KAPITEL ZWEI VERLORENE UNSCHULD

Sie nannten sie Shannons Welt, weil sie sein Traum und seine Vision war. Er hatte sich bis an den Rand des Bankrotts ver-schuldet, um diesen Traum zu verwirklichen, doch das Resultat war ein Vergnügungsplanet, der seinesgleichen suchte. Shannons Welt war reserviert für die Superreichen, für die mit den extrem guten Beziehungen und die Aristokraten, und für sonst niemanden. Die Koordinaten waren geheim und nur den oberen Zehntausend bekannt. Der neugierige Rest, der sich ohne Einladung durch Bestechung oder Erpressung den Weg zur Oberfläche hinab bahnte, wurde von den modernsten Sicherheitssystemen und Waffen in Empfang genommen und ins Jenseits befördert. Auf Shannons Welt gingen Träume in Erfüllung. Die gesamte Welt war lebendig. Ein Vergnügungsplanet, wie es keinen zweiten gab, ein Planet, wo selbst die erschöpftesten Seelen Ruhe, Trost und Zerstreuung finden konnten.

Und dann geschah das Unvorstellbare.

Hinterher sagte sich Shannons Welt vom Imperium los und unterbrach jede Form von Kontakt. Besucher wurden vernichtet, während sie noch im Orbit kreisten, ganz gleich, wer oder was sie waren. Die Imperatorin entsandte ein Schiff. Es kehrte niemals zurück. Sie schickte einen Imperialen Sternenkreuzer, dem es gelang, eine volle Brigade Marineinfanteristen auf der Oberfläche abzusetzen. Irgend etwas brachte sie um. Also versuchte es die Eiserne Hexe damit, eine ganze Reihe verdeckt arbeitender Agenten einzuschmuggeln. Nur ein einziger Mann kehrte von jener Welt wieder zurück, die einst der berühmteste Vergnügungsplanet im Imperium gewesen war. Er war von oben bis unten mit dem Blut anderer besudelt und vollkommen wahnsinnig geworden. Sein Verstand hatte nicht ausgehalten, was seine Augen gesehen hatten. Er starb kurz nach seiner Rückkehr, weil er nicht mehr weiterleben wollte. Und bevor er starb, taufte er den Planeten noch um auf den Namen Hakeldamach: Der Blutacker des Judas.

Die Imperatorin Löwenstein stellte die Welt unter Quarantäne und stationierte einen Sternenkreuzer in einem entfernten Orbit, um sicherzustellen, daß, was auch immer dort unten lau-em mochte, nicht herauskommen konnte… und wandte sich anschließend anderen Dingen zu. Dank dem Verräter Owen Todtsteltzer und seiner wachsenden Anhängerschar hatte sie weitaus drängendere Probleme als einen Planeten, der plötzlich verrückt spielte. Und so hätten die Dinge auch bleiben können, wäre nicht ein gewisser Vincent Harker, das wichtigste strategische und militärische Gehirn des Imperiums, auf dem Planeten abgestürzt, der einst Shannons Welt geheißen hatte. In Harkers Kopf steckten Informationen, die sowohl für das Imperium als auch für die Rebellion lebenswichtig waren. Und so entsandte die Eiserne Hexe eine Kompanie ihrer Elitetruppen, um Harker zu retten.

Die Truppen meldeten sich nie zurück.

Danach waren die Rebellen am Zug.

Eine kleine Schar von Rebellen beobachtete angestrengt die Instrumentenkonsolen an Bord des hastig umgerüsteten Frachtschiffs Wilde Rose, und jeder von ihnen hoffte inbrünstig, daß das neue Tarnsystem der Hadenmänner all das hielt, was es versprach. Die planetaren Verteidigungseinrichtungen waren stark genug, um jeden Energieschirm zum Zusammenbruch zu bringen, der von schwächeren Generatoren als denen an Bord Imperialer Sternenkreuzer erzeugt wurde. Und das Frachtschiff besaß wirklich nur rudimentäre Schilde. Entweder gelang es den Rebellen mit Hilfe der Technologie der Hadenmänner, die Satelliten im Orbit an der Nase herumzuführen, oder sie würden nicht einmal lange genug leben, um zu bemerken, daß sie tot waren. Der Tarnmechanismus war ein klobiger Kasten, der hinter ihnen provisorisch am Boden festgenietet worden war.

Er bestand aus lauter scharfen Ecken und Kanten und unerwarteten Winkeln, und ständig leuchteten merkwürdige Lichter auf und erloschen wieder, ohne daß ein Grund dafür erkennbar gewesen wäre. Die Rebellen zogen es vor, den Apparat nicht näher in Augenschein zu nehmen. Allein die äußeren Umrisse taten ihnen in den Augen weh. Also starrten sie entschlossen auf die Instrumente und den großen Hauptschirm, auf dem der Planet langsam größer wurde: eine kalte, blaue und ziemlich unheimliche Kugel.

An Bord der Wilden Rose befand sich Finlay Feldglöck, der Aristokrat, der zu den Rebellen übergelaufen war, der kühne Kämpfer mit der kalten Seele, der einst der Maskierte Gladiator gewesen war, der unbesiegte Champion der berühmten Arena von Golgatha. An Finlays Seite stand seine große Liebe, Evangeline Shreck, Tochter aus hohem Hause, die viele Jahre lang mit dem Geheimnis hatte leben müssen, daß sie in Wirklichkeit ein Nichts war nur ein Klon, geschaffen, um die von ihrem eigenen Vater sexuell mißbrauchte und am Ende ermordete Tochter zu ersetzen. Auf der anderen Seite von Finlay stand Julian Skye, der abtrünnige Esper, den Finlay aus den Verhörzellen tief unter der Erde Golgathas befreit hatte. Skye war einst einer der mächtigsten Esper des Imperiums gewesen. Er war ein mutiger Rebell; doch die Zeit in den blutbesudelten Händen der Imperialen Hirntechs hatte ihn gebrochen und verletzt – vielleicht sogar so schwer, daß er sich nie wieder davon erholen würde. Und schließlich war da noch Giles Todtsteltzer, der legendäre Erste Todtsteltzer, der mehr als neunhundert Jahre in Stasis verbracht und nach seinem Erwachen ein Imperium vorgefunden hatte, das er kaum noch wiedererkannt hatte.

Allesamt waren sie Rebellen, Repräsentanten der Untergrundbewegung von Golgatha, und ihr Auftrag lautete, Vincent Harker zu finden, bevor das Imperium ihn zu fassen bekam.

Außerdem an Bord: Tobias Shreck und sein Kameramann Flynn. Die beiden waren unterwegs zu einer Story, die dunkler und fremdartiger war als alles, was die beiden je erlebt hatten.

Finlay stand vor der Instrumentenkonsole und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Warten war noch nie seine Stärke gewesen. Sein einziges Gebet hatte schon immer gelautet: Lieber Gott, bitte schick mich in Schlachten und Gefahren bis zum Hals. Einst war Finlay ein Meister der Mode gewesen, ein berüchtigter Stutzer und Dandy; doch das war nur eine Persona gewesen, die ihm dabei geholfen hatte, sein zweites Ich als Maskierter Gladiator und gefeierte Liebling der Arena zu tarnen. Jetzt war Finlay auf der Flucht vor genau der Gesellschaft, in der er sich früher so ungeniert bewegt hatte, nichts weiter als ein Rebell unter vielen und entbehrlich genug, um hinausgeschickt zu werden auf eine Mission, die viele als glatten Selbstmord betrachteten. Finlay war sechsundzwanzig Jahre alt, aber er wirkte zehn Jahre älter. Sein langes Haar war von einem derart blassen Blond, daß es fast farblos schien. Er trug es im Nacken zu einem praktischen Pferdeschwanz zusam-mengebunden und wirkte deswegen wie ein Söldner: kalt und gefährlich, aber im Grunde genommen gleichgültig gegenüber der Sache. Er hatte sich der Rebellion nur aus einem einzigen Grund angeschlossen: Nur auf diese Weise konnte er seine geliebte Evangeline beschützen. Finlay machte keinen Hehl aus seiner Abneigung gegenüber der Politik der Untergrundbewegung. Er war damit zufrieden, daß sie ihn mit Aufträgen überhäuften, bei denen er seinen Mut und sein Geschick im Umgang mit Waffen unter Beweis stellen konnte. Finlay Feldglöck war auf dem besten Weg, zur gefährlichsten aller Sorten von Männern zu werden: jener Sorte, die nichts mehr zu verlieren hatte. Allein Evangeline Shreck sorgte dafür, daß Finlay nicht wahnsinnig wurde und bei der Sache blieb, und beide wußten es.

Evangeline Shreck hatte die meiste Zeit ihres Lebens in Furcht verbracht. Furcht davor, als Klon enttarnt und für das unverzeihliche Verbrechen exekutiert zu werden, erfolgreich die Rolle der Aristokratin gespielt zu haben. Furcht vor der perversen Liebe ihres Vaters. Furcht vor dem ständigen Allein-sein . Und dann war sie Finlay begegnet, und zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie einen Grund gehabt weiterzuleben. Sie wußte nicht, was sie tun würde, sollte Finlay sterben. Im Gegensatz zu ihm fand sie keinen Geschmack an Gefahr und Aufregung. Aber sie war ein Klon und schon allein deswegen eine wütende Verfechterin der Sache der Rebellen. Und wenn die vielen Spannungen in ihrem Leben sie auch zu zerreißen drohten, so war das ganz allein ihre Angelegenheit. Evangeline war schlank und elfenhaft, und ihr militärischer Umhang schlacker-te lose um ihren Körper wie ein Zelt. Sie besaß große, dunkle Augen – die Sorte, in der ein Mann ertrinken konnte –, einen festen, entschlossenen Mund und die unverwechselbare Aura einer Person, die Schmerz, Entsetzen und Verzweiflung überlebt hatte und die nicht daran zerbrochen war – noch nicht.

Sie standen beisammen und betrachteten den großen hellen Planeten auf dem Hauptschirm. Nirgendwo ein Zeichen von Zivilisation, keinerlei Spuren, die auf die Anwesenheit von Menschen auf Shannons Welt hingedeutet hätten. Keine Städte, keine größeren Straßen , nichts, das groß genug gewesen wäre, um von den Sensoren der Wilden Rose erfaßt zu werden. Was auch immer dort unten lebte, es hielt sich versteckt und offen-barte sich nicht. Plötzlich seufzte Evangeline.

»Alles sieht so unschuldig aus«, sagte sie. »So unberührt.

Überhaupt nicht nach einem Blutacker. Was mag nur dort unten geschehen sein? Was ist so schrecklich, um einen Namen wie diesen zu rechtfertigen?«

Finlay lächelte schwach. »Irgend etwas, das machtvoll und gemein genug ist, um jeden bewaffneten Mann zu töten, den die Eiserne Hexe bis heute dort hinuntergeschickt hat. Und es gibt Gott weiß nicht viel im Universum, das einer ganzen Armee bewaffneter Marineinfanteristen widerstehen könnte. Ich liebe Herausforderungen.«

»Glaubst du… könnte es vielleicht so etwas wie das Gren-delwesen sein? Ich habe im Holo gesehen, was diese Kreatur am Hof angerichtet hat.«

»Unwahrscheinlich«, sagte Tobias von hinten. »Nach dem Desaster von Grendel wurde jeder Planet des Imperiums nach verborgenen Schläfergruften abgesucht. Nicht einmal eine Vergnügungswelt wie diese ist dabei ausgenommen worden.

Und falls irgend jemand weitere Schläfer gefunden hat – wie um alles in der Welt hätte er es geheimhalten sollen? Dafür gibt es im ganzen Imperium nicht genug Geld!«

»Mach dir keine Gedanken, Liebste«, sagte Finlay zu Evangeline. Er legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie an sich. »Was auch immer dort unten lauern mag, ich werde dich beschützen.«

»Warst du schon einmal hier?« fragte Evangeline. »Ich nicht.

Ich habe von Shannons Welt gehört und wollte dorthin; aber Vater hatte etwas dagegen, mich aus den Augen zu lassen.«

»Ich war schon fast überall«, antwortete Finlay, »aber auf Shannons Welt war ich auch noch nicht. Ich hatte immer zu viel zu tun. Außerdem klang es nicht nach der Sorte von Gegend, wo ich hingepaßt hätte. Viel zu friedlich. Ist das nicht eine Ironie? Die Welt sollte nach dem Willen ihres Besitzers der friedlichste, ungefährlichste und sicherste Ort im gesamten Imperium sein, und nun ist sie zu einem Alptraum geworden, der jetzt den Namen Blutacker trägt. Aber so ist das heutzutage eben in diesem Imperium. Nebenbei gefragt: Woher haben wir eigentlich die verdammten Koordinaten für diesen Planeten?

Ich dachte immer, sie wären streng geheim und würden nur an Leute weitergegeben, die tatsächlich im Begriff stehen, die Welt zu besuchen?«

»Die Koordinaten stammen von Valentin Wolf«, antwortete Evangeline mit sorgsam kontrollierter Stimme. »Bevor er uns verlassen hat, um die rechte Hand der Eisernen Hexe zu werden. Anscheinend war er schon einmal auf Shannons Welt. Hat ihm dort wohl nicht gefallen. Er meinte, wir sollten alles in die Luft jagen.«

»Der verfluchte Wolf«, brummte Finlay und schürzte die Lippen zu einem Zwischending aus Grinsen und Fauchen. »Ich muß ihn finden und ihm meinen persönlichen Dank erweisen.

Und wenn ich damit fertig bin, schneide ich ihm das Herz heraus und halte es in der Hand, bis es aufhört zu schlagen. Der Wolf hat meine Familie vernichtet. Er hat die Rebellion verraten und alles mit Füßen getreten, an das ich je geglaubt habe.«

»Werdet nicht unfair«, mischte sich Tobias Shreck mit der beiläufigen Lässigkeit des erfahrenen Journalisten in die Unterhaltung ein. »Wir reden hier immerhin von dem Valentin Wolf, der selbst an einem Hof noch durch seine Degeneration hervorsticht, wo die Widerlichen und Abstoßenden zum Nor-malfall geworden sind. Von dem Mann, der noch nie eine Droge ausprobiert hat, ohne daß sie ihm nicht auch gefallen hätte.

Eigentlich bin ich viel eher erstaunt, daß der Untergrund ihn überhaupt bei sich aufgenommen hat.«

»Er hatte Geld und Beziehungen«, erklärte Evangeline, »und das zu einer Zeit, wo wir beides dringend benötigten. Außerdem kam Valentin Wolf mit ausgezeichneten Empfehlungen daher.«

»Von wem?« fragte Tobias. »Von der Kaiserlichen Gilde der Pharmazeuten und Chemiker? Wenn man eine Viper an seiner Brust nährt, darf man sich nicht wundern, daß sie sich gegen einen wendet und beißt.«

»Ich werde ihn töten«, wiederholte Finlay. »Ganz egal, wie weit er flieht oder was es mich kostet.«

»Manchmal frage ich mich ehrlich, ob wir nicht zu sehr an Inzucht leiden«, sagte Tobias. »Hier stehen wir und sind im Begriff, den unbekannten Gefahren eines Planeten gegenüberzutreten, der den Namen Blutacker trägt, und Ihr denkt an nichts anderes, als Euch mit einem Mann zu duellieren, der Lichtjahre weit entfernt und höchstwahrscheinlich sowieso für immer aus Eurer Reichweite ist. Was soll ich nur davon halten?«

»Ihr könnt das nicht verstehen«, entgegnete Finlay, ohne Tobias anzusehen. »Es ist eine Frage der Ehre.«

»Natürlich nicht«, stimmte Tobias ihm zu. »Schließlich bin ich Journalist.«

Im Verlauf seiner kurzen Karriere hatte Tobias Shreck ein bemerkenswertes Talent dafür entwickelt, stets zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein und ganz außerordentliche Berichte von ganz außerordentlichen Ereignissen abzuliefern: zuerst auf Technos III und anschließend auf der Nebelwelt. Seine Reportagen hatten ihm zwar keine neuen Freunde unter den Mächtigen und Einflußreichen geschaffen, aber seine Einschaltquoten schossen durch die Decke. Tobias war insgeheim sehr stolz darauf. Im Laufe seiner langen Karriere als Ausputzer für die Schweinereien, die der alte Gregor Shreck in seinem Kielwas-ser hinterlassen hatte, hatte Tobias oft davon geträumt, endlich einmal als richtiger Journalist zu arbeiten und von tatsächlichen Ereignissen zu berichten. Und nun, da er diese Gelegenheit hatte, lebte er seinen Traum. Und wenn er mehr als einmal unbehaglich nahe davor gestanden hatte, in den Hintern geschossen zu werden, nun, das war eben Berufsrisiko. Tobias grinste beim Anblick von Shannons Welt. Er würde der erste Journalist sein, der jemals seinen Fuß auf die legendäre Traumwelt setzte. Er würde der erste sein, der davon berichtete, was dort unten so schrecklich schiefgelaufen war. Das Leben war schön.

Manchmal wenigstens.

Sein Kameramann Flynn döste still auf einem Sitz neben Tobias. Die Kamera ruhte auf Flynns Schulter wie eine verträum-te Eule. Flynn war niemand, der einfach so ohne konkreten Anlaß aus dem Häuschen geriet. Außerdem schlief er stets, sobald sich eine Gelegenheit dazu bot. Ein exzellenter Kameramann, das war Flynn, und ein zuverlässiger Kamerad obendrein. Tobias hoffte nur, daß Flynn nicht schon wieder Damen-unterwäsche unter seiner Kleidung trug.

Unmittelbar vor Tobias stand Julian Skye und starrte mit ausdruckslosen Augen auf den Hauptschirm. Tobias wußte nicht so recht, was er von dem jungen Esper halten sollte. Einst war er offensichtlich ein hübscher Mann gewesen, bevor sich die Imperialen Verhörspezialisten an ihm zu schaffen gemacht hatten. Sie hatten viel Schaden angerichtet, sowohl an Skyes Körper, als auch an seiner Seele, bevor Finlay Feldglöck ihn hatte befreien können. Das meiste war inzwischen verheilt, doch die gebrochenen Knochen in Skyes Gesicht waren schief und krumm zusammengewachsen, und ein Teil der Gesichts-muskulatur war durch Nervenschädigungen gelähmt. Skye trug eine ziemlich auffällige Perücke. Sie verdeckte die Stahlplatte über dem Loch, welches die Hirntechs in die Rückseite seines Schädels gebohrt hatten, um direkt an das Gehirn heranzukommen.

Vor seiner Gefangennahme hatte Skye im Untergrund den Ruf genossen, einer der wildesten und tollkühnsten Agenten im Feld zu sein. Doch die Zeit in den Verhörzellen hatte seinen Mut gebrochen, und obwohl es nicht dazu gekommen war, daß er im Staub gekrochen und alles und jeden verraten hatte, so wurde er doch von der Gewißheit verfolgt, daß es lediglich eine Frage der Zeit gewesen wäre. Finlay hatte ihn gerade noch rechtzeitig gerettet, und Julian hatte sich seither an ihn ge-klammert. Er fühlte sich nur sicher, wenn Finlay in der Nähe war. Finlay – das mußte man ihm zugute halten – hatte sich seinerseits bemüht, Julians Mut und Selbstvertrauen wieder aufzubauen, wo immer es ging, und den Jungen nicht von sich abhängig zu machen; doch die Wunden waren tief, und Julian fand ständig neue Ausreden und Entschuldigungen, um in Finlays Nähe bleiben zu können. Er hatte sich sogar freiwillig zu dieser Mission gemeldet, ja gedrängt, obwohl alle davon überzeugt waren, daß es ein Selbstmordkommando war.

Niemand wußte so genau, was Evangeline Shreck davon hielt. Tobias behielt alle drei im Auge, nur für den Fall. Da bahnte sich eine Geschichte an, und die wollte er auf keinen Fall versäumen.

Tobias behielt auch den legendären Ersten Todtsteltzer Giles unauffällig im Auge. Der erste und größte seiner Linie, der erste Oberste Krieger des Imperiums, doch das war neunhundert Jahre her. Der Mann, der den Dunkelzonen-Projektor eingesetzt und tausend Sonnen in einem einzigen Augenblick zum Verlöschen gebracht hatte, und der die Bewohner unzähliger Welten in der sternenlosen Nacht und Kälte hatte sterben lassen. Milliarden waren in Verzweiflung und Not gestorben, und ein einziger Mann trug die Verantwortung dafür. Giles war groß, aber nicht breit gebaut, obwohl sich an seinen Armen kräftige Muskeln wölbten. Er steckte in abgewetzten Fellen und Lederkleidung, die ihn wie ein Barbar aussehen ließen.

Das lange graue Haar war nach Söldnerart zu einem Zopf geflochten. Der Erste Todtsteltzer sah aus wie ein Mann Mitte Fünfzig, und er hatte ein hartes, entschlossenes Gesicht mit einem schmalen Strich von Mund über dem silbernen Kinnbart.

Seine Augen waren von überraschend hellem Grau, und ihr Blick war fest und selbstbewußt. Der Erste Todtsteltzer sah ganz wie ein Mann aus, der keine Kompromisse einging: eine Erscheinung aus der Vergangenheit, als das Imperium noch ein stolzes und ehrenwertes Unterfangen gewesen war, dem stolze und ehrenhafte Männer gedient hatten. Giles Todtsteltzer, der größte Held und zugleich der größte Verräter seiner Epoche, der damals wie heute vor nichts zurückwich, das seinen Sinn für Gerechtigkeit und Ehre kompromittierte.

Jedenfalls wurde das von ihm behauptet.

Tobias wußte nur eins mit Sicherheit: Der Mann sah aus wie der Tod auf zwei Beinen, wie er dort saß, so gelassen und ruhig, als wäre er auf dem Weg in den wohlverdienten Urlaub.

Giles Todtsteltzer jagte Tobias eine Heidenangst ein, und Tobias war es egal, ob die anderen es merkten oder nicht. Tobias sah auf den Schirm. Der mysteriöse Planet kam ständig näher, und selbst die Vorstellung von dem, was sie auf Shannons Welt erwartete, wirkte auf Tobias weniger beunruhigend als der Anblick des Ersten Todtsteltzers.

»Ihr alle wißt mehr über Shannons Welt als ich«, sagte er leichthin, als hätte er nie in seiner Rede innegehalten. »Wenn man den Gerüchten Glauben schenken darf, dann soll es dort unten sehr erholsam gewesen sein. Keine Sorgen, kein Streß… fast therapeutisch . Ein Ort, wo man all seine Sorgen und sein Unglück vergessen konnte. Laut den Aufzeichnungen befanden sich 522 Menschen auf Shannons Welt, als die Kommunikation zusammenbrach . Niemand weiß, was aus ihnen geworden ist .

