Gedenke all jener, die je gelebt haben und gestorben sind und nie wieder die Bäume, die Wiesen und die Sonne sehen werden.

Alles erscheint so kurz... und so sinnlos. Eine kurze Zeit zu leben und dann zu sterben. Warum kämpfen wir so verbissen, um am Leben zu bleiben, unser Leben zu erhalten, uns an dieses flüchtige Aufflackern zu klammern, das noch niemand hat definieren können?

Es ist leicht, die Toten zu beneiden.

Sie sind jenseits des Lebens und jenseits des Sterbens. Sie haben das Glück, tot zu sein, das Sterben hinter sich zu haben und das Unvermeidliche nicht mehr fürchten zu müssen. Nicht mehr um ihr bedrohtes Überleben kämpfen zu müssen. Unter der Erde zu sein, unbehelligt. Unbehelligt von Schmerzen, unbehelligt von der Angst vor dem Sterben. Sie brauchen nicht mehr zu leben. Oder Schmerzen zu ertragen. Oder etwas zu leisten. Oder sich zu fragen, was sie tun sollen. Oder sich zu fragen, wie es wohl ist, wenn man stirbt.

Warum erscheint das Leben so häßlich und so schön und traurig und wichtig, während man es lebt, und so trivial, wenn es vorüber ist?

Das Feuer des Lebens glimmt eine Weile und verlöscht; die Gräber warten geduldig darauf, gefüllt zu werden. Das Ende allen Lebens ist der Tod, und neues Leben singt glücklich im Wind, weiß nichts von dem alten Leben und schert sich auch nicht darum, bis es selbst erstirbt.

Leben ist das stetige, endlose Schaufeln von Gräbern. Wir leben und sterben, manchmal üppig, manchmal ärmlich, doch sterben müssen wir immer, und der Tod ist der gemeinsame Nenner alles Lebendigen, die eine Gemeinsamkeit, die alles zum Vergessenwerden verdammt.

Was ist es, das den Menschen die Angst vor dem Sterben einjagt?

Nicht Schmerz. Nicht immer.

Der Tod kann auf der Stelle erfolgen und fast schmerzlos.

Der Tod ist das Ende der Schmerzen.

Der Tod kann sein wie das Einschlafen.

Warum also haben die Menschen Angst vor dem Sterben?

Und wer von uns würde, wäre er einmal tot, auf den Frieden des Todes verzichten wollen, um zum Leben zurückzukehren?


Morgendämmerung ist die Zeit der Wiedergeburt. Alles Leben spürt dies, das Wiedererstehen, um einem Neubeginn entgegenzutreten. Unsere Geschichte beginnt in der Morgendämmerung. Vielleicht sollten wir eher sagen, unsere Geschichte fängt wieder von vorne an. Gelbrotes Feuer beleuchtete den Morgen, akzentuierte die Farben der grün bewaldeten Landschaft. Ein Lastwagen ratterte durch den Wald. Eine Staubwolke zog er hinter sich her, während er holpernd den Furchen der staubigen Straße zwischen den Bäumen hindurch folgte. Die Leute in dem Laster hatten es eilig und sie hatten sich verspätet.

Bert Miller, ein grimmig dreinschauender Mann in einem altmodischen Anzug, der neu aussah, weil er so selten getragen wurde, konzentrierte sich darauf, seinen Laster unter Kontrolle zu halten, was er mit einer Mischung aus Zorn und Geschicklichkeit tat - Zorn, der ihn dazu brachte, viel zu schnell zu fahren und einen Unfall unvermeidlich scheinen zu lassen, und der Geschicklichkeit, die den Unfall verhütete. Bert war um die Vierzig mit dem wettergegerbten Gesicht und den schwieligen Händen eines Farmers. Ein dichter Schopf schwarzen Haars weigerte sich, glatt zu bleiben, gleich wie oft es naß gemacht und gekämmt wurde, und Bert kämmte sich nicht allzuoft. Er war ein Farmer und er wollte auch nichts anderes sein, obgleich sein Hof ihm nicht Reichtum einbrachte und er jeden Tag unermüdlich und hart arbeiten mußte, um für sich und seine drei Töchter ein mageres Auskommen zusammenzukratzen. Seine Frau war tot. Sie war bei der Geburt der jüngsten Tochter Karen gestorben, die ihrerseits schwanger war und neben Bert in dem Lastwagen saß. Karen war sehr angespannt und verängstigt, klammerte sich an die Armstütze und hoffte, ihr Vater würde nicht merken, wie groß ihre Furcht war, um sie dann anzubrüllen und gleichzeitig so schnell wie möglich zu fahren und die steilen, engen, scharfen Kurven mit einer, wie es Karen erschien, Mischung aus Glück und Dickschädeligkeit zu meistern. Auf der Ladefläche des Lasters schlingerten und hüpften Karens Schwestern Ann und Sue Ellen. Sie waren noch verängstigter als Karen und sie hatten Grund dazu. Sie saßen auf einer niedrigen Holzbank auf der Ladefläche des schaukelnden Lastwagens, um ihre Kleider nicht schmutzig zu machen. Zweifellos wäre es sicherer gewesen, wenn sie sich direkt auf den Boden gesetzt hätten, denn die Bank war nicht verankert und wackelte und polterte mit jedem Ruck des Lasters. Sie hatten gewußt, was für eine Fahrt ihnen bevorstand, da ihr Vater nach dem Streit am Morgen so wütend war, und sie waren keineswegs überrascht. Es war Karens Schuld, daß sie so spät dran waren. Im achten Monat schwanger, war sie an jenem Morgen aufgestanden und hatte über Übelkeit und Schwäche geklagt. Das hatte gereicht, um Bert aus der Haut fahren zu lassen. Er beschimpfte Karen, sie heuchele morgendliche Übelkeit, um ihrer christlichen Pflicht zusammen mit der übrigen Familie nicht nachkommen zu müssen, und wetterte weiter, es sei noch nicht genug, daß sie Schande über ihn bringe, indem sie ein Kind bekäme, ohne verheiratet zu sein, sondern daß sie zudem weder die Lebenden noch die Toten respektiere und ihren Glauben verloren habe, und daß sich ihre arme, tote Mutter im Grabe umdrehen würde.

Bert hatte, ungeachtet ihres Protestes, sie sei krank, darauf bestanden, daß Karen sich anzog und mit der ganzen Familie mitfuhr. Aber in Anbetracht ihrer Schwangerschaft ließ er sie auf dem Beifahrersitz des Lasters Platz nehmen, während die beiden anderen Töchter hinten sitzen mußten. Und weil sie verspätet waren und weil es nur wenig brauchte, um Bert zu provozieren, seinen Zorn über Karens illegitime Schwangerschaft ausbrechen zu lassen, jagte Bert den Laster mit krachendem Getriebe und durchdrehenden Reifen ihrem Ziel entgegen.

»Wenn er nicht langsamer fährt, wird es unsere eigene Beerdigung sein«, befürchtete Sue Ellen. Sie und Ann klammerten sich an die Bank, als böte sie ihnen festen Halt und Schutz während der halsbrecherischen Fahrt. Ann antwortete nicht. Der Krach des Lastwagens auf dem Geröll der Straße war ohrenbetäubend, aber sie hatte dennoch Angst, ihr Vater könnte ihre Bemerkung verstehen.

»Er kann uns hier nicht hören«, beschwichtigte Sue Ellen, welche die Gedanken ihrer Schwester erraten hatte. Aber Ann sagte nichts. Die Straße wurde für ein paar hundert Meter gerade und etwas glatter, so daß es relativ gefahrlos war, zu beschleunigen, solange es keinen Gegenverkehr gab. Aber wenigstens war jetzt die Hüpferei der Holzbank zu Ende, und die beiden Mädchen entspannten sich ein kleines bißchen. Nun lag nur noch eine kurvenreiche Strecke vor ihnen und eine weitere Gerade, um zu dem Farmhaus der Dorsays zu gelangen.

Bert Miller erhöhte das Tempo ein wenig und bremste vor den Kurven leicht ab, jagte seinen Töchtern Angst ein und wurde langsamer, als er die gerade Strecke erreichte und sah, daß dort, wie erwartet, die Autos und Lastwagen sämtlicher im Tal lebender Farmer aufgereiht waren. Ein paar Leute hatten auf dem Feld neben dem Farmhaus der Dorsays parken können, und als dort kein Platz mehr war, hatten die übrigen ihre Fahrzeuge so weit wie möglich von der engen, schmutzigen Straße weg auf einer Seite der Fahrbahn abgestellt. Bert Miller tat das gleiche, brachte seinen Laster zum Stehen, stieg aus und knallte die Tür zu, ohne seinen Töchtern auch nur einen Blick über die Schulter zu gönnen. Er hätte sie genauso behandelt, wenn er nicht so zornig gewesen wäre. Er erwartete von ihnen, daß sie allein zurechtkämen.

Ann und Sue Ellen kletterten von der Ladefläche, achteten sorgsam darauf, ihre sauberen, bedruckten Kleider nicht zu verschmutzen, und gingen um den Laster herum, um Karen beim Aussteigen zu helfen. Bert Miller war schon zwanzig oder dreißig Schritte voraus auf das Farmhaus der Dorsays zugegangen. Niemand stand vor dem Eingang, woraus er schloß, daß die Zeremonie schon angefangen hatte. Bert zurrte seine Krawatte zurecht und versuchte im Weitergehen, mit der Handfläche eine widerspenstige Locke zu glätten. Karen machte, unterstützt von ihren Schwestern, einen zaghaften, ungeschickten Schritt vom Trittbrett, lichtete sich dann auf und strich sich den Umstandskittel über dem Bauch glatt. Sie fühlte sich beschämt und entwürdigt und wußte, daß alle Anwesenden im Dorsay-Haus erkennen würden, daß sie schwanger war, ohne verheiratet zu sein. »Ich wollte nicht mitkommen«, sagte sie. »Sie werden sich alle das Maul verreißen.«

»Früher oder später wirst du's ohnehin durchstehen müssen«, erwiderte Ann. »Wenn nicht jetzt, dann wenn das Baby...« Sie verstummte, als sie sah, daß ihr Vater sie verärgert anschaute, weil er auf sie wartete. Er war an der Haustüre stehengeblieben, damit sie zusammen als Familie hineingehen konnten.

Im Näherkommen konnten die Mädchen Leute drinnen weinen hören. Bert Miller öffnete die Tür und trat ein. Seine Töchter folgten ihm.

Der Wohnraum war vollgestopft mit Menschen, einige hatten sich auf Sofas und Stühle gequetscht, die übrigen standen. Der Sarg ruhte an der gegenüberliegenden Wand auf etwas, das aussah wie ein niedriger Tisch oder auch wie zwei Sägeböcke mit Brettern, über die ein weißes Laken gebreitet und Blumen gestreut worden waren. In dem Sarg lag die Leiche eines neunjährigen Mädchens, der jüngsten Dorsay-Tochter. Sie war an rheumatischem Fieber gestorben.

Ein Rumoren ging durch die Versammlung, als die Familie Miller das Zimmer betrat, eine verlegene Unruhe, die daher rührte, daß ein Gebet begonnen hatte und niemand wußte, ob man es unterbrechen sollte, um die Verspäteten zu begrüßen.

Und zudem sah man, daß Karen eindeutig schwanger war. Auf der anderen Seite neben dem Sarg fuhr Reverend Michaels fort, in seinem Gebetbuch zu blättern, als sei er sich der Störung nicht bewußt. Die Eltern des toten Kindes standen neben dem Reverend und starrten hilflos und mit verständnisloser Trauer in den kleinen Sarg. Reverend Michaels hatte das geeignete Gebet gefunden, wandte sich an die versammelte Trauergemeinde und gewahrte jetzt, daß Bert Miller mit seinen drei Töchtern angekommen war. »Bitte setzen Sie sich oder bleiben Sie still stehen«, ermahnte er sie. »Der Gottesdienst beginnt jetzt.« Er schaute Bert Miller scharf an, um ihm zu zeigen, daß seine Verspätung bemerkt worden war, und fixierte dann seinen mißbilligenden Blick auf Karen, sah ihr in die Augen, bis sie voller Scham und Verlegenheit den Kopf senkte. Mr. und Mrs. Dorsay starrten die ganze Zeit in den Sarg, unsicher, was sie sagen oder wie sie sich verhalten sollten, und im Grunde auch unfähig, sich um die Formalitäten des Gottesdienstes zu scheren. Der Kummer über den Tod ihrer kleinen Tochter war zu überwältigend.

»Ich bitte euch alle und jeden einzelnen von euch, mit mir zu beten«, forderte Reverend Michaels die Anwesenden auf. Er machte eine kleine Pause und begann dann das Beerdigungsgebet, das jeder der Trauergemeinde auswendig können sollte:

»Möge ihre Seele in Frieden ruhen. Möge ihre Seele den Leib verlassen. Möge der Leib zurückbleiben.

Möge der Leib zu Staub werden, wie der Herr es befahl. Möge der Leib nie wieder erstehen.

Möge ihre Seele in den Himmel kommen, möge alles andere zu Staub zerfallen.«

Während des Gebets rückten einige der sitzenden Trauergäste zusammen, um für Karen Platz zu machen. Ihr Vater und ihre Schwestern blieben indessen am hinteren Ende des Zimmers stehen.

Nachdem das Gebet beendet war, klappte Reverend Michaels sein Gebetbuch wieder zu. Die Trauergemeinde verhielt sich außerordentlich still und ruhig. Es war nicht das geringste Rumoren oder Rascheln zu vernehmen, das sonst oft entsteht, wenn ein gemeinsames Gebet abgeschlossen ist. Außer leisem Schluchzen war nichts zu hören.

Reverend Michaels ließ seinen Blick durchs Zimmer schweifen, als erwarte er etwas, das er nicht zu erbitten hätte. Der Gottesdienst war eindeutig noch nicht zu Ende. Die Eltern des toten Kindes standen noch immer Arm in Arm neben dem offenen Sarg. Die Mutter schluchzte leise, der Vater zeigte seinen Kummer geräuschlos mit traurigem Blick. Neben Kummer und Trauer in dem Zimmer wurde plötzlich eine unterschwellige Spannung spürbar. Der Reverend schaute noch immer zum rückwärtigen Teil des Raumes. Augenpaare, die bislang auf die trauernden Eltern gerichtet waren, wandten sich eines nach dem anderen zur Türe. Nach einer Weile verstummte auch das Schluchzen der Mutter. Sie hob den Kopf und folgte dem Blick ihres Mannes über die Köpfe der versammelten Trauergemeinde hinweg. Das Weinen hatte aufgehört, und alle schienen die Luft anzuhalten. Es herrschte absolute Stille, als würden die Dutzende von Augenpaaren etwas geschehen lassen wollen. Ein Mann in der hintersten Ecke des Zimmer erhob sich, und sämtliche Augen starrten auf das, was er in den Händen hielt.

Der Mann war groß und schlank und mit einem abgetragenen, braunen Anzug angetan. Er kam aus der hinteren Ecke des Raumes und ging durch die Gasse, welche die Trauergäste für ihn gebildet hatten. Aller Blicke waren auf den großen Holzhammer geheftet, den er in der Hand hielt. Langsam durchquerte er das Zimmer, wobei er den Vater des toten Kindes nicht aus den Augen ließ. Er trat neben den Sarg und reichte Mr. Dorsay den Hammer. Gleichzeitig legte Reverend Michaels dem trauernden Vater die linke Hand auf die Schulter und holte mit der rechten einen langen Bolzen hervor, wie man sie beim Bau von Eisenbahnschienen verwendete. Der Reverend reichte Mr. Dorsay den Bolzen. Die Gesichter der Trauergäste waren angespannt und erwartungsvoll auf den Sarg gerichtet. Außer einem rastlosen Scharren einiger weniger ungeduldiger Füße herrschte absolute Stille. Das Dämmerlicht im Zimmer schien die Stille noch zu unterstreichen.

Unter den wachsamen Augen der versammelten Trauergemeinde setzte Mr. Dorsay den langen Bolzen auf die Stirn seines toten Kindes. Dann hämmerte der Vater mit dem hallenden Geräusch von Holz auf Metall den Stift tief in den Schädel seiner Tochter.

Tränen rannen über das stille, ausdruckslose Gesicht des Mannes.

Mrs. Dorsay schrie auf, unfähig, ihre Kontrolle zu bewahren, und fuhr fort, in den Armen mehrerer Frauen, die hinzugeeilt waren, um sie zu trösten, verzweifelt zu schluchzen. Plötzlich flog die Eingangstüre auf und donnerte krachend gegen die Wand. Ein kleiner Junge stand auf der Schwelle, aufgeregt und außer Atem. Sein Blick fand Reverend Michaels als das Symbol der Autorität. »Er ist abgestürzt!« schrie er. »Der Bus! Er hat sich überschlagen! Ich war ganz in der Nähe! Er ist in den Abgrund gestürzt! Sie sind alle tot... glaube ich!« Die versammelten Trauergäste schrien alle gleichzeitig durcheinander. Ein Mann packte den Jungen bei den Schultern und schüttelte ihn, um mehr zu erfahren. »Wo ist es passiert? Wann?« brüllte er.

»An der Kreuzung. Vor ein paar Minuten. Der Bus geriet ins Schleudern und stürzte die Böschung hinunter«, erklärte der Junge atemlos.

Reverend Michaels machte ein strenges Gesicht. Er brüllte um Ruhe in der Versammlung. Die Trauergäste wandten sich ihm zu und erwarteten seine Anweisungen. Sie brauchten die Autorität seiner Stimme, auch wenn sie alle längst wußten, was er ihnen sagen würde. Wenn es Leichen bei dem Unfall gegeben hatte, und wenn andere ihren Verletzungen später erliegen würden, mußten ihnen die Bolzen in den Schädel getrieben werden, um sicherzugehen, daß der Frieden des Todes endgültig und vollständig sei, wie Gott, der Herr, es befohlen hatte.

»Ihr wißt alle, was zu tun ist«, verkündete Reverend Michaels feierlich. »Aber wir müssen uns beeilen. Es bleibt nicht viel Zeit.«

Die Trauergemeinde setzte sich in Bewegung, die Leute drängten und schoben sich aus dem Zimmer. Einige der Männer trugen Beutel mit langen Metallbolzen und Hämmern, die zum Symbol des Todes geworden waren und die man häufig zu Beerdigungen mitnahm. Andere hatten sich angewöhnt, diese Gegenstände immer im Auto bei sich zu führen.

Bert Miller wandte sich zu seinen Töchtern. Ann hatte ihr Gesicht völlig verängstigt in den Händen vergraben. Sie drückte sich an die Wand, als ihr Vater auf sie zuging. »Ich will nicht mitgehen!« schrie sie voller Verzweiflung und wich vor ihrem Vater zurück.

Bert packte ihr Handgelenk und schüttelte sie so, daß sie ihren Kopf heben und ihm in die Augen schauen mußte. »Du kommst mit! Und Sue Ellen auch! Die einzige, die nicht mitkommt, ist Karen! Und nur, weil sie schwanger ist. Sie bleibt hier und wartet, bis wir zurück sind!« Die anderen waren schon hinausgeeilt. Ann und Sue Ellen wurden von ihrem Vater nach draußen geschoben. Karen schaute ihnen verängstigt und zitternd nach.

Auszug aus einer Bürgerschutz-Radiosendung während des Notstands, der vor zehn Jahren in der ganzen Osthälfte der Vereinigten Staaten herrschte:

»... neueste Berichte informieren uns, daß sich die Invasion, die erst vor vierundzwanzig Stunden bekannt geworden ist, tatsächlich über den größten Teil der östlichen Vereinigten Staaten ausgebreitet hat. Medizinische und wissenschaftliche Berater sind ins Weiße Haus geladen worden, und Reporter berichten aus Washington, daß der Präsident plant, die Ergebnisse dieser Konferenz in einer Ansprache an die Nation über unser Bürgerschutz-Notstands-Rundfunknetz zu veröffentlichen...

... Die fremdartigen Wesen, die in alarmierender Zahl aufgetaucht sind, scheinen gewisse, vorhersagbare Verhaltensmuster an den Tag zu legen. In den wenigen Stunden nach den ersten Nachrichten über Gewalttaten, Morde und offenbar krankhafte Angriffe auf das Leben von völlig ahnungslosen Menschen wurde festgestellt, daß die fremden Wesen viele körperlich und verhaltensmäßig menschliche Eigenheiten aufweisen. Hypothesen über ihre Herkunft und ihre Absichten sind bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt so unterschiedlich und widersprüchlich, daß uns nur zu berichten bleibt, daß diese Faktoren bislang nicht erklärt werden können. Wissenschaftler und Ärzte untersuchen gegenwärtig mehrere Leichen von diesen Angreifern auf Hinweise, welche die vorhandenen Theorien widerlegen oder bestätigen. Die überwältigendste Tatsache ist, daß sich diese Geschöpfe sowohl in städtischen als auch ländlichen Gebieten über die ganze Osthälfte der Nation in unterschiedlicher Zahl ausbreiten, und wenn sie sich in Ihrem Gebiet noch nicht manifestiert haben sollten: Bitte treffen Sie sämtliche verfügbaren Vorsichtsmaßnahmen! Der Angriff kann jederzeit erfolgen, überall und ohne jede Vorwarnung! Hier noch einmal die wichtigsten Fakten aus unseren vorangegangenen Berichten: Eine aggressive Macht -eine Armee - unerklärter, unidentifizierter humanoider Wesen ist aufs Geratewohl in verschiedenen städtischen und ländlichen Gebieten in allen Oststaaten aufgetaucht. Diese Wesen sind absolut aggressiv und vernunftwidrig in ihrer Gewalttätigkeit. Bürgerschutzmaßnahmen sind eingeleitet worden, und Untersuchungen über Herkunft und Ziel der Angreifer sind im Gange. Alle Bürger werden dringend gebeten, die größtmöglichen Vorsichtsmaßnahmen zur Selbstverteidigung gegen diese heimtückische, fremde Macht wahrzunehmen. Diese Wesen sind körperlich ziemlich schwach und lassen sich wegen ihres verunstalteten Äußeren leicht von Menschen unterscheiden. Im allgemeinen sind sie unbewaffnet, doch können sie wahrscheinlich Waffen handhaben. Sie sind ohne irgendeinen Grund oder Plan aufgetaucht, ungleich organisierten Armeen, wie wir sie kennen. Sie erwecken den Eindruck, von Verzückung oder Besessenheit getrieben zu sein. Sie scheinen völlig irrational zu handeln. Sie können - ich wiederhole - sie können aufgehalten werden, indem sie bewegungsunfähig gemacht werden! Sie können durch Blendung oder Verstümmelung aufgehalten werden. Sie sind, denken Sie daran, körperlich schwächer als ein durchschnittlicher Erwachsener - aber ihre Stärke besteht in ihrer Überzahl, dem Überraschungseffekt und in der Tatsache, daß ihre Existenz jenseits unseres gewohnten Verstehens liegt. Sie scheinen irrationale, unkommunikative Wesen zu sein und müssen eindeutig als äußerst gefährliche Bedrohung angesehen werden, die uns in eine ernste Notstandssituation versetzt. Wenn man ihnen begegnet, ist ihnen auszuweichen oder man muß sie vernichten. Unter gar keinen Umständen sollten Sie oder Ihre Familienmitglieder allein oder unbeaufsichtigt bleiben, solange diese Bedrohung anhält.

... Diese Wesen sind Fleischfresser! Sie verzehren das Fleisch ihrer Opfer. Charakteristisch für ihre Attacken ist ihr hinterhältiges, wahnsinniges Verlangen nach menschlichem Fleisch. Ich wiederhole: Diese fremden Wesen ver-zehren das Fleisch ihrer menschlichen Opfer...«

Sheriff Conan McClellan schlürfte seinen Morgenkaffee in seinem Büro, als die Nachricht von dem verunglückten Bus über den Polizeifunk eintraf. Er kannte die Kreuzung und die Böschung, wo der Bus dem Bericht zufolge abgestürzt war. Die Meldung erwähnte nichts von einem Feuer, und die Böschung war nicht sehr tief. Je nach der Geschwindigkeit, mit welcher der Bus über den Straßenrand geraten war, und je nachdem, ob er eine Kollision mit den großen Bäumen hatte verhindern können, ehe er zum Stillstand gekommen war, konnte es Überlebende geben.

McClellan vergewisserte sich, daß ein Notruf für zusätzliche Krankenwagen und medizinische Erste-Hilfe-Ausrüstungen an alle Nachbargemeinden gefunkt worden war. Dann alarmierte er die Unfallstationen der nächstgelegenen Krankenhäuser. Er rief ebenfalls im Leichenhaus an. Dann bestieg er einen Mannschaftswagen und befahl dem Fahrer, dem Adjutanten Greene, einem Anfänger, sie zur Unfallstelle zu bringen. Greene war nervös und versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen; er hatte bislang noch keine Gelegenheit gehabt, sich in seiner Funktion als Polizist einem Toten gegenüber zu sehen, und nach dem, was er aus dem Bericht und aus den Vorbereitungen seines Vorgesetzten folgern konnte, war er einigermaßen sicher, daß er an diesem Tag seinen ersten Leichen gegenüberstehen würde.

Sheriff McClellan war ein ausgezeichneter Polizist mit der störenden, wenn auch vielleicht notwendigen Gewohnheit, förmlich nach Gelegenheiten zu jagen, seine Männer der Feuertaufe zu unterziehen. Wenn sie einmal, ohne mit der Wimper zu zucken, eine Krise durchgestanden hatten, dann wußte er, daß er sich auf sie verlassen konnte. Und - davon war er überzeugt - dann konnten sie sich auch auf sich selbst verlassen. Greene war auf dem Weg, ausgesprochen zuver-lässig zu werden, dachte er.

Der Sheriff war in diesem Fall selbst nervöser als sonst, und er wußte, warum. Das Busunglück erinnerte ihn nur zu sehr an den ersten Unfall, mit dem er als Anfänger betraut gewesen war. Ein Bus mit Schulkindern war frontal mit einem Lastwagen zusammengestoßen, der mit Stahlstreben für Betonbauten überladen gewesen war. Die Stahlstangen hatten sich unter der Wucht des Aufpralls aus den Halterungen gelöst und waren wie Speere in das Innere des Busses geschleudert worden, wo sie eine große Zahl der Kinder aufgespießt und Köpfe und Gliedmaßen von den Leibern getrennt hatten. McClellan hätte aufgrund dieses schrecklichen Erlebnisses beinahe seinen Dienst bei der Polizei quittiert, überzeugt, seine sechs Monate währende Erfahrung als Polizist sei genug. Jetzt, sechsundzwanzig Jahre später, hatte er das Gefühl, er könne sich allem, was die Welt ihm ins Gesicht schleudern würde, gleichmütig stellen. Niemals ließ er seine Gefühle erkennen, aber niemals vergaß er irgend etwas - oder irgendwen -, wenn er tief berührt worden war. Seine Männer respektierten ihn, doch sie hielten ihn für ein bißchen zu dickfellig, um human zu sein. McClellan wußte, daß dies das einzige Mittel war, in seinem Beruf zu überleben.

Der Adjutant Greene war sich im klaren darüber, was ihm bevorstand. Er dachte an die Nachrichten, die er über den Polizeifunk im Auto gehört hatte. Wäre er allein gewesen, würde er vielleicht in der Hoffnung, daß ein Teil der Spuren der Katastrophe schon aufgeräumt worden wäre, langsamer gefahren sein. Aber mit dem Sheriff neben sich auf dem Beifahrersitz konnte er es sich nicht erlauben, zu trödeln. Und wenn er in seinem tiefsten Inneren gewünscht hätte, daß McClellan einen anderen als Fahrer gewählt hätte, so war er klug genug, dies nicht zu erwähnen.

