Jetzt war mir alles klar.
»Was war das?«, fragte Schürf erstaunt. »Was hat dich zum Lachen gebracht?«
»Das zweite Wesen ist ein schutzloses Tier. Es ist ein bemerkenswert großes Exemplar, stammt aber nicht aus dieser Welt. Ich weiß nicht genau, wie es aussieht, aber es hat Angst und möchte gestreichelt werden.«
»Gestreichelt?«, wiederholte Schürf etwas ratlos. »Bist du dir sicher? Na schön - aber wo ist es?«
Unsere Suche im dunklen Keller erschien mir zwar chaotisch, verlief aber nach einem mir unerfindlichen System, das Sir Schürf sich ausgedacht hatte. Die Abfolge seiner Bewegungen erinnerte mich ans Schachspiel: Wir machten ein paar Schritte nach vorn, dann ein paar zur Seite und dann wieder ein paar nach vorn. Ich verstand zwar nichts davon, stellte aber keine Fragen, denn Lonely-Lokley wusste Bescheid.
Nach etwa einer halben Stunde fanden wir, was wir gesucht hatten. Aus der Ecke eines kleinen Kellerraums sah uns ein erschrockenes, schwach schimmerndes Wesen an. Es wollte essen, und es wollte zu Mama, doch ich fürchtete, dass die gute Mama weit und breit nicht aufzutreiben war.
Vorsichtig ging ich über den unebenen Boden auf das Wesen zu und stolperte dabei ab und zu über Hindernisse, die sich später als Menschenknochen erweisen sollten.
»Max, wo willst du hin?«, fragte Schürf mich streng.
»Dieses Tier ist sicher ungefährlich«, sagte ich rasch. »Töte es bitte nicht. Ich glaube, es ist sehr sympathisch.«
»Meinst du wirklich?«, fragte Lonely-Lokley skeptisch.
»Ja«, rief ich und stand neben dem seltsam schimmernden Wesen. »Schürf, du wirst staunen, aber es handelt sich um einen kleinen Bullen.«
Der Jungstier wollte meine Hand lecken, doch es gelang ihm nicht. Wir waren nicht aus einem Holz geschnitzt: Ich war ein Mensch aus Fleisch und Blut, und er war glibberig wie Gelee und ähnelte einem erst halb entwickelten Gespenst.
»Ein Stier, sagst du?«, fragte Schürf und schüttelte erstaunt den Kopf. »Jetzt verstehe ich allmählich. Gut, dass er noch klein ist. Wenn wir ein paar Jahre später gekommen wären Ich wollte vor allem den Rücken des Tiers streicheln. Er fühlte sich seltsam an - wie warmer Atem. Aber es gab dort noch etwas, das mir völlig unbekannt war.
»Das ist ein Mondstier, Max«, erklärte Lonely-Lokley, »ein echter Mondstier, der zum Glück noch ein Kalb ist. Die Legende sagt, das Mondlicht habe ihn geboren und er ernähre sich ausschließlich von den Herzen der besten Menschen. Jetzt erst ist mir klar, dass unter den -besten Menschen« vor allem die Nachkommen der Mondbullen zu verstehen sind. Irgendwann bekommt er einen richtigen Körper. Die Legende sagt, dann gehe die Welt zugrunde. Also muss ich den Mondstier töten. Außerdem ist seine Ernährungsweise zu gefährlich - findest du nicht auch?«
»Mach, was du willst!«, rief ich. »Diese Welt gefällt mir, und ich möchte nicht, dass sie untergeht. Aber jetzt verstehe ich Baka Bugwin. Wie jeder echte Dichter wollte er die Apokalypse herbeiführen. Warte bitte noch einen Moment. Ich muss all diese Erkenntnisse erst mal verdauen.«
»Tu das«, meinte Lonely-Lokley. »Unterdessen berichte ich Sir Juffin, was hier vorgefallen ist.«
Erneut streichelte ich unsere Entdeckung. Das Tier schnaufte leise und rieb sich an meinem Todesmantel. Jetzt war mir klar: Er muss einfach nach Hause zurückkehren wie jedes andere kleine Wesen, das sich verlaufen hat. Intuitiv schnippte ich mit den Fingern, und ein Kugelblitz traf seinen geleeartigen Körper. Der Stier sprach mich natürlich nicht an, sondern sah mir nur in die Augen und wartete, was weiter geschehen würde.
»Kehre dorthin zurück, woher du gekommen bist!«, befahl ich ihm. »Ich nehme an, dein Stall steht auf dem Mond, aber du weißt das sicher am besten.«
Das Tier schrumpfte zusammen, und nach einigen Sekunden stand nur noch eine winzige leuchtende Figur vor mir. Man musste schon genau hinsehen, um noch Ähnlichkeiten mit einem Stier zu erkennen.