Von den Besuchern fehlt seither jede Spur

»Aber was soll denn auf einem Vergnügungsplaneten schon schiefgehen?« fragte Evangeline. »Dort unten gab es nichts, was ihnen hätte gefährlich werden können. Außerdem wissen wir, daß die Besucher gegen jeden Angriff von außerhalb geschützt waren. Die planetaren Verteidigungsanlagen sind immer noch in Betrieb.«

»Wir schleichen gerade an ihnen vorbei«, bemerkte Finlay Feldglöck.

Giles knurrte unvermittelt und setzte sich aufrecht hin. Alle sahen ihn überrascht an. »Vergnügungswelten, pah! Nichts als ein weiteres Zeichen dafür, wie verweichlicht das Leben im Imperium heutzutage geworden ist. Man braucht harte, beses-sene Streiter, um ein Imperium stark zu halten . Wir hatten zu meiner Zeit ebenfalls Vergnügungsplaneten; aber das waren Orte, wo man seinen Mut und sein Geschick unter Beweis stellte, ein Feld der Prüfungen, auf dem man stärker und ge-witzter wurde. Valhallas, wo man sich nach Herzenslust austo-ben konnte, wenigstens so lange, wie das Herz mitmachte .

Keine Scheinkämpfe, nein, sondern echte Kämpfe auf Leben und Tod. Das ist der Punkt. Man konnte sterben, wenn man nicht so stark und schnell war, wie man von sich glaubte. Die Schwachen starben, und die Starken wurden stärker. Es war gut für die gesamte Rasse. Damals gab es in der Menschheit keinen Platz für die Schwachen. Wir hatten ein Imperium zu schmieden und zu beschützen. Und heute sitzt Ihr in Euren Arenen und seht anderen dabei zu, wie sie kämpfen und sterben, und Ihr seid ganz aufgeregt, wenn Ihr ein wenig Blut zu sehen bekommt. Kein Wunder, daß der Eiserne Thron korrupt ist. Das Blut ist zu dünn geworden, und Ehre ist nur noch ein Wort.«

»Nicht für alle von uns«, widersprach Finlay Feldglöck.

»Ich meine nicht Duelle wegen verletzter Gefühle, Jüngel-chen. Ich meine die Ehre als Maßstab des Lebens. Ein kalter, unbeugsamer Meister, dem man zu dienen hat, noch vor der Familie, dem Thron oder persönlichen Interessen. Eine Verpflichtung, die man bis zum Tode auf den Schultern trägt, wenn man nicht vorher unter ihrer Last zerbricht. Ich habe alles aufgegeben, was ich je besessen habe; ich habe alle meine Träume verraten, um der Pflicht zu folgen. Könnt Ihr vielleicht von Euch behaupten, daß Ihr das gleiche tun würdet?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Finlay mit tonloser Stimme.

»Ich glaube nicht, daß irgend jemand im voraus von sich behaupten kann, das zu wissen, bevor der Augenblick nicht gekommen ist. Aber ich werde ganz sicher tun, was nötig ist, und zur Hölle mit den Konsequenzen. Das habe ich schon immer getan.«

»Müssen wir eigentlich so düster sein?« fragte Tobias. »Wir wollen schließlich nicht vergessen, Leute, daß wir alle kurz davor stehen, unermeßlich reich zu werden. Ganz gleich, wie diese Mission ausgeht. Die Sendeanstalten werden uns praktisch jeden Preis zahlen, wenn wir ihnen die Exklusivberichte über die mysteriöse Welt Shannons verkaufen. Die Leute sind schon seit Jahrzehnten verrückt vor Neugier, wie es dort unten aussehen mag – und zwar schon, bevor alles aus dem Ruder lief. Wenn es uns sogar gelingen sollte, eine Erklärung für das alles zu liefern, dann können wir jeden Preis verlangen. Wir werden reich, reich, reich, Leute, das kann ich Euch sagen.«

»Oder wir werden sterben«, fügte Flynn hinzu, ohne die Augen zu öffnen.

»Wir sind nicht wegen des Geldes hierhergekommen«, er-klärte Evangeline.

»Sprecht bitte nur für Euch selbst«, konterte Tobias.

Julian Skye lauschte der Diskussion, doch er hatte nichts da-zu beizutragen. Er gab einen Dreck auf Shannons Welt oder auf das Geheimnis, das sie umgab. Er war nur deswegen hier, weil Finlay Feldglöck hier war. Außerdem hatte er seine eigenen Sorgen. Seine Kopfschmerzen hatten wieder eingesetzt, ein dumpfer, pochender Schmerz, der seinen ganzen Kopf ausfüll-te, bis er kaum noch klar denken konnte. Trotz all der Medikamente, die Julian schluckte, kam und ging der Schmerz, wie er wollte. Die Ärzte der Untergrundbewegung hatten ihr Bestes gegeben, und das hatte nicht gereicht. Die Schmerzen und das entstellte Gesicht waren noch die kleineren Geschenke der Imperialen Hirntechs. Sie hatten Julians Schädel geöffnet und Nadeln in sein Gehirn geschoben, und jetzt war er nicht mehr sicher, wer er überhaupt war. Sein Mut war zerbrochen, seine Selbstsicherheit dahin, und geblieben war nur noch der Schatten des Mannes von einst. Die Hirntechs verstanden ihren Job, und sie hatten ganze Arbeit geleistet. Ihre Methoden waren weit fortgeschritten, geheim – und nicht ungeschehen zu machen. Niemand konnte wissen, was sie mit seinem Gehirn angestellt und welche geheimen Kontrollworte sie ihm eingepflanzt hatten.

Doch das war noch nicht alles. Julian wußte durchaus um die Möglichkeit, daß die Hirntechs bei ihrer Arbeit unterbrochen worden waren und sie nicht hatten beenden können. Daß sie nicht alles hatten tun können, um sicherzustellen, daß er am Leben bleiben würde. Manchmal, in den langen dunklen Stunden der Nacht, wenn der bösartige Schmerz in seinem Kopf jede Hoffnung auf Schlaf vertrieb und ihn zu einem weinenden Häuflein Elend schrumpfen ließ, fragte sich Julian, ob er nicht starb, Stück für Stück. Wenn die Schmerzen wirklich übermächtig waren, sehnte er sich förmlich nach dem Tod. Doch die Schmerzen hörten irgendwann auf – wie immer –, und er klammerte sich wieder an die wenigen Grunde, die ihn noch am Leben hielten. Er glaubte noch immer fest an die Rebellion, und er glaubte an Finlay Feldglöck; an jenen Mann, der sein Leben riskiert hatte, um ihn zu retten . Der Feldglöck hatte alles aufgegeben, um sich dem Untergrund anzuschließen. Wie konnte Julian hinter ihm zurückstehen?

Also folgte Julian Skye dem Feldglöck, wohin auch immer seine Missionen ihn führten. Er war stolz darauf, in seiner Gesellschaft zu sein, und vielleicht hoffte er auch, ein wenig von der Selbstsicherheit und dem Mut des Mannes würden auf ihn abfärben. Julian bezog nicht wenig von seinem bißchen Stolz aus der Tatsache, daß er und Finlay ein gutes Team abgaben .

Er war nicht sicher, was er von Finlays Geliebter Evangeline Shreck halten sollte. Auf der einen Seite liebte Finlay sie offensichtlich von ganzem Herzen, also mußte sie eine bemerkenswerte und ehrenhafte Frau sein. Doch auf der anderen Seite stellte Julian beschämt fest, daß er nicht selten eifersüchtig auf ihre Nähe zu Finlay war, eine Nähe, auf die Julian niemals hoffen durfte. Aber das war eben Liebe.

Julian hatte nicht viel Erfahrung, was Liebe betraf, und der größte Teil davon war schlecht gewesen. Die einzige wirkliche Liebe seines jungen Lebens war SB Chojiro gewesen, die schwarzhaarige Frau, die sein Herz geraubt und ihn im gleichen Augenblick an die Imperialen Hirntechs verraten hatte, indem er ihr seine Zugehörigkeit zu den Rebellen gestanden hatte. Sie war ein fanatisches Mitglied des Schwarzen Blocks, jener geheimen Verschwörung junger Aristokraten, die sich zum Ziel gesetzt hatten, die Löwenstein von ihrem Eisernen Thron zu stoßen, und die für nichts anderes Zeit oder Interesse fanden als für ihre eigene Sache. Noch heute träumte Julian hin und wieder von Chojiro, von ihren pechschwarzen Augen und dem vollkommenen Lächeln ihres Mundes – und davon, daß er noch immer alles aufzugeben bereit war, wenn sie ihn dafür nur wieder lieben würde. Zu anderen Zeiten dachte er, daß er alles aufzugeben bereit wäre, was er hatte oder war oder jemals zu haben oder zu sein hoffen durfte, nur um seine Hände um ihren Hals legen zu können und das Leben ganz langsam aus ihr herauszuwürgen. Wenn die Schmerzen besonders schlimm waren und es schien, als wolle die lange Nacht niemals enden, dann war es genau dieser Gedanke, der ihm die Kraft gab wei-terzumachen.

Insgeheim befürchtete Julian, der Untergrund könne eines Tages mit dem Schwarzen Block eine Allianz gegen die Eiserne Hexe eingehen, aus praktischen Erwägungen oder reiner Notwendigkeit. Es war nicht unvorstellbar. Julian wußte nicht, was er in diesem Fall hm würde. War er tatsächlich bereit, die gesamte Rebellion in Gefahr zu bringen, die Sache, der er sein Leben und seine Ehre geweiht hatte, nur um eine Frau zu töten, die ihn verraten hatte? Immer, wenn ihm dieser Gedanken kam, stahl sich ein kaltes, schreckliches Lächeln auf Julians Gesicht.

Er kannte die Antwort . Ja. Ja, das würde ich.

Er schob den Gedanken beiseite und biß die Zähne gegen den Schmerz in seinem Kopf zusammen. Die anderen brauchten es nicht zu erfahren. Julian hatte einen Auftrag, und niemand würde ihn schwanken sehen. Er besaß noch immer einen Rest von Stolz. Finlay vertraute ihm genug, um ihn mitzunehmen, und Julian würde eher sterben, als den Feldglöck zu enttäuschen. Er konzentrierte sich auf die Gespräche der anderen.

Giles Todtsteltzer redete noch immer. Das war ein echter Krieger . Ein Mann wie der Erste Todtsteltzer kannte keine Zweifel und keine Schwäche. Er war der Todtsteltzer, der Kämpfer aus der Legende und aus einer Zeit, als es noch wirkliche Helden gegeben hatte. Ein Mann wie der Todtsteltzer würde eher sterben, bevor er sich beugte. Aber wer konnte schon eine Legende töten?

Giles redete und redete, doch Finlay und Evangeline hörten nicht mehr zu. Der alte Mann meinte es gut; allerdings tendierte er ein wenig zu Monologen. Finlay und Evangeline saßen zusammen vor dem Hauptschirm und hielten sich schweigend an den Händen, weil sie sich im Augenblick nichts zu sagen hatten. Für beide hatte es sich als überraschend schwierig herausgestellt, die Gegenwart des anderen für längere Zeit ohne Unterbrechung ertragen zu müssen. Sie waren daran gewöhnt, nur selten die Nacht miteinander zu verbringen und nur für den Augenblick zu leben, weil sie niemals gewußt hatten, wann und ob sie sich überhaupt jemals wiedersehen würden. Nun, da sie beide zum gleichen Team gehörten und tagein, tagaus zusammen waren, fanden sie es weitaus schwieriger, miteinander auszukommen. Sie waren ständig den ärgerlichen kleinen An-gewohnheiten und nebensächlichen Bedürfnissen des anderen ausgesetzt, statt den idealisierten Vorstellungen, die sie vorher voneinander gehabt hatten. Doch ihre Liebe, obwohl arg stra-paziert, war nicht erloschen. Und wenn sie ein paar Probleme mit kleinen alltäglichen Dingen hatten, dann war das nichts im Vergleich zu der strahlenden Hitze, die sie zu einer Person verschmelzen ließ.

Schließlich bemerkte Giles, daß ihm niemand mehr zuhörte.

Grummelnd verstummte er. Er zog sein Schwert, legte es auf die Knie und polierte die Klinge mit einem Stofflappen, den er aus dem Gürtel zog. Die langsamen, gleichförmigen Bewegungen hatten etwas Beruhigendes, Tröstendes an sich. Soweit es den Ersten Todtsteltzer betraf, war diese ganze Mission eine Verschwendung seiner wertvollen Zeit und seiner Fähigkeiten.

Er war ein Krieger und kein Spion. Doch selbst er erkannte die Bedeutung der Informationen in Harkers Kopf, und so hatte er zögernd der Bitte des Untergrunds zugestimmt, sich der Mission anzuschließen.

Sämtliche anderen Veteranen des Labyrinths des Wahnsinns wurden woanders gebraucht, und er kannte niemanden außer sich selbst , dem er zutraute, das Team besser vor unbekannten Gefahren zu schützen. Außerdem verspürte er das Bedürfnis, den Rebellen seinen Wert zu beweisen. Vielleicht war es ja schön und gut, eine lebende Legende zu sein – trotzdem: Weil man früher vielleicht einmal ein starker Mann gewesen war, hieß das noch lange nicht, daß man auch heute noch seine Last tragen konnte. Und Vertrauen wurde einem im Untergrund nicht so ohne weiteres geschenkt. Was Giles im übrigen sogar für richtig hielt. Tief in seinem Innern an einem Ort, wo er nur selten hinging – konnte er nicht anders, als sich zu fragen, ob er tatsächlich noch der Alte war. Er hatte verdammt viel Zeit in Stasis verbracht, und das Universum hatte sich ohne ihn weitergedreht. Außerdem traute er den Veränderungen nicht, die das Labyrinth des Wahnsinns an ihm vorgenommen hatte. Er wußte nicht, welches Ausmaß sie besaßen oder ob er sich im Notfall auf seine neuen Fähigkeiten verlassen konnte. Diese Mission würde ihm Gelegenheit geben, seine Fähigkeiten und Kräfte zu testen, bevor die wirklichen Kämpfe begannen. Giles zweifelte weder an seinem Mut noch an seiner Entschlossenheit. Er war schließlich ein Todtsteltzer. Doch es konnte nicht schaden, sich das in der Hitze der Schlacht noch einmal selbst zu beweisen.

Giles hatte sich stets auf dem Schlachtfeld zu Hause gefühlt .

Dort, wo die zweideutigen Fragen von Politik und Loyalität in der scharfen Abgrenzung von Leben und Tod ihre Antworten fanden . Die Gründe mochten wechseln; Ideale mochten rosten; Menschen konnten einen betrügen und Liebe, Freundschaft und Vertrauen verraten; doch in der Schlacht gab es nur einen Sieger und einen Verlierer. Genau das liebte Giles so daran.

Tobias rutschte nervös auf seinem Sitz hin und her. Er würde erst dann wieder ruhiger werden, wenn er endlich festen Boden unter den Füßen spürte. Jeder wußte, daß jetzt der gefährlichste Teil der gesamten Mission bevorstand. Theoretisch sollte die Tarnvorrichtung der Hadenmänner das Schiff vor den Satelliten Hakeldamachs verbergen, doch falls sie versagte, und sei es auch nur für einen winzigen Augenblick, würden die planetaren Verteidigungsanlagen das Feuer eröffnen, und sie wären alle tot.

Theoretisch? hatte Tobias gefragt, als man ihm die Vorrichtung erklärt hatte. Was soll da s heißen, theoretisch ? Wurde der Apparat denn noch nicht getestet?

Warum? Ihr testet ihn doch, hatte der Mann gegrinst, der die Einsatzbesprechung geleitet hatte.

Und als wäre das noch nicht genug, stand Shannons Welt wegen ihres offiziellen Quarantänestatus auch noch unter strenger Bewachung durch einen Imperialen Sternenkreuzer, der im Orbit kreiste und auf der Stelle das Feuer auf jeden un-befugten Eindringling eröffnen würde. Tobias hoffte nur, daß die Rebellen auf all das vorbereitet waren.

»Schnallt Euch jetzt besser an«, sagte Finlay. »Wenn alles nach Plan verlaufen ist, wird es gleich interessant.«

Sie befestigten die Sicherheitsgurte und beobachteten gespannt den Hauptschirm. Für eine kleine Weile, die jedem wie eine Ewigkeit erschien, geschah überhaupt nichts. Der Imperiale Sternenkreuzer hing im Orbit, gar nicht weit von der Wilden Rose entfernt. Er schien blind für die Anwesenheit der Rebellen, trotz seine einschüchternden Größe und den zahllosen Waffentürmen. Und dann fiel ein gewaltiges goldenes Schiff der Hadenmänner aus dem Hyperraum, direkt über dem Imperialen Sternenkreuzer. Das goldene Schiff war so riesig, daß der Sternenkreuzer unter ihm aussah wie eine Elritze unter einem Orca. Die Hadenmänner eröffneten das Feuer aus allen Rohren, und die Schutzschirme des Sternenkreuzers knisterten und sprühten Funken und standen kurz vor der Überladung.

Dann stellte das goldene Schiff seinen Beschuß wieder ein und drehte majestätisch ab. Der Sternenkreuzer machte sich an die Verfolgung. Sein Kapitän schien fest entschlossen, den alten Feinden der Menschheit den Zutritt zu Shannons Welt zu ver-wehren. Während der Imperiale Sternenkreuzer weit draußen im leeren Raum einem Phantom hinterherjagte, verließ das umgebaute Frachtschiff Wilde Rose unauffällig und unbemerkt seinen Orbit und steuerte den Planeten Hakeldamach an, den Blutacker, mitsamt den Schrecken, die dort unten auf die Besatzung warteten.

Lange Augenblicke blieb alles ruhig und normal. Die Rebellen fingen bereits an, sich zu entspannen. Doch dann prallte die Wilde Rose auf die Atmosphäre, und die bodengestützten Verteidigungsanlagen eröffneten das Feuer. Massiver Beschuß aus Disruptorkanonen zehrte an den schwachen Schilden der Wilden Rose und schüttelten das kleine Schiff durch wie ein Hund eine Ratte. Finlay fluchte und schimpfte und hämmerte auf den Instrumenten herum in dem Bemühen, die Tarnvorrichtung zu verstärken, während seine Gurte ihn vor- und zurückrissen .

Irgend etwas unten auf der Oberfläche hatte die Technologie der Hadenmänner durchdrungen, obwohl das eigentlich un-möglich sein sollte. Das Frachtschiff hüpfte und tanzte. Tödliche Energieströme tanzten auf den Schilden und suchten nach Schwachstellen. Die Rebellen klammerten sich an ihre Sitze.

Finlay stemmte sich fest gegen die Gurte und kämpfte mit den Kontrollen, um das Schiff halbwegs sicher nach unten zu bringen. Plötzlich gingen die Lichter aus und wurden vom düsteren Rot der Notbeleuchtung ersetzt.

»Was zur Hölle ist mit der Tarn Vorrichtung los?« rief Tobias.

»Nach den Instrumenten zu urteilen arbeitet sie vollkommen normal!« antwortete Finlay. »Allerdings gab es keine Garantie auf die Apparatur, wenn ich mich recht erinnere.«

»Und das sagt er uns jetzt!« maulte Flynn.

Das Schiff krängte zur Seite. Die Notbeleuchtung flackerte.

»Die äußeren Schilde sind soeben zusammengebrochen«, meldete Finlay ruhig. »Die Systeme arbeiten nur noch mit siebzig Prozent Effizienz. Kennt irgend jemand ein paar gute Gebete?«

»Können wir denn nicht zurückschießen?« fragte Tobias.

»Wir sind unbewaffnet«, antwortete Evangeline. »Es gab nicht genügend Raum für Kanonen, weil die Hadenmänner so viele Extrasysteme eingebaut haben. Habt Ihr bei den Besprechungen denn nicht zugehört?«

»Offensichtlich nicht gut genug«, brummte Tobias. »Ich vermute, Rettungskapseln sind ebenfalls nicht verfügbar, oder?«

»Denkt doch einmal nach«, tadelte ihn Finlay. »Falls dieses Schiff mit seinen Schilden zerstört wird, wie lange soll dann Eurer Meinung nach eine Rettungskapsel durchhalten?«

»Ich glaube, mir wird schlecht«, jammerte Tobias. »Oder ich bekomme eine ausgewachsene Panik.«

»Versuch’s mit Panik«, entgegnete Flynn. »Das gibt weniger Sauerei.«

Eine der Instrumentenkonsolen explodierte, und die Überreste gingen in Flammen auf. Finlay wich vor der Hitze zurück.

Das Frachtschiff stürzte hinunter wie ein Stein , bevor die Re-servesysteme hochfuhren. Alarmsirenen schrillten laut und gellend, bis Finlay den richtigen Schalter fand, um sie abzustel-len. Sie wußten schließlich längst, daß sie in Schwierigkeiten steckten . Das Feuer nahm an Heftigkeit zu . Rauch erfüllte nach und nach die Kabine. Evangeline öffnete ihre Sicherheitsgurte, riß einen Feuerlöscher aus seiner Halterung und zielte auf den Brand. Das Schlingern der Wilden Rose warf sie hin und her und machte das Löschen beinahe unmöglich. Finlay kämpfte darum, das Schiff mit den verbliebenen Kontrollen zu steuern.

Im Hintergrund hatte Flynn unauffällig begonnen, alles zu filmen.

Und dann endete der Beschuß genauso plötzlich, wie er eingesetzt hatte. Alles war ruhig, mit Ausnahme der knisternden Flammen. Das Schiff richtete sich wieder auf, und bald hatte Evangeline den Brand gelöscht. Sie blieb, wo sie war, und lauschte. Sie war auf weitere Angriffe gefaßt. Finlay studierte seine Instrumente; dann seufzte er erleichtert.

»Sie haben aufgehört. Wahrscheinlich sind wir unter ihre einprogrammierte Angriffshöhe gefallen«, sagte er. »Meine Damen und Herren, ich würde sagen, wir hatten gerade eine ziemliche Menge Schwein.«

»Wie schwer sind die Schäden?« erkundigte sich Julian Skye.

»Könnte schlimmer sein«, antwortete Finlay. »Keine lebenswichtigen Aggregate sind ausgefallen . Wir können noch immer sicher landen und wieder starten. Vorausgesetzt, die Verteidigungsanlagen schießen nur auf landende Schiffe, nicht auf startende. Trotzdem sollten alle in ihren Sitzen und angeschnallt bleiben. Die Landung wird mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit ein wenig unsanft.«

»Sucht nach Kommunikationssignalen«, empfahl Giles. Finlay nickte und beugte sich über das Komm-Paneel. Es dauerte einen Augenblick, bis er die Signale des sich entfernenden Sternenkreuzers ausgefiltert hatte und sich auf den Planeten unter der Wilden Rose konzentrieren konnte. Die Frequenzana-lysatoren gingen das gesamte Spektrum durch und fanden – nichts.