Mit aufblitzender Alarmleuchte und heulenden Sirenen näherten sie sich dem Unfallort, den sie in etwa zehn Minuten nach ihrer Abfahrt aus dem Polizeipräsidium erreichen würden.

Der Bus war, nachdem er die steile Steigung der Landstraße überwunden und die abfallende Seite erreicht hatte, von der Fahrbahn geraten. Eine Polizeisperre war der Straße entlang errichtet worden. Ein Polizist dirigierte die Rettungsfahrzeuge zur Unfallstelle und winkte den übrigen Verkehr weiter. Glücklicherweise herrschte auf dieser ländlichen Route nur selten viel Verkehr, und falls es Überlebende gab, konnten sie schnell in ein Krankenhaus transportiert werden. Der Polizist ließ McClellans Wagen passieren, und Greene lenkte ihn behutsam über die Stelle, von wo aus sie die kurvenreiche Strecke oberhalb der Kreuzung bei der Brücke über den Fluß und dem Zusammentreffen von drei Landstraßen etwa zweihundert Meter weit überblicken konnten. Es gab keinerlei Hinweise darauf, warum der Bus außer Kontrolle geraten war. Möglicherweise war er von einem Fahrzeug, das, nachdem der Bus sich überschlagen hatte, seinen Weg fortgesetzt hatte, zum Ausweichen gezwungen worden.

Greene steuerte den Wagen an den Straßenrand, ließ die Alarmanlage weiterblinken, und er und der Sheriff stiegen aus. Sie waren bei weitem nicht zu spät eingetroffen. Im Gegenteil: Sie schienen unter den ersten zu sein, die den Unfallort erreicht hatten, was für Greene nicht besonders tröstlich war. Noch ein weiterer Streifenwagen war zur Stelle, so weit wie möglich von der Fahrbahn geparkt, die Alarmleuchte ebenfalls eingeschaltet. McClellan vermutete, daß der Polizist, der den Verkehr lenkte, mit diesem Wagen hergekommen war. McClellan schaute die Böschung hinunter zu dem abgestürzten Bus, doch er konnte niemanden sehen, der sich auf dem Weg dorthin befand. Aus der Entfernung war der Bus nicht sehr deutlich auszumachen; sein fataler Sturz hatte in einem dichten Gehölz geendet, das nun das Ausmaß der Katastrophe weitgehend verbarg.

McClellan machte Greene ein Zeichen, er solle mitkommen, und begann, sich einen Weg den Abhang hinunter zu dem Unglücksbus zu bahnen. Sie sahen Rauch aus dem Gehölz aufsteigen, doch es war eindeutig nicht genug Rauch, um auf ein großes Feuer hinzudeuten. Aber dennoch machte McClellan sich keine große Hoffnung, eine größere Zahl von Überlebenden oder Unverletzten vorzufinden. Falls es welche gab, so sagte er sich, wäre ihr erster Impuls gewesen, aus dem Gehölz zu kriechen und Hilfe zu holen. Da niemand zu sehen war, war vermutlich niemand dazu imstande. Doch andererseits bemerkte er, daß das Gras niedergetrampelt war, und an verschiedenen Stellen waren Fußabdrücke im morastigen Boden zu erkennen, als habe sich aus unerfindlichen Gründen eine größere Anzahl von Leuten den Weg zu dem Wrack gebahnt. McClellan fand dafür keine Erklärung. Wenn Leute dort hinuntergegangen waren, wer waren sie und wo waren sie geblieben?

Die sauber gewaschenen und sorgfältig gebügelten Kleider von Ann und Sue Ellen waren inzwischen zerschlissen, verdreckt und mit Blut besudelt. Sue Ellen stolperte, die Beine des toten Mannes, den sie zu tragen half, entglitten ihr, und sie schlug mit dem Gesicht gegen die Schuhe des Toten. Ein Schluchzen drang aus ihrer Kehle. Bert Miller hatte kein Wort des Mitgefühls oder der Ermutigung für sie. Sein strenger, zorniger Blick hieß seine Tochter aufstehen und weitermachen. Sue Ellen rappelte sich wieder hoch, packte die Beine der Leiche und machte weiter. Ihr Vater hielt die Leiche an den Armen und auch er war außer Atem. Aber er mußte weitermachen. Und sie ebenfalls. Bert wollte, daß seine Töchter lernten, wie hart das Leben war, daß es Pflichten gab, die erfüllt werden mußten, und daß Leute mit der richtigen moralischen Einstellung taten, was getan werden mußte, ohne zu klagen und ohne je auf Erden dafür Belohnung zu erwarten. Er hatte Ann und Sue Ellen die Wahl gelassen, ob sie lieber Leichen tragen oder Bolzen nageln wollten. Sie hatten sich aus ihrem eigenen, freien Willen entschieden, die Leichen tragen zu helfen. Also mußten sie es auch tun. Und sie mußten es schnell erledigen. Ehe die Autoritäten ankamen und sie daran hinderten. Die Autoritäten gaben nicht mehr gern zu, daß es notwendig war, die Toten zu pfählen, auch wenn es vor gar nicht langer Zeit noch absolut notwendig gewesen war. Sue Ellen und ihr Vater schafften den toten Mann in eine Lichtung im Wald, wo schon andere Leichen hingebracht worden waren. Dort legten sie den Mann nieder, und das Mädchen wandte sich ab, als dessen Kopf zur Seite kippte und das Loch im Schädel sichtbar wurde, das fast bis zum Nacken reichte. Sue Ellen verdeckte ihre Augen mit den Händen und erinnerte sich zu spät daran, daß sie voller Blut waren. Sie zog sie zurück, doch sie hinterließen auf jeder Wange einen frischen Blutfleck. Sie begann zu weinen. Sie konnte das Keuchen ihres Vaters hören, der einen Augenblick ausruhte und beobachtete, wie Ann die Leiche eines dreijährigen Kindes durch das Gras in die Lichtung schleppte. Ein großer Holzsplitter von einem abgerissenen Ast steckte in seiner Brust; sein Mund war geöffnet und seine Zähne von geronnenem Blut verkrustet. Bert Miller hatte Ann die Kinderleiche alleine tragen lassen, während er den toten Mann, eine weit schwerere Bürde, mit Sue Ellen übernommen hatte. Der Mann und das Kind waren die letzten Leichen, die aus dem Buswrack in die Lichtung geschafft werden mußten. Dort hatten andere schon damit begonnen, die Bolzen einzurammen.

Ann und Sue Ellen ließen sich keuchend, einem Schock nahe, auf den Boden fallen. Sie schauten einander nicht an, weil jede die andere an die grauenvolle Erfahrung erinnerte, die sie gerade durchgestanden hatten. Jede fühlte sich allein, jenseits allen Verstehens verängstigt, und sie wären am liebsten davongerannt, um vor dem Anblick, der sich ihnen in der Lichtung bot, zu entfliehen, ein Anblick, der sie mit solcher Abscheu erfüllte, daß sie die Augen davor verschlossen. Aber sie konnten es hören, das Krachen von Holz auf Metall, das Splittern toter Schädel, das Keuchen und Rufen derer, welche die Bolzen und Hämmer handhabten. Es hatte keiner aus dem Bus überlebt. Reverend Michaels lief zwischen den Leichen, von denen die meisten entsetzlich zugerichtet waren, herum und blieb über einer jeden stehen, um eilig das Gebet zu sprechen, das dazu dienen sollte, der Seele den ewigen Frieden zu gewähren. Hin und wieder nahm er sich bei seiner fieberhaften Arbeit die Zeit, seine Gemeindemitglieder zu ermutigen und sie zu loben, daß sie die Kraft hatten, die Aufgabe des Herrn zu erfüllen.

»Schnell! Beeilung!« rief Michaels. »Wir müssen so viele wie möglich schaffen, bevor die Polizei ankommt!« Als die Leute die Polizeisirenen hörten, bekamen sie Angst. Sie wußten, daß sie sofort verschwinden mußten, auch wenn sie ihre Arbeit noch nicht zu Ende gebracht hatten. Von den vierunddreißig Leichen waren nur dreizehn mit den Bolzen durchbohrt worden. Reverend Michaels schüttelte den Kopf. Er hoffte, daß seine Gebete für die ungespießten Leichen ausreichen würden. Dann führte er die Mitglieder seiner Gemeinde aus der Lichtung des Waldes zurück in das Tal, aus dem sie gekommen waren. Leise und hastig folgten sie einem Weg, auf dem sie weder der Polizei noch irgendwelchen zufälligen Passanten begegnen würden, die mit der Art und Weise, wie die Toten behandelt worden waren, nicht einverstanden sein mochten. Der Reverend betete, als er sich den Weg durch den Wald bahnte, und erbat die Hilfe des Herrn für die einundzwanzig Leichen, die nicht gepfählt worden waren, flehte, daß Gott ihnen den ewigen Frieden gewähren möge. Er wußte, daß sie leichte Beute wären für Mächte unaussprechlichen Horrors.

Ungefähr zu dem Zeitpunkt, äs die letzten Leichen gepfählt werden konnten, bahnten sich Sheriff McClellan und der Adjutant Greene den Weg den Abhang hinunter zu dem verunglückten Bus. In der Ferne hörten sie das rhythmische Schlagen von Holz auf Metall und fragten sich, was das wohl zu bedeuten habe. Im Gehen suchten sie, halbwegs in der Erwartung, aus dem Bus geschleuderte Leichenteile zu finden, das Unterholz mit den Augen ab, doch sie sahen nichts dergleichen und fanden auch keinerlei Hinweise auf Überlebende.

Als sie den Bus erreichten, fanden sie ihn leer. Dünne Rauchfahnen schwebten über dem Wrack, doch es schien keine Explosionsgefahr zu bestehen. Das Innere des Busses bot einen entsetzlichen Anblick. Alles deutete auf ein grausiges Blutbad scheußlichster Ausmaße hin, doch kein Verwundeter oder Toter war zu sehen. Die Passagiere, tot oder lebendig, waren verschwunden. Greenes Blick fiel auf eine blutige Hand zwischen verbogenen Metallteilen und Glassplittern, und er mußte würgen. Er schluckte und wies McClellan darauf hin, McClellan sah sie und sagte nichts. Er hatte selbst etwas entdeckt, das aussah wie ein Stück von einem Finger, der unter einem nagelneuen, rauchblauen Damenkoffer herausragte, aber er hielt es nicht für nötig, Greene darauf aufmerksam zu machen. Wenn sie die Trümmer hätten durchsuchen wollen, wären sie zweifellos auf weitere Fetzen und Glieder menschlicher Leichen gestoßen, gleichzeitig mit abgebrochenen Zähnen und zersplitterten Brillen, doch im Augenblick interessierten sie sich weit mehr für das, was mit den Leuten, die das Unglück überlebt - oder nicht überlebt -hatten, geschehen war.

McClellan erkannte, daß das niedergetrampelte Gras, das von der Straße bis in die Lichtung reichte, von einer großen Gruppe von Leuten stammen mußte, welche die Unfallstelle aufgesucht hatten. Sie hatten die Leichen weggetragen, oder auch die Überlebenden, falls es welche gegeben hatte. Aber warum? Vielleicht hatten sie es für nötig gehalten, weil sie fürchteten, der Bus könne explodieren, ehe die Überlebenden gerettet und die Toten identifiziert worden wären, obwohl McClellan nicht den Eindruck hatte, daß irgendeine Explosionsgefahr bestand. Es konnte nur ein kleines Feuer gewesen sein, das den Rauch erzeugt hatte - vielleicht eine glimmende Zigarette, die zwischen das verstreut liegende Gepäck gefallen und dort ausgebrannt war, ohne ausgeflossenen Brennstoff entzündet zu haben.

»Irgendwer hat die Leute von hier fortgeschafft«, war sich McClellan sicher. »Suchen Sie den Wald nach niedergetretenem Gras ab. Wahrscheinlich können wir herausfinden, wohin sie gegangen sind.«

Greene starrte sprachlos vor sich hin. Sie hatten beide den Bus wieder verlassen, und Greene war froh, draußen zu sein. Er hatte gehofft, sie würden jetzt den Hügel hinauf zum Streifenwagen zurückgehen.

»Nun machen Sie schon!« schnauzte McClellan den Anfänger an. »Sie können nicht mittendrin einfach aufhören! Diese Leute haben nicht einfach Flügel ausgebreitet, um auf und davon in den Himmel zu fliegen wie Engel. Wenn sie alle tot sind, dann hat irgendwer sie weggebracht. Wir müssen herausfinden wohin - falls einer nicht tot ist und Hilfe braucht.«

»Plünderer?« äußerte Greene eine Vermutung, um zu beweisen, daß er nachdachte, auch wenn ihn McClellans kritischer Vorwurf in Verlegenheit gebracht hatte. »Möglich«, gab der Sheriff zu. »Aber falls es Leichenfledderer waren, warum haben sie dann das ganze Gepäck hiergelassen?«

Er ließ die Frage in der Luft hängen, während er mit den Augen die Umgebung nach Spuren absuchte, die in den Wald führten.

Greene trat neben McClellan, und beide zogen ihre Pistolen. Falls sie auf eine Gruppe von Plünderern treffen sollten, wollten sie bereit sein. Vorsichtig bewegten sie sich vorwärts. Sie wollten sich nicht überrumpeln lassen. Falls es Plünderer waren, könnten sie eine Wache im Hinterhalt aufgestellt haben.

Die beiden Männer bahnten sich den Weg durch niedergetrampeltes Unterholz in Richtung auf den umliegenden Wald. Greene, der junge Neuling, wirkte wachsam und kräftig, wenn auch ein wenig nervös. Er war dreiundzwanzig Jahre alt, und die Uniform des Streifenpolizisten stand ihm ausgesprochen gut. McClellan war fünfundzwanzig Jahre älter, dickbäuchig, aber mit kräftigem Brustkasten, vielleicht ein wenig kurzatmig und langsam, aber ein Mann, der sich nicht leicht umhauen ließ. Wenn er auf den Füßen blieb und die Gelegenheit bekam, ein oder zwei Hiebe zu landen, wäre es der Gegner, um wen es immer sich handeln mochte, der zu Boden ginge. McClellan war weise und bedächtig wie ein alter Bär. Greene, der Jüngere, hatte die schnellen Reflexe der Jugend, doch er war noch unerfahren und undiszipliniert. Die Schläge und Narben und Erfahrungen von Jahren harter, geduldiger Arbeit standen ihm noch bevor.

Im Wald herrschte Stille, ungestört von menschlicher Gegenwart. Wenn Menschen in der Nähe sind, hören sich bestimmte Tiere anders an, auch verhalten sie sich anders oder machen überhaupt kein Geräusch. McClellan bemerkte die Veränderung der Laute, während sie sich unter den Bäumen hindurch bewegten. Es gab ihm das sichere Gefühl, daß, falls Leute irgendwo im Wald wären, sie vermutlich inzwischen geflüchtet waren. Ohne Greene eine Erklärung zu geben und sich noch allzu viele Sorgen um Plünderer oder einen möglichen Hinterhalt zu machen, beschleunigte er unvermittelt das Tempo.

Es fiel den beiden Männern nicht schwer, die Stelle zu finden, wo die Verletzten - oder besser gesagt die Leichen -hingebracht worden waren. Eine deutlich lesbare Spur aus

Blutstropfen, Kleiderfetzen, Fußabdrücken und niedergetretenem Gras führte sie in die Waldlichtung. Vorsichtig und mit gezogenen Pistolen näherten sich ihr McClellan und Greene. Sie hielten sich hinter Baumstämmen in Deckung, bis sie sicher waren, daß niemand dort lauerte, und betraten die Lichtung. Vor ihnen lagen die Leichen in unregelmäßigen Reihen auf dem Rücken, manche von ihnen mit einem Bolzen im Schädel. Während einer ganzen Weile rührten sich McClellan und Greene nicht von der Stelle, und keiner sprach ein Wort. Dann eilten sie an den Rand der Lichtung, suchten sie hastig ab und prüften das umliegende Gebüsch. Sie fanden keinerlei Zeichen von der Gegenwart anderer Menschen und steckten ihre Waffen wieder ein. Danach blieben sie schweigend zwischen den verstümmelten Leichen stehen. »Stellen Sie fest, ob noch irgendeiner am Leben ist«, befahl McClellan schließlich, und sie machten sich daran, eine blutige Gestalt nach der anderen zu inspizieren, ohne jedoch ein Lebenszeichen zu finden.

»Das ist nicht das Werk von Leichenfledderern«, brach McClellan schließlich das drückende Schweigen. »Diese... die Bolzen...«, stammelte Greene mühsam. »Irgendwer glaubt, es sei wieder soweit. Wir müssen sie aufgestört haben, ehe sie fertig waren.«

Greene schaute den Sheriff fragend an. »Sie sind nicht aus dieser Gegend, Greene«, erklärte McClellan. »Sie gehörte zu den am schwersten betroffenen Regionen, damals, vor zehn Jahren. Erinnern Sie sich? Die Toten mußten verbrannt oder enthauptet werden. Man mußte ihr Gehirn zerstören. Ich habe keine Ahnung, ob jene Wesen wirklich tot waren oder nicht -jedenfalls nicht im üblichen Sinne. Keiner weiß es. Aber irgendwer fürchtet, daß es wieder passiert. Darum stecken die Bolzen in ihren Schädeln.«

Greene wurde blaß. »Das kann doch nicht noch mal passieren«, wandte er ein. »Es wurde doch unter Kontrolle gebracht. Ich erinnere mich. Ich war zwar erst dreizehn. Wir lasen darüber und hörten im Fernsehen davon und wollten es noch immer nicht glauben. In meiner Heimatstadt gab es nur wenige Fälle, aber einige gab es... genug, um uns zu überzeugen, daß es Wirklichkeit war.« »Es war Wirklichkeit«, bekräftigte McClellan. »Etwas, das ich zu vergessen versuche. Unbedingt vergessen will. Aber Wirklichkeit war es.«

»Es kann doch nicht wieder passieren«, wiederholte Greene, als könne er es damit wahr werden lassen, weil er es unbedingt glauben wollte.

»Ich weiß es nicht«, räumte McClellan ein. »Ich hoffe es. Aber man hat nie mit Sicherheit feststellen könnnen, was die Ursache war. Mag sein, daß es wiederkommt, wie eine Ungezieferplage.« Er versuchte zu kichern. Er hatte seine letzte Bemerkung zur Auflockerung der Stimmung gedacht, aber er bekam kein Kichern zustande, und die Bemerkung blieb in der Luft stehen.

Greene starrte noch immer auf die Reihen der Leichen. Er hatte fast unbewußt seine Pistole wieder gezogen, doch er hielt sie nutzlos in der Hand.

»Kommen Sie«, drängte McClellan. »Wir müssen uns beide zusammenreißen. Die Leute werden jeden Moment eintreffen -Sanitäter und wahrscheinlich Reporter. Neugierige Widerlinge. Ich werde hier Wache stehen. Gehen Sie zum Bus zurück und zeigen Sie den Rettungsmannschaften den Weg.« Es war Greene nicht entgangen, daß der Sheriff gesagt hatte, sie müßten sich beide zusammenreißen. Es war nett von McClellan, Greene zu zeigen, daß er ebenso betroffen war wie er und daß man sich dessen nicht zu schämen brauchte. Greene wurde von einer Welle von Respekt und Zuneigung zu dem Sheriff überflutet. Auf dem Weg zum Bus fiel ihm ein Satz ein, der ihn einmal beeindruckt hatte: Der Mutige und der Feigling haben beide Angst; aber der Feigling rennt davon, der Mutige nicht.

Als Greene zu dem verunglückten Bus zurückgelangte, waren ein Arzt und sieben oder acht Sanitäter an der Unfallstelle eingetroffen. Sie hatten offenbar schon einige Minuten dort gewartet und wuselten verwirrt und verständnislos durcheinander und stellten einander Fragen, die niemand beantworten konnte. Wie die Polizisten hatte das Nichtvorhandensein von Leichen sie mehr erschreckt als der erwartete Anblick von verstümmelten, blutigen Menschen. Mit Leichen und Verwundeten wußten sie umzugehen, dazu waren sie ausgebildet worden. Aber das Fehlen von Toten und Verwundeten in einer Situation, wo sie mit ihnen rechneten, hatte die Rettungsmannschaften aus der Fassung gebracht. Das Ganze war ihnen unerklärlich, und sie fühlten sich einigermaßen unbehaglich. Als sie Greene näher kommen sahen, schauten sie ihm erwartungsvoll entgegen. Sie hofften, daß er ihnen sagen würde, was sie tun sollten. »Dort entlang!« gebot Greene und zeigte in den Wald. »Die Passagiere des Busses sind dort drüben!« Dann fügte er mit leiserer Stimme hinzu: »Sie brauchen nichts als Bahren. Sie sind alle tot.«

In der Ferne, an der Stelle, wo der Bus durch die Leitplanken gebrochen war, entdeckte Greene eine Unmenge von Leuten, welche die Böschung heruntergeklettert kamen. Sie schleppten Ausrüstungen mit, die Greene, als sie näher kamen, als Fotoapparate und Stative erkannte. Reporter von Fernsehen und Presse waren plötzlich überall, und Greene überlegte einen Moment lang, ob er beim Bus bleiben sollte oder nicht, um die Reporter und Fotografen im Zaum zu halten. Wenn sie entdeckten, daß der Bus leer war, würden sie den Sanitätern in den Wald folgen. Sobald weitere Polizei eingetroffen wäre, könnte das Gebiet um die Lichtung abgesperrt werden, doch dann wäre es schon zu spät. Die Leichen würden schon auf Bahren zur Straße hinauftransportiert werden. Die Reporter würden alles in Augenschein nehmen und die ganze Geschichte erfahren. Es würde gewaltiges Aufsehen erregen, den Leuten höllische Angst einjagen und ihnen die Plage, die jetzt schon zehn Jahre zurücklag, ins Gedächtnis zurückrufen. Resigniert zuckte Greene mit den Achseln. Er wußte, daß es unmöglich war, das grausige Ereignis aus den Nachrichten fernzuhalten. Er drehte der herannahenden Menge den Rük-ken zu und machte sich wieder auf den Weg zu der grausigen Szene in der Waldlichtung.

Auszug aus einer Bürgerschutz-Radiosendung zehn Jahre zuvor:

»Guten Abend, meine Damen und Herren, es ist Mitternacht nach hiesiger Ortszeit. Sie hören die Bürgerschutz-Notstandswelle mit stündlichen Berichten über die Lage. Bleiben Sie auf dem Sender für Über lebensinformationen. Meine Damen und Herren, so unglaublich es scheinen mag, die neuesten Berichte aus dem Pentagon und von dem vom Präsidenten eingesetzten Forscherteam im Walter-Read-Hospital bestätigen, was viele von uns schon vermutet haben. Das Heer der Angreifer, das einen großen Teil der Staaten im Osten und Mittelwesten unseres Landes belagert, besteht aus toten Menschen. Kürzlich Verstorbene sind durch eine unbekannte Kraft wieder zum Leben erwacht und ernähren sich von frischem Menschenfleisch. Die Toten aus Leichenhallen, Krankenhäusern, Friedhofskapellen sowie viele derer, die während oder durch das herrschende Chaos umgekommen sind, das als Folge der gegenwärtigen Notlage entstanden ist, sind in verstümmelter, versehrter Gestalt wieder zum Leben erwacht und mit dem wilden Drang, andere Menschen zu töten und ihr Fleisch zu verzehren, unter uns zurückgekehrt.

Erklärungen für die Ursachen dieses unfaßbaren Phänomens wurden weder von der Forschungskommission des Walter-Read-Hospitals noch aus dem Weißen Haus oder von irgendeiner Regierungsstelle gegeben, doch die Spekulationen zentrieren sich um die vor kurzem gestartete, erfolglos verlaufene Venus-Mission. Jene Raumsonde startete vor über einer Woche zur Venus, doch sie geriet von dem geplanten Kurs ab und erreichte die Atmosphäre des Planeten nie. Sie kehrte statt dessen zur Erde zurück und stürzte verseucht mit einer mysteriösen hochgradigen Strahlung, deren Ursache, wie verlautbart wurde, bislang völlig unbekannt ist, in den Atlantischen Ozean. Kann diese Strahlung für die Epidemie von Tod und Grauen, deren Zeugen wir zur Zeit sind, verantwortlich sein? Spekulative Antworten auf diese Frage kursieren hier in Washington und auch anderswo, während das Weiße Haus sich in Schweigen über die wissenschaftlichen Theorien hüllt und versucht, den Notstand auf Vergeltungsbasis zu lösen. Die Regierung stellt Widerstandsmannschaften in Form von Such- und Vernichtungstrupps gegen die Angreifer zusammen: Die Einzelheiten dieser Unternehmungen sind bisher nicht bekannt. Zu Krisensitzungen im Pentagon und im Weißen Haus waren Reporter nicht zugelassen, und militärische und zivile Berater auf dem Weg zu und von diesen Zusammenkünften haben Reportern sämtliche Interviews verweigert und keinerlei Fragen beantwortet. Ich wiederhole: Das jüngste offizielle Communique aus dem Pentagon hat bestätigt, daß die Angreifer tot sind. Es handelt sich nicht um Eindringlinge von einem fremden Planeten. Es sind die vor kurzem Verstorbenen von unserer Erde. Nicht alle kürzlich Verstorbenen sind wieder zum Leben erwacht, doch in einigen Gebieten, vor allem an der Ostküste und im Mittleren Westen, ist das Phänomen weiter verbreitet als anderswo. Warum der Mittlere Wesen so stark betroffen ist, läßt sich nicht erklären, nicht einmal mit wildesten Spekulationen. Möglicherweise spielt das Eindringen der Venus-Sonde so nah an der Küste eine Rolle. Im Augenblick haben wir keine Antworten. Vielleicht werden wir die genauen Ursachen für das grauenhafte Phänomen, dessen Zeugen wir zur Zeit sind, niemals erfahren.

Es besteht allerdings eine gewisse Hoffnung, die Bedrohung unter Kontrolle zu bekommen. Vielleicht ist es nur noch eine Frage von Tagen oder Wochen. Es wurde nämlich festgestellt, daß die Angreifer durch einen Kopfschuß oder einen heftigen Schlag auf den Schädel getötet - oder müßte man sagen wieder getötet? - werden können. Sie fürchten das Feuer und brennen leicht. Diese Wesen haben sämtliche Eigenschaften von Toten - außer daß sie nicht tot sind - und aus Gründen, die wir bislang nicht verstehen, wurden ihre Gehirne wieder aktiviert, und sie sind Kannibalen.

Soeben erhielt ich eine neue Nachricht, die besagt, daß jeder, der einer von den Fleischfressern verursachten Wunde erliegt, in der gleichen Form wieder zum Leben erwachen kann wie sein Angreifer. Die Krankheit, oder was immer es sein mag, wird demnach durch offene Wunden oder Schrammen übertragen und zeigt sich wenige Minuten nach dem vermeintlichen Tod der verwundeten Person. Jeder, der während dieser Notstandslage stirbt, muß auf der Stelle enthauptet oder verbrannt werden. Den Überlebenden werden diese Maßnahmen emotional nicht leichtfallen, doch sie müssen unter allen Umständen, nötigenfalls von seiten der zu alarmierenden Autoritäten, durchgeführt werden. Wer während dieser Notstandslage stirbt, ist nicht eine Leiche im üblichen Sinne. Es handelt sich um totes, aber höchst gefährliches Fleisch, das eine Bedrohung für das Leben des gesamten Planeten darstellt. Ich wiederhole: Die Leichen der in dieser Zeit Gestorbenen müssen sofort verbrannt oder enthauptet werden.«

Auf dem Fernsehbildschirm über der Bar lief der Bericht über den Busunfall und die merkwürdigen Ereignisse, die darauf folgten. Der Kommentar war zu ausführlich und sensationslüstern, die Kameras verweilten unnötig lange auf den Bahren, auf denen die Toten aus der blutigen Lichtung weggeschafft wurden, dachte McClellan. Die meisten Tragen waren zugedeckt, und der Zustand der Leichen war nicht deutlich zu erkennen, doch der Sprecher füllte die Lücken mit gräßlichen Einzelheiten, welche die Kameras gnädig ausgelassen hatten.