»Sag Juffin, dass ich den Mondstier in seinen Stall geschickt habe«, sagte ich stolz zu Sir Schürf und ging zur Treppe zurück. »Und sag ihm, dass ich ein Genie bin, falls er noch nicht darauf gekommen sein sollte.«
Ich wollte unbedingt an die frische Luft. Als das sympathische Tier verschwunden war, merkte ich, dass ich es in dem schrecklichen Keller nicht länger aushalten konnte.
Auf dem Rückweg redete ich wie ein Wasserfall über die Dichter, vor allem über den verrückten Baka Bugwin und seinen apokalyptischen Traum. Ich weiß nicht, wie Sir Schürf mein Geplapper ausgehalten hat. Er ist sicher ein Heiliger.
Im Büro erwartete uns ein üppig beladenes Tablett aus dem Fressfass.
»Toll«, sagte ich lächelnd. »Kamra, Piroggen und kein einziges Stück Menschenfleisch!«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Juffin spöttisch.
Ich schob mir eine riesige Pirogge in den Mund, redete aber unverdrossen weiter: »Hat der Dichter Baka Bugwin dem Stier tatsächlich Menschenherzen zu fressen gegeben? Ich wüsste ja gern, wie er die Nachfahren der Mondbullen aufgespürt und das Tier gefüttert hat. Das alles wirkt so ungemein unreal!«
»Nimm nicht alles, was du hörst, für bare Münze«, sagte Juffin seufzend. »Die Geschichte mit den Mondbullen ist nur eine Legende. Natürlich hat unser Dichter die Menschenherzen selber gegessen. Das hat ihm die Kraft gegeben, die er brauchte. An den Stier hat er nur die Schatten der Herzen verfüttert. Das ist eine komplizierte Geschichte, Junge, und ich bin mir nicht sicher, ob du sie erklärt bekommen willst. Es gibt in dieser Welt vieles, das sich schlecht berichten lässt. Jedes Wort erscheint einem platt und unpassend. Man muss solche Phänomene einfach nehmen, wie sie sind.«
»Gut, ich will versuchen, damit zufrieden zu sein. Aber stillen Sie bitte meine Neugier, Juffin, und sagen Sie mir, ob es richtig von mir war, das Tier nach Hause in seinen Stall zu schicken.«
»Du weißt doch selbst, dass du alles richtig gemacht hast. Abgesehen davon wäre es natürlich klüger gewesen, mich vorab und nicht erst im Nachhinein um Rat zu fragen.«
Sir Schürf stellte einen Krug auf den Tisch und sah unseren Chef fragend an. »Ich zumindest habe bei diesem Fall längst nicht alles verstanden. War der Tote, in dessen Haus Max und ich in der Morgendämmerung gewesen sind, auch in das Geheimnis eingeweiht? So sah er mir nämlich nicht aus.«
»Ich habe mich noch ein wenig mit ihm unterhalten, bevor ich ihn ins Jenseits geschickt habe. Er heißt Tschun Matlata, falls das jemanden interessieren sollte, und gehörte zu einer Clique lebenslustiger Studenten, die keine Arbeit finden konnten. Baka Bugwin hat sie vor vierzig Jahren in einem abgelegenen Wirtshaus kennen gelernt und ihnen einen Job gegeben. Er hat sie fürstlich bezahlt, obwohl ihre Aufgabe sehr einfach war: Sie mussten nur durch Echo ziehen, die Menschen durch die Brille betrachten, die Baka ihnen gab, und ihm die Leute melden, die ein wenig schimmerten. Bei Vollmond haben die Studenten sie dann in seine Küche gelockt.«
»Dann war der tote Brillenträger also nur ein Mitglied dieser Clique. Und wo sind die Übrigen?«
»Leicht zu finden. Ich habe mich dafür schon mit Melifaro in Verbindung gesetzt. Herr Matlata hat mir die Adressen all seiner Kameraden verraten.«
»Ich verstehe allerdings nicht, warum in seinem Haus so viele Menschenknochen liegen.«
»Ach, das ist eine besondere Geschichte - wie geschaffen für Sir Max. Auch unser Matlata glaubte, Menschenfleisch verleihe ihm besondere Kraft. Das ist ein weit verbreiteter Irrtum. Deshalb beschloss er, viele seiner Opfer selbst zu verspeisen.«
Sir Juffin machte eine Pause und trank eine Tasse Kamra.