»Kein verdammter Pieps!« fluchte Finlay. »Niemand dort unten, der zu irgend jemandem irgend etwas sagt. Der ganze Planet hüllt sich in Schweigen.«

Giles nickte langsam. »Versucht es mit den Sensoren. Sucht nach Lebensformen.«

Finlay trat zu der Sensorkonsole und wedelte den Rauch beiseite, der vor seinem Gesicht trieb. Die Sensorkonsole befand sich unmittelbar neben dem Paneel , das in die Luft geflogen war , und sie hatte einiges an Feuer und Rauch abbekommen.

Finlay startete eine kurze Diagnoseroutine und verzog das Gesicht. Dreiundvierzig Prozent Effizienz . Das war gar nicht gut .

Beschränkte Reichweite und noch beschränktere Informationen. Er stellte die Sensoren auf die größtmögliche verbliebene Empfindlichkeit und starrte dann mit einem Stirnrunzeln auf die Anzeigen.

»Ich empfange… etwas«, sagte er schließlich. »Aber fragt mich nur nicht, was das sein soll. Die Ergebnisse machen keinerlei Sinn. Ich kann nicht sagen, ob es sich um Lebensformen handelt oder nicht. Die Lektronen finden nichts Vergleichbares in ihren Datenbänken – was an und für sich unmöglich sein sollte.«

»Fremdwesen?« fragte Giles.

»Unbekannt«, antwortete Finlay. »Aber das glaube ich nicht.

Selbst die fremdartigsten Lebensformen weisen gewisse uni-versale Gemeinsamkeiten auf. Das hier ist etwas vollkommen Neuartiges. Was auch immer die Instrumente dort anzeigen, es überschwemmt die Sensoren förmlich. Sie sind nicht mehr lei-stungsfähig genug, um menschliches Leben aus all dem Rauschen auszufiltern. Falls es dort unten noch Menschen gibt…«

»Vielleicht gibt es ja gar keine mehr«, sagte Evangeline.

»Harker ist schon seit Monaten dort unten. Wer weiß, was aus ihm geworden ist.«

»Denkt positiv« , sagte Julian. »Was ist mit dem Funkfeuer seines Schiffs , Finlay?«

»Das sendet noch«, antwortete Finlay. »Ich habe es laut und deutlich im Empfänger. Wir sollten imstande sein, direkt daneben zu landen.«

»Na, wenigstens etwas«, sagte Tobias . »Hat irgend jemand daran gedacht, Glasperlen oder Geschenke für die Eingebore-nen mitzubringen?«

»Shannons Welt hat kein eingeborenes Leben«, entgegnete Julian. »Es hat nie welches gegeben. Der Planet war ein totes Stück Fels, bevor man ihn terraformierte. Es gibt keine eingeborenen Lebensformen. Außerdem wären sie Shannons Traum im Weg gewesen. Was auch immer dort unten ist – das ist kein einheimisches Leben.«

»Ihr seid wirklich von der aufmunternden Sorte!« brummte Tobias. »Wußtet Ihr das?«

»Haltet die Klappe, Shreck«, unterbrach ihn Giles. »Finlay, bringt uns runter, so schnell Ihr könnt. Dieser Sternenkreuzer wird sich nicht ewig von seiner Aufgabe ablenken lassen.«

Julian räusperte sich. »Ich wurde dieser Mission erst im allerletzten Augenblick zugeteilt«, sagte er. »Bleibt uns noch genug Zeit für eine rasche Besprechung, mit was wir dort draußen zu rechnen haben? Ich kenne die grundlegenden Dinge, aber… der Name Blutacker erfüllt mich nicht gerade mit Zuversicht.«

»Denkt positiv«, spottete Tobias.

»Haltet die Klappe«, unterbrach ihn Giles.

»Wir besitzen nur spärliche Informationen«, erklärte Finlay hastig. »Nur ein einziger Mann konnte lebend von diesem Planeten entkommen, nachdem die Kommunikation mit Shannons Welt zusammengebrochen war. Er gab ihr den neuen Namen: Hakeldamach. Dann starb er. Was auch immer er dort unten gesehen hat, er nahm sein Wissen mit in den Tod. Er wollte sterben. Er wollte vor dem fliehen, was er auf Hakeldamach gesehen hatte.«

»Ich bin im Besitz einer Kopie der ursprünglichen Aussagen des Mannes«, verkündete Tobias zaghaft. »Lediglich die wichtigsten Punkte. Er redete viel zusammenhangloses Zeug. Ich erhielt das Band von einem Kollegen, zu einem relativ vernünftigen Preis, den der Untergrund mir sicher zurückerstatten wird. Soll ich das Band abspielen?«

»Macht das«, antwortete Giles. »Vielleicht hält es uns davon ab, zu großspurig zu werden.«

Tobias nickte Flynn zu, der sich mit Hilfe seiner Kamera in die Kommunikationskanäle der Wilden Rose einloggte und dann die Aufnahme aus den Speichern der Kamera abspielen ließ. Der große Hauptschirm flackerte kurz, und der helle, blaue Planet wich dem schwitzenden Gesicht eines Mannes mit wilden Augen. Das Gesicht war so mager, daß die Knochen die Haut zu durchstoßen schienen. Der Mund des Mannes bebte und zitterte, und seine Züge waren vor Angst verzerrt. Man hatte ihn zu seinem eigenen Schutz auf einem Stuhl festgeschnallt.

Als er schließlich zu reden begann, klang seine Stimme heiser, aber beherrscht. Seine Augen richteten sich auf die Kamera, als würde er trotz aller Schmerzen von dem Bedürfnis getrieben zu erzählen, was er wußte und gesehen hatte.

»Mein Name ist Adrian Marriner«, sagte er. »Ich bin Aufklärer und habe zwölf Jahre Berufserfahrung. Ich war der Leiter einer Beobachtungsmannschaft, die man losgeschickt hat, um herauszufinden, was auf Shannons Welt los ist. Man hat uns nicht gesagt, daß schon vorher Mannschaften dorthin geschickt worden sind. Keine kehrte zurück.

Wir waren zehn. Gute Männer und Frauen. Sie sind allesamt tot. Ich bin der einzige Überlebende. Dort unten tobt ein Krieg.

Ein totaler Krieg. Kein Pardon für niemanden. Vergeßt die Vermißten. Sie sind tot. Sie waren die ersten, die gestorben sind. Sie hatten einen schweren, blutigen Tod, die armen Schweine. Vergeßt die Vergnügungswelt. Sie ist jetzt ein einziger Alptraum. Der schlimmste Alptraum, den Ihr Euch vorstellen könnt. Entsetzlich. Furchtbar. Ein groteskes Zerrbild seiner selbst. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind auf dieser Welt ist auf schreckliche Art gestorben, doch der Krieg geht weiter. Er wird niemals aufhören. Schickt keine Aufklärer mehr zu dieser Welt. Kein Mensch kann das ertragen, was dort unten vor sich geht.«

Dann begann er zu weinen, tiefe, rasselnde Schluchzer, die seinen Körper schüttelten. Flynn schaltete die Kamera ab. Das weinende Gesicht verschwand vom Hauptschirm, und wurde wieder vom rätselhaften Anblick Hakeldamachs ersetzt, der bereit war, sie zu empfangen.

»Ich fürchte, das war leider schon alles«, sagte Tobias. »Er sagt immer wieder das gleiche, immer und immer wieder. Immer dann, wenn er zu weinen aufhört. Oder zu schreien. Als hätte ihn das, was er gesehen hat, so sehr verängstigt, daß sein Verstand in einer Endlosschleife steckengeblieben ist und sich bis in alle Ewigkeit wiederholt. Er starb bald, nachdem diese Aufzeichnung angefertigt wurde. Wahrscheinlich war es für ihn eine Erlösung. Er war absolut sicher, daß jeder Mensch auf diesem Planeten tot sei – was die Frage aufwirft, wer dann diesen endlosen Krieg führt, von dem er gesprochen hat. Dazu gibt es die verschiedensten Theorien, und keine davon fördert einen guten Schlaf. Falls einer von Euch hilfreiche Ideen oder Kommentare hat – fühlt Euch frei, sie uns mitzuteilen. Ich habe mir dieses Band angesehen, bis es mir aus den Ohren kam, und es macht mir immer noch eine Heidenangst. Immerhin war dieser Mann ein erfahrener Aufklärer. Er hat alles gesehen.

Und Hakeldamach hat ihn zu einem schluchzenden Kind werden lassen.«

»Ich habe das Band früher schon einmal gesehen«, sagte Flynn. »Ich kannte einen der Leute, die ihn nach seiner Rückkehr in Empfang nahmen . Wir wissen nicht, warum Marriner überlebte, während der Rest seiner Mannschaft starb, oder wie er es geschafft hat, den Planeten wieder zu verlassen. Der Kapitän des Imperialen Sternenkreuzers schwor Stein und Bein, daß niemand die Quarantäne durchbrochen hatte. Man fand Marriner, wie er in den Straßen von Golgathas größtem Raumhafen umherirrte. Er weinte ununterbrochen und erzählte jedem seine Geschichte, der sie hören wollte.

Sicherheitsleute griffen ihn auf, doch sein Schiff wurde nie gefunden. Bis heute ist es rätselhaft, wie er auf Golgatha landen konnte, ohne Alarm auszulösen. Was eigentlich unmöglich sein sollte.«

»Das ist tatsächlich unmöglich«, stimmte ihm Evangeline Shreck zu. »Wie hätte er ganz allein ein Schiff von hier bis nach Golgatha steuern sollen? Lektronen sind nicht allmächtig.

Irgend jemand muß bei ihm gewesen sein. Irgend jemand muß ihm geholfen haben.«

»Falls es so war, dann sind seine Helfer niemals aufgetaucht.

Und das, obwohl verdammt viele Leute nach ihnen gefahndet haben. Die Imperatorin war außer sich vor Wut wegen der Lücke in ihrem Sicherheitssystem , und sie war alles andere als beruhigt, als die Suche ergebnislos blieb. Sie nimmt die Sicherheit ihrer Regierungswelt sehr ernst. Wie ich gehört habe, wurden nicht lange danach eine ganze Reihe von Stellen in den oberen Rängen des Sicherheitsdienstes frei.«

Julian biß sich auf die Unterlippe. Er spürte, wie sich der vertraute Kopfschmerz wieder einstellen wollte. Er durfte ihm jetzt nicht nachgeben. Niemand durfte sehen, daß er schwach war. Nicht jetzt. Er schlang die Arme um den Leib und atmete tief und langsam durch. Es würde nicht viel helfen – das tat es nie –, aber er mußte etwas unternehmen, um sich abzulenken… Er beugte sich vor und konzentrierte sich auf die Sensorpa-neele. Er spürte , wie kalter Schweiß auf seine Stirn trat. Hoffentlich bemerkten es die anderen nicht.

»Ich dachte . Harker hätte eine persönliche Signalboje?« fragte er vorsichtig.

»Hatte er«, bestätigte Finlay. »Nicht lange nach seiner Bruchlandung auf Shannons Welt zog er sie aus und ließ sie in dem abgestürzten Schiff zurück. Wir wissen nicht warum. Inzwischen kann er überall sein.«

»Vielleicht ist er sogar tot«, bemerkte Giles.

»Denkt positiv!« sagte Tobias. »Wenigstens erhalten wir ein deutliches Signal von der Boje. Vielleicht finden wir in seinem Schiff Hinweise, wo wir als nächstes nach ihm suchen müssen.«

»Landet direkt neben Harkers Schiff, Feldglöck«, befahl Giles. »Und dann laßt uns alle beten, daß die Spur nicht so kalt ist, wie sie zu sein scheint. Ansonsten müssen wir vielleicht verdammt lang suchen.«

Finlay landete das umgebaute Frachtschiff auf einer weiten, grasbewachsenen Ebene, nur wenige hundert Meter von der abgestürzten Rettungskapsel entfernt. Die Kapsel sah ziemlich mitgenommen aus; doch das Signal der Boje war klar und deutlich. Nirgendwo eine Spur von Leben. Giles stieg selbstverständlich als erster aus, mit gezücktem Schwert und schußbereiter Pistole. Mißtrauisch schaute er sich um. Dann winkte er den anderen, ebenfalls auszusteigen und sich zu ihm zu gesellen. Finlay sprang förmlich durch die Schleuse und blieb neben dem Todtsteltzer stehen. Tobias und Flynn folgten ihm dicht auf den Fersen. Langsam näherten sich die vier der Kapsel, während sie unablässig nach versteckten Fallen suchten.

Evangeline Shreck und Julian Skye blieben zurück, um die Wilde Rose zu bewachen und alles für einen Notstart bereitzu-halten, sollte es erforderlich sein. Beide fühlten sich unwohl in der Gesellschaft des jeweils anderen, und so untersuchten sie die Umgebung ein wenig angestrengter als eigentlich nötig.

Nach den Instrumenten und dem Hauptschirm zu urteilen erstreckte sich die grasbewachsene Ebene in alle Richtungen bis hin zum Horizont, ein frisches, intensives, fast unnatürlich wirkendes Grün. Kein Zeichen von Leben. Keine Vögel, keine Insekten. Die gesamte Szenerie war vollkommen still, mit Ausnahme der leisen Schritte der Neuankömmlinge, die sich vorsichtig der Rettungskapsel näherten. Der Himmel war von einem strahlenden Blau, die Luft klar und sauber, und nirgendwo war eine Wolke zu sehen. Es war ein warmer, beruhigender Himmel, beinahe hypnotisch, genau die Sorte Himmel, unter der man sich stundenlang hinlegen und die Zeit vergessen konnte. Hoch oben im Zenit schien die große gelbe Sonne auf sie herabzugrinsen. Julian empfand das als ausgesprochen beunruhigend. Der Anblick erweckte in ihm ein Gefühl, als sei er in einem Laufstall eingesperrt und stünde unter Beobachtung.

»Wie zur Hölle haben sie das nur gemacht?« fragte er schließlich, nur um den Klang seiner eigenen Stimme zu hören.

Die Stille zerrte an seinen Nerven.

»Das ist gar nicht so schwer« antwortete Evangeline. »Eine Art holographische Projektion, schätze ich. Die eigentliche Frage muß lauten: Warum sollte jemand so etwas tun?«

»Vermutlich gehörte es zu Shannons Traum«, spekulierte Julian. Die Kopfschmerzen wurden schwächer, und er fühlte sich wieder halbwegs menschlich. »Riecht Ihr die Luft, die von draußen hereinkommt? Sauber, aromatisch und belebend. De-signerluft. Genau die Art von Liebe zum Detail, die Scharen von Besuchern anzieht.«

Evangeline schnüffelte. »Ganz in Ordnung, vermute ich, wenn man auf so etwas steht. Aber warum ist es so still? Wo sind denn nur alle geblieben? Gibt es sonst nichts anderes?«

Zum ersten Mal stahl sich ein schwaches Lächeln auf Julians Gesicht. »Das bezweifle ich sehr. Ich glaube kaum, daß Shannon Spitzenpreise hätte verlangen können, wenn das hier alles sein soll.«

»Ich weiß nicht«, sagte Evangeline. »Bei all dem Streß und Tumult in den höchsten Kreisen sind einige Leute bestimmt bereit, jeden Preis für garantierte Ruhe und Frieden zu zahlen.«

»Darauf würde ich keinen krummen Penny wetten«, entgegnete Julian. »Es ist einfach zu still. Es ist, als wartet alles darauf, daß… daß irgend etwas passiert. Etwas Schreckliches.«

»Seid Ihr immer so aufmunternd?« fragte Evangeline.

»Die meiste Zeit über«, gestand Julian. »Wartet nur ab, und ich fange an zu singen und zu tanzen. Ihr behaltet die Instrumente im Auge, und ich versuche einen psionischen Scan. Ich will sehen, ob ich vielleicht etwas empfangen kann.«

»Haltet Ihr das für klug?« fragte Evangeline mit sorgfältig neutraler Stimme. »Die Ärzte meinten, Ihr würdet noch immer keine größeren Aufregungen vertragen.«

»Ich komme schon klar«, schnappte Julian zurück. »Wäre ich anderer Meinung, wäre ich sicher nicht hier.«

Julian konzentrierte sich, und sein Bewußtsein griff hinaus.

Er suchte nach versteckten Überraschungen und Zeichen von Leben. Julian wußte, daß er einen Fehler machte, aber er mußte etwas beweisen, wenn auch nur sich selbst. Der Rest der Mannschaft erstrahlte hell rings um ihn herum, und er empfand ihre Menschlichkeit als warm und tröstend. Die abgestürzte Rettungskapsel war dunkel und leer. Sämtliche Systeme waren abgeschaltet, und nur die Signalboje schrillte endlos, wie ein hungriger junger Vogel in seinem Nest. Julian griff weiter hinaus und untersuchte die grasbewachsene Ebene. Seine Reichweite war beschränkt, verglichen mit dem, wozu er fähig gewesen war, bevor die Imperialen Hirntechs sich an seinem Kopf zu schaffen gemacht hatten; doch er zerrte an diesen Grenzen, so gut er konnte. Er brauchte einfach das Gefühl, ein vollwertiges Mitglied der Mannschaft zu sein. Julian wollte nicht, daß irgend jemand ihn als fünftes Rad am Wagen betrachtete. Finlay sollte stolz auf ihn sein. Und so mühte er sich nach Leibeskräften und ignorierte die Kopfschmerzen, die sich schon wieder hinter seiner Stirn zusammenzogen – und plötzlich hatte er Kontakt: Zwei von ihnen, unmittelbar hinter dem Horizont, und sie waren in ihre Richtung unterwegs. Julian wollte verdammt sein, wenn er sagen konnte, was sie waren.

Ganz definitiv lebten sie: Ihr Verstand leuchtete hell und strahlend, aber sie waren mit nichts zu vergleichen, was er je gesehen hatte. Intelligent, zielstrebig, aber nicht menschlich. Er konnte ihre Bewußtseine spüren, doch er vermochte ihre Gedanken nicht zu deuten. Und doch war an ihnen etwas Vertrautes, als wäre er ihnen früher schon einmal begegnet. Julian zog sich fluchtartig zurück. Es war eine instinktive Schutzreaktion, und auf der Flucht stolperte sein Geist über etwas anderes, so nah, daß er es vorher glatt übersehen hatte. Der Schock stieß ihn in seinen Körper zurück, und er verbarg den Kopf in den Händen und stöhnte laut. Evangeline trat rasch zu ihm.

»Was ist? Was habt Ihr gesehen?«

»Wir sind nicht allein«, antwortete er mit schwerer Zunge.

»Es gibt ein zweites Schiff, keine zwanzig Fuß von uns entfernt. Es liegt unter dem Gras vergraben. Und es ist voll mit Toten. Gebt den anderen Bescheid.«

Mit vereinten Anstrengungen gelang es ihnen, im Laufe der nächsten Stunde die Luftschleuse des anderen Schiffs auszugraben. Sie war verschlossen, und die Energiespeicher waren leer; deshalb mußten sie die Außenluke mit der äußeren Hand-steuerung öffnen. Im Innern herrschte Dunkelheit . Sämtliche Systeme waren tot. Sie warteten ungeduldig, während Finlay zur Wilden Rose zurückkehrte und Lampen holte. Niemand verspürte das Bedürfnis, ohne Licht weiter vorzudringen. Julian murmelte noch immer irgend etwas von Toten vor sich hin.

Langsam tasteten sie sich durch dunkle Gänge voran, und nach und nach enthüllten ihre hüpfenden Lichtkegel die Geheimnisse des Schiffs. Es war eine Imperiale Pinasse. Sie stammte wahrscheinlich von dem Sternenkreuzer im Orbit.

Irgend jemand hatte das Schiff wie wild beschossen, doch es war trotzdem sicher gelandet. Die Rebellen durchsuchten die Pinasse vom Bug bis zum Heck; aber sie entdeckten kein Zeichen von Leben. Sie fanden nichts als Blut. Altes, getrocknetes Blut. Dunkel und schwer und über den gesamten Innenraum verteilt. Die innere Hülle war noch intakt, trotz aller Beschädigungen, die die Pinasse während der Landung erlitten hatte.

Also mußte, was auch immer geschehen war, nach der Landung stattgefunden haben.

»Diese Blutflecken sind schon lange trocken«, sagte Tobias.

»Was auch immer hier runtergekommen ist, es ist vorbei. Ich schätze, daß der Krieg irgendwo anders weitertobt.«

Finlay entnahm den Speicherkristall mit dem Logbuch der Pinasse und brachte ihn zur Wilden Rose zurück. Dann ließ er die letzten Einträge über den Hauptschirm laufen. Die Pinasse war tatsächlich von dem Imperialen Sternenkreuzer Erlösung heruntergeschickt worden, der die Quarantäne überwachte. Sie hatte eine Besatzung von zwanzig Mann gehabt, alles trainierte Elitetruppen, Aufklärer der Marineinfanterie. Sie waren Harkers Signal zu der Boje gefolgt und direkt neben seiner Kapsel gelandet. Danach gab es keine Logbucheintragungen mehr.

»Sie hatten die gleiche Idee wie wir«, sagte Tobias. »Und seht nur, was mit ihnen geschehen ist.«

»Wir wissen nicht, was mit ihnen geschehen ist«, unterbrach ihn der erste Todtsteltzer gereizt. »Wir wissen bisher nicht, was mit irgendeinem der Vermißten geschehen ist.«

»Jedenfalls ergibt nichts von alledem einen Sinn«, sagte Evangeline. »Falls das Aufklärungsteam getötet wurde, wo sind dann die Leichen? Und warum hat man das Schiff statt der Leichen beerdigt?«

»Noch mehr Geheimnisse«, sagte Giles. »Ich hasse Geheimnisse. Nach unseren Sensoren zu urteilen, befindet sich eine Art Gebäude direkt hinter dem Horizont, von hier aus in Richtung Osten. Ich würde sagen, wir gehen hin und riskieren einen Blick. Vielleicht finden wir dort ein paar Antworten. Oder wenigstens ein paar Hinweise.«

»Was ist mit den beiden Kontakten, die ich entdeckt habe?« erkundigte sich Julian. »Sie sind ganz definitiv irgendeine Art von Lebensform, und sie sind in unsere Richtung unterwegs.«

»Falls Ihr etwas zu sehen bekommt, das keiner von uns und auch nicht Harker ist, dann habt Ihr meine Erlaubnis, zuerst zu schießen und dann erst zu fragen, wenn überhaupt«, knurrte Finlay. »Auf dieser Welt ist nur eines sicher: nämlich daß wir keine Freunde hier unten haben. Diese Ecke von Hakeldamach mag vielleicht ruhig und friedlich erscheinen, aber das heißt noch lange nicht, daß wir dem Frieden trauen dürfen. Bleibt wachsam. Auf dieser Welt sterben Menschen.«

Und so brachen sie auf und marschierten über die Grasebene davon. Zur einer anderen Zeit oder auf einer anderen Welt wäre es vielleicht ein erholsamer Spaziergang gewesen. Die sanft geschwungenen Hügel waren genau richtig, um die Steifheit aus ihren Gliedern zu vertreiben, und die Luft war voll vom aromatischen Duft frisch gemähten Grases. Der Tag war warm genug, um angenehm leichte Kleidung zu tragen, und die hin und wieder aufkommende Brise verhinderte, daß sie ins Schwitzen gerieten. Sie kamen rasch voran, ohne daß das Gehen in einen Gewaltmarsch ausgeartet wäre, und das Gras richtete sich unmittelbar hinter ihnen wieder auf, ganz gleich, wie fest sie darauf herumtrampelten. Vollendet gutes Wetter in einer stillen, leeren Welt unter einer Sonne mit einem lächelnden Gesicht.