McClellan wandte den Blick vom Bildschirm ab. Er und Greene hatten einen Drink nehmen wollen, um die Bilder des Tages verblassen zu lassen. Die beiden Männer waren völlig ausgelaugt, körperlich und seelisch, und brauchten ein ruhiges Plätzchen, um sich hinzusetzen und die Ereignisse zu sortieren. Sie hatten diese Kneipe ausgewählt, weil sie selten stark besucht war, und als sie eintraten, waren, genau wie sie gehofft hatten, keine Kunden da. Der Sheriff hatte einen Schnaps und ein Bier bestellt, und Greene hatte es ihm gleichgetan. Wortlos kippten sie den Schnaps hinunter. Keinem der beiden war nach einem Gespräch zumute, doch beide waren froh über die Gesellschaft des anderen. Als sie gerade das Bierglas zur Hand genommen hatten, flog die Tür auf, und ein Mann betrat die Kneipe. Er schwankte ein bißchen, schätzte die Situation nach der Möglichkeit einer passenden Unterhaltung ab, ging dann zur Bar und ließ sich auf dem Hocker neben McClellan nieder.

McClellan vermied es, seinen neuen Nachbarn anzuschauen. Er kannte ihn nicht und verspürte kein Verlangen, seine Bekanntschaft zu machen. Vor allem wollte er, nach all dem, was er gerade durchgemacht hatte, unter keinen Umständen in ein geistloses Gespräch mit einem Betrunkenen verwickelt werden. Und die Fernsehübertragung der Tagesereignisse hatte ihn noch zusätzlich genervt.

Der Neuankömmling hatte einen Blaumann an und trug eine metallene Butterbrotdose bei sich, die er auf die Theke knallte. Lautstark bestellte er einen doppelten Seagram's 7 und eine Flasche Budweiser. Der Mann kippte schnell den Whiskey hinunter und verlangte einen neuen. Dann schaute er mit blutunterlaufenen Augen auf den flimmernden Bildschirm über der Theke. Er rülpste und nuschelte Kommentare zu Passagen der Nachrichten, die ihm auf schiefe Weise amüsant erschienen - oder er schaute direkt zu McClellan, als erwarte er, daß der Sheriff ebenfalls zustimmend rülpsen und nuscheln würde. Als sein Rülpsen und Nuscheln keine Antwort erhielt, begann der Betrunkene vor sich hin zu brabbeln; und als auch auf das Gebrabbel keine Antwort kam, fing er an, laute Kommentare von sich zu geben.

Die beiden Polizisten schwiegen. McClellan bemühte sich, sein Gesicht zu Greene gewandt zu halten, weil er hoffte, daß der Betrunkene den Hinweis verstehen und ihn in Ruhe lassen würde. Doch der Blick des Sheriffs schoß zu dem Fernseher, als er seine eigene Stimme hörte. Es war ein Interview, das er an der Unfallstelle gegeben hatte.

»Sie sagen es, Sheriff«, bemerkte der Betrunkene, der sich schnell genug umgedreht hatte, um McClellans Blick aufzufangen, als dieser zum Fernseher schaute. »Ja, ja«, seufzte McClellan.

Greene lächelte seinem Vorgesetzten mitfühlend zu. Er wußte, daß das Allerletzte, wonach McClellan jetzt der Sinn stand, eine Unterhaltung über die Ereignisse des Tages war. Der Betrunkene redete mit schwerer Zunge weiter. »Sheriff, ich meine, die Leute haben recht. Diese verdammten Bolzen in die Schädel rammen. Zur Sicherheit. Sie wissen schon, was ich meine?«

McClellan ließ sich von dem Barhocker gleiten, zog seine Brieftasche und knallte ein paar Geldscheine auf die Theke. »Kommen Sie, Greene, wir gehen.«

Der Wirt zählte das Geld, und der Betrunkene rief hinter den beiden Gesetzesvertretern her: »Es ist schon mal passiert, es kann wieder passieren! Sie haben es doch erlebt, Sheriff! Sie haben's mit Ihren eigenen Augen gesehen!« McClellan und Greene traten in die kalte Nacht hinaus und gingen schnell weiter. Beide hatten das Bedürfnis, die Kneipe so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Die Nacht war sehr klar, der schwarze Himmel von unzähligen Sternen übersät. Der Verkehr rollte an den beiden Polizisten vorbei in stetigem Strom die Straße entlang, die an einem kleinen Park vorbeiführte.

»Lassen Sie uns zusehen, daß wir von hier wegkommen«, drängte McClellan und beschleunigte seine Schritte. »Können Sie mich zu Hause absetzen? Meine Frau hat den Wagen.« Sie überquerten die Fahrbahn und steuerten auf den Streifenwagen zu, den sie am äußeren Ende des Parks abgestellt hatten. Als sie sich dem Wagen näherten, blieb Greene plötzlich stehen und streckte seinen Arm aus, um McClellan aufzuhalten. »Haben Sie das gehört?« flüsterte er und starrte in die Richtung einer etwa fünfundzwanzig Meter entfernten Baumgruppe.

Beide blieben stehen und lauschten. Sie hörten Rascheln im Laub und etwas, das wie ein Handgemenge klang - dann den Schrei einer Frau. Sie zogen ihre Dienstpistolen und rannten los. Sie hasteten in den finsteren Park und sahen drei Gestalten, die miteinander rangen. Zwei von ihnen hoben sich als Silhouetten vor dem Sternenhimmel ab, und als sie die beiden Polizisten auf sich zurennen sahen, richteten sie sich auf, um zu fliehen. Die zwei Männer hatten eine Frau überfallen. Die Unterbrechung hatte es ihr ermöglicht, sich aufzurappeln, doch einer der Männer stieß sie zu Boden, während er zu fliehen versuchte. »Halt! Polizei!« brüllte Greene. McClellan feuerte einen Warnschuß in die Luft. Greene schaute auf den efeubewachsenen Boden, um beim Laufen nicht zu stolpern, und sah die eine der dunklen Gestalten nicht, die in dem Augenblick, als McClellan den

Schuß abgab, hinter ein Gebüsch tauchte. Greene blinzelte, um seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, und rannte mit gezogenem Revolver weiter.

Die Frau lag noch immer am Boden, erschöpft und unter Schmerzen, doch es war ihr gelungen, den Knöchel eines ihrer Angreifer zu fassen, und mit der Stärke, die man in Extremsituationen entwickeln kann, klammerte sie sich daran fest. Der Mann balancierte auf einem Bein und strampelte und trat mit dem anderen um sich, in der Hoffnung, sich aus dem Griff der Frau zu befreien. Schließlich schnellte er einen kräftigen Tritt mit seinem schweren Stiefelabsatz gegen den Kiefer der Frau. Mit einem lauten Schnappgeräusch brach der Frau das Genick, und sie ließ ihn los.

Greene erreichte den Mann genau in diesem Moment, sprang ihn an, und beide gingen schwer zu Boden. Der Mann befreite sich aus Greenes Griff, kam auf die Füße, und Greene folgte ihm. Plötzlich krachte ein Schuß aus dem Gebüsch, Greene taumelte, stolperte ein paar Schritte vorwärts und stürzte zu Boden.

McClellan schoß auf der Stelle und traf den Mann im Gebüsch voll in die Brust, so daß er wie eine Ente im Schießstand nach hinten kippte.

Der andere Angreifer flüchtete aus dem Park zur Straße. McClellan drehte sich bedächtig um, folgte dem Fliehenden mit dem Lauf seiner Pistole und zielte sorgfältig. Der Mann hatte die Straße erreicht, sprang durch den herrschenden Verkehr, und die Fahrer bremsten mit quietschenden Reifen bei dem Versuch, ihm auszuweichen. McClellan drückte auf den Auslöser und der Flüchtige wurde getroffen, zuckte und wurde mit dem Kopf voran über die Haube eines auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkten Autos geschleudert.

McClellan trat neben Greene, kniete sich hin und tastete seine Brust ab. Seine Hand war voller Blut. Er legte zwei Finger auf Greenes Handgelenk, doch er konnte keinen Puls fühlen.

Greene war tot. McClellan wischte sich die Hand im Gras sauber.

Dann untersuchte er die Frau. Sie war ebenfalls tot. Sie hatte das Genick gebrochen, und ihr Kopf war grotesk zur Seite geknickt. Ihre Kleider waren zerschlissen, und sie hatte Prellungen im Gesicht, an den Schultern und den Schenkeln. Vergewaltigung verursachte McClellan Übelkeit. Was vermutlich als Geplänkel angefangen hatte, war so zu Ende gegangen. McClellan hatte es nur allzuoft erlebt. Mit schußbereiter Pistole näherte sich McClellan dem geparkten Wagen, auf dessen Motorhaube der Mann lag, den er erschossen hatte. Sein Sturz mit dem Kopf voran war von der Windschutzscheibe aufgefangen worden, sein Kopf hatte ein spinnwebeförmiges Muster in die Scheibe geschlagen. McClellan öffnete die Wagentür, die törichterweise von dem Besitzer nicht verschlossen worden war, und schaute durch die gesplitterte Windschutzscheibe in die weit aufgerissenen Augen des Toten. Waren es eine Geldbörse oder ein erzwungener Geschlechtsakt wert, auf diese Weise zu sterben? Und der Tod der beiden Männer konnte den Verlust von Greene nie wieder wettmachen. Noch vier Tote an einem vom Tod gezeichneten Tag, dachte McClellan. Ihm blieb nichts anderes übrig, als Greenes Familie in Kenntnis zu setzen und das Leichenhaus zu benachrichtigen.

Der Sheriff blieb am Ort, dirigierte den Verkehr und hielt Neugierige fern, bis die Polizeistreife und der Leichenwagen eintrafen. Dann ging er nach Hause ins Bett, erschöpft, aber mit dem Wissen, daß er nicht würde schlafen können.

Mehrere Stunden nach Mitternacht wurden zwei Tote in das Kreisleichenhaus gebracht. Sie wurden aus einem Leichenwagen geladen und auf fahrbare Bahren gelegt, eingewickelt in grüne Krankenhauslaken. Zwei Männer aus dem Amt des Leichenbeschauers standen herum und warteten, daß der Leiter des Leichenhauses und sein Assistent die nötigen Formulare zur Unterschrift fertig ausfüllten. »Sind das die beiden aus dem Park?« fragte der Leiter. Während seines Nachtdienstes war er immer froh über Gesellschaft.

»Das sind sie«, bestätigte der eine der beiden Männer knapper, als dem Leiter lieb war.

»Und was ist mit dem Adjutanten Greene und der Frau?« versuchte der Leiter die Unterhaltung forzusetzen. »Im Beerdigungsinstitut ONeil.«

Der Leichenhausleiter, der gerade die Formulare unterschreiben wollte, hob seinen Schreibstift und blickte auf. »Es ist wirklich ein Jammer um diesen Greene.« »Ja«, entgegnete der eine der beiden aus dem Amt des Leichenbeschauers ungeduldig.

Der Leichenhausleiter war schließlich mit den Formularen fertig. Er kratzte sich am Kopf und betrachtete die verhüllten Leichen. »Wir haben kaum noch Platz wegen der Busladung von heute nachmittag«, klagte er.

»Ich bin sicher, Sie kriegen die auch noch unter«, entgegnete der Leichenwagenfahrer. Er und sein Kollege stiegen in ihr Fahrzeug und fuhren davon.

Der Leichenhausleiter und sein Assistent schauten dem Leichenwagen nach, dann wandten sie sich den eingewik-kelten Gestalten auf den Bahren zu. »Na, dann wollen wir denen mal eine kostenlose Fahrt gönnen«, sagte der Assistent ohne eine Spur von Humor.

Sie schoben die Bahren in das Leichenhaus und in einen weitläufigen, kalten, sterilen Saal mit Reihen von lakenbedeckten Tischen, auf denen die Opfer des Busunglücks aufgebahrt lagen. Sie schoben die neue Lieferung in eine Ecke und wandten sich zum Gehen. Sie bemerkten nicht, daß der Arm eines der locker zugedeckten Toten des nachmittäglichen Unfalls unter dem Laken herausglitt und nach unten baumelte. Die Finger zuckten kaum wahrnehmbar. Der Leichenhausleiter und sein Assistent gingen in ihr Büro zurück, und der Leiter erklärte, der andere sei diesmal an der Reihe, Kaffee zu machen. Ein kleines Radio war eingeschaltet und auf eine Talkshow, welche die ganze Nacht dauerte, eingestellt. Jemand rief an und sagte, daß die Autoritäten damals vor zehn Jahren, als die Toten wieder zum Leben erwacht waren, eine größere Anstrengung hätten machen müssen, um die genauen Ursachen herauszufinden, statt alles zu unterdrücken, sobald die Sache unter Kontrolle zu sein schien. Der Anrufer meinte, daß es sich um eine Art Sporen oder so etwas gehandelt haben könnte. Er fügte hinzu, daß, falls es etwas gab, das in der Lage war, Tote wieder lebendig zu machen oder zumindest den vollständigen, endgültigen Tod zu verhindern, seien es nun Sporen oder andere Auslöser der Seuche, diese untersucht und eventuell als Medikament hätten eingesetzt werden können. Vielleicht hätte sogar die Möglichkeit bestanden, sie dazu zu benützen, die allgemeine Lebenserwartung zu vergrößern.

Der Talkshowmaster hüstelte nervös und erklärte, daß die Sporen oder die Strahlung oder was immer vor zehn Jahren den Terror ausgelöst hätte, vermutlich vom Planeten Venus stammten und daß die Wissenschaft heute der Ansicht sei, auf Venus gebe es kein Leben. Und wenn es dort kein Leben gab, fuhr er fort, wie konnte der Planet dann über eine Substanz -oder Kraft - verfügen, die ewiges Leben schenkte? Der Anrufer erwiderte, daß er keine Ahnung habe, aber daß es unbedingt untersucht werden müsse.

Der Leichenhausleiter stand auf und suchte nach einem Sender mit Musik.

In O'Neils Beerdigungsinstitut rollte Mr. O'Neil einen Sarg in die Kapelle. O'Neil war ein adretter, schlanker, konservativ gekleideter, munter dreinblickender Mann Mitte Fünfzig. Die meisten Leute, die ihn fern von seinem Arbeitsgebiet trafen, hätten ihn für einen Bankangestellten oder einen Buchhalter gehalten. Nachdem er den Sarg an die Stelle gerückt hatte, wo er ihn haben wollte, klappte er den Deckel auf und betrachtete die einbalsamierte Leiche des Adjutanten Greene, angetan mit einem steifen, schwarzen Anzug mit einer roten Nelke am Revers.

O'Neil trat einen Schritt zurück, zufrieden mit seinem Werk. Dann bückte er sich, um ein Blumenarrangement auf die linke Seite des Sargs zu rücken. Er beschloß, die Kniebank und das übrige Zubehör später zu installieren. Er wollte für Greene besonders gute Arbeit leisten, da er mit seiner Familie seit längerer Zeit bekannt war. Er hatte schnell und effizient die Nacht hindurch gearbeitet, um Greene fertig zu machen und der Familie so eine lange, schmerzvolle Totenwache zu ersparen, bis der Mann beerdigt werden konnte. Es war noch ein paar Stunden bis zur Morgendämmerung. O'Neil beugte sich über den Blumenständer und konnte das leise Zittern in Greenes Gesicht nicht sehen, ein Zucken der Kiefermuskeln, begleitet von einem ganz andeutungsweisen Flattern der Augenlider. Und wenn es O'Neil aufgefallen wäre, hätte er es als Reflex absterbender Nerven oder als seine eigene Einbildung abgetan.

Ein lautes Krachen aus dem Erdgeschoß brach die Stille in der Kapelle. O'Neil fuhr erschreckt herum und rannte vor sich hin murmelnd zur Treppe. Er eilte hinunter, durchquerte einen Abstellraum, wo Stühle, Särge, Blumenkörbe, Ständer, Kisten mit Beerdigungsfahnen, Kerzen - das ganze Lager, über das ein Beerdigungsinstitut verfügt - in ordentlichen Reihen darauf warteten, verkauft oder von den Kunden benutzt zu werden. O'Neil hastete in das Laboratorium, wo die Leichen hergerichtet wurden, und sah in dem grellen Licht eine schwarzweiße Katze, die auf der Leiche der jungen Frau aus dem Park stand. Ein Laken bedeckte die reglose Gestalt bis zum Kinn. Die Scherben einer zerbrochenen Flasche lagen neben der Leiche auf der Marmorplatte, und die letzten Tropfen rannen auf den Boden.

Es schien O'Neil offensichtlich, was geschehen war, und er brüllte das Tier wütend an: »Du Sauviech! Mach, daß du wegkommst!«

Er scheuchte die Katze hinaus, wischte die Flüssigkeit auf und griff nach einem Handtuch. Seine Bewegungen waren langsam und kontrolliert. Es war spät und er war sehr müde. Aber er hatte einen langen Tag vor sich, der mit einer Beerdigung am Morgen beginnen würde, und er wollte noch vor Tagesanbruch mit dem Herrichten der Leiche fertig werden. Während er sich die Hände abtrocknete, ging er zu seinem Arbeitstisch, wo sich sein Arbeitsmaterial ordentlich ausgebreitet befand: Skalpells, Nadeln, Tuben, Flaschen, Make-up. Am Rand des Tisches lag außerdem ein halbgegessenes Sandwich auf einem zerknitterten Einwickelpapier. O'Neil hatte in Gegenwart von Greenes Leiche nicht essen mögen, obwohl er eigentlich nichts dabei fand. Irgendwann während der langen Nacht war er hungrig geworden und hatte das Sandwich mit nach unten genommen. Als er den Rest seines Imbiß entdeckte, wickelte er ihn ein und warf ihn in den Mülleimer. Er wischte die Krümel mit der Hand zusammen und tat sie ebenfalls in den Müll. Dann schaltete er das Radio ein, fand einen Sender mit leichter Musik und drehte die Lautstärke leiser.

In dem Geschoß über ihm hatte der Adjutant Greene die Augen weit aufgerissen. Er lag reglos in seinem Sarg und starrte an die Zimmerdecke.

In einer anderen Kapelle des Beerdigungsinstituts war eine weitere Leiche aufgebahrt. Der Sarg beherbergte die Überreste eines schwarzen Mittfünfzigers. Auch er hatte die Augen geöffnet.

O'Neil stand mit dem Rücken zu der mit einem Laken zugedeckten Leiche an seinem Arbeitstisch und mischte mit sicherer Hand Flüssigkeiten zusammen. Die leise Musik tat seiner Müdigkeit gut. Er summte die Melodie vor sich hin. Mit dem Flakon in der Hand drehte er sich zu der auf der Marmorplatte aufgebahrten Leiche um. Das stille Untergeschoß hallte wider von dem entsetzten Aufschrei des Mannes. Er wich in eine Ecke zurück, stieß mit dem Ellbogen Flaschen und Gerätschaften zu Boden, und der Flakon, den er in der Hand gehalten hatte, zersprang laut klirrend am Boden.

Die tote Frau hatte die Schultern von der Steinplatte gehoben, und während sie sich weiter aufrichtete, rutschte das Laken von ihren Brüsten. Sie hob den Kopf, ihr Haar streifte über die kalte Marmorplatte, sie hatte die Augen weit aufgerissen. Schließlich saß sie aufrecht und drehte den Kopf. Ihr Blick fiel auf O'Neil. Der Mann sah entgeistert und mit vor Schreck geöffnetem Mund zu. Kein Laut drang aus seiner Kehle. Schlaksig, fast wie eine Frau, die verschlafen aus dem Bett steigt, schob sie sich von dem Tisch, setzte ihre nackten Füße auf den Boden und ging mit schleppenden Schritten auf O'Neil zu.

In der Etage darüber bewegte Greene einen Finger, dann eine Hand, und richtete sich langsam und steif in seinem Sarg auf. Er blinzelte ein- oder zweimal, bewegte seinen Kopf behutsam von einer Seite zur anderen und nach oben und unten, als untersuche er seine Umgebung. Einmal legte er den Kopf zur Seite, als habe er den Schrei von unten aus dem Laboratorium gehört.

Der dunkelhäutige Mittfünfziger setzte sich in seinem Sarg auf. Er lehnte sich schwerfällig zur Seite, und der Sarg stürzte von der Plattform am oberen Ende der Kapelle und riß den Blumenständer mit um. Der Körper des Mannes blieb ein Weilchen reglos zwischen den Scherben der Blumenvasen und zerquetschten Magnolien liegen, so als könne er nicht aufstehen. Dann rappelte er sich langsam, wie unter Schmerzen auf die Füße. Er richtete sich auf und ging stracks durch die Kapellentür, den Blick starr nach vorn gerichtet. Dann folgte er dem Korridor zu der Kapelle, in der die Leiche des Adjutanten Greene noch immer aufrecht in seinem Sarg saß.

Rücklings über seinen Arbeitstisch gebeugt schrie O'Neil aus den tiefsten Tiefen seiner Seele. Die Leiche der Frau lehnte über ihm, ihre Hände grabschten nach seiner Kehle und verkrallten sich in seinem Gesicht. Ihre Augen starrten ihn wild und wahnsinnig und gierig an. Dann packte sie eine Hand voll spitzer Instrumente und begann O'Neil von allen Seiten damit zu stechen. Sein Schmerzensgeschrei hallte und schallte durch das Laboratorium. Wieder und wieder rammte sie die Skalpells in sein Gesicht und seine Brust. Schließlich verebbten die Schreie. O'Neils Augen quollen aus den Höhlen und Blut spritzte aus dem, was sein Gesicht gewesen war, und die Kreatur stach immer weiter zu, lange nachdem ihr Werk seinen entsetzlichen Zweck erfüllt hatte. Die seltsamen, fremdartigen Geräusche von Zähnen, die an frisch getötetem Fleisch nagten, mischten sich mit den sanften, süßen Tönen der Radiomusik im Labor. Die tote Frau fuhr fort, ihre Zähne in O'Neils Fleisch zu rammen. Sie nagte an seinem Gesicht und an seinem Hals, bis ihr eigenes Gesicht verschmiert war mit frischem, warmem Blut. Im Obergeschoß war Greenes Leiche langsam aus dem Sarg gekrabbelt und stolperte nun hinter der Gestalt des Schwarzen her, die sich auf dem Weg zur Eingangstür befand und mit einem gußeisernen Blumenständer, der neben Greenes Sarg gestanden hatte, gegen die Scheibe donnerte. Das Glas splitterte und der schwere Metallgegenstand fiel dem dunkelhäutigen Mann aus den Händen. Die Tür ging auf, und der Körper dessen, der einst Adjutant Greene gewesen war, folgte der davonstrebenden Gestalt der Schwarzen in die dunkle Nacht hinaus.

Die beiden Toten bewegten sich, als wären sie sich der Gegenwart des anderen bewußt, ohne jedoch wirklich Notiz voneinander zu nehmen. Beide wurden sie von der gleichen Kraft vorangetrieben, hatten die gleichen Begierden. Tatsächlich hungerten sie beide nach lebendigem Menschenfleisch.

Der Himmel über dem Kreisleichenhaus lichtete sich. Die Flure des Gebäudes lagen still. Nur die fernen Klänge eines Country-Music-Programms aus dem Büro des Leichenhaus-leiters und seines Assistenten waren zu hören. In den gekühlten Leichensälen herrschte Stille, auf den Tischen lagen noch immer die mit Laken zugedeckten Leichen, dreizehn an der Zahl, die am gestrigen Tag eines so gewaltsamen Todes gestorben waren. Die dreizehn, denen man an jenem Nachmittag Bolzen in die Schädel gerammt hatte. Dreiundzwanzig Tische waren leer.

Das Büro des Leichenhausangestellten war nicht ganz leer. Es war übersät mit den angekauten, blutigen Fleischfetzen, die einmal zwei Männern gehört hatten. Ihre Knochen, Haare und Muskelstränge lagen im Zimmer verstreut in Lachen von gerinnendem Blut. Blutigrote Spuren ihrer Hände zeugten von ihrem Kampf ums Leben mit den Toten. Am Vormittag war Sheriff McClellan im Leichenhaus dabei, den Schauplatz der Tragödie zu untersuchen. Er hatte sich den Weg durch eine Meute geiler, neugieriger Reporter und Fernsehleute freigekämpft. Die Polizei hatte das gesamte Gebäude abgesperrt und ließ keine Journalisten ins Innere. Dennoch waren die Reporter über die Ereignisse informiert. Sie hatten Streifenpolizisten, medizinische Gutachter und andere Offizielle auf dem Weg in das Gebäude und aus ihm heraus mit Fragen bombardiert. Es war kein Geheimnis, daß nur dreizehn Leichen im Leichenhaus übriggeblieben waren, die sterblichen Reste des Leiters und seines Assistenten nicht mitgerechnet, und diese dreizehn Leichen waren jene Opfer des Busunglücks, denen bislang noch nicht identifizierte oder von der Polizei ausfindig gemachte Personen direkt nach dem Unfall Bolzen in die Schädel gerammt hatten. Als McClellan das Leichenhaus verließ, sah er sich noch einmal der Meute von Journalisten und Fotografen gegenüber. Während er sich eine Gasse durch das Gedränge bahnte, wurde er mit Fragen und Geschrei überschüttet. Er wußte, daß ein völliges Stillschweigen von seiner Seite nur wildeste Spekulationen zur Folge hätte und zu Panik führen würde -eventuell sogar zu Massenhysterie -, also blieb er stehen und beantwortete einige der Fragen der Journalisten. Mikrofone wurden dem Sheriff unter die Nase gestreckt, und die von allen Seiten auf ihn einprasselnden Fragen wurden zu einem unverständlichen Geschrei, so daß er keine einzige mehr heraushören konnte. McClellan brüllte um Ruhe, blieb still stehen und weigerte sich, irgend etwas zu äußern, bevor einigermaßen Ruhe herrschte und die Reporter sich zusammenrissen.

Als es endlich stiller geworden war, erklärte McClellan, daß er keine einzelnen Fragen zu beantworten gedächte, doch daß er bereit sei, einen kurzen Lagebericht zu geben, falls sie ihrerseits bereit seien, ihn ruhig anzuhören. Daraufhin gab es wieder ein lautes Stimmengewirr, das dann doch verstummte, als man erkannte, daß es besser sei, anzuhören, was der Sheriff zu sagen hatte, statt gar nichts zu erfahren. Die Worte des Sheriffs waren dafür gedacht, eine beruhigende Wirkung auszuüben, doch es gelang nur teilweise. Er gab einen Abriß der Geschehnisse des vorangehenden Tages; verharmloste sie und lehnte es ab, sie mit dem Mord an dem Beerdigungsunternehmer O'Neil in Verbindung zu bringen. Er gab zu, daß er nicht wisse, wer eine solche Tat, wie sie im Leichenhaus begangen worden war, habe begehen können. Nach seiner Aussage, welche die Journalisten weitgehend unbefriedigt gelassen hatte, blieb McClellan dem erneuten Fragensturm gegenüber unerbittlich und weigerte sich, die Ereignisse mit der Seuche von vor zehn Jahren in Zusammenhang zu sehen. Er beharrte darauf, daß Leichen verschwunden seien, eine zugestandenermaßen seltsame und beunruhigende Tatsache, für die es zweifellos eine rationale Erklärung gebe. Er fügte hinzu, daß eine eingehende Untersuchung der Angelegenheit schon im Gange sei. McClellan glaubte selber nicht, was er sagte. Er wußte, daß er Umschweife machte, Zeit zu gewinnen versuchte; daß er Aufregung vermeiden wollte, um zu verhindern, daß sich die Panik zu schnell breitmachte, die - falls sich die Phänomene weiter anhäuften - unvermeidbar würde. Der Sheriff hatte eine Tatsache im Sinn, die ihn ein wenig tröstete: Es war einmal gelungen, diese... diese Seuche unter Kontrolle zu bekommen. Falls es wieder passierte, würden sie wissen, wie sie damit umzugehen hatten. Es sei denn, diesmal würde es noch schlimmer.