»Aber das Interessanteste an der Geschichte ist der Mondstier, denn er ist eine zum Leben erwachte Legende. Und die Brille ist nicht minder spannend. Zu ihrer Herstellung muss man ein erfahrener Zauberer sein. Um die Mondbullen leuchten zu sehen, musste Baka die Brille bei Vollmond bauen. Ich gestehe, dass nur ein Mensch mit enormer Fantasie so eine Brille hersteilen kann. Mit seinem Tod hat die Welt also viel verloren, aber ich bin trotzdem froh, dass du ihn umgebracht hast. Er wäre schlicht zu gefährlich für uns.«
»Kann man seine seltsamen Gedichte irgendwo lesen?«
»Aber Max - auf Befehl des Großen Magisters Chona wurden all seine Texte vernichtet. Doch es gibt Liebhaber seiner Kunst, die seine Gedichte im Kopf haben.«
»Erinnern Sie sich vielleicht an eine Strophe, Juffin?«
»Sei doch vernünftig. Ich kann mich mit allem befassen, aber nicht mit Poesie. Kein Mensch kann in meinem Zimmer Gedichte lesen. Das geht nun mal nicht. Besuch mich doch mal. Vielleicht erinnere ich mich ja an einiges. Aber jetzt geht euch erholen, Jungs - das habt ihr euch verdient. Ihr habt die Welt gerettet - das reicht fürs Erste.«
»Vielen Dank, Sir«, sagte Lonely-Lokley höflich. »Ich wollte gerade in die Bibliothek der Königlichen Universität gehen, wo ein seltenes Buch auf mich wartet.«
»Mach, was du willst«, sagte Sir Juffin. »Aber wie ich Max kenne, möchte er gern in ein Wirtshaus.«
»Dein seltenes Buch kann etwas warten, Schürf«, sagte ich. »In dem Lokal, in das ich gehen will, gibt es die beste Kamra der Stadt.«
»Ich hoffe, das ist eine Einladung.«
»Sir Juffin, wollen Sie uns nicht auch Gesellschaft leisten? «
»Das würde ich gern, aber ich muss auf Melifaro und seinen Bericht warten.«
Im A-Mobil meldete ich mich per Stumme Rede bei Melamori: »Ich fürchte, du musst dich mit deinem Großvater versöhnen. Der Fall ist geklärt, und ich lebe noch.«
»Halb so schlimm, Max. Du kannst mich ja ins Juffins Dutzend einladen - dann nehme ich es dir nicht krumm.«
»Prima. Der Wirt hat sowieso eine ziemlich seltsame Meinung von mir. Da kann ich ruhig mit einer anderen Frau dort auftauchen. Passt dir morgen Abend?«
»Gern - falls mir bis dahin nichts passiert.«
»Max, glaubst du eigentlich, dass wir schon fahren?«, fragte Lonely-Lokley etwas bissig.
»Nein, aber dem lässt sich abhelfen.«
Das Wirtshaus Armstrong und Ella war schon geöffnet. Techi saß an der Theke und hatte den wolligen Armstrong auf dem Schoß. Als sie mich und Schürf kommen sah, lebte sie auf.
»Ich habe eine seltsame Entdeckung gemacht. Wenn man nicht im Liegen einschlafen kann, sollte man es im Sitzen probieren. Das klappt wunderbar. Allerdings hat mich in deinem Haus ein seltsamer junger Mann aufgeweckt, Max - der lustige Journalist namens Ande Pu nämlich. Er sitzt schon die ganze Zeit hier und spielt mit Ella.«
** Was sollte meine Katze auch sonst machen?«, meinte ich lächelnd. »Ande, lebst du noch?«, fragte ich dann und trat an seinen Tisch. »Hast du schon deinen ganzen Wein getrunken, Herzchen? Kannst du denn da noch geradeaus gehen?«
Ande starrte mich mit seinen wunderhübschen blauen Augen an und murmelte etwas von Sonne und Mond in sich hinein, die wie zwei Augen auf dem Boden einer Tasse seien.
»Was?«, rief ich. »Soll das etwa ein Gedicht sein? Gibt es hier also noch einen zweiten Dichter? Mein lieber Ande -schreib lieber Reportagen. Das kannst du besser.«
»Du hast nichts verstanden«, sagte Ande beinahe weinend. »Ich will nach Tascher. Dort ist es warm, und dort liebt man die Dichter.«
»Das waren sehr gute Verse«, mischte Lonely-Lokley sich ein. »Ich hab gar nicht gewusst, dass Sie so begabt sind. Wenn Sie nach Tascher wollen, dann reisen Sie nur. Das tut Ihrem Talent sicher gut.«
Ich lächelte Techi an, und sie lächelte ebenso sanft und verständnisvoll zurück.
»Morgen Abend habe ich Melamori zu Mochi eingeladen.«
»Ja und? Was geht mich das an?«
»Heute Abend nehme ich dich dorthin mit. Mach also deine Spelunke zu.«
•*Du bist schrecklich«, seufzte Techi. »Da muss ich meine Gäste ja schon wieder nach Hause schicken!« Sie stieß mir den Ellbogen in die Seite. Am Fenster saßen Schürf und Ande Pu und unterhielten sich leidenschaftlich über moderne Dichtung.