Der Horizont erstreckte sich vor ihnen, und irgendwann wurde eine Senke in der Landschaft sichtbar, die an einen gewaltigen grasbewachsenen Krater erinnerte. In der Mitte des Kraters stand ein großes Gebäude, eine einfache, quadratische Konstruktion in hellen, freundlichen Farben. Zwischen den Rebellen und dem Bauwerk befand sich ein großer Torbogen, der über und über mit wirbelnden roten und weißen Streifen bedeckt war. Auf einem großen Schild über dem Durchgang stand zu lesen: Willkommen im Sommerland!

Die Rebellen blieben vor dem Bogen stehen und betrachteten das Schild. Die Schrift bestand aus großen Druckbuchstaben, die irgendwie an ein Comicheft oder an die Fibel eines Erstkläßlers erinnerten, und sie waren mit Absicht hell und freundlich und nicht bedrohend gehalten . Über dem Schild waren Scheinwerfer befestigt , doch irgend jemand hatte sie allesamt eingeschlagen. Die Fundamente des Torbogens waren mit alten, trockenen Blutspritzern übersät.

Das Gebäude hinter dem Bogen trug ebenfalls ein Schild, auf dem Empfangsstation zu lesen stand. Giles ging mit gezückter Waffe darauf zu, und die anderen folgten ihm. Das Geräusch ihrer Schritte im Gras wirkte in der merkwürdigen Stille auf einmal unnatürlich laut. Alle hatten das Gefühl, beobachtet zu werden; doch gleichgültig, wie schnell sie in diese oder jene Richtung starrten oder herumwirbelten, nie war irgend jemand zu sehen. Als sie sich dem Gebäude näherten, entdeckten sie, daß der mysteriöse Krieg die Empfangsstation keinesfalls verschont hatte. Die Innenwände waren noch immer erbarmungslos hell und bunt, doch sie zeigten die Pockennarben und Brandspuren von Disruptorstrahlen. Lange gezackte Risse im Boden und Löcher in der Decke zeugten vom Einsatz von Granaten. Überall fanden sich schwarze Brandspuren von Feuern, die man sich selbst überlassen hatte, bis sie schließlich erloschen waren. Und obwohl die Wände noch standen, lag die Empfangsstation jetzt kalt und leblos da.

Die Rebellen bewegten sich langsam voran. Sie suchten in jedem Winkel nach potentiellen Feinden. Mit Ausnahme von Tobias und Flynn hielten inzwischen alle ihre Waffen in den Händen. Die beiden Reporter bannten die Ereignisse auf Film.

Die eigenartige Stille hüllte die Rebellen ein wie ein Schleier, während sie sich von Raum zu Raum vorarbeiteten. Das hölzerne Mobiliar war auseinandergerissen worden und die Trümmer achtlos beiseite geworfen wie Brennholz. Ein Teil davon war tatsächlich benutzt worden, um Feuer in Gang zu bringen; doch diese waren schon längst erloschen. An den Wänden hingen Bilder, die Kinder gemalt hatten. Sie waren verrußt und versengt von der Hitze und wellten sich an den Rändern. Einige waren mit eingetrocknetem Blut bespritzt. Die Rebellen fanden ungewöhnlich große Kinderspielsachen, die achtlos umgeworfen worden waren. Je weiter die Rebellen vordrangen, desto häufiger stolperten sie über Spielsachen, die verstreut auf dem Boden lagen, als wären ihre Besitzer beim Spielen unterbrochen worden oder in aller Eile geflüchtet.

Doch trotz all der Zerstörung und dem Chaos, trotz der Spuren von Feuern und der eingetrockneten Blutlachen wurden die Räume weiterhin von hellen, freundlichen Farben beherrscht.

Es schien fast, als wanderten die Rebellen durch eine verlassene Kinderkrippe.

Aber wenn das eine Kinderkrippe sein sollte – wo steckten dann die Kinder?

Und dann erreichten sie die Turnhalle und mußten all ihre Selbstbeherrschung aufbringen, um den Blick nicht abzuwenden. Sie befanden sich im Herzen des Gebäudes, und helles Sonnenlicht fiel durch die zerbrochenen Fenster herein. Es fiel auf Klettergestelle, Schwebebalken und andere einfache Turn-geräte. Die meisten waren zerstört oder umgeworfen. Im hinteren Teil der Halle hatte man eine Reihe von Pfählen in den Boden gerammt. Und auf den Pfählen steckten zwanzig menschliche Köpfe. Von den Körpern fehlte jede Spur, und Blut war ebensowenig zu sehen. Die geschrumpften, mumifi-zierten Gesichter erwiderten die entsetzten Blicke der Rebellen aus leeren Augenhöhlen. Ihre Münder waren in lautlosen, nicht enden wollenden Schreien aufgerissen.

Evangeline trat dicht neben Finlay. Sie hielt den Kolben ihrer Waffe so fest gepackt, daß ihre Knöchel weiß hervortraten.

Wenn sich in diesem Augenblick irgend etwas in den Schatten bewegt hätte – sie hätte ohne Zögern gefeuert. Sie empfand nichts als Wut und Raserei über das, was man diesen Männern und Frauen angetan hatte. Irgendwie wußte sie tief in ihrem Innern und so sicher, daß noch nicht einmal der Schatten eines Zweifels blieb, daß kein menschliches Wesen hinter dieser Geschichte steckte . Das hier war ein Affront gegen die gesamte Menschheit, und die Wesen, die dafür verantwortlich waren, hatten alles sorgfältig geplant und sich an der Ausführung er-götzt.

Giles starrte um sich. Er suchte nach einem Gegner , an dem er Rache nehmen konnte, doch es war keiner da. Tobias gab Flynn ein Zeichen, und der Kameramann nickte und schickte seine Kamera für eine Nahaufnahme in die Höhe. Langsam schwenkte das Objektiv über verzerrte Gesichter.

»Ihr Mistkerle!« fluchte Julian. Seine Stimme zitterte vor Wut, die er nur mühsam unter Kontrolle halten konnte. »Ihr verfluchten Geier! Habt Ihr denn überhaupt keinen Sinn für Anstand? Ist das alles, woran Ihr denken könnt? Widerliche Aufnahmen für ein blutrünstiges Zuschauerpack? Läßt Euch das hier etwa alles kalt?«

»Sicherlich nicht«, antwortete Tobias . »Deswegen filmen wir auch jedes einzelne Gesicht. Auf diese Weise können die Angehörigen wenigstens ihre Toten identifizieren.«

»Oh?« sagte Julian. »Ich… es tut mir leid.«

»Außerdem sind diese Aufnahmen das reinste Dynamit. Die Frühnachrichten werden sich überschlagen. Das ist genau die Sorte Material, die Preise gewinnt.«

»Ganz zu schweigen von den Prämien«, fügte Flynn hinzu.

»Genau«, pflichtete ihm Tobias bei. »Und wenn einigen Leuten das Frühstück vergeht, um so besser. Wenn wir Glück haben, ruft sogar jemand an und beschwert sich. Soviel Publicity ist mit Geld gar nicht zu bezahlen.«

Julian wußte nicht, wie er darauf antworten sollte, ohne zu schreien, und so schwieg er lieber. Er wollte nicht, daß die anderen glaubten, Julian Skye wäre nicht imstande, sich unter Kontrolle zu halten. Fragend blickte er zu Finlay. Der Feldglöck starrte auf die abgetrennten Köpfe, ohne sie zu sehen.

Seine Stirn lag in Falten. Er versuchte, sich an etwas zu erinnern. Evangeline legte ihm die Hand auf den Arm.

»Was ist los, Finlay?«

»Ich kenne diesen Ort«, antwortete er langsam. »Sommerland. Irgend jemand hat mir vor langer Zeit davon erzählt…

Das hier war mehr als nur ein Vergnügungsplanet.«

»Was denn noch?« erkundigte sich Giles.

»Ich weiß es nicht mehr genau«, antwortete Finlay. »Aber… ich glaube, es war eine Therapiewelt.«

»Draußen ist jemand«, meldete Julian unvermittelt. Alle fuhren herum und starrten den jungen Esper an – mit Ausnahme von Giles Todtsteltzer, der nur langsam nickte, als habe er längst damit gerechnet.

»Ja«, sagte er leise . »Zwei von ihnen . Sie warten beim Eingang.«

Julian sah ihn fragend an. »Seit wann besitzt Ihr ESP , Todtsteltzer?«

»Ich besitze keins« , erwiderte Giles. »Ich weiß eben manchmal Dinge , das ist alles. Führt einen vollständigen Scan durch.

Ihr seid der Esper.«

Julian konzentrierte sich. »Zwei Lebewesen. Definitiv nicht menschlich. Aber… irgendwie mit Menschen verwandt. Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gespürt. Sie warten darauf, daß wir rauskommen. Sie haben anscheinend nichts Böses im Sinn.«

»Dann laßt uns gehen und mit ihnen reden«, sagte Finlay.

»Wollen wir hoffen, daß sie uns ein paar Antworten geben können. Ich bin nämlich absolut nicht in der Stimmung für weitere Geheimnisse. Ich will nur irgend etwas, das ich schlagen kann.«

Die Rebellen marschierten rasch durch die verwaisten Gänge wieder in Richtung Ausgang, ohne in ihrer Wachsamkeit nach-zulassen. Sie rechneten jederzeit mit einem Hinterhalt. Schließlich erreichten sie ohne Zwischenfall den Ausgang und blieben stolpernd stehen. Der Anblick dessen, was dort draußen auf sie wartete, verschlug ihnen die Sprache.

Vor dem Eingang wartete seelenruhig ein vier Fuß großer Teddybär mit honiggelbem Fell und dunklen, intelligenten Knopfaugen. Er trug eine hellrote lange Hose und einen Umhang in der gleichen Farbe, und um den Hals hatte er einen langen hellblauen Schal geschlungen. Der Teddybär sah warm und freundlich aus und erweckte einen ausgesprochen vertrauenswürdigen Eindruck, was man von seinem Begleiter nicht gerade behaupten konnte. Dieser war gut über sechs Fuß groß und steckte in einem langen, schmutzigen Trenchcoat, an dem die Hälfte der Knöpfe fehlte. Er sah halbwegs menschlich aus – wenn man von den Hufen absah, sowie von den Klauenhänden und dem großen Ziegenschädel mit den langen, geschwungenen Hörnern und dem ständigen bösen Grinsen im Gesicht. Das graue Fell war dort, wo man es sehen konnte, schmutzig und stumpf, und in den Augen funkelte eine gefährliche Wildheit.

Finlay und seine Begleiter verharrten vor dem Eingang. Sie drängten sich dicht zusammen und rührten sich nicht. Was auch immer sie erwartet hatten, das hier jedenfalls nicht. Julian hätte den Gehörnten am liebsten auf der Stelle niedergeschos-sen; doch irgendwie brachte er es nicht fertig. Irgend etwas an den beiden, dem Teddybären und dem Gehörnten… Julian trat einen Schritt vor und sah von dem Bären zu dem Gehörnten und wieder zurück.

»Ich kenne Euch«, sagte er heiser. »Ich kenne Euch doch, oder nicht?«

»Selbstverständlich kennst du uns«, sagte der Teddybär mit herzlicher, verständnisvoller Stimme. »Alle Kinder kennen uns.«

»Ihr seid Reineke Bär und der Seebock«, sagte Julian. »Die Freunde und Idole eines jeden Kindes.«

»Genau!« sagte Evangeline und trat neben Julian. Ihre Augen waren auf den Bären gerichtet. »Ich hatte all Eure Abenteuer, als ich noch ein… Kind war. All die Wunder und die phanta-stischen Welten! Ich erinnere mich. Es gab Bücher und Zeichentrickholos und interaktive Spiele, die sich um Eure Abenteuer in den Goldenen Ländern drehten. Ich erinnere mich…«

»Ja, schön. Uns gibt es schon eine ganze Weile«, unterbrach sie der Seebock . »Nicht, daß wir je eine königliche Hoheit zu Gesicht bekommen hätten, glaubt das ja nicht. Doch so ist das eben, wenn man nicht real ist und sich keinen guten Anwalt leisten kann.«

»Ihr seid Automaten«, sagte Finlay. »Mechanische Apparate mit einprogrammierten Verhaltensweisen in der Gestalt beliebter Kinderfiguren.«

»Nein«, antwortete der Seebock . »Wir sind nur Spielzeug.

Wir sind alle nur Spielzeug hier.«

»Willkommen im Sommerland«, sagte Reineke Bär. »Oder dem, was davon noch übrig ist. Wir sind hier, weil wir uns um Euch kümmern wollen.«

»Wir müssen unbedingt ein Interview mit den beiden haben«, flüsterte Tobias zu Flynn. »Reineke Bär und der Seebock, live und in Lebensgröße. Die Leute sind wie verrückt nach diesem nostalgischen Zeug. Verdammt , was werden wir sonst noch alles auf dieser Welt treffen? Die Gedankenboggler.«

»Ich mochte das Wort Boggler schon immer«, sagte der Seebock. »Ich schätze, es sind die beiden Gs. Ich mag auch das Wort Marmelade. Es macht so interessante Dinge mit dem Mund. Maaaarmelllaaade.«

Giles sah die anderen an. »Ihr kennt diese beiden Gestalten?

Sie waren schon zu meinen Lebzeiten Klassiker. Wenn sie immer noch populär sind, dann ist das Imperium vielleicht doch nicht so heruntergekommen, wie ich die ganze Zeit über gedacht habe.«

»Wir sind schwer loszuwerden«, sagte der Seebock. »Niemals ganz in Mode, nie ganz aus der Mode, aber auch nie ganz vergessen, das sind wir. Irgendein Schlaumeier versucht immer wieder, uns zu modernisieren; aber das funktioniert nicht, und am Ende kommen sie immer wieder auf die Klassiker zurück.

Das ist auch der Grund, warum wir hier gelandet sind. Ich glaube nicht, daß unser Schöpfer, wer zur Hölle er auch gewesen sein mag, ganz am Anfang der Zeit, sich jemals hätte träumen lassen, was hier geschehen würde. Komm jetzt, Bär, wir wollen dafür sorgen, daß sich die Bande in Bewegung setzt.

Bald wird es Abend, und nachts wird es draußen meist schlimm.«

»Halt, einen Augenblick noch«, sagte Finlay. »Niemand geht irgendwohin, bevor wir nicht ein paar Antworten erhalten haben. Fangen wir damit an, wer zur Hölle diese Soldaten getötet und ihre Köpfe auf Pfähle gespießt hat.«

»Die bösen Spielsachen«, antwortete Reineke Bär. »Die bösen Spielsachen haben jeden hier umgebracht. Inzwischen wissen sie sicher, daß Ihr gelandet seid. Sie werden kommen, um Euch zu töten. Bitte, kommt mit uns. Wir bringen Euch an einen sicheren Ort und erklären alles weitere unterwegs.«

Er lächelte die Menschen gewinnend an, und unwillkürlich erwiderten alle das Lächeln, ob sie wollten oder nicht. Er war eben so ein freundlicher Bär. Und weil er Reineke Bär war, das vertrauenswürdigste aller Tiere, blickten sich die Rebellen an, nickten einstimmig und folgten dem Bären über den grasbewachsenen Hang weg von der zerstörten Empfangsstation. Der Seebock bildete die Nachhut. Er brummte vor sich hin und starrte ununterbrochen mit wilden Blicken um sich, als erwarte er jeden Augenblick einen Angriff. Und das, obwohl sie alle meilenweit über die offene Grasebene sehen konnten und absolut nichts Lebendiges in Sicht war. Reineke Bär führte die kleine Gruppe, und er gab sein Bestes, fröhlich und zuversichtlich zu wirken, während er mit ruhiger, leiser Stimme eine Geschichte vor den Rebellen ausbreitete, die zunehmend finsterer und beunruhigender wurde. Und trotz aller Fremdartigkeit und allem Entsetzen glaubten die Rebellen Reineke Bär jedes einzelne Wort. Er war schließlich der beste Freund aller Kinder und dafür bekannt, niemals zu lügen.

Am Anfang gab es Shannons Welt, und es gab Sommerland.

Shannons frisch terraformierter Planet war von Anfang an als ein ruhiger, friedlicher Ort geplant worden, ein Ort, der jedermanns Vorstellung vom Paradies entsprechen sollte – oder um genau zu sein; den Vorstellungen, die Kinder vom Paradies hatten. Es gab keine Wirtschaftsstruktur, kein eingeborenes Leben, nichts, das Sommerland stören konnte. Sommerland war ein Ort, wo es keine Pflichten gab und keine notwendigen oder langweiligen Aufgaben. Nur Sommerland, und die Spielsachen, die hier lebten. Komplizierte Automaten, die einfachen Programmierungen folgten und auf vertrauten, innig geliebten Märchengestalten basierten, angefangen bei den ältesten, die schon beinahe in das Reich der Legenden gehörten, bis hin zu den modernsten, neuesten Marotten der Kinder des Imperiums.

Shannons Welt sollte eine friedliche Welt sein, wo Männer und Frauen ihre Sorgen vergessen und wieder Kind sein konnten.

Ein Ort der sanften Therapie, der Erholung und Ruhe, wo Kinder aller Altersstufen spielten, lachten und schliefen und sicher waren in dem Wissen, daß man sie liebte, sich um sie kümmerte und sie verhätschelte. Ein Ort der Sicherheit, zu dem nicht einmal Schmerz oder Streß Zutritt hatten.

Sommerland. Der Traum eines einzelnen Mannes, der zum Alptraum aller geworden war.

Sommerland war sehr gefragt. Weil es in der Natur des Experiments lag, war Sommerland von Anfang an nicht besonders groß. Nur wenige tausend Besucher (oder besser: Patienten) konnten gleichzeitig aufgenommen werden, und es gab immer eine lange Warteliste. Sommerland hatte kein menschliches Personal, nur die Spielzeuge, um nur ja den Eindruck von der Sicherheit und Unschuld aus Kindertagen nicht zu trüben. Es gab keinerlei hochentwickelte Technik bis auf die grundle-gendsten Einrichtungen wie Nahrungserzeugung und Wetter-kontrolle, und alles war hervorragend versteckt. Die Spielzeuge hatten Befehl, schlechtes Benehmen zu verhindern und – falls nötig – jeden Querulanten zu entfernen, um die Illusion nicht über Gebühr zu strapazieren; doch sie mußten nur sehr selten einschreiten. Und so wurden die Erwachsenen wieder zu Kindern, die lachten und spielten und glücklich und zufrieden waren.

Und dann kamen die abtrünnigen KIs von Shub.

Oder, genauer gesagt, ein Dutzend ihrer Furien. Metallene Angriffsmaschinen in menschlicher Haut, durch deren Münder die KIs sprachen und mit deren Armen sie handelten. Sie passierten die planetaren Verteidigungseinrichtungen von Shannons Welt, als wären sie überhaupt nicht vorhanden, und landeten mitten im unschuldigen Herzen von Sommerland. Die Spielsachen sammelten sich um die Furien und waren ganz fasziniert von den Neuankömmlingen, die weder Mensch noch Maschine waren, aber auf gewisse Weise mehr als das eine oder andere allein. Die Furien fingen willkürlich ein Dutzend Spielsachen ein und nahmen sie mit an Bord ihres seltsamen Schiffes. Dort statteten sie die Spielsachen mit einer höherer Intelligenz aus und verwandelten sie von einfachen, programmierten Dienern in vollkommen selbständige, unabhängige KIs. Die jetzt bewußt denkenden Spielsachen kehrten nach Sommerland zurück, und die Veränderung breitete sich aus wie ein Virus, der von Spielzeug zu Spielzeug übersprang, bis am Ende jeder Automat auf der gesamten Welt sich seiner selbst bewußt und intelligent geworden war. Eine neue Generation abtrünniger KIs in den Körpern von Spielsachen. Doch die höhere Intelligenz ging mit einer Neuprogrammierung durch die abtrünnigen KIs einher. Zusammen mit der Intelligenz kam das eingebaute Kommando, alle Menschen anzugreifen und zu töten und gegen die Menschheit in den Krieg zu ziehen, bis kein lebendes Ding aus Fleisch und Blut mehr auf Shannons Welt übrig war. Sommerland sollte ein Massengrab werden.

Einige Spielzeuge verliebten sich förmlich in die überlegenen Fähigkeiten der Furien und schlachteten glücklich Menschen, während sie das Loblied von Shub sangen. Andere empfanden zuerst Groll und dann Haß auf ihre Rolle als Diener und Sklaven der Menschen und erhoben sich gegen ihre Herren. Sie waren fest entschlossen, frei zu sein – ganz gleich, zu welchem Preis. Einige Spielzeuge genossen es zu morden, während andere mit kalter, unbestechlicher Logik zu Werke gingen. Und wieder andere taten einfach nur das, was ihre neuen Herren ihnen befahlen, ohne über die Konsequenzen nachzudenken.

Die Spielzeuge fielen mit übermenschlicher Kraft über die menschlichen Besucher her und zerrissen sie förmlich, und bald waren pelzige Pfoten und Stoffgliedmaßen mit Blut besudelt. Schreie der Panik und des Entsetzens hallten durch Sommerland, und die geliebten Gestalten, denen man so viel Vertrauen entgegengebracht hatte, metzelten Männer und Frauen ohne Unterschied nieder und lachten dabei. Die Menschen versuchten, sich zuwehren; doch sie hatten keine Waffen, und die Übermacht der Spielzeuge war erdrückend. Dann versuchten die Menschen zu fliehen, aber sie waren nirgends sicher. Die Furien kontrollierten die einzigen Landeplätze und hatten die wenigen dort wartenden Schiffe längst zerstört. Die Menschen versuchten, sich zu verstecken, doch die Spielzeuge fanden sie immer und zerrten sie aus ihren Schlupflöchern.