Bert Miller hielt seine Augen starr auf den Fernseher gerichtet. Er hatte das Interview mit dem Sheriff McClellan angeschaut und darüber hohngelacht. Jetzt folgte er dem Interview mit dem Pastor, Reverend Michaels, der, nach Berts Ansicht, intelligent und überzeugend sprach. An jenem Morgen hatte der Reverend eine Fernsehstation angerufen, sich vorgestellt, wer er sei, und gestanden, daß er vor drei Tagen eine Gruppe von Gemeindemitgliedern zum Schauplatz des Busunglücks geführt habe, in der Absicht, Bolzen in die Schädel sämtlicher Unfalltoten zu rammen. Er gab zu, daß ihnen dies nur bei dreizehn Leichen gelungen sei, bevor sie durch die Ankunft von Polizei und Krankenwagen verscheucht worden waren, und, so erklärte der Reverend, diese dreizehn müssen jene von ihnen Behandelten sein, die nicht mit den übrigen auferstanden seien und die Leichenhausbeamten ermordet hätten. »Ja, die Toten erwachen wieder«, predigte Michaels. »Dies ist das Werk des Teufels in seinem Kampf gegen Gottes Willen. Wir leben in einer ungläubigen Gesellschaft. Wir verehren Hexerei und Astrologie und andere Formen von Satanismus. Jetzt müssen wir zu Gott beten, daß er uns helfe, unseren Weg des Übels zu verlassen. Niemand will eingestehen, daß das, was vor zehn Jahren geschah, wieder geschieht. Wir versuchen, die grauenhaften Ereignisse aus unserem Gedächtnis zu verdrängen. Sie sind zu schrecklich, als daß wir sie akzeptieren könnten. Aber vor Satan können wir uns nicht verbergen. Jetzt zwingt er uns wieder, der Realität ins Auge zu schauen. Die Toten müssen gepfählt werden. Der Körper muß zu Staub werden dürfen, wie der Herr es befahl. Nur dann können wir auferstehen, wenn der Herr uns zu sich ruft am Tag des Jüngsten Gerichts. Nur die Seele ist heilig..-« Sue Ellen sprang von ihrem Stuhl auf und schaltete den Fernsehapparat aus.

Verärgert faßte Bert nach dem Schaltknopf und brüllte: »Jetzt laß gefälligst die Finger davon!«

Sue Ellen stellte sich vor das Gerät und bot ihrem Vater die Stirn.

»Nein... bitte, bitte laß es aus. Ich kann das nicht mehr hören! Das ist alles Wahnsinn! Was du uns hast tun lassen - alle diese Leichen schleppen - ich kann es nicht mehr ertragen!« Bert sprang auf seine Tochter zu, packte sie an den Schultern und schüttelte sie. »Hast du nicht gehört, was der Reverend gesagt hat? Die Seuche kommt wieder, und wir müssen uns alle bereitmachen. Es ist das Werk des Teufels - und vielleicht haben wir es alle verdient!«

Sue Ellen fing an zu weinen. Gereizt ließ Bert seinen Blick durch das Wohnzimmer gleiten, wo einige der Fenster schon mit Brettern vernagelt waren. Er hatte den ganzen Vormittag mit Sägen und Hämmern zugebracht, während seine Töchter in ihren Zimmern geblieben waren, zu verängstigt, um sich hinunter zu trauen. Bert nahm es ihnen übel, daß sie ihm nicht geholfen hatten.

Mit schwacher, hoffnungsloser Stimme flehte Sue Ellen ihren Vater an. »Daddy... bitte... ich halte das alles nicht aus. Warum können wir die Toten nicht einfach in Ruhe lassen? « »Weil sie uns nicht in Ruhe lassen werden!« bellte er. »Darum! Ihr habt es vor zehn Jahren nicht miterlebt. Ich habe euch weggeschickt, und ihr habt Glück gehabt. Aber diesmal werden wir nicht vor dem Teufel davonrennen - wir werden hierbleiben und unsere Christenpflicht tun!« Weinend lief Sue Ellen zur Küchentür, durch die ihre beiden Schwestern gerade hereinkamen. Sie nahmen sie in die Arme. Sie riß sich los und rannte die Treppe hinauf. »Verwöhnte Göre!« rief Bert hinter ihr her. Ann warf ihrem Vater einen flehenden Blick zu und bat ihn mit den Augen, sich zu beruhigen.

Zur Antwort zeigte er zornig mit dem Finger auf Karen. »Sieh dir doch deine Schwester an! Der Himmel weiß, von wem sie begattet worden ist. Und falls sie's selber überhaupt weiß, dann sagt sie's natürlich nicht. Wahrscheinlich so ein wildgewordener Drogenpunk! Manchmal bin ich wirklich froh, daß eure Mutter das nicht mehr erleben muß!« Karen versuchte, ihre Tränen zu verbergen, wandte sich um und ging zur Treppe. Sie war siebzehn Jahre alt, mit einem schlichten, traurigen Gesicht, das beinahe hübsch wurde, wenn ein Lächeln es erhellte. Aber zur Zeit hatte sie selten Grund zu lächeln. Es war offensichtlich, daß die Geburt ihres Babys sehr bald bevorstand.

Ann, die Älteste, war die wachste und die hübscheste von Bert Millers Töchtern. Sie trug ihr langes, blondes Haar sorgfältig gebürstet und in der Mitte gescheitelt. Sie hatte tiefblaue Augen, einen vollen Mund und regelmäßige Züge. Viele der jungen Männer in der Stadt interessierten sich für sie, doch sie hatte keinen ständigen Freund, weil ihr Vater jeden, der ihr gefiel, erfolgreich vergrault hatte. Selten, wenn überhaupt, luden sie sie ein zweites Mal ein. Trotzdem liebte sie ihren Vater, wußte, daß er seine Töchter auf seine seltsame Weise liebte, und versuchte, ihn zu verstehen. Aber sie wußte auch, daß sie fortziehen würde, sobald sie konnte. Sie trat zu ihrem Vater, berührte ihn leicht am Arm und sagte: »Daddy, bitte, Karen hat es auch so schon schwer genug.« Bert schaute Ann an und wußte nicht, was er entgegnen sollte. Von allen drei Töchtern war sie diejenige, die am ehesten von ihm erreichen konnte, was sie wollte. Statt zu antworten, stieß er heftig die Luft aus, nahm seinen Hammer wieder auf, den er auf einen Stuhl gelegt hatte, trat an eines der verbarrikadierten Fenster und begann zu hämmern. Er schlug zwei weitere Nägel in ein dickes Brett, das er schon vorher an den Fensterrahmen genagelt hatte. Dann wählte er ein neues Brett aus, ging an ein anderes Fenster und begann, es dagegen zu nageln.

»Du glaubst doch nicht im Ernst, daß es wieder losgeht? « fragte Ann.

Die ganze Angelegenheit erschien ihr unglaublich. Vor zehn Jahren hatte die Tante, bei der die drei Mädchen untergebracht worden waren, sämtliche Informationen über die Seuche von ihnen ferngehalten. Sie hatten nicht aus dem Haus gedurft und weder Radio- noch Fernsehsendungen verfolgen dürfen. Anschließend war es gesetzlich verboten gewesen, die Krise wieder aufzuwärmen. Die Begründung für diese Maßnahme, gerechtfertigt oder nicht, bestand darin, daß erklärt wurde, es sei moralisch und emotional schädlich, in der Bevölkerung die Erinnerung an die schrecklichen Erlebnisse wachzuhalten, und es sei am besten, man versuche, sie zu vergessen, da sie sich voraussichtlich nicht wiederholen würden.

»Es geschieht wirklich«, versicherte Bert, der sein Hämmern kurz unterbrach. »Sie haben es gerade eben im Fernsehen durchgegeben, bevor deine Schwester es abgeschaltet hat.« »Es fällt mir schwer, daran zu glauben«, sagte Ann. »Mag sein, daß es dir schwerfällt«, pflichtete Bert ihr ironisch bei. »Aber nach und nach wirst du nicht drum rumkommen, es zu glauben. Wenn wir das Haus nicht gut vernageln, werden die Toten uns hier holen kommen. Und wenn's genug von ihnen gibt, dann kommen sie auch rein, ob wir's vernagelt haben oder nicht.«

Bert drehte sich wieder zum Fenster und hämmerte weiter. Ann rannte die Treppe hinauf, um ihre Schwestern zu trösten. Karen war in Sue Ellens Zimmer und schaute zu, wie Sue Ellen Kleider in einen offenen Koffer warf. Karen saß neben dem Koffer auf dem Bett und hob ihr tränenüberströmtes Gesicht, als Ann hereinkam. Sue Ellen schaute nicht auf und fuhr fort, mit konzentrierter Entschlossenheit zu packen. »Sue?« fragte Ann zögernd.

»Ich verschwinde von hier«, platzte Sue Ellen heraus. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. Ihre Augen waren rot und verheult. Sie weinte nicht mehr, aber sie war kurz davor, wieder anzufangen. Sie umarmte Ann und die Tränen begannen wieder zu fließen.

»Wo willst du denn hingehen?« fragte Ann und strich ihrer Schwester sanft übers Haar.

Sue Ellen trat zurück und versteckte ihr verzerrtes Gesicht in einem Taschentuch. »Ich weiß es nicht«, schluchzte sie. »Ich habe Angst, hierzubleiben, und ich habe Angst, wegzugehen. Aber ich glaube, ich will trotzdem lieber weg von hier. Vielleicht irgendwo in die Stadt.«

»Hast du nicht Angst vor dem, was sie im Fernsehen gesagt haben?«

Sue Ellen ließ sich erschöpft aufs Bett fallen. Sie trug nur Büstenhalter und Schlüpfer. Sie hatte die alten Kleider ausgezogen und die frischen, die sie anziehen wollte, wenn sie ging, noch nicht übergestreift. »Ich habe noch größere Angst davor, hierzubleiben«, und sie fing zu weinen an, als die Erinnerungen ihr Bewußtsein wieder überschwemmten. »Ich dachte, ich würde sterben - als wir diese Leichen durch den Wald getragen haben. Ich wünschte, ich wäre eine von ihnen, dann hätte ich es nicht tun müssen. Und ich werde so was nie im Leben wieder machen. Daddy kann mich nicht dazu zwingen. In der Stadt haben sie Schutzvorrichtungen - ich kann mich irgendwo verstecken, bis es vorbei ist, damit ich's nicht mitansehen muß.« Tränen strömten ihr über die Wangen. »Wir sollten vielleicht auch mitgehen«, überlegte Karen. »Nein, ich glaube nicht, daß es richtig wäre«, widersprach Ann. »Wir können Daddy jetzt nicht verlassen. Er vernagelt das Haus, um uns zu schützen. Wir werden zurechtkommen. Sue Ellen kann gehen, aber wir beide sollten hier bleiben und ihm helfen.«

»Karen«, sagte Sue Ellen. »Ich weiß, daß dein Baby wunderschön sein wird.« Die beiden Schwestern umarmten sich innig und Ann schaute ihnen zu. In ihren Augen standen ebenfalls Tränen.

»Und Billy?« fragte Ann. »Willst du ihm nicht wenigstens Bescheid geben?«

Billy war Sue Ellens Freund, ein junger Mann, den sie gegen den Wunsch ihres Vaters, aber mit seiner knurrigen Einwilligung ein paarmal getroffen hatte. Die Sache zwischen ihr und Billy war nicht ernst. Sie kannten sich noch nicht lange genug. Sie hatten sich gut verstanden und sie fing an, ihn gern zu haben, doch sie fühlte sich noch nicht wirklich bereit, sich festzulegen.

»Ich weiß nicht, was ich Billy sagen soll«, erklärte Sue Ellen. »Wenn wir ein Telefon hätten, könnte ich ihn anrufen. Ich muß weg von hier. Vielleicht kann ich ihm schreiben oder so.« Sie war fertig mit dem Packen und schlug den Kofferdeckel zu. Dann zog sie sich frische Kleider an Ihre Schwestern schauten zu, wie sie sich zum Abschied bereit machte. Sie mochten sie nicht verlieren, aber beide hatten das Gefühl, es sei nur vorübergehend, und es mochte unter den gegebenen Umständen wirklich das beste sein Auszug aus einer Bürgerschutzsendung:

»Autoritäten raten zu äußerster Vorsicht, bis die Bedrohung vollständig unter Kontrolle gebracht ist. Augenzeugenberichte wurden ausgewertet und dokumentiert. Die Leichen überwältigter Angreifer werden gegenwärtig von Pathologen untersucht, doch die Autopsien werden durch den schwer beschädigten Zustand der Leichen erschwert. Sicherheitsmaßnahmen in den Städten schließen strenge Einhaltung der Polizeistunde sowie Sicherheitspatrouillen von bewaffneten Beamten ein.

Die Bürger werden dringend aufgefordert, ihre Häuser nicht zu verlassen. Wer diese Warnung außer acht läßt, setzt sich großer Gefahr aus, sowohl von seiten der Angreifer als auch von bewaffneten Mitgliedern der Bürgerwehr, deren Impuls darin bestehen kann, erst zu schießen und dann Fragen zu stellen. Ländliche oder isoliert liegende Behausungen sind häufig Ziel von konzentrierten, massiven Angriffen. Isoliert lebende Familien befinden sich in höchster Gefahr. Evakuierungsversuche sollten nur in schwer bewaffneten Gruppen und wenn möglich mit motorisierten Fahrzeugen unternommen werden. Prüfen Sie sorgfältig Ihre Lage, ehe Sie sich für eine Flucht entscheiden. Feuer ist eine wirkungsvolle Waffe. Diese Wesen sind leicht entflammbar. Die Evakuierten sollten auf schnellstem Wege die nächstgelegene Stadt aufsuchen. Bemannte Verteidigungsaußenposten sind auf den wichtigsten Zufahrtstraßen der Städte eingerichtet worden. Diese Außenposten sollten dazu dienen, Flüchtlinge aufzunehmen und sie mit Nahrungsmitteln zu versorgen und erste medizinische Hilfe zu leisten. Polizei und Wachpatrouillen sind dabei, abgeschiedene Gegenden zu durchkämmen. Ihre Mission besteht darin, sämtliche Angreifer aufzuspüren und zu vernichten. Die Patrouillen sind ebenfalls beauftragt, isoliert lebende Familien zu evakuieren. Aber die Rettungsmaßnahmen kommen wegen der nachts erhöhten Gefahr und des überwältigenden Ausmaßes der Aufgabe nur schleppend in Gang.

Die Rettung der Bewohner isolierter Gebiete ist extrem schwierig. Wenn Ihre Evakuierung unmöglich ist, bleiben Sie in jedem Fall in Ihrem Heim und warten Sie auf die Rettungsmannschaft. Gehen Sie nicht allein hinaus. Wenn Sie nur wenige gegen viele sind, werden Sie mit großer Wahrscheinlichkeit überwältigt werden. Die Angreifer sind irrational und wahnsinnig. Ihr einziges Streben gilt dem Ergattern von Menschenfleisch.

Die Reihen der Angreifer wachsen ständig durch die zunehmende Zahl ihrer Opfer und derer, die während dieser Epidemie gestorben sind, wobei die katastrophalen Ausmaße der Todesrate auf das Chaos und daraus resultierende Unfälle zurückzuführen sind sowie darauf, daß Leute aus Angst gegeneinander losgehen.

Die gegenwärtig herrschende Gesetzlosigkeit vermehrt die Zahl der Angreifer und behindert die Bemühungen der Gesetzeshüter, die versuchen, die Bedrohung unter ihre Kontrolle zu bekommen...«

Nach einem letzten, tränenreichen Abschied von Karen und Ann schlich Sue Ellen auf Strümpfen die Stiege hinunter und blieb mit dem Koffer in der Hand auf dem Treppenabsatz stehen.

Bert Miller schlief auf einem Armsessel, Hammer, Säge und eine Schachtel mit Nägeln neben sich auf dem Boden. Alle vier Wohnzimmerfenster waren mit soliden Brettern vernagelt und die Eingangstür verriegelt. Bert hatte die Tür oben, unten und in der Mitte zusätzlich mit schweren Eisenträgern und Holzbalken abgesichert. Die Eisenträger waren solide an dem Türrahmen verschraubt, und die schweren Holzbalken waren so in die Eisenträger verkeilt, daß sie nur einer übermäßigen

Anstrengung, die Tür mit Gewalt aufzubrechen, nachgeben würden; doch sie konnten von innen leicht herausgenommen werden, so daß die Bewohner ohne große Mühe hinausgehen und hereinkommen konnten.

Sue Ellen hatte Angst, auf Zehenspitzen an ihrem Vater vorbeizuschleichen, und sie wollte die verbarrikadierte Tür nicht wieder öffnen. Sie wandte sich zur Küche. Die beiden Küchenfenster und die Hintertür waren mit dicken Nägeln und schweren Holzbrettern dauerhaft verschlossen. Durch die Küche gab es also keinen Ausgang mehr und das Haus besaß keinen Keller. Sue Ellen stellte fest, daß ihr Vater das Erdgeschoß völlig einbruchsicher gemacht hatte. Sie dachte, daß er vermutlich der Meinung war, er könne das Obergeschoß gegen die minimale Chance, daß es einem Angreifer gelänge, dort hinaufzuklettern, verteidigen. Oder er hatte vor, sich die Fenster des Obergeschosses später vorzunehmen. Sue Ellen erwog, wieder nach oben zu gehen und eine ihrer Schwestern zu bitten, mit ihr herunterzukommen und die Haustüre hinter ihr wieder zu verrammeln. Sie war nicht sicher, ob sie es geräuschlos genug würden machen können. In diesem Augenblick bewegte sich Bert auf seinem Sessel und Sue Ellen fürchtete, sie könne ihre Fluchtchance verpassen, wenn sie die Gelegenheit, daß ihr Vater eingeschlafen war, nicht sofort nutzte. Sie wußte, daß sie es riskieren mußte, irgendwie allein nach draußen zu gelangen, und außerdem wollte sie ihren beiden Schwestern nicht noch zusätzlichen Ärger verursachen. Ihr Vater würde ohnehin über ihr Verschwinden toben, und sie wollte die Situation für Ann und Karen nicht noch verschlimmern. Sie wartete auf dem Treppenabsatz, bis ihr Vater wieder laut zu schnarchen begonnen hatte, dann schlich sie an die Tür, hielt, aus Angst, einer der schweren Balken könnte ihr aus der Hand rutschen, den Atem an, und hob sie einen nach dem anderen aus der eisernen Halterung und schob den Riegel zurück. Sie hielt es für ein Wunder, daß ihr Vater nicht aufgewacht war, und trat eilig über die Schwelle. Ganz behutsam zog sie die Tür hinter sich zu und betete inständig, daß sie nicht quietschen möge. Endlich schnappte sie ins Schloß, und Sue Ellen atmete erleichtert auf. Sie fürchtete noch immer, daß das Klicken den Vater geweckt haben könnte, rannte die Stufen hinunter und holte ihre Schuhe aus der Tasche. Sie schlüpfte hinein und hastete durch den Vorgarten zu dem Feldweg. Ihr Vater schien tief eingeschlafen zu sein, und sie hoffte, sie würde einen großen Vorsprung haben, ehe er aufwachte und die neben der Tür auf dem Boden gestapelten Balken entdeckte - falls die Schwestern sie nicht bis dahin wieder eingehängt hatten. Keuchend rannte sie hinter eine Kurve in der Straße, von wo aus sie das Haus nicht mehr sehen konnte. Es dämmerte schon. In weniger als einer Stunde würde es wahrscheinlich dunkel sein - stockfinster -, überlegte Sue, denn der Himmel war bedeckt und die Luft roch feucht. Sie versuchte sich an die Wettervorhersage zu erinnern. Plötzlich fühlte sie sich furchtbar allein, und die Last ihres Entschlusses, von zu Hause fortzulaufen, rollte über sie hinweg. Sie folgte der staubigen Straße und für einen Augenblick zog sie in Betracht, ihre Entscheidung rückgängig zu machen und umzukehren. Sie mußte an Karens erwartetes Baby denken. Doch dann stellte sie sich vor, wie ihr Vater aufwachen würde, wenn sie mit ihrem Koffer ins Haus käme, und sein Gebrüll wäre zu schrecklich, um es zu ertragen. Sie kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an und ging weiter. Von der Farm der Millers bis zur Landstraße waren es etwa anderthalb Kilometer, und Sue Ellen meinte, dort würde sie versuchen, einen Bus anzuhalten, oder, wenn sie Glück hatte, sich von jemandem, den sie kannte, in die Stadt mitnehmen zu lassen. Die Stadt Willard lag zehn Kilometer nordöstlich von der Einmündung des Feldwegs in die zweispurige Landstraße. Jetzt, wo Sue Ellen darüber nachdachte, erschienen ihr ihre Chancen, eine Mitfahrgelegenheit nach Willard zu bekommen, nicht besonders gut, vor allem wegen der schnell einfallenden Dunkelheit. Der Gedanke, die zehn Kilometer Landstraße zu Fuß zurücklegen zu müssen, jagte ihr Panik ein, obwohl sie es bei Tage zusammen mit ihren Schwestern schon oft getan hatte. Wieder überlegte sie, ob es nicht besser sei, umzukehren, und konnte ihre Gedanken nicht von dem Farmhaus wenden. Aber sie ging tapfer weiter.

In dem langen Tal hinter dem Farmhaus erstreckte sich ein sechs Morgen großes Feld, wo Bert Miller Mais angepflanzt hatte. Unbeholfen und stur trampelten drei menschliche Gestalten die jungen Maispflanzen nieder und steuerten auf das Haus zu, angelockt von den schmalen Lichtstreifen, die zwischen den vor die Fenster genagelten Brettern hindurchschimmerten, und - vielleicht - von dem Geruch lebendigen Fleisches, der von drinnen herausströmte. Mitten in dem Maisfeld blieben die drei bizarren Kreaturen stehen, als sei es schmerzvoll für sie, sich zu bewegen, und schwierig, einen stetigen Schritt beizubehalten. In der fahlen Dämmerung erschien ihre Haut grünlichweiß, beinahe fluoreszierend. Ihre Kleider waren zerlumpt, verschlissen und mit geronnenem Blut durchtränkt. Jeder von ihnen hatte schwere Verletzungen davongetragen, die zum Tode geführt haben mußten. Sie sahen aus wie Opfer eines Autounfalls. Zweien waren die Gesichter zerschmettert und entstellt worden, die Stirn war aufgerissen und Glassplitter staken in den Backen, als seien sie gegen oder durch eine Windschutzscheibe geschleudert worden. Der dritte hatte ein großes Loch in der Brust, und sein Hemd war blutig und von sickernden Sekretionen innerer Organe durchtränkt, als habe sich die Lenksäule eines Fahrzeugs hineingebohrt. Sie waren Tote, die einst Menschen gewesen waren und nun von einer Kraft jenseits normalen Verstehens belebt und von der Gier nach lebendigem Menschenfleisch getrieben wurden. Als sie dort schweigend im Maisfeld standen, drehte eine der Gestalten sich langsam und mühevoll um und schaute zurück. Drei weitere Humanoide bahnten sich den Weg durch das Feld und kamen näher. Sie bewegten sich staksig und unbeholfen. Einem fehlte ein Arm und ein Teil seines Gesichts und er schien zwischen blutverkrusteten Zähnen hindurch zu grinsen. Plötzlich stolperte er und stürzte mit einem grauenhaften Knirschen zwischen die Maispflanzen. Dann rollte er sich auf die Seite, stieß ein fauchendes Stöhnen aus und rappelte sich wieder auf die Füße. Seine Gefährten waren weitergegangen und bewegten sich mit größter Anstrengung und Konzentration auf Bert Millers Farmhaus zu, dessen Lichter in der Ferne schimmerten.

In ihrem Zimmer im Obergeschoß tröstete Ann ihre Schwester Karen und versuchte, ihr und sich selber einzureden, daß Sue Ellen allein zurechtkommen würde, daß das Farmhaus ein sicherer Ort sei, daß das Baby zur Welt kommen und sich alles irgendwie zum Guten wenden würde.

»Ich hätte fortgehen sollen«, weinte Karen. »Ich mit dem Baby! Ich müßte irgendwo in der Nähe eines Krankenhauses sein!«

»Du bist doch in der Nähe eines Krankenhauses«, widersprach Ann. »Zehn Minuten entfernt. Wenn die Wehen einsetzen, wird Daddy dich mit dem Laster nach Willard bringen. Vielleicht fahren wir alle zusammen, wenn es hier nicht sicher genug ist. Daddy wird nicht wollen, daß das Baby irgendeiner Gefahr ausgesetzt ist.«

»Ich glaube, ihm war's lieber, das Baby wäre tot«, jammerte Karen.

»Das ist nicht wahr! Du wirst sehen, sobald das Baby auf der Welt ist, wird Daddy der stolze Großvater sein.« »Ich wünschte, das Baby käme bald«, schluchzte Karen. Sie sah in der Geburt eine Möglichkeit, aus dem Farmhaus zu entkommen.

Plötzlich war draußen ein Geräusch zu hören, das Knirschen von Schritten vor der Haustüre.

Die beiden Mädchen lauschten. Sie hörten, wie die Tür aufging. »Sue Ellen ist zurückgekommen!« rief Karen freudig aus.

Sie strahlte unter den Tränen.

Ann sprang lächelnd auf, doch ihr Lächeln erstarrte in ihrem Gesicht, und ihr Blick traf den ihrer Schwester, als ein grausiger Schrei aus dem Erdgeschoß erschallte. »Karen, du bleibst hier! Schließ die Tür hinter mir ab!« schrie Ann und ließ ihre vor Angst fast gelähmte Schwester im Schlafzimmer zurück, knallte die Tür hinter sich zu und stürzte die Treppe hinunter.

Sie erreichte den Treppenabsatz und sah, wie ihr Vater in Stücke gerissen wurde. Drei gespenstische Gestalten waren über ihn hergefallen. Seine Schreie waren verstummt. Die grausigen Kreaturen kauten an seinem Gesicht, seinen Armen, zerrten und bohrten an dem weichen Fleisch seines Bauches, um an die inneren Organe zu gelangen. Ein Auge von Bert Miller starrte weit aufgerissen an die Decke, aus der anderen Augenhöhle spritzte ein Schwall von Blut. Ann blieb der Schrei im Halse stecken. Eine der Gestalten mit dem Mund voller Fleisch schaute zu ihr auf, fast wie aus Neugierde, als sie entsetzt zurückwich und der Schrei, den sie zunächst nicht hatte hervorbringen können, aus ihrer Kehle brach. Der Leichenfresser kam auf die Füße und steuerte auf Ann zu, die Mühe hatte, mit zitternden, schwachen Knien zu flüchten. Auf Beinen wie aus Gummi strampelte und stolperte sie die Treppe hinauf und warf sich gegen die Schlafzimmertür. Sie war verschlossen. »Karen! Kaaarennn!«

Die blutverschmierte Gestalt hatte inzwischen den Treppenabsatz erreicht. Ihre grauenerregende Fratze wurde von dem grellen Licht der nackten Glühbirne über der Treppe beleuchtet.