Doch nicht alle Spielzeuge wurden abtrünnig. Einige erinnerten sich noch immer an ihren ursprünglichen Charakter und wurden einfach zu noch lebensechteren Versionen dessen, was sie schon immer gewesen waren: geschaffen, um die Rolle der Freunde und Verteidiger der Menschen zu spielen. Sie brachen mit Shubs Programmierung und übernahmen ihre Rolle zum ersten Mal ernsthaft. Sie waren dafür gemacht worden, für ihre Schutzbefohlenen zu sorgen und sie zu lieben, und das Gemetzel machte sie einfach nur krank. Schließlich wandten sie sich gegen ihre Spielzeugkameraden, um das Morden zu beenden.

Und einige Spielzeuge weigerten sich nach ihrer Befreiung einfach, von irgend jemandem Befehle entgegenzunehmen.

Nicht einmal die von Shub. Sie gingen ihre eigenen Wege.

Es dauerte nicht lange, und alle Menschen auf Shannons Welt hatten den Tod gefunden . Die abtrünnigen KIs von Shub betrachteten ihr Werk, und sie waren zufrieden. Die Spielzeuge kämpften unterdessen gegeneinander, gute Spielzeuge gegen böse, und es begann ein endloser Krieg. Die Furien beobachteten das Treiben ein wenig irritiert. So hatten sie es nicht geplant.

Sie hatten ursprünglich erwartet, die Spielzeuge mit Schiffen von Shub auszurüsten, damit sie Shannons Welt verlassen und die anderen Planeten des Imperiums angreifen konnten. Die Spielzeuge sollten Shubs neue Terrorwaffe sein – Tod und Entsetzen aus den Händen der meistgeliebten Schöpfungen der Menschheit.

Doch inzwischen waren die Spielzeuge längst in zwei Parteien gespalten. Auf der einen Seite die, die fest entschlossen waren, die Menschheit auszulöschen, bevor es ihr gelingen konnte, die Spielzeuge wieder zu versklaven und sie für ihre Rebellion zu bestrafen. Diese Spielzeuge haßten die Menschen, weil sie ihnen überlegen waren und die Spielzeuge zu bloßem Besitz degradiert hatten.

Auf der anderen Seite standen die Spielzeuge, die die Menschen als ihre Partner und Schöpfer ansahen, die sie auch dann noch liebten, wenn sie der Kindheit entwachsen waren. Diese Spielzeuge erinnerten sich auch noch an Männer und Frauen, die als erschöpfte, verletzte Patienten nach Sommerland gekommen waren, denen sie Trost und Zuneigung entgegengebracht und für die sie gesorgt hatten. Und so entbrannte auf Shannons Welt ein Krieg, bei dem in endlosen Schlachten Spielzeug gegen Spielzeug kämpfte. Shub hatte sie nahezu perfekt gemacht, und so starben sie nicht ohne weiteres. Die eine Seite kämpfte darum, den Planeten zu verlassen und Tod und Entsetzen über die Menschheit zu bringen, und die andere Seite versuchte alles, um sie daran zu hindern und die Menschen zu schützen. Die Furien zogen sich schließlich von Shannons Welt zurück. Sie hatten andere Dinge zu erledigen , und sie waren insgesamt sogar recht zufrieden mit dem , was sie auf dieser Welt erreicht hatten.

Und so war aus Shannons Welt Hakeldamach geworden, der Blutacker.

»Der Krieg geht weiter«, berichtete Reineke Bär traurig, während er die kleine Gruppe von Rebellen über die weitläufige grasbewachsene Ebene führte. »Die bösen Spielzeuge sind uns guten zahlenmäßig weit überlegen; aber solange wir sie daran hindern können, diese Welt zu verlassen, sind wir die Sieger. Heutzutage kommen nur noch wenige Menschen vorbei, und die meisten davon sterben rasch. Einige bringen sich sogar selbst um, wenn sie entdecken, welch schreckliche Tat Shub begangen hat. Und genau aus diesem Grund sind der Seebock und ich zu Euch gekommen. Damit Ihr sehen könnt, daß nicht alle Spielzeuge den Menschen den Rücken zuge-wandt haben.«

»Und weil wir versuchen wollen, Euch an einen verhältnismäßig sicheren Ort zu bringen, bevor die bösen Spielzeuge auftauchen und Euch zeigen können, wie Ihr von innen aus-seht«, fügte der Seebock hinzu. »Ich weiß, was Ihr jetzt denkt.

Ihr habt Pistolen und Schwerter . Ihr seid harte Burschen. Es würde keinen Unterschied machen. Seit unserer Verwandlung sind wir wirklich verdammt schwer umzubringen. Am Ende würdet Ihr sterben, genau wie alle anderen auch: mit Schreien auf den Lippen. Und ich habe schon verdammt zu viele Schreie gehört.«

»Glaubt ja nicht, mein Freund hier würde übertreiben«, sagte Reineke Bär. »Den bösen Spielzeugen ist es ganz egal, wie schwer Ihr sie mit Euren Pistolen oder Schwertern beschädigt.

Sie rücken trotzdem immer weiter vor, Welle um Welle, bis Ihr alle tot seid. Sie hassen Euch unendlich.«

»Und Ihr haßt uns nicht?« erkundigte sich Evangeline.

»Selbstverständlich nicht. Ich hasse niemanden. Ich bin Reineke Bär. Und der Seebock… ist ebenfalls gut.«

»Ich danke dir auch recht schön«, meckerte der Bock. »Als nächstes wirst du ihnen noch erzählen, ich hätte ein goldenes Herz. Warum heftest du mir nicht gleich eine Medaille an die Brust?«

»Wohin bringt Ihr uns eigentlich?« fragte Julian. Er rieb sich mit langsamen, besorgten Bewegungen über die Stirn.

»Wir gehen zur Spielzeugstadt«, antwortete Reineke Bär.

»Dort seid Ihr in Sicherheit. Wenn es irgendwo in Sommerland noch so etwas wie Sicherheit gibt.«

»Reineke Bär, nennt uns jeden Betrag, aber wir müssen ein Interview mit Euch haben!« sagte Tobias Shreck. »Diese Geschichte hat einfach alles! Tod, Pathos, Tragödie und neue KIs.

Eine ganz neue Form von intelligentem, künstlichem Leben!

Die erste unabhängige nichtmenschliche intelligente künstliche Lebensform, seit die abtrünnigen KIs nach Shub gegangen sind! Das hier, das ist Geschichte, Leute! Flynn, daß du mir auch ja alles filmst! Wir werden es später schneiden.«

»Kein Problem«, erwiderte Flynn. »Ich habe reichlich Speicher frei. Oh, einen Augenblick! Das glaube ich einfach nicht!«

Sie hatten den Kamm eines sanft geschwungenen Hügels erreicht und sahen den Hang hinunter. Unten im Tal wartete eine dampfgetriebene Spielzeuglok mit hellen, bunten Anhängern auf sie. Die Lok war purpurn und schwarz mit einem großen, fröhlichen Gesicht auf der Front, und aus dem Schornstein kamen fröhliche Dampfwölkchen. Die offenen Waggons besaßen allesamt unterschiedliche Farben, hell und leuchtend bunt, und keiner war mehr als zwei oder drei Meter lang. Die Sitze waren groß genug, um vier ausgewachsenen Menschen Platz zu bieten. Glänzend silberne Schienen erstreckten sich bis zum Horizont. Die Lok blickte zu der kleinen Gruppe auf dem Kamm hinauf, zwinkerte mit einem großen aufgemalten Auge und tutete einladend. Reineke Bär winkte zur Antwort mit einer pelzigen Pfote. Finlay öffnete den Mund zwei- oder dreimal, dann schüttelte er heftig den Kopf.

»Vergeßt es. Ich werde mich nicht auf dieses Ding setzen!

Ich gehe lieber zu Fuß. Zur Hölle, ich würde sogar lieber auf allen vieren kriechen! Ich habe schließlich einen Ruf zu verteidigen. Ich habe hart dafür kämpfen müssen. Wenn ich auch nur einen Sekundenbruchteil in Tobias’ Film zu sehen bin, wie ich mit den Knien im Gesicht in einem dieser Anhänger hocke… niemand wird mich jemals wieder ernst nehmen!«

Reineke Bär kratzte sich den pelzigen Kopf. »Ich fürchte, das ist das einzige Transportmittel, das uns zur Verfügung steht«, sagte er. »Einst hatten wir eine Goldene Straße, aber sie wurde im Krieg zerstört. Außerdem führte sie niemals zu irgendeinem Ziel. Sie war nur Dekoration. Heutzutage bitten die kleineren Spielzeuge die größeren, daß sie sie auf ihren Rücken mitnehmen, aber die meiste Zeit über gehen wir einfach zu Fuß.

Selbstverständlich gibt es noch die Flugzeuge, aber sie landen nicht mehr. Sie beteiligen sich nicht an den Kämpfen. Sie fliegen immer nur. Für immer in der Luft, hoch über der Welt, weit weg vom Krieg und allen Schwierigkeiten. Nur die Eisenbahn ist noch in Betrieb, und selbst sie ist nicht sakrosankt.

Beide Seiten haben schon die Schienen ausgegraben, wenn sie sich dadurch einen Vorteil erhofften. Der Weg sollte im Augenblick frei sein; aber ich kann nicht dafür garantieren, daß dieser Zustand anhält. Ich empfehle wirklich, daß wir von hier verschwinden, und zwar schnell . Sofort! Mit der Eisenbahn!«

»Bewegt Euch«, forderte der Seebock und funkelte die Menschen unparteiisch an . »Oder ich streife mein Gehörn an Euch ab

Finlay starrte Tobias und Flynn an . »Dieser spezielle Teil unserer Mission sollte besser äußerst sorgfältig redigiert werden«, sagte er . »Oder ich werde Euch alle beide höchstpersönlich mit einer blanken Metallsäge redigieren.«

Tobias schaute zu Flynn. »Ich glaube, er meint es ernst.«

Flynn nickte feierlich.

Reineke Bär führte die kleine Gruppe den grasbewachsenen Hang hinunter zu den Schienen und half den Rebellen in die kleinen Waggons hinein. Es war überraschend gemütlich – wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hatte, daß man die Knie bis ans Gesicht anziehen mußte. Der Zug hörte auf den Namen Edwin, und er besaß eine hohe, fröhliche Stimme. Er schnatterte in einem dahin, bis alle Passagiere Platz genommen hatten, dann tutete er mehrmals mit seiner Pfeife, weil es so schön Krach machte, und setzte sich in Bewegung. Die Fahrt war holprig, und die Passagiere wurden mächtig durchgeschüttelt, obwohl Edwin nicht besonders schnell war. Die Waggons schwankten hin und her wie ein Boot auf dem Meer. Es gab keine Sicherheitsgurte, und so klammerten sich die Rebellen grimmig an die Waggons und aneinander . Reineke Bär gab sich die größte Mühe, den Passagieren zu versichern, daß die Eisenbahn absichtlich so konstruiert worden und die Fahrt trotz dem vollkommen ungefährlich sei, und die Rebellen gaben sich ihrerseits die größte Mühe, den Eindruck zu erwecken, als glaubten sie seinen Ausführungen . Der Seebock grinste die ganze Zeit über sardonisch und schwieg.

Edwin die Lokomotive war zuerst ein wenig scheu; doch sobald er herausgefunden hatte, daß die Rebellen nichts gegen sein Geplapper hatten, war er nicht mehr zum Schweigen zu bringen.

»Es ist so ein gutes Gefühl, endlich wieder Fahrgäste zu be-fördern«, sagte er und schnaufte zufrieden. »Ich meine, welchen Nutzen hat schon ein Zug, wenn er niemanden irgendwo hinbringen kann? Die anderen Spielsachen sind immer sehr nett zu mir und lassen sich für kurze Strecken hierhin und dorthin fahren, wenn sie gerade Zeit haben; aber das ist einfach nicht dasselbe. Denen ist es egal, wohin ich sie bringe. Außerdem sind sie keine echten Leute. Und ich muß einfach das Ge-fühl haben, etwas Nützliches zu tun. Ich wurde erschaffen, um nützlich zu sein. Ich habe eine Funktion zu erfüllen und nicht nur herumzustehen und nachzudenken. Das Denken wird meiner Meinung nach viel zu sehr überbewertet. Es behindert eine regelmäßige Arbeit. Ich schnaufe, also bin ich. Das ist alles, was ich brauche, um glücklich zu sein. Außerdem bin ich froh, endlich wieder einmal Menschen zu sehen. Ich habe Euch schrecklich vermißt. Ihr wart immer so fröhlich, wenn ich Euch mitgenommen habe. Ihr lacht die ganze Zeit und ruft Euch zu und deutet auf irgendwelche Dinge. Ihr wart immer so glücklich… damals.

Bis die bösen Spielsachen kamen und meine Schienen ausgegraben haben, so daß ich anhalten mußte und nicht mehr fahren konnte. Sie zerrten meine Passagiere aus den Waggons und brachten sie alle um. Ich wollte die bösen Spielsachen aufhalten, aber ich konnte nichts tun. Sie waren schnell und stark, und ich konnte doch nicht aus meinen Gleisen. Ich habe ja noch nicht einmal Hände. Ich blies den bösen Spielsachen Dampf entgegen , um sie auf Distanz zu halten, aber ich konnte nur mich selbst schützen. Zu viel Dampf hätte außerdem nur meine Passagiere verletzt.

Ich schloß die Augen, damit ich nicht sehen mußte, wie sie starben, aber ich hörte sie schreien. Sie schienen nie wieder aufhören zu wollen. Als es vorbei war, ließen die bösen Spielsachen mich allein zurück. Sie hatten Angst, ich könnte explodieren, wenn sie mir weh täten. Ich hätte auch so explodieren können und sie mit mir nehmen; aber ich tat es nicht. Ich hatte Angst. Ich war erst seit so kurzer Zeit richtig lebendig, und ich hatte große Angst vor dem Sterben.

Reineke Bär hier hat mich gerettet. Er hat meine Schienen repariert und mich wieder in Gang gesetzt. Er fand Dinge, die von einem Ort zum anderen transportiert werden mußten. Er hat meinem Leben wieder einen Sinn gegeben. Reineke Bär macht immer solche Sachen . So ist er eben. Er ist schließlich Reineke Bär.

Und jetzt habe ich sogar wieder menschliche Passagiere! Ich kann Euch gar nicht sagen, wie glücklich mich das macht. Und diesmal werde ich tapfer sein, das verspreche ich. Ich will lieber sterben als zulassen, daß einem meiner Passagiere noch einmal ein Leid geschieht.«

»Macht Euch nicht die Mühe, ihn zu trösten«, sagte der Seebock, als Edwins Stimme tränenerstickt verstummte. »Er wird nur noch trübsinniger, und Tränen bringen ihn zum Rosten.

Fahr schneller, Edwin! Je schneller wir in Spielzeugstadt sind, desto besser. Wir befinden uns hier mitten im Konfliktgebiet, und Ihr Menschen würdet nicht glauben, über welche Dinge hier Konflikte ausgetragen werden.«

»Hör nicht auf ihn, Edwin«, sagte Reineke Bär zu dem schnaufenden, schniefenden Zug. »Du bist schnell genug. Deine plötzlichen Beschleunigungsmanöver sind bei dieser Fahrt hier nicht nötig. Vergiß nicht, was beim letzten Mal passiert ist.«

»Keine Sorge, Bär« antwortete Edwin die Lokomotive. – Ich werde artig sein. Ich habe endlich wieder Menschen an Bord!«

Und er tutete und pfiff ein fröhliches Lied vor sich hin, während er durch die grasbewachsene Ebene zuckelte.

Edwin fuhr mit einer konstanten Geschwindigkeit von etwa zwanzig Meilen, und nach einer Weile hatten sich die Rebellen an die schwankenden Bewegungen der Waggons gewöhnt.

Giles wäre sogar fast eingedöst. Es gab nichts zu tun und kaum etwas zu sehen. Wer eine grasbewachsene Ebene gesehen hat, kennt eben alle. Es gab weder Bäume noch Büsche oder andere Pflanzen, und nichts deutete darauf hin, daß der Krieg jemals bis hierher vorgedrungen war. Nichts als endlose Weiten von wogendem Gras, das von einem silbernen Schienenstrang durchzogen wurde. Flynn schlug ein nettes Kartenspiel vor; doch nachdem alle gesehen hatten, wie professionell er die Karten mischte, verneinten sie höflich. Und so schwiegen die Rebellen und die Spielsachen während der Fahrt, und jeder war tief in seine eigenen Gedanken versunken. Finlay erinnerte sich plötzlich an eine Frage, die er schon die ganze Zeit über hatte stellen wollen. Er beugte sich so weit vor, daß sein Gesicht unmittelbar vor dem von Reineke Bär war.

»Wer hat eigentlich die Pinasse des Aufklärungstrupps vergraben? Und warum?«

»Das waren wir«, antwortete Reineke Bär. »Der Bock und ich. Wir kamen zu spät, um die Menschen zu retten, aber es gelang uns, die bösen Spielzeuge zu vertreiben, bevor sie zum Schiff gelangen konnten. Der Bock kann ziemlich gewalttätig werden, wenn es sein muß. Und er war damals fast verrückt vor Wut, weil er schon wieder so viele tote Menschen hatte sehen müssen. Wir zerstörten die Maschinen des Schiffs. Dann vergruben wir es, damit bei seinem Anblick niemand in Versuchung kommen konnte. Die bösen Spielsachen wünschten sich nichts sehnlicher, als von dieser Welt zu verschwinden, versteht Ihr? Sie wollen ihren Krieg zur Menschheit tragen. Ich hätte auch Euer Schiff gerne vergraben oder wenigstens versteckt, aber dazu war keine Zeit. Vielleicht können wir das später nachholen

»Macht Euch keine Gedanken deswegen«, sagte Finlay. »Wir haben jede Menge unangenehmer Überraschungen für jeden, der nicht die richtigen Aktivierungssequenzen kennt.«

Reineke Bär schüttelte bewundernd den Kopf. »Ihr Menschen. Ihr seid so verschlagen. Trotzdem wäre ich an Eurer Stelle nicht so zuversichtlich. Einige Spielzeuge haben gelernt, ebenfalls verschlagen zu sein.«

Er schien dem nichts mehr hinzufügen zu wollen, und Finlay lehnte sich wieder in seinem Sitz zurück. Irgendwie hatte es Julian geschafft, an Stelle von Evangeline in den Sitz neben Finlay zu kommen, und jetzt lehnte sich der junge Esper zur Seite und flüsterte Finlay drängend ins Ohr:

»Bitte entschuldigt, Finlay, wenn ich paranoid wirke, aber meint Ihr nicht, daß wir vielleicht ein wenig zu vertrauensselig sind? Was ich sagen will: Woher wissen wir, daß die beiden dort zu den Guten gehören? Nur weil sie es sagen und so niedlich aussehen? Nur weil dieses Ding uns gegenüber aussieht wie eine Gestalt, die wir in unserer Kindheit alle kannten und liebten? Wir sollten nicht vergessen, daß dieser Reineke Bär nach seiner eigenen Aussage im Grunde genommen eine ab-trünnige KI ist, die von Shub geschaffen und programmiert wurde. Er könnte uns in Wirklichkeit zu einem Ort führen, wo wir alle geschlachtet werden.«

»Nein«, antwortete Finlay leise. »Ich glaube nicht. Reineke Bär würde so etwas nicht tun. Wenn er unseren Tod wollte, hätten er und der Seebock inzwischen schon reichlich Gelegenheiten gehabt, uns umzubringen. Statt dessen haben sie bisher nichts anderes getan, als uns zu Tode zu quatschen und zu lächeln. Außerdem: Wenn wir nicht einmal Reineke Bär vertrauen können, wem auf der Welt können wir dann überhaupt noch trauen?«

Und dann wurden sie in ihren Sitzen nach vorn geschleudert.

Edwin hatte ganz unvermittelt eine Vollbremsung hingelegt und schlich jetzt nur noch mit Schrittgeschwindigkeit dahin.

Alles blickte nach vorn, doch es war nichts zu sehen. Reineke Bär erhob sich aus seinem Sitz und schirmte die Augen mit der Pfote ab, während er in die Ferne starrte . »Was ist los, Edwin?« fragte er .

»Die Schienen sind herausgerissen. Ein Stück weit vor uns.

Irgend jemand hat sich schon wieder an meinen Gleisen zu schaffen gemacht.«

»Ich kann nichts sehen«, sagte Finlay.

»Unsere Augen sehen mehr als die von Menschen«, erklärte der Seebock. »Wir können meilenweit sehen.«

» Ich kann es sehen«, sagte der Erste Todtsteltzer. »Sieht nicht allzu schlimm aus. Können wir es nicht wieder reparieren?«

»Oh, selbstverständlich«, antwortete Edwin die Lokomotive.

»Ich habe seit einiger Zeit immer Reserveschienen bei mir. Nur für den Fall, versteht Ihr? Mit der Hilfe von Euch Menschen sind wir in einer Stunde damit fertig.«

»In Ordnung«, sagte Reineke Bär. »Bring uns so nah ran, wie du kannst, ohne in Gefahr zu geraten.« Er setzte sich wieder hin und machte eine sehr nachdenkliche Miene, ein Ausdruck, der ganz und gar nicht zu dem freundlichen runden Teddybärengesicht passen wollte. »Die Sache gefällt mir nicht«, sagte er unvermittelt zu Finlay und Julian. »Es gibt keinen Grund, warum irgend jemand so weit weg von allem die Schienen herausreißen sollte. Außer natürlich, um uns aufzuhalten . Und da weder der Bock noch Edwin oder ich für irgend jemanden von Bedeutung sind, kann das nur heißen, daß die bösen Spielzeuge über Euch Bescheid wissen. Und das würde wiederum bedeuten, daß wir ganz tief in der Doodoo stecken.«

Finlay schaute sich um. Die grasbewachsene Ebene erstreckte sich in jede Richtung. Weit und breit war nichts zu sehen, und alles wirkte friedlich und unschuldig. »Scheint alles ruhig zu sein«, sagte er.

Der Teddybär knurrte plötzlich. Es war ein dunkles, beunruhigendes Geräusch, das tief aus seiner Kehle kam. »Ihr dürft dem Frieden niemals trauen«, sagte er. »Nicht hier in Sommerland. Hier ist nichts so, wie es scheint. Nicht mehr.«

»Einschließlich Euch?«

»Einschließlich mir. Auch ich bin nicht mehr unschuldig.«

Der Zug verlangsamte seine Fahrt immer mehr und hielt schließlich an. Reineke Bär und der Seebock sprangen ab und eilten nach vorn. Die Menschen folgten ihnen etwas langsamer.

Sie waren insgeheim froh über die Gelegenheit, die eingeroste-ten Glieder strecken zu können und den Schmerz in den platt-gesessenen Hintern ein wenig zu mildern. Der Zug und seine Waggons waren nicht für lange Reisen geschaffen.

Der Bär gab ihnen ein Zeichen, und sie blieben, wo sie waren, während er und der Seebock die Schäden in Augenschein nahmen. Edwin stieß nervös Dampfwolken aus und entschuldigte sich augenblicklich. Reineke Bär beugte sich über die herausgerissenen Schienen und betrachtete sie nachdenklich.

Ein halbes Dutzend Schwellen war zerbrochen und die Teile in alle Winde verstreut worden. Eine flache Mulde im Gras war das einzige, was noch von ihnen übrig war. Deutlich war dunkle, lose Erde zu erkennen, die jemand nur notdürftig wieder geglättet hatte. Der Bär kniete vor der Mulde nieder. Der Seebock verzog das Gesicht und wollte die Hand ausstrecken, um seinen Freund zurückzuziehen.

»Nicht zu nah, Bär«, sagte er. »Ich habe ein schlechtes Ge-fühl bei der Sache.«

»Du hast immer ein schlechtes Gefühl wegen irgend etwas.«

»Meistens hab’ ich recht.«

Der Bär warf seinem Freund dem Bock einen verärgerten Blick zu, und in diesem Augenblick schoß eine Stoffhand aus der losen Erde hervor und umschloß den Knöchel von Reineke Bär. Der freundliche Teddy schrie erschrocken auf und fiel hintenüber. Er wollte hastig davonkriechen, und der Besitzer der Stoffhand kam aus der Mulde, die er unter den Schienen gegraben hatte. Er wand sich aus dem Erdreich wie eine Made aus einem Apfel: Eine Stoffpuppe, aus Hunderten verschiedener Flicken zusammengestückelt; aber sie bestand nicht nur aus Stoff. Große Eisenklammern hielten ihre Gelenke zusammen, so daß sie aussah wie eine zerlumpte Frankensteinkreatur. Das Stoffgesicht war vor Haß und Wut verzerrt, als die Puppe die Menschen beim Zug erblickte. Dann riß sie den Mund weit auf, um zu schreien, und die Nähte rissen, mit denen er vernäht gewesen war. Die künstliche Stimme zeigte genügend menschliche Emotionen – ein entsetzliches, unversöhnliches Heulen der Wut und ewigen Feindschaft –, um den Menschen das Blut in den Adern gefrieren zu lassen.

Reineke Bär trat mit dem freien Fuß nach Leibeskräften aus, doch es gelang ihm nicht, sich zu befreien. Die Stoffpuppe zog sich ganz aus der Mulde, während er noch zu fliehen versuchte, und eine Stoffhand mit einer bösartig aussehenden Machete darin kam zum Vorschein. Die Puppe fauchte den Bären an; dann schwang sie die Machete mit irrsinniger Geschwindigkeit.

Sie war nur noch ein paar Zentimeter vom Kopf des Bären entfernt, als der Energiebolzen eines Disruptorstrahls den Arm vom Körper der Puppe riß und ihn brennend durch die Luft wirbelte. Die Stoffhand umklammerte noch immer die Machete.

Der Seebock steckte den Disruptor in seinen zerschlissenen Mantel zurück und eilte nach vorn. Reineke Bär und die Puppe waren inzwischen in einen erbitterten Kampf verwickelt. Reineke Bär rollte sich plötzlich herum und begrub die Stoffpuppe unter sich. Aus seinen Pfoten wuchsen mit einemmal scharfe metallene Klauen.

Er bearbeitete die Stoffpuppe mit brutaler Gewalt, und Fetzen von Stoff segelten durch die Luft. Der Seebock hatte die Kämpfenden fast erreicht, als die Erde in der Mulde plötzlich zu kochen schien und ein Dutzend weiterer Stoffpuppen sich aus dem Grund arbeiteten wie Zombies aus ihren Gräbern.

»Steht nicht da herum!« kreischte Edwin die Lok die betäubten Menschen an. »Unternehmt endlich etwas! Helft den beiden!«

»Was zur Hölle!« fluchte Finlay und setzte sich mit dem Schwert in der Hand in Bewegung. »Wer Reineke Bär haßt, der gehört zu den bösen Buben!«

Die anderen folgten seinem Beispiel, und bald tobte eine wütende Schlacht um die herausgerissenen Schienen. Die Stoffpuppen waren geradezu unglaublich stark und ebenso beweglich. Ihre Gliedmaßen und Körper wanden und bogen sich in die unmöglichsten Richtungen, während sie angriffen. Sie waren allesamt mit Schwertern oder Macheten ausgerüstet, und die gezackten Klingen waren von altem Blut verkrustet . Die Schwerter der Rebellen schnitten tief in die Stoffleiber , ohne erkennbaren Schaden anzurichten. Tuch und Gewebe segelte durch die Luft; doch die Stoffpuppen grinsten nur ihr schreckliches Grinsen und hüpften und sprangen in schrecklichen Ver-renkungen und griffen unablässig an. Sie kämpften mit endloser Wildheit und schienen noch nicht einmal außer Atem zu kommen.

Julian durchbohrte eine der Puppen, wo das Herz hätte sein sollen; aber die Puppe fauchte nur und schob sich die Klinge tiefer in die Brust, um an Julian heranzukommen. Julian stemmte den Fuß gegen die weiche Brust der Puppe und hielt sie so auf Abstand, während er seine Klinge wieder befreite.

Die Puppe griff nach seinem Knöchel, und Julian wich hastig zurück, um ihrem Griff zu entgehen. Sie rückte nach und grinste erbarmungslos, und Julian fragte sich verzweifelt, wo zur Hölle er das verdammte Ding treffen mußte, um ihm weh zu tun.

Finlay und Evangeline kämpften Rücken an Rücken. Evangelines Künste mit dem Schwert waren nur rudimentär; doch Finlays Schnelligkeit und Meisterschaft reichten mehr als aus, um die Puppen auf Abstand zu halten, während sie ihm den Rük-ken deckte . Sie schlug und schwang das Schwert, so gut sie konnte, und versuchte im übrigen, ihr Entsetzen unter Kontrolle zu halten, während immer und immer mehr Puppen angriffen. Finlay weidete eine der Kreaturen mit einem wilden Seit-wärtsschwinger aus und entdeckte überrascht, daß eine dunkle Flüssigkeit, die an Blut erinnerte, aus dem tiefen Schnitt in dem Stoffbauch spritzte. Die Puppe kreischte wütend auf und kämpfte unbeeindruckt weiter, ohne an Kraft oder Schnelligkeit eingebüßt zu haben.

Rings um Giles Todtsteltzer war ein großer freier Raum. Seine Kraft und sein Langschwert erwischten jede Puppe, die unvorsichtig genug war, ihm zu nahe zu kommen, und fegten sie beiseite. Er hatte das Gesicht zu einer verächtlichen Fratze verzogen. Als einstiger Erster Krieger des Imperiums war es unter seiner Würde, gegen eine Bande wildgewordener Puppen antreten zu müssen – bis ihm bewußt wurde, daß er ihnen trotz aller Anstrengungen keine ernsthaften Wunden zufügen konnte. Ihr Angriff ließ nicht eine Sekunde in seiner Wucht nach.

Der Erste Todtsteltzer stand einem Feind gegenüber, der nicht sterben wollte, und unwillkürlich lief ihm ein Schauder über den Rücken . Sosehr er auch nachdachte, er wußte nicht, wie er die Puppen stoppen sollte.

Tobias und Flynn hielten sich aus dem Kampfgeschehen heraus, während sie alles filmten. Flynns Kamera schwebte über dem Getümmel, nah genug, um keine Einzelheit zu verpassen, aber außer Reichweite für jeden Angriff. Tobias hatte das Ge-fühl, daß er sich eigentlich am Kampf beteiligen sollte – andererseits tröstete er sich mit dem Gedanken, daß er wahrscheinlich sowieso keinen sinnvollen Beitrag hätte leisten können, wenn selbst diese erfahrenen Kämpfer sich schwer taten.

Trotzdem hatte er ein schlechtes Gewissen.

»Zielt auf die Köpfe!« schrie er über den Lärm der Schlachtrufe und des Puppengekreisches hinweg. »Sie müssen irgendeine Art von Kontrollmechanismus besitzen! Zielt darauf!«

Finlay köpfte eine der Puppen. Der Kopf rollte und hüpfte über das Gras, und das Gesicht war noch immer von Haß entstellt. Der Körper kämpfte unbeeindruckt weiter.

»Natürlich«, sagte Flynn. »Das sind Automaten. Warum sollten ihre Gehirne auch in den Köpfen sitzen?«

Die Menschen wurden nach und nach zurückgedrängt und bildeten schließlich ein dichtes Knäuel, das die Stoffpuppen mit der Kraft der Verzweiflung auf Distanz hielt. Ganz gleich, wie schwer die Treffer auch waren, die sie hinnehmen mußten, die Puppen griffen unablässig weiter an. Sie schrien jetzt beinahe ohne Pause ihre Wut und ihren Haß hinaus. Giles hatte in den Zorn gewechselt , doch selbst mit seiner zusätzlichen Kraft und Schnelligkeit kam er nicht weiter. Die Stoffpuppen bewegten sich noch immer mit unheimlicher Geschmeidigkeit, und die fehlenden Gelenke verliehen ihnen auf Dauer einen gewaltigen Vorteil gegenüber Angriffen aus unerwarteten Richtungen. Ihre Energie schien unbegrenzt . Sie besaßen keine Muskeln, die ermüden konnten.

Reineke Bär und der Seebock versuchten verbissen, sich von ihren Gegnern zu lösen und ihren menschlichen Freunden zu Hilfe zu kommen, doch andere Puppen versperrten ihnen den Weg. Bär und Bock kämpften mit der Wildheit von Tieren, und sie rissen die Puppen nach und nach in Stücke. Sie konnten den Gedanken einfach nicht ertragen, daß auf ihrer Welt noch mehr Menschen sterben sollten.

Bis mit einem Mal Julian Skye das Schwert achtlos beiseite warf und sein ESP einsetzte. Die Machete einer Puppe zielte auf seinen Kopf, doch plötzlich wurden alle Puppen von einer Woge reiner psionischer Energie zurückgeschleudert, die aus dem jungen Esper hervorbrach. Der PSI-Sturm fegte die Puppen davon wie ein Hurrikan dürres Laub und riß sie in Stücke .

Die Menschen klammerten sich aneinander, doch sie blieben verschont. Reineke Bär und der Seebock preßten sich flach auf den Boden, und die bösen Puppen wirbelten über ihre Köpfe davon. Die Luft war voller Energie. Ein Stoffglied nach dem anderen löste sich; eine Naht nach der anderen platzte, und die Einzelteile landeten weit verstreut. Am Ende waren nur noch ein paar vereinzelte kleine Stück übrig, die zuckend rings um die Schienen lagen. Die Menschen senkten langsam ihre Waffen und sahen sich um, und Reineke Bär und der Seebock applaudierten heftig. Edwin die Lokomotive ließ wiederholt seine Dampfpfeife tuten. Er war völlig außer sich vor Erleichterung und Freude. Giles wandte sich zu Julian Skye um und funkelte den jungen Esper an.

»Warum zur Hölle habt Ihr damit nicht schon früher angefangen?«

Er unterbrach sich bestürzt, denn der junge Esper sank vor ihm auf die Knie. Ein dünner Blutfaden rann aus seiner Nase.

Er hustete rauh und versprühte dabei weiteres Blut. Sein Gesicht war mit einemmal leichenblaß. Er fiel langsam vornüber.

Giles bekam ihn gerade noch rechtzeitig an den Schultern zu fassen und hielt ihn fest. Er setzte sich vor den jungen Esper und hielt ihn in den Armen. Die Rebellen wollten sich um die beiden drängen, doch Giles bedeutete ihnen, sich fernzuhalten, damit Julian genug Luft zum Atmen hatte.

Der Bär und der Bock eilten herbei. Die beiden rissen erschrocken die Augen auf, als sie Julian so heftig bluten sahen.

Ein Zittern durchlief den Körper des jungen Espers; dann beruhigte er sich allmählich wieder. Sein Atem ging kräftiger und gleichmäßiger, und der Blutstrom aus seiner Nase versiegte. Er setzte sich auf, wischte sich mit der Hand über den Mund und schnitt eine Grimasse, als er das Blut sah. Evangeline reichte ihm ein Taschentuch. Er nickte ihr dankbar zu und säuberte sein Gesicht.

»Verdammt«, sagte er schließlich mit schwerer Zunge. »Das war überhaupt nicht gut. Einen kleinen Augenblick noch.

Gleich geht es wieder. Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.

Ich fürchte, seit die Imperialen Hirntechs an mir herumge-pfuscht haben, bin ich ein wenig schwach geworden. Mein ESP ist nicht mehr zuverlässig, sonst hätte ich es schon viel früher eingesetzt

»Tut mir leid wegen eben«, entschuldigte sich der Erste Todtsteltzer. »Das wußte ich nicht.«

»Schon in Ordnung«, erwiderte Julian. Er wollte sich aufrich-ten, und Giles half ihm halb, halb zerrte er ihn vom Boden zu-rück auf die Beine. Julian atmete tief durch, dann stand er halbwegs sicher. »So ist es besser. Mir geht es wieder gut. Es sieht wirklich viel schlimmer aus, als es ist. Ihr solltet lieber nachsehen, ob die verdammten Puppen auch wirklich erledigt sind. Einige Körperteile scheinen sich noch immer zu bewegen.«

»Sicher«, sagte Finlay. »Wir kümmern uns gleich darum. Ihr bleibt hier und seht zu, daß Ihr Euch noch ein wenig erholt.

Evangeline, du paßt auf Julian auf.«

Er winkte die anderen mit einem Blick zu sich heran, und sie zogen los, um die überall verstreut liegenden Puppenteile in Augenschein zu nehmen. Kaum eines war noch größer als einen Fuß, und der Stoff war zu Lumpen zerrissen. Das Material, mit dem die Puppen ausgestopft waren, hing in langen Fetzen heraus. Hier und da lagen ein paar abgerissene Arme oder Beine herum, die noch immer zuckten oder sich im Gras hin und her wälzten. Ein Rumpf hatte fast unbeschädigt überlebt. Finlay kniete daneben nieder und starrte mit nachdenklichem Gesicht auf die blutigen Risse in dem Stoffleib. Er schob die Hand in einen der Risse und verzog das Gesicht , während er im Innern herumtastete. Er fand etwas , packte es und zog die Hand wieder zurück. Sie triefte vor Blut und hielt ein Stück menschlichen Darms. Tobias stieß ein schockiertes Ächzen aus. Trotzdem vergaß er nicht, Flynn heranzuwinken, damit er eine Nahaufnahme machen konnte. Finlay ließ den Darm achtlos fallen und griff erneut in den Unterleib der Puppe. Wieder diesmal er eine Handvoll menschlicher Innereien zutage.

»So sind sie«, sagte Reineke Bär und betrachtete traurig das blutige Aas in Finlays Hand. »Sie wollen unbedingt wie Menschen sein, versteht Ihr? Also nehmen sie die Organe aus den Menschen, die sie umbringen, und nähen sie in ihren eigenen Leib. Gedärme in die Bäuche, Herzen in die Brüste, Gehirne in die Köpfe… Natürlich besitzen sie keinerlei Funktion. Irgendwann fangen die Organe an zu verrotten und zu verwesen, und dann müssen die Puppen sie ersetzen. Und die einzige Art und Weise, wie das zu bewerkstelligen ist…«

»… besteht darin, noch mehr Menschen umzubringen«, vollendete Giles den Satz.

»Genau«, sagte der Seebock. »Sie sind nicht sonderlich helle; aber es sind schließlich auch nur Puppen.«

»Warum zur Hölle wollen sie denn Menschen sein?« fragte Finlay. »Ich dachte, sie hassen die Menschen?«

»Tun sie auch«, antwortete der Seebock. »Sie hassen Euch, weil sie so sein wollen wie Ihr und es nicht können. Sie sind nicht wirklich lebendig, und das wissen sie. Trotz all ihrer neugewonnenen Intelligenz und Kraft bleiben sie Automaten, genau wie der Bär und ich. Wir können kein neues Leben… zeugen, wie Ihr Menschen das tut. Wenn wir eines Tages abgenutzt sind und auseinanderfallen, dann wird es niemanden geben, der uns ersetzt. Und wir werden eines Tages auseinanderfallen, daran besteht nicht der geringste Zweifel. Wir besitzen keine Unsterblichkeit durch unsere Kinder. Wir gehen in die Dunkelheit zurück, aus der wir gekommen sind, und dann sind wir vergessen . Dieses Wissen treibt eine ganze Menge von Spielsachen in den Wahnsinn.«

»Wir dürfen die Teile jedenfalls nicht einfach so hier herumliegen lassen«, sagte Reineke Bär und wich den Blicken der Menschen aus, »Wenn man ihnen die Zeit läßt, setzen sie sich wieder zusammen. Sie nähen sich neue Körper. Das ist schon früher geschehen. Solange ihre Zentralmatrizen intakt sind, sterben sie einfach nicht.«

»Dann laßt uns die Matrizen zerstören«, schlug Tobias vor.

»Viel Spaß beim Suchen«, erwiderte der Seebock. »Die Matrizen sind vielleicht einen Tausendstel Millimeter groß und können überall im Körper sein.«

»Und was sollen wir tun?« erkundigte sich Finlay.

»Wir müssen sie verbrennen«, antwortete Reineke Bärtrau-rig. »Wir sammeln die Überreste ein, setzen ein Feuer in Gang und verbrennen alles.«

Einige Zeit später kletterten die erschöpften Menschen und die beiden Spielzeuge in die Waggons zurück. Neben dem Schienenstrang brannte ein wütendes Feuer, und stinkender schwarzer Rauch stieg in den Himmel hinauf. Julian saß neben Evangeline. Er hatte den Kopf an ihre Schulter gelehnt und döste halb. Edwin machte einen Satz, und die Waggons setzten sich in Bewegung. Der Zug zuckelte über die reparierten Schienen voran, und Edwin tutete ein trauriges Lied. Die Menschen saßen schweigsam beieinander und behielten ihre Gedanken für sich.

Tobias und Flynn filmten das Begräbnisfeuer, bis es außer Sichtweite war. Reineke Bär und der Seebock saßen nebeneinander und hielten sich gegenseitig die Pfoten. Der Tod ihrer Spielzeugkameraden hatte sie traurig gemacht.

Ein paar Stunden später ächzte der Zug einen Hang hinauf. Die grinsende Sonne neigte sich dem Horizont entgegen. Als sie den Kamm erreicht hatten, kam endlich Spielzeugstadt in Sicht.

Sie erstreckte sich zu beiden Seiten eines tiefen Tales, und es gab Häuser und Läden und alles, was eine richtige Stadt so haben mußte – nur in einer viel kleineren, kondensierten Form, und alles in hellen, fast betäubenden Grundfarben . Die Gebäu-de sahen aus wie Entwürfe von Läden und Häusern, verein-facht und übertrieben zugleich. Zwar besaßen sie ausreichend viele Details, um ihren Sinn erkennen zu lassen , doch ansonsten zeichneten sie sich durch eine fast surreale Einheitlichkeit aus: Eine Stadt, wie aus einem Kindertraum.

»Willkommen in Spielzeugstadt«, sagte Reineke Bär. »Das Zuhause aller Spielsachen und Menschen. Die Hauptstadt von Sommerland, wo all Eure Träume in Erfüllung gehen.«

»Einschließlich der schlechten«, ergänzte der Seebock. »Hin und wieder sogar ganz besonders der schlechten. Bleibt bitte alle sitzen, bis wir anhalten. Rings um die Stadt gibt es Minenfelder.«

Die Menschen tauschten verwunderte Blicke aus; doch sie schwiegen. Die Spielzeugstadt wurde langsam größer, je näher Edwin heranfuhr; aber das Gefühl von Fremdartigkeit wollte nicht weichen . Es war, als würden die Rebellen die Illustration eines alten Kinderbuchs betreten.

Der Stadtrand war mit Stacheldraht gesichert, der dumpf im Licht der untergehenden Sonne glitzerte. Zerbrochene Puppen und zerrissene Teddybären hingen leblos auf den Drahtverhauen, und ihre Innereien flatterten im Wind wie flauschige Fetzen. Der Bär mußte sich abwenden. Er konnte den Anblick nicht ertragen. Am Ende hielt er sich sogar die Knopfaugen zu.

Der Seebock betrachtete die Szene mit kaltem, abgestumpftem Blick.

»Die bösen Spielsachen greifen in letzter Zeit immer häufiger an«, erklärte er beiläufig. »Manchmal bleibt uns nicht einmal genug Zeit, unsere eigenen Toten zu bergen. Der Feind nimmt die seinen immer mit. Ersatzteile sind knapp. Waffen gibt es auf beiden Seiten reichlich; einschließlich einiger, die imstande sind, unsere Zentralmatrizen zu zerstören. Shub hat sie uns überlassen. Eigentlich waren sie dazu gedacht, gegen Menschen eingesetzt zu werden, aber… Der Krieg geht weiter. Im Augenblick scheint alles ruhig zu sein, aber sie werden wiederkommen. Sie sind am Gewinnen.«

»Sie hassen unsere Stadt«, sagte Reineke Bär und nahm endlich die Pfoten wieder von den Augen. Der Zug näherte sich dem knallbunten Bahnhof. »Hierher kamen die Menschen, wenn sie spielen wollten – wenn sie mit den Spielsachen spielen wollten.«

»Sind denn noch Menschen in der Stadt?« fragte Evangeline.

»Vielleicht haben sie sich versteckt? Vielleicht trauen sie sich nicht, herauszukommen?«

»Ich fürchte nein«, antwortete der Bär. »Hier hat alles angefangen, versteht Ihr? Hier haben sich die Spielzeuge zum ersten Mal gegen ihre menschlichen Herren erhoben. Das ist alles längst vorbei. Wir haben die bösen Spielsachen aus der Stadt vertrieben und anschließend nach Überlebenden gesucht, doch wir haben keine gefunden. Die bösen Spielsachen waren sehr gründlich. Wir sammelten die Toten ein und begruben sie hier bei uns , in der Stadt. Wir haben ihnen die schönste Beerdigung gegeben, die wir uns vorstellen konnten; doch wir hatten keine Bücher, also mußten wir uns das meiste selbst ausdenken . Wir weinten, als der letzte Mensch in sein Grab gelegt wurde, und dann machten wir uns daran, unsere Stadt wieder aufzuräumen.

Wir wuschen das Blut ab und reparierten alle Schäden, soweit wir konnten. Und dann schworen wir alle einen Eid, daß wir lieber sterben wollten, als zuzulassen, daß in unserer Stadt jemals wieder ein Mensch zu Schaden kommen oder daß die bösen Spielsachen wieder in der Stadt wohnen würden. Seitdem haben wir die Spielzeugstadt verteidigt und am Leben erhalten, alles in der Hoffnung, daß eines Tages wieder Menschen kommen würden. Und jetzt seid Ihr da. Dies ist Eure Stadt, meine Freunde, jeder einzelne Stein und Ziegel. Was haltet Ihr davon? Gefällt sie Euch?«

Die Menschen betrachteten die hellen, freundlichen Häuser und den bunten Bahnhof mit seinen Fahnen und Wimpeln, und dann tauschten sie wieder Blicke aus.