Karen öffnete und Ann stürzte ins Zimmer. In fliegender Hast verriegelte sie die Tür, blieb einen Moment in Panik stehen, dann rannte sie in die gegenüberliegende Ecke des Raumes und versuchte, eine schwere Kommode vor die Tür zu rücken. Sie schaute Karen an, als wolle sie sie bitten, ihr zu helfen, ehe sie voller Entsetzen begriff, daß sie von dem hochschwangeren Mädchen keine Hilfe erwarten konnte. Die Kommode rührte sich nicht von der Stelle. Draußen begann das fleischgierige Ding mit den Fäusten gegen die Schlafzimmertüre zu hämmern. Und von der Treppe her waren weitere Schritte zu hören.

Ann zerrte und rüttelte mit all ihrer Kraft an der Kommode und sie bewegte sich ein paar Zentimeter von der Stelle. Karen faßte mit verzerrtem, benommenem Ausdruck im Gesicht eine Ecke des schweren Möbels an und versuchte zu helfen. Ann begann, in hektischer Panik die Schubladen aus der Kommode zu reißen und aufs Bett zu werfen, um das Gewicht des Möbelstücks zu verringern, um es so besser an den gewünschten Platz schieben zu können. Die Schlafzimmertür begann nachzugeben. Der schwere Eisenriegel hielt erstaunlicherweise stand, doch die ganze Tür selbst fing an, unter der Wucht der Schläge der Kreatur draußen zu zersplittern.

Die Kommode ließ sich wieder ein paar Zentimeter weiterwuchten und stieß dann gegen die Wand. Ann konnte sie nicht um das Bett herum bewegen. Karen warf sich kreischend auf den Boden und versuchte, ihren aufgeschwollenen Leib unter das Bett zu zwängen. Ihr war der Gedanke durch den Kopf geschossen, daß die Leichenfresser Ann fortschleppen und sie in Ruhe lassen könnten, so daß sie und ihr Baby am Leben blieben - ein entsetzlicher, alptraumartiger Gedanke, für den sie sich auf der Stelle schämte. Aber sie wollte nichts als überleben. Am ganzen Leib zitternd zwängte sie sich Stück für Stück unter das Bett.

Ann drückte sich zwischen die Kommode und die Wand, um das Möbelstück vorwärts zu schieben, während die Schläge gegen die splitternde Tür immer bedrohlicher wurden. Durch den Krach hindurch meinte sie, einen Schuß zu hören. Dann eine ganze Salve. Und das ferne Aufheulen von Polizeisirenen und das Knirschen von Reifen auf dem Kies, als die Sirenen verstummten. Tränen strömten ihr über die Wangen. Vielleicht würden sie diese Hölle auf Erden doch überleben. Wieder fiel ein Schuß, gefolgt von einem dumpfen Aufschlag unten im Wohnzimmer, und aus der Ferne der triumphierende Aufschrei eines Mannes.

Die Sirene heulte wieder durch die Nacht und wurde immer lauter. Dann quietschten Bremsen draußen auf dem Vorplatz. Ann vernahm weitere Schüsse von unten und das dumpfe Aufklatschen von Körpern. Ein wildes Gelächter schallte aus dem Vorgarten. Sie hörte knirschendes Getriebe und quietschende Reifen von einem weiteren Fahrzeug, das irgendwo draußen wendete und manövrierte. Karen und Ann konnten von ihrem Versteck im Schlafzimmer aus nicht sehen, was vorging. Aber sie hatten beide das Gefühl, sie würden gerettet werden. Das ohrenbetäubende Getrommel an der Tür hatte nachgelassen und schließlich ganz aufgehört, aber sie waren noch immer viel zu verängstigt, um das Schlafzimmer zu verlassen und nachzuschauen, wer da gekommen war.

Plötzlich vernahmen sie das Getrampel von Schritten vor der Haustüre, dann Geschrei und Krach aus dem Wohnzimmer und einen weiteren Schuß ganz in der Nähe. Dann herrschte Stille.

»Zur Hölle damit! Das dürfte diesen verdammten Schweinen den Rest gegeben haben, oder?« rief irgend jemand unten. »Durchsuch das Haus!« befahl eine andere Männerstimme. Durch die zersplitterte Tür hörten die Mädchen Schritte, die erst in die Küche gingen und dann die Treppe heraufkamen. Schüsse fielen in dem engen Flur vor dem Schlafzimmer, begleitet von dem dumpfen Aufschlag von auf den Boden fallenden Leibern, der das Blut in den Adern gerinnen ließ. »Hab' noch drei hier oben umgelegt!« brüllte eine Stimme. »Die Tür ist abgeschlossen - jemand versteckt sich da drin!« Unmittelbar darauf kam jemand die Stiege heraufgerannt. »Wer ist da drin?« fragte eine herrische Stimme. Die Mädchen glaubten, im Anschluß an die Frage ein schrilles Kichern zu hören.

»Aufmachen, oder wir schießen die Tür auf!« »W-wir sind es«, brachte Ann schließlich hervor. »Ann und Karen Miller. Nicht schießen. Wir machen auf.« Sie war noch immer völlig verängstigt und lauschte wachsam auf jedes Geräusch hinter der Tür. Draußen vor dem Haus wurde ein Motor abgestellt und sie hörte, wie eine Wagentür geöffnet und wieder zugeschlagen wurde.

»Was für eine fürchterliche Schweinerei«, bemerkte eine Mädchenstimme im Vorgarten.

»Na wenn schon!« erwiderte jemand. »Laß uns lieber mal nachschauen, ob da drinnen was zu holen ist.«

Ann schob den Riegel beiseite und trat zurück, um die Tür nach innen zu öffnen. Das erste, was sie sah, war die Mündung einer Waffe, die direkt auf ihre Brust gerichtet war. Sie sprang zurück und erkannte, daß die Waffe in der Hand eines Polizisten ruhte, in der Uniform der Staatspolizei.

Der Polizist schaute Ann einen Augenblick wortlos an, dann wollte er wissen: »Wer ist sonst noch hier?«

»N-nur meine Schwester«, stotterte Ann. »S-sie ist schwanger.«

Der zweite Mann, den Ann nicht sehen konnte, kicherte wieder.

»Sagen Sie ihr, sie kann rauskommen«, wies sie der Staatspolizist an. Er war ein großer, gut gebauter Mann Anfang dreißig und sah nicht schlecht aus.

Karen kroch unter dem Bett hervor und näherte sich schüchtern. Der Polizist nahm Ann am Arm und führte sie und Karen aus dem Zimmer. Der zweite Mann lächelte sie an. Er trug keine Uniform, sondern ein einfaches Wollhemd und Jeans. Ein Revolver steckte in seinem Gürtel, und er hielt ein Gewehr in der Hand.

»Sie brauchen keine Angst vor uns zu haben. Wir haben Sie schließlich gerettet, Teufel noch mal«, beruhigte sie der Mann in Zivil. Ohne eine Antwort zu erwarten, wandte er sich um, stieg über eine der Leichen, die im Flur niedergeschossen worden waren, und ging die Treppen hinunter. Karen und Ann schauten die Leichen nicht an. Sie folgten dem Polizisten die Stiege hinunter ins Wohnzimmer. Als sie den Treppenabsatz erreichten, sahen sie gerade noch, wie die Überreste ihres Vaters aus dem Wohnzimmer und durch den Eingang nach draußen geschleppt wurden. Karen schnappte nach Luft, warf sich Ann an den Hals und fing an zu schluchzen. Ann hatte auch leise zu weinen begonnen. Wenig später konnten sie aus dem Vorgarten das laute Krachen eines einzelnen Schusses hören.

» Es tut mir leid «, entschuldigte sich der Staatspolizist leise mit dem Blick auf Ann gerichtet. »Es geht nicht anders. Wenn wir das nicht gemacht hätten, hätte er versucht, wieder auf die Beine zu kommen. Das tun sie alle, wenn ihr Gehirn nicht zerstört wird. Sie meinen vielleicht, Sie wollten ihn wieder leben sehen, aber da irren Sie sich, glauben Sie mir. So würden Sie ihn nicht haben wollen!«

»Ich weiß«, brachte Ann mit erstickter Stimme hervor. »Ist schon gut. Wir verstehen das. Es ist schwer hinzunehmen, alles..., aber wir würden ihn gern beerdigen.« »Natürlich«, sagte der Polizist.

Der Mann in dem Wollhemd starrte Ann vom Eingang aus an. Er war es gewesen, der den Schuß im Garten abgegeben hatte. Er steckte seinen Revolver, langsamer als nötig gewesen wäre, wieder ins Halfter und nahm sein Gewehr, das er an die Wand gelehnt hatte, in die Hand. Seine Augen funkelten und er grinste ununterbrochen nicht besonders freundlich. Diese ständige Grinsen gab seinem Gesicht, das sonst nichts Bemerkenswertes aufwies, einen sonderbaren Ausdruck; seine Züge waren regelmäßig, sein Haar sandfarben und ungepflegt. Er mußte etwa Anfang zwanzig sein. Seine Gestalt war kräftig und drahtig.

»Flack ist mein Adjutant«, erläuterte der Polizist. »Mr. Flack, würden Sie bitte nachsehen, was aus Wade und Angel geworden ist? «

»Klar, Chef«, erwiderte Flack mit einem schiefen Lächeln. »Ich hab' so 'ne Eingebung, daß sie dabei sind, hinten im Laster einen bequemen Platz für unsere Freunde einzurichten. Soll ich die Freunde auch mit reinbringen? Und was ist mit dem Mädchen im Auto?«

»Bringen Sie sie alle herein«, entschied der Polizist. Bei der Erwähnung des Mädchens im Auto machte Anns Herz einen Satz.

»Wir haben ein Mädchen auf der Landstraße gefunden, das Schwierigkeiten hatte«, erläuterte er. »Wir haben sie gerettet. Sie schien ziemlich außer sich. Mein Name ist übrigens Wachtmeister Carter. John Carter. Sie können mich Mr. Carter nennen.«

Ann geleitete Karen zum Sofa und sie nahmen beide Platz, ohne zu wissen, was sie sagen sollten. John Carter setzte sich auf einen Stuhl, behielt die beiden Mädchen im Auge und musterte sie eingehend. Dann zog er seinen Dienstrevolver, öffnete den Zylinder und begann, ihn neu zu laden. Die leeren Patronen tat er in den Aschenbecher und nahm neue aus seinem Gürtel.

Die Mädchen drehten sich um, als Flack rückwärts ins Wohnzimmer zurückkam. Er trug die Beine und Füße eines gefesselten Mannes, dem der Mund zugestopft worden war. Ein anderer Staatspolizist hatte ihn an Armen und Schultern gepackt. Er war offensichtlich sehr schwer, und Flack und der Polizist mühten sich mit der Last ab und schleppten den Mann in die Mitte des Wohnzimmers, wo sie ihn schwer auf den Boden fallen ließen. Ann fand, daß sie ziemlich rüde mit ihm umgingen, als sei er ein Sack voller Maiskörner.

»Schweres Miststück«, bemerkte der Polizist zu niemandem im besonderen. »Kommen Sie. Wir holen den anderen.«

»Das ist Wade«, erklärte Mr. Carter und machte eine Geste mit der Hand, mit der er dabei war, Patronen in seinen Revolver zu laden. »Mein Kollege Wade Connely.«

Wade richtete sich auf und streckte sich, als er die beiden Mädchen auf dem Sofa entdeckte. Er tippte sich an die Mütze und ging dann mit Flack wieder hinaus.

»Wade ist ein guter Mann«, erklärte Carter. »Alle meine Mitarbeiter sind gute Leute.«

In diesem Moment kamen Schritte über die Schwelle, und ein Mädchen betrat das Haus und schob Sue Ellen vor sich her. Sie stützte sie mit einem Arm um die Taille. Ann sprang auf. Sue Ellen sah verstört und angeschlagen aus. Ihre Backe war zerschrammt und ihre Lippe blutig und angeschwollen. »Ich denke, Sie kennen sie. Und das ist übrigens Angel«, stellte Carter vor, als er sah, wie Ann, gefolgt von Karen, auf Sue Ellen zurannte. Sie umarmten sich halb lachend und halb weinend.

»Sie ist unsere Schwester!« keuchte Karen. »Sue! Was ist dir denn zugestoßen?«

»Sie war bewußtlos...« setzte Angel an, aber sie wurde von Flack und Wade unterbrochen, die noch einen gefesselten Gefangenen hereinschleppten und neben den anderen auf den Wohnzimmerboden fallen ließen. Die beiden gefesselten Männer trugen Zivilkleidung, mochten Ende zwanzig, Anfang dreißig sein und sahen aus, als habe man sie ziemlich rauh behandelt. Sie ließen ihre Augen durch das Zimmer flitzen und hefteten ihren Blick einen Moment prüfend auf jedes einzelne Gesicht, aber sie waren sichtlich machtlos, an ihrer gegenwärtigen Lage etwas zu ändern.

»Rauhe Kunden«, bemerkte Carter. Flack stieß einen der gefesselten Männer mit dem Fuß an und gab wieder sein seltsames Gekicher von sich.

Ann und Karen hatten mit Angels Hilfe Sue Ellen auf das Sofa gebettet. Sobald sie sie hingelegt hatten, verlor Sue Ellen das Bewußtsein und begann, wirres Zeug vor sich hin zu brabbeln. Ann und Karen konnten nicht verstehen, was sie murmelte. Ann schaute zu Angel auf und versuchte, in dem Gesicht des Mädchens eine unausgesprochene Kenntnis dessen, was Sue Ellen widerfahren war, zu lesen.

Angel biß sich auf die Lippe. »Im Auto hat sie das Bewußtsein verloren«, erzählte sie. »Wir haben sie gefunden, als sie von ein paar dieser Wesen angegriffen wurde. Flack hat sie gerettet. Seither ist sie nicht bei Sinnen.« »Stammen die Wunden von diesen Dingern?« fragte Ann. »Wenn ja, dann schwebt sie in entsetzlicher Gefahr. Wenn sie daran stirbt, wird sie zu einer von ihnen.« »Ja... ich meine, ich glaube, sie stammen davon. Sicher. Sie hat Schrammen und Blut überall. Aber sie wird nicht sterben. Sie ist nur von Sinnen, sonst nichts.« »Keiner weiß, wie man die Krankheit heilen kann, die diese Dinger haben«, platzte Flack heraus. »Wenn sie stirbt, müssen wir dafür sorgen, daß sie nicht wieder aufsteht.«

»Diese Bemerkung jagt den Mädchen nur Angst ein«, tadelte Carter seinen Adjutanten Flack und sah ihn mißbilligend an. »Ich sage, was mir paßt«, fauchte Flack. »Nur weil du 'ne verfluchte Uniform anhast, kannst du mich noch lange nicht rumkommandieren. Ich gebe meine Adjutantenmarke zurück.« Das erschien ihm irgendwie ungeheuer komisch, und er brach in grölendes Gelächter aus.

Ann und Karen achteten nicht auf die Männer. Karen drückte ihre Handfläche auf Sue Ellens Arm und ging dann in die Küche, um ein paar kalte Kompressen zu holen. Angel trat neben Flack und legte ihm die Hand auf die Schulter, doch er stieß sie weg. Angels Augen sprühten eine Sekunde lang Feuer, aber sie sagte nichts. Flack würdigte sie keines Blickes und stellte sich indessen neben die Gefangenen am Boden. Er stieß einen von ihnen mit der Stiefelspitze an.

Die Gefangenen reagierten nicht, sondern drehten nur ihre Augen in seine Richtung.

Wade Connely lachte. »Rauhe Kunden«, wiederholte er die Worte, die Carter vorher gesagt hatte. Er sah Carter Beifall heischend an, doch Carter gab keine Antwort. Mit trotzigem Gesicht hatte Angel angefangen, im Wohnzimmer herumzuschlendern. Hin und wieder blieb sie stehen und nahm verschiedene Gegenstände von dem Kamin sims in die Hand, untersuchte sie und stellte sie zurück, als seien sie enttäuschend und nicht wert, angeschaut zu werden. Dann erhaschte sie einen Blick von sich selbst im Spiegel, holte einen Kamm hervor und begann, ihr langes, rotes Haar zu kämmen. Sie hatte ein hartes Gesicht. Sie war nicht hübsch und hatte etwas Wildes, Unbändiges an sich, als sei sie irgendwann in ihrem Leben tief verletzt worden und suche nach einer Gelegenheit, jemand anderen ihrerseits zu verletzen. Wie Flack trug sie Jeans und ein Wollhemd. »Wenn ich ihn ein bißchen anstupse, sagt er nichts«, erklärte Flack, der noch immer mit der Stiefelspitze gegen einen der Gefangenen trat. »Was meinst du, gibt's irgendwas, womit ich seine Aufmerksamkeit erregen kann? « »Da bin ich überfragt!« erwiderte Wade Connely grinsend und ging ans Fenster.

Flack hob den Fuß und hielt ihn über de Lenden des einen Gefangenen.

»Laß die Gefangenen in Ruhe!« schnauzte Carter und sah Flack zornig an. Sein Gesichtsausdruck veranlaßte Flack, den Fuß zurückzuziehen.

Draußen wurde Motorengeräusch hörbar.

»Was ist das?« fragte Carter und packte seine Pistole fester.

Wade Connely beugte den Kopf und versuchte einen Blick durch einen dünnen Spalt zwischen den Brettern zu finden.

»Ein Motorrad«, berichtete er. »Es hält hier an.«

Sie horchten alle, wie der Motor abgestellt wurde. Wade schaute noch immer durchs Fenster.

»Wer ist das?« drängte Carter, den Blick zu den drei Schwestern gewandt.

»Wahrscheinlich Billy«, gab Ann ihm die verlangte Auskunft. »Sue Ellens Freund.«

»Komm und schau nach!« gebot Carter ihr. Die Grobheit seines Befehls erschreckte sie.

Sie trat ans Fenster. »Es ist Billy«, bestätigte sie. »Ich sollte ihn hereinlassen.« Aber sie tat es nicht, weil sie hinter sich Flack und Wade Connely mit gezogenen Pistolen entdeckt hatte.

»Stecken Sie die Pistolen weg, meine Herren«, befahl der Polizist Carter. »Die junge Dame wird den jungen Mann hereinlassen. Ich nehme jedenfalls an, daß er jung ist«, fügte er hinzu und scheuchte Ann zur Tür.

Ann machte auf, und Billy stürmte ins Zimmer. Als er all die Fremden sah, blieb er abrupt stehen. »Ann - was ist hier los?« »Billy... Sue Ellen ist etwas zugestoßen.« Billys Augen flitzten von einem zum anderen, bis er Sue Ellen auf dem Sofa entdeckte, und er eilte sofort zu ihr, hockte sich neben sie und legte ihr die Hand auf die Stirn. Aber sie reagierte nicht. »Was hat sie, Karen? Was ist passiert? « Die Panik in Billys Stimme war nicht zu verkennen. Er nahm den Motorradhelm ab und man sah, wie jung er noch war. Er schien nicht älter als siebzehn zu sein. Seine Cordjacke war zu groß für seine schmalen Schultern, und seine langen, dünnen Beine steckten in Jeans. Er hatte blondes Haar und Sommersprossen und einen vorstehenden Adamsapfel, der weniger aufgefallen wäre, hätte Billy mehr gewogen.

»Wir wissen nicht, was ihr zugestoßen ist, Billy«, beantwortete Karen seine Frage. »Sie wollte heute nachmittag von zu Hause fortlaufen, allein. Sie wurde von den... den Dingern angegriffen, und diese Männer hier retteten sie.« Billy schaute auf die drei Fremden. Flack hatte sein übliches Grinsen im Gesicht. Wade Connely hielt seinen Blick auf Billy fixiert und taxierte den jungen Mann unverhohlen. Carter schien an dem Jungen völlig uninteressiert, pfiff eine kurze Melodie vor sich hin und verstummte. Als Billys Augen wieder auf Flack fielen, war das Grinsen immer noch da, hart und herausfordernd. Aus einem Impuls heraus rief Billy: »Seid ihr sicher, daß sie sie gerettet haben - oder haben sie vielleicht mitgeholfen, sie so zuzurichten?«

Flack ging auf Billy zu. »Das war aber gar nicht nett, so was zu sagen.«

»Halt's Maul!« Das war Carters Stimme. Er war aufgesprungen und schaute zornig in die Runde. Als er die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich gezogen hatte, änderte er den Tonfall, und seine Stimme klang ruhig und ernst. »Das Mädchen - Sue Ellen, so heißt sie doch, nicht wahr? - wurde von jenen Dingern angegriffen und wir haben sie aus ihren Klauen gerettet. Die beiden anderen Mädchen haben wir ebenfalls gerettet. Für ihren Vater konnten wir nichts mehr tun. Er war tot, als wir hier ankamen. Fragen Sie die Mädchen, wenn Sie uns nicht glauben wollen. Aber ich meine, Sie werden feststellen, daß Sie uns zu Dank verpflichtet sind.« »Ich bitte um Verzeihung«, entschuldigte sich Billy. »Das klingt schon besser«, entgegnete Carter zum Abschluß der Diskussion.

Ann ging scheu auf Billy zu und berührte ihn am Ellbogen. »Billy... könntest du mir vielleicht helfen, Sue Ellen nach oben zu bringen? Ich glaube, wir sollten sie ins Bett legen und warm zudecken.« Billy folgte Ann zum Sofa und sie betrachteten das bewußtlose Mädchen und überlegten, wie sie es am besten transportieren könnten.

»Ich mache heißen Tee für sie«, schlug Karen vor. »Ich glaube, wir könnten alle einen gebrauchen.« Sie stand auf und begab sich in die Küche.

Angel trat an eines der mit Brettern vernagelten Fenster und fand einen Spalt, durch den sie nach draußen schauen konnte. »Da sind noch mehr von diesen Dingern draußen«, stellte sie fest und sprang unwillkürlich zurück. »Mindestens ein halbes Dutzend, die auf dem Rasen rumlungern.«

»Wo zum Teufel kommen die denn alle her?« rief Wade Connely.

Flack lachte krankhaft. Er stand über die beiden Gefangenen gebeugt und starrte sie drohend an. Ihre Augen starrten zurück. »Verdammte Verbrecher!« fluchte Flack. »Warum machen wir uns eigentlich die Mühe, ihre dreckige Haut zu retten? He, Wade, was meinst du? Vielleicht sollten wir sie den Zombies überlassen.«

Wade nickte grinsend. Er streckte von dort, wo er saß, einen Fuß aus und stieß einen der Gefangenen mit dem Stiefel an, wie man jemanden mit dem Ellenbogen anstupst, wenn man einen guten Witz gehört hat.

Flack ging zu Ann und Billy hinüber, ehe sie Sue Ellen aufheben konnten. Mit ernster Stimme erklärte er: »Ihr solltet euch von den beiden da fernhalten.« Er wies auf die beiden gefesselten Männer. »Sie sind äußerst gefährlich. Ich weiß nicht mal, warum wir uns mit ihnen abmühen. Vielleicht werden wir sie als Zombiefutter benutzen. In Zeiten wie diesen hier herrscht sozusagen Kriegsrecht. Und diese Schweine verdienen sowieso keine humane Behandlung. Wenn ich euch erzählen würde, was sie getan haben, würdet ihr sie auch lynchen wollen.«

Billy wandte sich ab. Er wußte nicht, was er dazu sagen sollte. Ann beugte sich über Sue Ellen und wartete, daß Billy zupackte. Sie setzten Sue Ellen auf und legten sich jeder einen ihrer Arme über die Schultern, faßten sie an den Oberarmen und um die Taille und hoben sie auf. Ihre Füße schleiften über den Boden, während sie sie zur Treppe schleppten. Angel starrte noch geraume Zeit, nachdem Ann und Billy mit Sue Ellen verschwunden waren, hinter ihnen her. Man hörte deutlich, wie sie sich die Treppe hinaufmühten. In der Küche klapperte Karen mit Tassen und Löffeln und bereitete Tee.

Flack schaute Wade Connely an. »Wade, ehe wir es uns zu gemütlich machen, haben wir zwei noch was zu leisten.« Wade stand grinsend auf. Die gefesselten Männer auf dem Boden verfolgten Flack und Connely mit den Augen. »Es wird noch eine ganze Weile finster sein«, fuhr Flack fort. »Wir könnten ganz gut ein hübsches Feuerchen gebrauchen, um uns ein bißchen aufzuwärmen. Da draußen gibt's reichlich tote, trockene Haut. Sie sollte zu was Nützlichem verwendet werden.«

Angel riß den Kopf hoch und starrte Flack an, als wisse sie nicht, ob sie lachen oder sich vor Ekel schütteln sollte. Wade grinste und kicherte vor sich hin, während er und Flack ihre Gewehre packten und in den Vorgarten hinausgingen. Das Gelände war in helles Licht getaucht, das von starken Lampen an Haupt- und Nebeneingang des Hauses strahlte. Die Gewehre im Anschlag, schlichen sich Flack und Wade Connely zur Rückseite ihres Lastwagens. Flack zündete mit einem Streichholz eine Kerosinlampe an, während Wade ihm Feuerschutz gab. Flack stellte die Lampe auf die Führerkabine des Lasters ab, so daß sie den Vorgarten zusätzlich beleuchtete.

Am Rand der Lichtzone wichen mehrere menschenähnliche Gestalten zurück und verhielten sich still. Sie versuchten unbeholfen, sich zu verstecken, als hätten sie Angst vor den Männern mit dem Feuer. Die Humanoiden bewegten sich mit der für sie typischen, mühsamen Schwerfälligkeit, und es gelang ihnen nicht wirklich, sich zu verbergen. Sie rückten nur aus dem grellen Lichtschein in dämmrigere Zonen, die für ihre schwachen Augen wie vollständige Finsternis erscheinen mochten. Flack und Wade Connely suchten das beleuchtete Gebiet und die dahinter sich ausbreitende Dunkelheit mit den Augen ab. Sie verglichen ihre Beobachtungen und waren überzeugt, mindestens elf Humanoide ausgemacht zu haben, die sich unter Bäumen und Büschen zu verbergen suchten. Ein weiteres halbes Dutzend war an dem im Halbschatten liegenden Rand der Wiese zu erkennen.

»Wir sollten ein paar Fackeln anzünden«, schlug Flack vor. »Wir behalten unsere Revolver und lassen die Gewehre neben der Tür, falls wir sie schnell brauchen sollten.« Die beiden Männer gingen zum Lastwagen zurück, und Wade Connely gab Flack wieder Feuerschutz, während er Lappen und Stoffetzen um etwas, das wie alte Tischbeine aussah, wickelte. Flack tränkte die Lumpen in Kerosin aus einem Kanister und zündete zwei der provisorischen Fackeln mit dem Streichholz an.

»Das wird uns diese toten Schweine vom Leib halten«, versicherte Wade. Dann begaben sich Flack und er, jeder mit einer Fackel in der Hand, zum Eingang und lehnten ihre Gewehre neben die Tür, zogen ihre Revolver und beobachteten die wandelnden Überreste ehemaliger Menschen im Vorgarten.

Überall auf dem Gelände lagen die Körper überwältigter Leichenfresser, während andere, bislang unbesiegte, wieder genug Mut gefaßt hatten, sich aus der Dämmerzone herauszuwagen, und nun in dem grellen Licht mit den harten Schatten dastanden und herüberschauten. Ein gespenstisches Rascheln und Fauchen klang vom Rand der Wiese und aus der Dunkelheit, ein unheimliches, pfeifendes Geräusch, das die toten Wesen von sich gaben und das ihre Gegenwart noch bedrohlicher wirken ließ. Es war das gequälte, rauhe Atmen, das aus ihren toten Lungen drang, ein Todesröcheln, das den beiden Männern mit den Fackeln Eiseskälte über den Rücken jagte. Sie sahen, wie mehrere der Kreaturen aus dem Halbdunkel näher stampften, und ihnen wurde unbehaglich zumute.

»Die Schweine lassen sich nicht lange einschüchtern«, flüsterte Wade Connely leise, als wolle er ihre Aufmerksamkeit nicht auf sich lenken.

»Mach die Fleischerhaken bereit«, forderte Flack ihn auf. Seine Stimme klang nicht weniger verkrampft und angestrengt als die seines Kumpels.

Wade warf Flack einen erstaunten Blick zu, weil es so gar nicht Flacks Art war, es irgendwen merken zu lassen, wenn er aus der Fassung geriet. Es tat Wade gut zu sehen, daß der rauhe, harte Flack ebenso kribbelig werden konnte wie er selbst.

Flack starrte mit fasziniertem Entsetzen auf die Gesichter der toten Dinger. Sie waren so weiß und blutleer, und die verkrusteten, geschwollenen Wunden, die sie sich vor ihrem Tode zugezogen haben mußten, traten dadurch noch deutlicher hervor. Er fragte sich, ob das schwarze, geronnene Blut aus ihren eigenen Wunden stammte oder von den Opfern ihrer Jagd nach Menschenfleisch.

Eines der Wesen machte einen Schritt nach vorn, und Flack biß die Zähne zusammen. Ein Schuß krachte aus seiner Pistole, und das tote Ding wurde unter der Wucht des Geschosses, das in seinem Gehirn explodierte und durch seinen Hinterkopf platzte, rücklings ins Gras geschleudert, wo es als stinkender Haufen dreckiger Kleider, verfaulenden Fleisches und toter Knochen zusammensackte. Die übrigen Kreaturen wichen nicht zurück. Sie schienen an dem Tod eines ihrer Artgenossen völlig desinteressiert zu sein. Aber sie griffen den gerade Gefallenen nicht an und stürzten sich auch nicht auf sein Fleisch. Sie gierten nach frischem Menschenfleisch, das noch warm war und blutete und noch nach Leben schmeckte. Warmes Menschenfleisch war das einzige, womit sich die lebendigen Toten ernähren konnten. Wade Connely zuckte zusammen, als Flacks Waffe losging. Er sah, wie der getroffene Humanoide schwankte und zu Boden ging, und es jagte ihm Schauer über den Rücken, als dessen Gefährten keinerlei Reaktion zeigten, keine Furcht vor einem ähnlichen Schicksal. Man konnte diesen Dingern keine Angst einjagen, indem man sie tötete. Das einzige, das sie zu fürchten schienen, war Feuer, da ihre trockene, tote Haut äußerst leicht entflammbar war.

»Einen Fleischerhaken her! Beeil dich!« schrie Flack. Das brachte Wade wieder in Bewegung. Er wühlte auf der Ladefläche des Lasters herum; er holte zwei Paar Handschuhe hervor, warf Flack ein Paar zu und zog das andere selbst an. Die beiden Männer mußten dabei die Fackeln und die Waffen von einer Hand in die andere jonglieren. »Nur einen Haken«, sagte Flack. »Ich mach das, aber du mußt mir Feuerschutz geben. «Im Vertrauen auf die Wirkung der Fackeln steckte Flack den Revolver weg und nahm den Fleischerhaken, den Wade ihm reichte. Wade Connely deckte Flack, der zu der Leiche eines der überwältigten Humanoiden ging, mit dem Fleischerhaken kräftig ausholte und ihn in das weiche Fleisch in der Höhe des Zwerchfells rammte - wo die Rippen einen soliden Halt für den Haken bildeten -, um dann den Körper über den Boden zu schleifen. Flack zerrte auf diese Weise eine Leiche nach der anderen zu einer Stelle in der Mitte der Wiese und stapelte sie aufeinander wie Holzscheite. Die unterschwellige Angst ließ ihn schnell und zügig arbeiten, und Flack erledigte die grauenvolle Aufgabe, ungefähr ein Dutzend Leichen zu einem Scheiterhaufen aufzustapeln, in erstaunlich kurzer Zeit. Der Gestank von verrottendem Fleisch war überwältigend, und die beiden Männer atmeten kurz und flach, wenn sie die Luft nicht mehr länger anhalten konnten. Flack war erschöpft. Er benötigte größere Mengen Sauerstoff, als diese Atemtechnik ihm lieferte, und schließlich zwang er sich, tief durchzuatmen, und mußte dann gegen das Würgen und den Drang, sich zu erbrechen, ankämpfen.

Als die Leichen zu einem Stapel aufgeschichtet waren, nahm Flack den Kanister und goß hastig, um schnell fertig zu werden, und großzügig Kerosin darüber. Wade beobachtete ihn, den Finger am Abzug, und war drauf und dran, noch mehr von den Dingern abzuknallen, weil er meinte, es würde seinem Seelenfrieden guttun. Flack erkannte Wades Absicht. »Spar deine Munition«, gebot er. »Du hast doch auch einen abgeknallt«, erwiderte Wade. Flack verschloß den Kanister.

Die Leichenfresserkadaver waren bereit, angezündet zu werden. Die beiden Männer hatten nicht die Absicht, es sofort zu tun, sondern später, wenn sie vom Haus zu den Fahrzeugen durchzubrechen hatten. Sie hofften, daß das Feuer aus totem Fleisch angreifende Humanoide zurückweichen lassen würde. Mit Hilfe ihrer Waffen und Fackeln würden sie sich einen Fluchtweg bahnen können.

Flack und Wade zogen die Handschuhe aus und warfen sie zusammen mit dem Fleischerhaken auf den Laster. Dann nahmen sie ihre Gewehre und die Fackeln mit ins Haus. Wade ging noch einmal hinaus, um die Kerosinlampe und den Kanister zu holen. Als er zurückkam, verriegelte er die Tür und verrammelte sie wieder mit dem Balken.

Angel döste auf dem Sofa. John Carter saß im Sessel neben dem kalten Kamin und ließ seine Augen hin und wieder über die gefesselten Gefangenen gleiten, die flach auf dem Rücken in der Mitte des Wohnzimmers lagen. Neben Carter auf der Armlehne stand eine leere Teetasse.

Flack und Wade gingen in die Küche, um sich die Hände zu waschen. Auf dem Küchentisch standen Tassen, und eine Kanne mit Tee dampfte auf dem Herd. »Ich brauche mehr als nur Tee, Teufel noch mal«, rief Flack. »Ich hab' Kohldampf.« Er öffnete den Kühlschrank und suchte nach etwas Eßbarem. Im Obergeschoß hatten Billy und Ann Sue Ellen ins Bett gebracht und wachten bei ihr, daß sie bald wieder zu Bewußtsein käme.

Karen kam langsam die Treppe herauf. Sie hatte die Küche verlassen, als sie Wade und Flack hereinkommen hörte. Sie wandte ihre Augen ab und kämpfte mit den Tränen, als sie den Flur entlang an ihres Vaters Schlafzimmer vorbeiging. Die Tür zu dem Zimmer war nur angelehnt. Ein blasser Lichtstreifen von der Flurlampe fiel hinein, doch der größte Teil lag im Dunkel. In der hintersten Ecke des Raums stand reglos die gekrümmte Gestalt eines Humanoiden. Dieses tote Wesen hatte sich an Bert Millers Fleisch gelabt. Seine bestialische Gier war im Augenblick gestillt, und ohne den gierigen Freßtrieb war es damit zufrieden, reglos und still abzuwarten. Karen betrat das Zimmer, in dem Sue Ellen lag. Sie hoffte, ihre Schwester wach zu finden. Ann und Billy schauten auf. In ihren Gesichtern konnte sie lesen, daß sich Sue Ellens Zustand nicht verändert hatte. »Ich bleibe bei ihr«, erklärte Karen. »Wenn ihr wollt, könnt ihr nach unten gehen und ein bißchen Tee trinken.«

Als Billy und Ann sich anschickten, die Treppe hinunterzusteigen, hörten sie dröhnendes Gelächter aus dem Erdgeschoß. Flack, der gerade dabei war, sich ein Sandwich in den Mund zu stopfen, rannte, gefolgt von Wade Connely, am Treppenabsatz vorbei und ins Wohnzimmer, als Billy und Ann gerade die letzten Stufen erreichten.

Angel lachte. Sie kniete in der hinteren Ecke des Zimmers am Boden. Wade und Flack standen über sie gebeugt, und Flack stimmte kichernd in ihr Gelächter mit ein. Die beiden Gefesselten mühten sich ab, in Richtung von Angels Lachen zu schauen. Sie sahen, daß sie ein Bücherregal beiseite geschoben und einen alten Fußbodensafe entdeckt hatte. »Wetten, daß ich die Kombination rauskriege?« prahlte Angel und befeuchtete sich die Lippen mit einer schnellen Zungenbewegung. »Ich hatte eine Tante, die Wahrsagerin war.«

»Vielleicht sind wir am Ende doch den wirklichen Geiern in die Hände gefallen.«

Alle starrten Billy verblüfft an.

»Wie undankbar, so was zu sagen«, fauchte Angel mit zornblitzenden Augen.

Flack und Wade kamen drohend ein paar Schritte näher. Flack zog ein Messer aus einer Scheide an seinem Gürtel. Unvermittelt schwenkte er das Messer mit dem Griff voran vor Wades Lippen, als wäre es ein Mikrophon. Wade lachte, als er begriff, was für eine Komödie sich jetzt hier abspielte. Carter blieb schweigend sitzen und beobachtete die Szene. Billy und Ann bekamen es mit der Angst zu tun und fühlten, wie ihnen kalter Schweiß auf die Stirn trat. Das »Mikrofon« vor Wades Lippen haltend, sprach Flack in der Art eines Reporters: »Ich erfahre soeben, daß vor knapp zwei Stunden Beamte der Staatspolizei ein paar Landpomeranzen vor dem Angriff von Leichenfressern gerettet haben.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Wade mit ernstem Gesicht. Er gefiel sich sichtlich in der Rolle. »Die Beamten tauchten unerwartet aus dem Nichts auf und retteten ein paar Bauern im Handumdrehen. Ich würde sagen, die Beamten haben sich ihres Rufs würdig gezeigt.« Er grinste zufrieden über seinen eigenen witzigen Einfall.

»Das haben sie wirklich«, sagte Flack anerkennend. »Und wie fühlt man sich als Held, Staatspolizist Connely, wenn man ein paar Fremden gerade das Leben gerettet hat? Wenn man gerade Kopf und Kragen riskiert hat für Leute, die man noch nie im Leben gesehen hat?« »Am Anfang fühlt man sich großartig, aber dann...« »Dann was?«

»Die Leute haben ein kurzes Gedächtnis«, antwortete Wade zögernd und schaute dabei Ann und Billy herausfordernd an. »Nun mal halblang!« schnauzte Billy los, aber Flack ließ ihn nicht ausreden, stieß ihn rücklings aufs Sofa und hielt ihm die Messerspitze vor die Kehle.

»Warte mal, Bürschchen!« Flack spie die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Was haben Sie mit Sue Ellen gemacht?« platzte Ann heraus. Sie war so aufgeregt, daß die Worte hervorschossen, ehe sie sich auf die Zunge beißen konnte. In ihrer Angst wurde das, was bisher nur ein unterbewußter Verdacht gewesen war, plötzlich ein konkreter Gedanke.

Flack schaute sie verblüfft, erstaunt und gekränkt an. Er ließ von dem Jungen ab und wandte sich mit beleidigtem Blick Ann zu. Billy blieb auf dem Sofa liegen und rieb sich die Kehle und die Brust. Sein gerötetes Gesicht war vor Zorn und Angst und Schmerz zu einer Grimasse verzerrt. In ernsthaftem, überzeugendem Tonfall sagte Flack: »Seht ihr die zwei Gefangenen da? Schaut sie euch gut an. Kinder-belästiger! Und wir müssen Kopf und Kragen riskieren, um die Drecksäcke heil der Jusitz zu übergeben.« Flack hielt inne und grinste. »Wir hätten auch nicht hier herkommen und euch das Leben retten müssen. Aber wir haben es getan, und da wir jetzt für eine Weile hier festhängen, sind wir auf ein bißchen Unterstützung angewiesen. Ich meine, es wäre an der Zeit, daß wir was zwischen die Zähne kriegen. Eine kleine Mahlzeit. Keiner weiß, wie schlimm sich das da draußen noch zuspitzen wird. Also, wer von euch ist der Koch?« Ann und Billy schauten einander an. Billys Gesicht war noch immer hochrot. Er saß steif aufgerichtet auf dem Sofa. »Also gut, ich mach's«, erklärte sich Ann kaum hörbar bereit. Sie wandte sich um, doch sie hielt inne, als sie das Rauschen des Fernsehers hörte. John Carter hatte das Gerät eingeschaltet und wartete darüber gebeugt, bis es warm wurde.

Carters Augen waren auf den Bildschirm gerichtet. Nicht, daß er sich besonders für das Bild interessiert hätte, das sich langsam verdichtete; er war einfach im Augenblick an allem anderen desinteressiert. Er strahlte eine Aura schweigender Autorität aus. Auch wenn er nicht viel gesagt hatte, war seine Gegenwart ein ständig zu berücksichtigender Faktor in dem Zimmer. Er schien nur den Mund aufzumachen, wenn er mit etwas nicht einverstanden war oder wenn er etwas in bestimmter Weise getan haben wollte. Er war bereit, den Dingen ihren Lauf zu lassen, solange sie nicht gestoppt werden mußten. Carter war eindeutig der Boß, ohne daß er jedermann ständig darauf hinzuweisen brauchte.

Eine Nachrichtensendung fesselte jedermanns Aufmerksamkeit. Ein Sprecher saß hinter einem Schreibtisch in einem Fernsehstudio: »Offenbar beschränkt sich das Phänomen nicht, wie zunächst angenommen wurde, auf zwei bestimmte Staaten. Von überall her sind Berichte eingegangen. Eine Krankenschwester aus New York erzählt von einem höchst merkwürdigen Erlebnis.« Die Leute in dem Millerschen Wohnzimmer drängten sich näher um das Fernsehgerät, während das Bild des Ansagers verblaßte und statt dessen eine junge Frau sichtbar wurde, die ein Interview gab. Karen war von dem Geräusch des Fernsehers herbeigelockt worden und schlich sich leise dicht neben Ann. Die Gefangenen am Boden hoben die Köpfe und versuchten zwischen den Beinen der übrigen Anwesenden hindurch einen Blick auf den Bildschirm zu erhaschen. Zu sehen war eine Krankenschwester in einem New Yorker Krankenhaus, der ein Reporter ein Mikrofon unter die Nase hielt. »Also«, setzte sie an - noch immer erschüttert von dem Erlebnis. »Ich hatte gerade einen toten Organspender aus dem Operationssaal im Erdgeschoß in den Vorraum gestellt. Sein Herz war entfernt worden. Ich hatte ihn an seinen Platz gebracht, mich für einen kleinen Augenblick abgewandt, und als ich wieder hinschaute, kam er auf mich zu - ich kann es noch immer nicht fassen! Ich rannte hinaus und schrie um Hilfe, und als wir wieder hineinkamen, hatte er sich durch eine Fensterscheibe gestürzt und war in Sekundenschnelle verschwunden.«

Auf dem Bildschirm erschien wieder der Nachrichtensprecher. »Ich wiederhole: Entsetzliche Berichte dieser Art treffen aus allen Teilen des Landes ein.«

Karen stöhnte plötzlich laut auf, schleppte sich zu einem Stuhl und ließ sich darauffallen. Sie krümmte sich vor Schmerzen. Billy und Ann sprangen hinzu und versuchten, ihr zu helfen, bis zum Sofa zu gehen. Sie bewegte sich langsam und steif aus Angst, ihre Wehen hätten schon eingesetzt. »Es ist doch erst in einem Monat fällig!« rief sie und verschränkte die Arme vor ihrem Leib, während Billy und Ann sie aufs Sofa betteten »Es kann doch noch nicht losgehen!« »Ist es sehr schlimm?« fragte Ann. »Eben hat es scheußlich weh getan. Und es fühlt sich so an, als käme es gleich wieder.«

Während Billy und Ann sich um Karen kümmerten, liefen die Fernsehnachrichten weiter. Flack, Angel, John Carter und Wade Connely folgten ihnen aufmerksam. Das Gesicht des Ansagers füllte den ganzen Bildschirm.

»Die vor kurzem Verstorbenen - Leichen aus Leichenhäusern, Bestattungsunternehmen und Krankenhäusern - werden wieder lebendig und laben sich an Menschenfleisch. Niemand weiß, wie viele Menschen von den Leichenfressern ermordet worden sind, nur um sich dann ihrerseits den Reihen der wandelnden Toten anzuschließen. Es besteht kein Zweifel darüber, daß diese Seuche - wenn sie nicht schleunigst unter Kontrolle gebracht wird - zur Vernichtung der gesamten Menschheit führen kann. In den meisten Gebieten haben die lokale Polizei, Einheiten der Nationalgarde und Freiwillige damit begonnen, rund um die Uhr zu arbeiten, um das Problem in den Griff zu bekommen. Überflüssig zu erwähnen, daß sowohl unsere Städte als auch die ländlichen Bezirke inzwischen zu blutigen Schlachtfeldern geworden sind. Die Katastrophe verschlimmert sich noch durch die Tatsache, daß die Menschen anfangen, gegenseitig aufeinander loszugehen. Banden von Plünderern und Vergewaltigern machen die Landbezirke unsicher - ganz besonders in abgelegenen Gegenden - und nutzen das Zusammenbrechen von Gesetz und Ordnung aus, das als Folge des Überfalls der Leichenfresser zu chaotischen Zuständen geführt hat. Nachrichten über Mord, Vergewaltigungen und Brandstiftungen sind inzwischen an der Tagesordnung. Hier in unserem eigenen Distrikt hat Sheriff Conan McClellan, der vor zehn Jahren erfolgreich mit einer vergleichbaren Notlage fertig geworden ist, wieder das Kommando über ein bewaffnetes Aufgebot aus Polizeibeamten und freiwilligen Zivilisten übernommen. Es ist uns gelungen, Sheriff McClellan im Laufe des heutigen Tages zu interviewen.«

Auf dem Bildschirm waren im Vordergrund McClellan und ein Reporter zu sehen, im Hintergrund herrschte ein emsiges Gewimmel. Hinter den beiden Männern war ein Zeltlager zu erkennen. Weitere Zelte wurden aufgerichtet. Überall wuselte es von Männern mit Hunden, von Lagerfeuern, Jeeps und Rettungswagen. Der Sheriff trug Zivil. Die Hosen seines dunklen Anzugs stecken in gefütterten Stiefeln, die Krawatte hatte er gelockert. Er wirkte sehr erschöpft. Er hatte ein Schnellfeuergewehr mit Zielfernrohr und einen Munitionsgürtel geschultert.

»Sheriff..., inwieweit läßt sich der gegenwärtige Notstand mit der Situation von vor zehn Jahren vergleichen? « fragte der Reporter und hielt dem Sheriff das Mikrofon unter die Nase. Der Sheriff gab eine klare Antwort: »Diesmal ist es schlimmer. Wesentlich schlimmer sogar. Die Leute nutzen die Situation aus und gehen aufeinander los. Die Leichenfresser könnten wir eventuell unter unsere Kontrolle bringen, aber wir haben es zusätzlich mit Vergewaltigern und Plünderern zu tun.«

»Haben Sie eine Erklärung für das, was geschieht?« »Nicht die mindeste. Ich tue meine Arbeit, das ist alles. Ich hätte nie gedacht, daß diese verdammte, unglaubliche Geschichte sich je wiederholen könnte.«

»Sheriff, was läßt Sie annehmen, der Leichenfresser Herr werden zu können?«

»Es ist uns schon einmal gelungen. Wir können diese Kreaturen überwältigen und vernichten. Anschließend wieder Ordnung zu schaffen, darin besteht die eigentliche Schwie...« John Carter stand auf und schaltete das Gerät aus. Er drehte sich zu Ann und Billy um, die Karens regelmäßigem Stöhnen lauschten, sie leise nach ihren Schmerzen ausfragten, versuchten, sie zu beruhigen, und über die Wahrscheinlichkeit einer Frühgeburt diskutierten.

»Es tut so weh«, jammerte Karen nach einer besonders heftigen Wehe. »Und die Schmerzen kommen wieder und wieder.«

»Wir müssen sie in ein Krankenhaus schaffen«, forderte Billy und ließ seinen Blick in Erwartung von Zustimmung zu John Carter schnellen.

Carter bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen. »Es ist viel zu gefährlich, sich nach draußen zu wagen.« Flack grinste, schnippte eine Zigarette aus einer Packung und zündete sie an. »Komm, wir bringen Karen erst mal nach oben«, schlug Ann Billy resigniert vor.

Billy und Ann halfen Karen beim Aufstehen und machten sich auf den Weg zur Treppe. Flack trat ihnen in den Weg und zwang sie, stehenzubleiben. Karen wurde von einer weiteren Wehe erfaßt, krümmte sich und stöhnte, die Hände auf dem Unterleib.

»Wo wollt ihr denn hin?« begehrte Flack zu wissen. Ann versuchte, Karen zu helfen, während Billy dem Mann verständnislos ins Gesicht starrte. Karen verbiß ihren Schmerz und sah ihn ebenfalls ungläubig an. Ann warf John Carter einen flehenden Blick zu.

»Ihr müßt euch nur meine Erlaubnis erbitten«, erklärte Flack. Angel gab Wade einen amüsierten Stoß in die Rippen. Wade Connely grinste. Flack stülpte die Lippen vor und blies eine lange Reihe von Rauchringen aus.

»Bitte«, keuchte Ann mit dem Blick auf Carter gerichtet. Sie konnte nicht begreifen, daß er in Anbetracht der Lage zuließ, daß einer seiner Männer sich so benahm.

»Bitte was?« beharrte Flack spitz und genoß offenkundig seine Machtposition.

Ann traten Tränen in die Augen. »Bitte erlauben Sie uns, Karen nach oben zubringen«, flüsterte sie und schaute Flack dabei hilflos an.

»Das klingt schon besser«, erwiderte Flack. »Also gut. Meinetwegen.«

Billy und Ann beeilten sich, Karen, die in Schweiß ausgebrochen war, die Treppe hinaufzuhelfen.

»He, ihr Macker«, rief Angel. »Laßt uns mal diesen Safe knacken.«

Flack pflanzte sich vor Carter auf. »Machen wir endlich mit diesem Zirkus hier Schluß. Wir müssen uns langsam entscheiden, was wir mit den Leuten hier machen wollen, und es dann auch hinter uns bringen.«

»Immer mit der Ruhe«, versetzte Carter. »Das Spiel hat ja gerade erst angefangen.«

Wade Connely kicherte und zwinkerte Angel zu, die auf dem Fußboden kniete und an der Safekombination drehte, um den Mechanismus klicken zu hören.

»Laß das blöde Spiel sausen«, murrte Flack. »Wir verlieren nur unsere Zeit. Wenn wir das Kingsley-Haus nicht bald knacken, dann kommt uns jemand anders zuvor.«

Bei der Erwähnung des Kingsley-Hauses warfen die beiden gefesselten Männer auf dem Fußboden einander einen Blick zu.

»Verdammt noch mal, ihr zwei!« schnauzte Angel. »Haltet das Maul und helft mir mit diesem Safe!«

Wade kam ein paar Schritte näher und schaute auf Angel hinunter. »Solltest vielleicht deine Finger ein bißchen glatter schleifen«, meinte er scherzend.

»Ich krieg' das Miststück schon auf«, versicherte Angel. »Ich kann das Klicken fühlen.«

»Ich trau' denen da oben nicht«, bemerkte Flack zu John Carter.

Carter schaute zur Treppe und dann zu Flack zurück und dachte darüber nach. »Vielleicht hast du recht.«

»Wie viele von den Dingern sind da draußen?« fragte Flack plötzlich.

Wade trat an eines der vernagelten Fenster und spähte hinaus. »Himmel! Der ganze Vorgarten ist voll davon!« Er rannte von einem Fenster zum anderen, um die Situation abzuschätzen, und sie gefiel ihm ganz und gar nicht. »Wir sind von allen Seiten umzingelt! Da draußen sind mindestens dreißig von

diesen Zombies, oder sogar noch mehr!«

»Na und?« erklärte Carter ruhig. »Wir können uns unseren Weg an ihnen vorbeibrennen wie gehabt.«

Wade schaute ihn skeptisch an.

Flack stieß einen der Gefangenen mit dem Fuß an. »Zom-biefutter«, sagte er leise.

Oben lauerte ein einzelner Humanoider im Dunkel von Bert Millers Schlafzimmer. Ann und Billy, die Karen den Flur entlang zu ihrem Schlafzimmer brachten, waren an der halb geöffneten Tür vorbeigestolpert. Der Humanoide hatte sich ein bißchen geregt, als er die Nähe von Menschenfleisch wahrgenommen hatte.

Billy überließ Ann die Sorge um Karen und ging seinerseits nach Sue Ellen schauen. Zu seiner Überraschung war Sue Ellen aufgewacht, wenn sie ihm auch im sanften Schein der Lampe neben ihrem Bett sehr still und reglos erschien. Sie blickte zu Billy auf, als er hereinkam, und wirkte schwach und benommen. Billy trat eilig an ihr Bett und beugte sich über sie. »Sue«, fragte er. »Geht es dir besser?« Sue Ellen brach in leises Schluchzen aus, als sei sie zu schwach, lauter zu weinen. Billy setzte sich auf die Bettkante. Er wußte nicht, was er sagen oder tun sollte. »Dieser Mann!« platzte Sue Ellen unter ihren Tränen plötzlich heraus. »Ich habe unten seine Stimme gehört - er - er hat mich vergewaltigt!« Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen, und ein Weinkrampf schüttelte sie am ganzen Leib. Ann stand an der Tür und hatte jedes Wort mit angehört. Sie sprang hinzu und nahm ihre Schwester in die Arme, die nicht aufhörte, heftig zu heulen.

Billy schaute zur Tür. Seine Augen weiteten sich erschreckt. Flack hatte sich im Türrahmen aufgebaut. »Okay, jetzt wißt ihr's«, sagte Flack und winkte mit seinem Revolver. »Alle Mann nach unten!«

»Du Schwein!« brüllte Billy und wollte sich auf Flack stürzen, doch Ann packte ihn am Arm und hielt ihn zurück. »Nicht, Billy!« schrie Ann. »Er bringt dich um!« »Du bist schnell von Begriff«, stellte Flack höhnisch fest. »So, alle Mann nach unten, marsch!«

»Meine Schwester bekommt ein Baby«, protestierte Ann in der Hoffnung, irgendwo in diesem Mann steckten vielleicht noch ein paar menschliche Gefühle.

»Sie braucht nicht mitzukommen«, entschied Flack. »Sie kann hierbleiben und es kriegen.« Das erschien ihm ungeheuer lustig und er brach in sein hämisches Gekicher aus. »Bitte, Flack, das ist doch nicht Ihr Ernst!« flehte Ann. Sie konnte nicht glauben, daß der Mann so grausam war. »Doch«, bestätigte Sue Ellen bitter. Es schüttelte sie, als sie den Mann anschaute, und sie wandte ihr tränenüberströmtes Gesicht zur Wand.

»Verflucht noch mal, bewegt eure Ärsche endlich nach unten!« schnauzte Flack und drohte ihnen mit dem Revolver. Karens Stöhnen schallte durch den Flur. Billy und Ann halfen Sue Ellen aus dem Bett und auf die Füße und stützten sie. Mühsam stiegen sie die Treppe hinunter, gefolgt von Flack, der den Revolver auf sie gerichtet hielt. Angel blickte auf und lächelte bösartig. »Was machen wir denn bloß mit denen da?«

Wade Connely grinste. »Sie dürften mehr als nur ein paar von denen da draußen zufriedenstellen.«

»Zombiefutter«, wiederholte Flack, die Mündung seines Revolvers auf Ann, Billy und Sue Ellen gerichtet. Ihm gefiel der Ausdruck.