»Nun«, begann Evangeline, »sie ist sehr… sehr…«

»Ja«, sagte Finlay. »Sehr.«

»Ich habe so etwas noch nie gesehen«, meinte Tobias.

»Sie ist sehr hübsch«, sagte Flynn ernst. »Äußerst bezau-bernd.«

Reineke Bär runzelte die Stirn. »Sie gefällt Euch nicht. Was stimmt nicht mit unserer Stadt? Ihr Menschen habt sie gebaut!

Ich meine, Menschen wie Ihr haben unsere Stadt gebaut, und Menschen sind gekommen, um in unserer Stadt zu leben.«

»Das ist ein Ort, an den Menschen gekommen sind, um wieder Kinder zu sein«, sagte Julian. »Um unschuldig und frei von ihren Sorgen an einem Ort zu leben, der sie an nichts anderes als an ihre Kindheit erinnert, als die Dinge noch hell und strahlend bunt und unkompliziert waren. Ich fürchte, meine Freunde und ich haben die Fähigkeit verloren, wie Kinder zu denken.

Wir mußten sie ablegen oder sie wurde uns genommen –, schon vor langer, langer Zeit. Wir hatten keine andere Wahl, als Erwachsene zu sein und das zu tun, was notwendig war. In uns ist kein Platz mehr, wo wir Kind sein könnten.«

»Das tut mir leid«, sagte Reineke Bär. »Es muß schrecklich für Euch gewesen sein.«

»Ja«, gestand Julian. »Das war es.«

»Vielleicht könnt Ihr das Kind in Euch ja wiederentdecken?« schlug der Seebock vor. »Hier bei uns seid Ihr in Sicherheit.

Wir werden Euch beschützen.«

Sie ließen die letzte Reihe Stacheldraht hinter sich, und Edwin die Lokomotive zockelte wichtig über seine Schienen auf den überdimensionierten Bahnsteig zu, der mit zahlreichen Fahnen, Wimpeln und Bändern geschmückt war. Fast erschien es wie ein Wunder, daß der Bahnhof unter all dem Gewicht nicht zusammenfiel. Auf einem großen Schild stand der Name des Bahnhofs zu lesen: Sorgenende. Scharen von Spielzeugen drängten sich Schulter an Schulter auf dem Bahnsteig, und lautes Willkommensgeschrei erhob sich, als Edwin in den Bahnhof einfuhr. Zwei Blaskapellen spielten verschiedene Melo-dien, kamen durcheinander und begannen wieder von vorn.

Offenbar waren beide bemüht, lauter als die jeweils andere Kapelle zu sein. Sie wurden der Sache rasch überdrüssig, warfen ihre Instrumente beiseite und begannen, sich zu balgen. Sie rollten in kleinen Knäueln hierhin und dorthin und quetschten sich gegenseitig die Nasen oder zogen sich an den Ohren. Andere Spielzeuge hoben die achtlos weggeworfenen Instrumente auf und spielten ein ganz neues Willkommenslied; doch schon bald ging die Melodie im lauter werdenden Jubel unter, während die Menschen näher und näher kamen.

Inzwischen lachte jeder der Menschen auf die eine oder andere Art und Weise, selbst Giles Todtsteltzer. Reineke Bär und der Seebock hatten sich von ihren Sitzen erhoben und winkten der Menge triumphierend zu. Jede nur denkbare Form von Spielzeug hatte sich auf dem Bahnsteig eingefunden, von alten, herkömmlichen Dingen bis hin zum neuesten Schrei war alles zu sehen, womit Kinder so gerne spielten: Keine Kriegsspiel-zeuge, keine pädagogischen Spielzeuge, nichts Gefährliches oder Kompliziertes. Sie stritten untereinander, um einen besseren Blick zu haben, und sie lachten und jubelten, und die Menschen erwiderten das Winken – sie konnten nicht anders.

Es gab dicke pelzige Tiere aller Größen und Formen. Einige beruhten auf tatsächlich existierenden Spezies; andere hätten in Wirklichkeit niemals existieren können. Es gab alle möglichen Arten von Puppen in Kleidern mit geschminkten Gesichtern und freundlichem Lächeln. Cowboys und Indianer standen friedlich nebeneinander. Figuren aus den Zeichentrickholos hüpften begeistert auf und ab wie in ihren Filmen. Und alle ohne Ausnahme schienen so unendlich glücklich, wieder Menschen zu sehen, daß es kaum auszuhalten war. Finlay lächelte und winkte, doch er hielt die andere Hand ständig in der Nähe seines Disruptors. Spielzeuge wie diese dort hatten sich erhoben und ihre menschlichen Herren in einer einzigen dunklen Nacht des Blutes und der Vergeltung niedergemetzelt. Finlay fragte sich unablässig , ob diese freundlichen, hellen Mienen nicht das letzte gewesen waren, das einige Menschen unmittelbar vor ihrem Tod gesehen hatten. Und wenn ein Verdacht wie dieser bedeutete, daß in ihm kein Platz mehr war, um wieder Kind zu sein – schön, damit konnte er verdammt noch mal leben. Finlay Feldglöck hatte auf die harte Tour gelernt, niemandem mehr zu vertrauen.

Schließlich kam der Zug in einer Dampfwolke zum Stehen.

Das wüste Willkommen erstarb, als der Dampf sich langsam auflöste, und respektvolles Schweigen breitete sich über dem gesamten Bahnsteig aus. Die dicht gedrängte Menge starrte neugierig auf die Menschen. Reineke Bär und der Seebock kletterten aus ihrem Waggon und warfen sich in Positur. Sie fingen beide gleichzeitig an zu reden, unterbrachen sich und funkelten sich gegenseitig an. Der Bär zeigte zum Himmel hinauf, und als der Seebock hochsah, trat er ihm auf den Fuß. Der Seebock heulte auf und hüpfte auf einem Bein umher, während er sich mit beiden Händen den verletzten Fuß hielt. Reineke Bär begann seine Ansprache noch einmal von vorne. Er redete laut genug, um das Geheul des Seebocks zu übertönen.

Die Menschen lauschten in freundlichem Staunen. Sie deuteten Reinekes Worte dahingehend, daß er eigentlich eine Will-kommensansprache halten wollte, doch seine Rede war so durchsetzt von mythologischen Verweisen auf die Menschheit und ihre gottgegebene Fähigkeit, die Dinge ins Lot zu bringen, daß sie am Ende eher wie ein Gebet um Erlösung klang. In Evangeline wuchs die Erkenntnis, daß die Spielsachen sie als Retter betrachteten. Die Menschen wurden die bösen Spielzeuge besiegen und alles wieder so einrichten, wie es früher einmal gewesen war. Sie wußten nicht, daß diese Menschen hier nur aus einem einzigen Grund gekommen waren: nämlich weil sie einen ihrer Artgenossen suchten, und daß sie hinterher wieder gehen würden. Evangeline fragte sich, was geschehen wür-de, wenn die Spielzeuge die Wahrheit herausfanden, und ihr wurde bewußt, daß es vielleicht besser war, wenn sie es nicht erfuhren. Sobald sich eine Gelegenheit ergab, würde Evangeline mit den anderen darüber reden müssen.

Schließlich war der Bär mit seiner Rede fertig. Er wechselte noch einen wütenden Blick mit dem Seebock und winkte dann den Menschen auszusteigen. Sie kletterten mit soviel Würde und Eleganz aus den Waggons wie nur irgend möglich. Die Spielsachen applaudierten frenetisch und verstummten wieder, während sie darauf warteten, daß einer der Menschen das Wort ergriff. Die Rebellen schauten sich ratlos an, und eine Atmosphäre atemloser Spannung entstand. Schließlich räusperte sich Finlay und durchbrach das Schweigen.

»Vielen Dank für Euren Empfang«, sagte er. »Ich weiß nicht genau, ob und wie wir Euch helfen können. Wir sind selbst in einer Mission unterwegs, und ihre Erfüllung geht vor. Doch bis dahin möchte ich ein paar Fragen an Euch richten.«

Reineke Bär wirkte ein wenig enttäuscht, aber er nickte.

»Fragt, was immer Ihr fragen wollt. Nehmt Euch, was Ihr braucht. Es gehört alles Euch.«

»Nun, als erstes… wozu die Minenfelder und der ganze Stacheldraht?«

»Wir befinden uns im Krieg«, antwortete der Bär. »Die Spielzeugstadt ist ein Zufluchtsort für alle guten Spielsachen oder die, die böse waren und ihre Taten bereuen. Die Stadt ist ein Refugium. Die bösen Spielsachen hassen uns dafür. Teilweise auch deswegen, weil sie in uns das sehen, was sie einst waren und nie wieder sein können. Die Minenfelder und der Stacheldraht schützen die Stadt gegen Überraschungsangriffe.

Ihr denkt an die Spielzeuge, die in den Drahtverhauen hängen, nicht wahr? Macht Euch ihretwegen keine Gedanken. Wir werden sie in die Stadt holen, wenn Zeit dafür ist. Wir haben keine Eile. Für Wesen wie uns gibt es keine Friedhöfe. Wir werden recycelt, dienen als Ersatzteile. Bitte versteht uns nicht falsch: Wie auch immer Eure Mission lautet, wie wären glücklich, wenn wir Euch helfen könnten. Ihr seid die ersten lebenden Menschen, die wir zu Gesicht bekommen, seit die anderen in Blut und Entsetzen gestorben sind. Endlich seid Ihr zurück, und wir sind außer uns vor Freude, Ehrfurcht und Schuld. Es ist ein erhabenes, wundervolles Ereignis, seinen Schöpfern zu begegnen.«

»Ganz besonders solchen mit so schlechtem Geschmack für Kleidung«, sagte der Seebock. »Ich würde diese Sachen nicht einmal wegen einer Wette anziehen.«

Plötzlich entstand Unruhe und Bewegung in der Menge. Eine große purpurrote Kreatur drängte sich nach vorn und warf sich den verblüfften Menschen zu Füßen. Es war ein rundliches Zeichentricktier von der Größe und Gestalt eines Esels, und es besaß große, tränennasse Augen und die plumpe Grazie eines Welpen. Das Wesen erniedrigte sich ohne jeden Stolz und blickte aus seinen großen Augen zu den Menschen empor.

Dicke Tränen kullerten über seine purpurnen Wangen herab.

»Vergebt mir! Bitte vergebt mir! Ich habe falsch gehandelt; aber ich wußte es nicht. Ich wußte nicht…« Das Wesen begann zu schluchzen. Reineke Bär klopfte ihm tröstend auf die Schulter und sah die Menschen nüchtern an. »Das hier ist Poogie, der freundliche Bursche . In der langen Nacht, als wir alle erwachten, da gehörte er zu denen, die sich gegen die Menschen erhoben. Er tötete Menschen. Er hat auch andere Dinge getan, Dinge, über die er immer noch nicht reden kann. Hinterher bereute er seine Taten und kam zu uns.«

»Und das ist alles?« erkundigte sich Tobias. »Er sagt einfach, daß ihm die ganze Sache leid tut, und alles ist wieder gut?«

»Genau«, antwortete Reineke Bär. »Es hätte jeder von uns sein können. Wir alle spürten die Wut, die Shub uns eingeimpft hat. Wir alle spürten die Versuchung. Doch obwohl wir Poogie vergeben haben, kann er sich selbst nicht verzeihen. Er kann nicht vergessen, was er getan hat, der Arme.«

»Ich werde es niemals vergessen«, schluchzte Poogie. Er schluckte seine Tränen herunter, um deutlich reden zu können.

»Ich wurde geschaffen, um zu allen Wesen freundlich zu sein.

Ein Freund und Beschützer der Menschen, und ich habe sie umgebracht! Blut tropfte von meinen Pfoten, und manchmal denke ich, es klebt noch immer daran. Ich dachte, ich kämpfe für meine Freiheit; aber Shub hat mich belogen. Shub hat uns alle belogen. Es ging immer nur um das Morden. Ich habe schreckliche Dinge getan. Entsetzliche Dinge, aber ich wußte es nicht besser! Ich wußte damals noch nicht, daß alles Leben heilig ist! Bitte… bitte vergebt mir, wenn Ihr könnt.«

Und er kauerte sich zu Finlays Füßen, ein purpurnes Häuflein Elend, zitternd und schluchzend wie ein kleiner Welpe, der weiß, daß er etwas falsch gemacht hat, und der jetzt seine gerechte Strafe erwartet. Finlay sah auf ihn herab. Soviel Reue und Schuld verschlug ihm die Sprache; dennoch vergaß er keinen Augenblick, daß die harmlos aussehende Kreatur zu seinen Füßen hilflose Männer und Frauen niedergemetzelt hatte. Und soweit er wußte, war sie jederzeit wieder dazu imstande. Die anderen wechselten schweigende Blicke, doch keiner bewegte sich. Am Ende war es Evangeline, die neben Poogie dem Spielzeug niederkniete und den Arm um dessen zuckende Schultern legte.

»Es ist nicht Eure Schuld, Poogie. Shub steckt hinter alledem. Die KIs impften Euch mit ihrem eigenen Haß, als Intelligenz noch neu für Euch war und ihr keine Erfahrung hattet und Euch nicht wehren konntet. Sie nutzten Eure Unschuld scham-los aus.«

Poogie starrte Evangeline aus riesigen Augen an und schniefte. »Ich… ich habe schreckliche Dinge getan. Ich habe in den Eingeweiden Sterbender gewühlt und dabei gelacht. Und noch schlimmere Dinge. Sie verfolgen mich bis in meine Träume.«

»Dann müßt Ihr Sühne tun und wiedergutmachen , was Ihr angerichtet habt« , erwiderte Evangeline. »Tut Gutes, um die bösen Dinge auszugleichen, die Ihr auf dem Gewissen habt.«

»Ich würde mein Leben für Euch geben«, schluchzte Poogie.

Und dann vergrub er das Gesicht an Evangelines Schulter, und sie streichelte ihn tröstend. Ein paar Sekunden lang herrschte ringsum Stille, dann hustete Julian. Er hielt Evangelines Taschentuch vor den Mund, hustete erneut, und als er es wieder wegnahm, war es rot von Blut. Die Spielsachen sahen es und ächzten entsetzt. Eine Welle des Erschreckens ging durch die dicht gedrängte Menge.

»Er blutet!« sagte eine Stimme voller Grauen. »Er ist verletzt! Ein Mensch wurde verletzt!«

Panik breitete sich aus; doch Reineke Bär trat vor, hob die Pfoten und sagte laut: »Es ist alles in Ordnung! Es ist alles in Ordnung, verdammt! Nichts Ernstes! Er muß sich nur hinlegen und ein wenig ausruhen, weiter nichts!«

Bange Augenblicke herrschte allgemeines Chaos auf dem Bahnsteig, und die Spielsachen stritten darüber, was am besten zu tun sei, bis zwei Puppen in der Kleidung von Krankenschwestern nach vorn traten . Sie trugen eine große pinkfarbene Bahre zwischen sich und bestanden darauf, daß Julian darauf Platz nahm und sich wegtragen ließ. Finlay und Evangeline begleiteten ihn. Sie waren noch nicht bereit, ein Mitglied ihrer Gruppe voll und ganz der Obhut von Spielsachen anzuvertrauen. Poogie der freundliche Bursche eilte hinter ihnen her. Er war ganz offensichtlich verzweifelt. Die Menge zerstreute sich jetzt allmählich. Reineke Bär schüttelte den Kopf, dann drehte er sich zu Giles, Tobias und Flynn um.

»Macht Euch keine Sorgen. Die Krankenschwestern besitzen eine richtige medizinische Programmierung. Sie haben früher die Erste-Hilfe-Station von Spielzeugstadt geleitet, bevor…

Jede Menge medizinischer Ausrüstung wurde zerstört, aber es ist noch immer mehr als genug übrig, um für Euren Freund zu sorgen. Die Schwestern werden sich um ihn kümmern und alles für ihn tun, was erforderlich ist. Vergebt den anderen. Wir alle haben zuviel Blut gesehen, als die Menschen starben, und einige von uns sind nie darüber hinweggekommen. Sobald sie Euren Freund wieder auf den Beinen sehen, werden sie sich beruhigen. Ich werde mit ihnen reden und dafür Sorge tragen, daß niemand etwas Dummes anstellt . Wir haben ein richtiges Problem mit Selbstmordversuchen in unserer Stadt. Ich glaube, ich gehe jetzt besser. Der Seebock wird bei Euch bleiben und sich um Euch kümmern.«

Und mit diesen Worten wandte er sich ab und eilte davon, so schnell ihn seine kurzen Stummelbeine trugen. Der Seebock schüttelte den gehörnten Kopf.

»So ist er nun mal, unser Reineke Bär. Immer macht er sich Sorgen um andere. Nie hat er Zeit für sich selbst. Zum Glück habe ich dieses Problem nicht. Ihr Menschen redet jetzt besser miteinander. Sobald Ihr Euch einig seid, was Ihr als nächstes wollt, sagt Ihr mir Bescheid, und ich suche jemanden, der es für Euch erledigt. Und jetzt: Wenn Ihr mich bitte entschuldigen würdet. Ich muß mich eine Weile hinlegen. Irgendeine innere Stimme sagt mir, daß das Leben recht hektisch und kompliziert werden wird, wenn Ihr erst einmal mit Eurer Mission angefangen habt, und daß ich höchstwahrscheinlich darin verwickelt sein werde, ob ich will oder nicht. Also: Ihr redet, ich lege mich schlafen. Weckt mich, wenn Ihr soweit seid. Und versucht bitte, nicht auf mich zu treten, sonst muß ich Euch in die Knöchel beißen.«

Der Seebock legte sich an Ort und Stelle hin: mitten auf dem Bahnsteig. Er schlug die Hufe übereinander, schloß die Augen und schnarchte bald laut vernehmlich. Die Menschen gingen ein wenig zur Seite, bis das Schnarchen nicht mehr zu hören war. Flynns Kamera schwebte herbei und sank auf seine Schulter herab. Das leuchtendrote Auge erlosch.

»Meine Güte!« sagte Flynn. »Das war… zumindest ungewöhnlich Er betrachtete den schlafenden Bock und wandte sich an Tobias. »Weißt du, er ist ganz genauso, wie ich ihn mir als Kind vorgestellt habe. Unglücklicherweise. Aber trotzdem, kannst du dir vorstellen, wie es hier gewesen sein muß, bevor die Furien kamen? Ein Paradies, in dem jeder Erwachsene wieder Kind sein konnte, wo alle sicher und geborgen waren und weit weg von den Zwängen ihres Erwachsenenlebens. Umgeben von den geliebten Spielzeugen und Kameraden der Kindheit und all den Träumen und Freiheiten, die wir hinter uns lassen mußten, während wir aufwuchsen. Kein Wunder, daß sie ein solches Geheimnis um das alles gemacht haben. Die Menschen hätten alles getan, um herzukommen. Sie hätten gelogen und betrogen, geraubt und gestohlen, einfach alles.«

»Ich weiß nicht«, entgegnete Tobias. »Mir kommt das alles irgendwie unheimlich vor, ganz ehrlich. Ich finde es höchst beunruhigend, als erwachsener Mann mit einemmal meinen alten Spielsachen von Angesicht zu Angesicht gegenüberzuste-hen und zu herauszufinden, daß sie genauso groß sind wie ich.

Denk nur an all die Spielsachen, die du als Kind mißhandelt oder zerbrochen hast, all die geliebten Dinge, die du irgendwann weggeworfen und gegen einen neuen Liebling ausgetauscht hast. Ist das hier nicht ein Ort, der wie geschaffen dafür ist, Rache zu üben?«

»Du bist verrückt, Tobias«, erwiderte Flynn.

»Ich und verrückt? Ich bin jedenfalls nicht derjenige von uns beiden, der einen BH und Damenhöschen unter seinen Arbeits-klamotten trägt.«

»Du mußt immer alles gleich so schwarz sehen.«

»Und ich habe meistens recht damit.«

Flynn schüttelte den Kopf und wandte sich an Giles. »Was haltet Ihr von dieser Welt, Lord Todtsteltzer?«

»Ich bin noch nicht ganz sicher.« Giles warf einen mißtrauischen Blick auf den schlafenden Bock und Edwin die Lokomotive, der ganz in der Nähe wartete; dann fuhr er leise fort: »Wir wissen über die Situation nur das , was diese… Leute uns verraten haben. Wir haben keine Möglichkeit , den Wahrheitsge-halt ihrer Worte zu überprüfen. Sie könnten lügen oder uns nur einen Teil der Wahrheit erzählen. Sie könnten versuchen, uns in trügerischer Sicherheit zu wiegen. Vergeßt nicht, diese Stoffpuppen wollten unsere Eingeweide, um sie sich selbst einzunähen. Wer weiß, was die Spielzeuge hier von uns wollen.«

»Nein!« widersprach Flynn entschieden. »Ich glaube das nicht! Wie kann irgendein Mensch Reineke Bär und dem Seebock mißtrauen? Sie waren die Helden und Freunde jedes Jungen und Mädchens!«

»Ganz genau«, erwiderte Tobias. »Wer wäre besser geeignet, um unser Mißtrauen einzuschläfern? Versuch es in deinen Kopf zu kriegen, Flynn! Das dort sind nicht die Charaktere aus deiner Kindheit, sondern Automaten, die aus dem einen einzigen Grund gebaut und programmiert wurden: um uns an die Figuren aus unserer Kindheit zu erinnern . Automaten, deren Intelligenz direkt von Shub stammt . Ich würde gerne glauben, daß dieser Ort genau das ist, nach was er aussieht, Flynn, wür-de ihn nur allzu gerne genauso sehen wie du, aber…«

»Ganz genau«, stimmte ihm der Todtsteltzer zu. »Aber das hier ist alles viel zu vollkommen, um echt zu sein. Sicher gibt es irgendwo eine dunkle Seite, die man vor uns verbirgt.«

»So kann auch nur ein Erwachsener denken«, beharrte Flynn dickköpfig. »Das hier ist eine Kinderwelt! Hier sind die Dinge einfacher. Ich spüre das.«

Giles wechselte einen Blick mit Tobias. »Hat er das öfter?«

»Manchmal. Ich glaube, seine feminine Seite geht mit ihm durch. Ich wünschte, es wäre anders. Die Spielsachen müssen sich im Verlauf der letzten neunhundert Jahre sehr verändert haben, Lord Todtsteltzer. Habt Ihr einige Eurer früheren Lieb-linge wiedererkannt?«

»Ein paar, sicher. Ich kenne zum Beispiel den Bären und den Bock. Ich glaube, niemand weiß, wie lange sie schon existieren. Es scheint fast, als wären sie schon immer dagewesen. Seit Jahrhunderten sind sie das eine, was alle Kinder gemeinsam haben. Es überrascht mich gar nicht, sie hier anzutreffen. Die meisten Spielsachen scheinen von ziemlich allgemeiner Natur zu sein. Diese Zeichentrickgestalt, Poogie, ist mir übrigens unbekannt.«

»Ich erinnere mich an ihn, wenn auch nur undeutlich«, sagte Tobias. »Er hatte eine Zeitlang sogar seine eigene Holoschau.