»Und wo ist die andere?« fragte Carter plötzlich. »Die kriegt noch immer ihr Baby«, erwiderte Flack kichernd. »Ist mir wurscht, ob sie'n Gör kriegt. Angel, geh sie holen. Ich will alle hier unten haben.« Angel stand gehorsam auf und begab sich zur Treppe. Ein Poltern war plötzlich vor dem Haus zu hören. John Carter gab Wade mit einer Geste zu verstehen,

daß er nach dem Rechten schauen solle. Wade eilte ans Fenster.

»Zwei sind bis an die Haustür gekommen«, berichtete Wade. »Sieht so aus, als kriegten sie wieder Hunger.« »Sag ihnen, es sei noch nicht Zeit fürs Abendessen«, spöttelte Flack. »Noch nicht«, fügte er hinzu.

Wade bohrte sein Gewehr zwischen zwei Brettern hindurch und zersplitterte die Fensterscheibe. Dann gab er zwei sorgfältig gezielte Schüsse ab. Draußen sackten zwei Leichenfresser neben dem Lastwagen zu Boden, beide genau zwischen den Augen getroffen. »Wir werden ein anständiges Feuer brauchen, um hier herauszukommen«, war sich Wade im klaren, als er sich vom Fenster abwandte und sein Gewehr wieder lud.

Im Obergeschoß war Angel auf dem Weg zu dem Raum, aus dem sie Karens Stöhnen hörte. Eilig strebte sie an der halb geöffneten Tür von Bert Millers Schlafzimmers vorbei. Zwei Hände schnellten durch den Türspalt und packten Angel brutal. Eine krallte sich über Mund und Gesicht, die andere würgte sie an der Kehle. Der Humanoide zerrte die Frau schnell in das Dunkel des Schlafzimmers. Er machte ihrem verzweifelten Gestrampel ein Ende, indem er ihren Kopf gegen die Wand donnerte, bis sie das Bewußtsein verlor. Die Geräusche des kurzen Kampfes wurden von Wades Gewehrschüssen durch das Wohnzimmerfenster völlig übertönt.

Der Leichenfresser kniete über dem bewußtlosen Mädchen; Speichel triefte über seine toten Lippen. Mit gierigem Glitzern in den Augen biß er in das weiche Fleisch ihres Halses. Dann wanderten seine groben Hände abwärts und rissen ihr mit brutaler Gewalt die Bluse vom Leib. Die Kreatur senkte den Kopf und grub ihre Zähne tief in die festen Brüste des Mädchens. Er kaute erst ein Stück aus der einen, dann aus der anderen. Dabei ließ er aus tiefer Kehle lüsternes Stöhnen dringen, und sein Körper bewegte sich in rhythmischen Zuckungen.

Als der Leichenfresser den Kopf hob, riß er eine der Brustwarzen mit ab. Mit noch größerer Entschlossenheit fetzte er ihr die Überreste ihrer Kleider vom Leib und labte sich an der Üppigkeit ihrer Schenkel und Lenden, bis er gesättigt war.

Im Wohnzimmer hatte Wade Connely sein Gewehr durch eine andere Öffnung gezwängt und feuerte noch immer. Er schoß mehrmals daneben, und die Leichenfresser wichen zurück. Sie verschwanden hinter überhängenden Ästen und verbargen sich im Schatten der umstehenden Bäume.

Die toten Dinger hatten begonnen, den Zusammenhang zwischen dem Knallen der Schüsse und ihrer potentiellen Vernichtung zu erkennen. Vielleicht waren es aber auch nur die Funken, die bei der Explosion des Pulvers entstanden, was ihnen angst machte, da Feuer das einzige war, das sie zu fürchten schienen.

Wade spannte den Abzug seines Gewehres wieder, aber Carter schnauzte ihn an. »Das langt! Hör auf!« »Sie sind zurückgewichen«, berichtete Wade. »Zwei hab' ich erwischt, den Rest verfehlt.«

»Dann hör auf, Munition zu vergeuden«, wies ihn Carter zurccht. Daraufhin rief er die Treppe hinauf: »Angel, mach voran, daß das hier endlich weitergeht!« »Im Küchenschrank liegt eine Wäscheleine. Bring die her, Wade«, befahl Flack.

Wade tat, wie ihm geheißen, und er und Flack fesselten Ann, Sue Ellen und Billy, so daß sie sich nicht mehr bewegen konnten und mit auf den Rücken gebundenen Händen am Boden liegen mußten. »So, und wer von euch kennt die Kombination von dem Safe? «

Flack packte das Seil, das um Anns Knöchel geknotet war, zerrte sie daran neben den Safe und hielt ihr die Pistole unters Kinn. »Du willst doch nicht, daß ich dir dein niedliches kleines Kinn durch den Hinterkopf jage, oder?« »In dem Safe ist nichts drin«, flüsterte Ann mit rauer Stimme. »Erzähl mir doch nichts!« bellte Flack. »Sue Ellen weiß die Kombination«, fuhr Ann fort. »Aber da ist nichts drin außer ein paar Schallplatten und altem Plunder.« Carter war aufgestanden und hatte sich, den Revolver auf ihren Kopf gerichtet, über Sue Ellen gebeugt. »Sechzehn, dreiundzwanzig, dreiundfünfzig«, brachte Sue Ellen hervor. Dann räusperte sie sich und fügte hinzu: »Sechzehn im Uhrzeigersinn bis zur Dreiundzwanzig, dann andersrum bis dreiundfünfzig.«

»Probier's«, befahl Carter.

Wade kniete sich neben den Safe und drehte an dem Knopf. Die Tür ging auf. Flack lachte ein irres Lachen, das sehr bösartig wurde. Wade holte einen Stapel Schallplatten heraus und begann, sie durchs Zimmer zu werfen. »Verfluchte Bauerntrampel«, schimpfte Flack, ging zu Billy hinüber, der gefesselt und hilflos am Boden lag, und versetzte ihm einen kräftigen Tritt in die Rippen. Billy schrie auf und wand sich am Boden, vor Schmerz traten ihm Tränen in die Augen.

»Paßt auf die Gefangenen auf«, ermahnte Carter. »Ich geh' mal nachschauen, was Angel so lange da oben macht.« Er trabte die Treppen hinauf und eilte in das Zimmer, in dem Karen schwitzend und stöhnend in den Wehen lag. Sie starrte ihn mit angstgeweiteten Pupillen wortlos an. Carter ließ seinen Blick durchs Zimmer gleiten, dann drehte er sich auf dem Absatz um und rannte den Flur entlang, bis er aus einem anderen Schlafzimmer ein Geräusch hörte. Mit gezogener Pistole näherte er sich der angelehnten Tür und versuchte, das Dunkel dahinter zu durchdringen. Neben dem Eingang an der Wand ertastete er einen Schalter, knipste ihn an und sofort wieder aus. Der Leichenfresser zuckte bei der plötzlichen Helligkeit zusammen. Er war viel zu sehr mit Angel beschäftigt. Das kurze Aufflammen des Lichts brannte ein grauenvolles Bild in Carters Bewußtsein: die grotesken Überreste des kannibalisierten Mädchens und das tote, weiße, blutverschmierte Gesicht ihres Verschlingers. Erschüttert wich Carter aus dem Zimmer. Er dachte zuerst daran, das tote Wesen zu erschießen, doch dann beschloß er, daß es ihm nützlich sein konnte. Wenn er es im Haus ließe, würde es sich um die kümmern, die er hier zurücklassen würde. Carter eilte die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. »Laßt uns von hier verschwinden«, wandte er sich an Flack. »Wie du richtig gesagt hast, haben wir eine Verabredung mit Mr. Kingsley.«

»Und wo ist Angel?« wollte Wade wissen. Carter warf Flack und Wade einen harten, vielsagenden Blick zu. »Frag mich später wieder. Laßt uns von hier abhauen! Und zwar schnell. Ihr drei da, auf die Füße!« Er winkte mit seinem Gewehr in Richtung von Ann, Sue Ellen und Billy, doch sie konnten sich nicht rühren, da sie an Händen und Füßen gefesselt waren.

»Schneidet ihnen die Fesseln an den Füßen los«, schnauzte Carter ungeduldig, »außer dem Jungen.« Flack zog sein Messer aus der Scheide und zerschnitt die Wäscheleine um Anns und Sue Ellens Knöchel. »Und was soll mit denen da geschehen? « fragte Flack, auf die beiden gefesselten Männer zeigend.

»Ich glaube, die werden wir für unsere Abendessensgäste hier lassen«, erwiderte Carter. »Oder nein, warte mal, ich habe eine bessere Idee. Binde einen von ihnen los.«

Mit seinem Messer schnitt Flack die Fesseln des einen der beiden auf dem Boden liegenden Männer durch. Im gleichen Moment feuerte Carter mit seinem Revolver auf den Mann und traf ihn in den Unterleib. Der Mann wand sich schreiend, Blut spritzte zwischen seinen Fingern aus der Wunde.

Flack stieß wieder sein krankhaftes Gelächter aus. Der verwundete Mann stöhnte und erschlaffte. Er verlor das Bewußtsein.

»Er wird sterben und dann zu einem dieser Zombies werden«, erklärte Carter. »Wenn er aufwacht, wird er frühstücken wollen - und da liegt es schon bereit und wartet auf ihn.« Flack beugte sich über den zweiten Mann, der noch immer gefesselt am Boden lag, und schaute ihm ins Gesicht. Die beiden Augenpaare starrten sich voll gegenseitigen Hasses an. »Zombiefutter«, wiederholte Flack und quälte den Mann zusätzlich, indem er ihm mit der Stiefelspitze in die Rippen trat.

»Los jetzt«, befahl Carter und wartete, bis Flack zwei von den Tischbeinfackeln angezündet hatte und ihm eine hinüberreichte. »Wade, du fährst das Bullenauto«, ordnete Carter an. »Die beiden Mädchen sitzen hinten. Ich und Flack nehmen den Laster.«

Wade brachte die Mädchen zur Tür, das Gewehr auf sie gerichtet. Flack öffnete mit der lodernden Fackel in der Hand und schleuderte sie dann auf den mit Kerosin übergossenen Stapel toter Leiber, der sich sofort mit explosionsartigem Getöse entflammte.

Leichenfresser, die sich in der Nähe befanden, wichen vor dem Feuer zurück.

Flack zielte, schoß und traf einen Humanoiden, der bei dem Streifenwagen herumgelungert hatte.

Wade trieb die beiden Mädchen schnell voran, indem er sie mit dem Gewehrlauf vor sich her stieß, und zwang sie dann auf den Rücksitz des Streifenwagens.

Carter stieß einem angreifenden Leichenfresser seine Fackel in die Brust und steckte die Kreatur in Brand. Das tote Ding schwankte und stürzte zu Boden. Es röchelte, stöhnte und schlug um sich und versuchte, gegen die Flammen zu kämpfen, die sein trockenes, totes Fleisch verzehrten. Carter und Flack schleiften Billy an der Wäscheleine, mit der er gefesselt war, grob hinter sich her und warfen ihn dann auf die Ladefläche des Lasters, als wäre er eine Ochsenhälfte. Flack schwang sich ebenfalls hinauf, während Carter auf den Fahrersitz kletterte und den Motor anließ. Flack kauerte auf dem Laster und schoß auf mehrere Leichenfresser , die am Rand der Lichtung lauerten, nachdem sie vor dem lodernden Feuer zurückgewichen waren. Wade, einen wilden, panischen Ausdruck im Gesicht, hatte das Wagenfenster heruntergekurbelt und feuerte ebenfalls, um sicher zu sein, daß keine der Kreaturen das Auto angreifen würde, ehe er hinter dem Laster her hier fortkäme. Das Feuer, genährt von dem Stapel toter Leiber, brannte noch immer lichterloh und auf dem Feld vor dem Farmhaus waren weitere Leichenfresser zu erkennen. Wade zählte fünfzehn oder zwanzig von ihnen, die durch das Maisfeld auf die Wiese vor dem Haus zustrebten.

Als der Laster, gefolgt von dem Polizeiwagen mit Wade am Steuer und den beiden Mädchen, die auf dem Rücksitz durchgeschüttelt wurden, die Straße erreichte, sahen sie noch mehr von den Kreaturen. Auf der Ladefläche des Lasters rutschte Billy wie wild herum und wurde gegen zwei spitze, kantige Stromgeneratoren geschleudert. Carter drückte aufs Gas, biß die Zähne zusammen und rammte den ersten Leichenfresser auf der Straße. Dann noch einen und noch einen. Der Aufprall war jedesmal sehr laut, weil die lebendigen Toten, die im Licht der Scheinwerfer über die Straße stolperten, mit hoher Geschwindigkeit getroffen wurden. Aber sie standen wieder auf, langsam und ein bißchen benommen, aber einer nach dem andern kam wieder auf die Füße, nachdem er von dem Laster umgefahren worden war. Wade blieb mit dem Polizeiwagen dicht hinter dem Laster. Er umklammerte das Lenkrad so krampfhaft, daß seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Ann und Sue Ellen, noch immer an den Händen gefesselt, kauerten auf dem Rücksitz und unterdrückten ihre Schreie, doch in ihren Gesichtern stand nackte Angst.

Vom Lastwagen aus schoß Flack weiter. Er hatte Mühe, auf dem holpernden Fahrzeug, geblendet vom Scheinwerfer des folgenden Polizeiwagens, präzise zu zielen. Der Laster schleuderte mit quietschenden Reifen um eine enge Kurve und Flack und Billy wurden gegen die Generatoren geworfen. Flacks Gewehr stieß dabei ungewollt in Billys Rippen. Der Junge schrie hilflos, Flack fluchte und hielt sich an der Seitenplanke fest, um sich wieder aufzurichten. Die Straße führte jetzt geradeaus, und noch mehr Leichenfresser tauchten auf.

Der Polizeiwagen, der vor der Kurve, die vom Laster so gefährlich genommen worden war, die Geschwindigkeit gedrosselt hatte, war dadurch um etwa dreißig Meter zurückgefallen.

Der Laster rammte einen der Humanoiden, der nach vorn geschleudert wurde und dann auf der Fahrbahn landete. Mit dumpfem Krachen wurde er von zwei Rädern überrollt. Wade sah das tote Ding mit zerschmettertem Schädel auf der Straße liegen und fuhr ebenfalls darüber, da er nicht mehr ausweichen konnte. Aber er hatte abgebremst, und die Entfernung zu dem Laster war noch größer geworden.

Durch den Rückspiegel sah Carter, daß Wade zurückgeblieben war. Er stoppte und fuhr zurück. Dabei überrollte er weitere Leichenfresser, von denen einige gerade dabei waren, sich wieder aufzurappeln, nachdem sie eben überfahren worden waren. Mit angstgeweiteten Augen brachte Wade den Wagen quietschend zum Stehen. Beide Fahrzeuge standen nun auf der Straße, und neun oder zehn Leichenfresser drängten heran. Carter kurbelte das Seitenfenter herunter und feuerte auf einen herannahenden Humanoiden. Er traf ihn zwischen den Augen und schoß ihm glattweg durch den Schädel hindurch. Die Wucht des Schusses schleuderte das tote Ding in den Straßengraben. Carter streckte den Kopf durchs Fenster. »Gebt den Saukerlen was zum Fressen!« brüllte er. Auf dem Rücksitz des Streifenwagens schrien Ann und Sue Ellen auf, als sie sahen, wie Flack die Ladeklappe des Lasters runterklappte und Billy mit dem Fuß hinunterstieß. Billy, an Händen und Füßen gefesselt, rutschte über die Ladefläche, ohne sich irgendwo festhalten zu können. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte er einen Fuß an einem der Generatoren einhaken, so daß es aussah, als ob er nicht abstürzen würde, doch Flack bemerkte es und gab ihm einen weiteren Tritt. Die Mädchen mußten mit ansehen, wie der Generator gleichzeitig mit Billy auf die Straße stürzte.

Als Carter den Aufprall auf der Fahrbahn hörte, gab er Gas und jagte los, so daß Flack beinahe kopfüber vom Wagen gefallen wäre. Er klammerte sich an der Seitenplanke fest und brüllte: »Der Generator! Halt an! Wir haben den Generator verloren!«

Flacks Stimme ging im Dröhnen des Lastwagenmotors unter und Carter fuhr weiter. Auch Wade war nicht bereit, anzuhalten. Er steuerte den Wagen über den Seitenstreifen, um Billy und dem Generator auszuweichen, während die Leichenfresser herandrängten.

Fünf oder sechs Humanoide beugten sich über Billy, der bewußtlos auf der Fahrbahn lag. Einige dieser Kreaturen waren von dem Laster gerammt oder überrollt worden und sahen grotesk verunstaltet aus, noch blutiger und gräßlicher als vorher. Dem einen war der Brustkasten auf einer Seite plattgedrückt worden, und gesplitterte Rippen ragten durch die Haut und die zerfetzte Kleidung. Einem anderen war das Fleisch vom Gesicht geraspelt worden, als er über den Kies der Straße gerutscht war; seine Nase war fast vollständig abgerissen und seine weißen Backenknochen waren zu sehen, wo sie nicht mehr von toter Haut bedeckt wurden. Einem Dritten fehlte ein Bein und er schleppte sich langsam zu der Stelle, wo Billy hilflos mitten auf der Fahrbahn lag. Glücklicherweise fühlte Billy keinen Schmerz, als der erste Leichenfresser über ihn herfiel und seine toten Zähne in das weiche Fleisch seiner Kehle grub. Sein Blut begann zu fließen. Angelockt von dem Geruch frischen, warmen Bluts kamen auch die anderen toten Kreaturen herbei, um ihren Hunger zu stillen. Billy war sehr bald tot und wurde in Stücke gerissen. Der Laster und der Polizei wagen jagten davon. Auf dem Rücksitz schluchzten und weinten Ann und Sue Ellen, hilflos und von Grauen und Kummer geschüttelt, für die es keinen Trost gab. Es war ihnen unwichtig, ob sie leben oder sterben mußten, und sie wußten, daß sie wahrscheinlich nicht am Leben bleiben würden.

An der Einmündung auf die Landstraße blieben die beiden Fahrzeuge stehen. Wade holte Stofflappen von der Ladefläche des Lasters und verstopfte den beiden Mädchen damit die Münder. Flack sprang von der Ladefläche und machte die Ladeklappe wieder fest. Dann stieg er neben Carter auf den Beifahrersitz.

»Auf zu den Kingsleys«, rief Carter und bog nach rechts auf die Landstraße ein. Flack grinste zustimmend. Carter beschleunigte den Laster. Der Polizeiwagen folgte dicht dahinter.

Im Wohnzimmer des Millerschen Farmhauses lagen zwei Beamte der Staatspolizei auf dem Fußboden, der eine gefesselt und mit verstopftem Mund, der andere mit einer Schußwunde auf der rechten Seite direkt unter dem Brustkasten. Der Verwundete lag völlig reglos da und Blut tropfte aus dem Loch in seinem Leib. Die Beamten Carl Martinelli und Dave Benton waren von John Carter und seiner Plündererbande überwältigt worden, nachdem das Mädchen Angel sie in einen Hinterhalt gelockt hatte. Sie hatte ihnen überzeugend vorgespielt, ihr Bruder sei von mehreren der humanoiden Kreaturen angegriffen und schwer verletzt worden. Die Staatspolizisten Benton und Martinelli fürchteten, der Bruder würde sterben, und glaubten, das Mädchen würde Hilfe brauchen, um gegebenenfalls die Leiche unschädlich zu machen, und waren mit Angel in dem Polizeiwagen zu einem einsamen Farmhaus gefahren, wo Carter, Flack und Wade sie überrumpelten und gefangennahmen. Sie wurden gezwungen, mit Carter und Connely die Kleider zu tauschen. Sie wurden gefesselt und geknebelt, während die beiden Verbrecher sich als Staatspolizisten verkleideten. Die Bande hatte die Bewohner des Farmhauses getötet und sämtliche Wertgegenstände mitgehen lassen.

Ohne den Blick von seinem reglos daliegenden Kollegen zu wenden, versuchte Dave Benton, sich zu befreien. Er bemühte sich, die Strippen, die seine Handgelenke fesselten, zu dehnen und zu lockern, weil er hoffte, sie dann abstreifen zu können, aber sie waren so fest angezogen worden, dass seine Handgelenke schmerzten und es unmöglich schien, sich ihrer auf diese Weise zu entledigen. Er hielt mit seinen Bemühungen abrupt inne, zwang sich, ruhig und vernünftig nachzudenken, und ließ seine Augen auf der Suche nach etwas, das ihm nützen könnte, durch den Raum wandern. Die Wohnzimmertür war geschlossen, aber nicht verriegelt. John Carter hatte es so eingerichtet, weil er hoffte, es würde die Kreaturen draußen ein wenig länger fernhalten und den Opfern drinnen ein ironischeres Schicksal bereiten. Durch die Spalten zwischen den Brettern vor den Fenstern konnte Dave Benton sehen, daß das Feuer im Vorgarten noch immer brannte. Er vermutete, daß es die Fleischfresser bislang gehindert hatte, einen konzertierten Angriff auf das Haus zu unternehmen. Dave war sich sicher, daß der Angriff stattfinden würde, es war nur eine Frage der Zeit - die Zeit, die es brauchte, bis die toten Kreaturen hungrig genug wurden oder bis das Feuer niedergebrannt war und die Kreaturen ihre Angst verloren. Dave wußte nicht, daß einige der lebendigen Toten ihren Appetit zeitweilig an dem Fleisch des Jungen Billy gestillt hatten, der vom Lastwagen gestoßen worden war, um die Leichenfresser zu beschäftigen, während Carter und seine Bande sich in Sicherheit brachten.

Dave mußte sich irgendwie befreien, damit er die Tür wieder mit den Balken verrammeln und die Wunde seines Kollegen versorgen konnte, ehe das Schlimmste eintraf. Er hoffte, daß sein Kollege nicht sterben würde. Er hatte Erfahrung mit Schußwunden, der Blutverlust schien nicht allzu groß zu sein, und wenn keine lebenswichtigen Organe getroffen waren, konnte Erste Hilfe einiges bringen und Carl konnte in ein Krankenhaus geschafft werden. Ein Schauder durchzuckte Dave, als er sich vorstellte, was passieren würde, wenn er sich nicht befreien könnte, Carl sterben und als einer der hungrigen Leichenfresser wieder aufwachen würde. Dave wußte auch nicht von der Gefahr, die in Bert Millers Schlafzimmer lauerte. Er ahnte, daß Angel etwas zugestoßen war, aber er hatte keine Ahnung, was.

Er konnte in dem Zimmer nichts entdecken, das scharf genug gewesen wäre, die Fesseln durchzuschneiden. Über dem Kamin hing ein Spiegel und Dave überlegte, wie er ihn zerbrechen könnte. Vielleicht konnte er auf die Füße kommen und den Spiegel mit irgendeinem schweren Gegenstand treffen. Nein, das schien nicht machbar. Der Spiegel hing zu hoch und Daves Bewegungsfreiheit war zu eingeschränkt. Er dachte, er könnte vielleicht bis in die Küche robben und versuchen, ein Küchenmesser aus einer Schublade zu holen. In diesem Moment stöhnte Carl Martinelli und hob den Kopf. Dave starrte zu seinem Kollegen und wünschte, er könnte etwas zu ihm sagen.

Carl stöhnte noch einmal und faßte nach seiner Wunde, dann ließ er den Kopf wieder auf den Boden sinken. Dave war sehr erleichtert, daß sein Partner noch lebte und das Bewußtsein wiedererlangt hatte. Carl hatte die Augen geöffnet und atmete schwer, offenbar unter Schmerzen. Dave konnte nichts anderes tun als schauen. Er konnte nicht sprechen, der Knebel in seinem Mund saß zu fest. Aber er wußte, daß, wenn Carl noch nicht gestorben war und er seine Sinne noch beisammen hatte, Hoffnung bestand.

Carl blieb ein paar Sekunden lang still liegen, dann nahm er die blutverschmierte Hand von seiner Wunde und starrte sie an, als könne er daran ablesen, wie schlimm die Verletzung war. Dave wand sich auf dem Boden und gab Geräusche aus der Kehle von sich, um Carls Aufmerksamkeit zu wecken und ihm zu helfen, sich zu orientieren. Carl stützte sich auf einen Ellenbogen und richtete sich unter Qualen auf. Er starrte Dave, der sich am Boden wälzte, mit glasigem Blick an.

Dave riß seinen Kopf mehrfach in Richtung der unverrie-gelten Tür und gab kehlige Laute von sich. Carl schaute zwischen ihm und der Tür hin und her und begriff. Er rappelte sich auf und machte ein paar unsichere Schritte. Als er merkte, daß er nicht wieder umfiel, ging er langsam zur Tür und es gelang ihm, wie es Dave erschien, nach einer Ewigkeit, sie zu verrammeln. Dave sah zu und fühlte unendliche Erleichterung. Carl wandte sich von der Tür ab und tastete nach seiner Wunde. Dann knöpfte er sein Hemd auf, um sie anzuschauen. Dave gab wieder seine tiefen, kehligen Laute von sich und Carl begriff, daß er seinen Kollegen von den Fesseln befreien sollte. Der verwundete Mann hatte das Gefühl, er bewege sich im Zeitlupentempo.

»Das Miststück rappelt noch immer hier drin rum«, klagte Carl. »Tut höllisch weh. Ich vermute, es hat eine Rippe angeknackst.« Seine Stimme klang zunächst schwach und unsicher, wurde jedoch fester, als er sich hinkniete und anfing, Daves Fesseln zu lösen. »Mein Kopf schmerzt entsetzlich. Bin wahrscheinlich ziemlich heftig aufgeschlagen. Ich glaube, ich komme wieder auf die Beine.« Das Sprechen schien ihm gutzutun und ihm zu beweisen, daß er noch am Leben war. Carl entfernte die Fesseln an Daves Händen und wartete, daß Dave sich selbst den Knebel aus dem Mund nahm und seine Füße befreite. Dave stand auf und rieb sich seine schmerzenden Handgelenke.

»Setz dich hin«, forderte Dave ihn auf. »Leg dich da auf das Sofa. Wir müssen irgendwas finden, womit wir einen Verband machen können. Junge, bin ich froh, daß du da bist!« Carl tat, wie ihm geheißen. Dave half ihm, sich auf das Sofa zu legen. Carl stöhnte. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. »Diese verfluchten Schweinehunde!« schimpfte er. »Ein schwereres Geschoß hätte mich mit Sicherheit erledigt. Ich werde diese Hurensöhne erwischen, und wenn's das letzte ist, was ich noch tun kann.«

»Ich glaube, er hat mit dem Zweiunddreißiger auf dich geschossen«, vermutete Dave und seine Stimme verklang, als er um die Ecke ging und in der Küche verschwand. Er fühlte sich unbehaglich wegen des oberen Stockwerks und hatte vor, sich zu bewaffnen, ehe er nach oben ging. Er durchwühlte eine Schublade im Küchenschrank und fand ein schweres Metzgerbeil und zwei lange Messer. Er nahm sie heraus und legte sie auf den Küchentisch. Dann entdeckte er unter dem Schrank eine Werkzeugkiste und einen Jutesack. Der Sack war mit schweren Eisenbolzen gefüllt. Dave öffnete die Werkzeugkiste und wählte einen schweren Hammer aus, der eine handliche Waffe abgeben würde.

Carl richtete sich auf einen Ellenbogen gestützt auf, als Dave ins Wohnzimmer zurückkam. Dave gab ihm eines der Messer, damit er nicht ohne jeglichen Schutz wäre. Dann stieg Dave, in einer Hand das Metzgerbeil, in der anderen den Hammer, langsam und leise die Treppe hinauf, nicht wissend, was ihn da oben erwartete.

Oben angekommen stand er im grellen Schein der Glühbirne und hielt inne. Die Tür zu einem dunklen Schlafzimmer stand einen Spalt breit offen. Mit dem Fuß stieß Dave sie weiter auf, die Waffen bereit. Das Licht der Flurbeleuchtung fiel in das Zimmer und Dave klopfte das Herz im Hals. Er entdeckte die Überreste von Angel, als sich das tote Ding, das sich an ihr gelabt hatte, mit blutverschmiertem Gesicht umwandte und auf ihn zukam. Dave rannte nicht davon, sondern schwang den Hammer mit all seiner Kraft. Er traf den Leichenfresser an der Stirn und schleuderte ihn zurück. Den Hammer schwingend warf sich Dave auf ihn und schlug gleichzeitig mit dem Beil auf ihn ein. Dessen scharfe Schneide riß einen Schlitz in seine Kehle, der Hammer traf ihn an der Brust, dann wieder auf dem Kopf, und die Kreatur ging zu Boden. Sie rührte sich nicht mehr, doch Dave beugte sich über sie und schmetterte den Hammer wieder und wie der auf ihren Schädel, bis er nur noch ein blutiger Klumpen war.

Dave schaltete das Licht ein und lief in die Küche, um die Eisenbolzen zu holen.

Dann rannte er ins Schlafzimmer zurück und rammte dem Leichenfresser einen der Bolzen in den Schädel. Er warf einen Blick auf Angel und fragte sich, ob genug von ihr übrig war, daß sie wieder aufleben würde. Um kein Risiko einzugehen, verfuhr er mit ihr in der gleichen Weise. Dann zog er sich aus dem Zimmer zurück, knipste das Licht aus und schloß die Tür hinter sich. Im Flur lehnte er sich schaudernd gegen die Wand. Aus dem Erdgeschoß war Carl Martinellis Stimme gequält, aber erstaunlich kräftig zu vernehmen: »Dave! Dave! Was ist da oben los?«

Angeschlagen und keuchend ging Dave bis zur Treppe, um zu antworten. »Alles in Ordnung!« rief er. »Eins von den Dingern war hier oben! Ich hab's erledigt!« Etwas leiser fügte er hinzu: »Das, welches Angel erwischt hat.«

Carl hörte ihn. Wortlos richtete er sich auf und starrte zur Treppe. Das Entsetzen über das, was ihnen hätte widerfahren können, schüttelte ihn. Er packte sein Messer und stellte fest, daß seine Hand kräftig genug war, es zu halten und zu seiner Verteidigung zu nutzen. Er hatte nicht so viel Blut verloren, daß er hilflos wäre. Er konnte sich verteidigen und würde überleben.

Im Obergeschoß vernahm Dave das Stöhnen des Mädchens Karen. Er ging bis zum Ende des Flurs zu ihrem Schlafzimmer. Sie lag schweißgebadet flach auf dem Rücken auf ihren durchgeschwitzten Laken. Sie schien der Verzweiflung nahe, aber sie schaute Dave an. Tränen rannen ihr über die Wangen. »Die Wehen kommen jetzt alle paar Minuten«, sagte sie. »Mein Baby kommt zur Welt. Helfen Sie mir bitte, wer immer Sie sind. Bitte!« Ihre Stimme klang schwach und erschöpft. Dave atmete langsam aus. Er hatte Mitleid mit ihr, doch traute er sich nicht zu, der Situation gewachsen zu sein. Alles, was er über Geburtshilfe wußte, hatte er in ein paar kurzen Geburtshilfekursen gelernt, die er mit seiner Frau besucht hatte, um sich auf die Geburt seines Sohnes vorzubereiten. Sein Sohn war jetzt zwei Jahre alt, und in der Zeit hatte Dave das Wenige, das er gewußt hatte, weitgehend vergessen. »Ich bin Polizist. Ein echter - keine Angst. Ich werde Ihnen helfen«, versprach er und bemühte sich, beruhigend und vertrauenerweckend zu klingen. »Können Sie mithelfen? « Karen nickte und sah Dave hoffnungsvoll an, ehe er die Treppe hinunterrannte.

In der Küche durchwühlte er einen Schrank und fand saubere, weiße Handtücher und Waschlappen und einen Stapel sauberer Laken. Er fand auch eine Flasche mit antiseptischer Flüssigkeit. Und einen Revolver und eine Schachtel mit Munition. Aufgeregt nahm er die Waffe in die Hand, stellte fest, daß sie geladen war, und steckte sie sich in den Gürtel. An einem Haken entdeckte er eine Cordjacke, probierte sie an, stellte fest, daß sie ihm paßte, und leerte die Munition aus der Schachtel in die Jackentaschen. Dann riß er eines der Laken in Streifen, um sie als Verband benutzen zu können. Als er damit fertig war, brachte er die Stoffstreifen und die Flasche mit antiseptischer Flüssigkeit ins Wohnzimmer und schaute Carl Martinelli an, der sich aufrichtete und sein zerrissenes, blutdurchtränktes Hemd auszuziehen begann. »Ich werde deine Wunde versorgen und verbinden«, erklärte Dave, »und dann wirst du mir helfen, ein Baby zur Welt zu holen.« »Mach keine Witze«, erwiderte Carl und zuckte stöhnend zusammen, als Dave das Desinfektionsmittel über die Wunde goß.

»Nein, im Ernst. Das Mädchen da oben liegt in den Wehen. Das Baby ist unterwegs.«

Draußen begannen die Flammen, die von dem Leichenstapel aufstiegen, kleiner zu werden.

Auf der Wiese vor dem Farmhaus brannten die Leichen noch immer. In der unheimlichen, vom Feuer aufgehellten Finsternis rückten die Leichenfresser langsam näher an das Haus, auf den Seiteneingang zu. Die Humanoiden hielten sich so weit wie möglich von dem Feuer fern und konzentrierten ihren Überfall auf die mit Brettern vernagelte Küchentür. Immer wieder blinzelte eine der Kreaturen zu dem Licht aus dem Schlafzimmer im Obergeschoß. Karens Schreie drangen über die Wiese zu den grotesken Fratzen der lebendigen Toten. Einige der Leichenfresser hatten sich mit Steinen bewaffnet, andere mit Ästen, die sie schwerfällig als Schläger benutzten. Es dauerte nicht lange, bis die Lampe über dem Eingang zerschlagen und die Fensterscheiben zersplittert waren. Tote Hände langten durch die Scherben und schlugen und trommelten gegen die Bretter, die Bert Miller dort angebracht hatte. Wenn die Glassplitter das tote Fleisch der Angreifer ritzten, blutete es nicht, und sie schienen sich aus diesen neuen Wunden nichts zu machen, auch wenn Nervenbahnen und Blutgefäße verletzt und zerschnitten wurden. Unter dem massiven Angriff begann die Verbarrikadierung nachzugeben.

Dave und Carl waren ebenso verängstigt wie das Mädchen, und sie arbeiteten fieberhaft, um ihr in einer ihnen völlig unvertrauten Situation Hilfe zu leisten. Sie wischten ihr das Gesicht mit kühlen Tüchern ab, ließen sie sich in ihrem Schmerz mit aller Kraft in ihre Arme krallen und hofften, daß Mutter Natur ihnen keinen Streich spielen und das Ganze so ablaufen würde, wie es sollte. Immer wieder wandten die beiden Männer den Blick von dem Mädchen und schauten einander an, weil sie hören konnten, wie die Küchentür allmählich zerschmettert wurde, und es doch noch nicht wagen durften, das Schlafzimmer zu verlassen. Als es so aussah, als könne Karen den Schmerz nicht länger ertragen, stieß sie einen gewaltigen Schrei aus, und ihr Sohn wurde in eine Welt von Alpträumen geboren.

Wie in Trance, so erschien es Carl, trennte Dave die Nabelschnur durch, trocknete den winzigen, schreienden Jungen mit einem sauberen Handtuch ab, und dann wickelten die beiden Männer ihn liebevoll ein. Soweit sie es beurteilen konnten, war das Baby gesund. Doch als sie sich zu Karen wandten, die nach der Geburt schwer, aber regelmäßig geatmet hatte, starrten ihre glasigen Augen an die Decke, und ihr Mund stand wie vor Überraschung halb offen.

Dave legte das Baby ans Fußende des Bettes und strich der jungen Mutter mit der Hand übers Gesicht, so daß sie aussah, als schliefe sie. »Armes Ding, ich hatte wirklich gehofft, sie würde es schaffen«, flüsterte er.

»Wir haben unser Bestes getan«, stellte Carl fest. »Aber was machen wir nun ? « Er schaute erst das Baby an und dann Karen. Sie wirkte eigentlich recht friedlich in ihrem Tod, als habe das Geben von Leben das Sterben süßer gemacht. Das Hämmern der Leichenfresser an der Küchentür wurde immer heftiger und immer beängstigender. Das Röcheln und Trommeln der Kreaturen schallte durch das ganze Haus. »Wir müssen sehen, daß wir hier rauskommen.« sagte Dave. »Diese Dinger brechen die Tür auf.«

Carl blickte zu Karen hinüber. »Müssen wir uns nicht um sie kümmern?«

Dave gab ihm das Baby in den Arm. »Ich mach' das«, erklärte er sich bereit. »Aber nimm das Baby mit nach unten.« Carl verließ das Zimmer und Dave beugte sich mit einem Eisenbolzen und dem Hammer über die tote Mutter. Mit verzerrtem Gesicht hob er den Hammer. Das Geräusch von Metall auf Metall schallte durch den Raum. Der Eisenbolzen krachte durch Karens Schädel und wurde tiefer hineingetrie -ben. Dann fiel Dave der Hammer aus der Hand, und er ließ sich mit weichen Knien gegen die Wand fallen. Sobald er sich einigermaßen gefaßt hatte, rannte er hinaus. Er fiel fast die Treppe hinunter, fing sich aber wieder und blieb auf dem Treppenabsatz wie angewurzelt stehen. Mit lautem Splittern brach die Küchentür auf und die Leichenfresser drängten herein.

Dave feuerte einmal, zweimal den Revolver ab. Einer ging zu Boden, der zweite schwankte an der Brust getroffen, stolperte und stürzte über den ersten. Der Geruch von Schießpulver mischte sich mit dem Gestank fauligen Fleisches, als der angeschossene Leichenfresser strampelte und versuchte, wieder auf die Füße zu kommen. Dave bückte sich nach der Werkzeugkiste und fand eine Taschenlampe. Carl nahm die Balken von der Wohnzimmertür und stand da mit einem Metzgerbeil in der Hand und dem Baby unter dem Arm. Dave nahm ihm das Neugeborene ab und gab ihm die Taschenlampe. »Schaffst du's?« fragte Dave, als die beiden Männer die Flucht aus dem belagerten Haus wagten, trotz der Last des Neugeborenen und trotz der Ungewißheit über Carls Verwundung. Carl biß die Zähne zusammen und nickte Dave zu, er sei bereit, es zu versuchen.

Vorsichtig öffneten sie die Tür. Der Vorgarten wirkte leer. Dave und Carl stürzten hinaus auf die Wiese. Im Schein der Taschenlampe hasteten sie an den Überresten gefallener und verbrannter Leichen vorbei durch den Garten zu der Schotterstraße. Sie entschieden sich für eine Richtung und rannten weiter, da die Leichenfresser sich im Augenblick alle für den Angriff auf das Haus zusammengerottet hatten. Carl leuchtete die Straße entlang und entdeckte einen Haufen von Kabeln und Maschinenteilen. Keuchend und unter Schmerzen von seiner Schußwunde blieb er stehen und richtete das Licht seiner Lampe auf seine Entdeckung. »Ein Stromgenerator!« rief Dave. »Muß von dem Laster gefallen sein!« »Ich glaube, ich kann an einem Ende mit anfassen«, sagte Carl. »Da oben die Baumgruppe - laß uns versuchen, ihn da raufzuschaffen!«

Sie schleppten den Generator und die Kabel gleichzeitig mit dem Neugeborenen und den Waffen. Carl fiel es schwer; seine Wunde schmerzte höllisch, doch er nahm alle seine Kraft zusammen, und die Furcht vor dem, was ihnen zustoßen könnte, machte ihn stärker.

Im schwankenden Strahl der Taschenlampe tauchten plötzlich zwei Leichenfresser auf. Dave ließ den Generator los und ging auf die Leichenfresser zu, während Carl die Taschenlampe auf sie gerichtet hielt. Die lebendigen Toten kamen näher, doch das Licht verwirrte und blendete sie und machte ihre bleichen Gesichter, gefangen in dem Lichtstrahl, zu leichten Zielscheiben. Dave traf einen nach dem anderen mit präzise gezielten Schüssen und sah zu, wie sie zu Boden gingen. Die beiden Männer setzten stolpernd und mühsam ihren Aufstieg durch hohes Gras und Gestrüpp den steilen Hang hinauf fort. Carl hielt durch, doch als sie oben angekommen waren, brach er zusammen. Sie hatten Zuflucht unter einer Baumgruppe ungefähr siebzig Meter von der Straße entfernt gefunden. Carl lag erschöpft und schwer atmend gegen einen Baumstamm gelehnt zu Boden. Dave legte das Baby ins weiche Gras daneben und reichte Carl den Revolver. Während Carl mit der Taschenlampe leuchtete, machte Dave sich ans Werk. Er führte die Kabel des Generators durch das Gestrüpp und befestigte sie an niedrig hängenden Baumästen, so daß sie einen Bereich von ungefähr hundert Quadratmetern umschlossen. Sobald der Generator lief, würden die Kabel elektrisch geladen sein und innerhalb des Areals wären Carl, Dave und das Baby einigermaßen sicher. Dave arbeitete in wilder Hast weiter. Carl kam langsam wieder zu Atem und die Schmerzen in seiner Wunde ließen ein wenig nach. Er nahm das Baby auf den Arm, sorgte dafür, daß es schön warm in seine Handtücher gewickelt war, und wiegte es ein bißchen.

Carl fuhr fort, den Strahl der Taschenlampe durch das Blätterwerk tanzen zu lassen und auf mögliche Gefahren zu achten. Zweimal tauchten die grausigen, bleichen Fratzen von Humanoiden im Schein der Lampe auf, und Dave mußte seine Arbeit mit den Kabeln unterbrechen. Dann warteten die beiden Männer, bis die Leichenfresser nahe genug herangekommen waren, damit Carl sie abschießen konnte. Carl lud den Revolver wieder nach, während Dave mit dem Metzgerbeil und einem Messer Wache hielt. Dann startete Dave den Generator, indem er an einer Strippe zog, wie man sie an Rasenmähern findet, bis der benzingetriebene Motor ansprang. Er lief schnurrend und gleichmäßig. Dave nahm die Taschenlampe und schraubte den Tankdeckel auf. Erleichtert fand er den Tank randvoll. Dann kauerten sich die beiden Männer mit dem Baby in der Mitte der elektrifizierten Zone zusammen.

»Wie geht es dir?« fragte Dave, atmete tief und rastete ein wenig - doch er ließ seinen Blick ununterbrochen über die umliegenden dunklen Sträucher wandern.

»Okay«, erwiderte Carl. »Ich komme durch. Mein Verband ist ein bißchen durchgefeuchtet..., aber ich blute nicht allzu stark. Das Baby ist wahrscheinlich zu Tode verängstigt.«

»Ich fürchte eher, daß es verhungern wird. Hör zu, der Draht ist in jeder Richtung ungefähr fünf Meter entfernt, also bleib hier.«

Plötzlich war ein Aufblitzen zu sehen und ein knisterndes Aufflammen, als ein Leichenfresser mit dem Draht in Berührung gekommen war. Einen Augenblick lang konnte man seine Umrisse in dem grellen Licht erkennen, dann rannte er brennend und schreiend in die Nacht. Der Leichenfresser stolperte und stürzte zu Boden, sein Atem röchelte aus den toten Lungen, Flammen und Funken sprangen von seiner brennenden Kleidung.

Danach lag der Wald für eine Weile in tiefem Schweigen, nur das Zirpen der Grillen war zu hören.

»Wir können die Nacht hier verbringen«, überlegte Dave. »Aber das Baby muß versorgt und gefüttert werden. Sobald es hell wird, müssen wir versuchen, Leute zu finden. Vielleicht können wir dich und das Baby in das Krankenhaus in Willard schaffen. Es ist nicht allzu weit weg.«

»Ich werde durchkommen«, war Carl überzeugt. »Wenn das Schwein irgendwas Lebenswichtiges getroffen hätte, dann wäre ich inzwischen schon tot. Ich hoffe nur, daß sich nichts entzündet.«

»Ich wünschte, wir könnten was sehen«, bedauerte Dave. »Wir hätten das Haus nach ein paar Kerzen durchstöbern sollen.« »Wir müssen sparsam sein mit der Taschenlampenbatterie«, mahnte Carl, aber er schaltete sie dennoch ein und leuchtete in Richtung des Babys, darauf achtend, den Strahl daneben zu richten.

»Es schläft noch immer«, stellte Dave fest. »Erstaunlich nach allem, was es durchgemacht hat.«

»Vielleicht ist es krank«, überlegte Carl. »Ist es normal, daß ein Neugeborenes so tief schläft?«

In dem Moment war ein Rascheln zu hören. Etwas bewegte sich durchs Unterholz. Carl ließ den Schein der Taschenlampe suchend herumgleiten. Der Strahl traf zwei Leichenfresser, deren weiße Gesichter grell vor dem Hintergrund tiefer Schatten und dunklen Blätterwerks hervortraten. Eines der beiden toten Dinger war einmal eine Frau gewesen, die eines natürlichen Todes gestorben sein mußte, da sie keine erkennbaren Wunden aufwies. Aber ihr Kleid war teilweise fortgerissen und man sah ein lebloses weißes Bein und eine harte, blutleere, flache Brust. Carl lenkte den Lichtstrahl von den beiden Kreaturen weg und ließ sie näher kommen. Er vernahm das Rascheln im Laub und das qualvolle Pfeifen ihrer toten Lungen. Dann kamen sie mit dem Kabel in Berührung. Ihre Haut mußte um einiges trockener sein als die des Leichenfressers, der zuvor gegen den Draht gestoßen war, denn diese beiden gingen mit lautem elektrischen Knistern und einem wilden Funkenregen im Nu in Flammen auf. Die Frau bot ein furchterregendes Bild, als sie mit lichterloh brennendem Haar davonrannte, zu Fall kam und wie eine Fackel den grasbewachsenen Abhang hinunterrollte. Ihr Gefährte war ins Unterholz gestürzt und brannte dort weiter. Helle Flammen stiegen von seinem toten Fleisch auf, leuchteten tief orangefarben und warfen flackernde Schatten zwischen die Bäume.

Dave und Carl sahen einander an. Ihre Gesichter wurden von dem Schein des Feuers gespenstisch beleuchtet. Carl schaltete die Taschenlampe aus. »Wie lange wird der Generator laufen?« fragte er. »Haben wir genug Sprit, um durch die Nacht zu kommen? «

Dave überlegte einen Augenblick und stellte fest, daß er darauf nicht zu antworten wußte. Er begab sich zum Generator und betrachtete den Motor und den Benzintank im Strahl der Taschenlampe. Er suchte nach einer Gebrauchsanweisung, fand aber keine. Dann verglich er den Tank mit seinem Rasenmäher zu Hause und versuchte gleichzeitig, die beiden Motoren gegeneinander abzuwägen. Der Generator war um einiges größer, in beiderlei Hinsicht. Dave schaltete die Taschenlampe aus und ging zu Carl und dem Baby zurück. »Es müßte bis zum Morgen reichen «, erklärte er. Aber er war sich seiner Sache durchaus nicht sicher.

Carl schaute zu Dave, obwohl er sein Gesicht in der Finsternis nicht zu sehen vermochte. Dann wandte er seinen Blick auf das Neugeborene, tätschelte es und sagte leise: »Durchhalten, Kumpel.«

Der Motor des Generators summte weiter. Nach einer kleinen Weile schliefen die beiden Männer, trotz ihrer Entschlossenheit, die Umgebung nach Anzeichen von Gefahr nicht aus den Augen zu lassen, völlig erschöpft ein.

Als der Morgen graute, lief der Generator noch immer, und sein Rasenmähersummen füllte den umliegenden Wald. Dave, Carl und das Baby schliefen, das Baby an Daves ruhig atmenden Körper gekuschelt. Sie lagen im Schutz der vom Generator mit Strom gespeisten Drähte unter den Bäumen. Wenige Meter außerhalb des drahtumzäunten Geländes lag der reglose, verkohlte Körper eines Leichenfressers. Dünne Rauchfahnen stiegen noch immer von seinen verglühten Resten auf. Auf dem grasbewachsenen Hügel waren die verbrannten Überbleibsel von zwei weiteren Leichenfressern zu sehen.

Der Motor des Generators begann plötzlich zu stottern. Carl stöhnte fiebrig in seinem Schlaf. Der Motor fing wieder an, regelmäßig zu laufen, als habe ihn nur eine Luftblase in der Benzinzufuhr einen Takt aussetzen lassen. Das Baby regte sich leicht. Es lag noch immer an Dave geschmiegt. Daves Hand hielt den Revolver locker umfaßt, Carl war das Beil in das taunasse Gras entglitten. Die Morgenluft war feucht und ein leichter Nebel schwebte über der Landschaft, den die aufgehende Sonne noch nicht hatte auftrocknen können.

Der Motor stotterte wieder und blieb dann stehen. Das Vogelzwitschern und die leiseren Geräusche des Waldes traten nach dem Stillschweigen des Motors erschreckend in den Vordergrund.

Die beiden Männer und das Baby schliefen weiter. Im Schlaf waren sie nun schutzlos, und leise Schritte näherten sich vorsichtig durch das hohe Gras und erreichten die Baumgruppe. Wer immer sich da heranschlich, war von dem Geräusch des Generators angelockt worden, der nun zum Stillstand gekommen war.

Dave schlief. Müdigkeit und Furcht waren in sein Gesicht gegraben, während er den tiefen Schlaf der Erschöpfung schlief und Träume von seiner Frau und seinem Kind durch sein Bewußtsein wehten. Er war kein schöner Mann, aber seine Züge verrieten Stärke und Charakter. Sein kurzes, blondes Haar war zerzaust und glanzlos, auf der Stirn hatte er eine Schramme und sein Gesicht war mit Dreck verschmiert. Er war mit Jeans und einem Flanellhemd bekleidet, die John Carter gehört hatten, während Carl ähnliche Kleidung trug, die von Connely stammte.

Carl schlief fest, aber es war kein guter Schlaf. Er stöhnte oft und wälzte sich im Fieber, das von seiner Verwundung ausgelöst wurde. Obgleich der Morgen feucht und kühl war, hatte er Schweißperlen im Gesicht und sein gewelltes Haar klebte an seiner Stirn. Seine sonst gerötete Gesichtsfarbe war sehr blaß. Die Wunde machte die Muskeln der ganzen Körperhälfte steif und schmerzend, so daß es ihm selbst im Schlaf bewußt war, auch wenn es ihn nicht aufweckte. Seine Erschöpfung trug dazu bei, die Schmerzen zu betäuben.

Die Schritte näherten sich so vorsichtig und leise wie möglich durch Laub und tote Äste unter den Bäumen. Sachte schob eine Hand einen tiefhängenden Zweig zur Seite, und das Gesicht eines Jungen tauchte auf. Es war schmutzig und sonnengebräunt, mit wachen, wachsamen Augen, dem Ausdruck von jemandem, der gewöhnt ist, im Wald zu leben. Der Junge ließ seinen Blick über den leergelaufenen Generator und die Drähte wandern und musterte dann die beiden schlafenden Männer und das Baby in der Mitte des umzäunten Gebiets. Dann machte er einen entschlossenen Schritt nach vorn und hob dabei den Arm mit einer Geste, die Ruhe befahl. Er trug einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen, ein Jagdmesser steckte in seinem Gürtel. Noch mehr Jungen tauchten auf, allesamt bewaffnet. Die einen hatten Pfeil und Bogen, andere Messer oder Gewehre. Leise kamen sie aus dem Wald geschlichen und umzingelten Dave, Carl und das Neugeborene.

Der erste Junge, der Anführer, duckte sich unter dem nutzlos gewordenen Generatorkabel hindurch, ging leise und schnell zu Dave und trat mit dem Fuß auf sein Handgelenk, damit er den Revolver nicht benutzen konnte. Die anderen rückten näher und hielten ihre Waffen einsatzbereit. Carl schreckte aus dem Schlaf und versuchte, sich aufzurichten, aber die Überraschung und die Schmerzen ließen ihn wieder auf den Boden zurücksacken. Über Nacht hatte sich die Steifheit seiner Muskeln verschlimmert und er starrte die Neuankömmlinge an und wurde sich gleichzeitig bewußt, daß er Fieber hatte und daß seine Wunde vermutlich entzündet war.

»Wer seid ihr? « fragte Dave den Anführer, nachdem er zu sich gekommen war und erkannt hatte, daß sie umzingelt waren. Er war sich über die Bedrohlichkeit der Lage, in der sie sich befanden, nicht ganz im klaren, und er hatte einen Rest Hoffnung, daß sie sich irgendwie zum Guten wenden würde, wenn er seine Karten in der richtigen Weise ausspielte. Die Hoffnung beruhte auf der Tatsache, daß sie schließlich von Jungen zwischen etwa dreizehn und achtzehn Jahren umstellt waren. Es waren ungefähr ein Dutzend von ihnen. Einer der Jungen bückte sich und hob Daves Revolver auf. Er streichelte ihn, sichtlich erfreut über die Errungenschaft. Dann klappte er den Zylinder heraus und stellte fest, daß der Revolver geladen war.

»Das ist meine Waffe«, protestierte Carl. »Und wir brauchen sie, um uns und das Baby zu schützen. Leg sie wieder auf den Boden.«

» Halt die Fresse!« gebot der Anführer leise, aber mit Autorität und Macht.

»Ich hätte gern ein bißchen mehr Munition dafür«, verlangte der Junge mit dem Revolver selbstgefällig.

»Durchsucht sie«, befahl der Anführer der Bande.

Carl raffte sich unter Qualen auf die Füße. Er wollte nicht am Boden herumgerollt werden. Gehorsam hob er die Hände über den Kopf und spreizte die Beine. Die Jungen durchsuchten ihn schnell und geübt und nahmen das lange Messer und das Metzgerbeil, das neben ihm am Boden gelegen hatte. Er war weder im Besitz einer Brieftasche noch einer Uhr noch hatte er Geld. Sämtliche Wertgegenstände waren ihn von John Carters Bande schon am Vortag abgenommen worden. Dave legte das Baby sanft auf den Boden und stand ebenfalls auf. Er hob die Hände über den Kopf und ließ zu, daß seine Taschen umgestülpt wurden. Ihm nahmen die Jungen die Taschenlampe, den Revolver und die Munition, die in den Taschen seiner Jacke steckte, ab. Dann bückte sich Dave und nahm das Baby auf den Arm. Es wachte auf und fing an zu schreien.

Die Bande, enttäuscht, kein Geld gefunden zu haben, fing an, zu murren.

»Wir haben nichts«, beteuerte Carl, dem das Sprechen schwerfiel. »Wir sind schon ausgeplündert worden.« Er überlegte, ob es ratsam sei, den Jungen zu sagen, daß sie Polizisten waren, entschied aber, daß das ihre Chancen nicht vergrößern würde. Er war überzeugt, es hätte eher sogar den gegenteiligen Effekt, falls die Jungen während dieser gesetzlosen Zeiten irgendwelche Verbrechen begangen hatten. Das Baby schrie noch immer. Dave drückte es an sich und wiegte es. Er sah den Anführer an, weil er hoffte, die Feindseligkeit der Bande beruhe auf Angst und es bestehe vielleicht eine Möglichkeit, gemeinsam aus der Sache herauszukommen, indem sie einander halfen. »Das Baby hat Hunger«, erklärte Dave schließlich, als er nichts als Haß in den Augen des Jungen gesehen hatte.

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