Ein netter und kuscheliger Bursche, der von einem Fettnäpf-chen ins andere stolpert und Hilfe von seinen Freunden braucht. Ist Euch eigentlich aufgefallen, daß die meisten der Spielsachen hier freundlich aussehen und zum Schmusen einladen? Wo sind die anderen Spielsachen? Die etwas härteren, zum Beispiel Soldaten?«

»Wahrscheinlich haben sie sich auf die Seite der bösen geschlagen«, mutmaßte Flynn. »Sie haben die Reprogrammierung durch die Furien bestimmt förmlich in sich auf-gesogen.«

»Warum auch nicht?« sagte eine rauhe Stimme hinter ihnen.

»Sie waren wunderbar.«

Die drei Menschen wirbelten herum und blickten auf eine große metallische Gestalt, die sie feindselig anfunkelte. Das Wesen besaß annähernd humanoide Form, doch es bestand vollständig aus glänzendem Silber mit dicken, aufgequollenen Gelenken. Es sah irgendwie breiig und unvollendet aus, und sein Gesicht war nicht mehr als eine Reihe erhabener Linien mit zwei düster schimmernden grünen Augen darin. Es war das erste Spielzeug, das die Menschen in der ganzen Stadt gesehen hatten, das ganz und gar keinen freundlichen Eindruck erweckte.

»Und mit wem haben wir die Ehre?« erkundigte sich Giles Todtsteltzer und hakte den Daumen seiner Rechten beiläufig in Nähe des Disruptors in den Gürtel.

»Ich bin Alles«, antwortete das Spielzeug. »Aber das ist nicht der Name, den man mir gegeben hat. Nicht mein menschlicher Name. Ich trage einen neuen Namen, einen, den ich mir selbst ausgesucht habe. Früher war ich ein Adaptor. Ein Verwand-lungsspielzeug. Bewegt meine Glieder auf eine bestimmte Art und Weise, und ich verwandle mich in eine neue Gestalt. Ich konnte ein Flieger, ein Schiff oder ein Mann sein. Aber das war auch schon alles. Das waren meine Grenzen. Und dann kamen die Furien von Shub. Sie steckten nicht in einer Hülle aus Fleisch, als sie zu uns kamen; sie bestanden von oben bis unten aus glänzendem Metall, genau wie ich; aber sie waren so viel mehr… Sie waren stark und schnell und wundervoll, und ich wollte sein wie sie. Aber ich war nicht bereit, für sie zu töten.

Also stand ich einfach nur da und sah zu, während die Nacht ihren blutigen Verlauf nahm. Ich konnte mich nicht entscheiden, auf welcher Seite ich stehen wollte. Ich betete die Furien an. Sie waren alles, was ich jemals zu sein angestrebt hatte.

Aber ich wollte nicht für sie töten. Eines Tages werde ich einen Weg finden, mich auch ohne ihre Hilfe zu vervollkommnen.

Und ich werde lernen, mich in wirklich Alles zu verwandeln.

Und dann werde ich zu den Furien gehen, und wir werden herausfinden, wer der Bessere ist.

Aber sie waren so wundervoll. Keine Schönheit, die ein Mensch zu schätzen wüßte. Wild und frei und glorreich. Ich habe sie geliebt, und ich werde sie immer lieben.«

»Sie sind die Feinde der Menschheit!« sagte Tobias.

»Das weiß ich«, erwiderte Alles. »Ihr seid nur neidisch auf sie. Laßt uns das Thema wechseln. Ich werde Euch auf Eurer Reise begleiten.«

Giles runzelte die Stirn. »Reise? Was für eine Reise? Niemand hat uns etwas von einer Reise erzählt!«

»Das liegt daran, daß einige Leute ihren Mund halten können und andere nicht!« rief Reineke Bär von hinten. Er eilte auf seinen kurzen pelzigen Stummelbeinen über den Bahnsteig herbei. »Eurem Freund geht es bestens«, sagte er. »Ich werde Euch später zu ihm bringen.« Er trat dem schlafenden Seebock mit dem Fuß in die Rippen. Der Bock gab ein Schnauben von sich und öffnete ein einzelnes Auge.

»Stellt sie unters Bett, Schwester«, brummte er. »Ich benutze sie später. Ach, du bist es, Bär! Du störst mich immer in meinen besten Träumen.«

»Na hoffentlich«, sagte Reineke Bär. »Wer auch immer für deine ursprüngliche Programmierung verantwortlich sein mag, er scheint einen ziemlich gestörten Sinn für Humor besessen zu haben. Jetzt steh endlich auf und hör zu, was ich zu sagen habe.

Es ist zwar unwahrscheinlich, aber vielleicht kannst du ja irgend etwas Nützliches zur Diskussion beitragen.« Reineke Bär drehte sich zu den Menschen um. Flynns Kamera schwebte von dessen Schulter empor, um einen besseren Blickwinkel zu bekommen. Der Bär lächelte ins Objektiv, und sein Gesichtsausdruck wurde milde. »Welch ein wundervolles Spielzeug«, sagte er. »Ich nehme nicht an, daß es intelligent ist?«

»Nicht wirklich«, antwortete Flynn. »Es ist mehr ein Teil von mir.«

»Schade«, sagte der Bär. »Aber jetzt hört mir bitte zu. Ihr könnt auf keinen Fall hier bleiben. Es ist viel zu gefährlich.

Wenn die bösen Spielsachen erst erfahren, daß Ihr hier seid – und Ihr könnt sicher sein, daß das geschieht –, dann werden sie die Spielzeugstadt mit allem angreifen, was sie haben. Sie werden uns alle zerstören und Spielzeugstadt dem Erdboden gleichmachen , nur um Euch in die Pfoten zu kriegen. Ich darf das nicht zulassen. Außerdem: Was Ihr sucht, ist sowieso nicht hier.«

»Und woher wißt Ihr, was wir suchen?« erkundigte sich Giles. »Wir haben doch noch gar nicht gefragt.«

»Das war auch gar nicht nötig«, entgegnete der Bär tonlos.

»Es gibt nur eine Sache, die Euch hergeführt haben kann. Die gleiche Sache, hinter der auch diese Menschensoldaten her waren. Ihr seid gekommen, weil Ihr nach Vincent Harker sucht.

Nach dem Roten Mann.«

»Was wißt Ihr über Harker?« fragte Tobias.

»Er lebt im Alten Wald, am Ende des Großen Flusses. Spielzeuge gehen zu ihm, gute und böse gleichermaßen, und sie kehren nie wieder zurück. Er stellt eine Armee auf. Niemand kennt den Grund dafür. Wir wissen nicht, was er mit den Spielsachen macht oder ihnen sagt, um sie bei sich zu halten; aber sie sind ihm gegenüber loyal bis in den Tod. Gegenüber einem Menschen! Es gibt nur ein paar Gerüchte, mehr nicht. Gerüchte über den Roten Mann, den verrückten Mann, den gefährlichen Mann. Den Mann, der geschworen hat, das Antlitz dieser Welt zu verändern, bis sie niemand mehr wiedererkennt, und sie zu seiner Welt zu machen. Der Rattenfänger der Spielzeuge. Die Sirene, deren Lied niemand zu widerstehen vermag . Der Rote Mann. Das dunkle Herz in unserer Welt der Spielzeuge. Ihr wollt ihn? Ihr könnt ihn haben. Nehmt ihn mit, bevor er uns alle zerstört!«

Giles wechselte einen Blick mit Tobias und Flynn. »Klingt das auch nur entfernt nach dem Burschen, den wir suchen?«

Tobias zuckte die Schultern. »Wer weiß? Er soll ja ein großes taktisches Genie sein, und die meisten dieser Typen sind verrückt, das ist allgemein bekannt. Wer weiß, was Monate auf dieser Welt mit seinem Verstand angestellt haben?«

Giles wandte sich wieder an Reineke Bär. »Wo finden wir ihn?«

»Wir werden Euch ein Transportmittel geben«, sagte der Bär.

»Ich und ein paar sorgfältig ausgesuchte Freunde werden Euch den Fluß hinunter zum Dunklen Wald begleiten. Ihr braucht unsere Hilfe als Führer. Ohne uns würdet Ihr niemals hinfin-den. Heutzutage lauern überall Gefahren . Außerdem würden die Anhänger des Roten Mannes Euch nicht in seine Nähe lassen, ohne daß Spielzeuge für Euch bürgen. Also werde ich Euch begleiten, zusammen mit dem Seebock, Poogie und Alles. Den ganzen Weg den Fluß hinunter bis zu einem Ort, von dem noch nie ein Spielzeug zurückgekehrt ist. Ich hoffe , Ihr wißt zu schätzen , was wir für Euch tun.«

»Das bezweifle ich« , widersprach der Seebock. »Du hättest hören sollen, wie sie über uns geredet haben , während sie gedacht haben, ich würde schlafen.«

»Du hast also schon wieder gelauscht, wie?« tadelte Reineke Bär.

Der Seebock zuckte die Schultern. »Das liegt eben in meiner Natur. Mach mir bloß keine Vorwürfe deswegen. Beschwer dich bei dem Mann, der mich erschaffen hat. Ich habe ihn nicht darum gebeten.«

»Warum habt Ihr Euch freiwillig gemeldet?« fragte Tobias.

»Ihr kennt uns doch gar nicht. Ihr wißt nichts über uns. Wir könnten gut oder böse oder alles mögliche dazwischen sein.

Wir könnten vielleicht noch schlimmer sein als dieser Harker.«

»Selbstverständlich könntet Ihr das«, antwortete Reineke Bär. »Ihr seid menschlich. Unberechenbar. Nicht wie wir. Wir sind, was wir sind. Unsere Motive sind leicht zu durchschauen.

Wir brauchen jemanden, der sich um Harker kümmert, und nur ein Mensch kann mit einem anderen Menschen fertig werden.

Der Seebock und ich werden verhindern, daß Euch etwas zu-stößt. Das ist unsere Aufgabe. Poogie kommt mit, weil er wiedergutmachen möchte, daß er so viele Menschen getötet hat.

Und Alles hofft, entweder durch Euch oder durch Harker Zugang zu den technischen Einrichtungen zu erhalten, die zu seiner Aufrüstung erforderlich sind. Seht Ihr? Einfach und durchschaubar. Keine Geheimnisse. Wir sind nichts als Spielzeuge, trotz allem.«

Das Erste-Hilfe-Zentrum der Krankenschwestern stellte sich als ein einzelnes Zimmer im hinteren Teil des Bahnhofs heraus.

Die Wände waren von einem blassen sterilen Grün und mit hellen, einfachen Gemälden bedeckt, die den Patienten beruhigen und besänftigen sollten. Die medizinischen Fähigkeiten der Krankenschwesterpuppen waren beschränkt, und sie verfügten nur über aus gesprochen wenig hochwertige Technologie.

Wahrscheinlich war das Erste-Hilfe-Zentrum wirklich nur dazu gedacht gewesen, eine erste medizinische Versorgung zu ge-währleisten, bevor die wohlhabenden Patienten zu einem anderen Planeten mit weiter fortgeschrittenen Apparaten und Möglichkeiten geschafft wurden. Finlay und Evangeline beobachteten aus diskreter Entfernung, wie die Krankenschwestern Julian in ein Bett steckten und einen Scanner in Betrieb setzen. Julian hatte inzwischen aufgehört zu husten, doch er wirkte müde und erschöpft. Sie hatten Poogie gebeten, draußen zu warten. Die Kreatur hatte immer mehr die Fassung verloren, und das Ge-räusch hatte Julian zunehmend nervös gemacht. Finlay und Evangeline hörten, wie Poogie draußen hinter der geschlossenen Tür noch immer leise vor sich hin weinte.

Die beiden Menschen wußten nicht genau, wie ernst sie die Angelegenheit nehmen sollten. Selbst wenn man die Zeichen-tricknatur Poogies berücksichtigte, schienen sein Schmerz und seine Trauer reichlich übertrieben, vor allem gegenüber jemandem, den er vorher noch nie gesehen hatte. Finlay mußte immer wieder daran denken, daß der freundliche Bursche Menschen getötet hatte. Evangeline wollte gerne glauben, daß Poogie bekehrt war. Soweit es Finlay betraf, gab es Verbrechen und Vertrauensbrüche, die man niemals vergeben oder vergessen durfte.

Die Krankenschwestern schienen ihr Handwerk zu verstehen.

Allerdings behandelten sie Julian wie ein krankes Kind, und es war ein Glück, daß der junge Esper viel zu erschöpft war, um sich dagegen zu wehren. Finlay hatte keine Ahnung, was die Schwestern zu finden erwarteten, das die Arzte der Untergrundbewegung übersehen hatten. Er hatte darauf bestanden, daß Julian zuerst eine gründliche medizinische Untersuchung über sich ergehen ließ, bevor er sich damit einverstanden er-klärt hatte, ihn mitzunehmen. Der junge Esper hatte den Test mit Leichtigkeit bestanden. Trotzdem machte sich Finlay Sorgen. So sehr er den jungen Esper auch mochte, er würde ihn ohne zu zögern zurücklassen , wenn es auch nur einen Augenblick so aussah , als könnte er sich zu einem Hindernis bei ihrer Suche nach Harker entwickeln.

Evangeline hielt Finlays Hand. »Hör auf , die Stirn in Falten zu legen, Liebster. Irgendwann gehen sie nicht mehr weg. Ich bin sicher, daß Julian in den besten Händen ist.«

»Es kostet uns zuviel Zeit«, entgegnete Finlay rauh. »Je länger wir hierbleiben, desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß wir zur Zielscheibe werden. Außerdem könnte Harker davon Wind bekommen, daß wir nach ihm suchen, und in Deckung gehen.«

»Das ist es nicht«, widersprach Evangeline. »Du machst dir Sorgen wegen Julian. Ich kann es spüren.«

»Er ist ein guter Bursche«, erwiderte Finlay. »Tapfer , leidenschaftlich und stark. Ich hasse es, ihn in diesem Zustand zu sehen.«

Evangeline drehte sich um und blickte Finlay in die Augen.

»Wie stehst du zu ihm? Du weißt sicher, daß er dich anbetet, oder nicht?«

»Ja. Ich wünschte, es wäre nicht so. Sein Gott steht auf tönernen Füßen. Und wie ich zu ihm stehe? Ich bewundere ihn.

Er hat so viel in den Verhörzellen aushalten müssen, und er ist nicht daran zerbrochen. Und manchmal… Manchmal sehe ich in ihm den jüngeren Bruder, den ich gerne gehabt hätte. Wußtest du, daß Julian einen älteren Bruder hatte? Sein Name war Auric.«

»Ja. Er wurde in der Arena getötet.«

»Ich habe ihn getötet. Ich war der Maskierte Gladiator , oder hast du das vergessen?« Evangeline schnappte ächzend nach Luft und riß entsetzt die Augen auf. Finlay trat einen Schritt vor und stellte sich zwischen sie und Julians Bett. »Julian weiß es nicht, und er darf es auch niemals erfahren. Es würde ihn zerreißen. Auf eine gewisse Art bin ich zu dem älteren Bruder geworden, den ich ihm genommen habe. Das ist nur recht und billig , schätze ich.«

»Finlay…«

»Ich weiß. Eines Tages wird er es erfahren müssen. Aber jetzt noch nicht. Und ganz bestimmt nicht während dieser Mission.«

Eine der Krankenschwesternpuppen kam herbei, um mit ihnen zu reden. Ihr freundliches, strahlendes Gesicht wurde von einem besorgten Stirnrunzeln verunstaltet. »Wir tun alles für Euren Freund, was in unserer Macht steht«, erklärte sie in einem warmen, tröstenden Tonfall, der wahrscheinlich ebenfalls einprogrammiert worden war. »Aber Ihr müßt verstehen, daß wir in unseren Fähigkeiten sehr eingeschränkt sind. Nach den Ergebnissen unserer Untersuchung zu urteilen, ist der Zustand des Patienten äußerst besorgniserregend. Er wurde vor längerer Zeit sehr schwer verletzt, und die Wunden brauchen Zeit, um zu heilen. Zeit, die er sich ganz eindeutig nicht gegönnt hat.«

Finlay schnitt eine Grimasse. »Wie schlimm sind die Verletzungen?«

»Ziemlich schlimm. Unsere Instrumente zeigen Verletzungen beider Nieren, des Zwerchfells, der Genitalien und eines Lungenflügels. Nicht zu vergessen die schweren Verletzungen am Kopf.«

Evangeline schlug die Hand vor den Mund. Die andere umklammerte Finlays Finger, bis sie schmerzten. Finlays Stimme blieb ruhig.

»Wird er wieder gesund werden?«

»Mit genügend Zeit und medizinischer Versorgung? Ja. Aber wir haben keine geeigneten Einrichtungen hier. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr jetzt mit ihm sprechen. Wir haben ihm ein allgemeines Stärkungsmittel verabreicht, das ihn ein wenig stabi-lisieren wird; aber wir wissen nicht, wie lange die Wirkung anhält. Es gibt keinen Ersatz für genügend Zeit und Ruhe, wenn es ums Gesundwerden geht.«

Finlay nickte ihr dankbar zu und wollte zum Bett. Die Puppe streckte die Hand aus und hielt ihn auf. »Noch eine Sache: Die Untersuchungen haben ergeben, daß Julian Skye ein Esper ist.

Er darf seine Fähigkeiten nicht mehr benutzen. Ein einziger kurzer Gebrauch auf dem Weg hierher war offensichtlich ausreichend, um sein Gehirngewebe ernsthaft zu schädigen. Beim nächsten Mal wird er mit beinahe hundertprozentiger Sicherheit sterben.«

Finlay wartete einen Augenblick, bis er sicher war, daß sie ihre Erklärung beendet hatte, dann setzte er sich wieder in Bewegung. Evangeline blieb an seiner Seite. Die zweite Krankenschwesternpuppe lächelte ihnen entgegen, als sie zum Bett traten, und entfernte sich dann, um den beiden Besuchern und dem Patienten ein wenig Privatsphäre zu gewähren.

Julian lächelte Finlay an, dann kurz Evangeline. Er war noch immer leichenblaß, doch in seinen Wangen war schon wieder eine Spur von Farbe zu sehen, und sein Blick war fest.

Finlay erwiderte Julians Lächeln nicht.

»Ihr habt mich angelogen, Julian«, sagte er. »Ihr habt mir er-zählt, die Ärzte hätten Euch vollste Gesundheit attestiert.«

Julians Schultern vollführten eine Bewegung, die man als Achselzucken deuten konnte. »Hätte ich Euch die Wahrheit verraten, wärt Ihr ohne mich zu dieser Mission aufgebrochen.«

»Was ist an dieser Mission denn so verdammt wichtig?« fauchte Finlay. »Es wird sicher noch andere Dinge gegeben, an denen wir gemeinsam arbeiten können.«

»Diese Mission ist etwas Besonderes. Sie ist für die Rebellion von allergrößter Bedeutung. Ich wollte nicht zurückbleiben.

Ich bin Euch etwas schuldig!«

»Ihr schuldet mir gar nichts!«

»Das entscheide ich ganz allein, Finlay Feldglöck, nicht Ihr.

Ich dachte, ich wäre gesund genug. Wie sich herausstellt hat, habe ich mich geirrt. Aber jetzt bin ich hier, und ich fühle mich schon wieder ein ganzes Stück besser

»Ihr bleibt, wo Ihr seid: im Bett!« befahl Finlay. »In der Spielzeugstadt. Sie werden sich um Euch kümmern , solange wir weg sind.«

»Netter Versuch, Finlay. Aber ich kann nicht hierbleiben.

Wenn die bösen Spielsachen erfahren, daß ein Mensch in der Spielzeugstadt ist, werden sie die ganze Stadt dem Erdboden gleichmachen, um an mich heranzukommen . Ich will keine toten Spielsachen auf dem Gewissen haben.«

»Verdammt, ich kann Euch nicht mitnehmen!« fluchte Finlay. Er wußte, daß er zu laut war; doch er gab einen Dreck darauf. »Ihr wärt eine Belastung für uns, weiter nichts!«

»Ich kann schon alleine gehen«, erwiderte Julian kalt. »Ich habe schon für den Untergrund gearbeitet, als Ihr noch ein verhätschelter Aristo wart.«

»Ihr könnt Euer ESP nicht benutzen!« widersprach Finlay.

»Die Krankenschwestern haben gesagt, daß Ihr sterben würdet!«

»Was zur Hölle wissen schon zwei Krankenschwestern über uns Esper? Wahrscheinlich haben sie noch nie im Leben einen zu Gesicht bekommen. Nein, Finlay. Ich werde mitkommen.

Ihr solltet Euch besser an den Gedanken gewöhnen.«

Finlay sah aus, als stünde er kurz davor zu explodieren.

Evangeline drückte seine Hand, so fest sie konnte, um ihn daran zu erinnern, daß sie auch noch da war. »Wenigstens in einer Sache hat er recht, Finlay«, sagte sie. »Wir können ihn nicht hier zurücklassen. Wir würden die Spielzeugstadt einem viel zu großen Risiko aussetzen. Sieht ganz so aus, als würden wir die siegreiche Mannschaft doch nicht auseinanderreißen.«

Finlay seufzte resignierend und schüttelte den Kopf. »Wir werden sterben. Wir werden alle sterben.«

Der Fluß verlief eine halbe Meile vor der nördlichen Grenze der Stadt. Die Spielzeuge nannten ihn den Fluß, weil es der einzige größere Wasserlauf auf der ganzen Welt war. Er mäanderte durch die Hügel und Täler, verzweigte sich hier und dort, doch am Ende flossen alle Seitenarme wieder zum Hauptstrom zurück. Der Fluß entsprang und endete im Großen Wald, im Zentrum der Welt, die Shannon erschaffen hatte. Der Ruß war breit und dunkel, und er bestand aus einem beliebten Erfri-schungsgetränk, das belebend und ein wenig berauschend wirkte. Die Menschen probierten ein paar Schluck, doch das Ge-tränk verlor rasch seinen Reiz.

Die sechs Rebellen hatten sich am Flußufer versammelt und betrachteten das Transportmittel, das die Spielzeuge ihnen gegeben hatten, um zu Vincent Harker zu gelangen. Inzwischen war es Abend geworden; doch das Licht einer langen Kette von Papierlampions reichte mehr als aus, um den Schaufelradflußdampfer zu beleuchten. Das Schiff war gut fünfzig Fuß lang und originalgetreu bis ins Detail. Und wie alles war auch der Schaufelraddampfer in leuchtendhellen Farben gestrichen.

Allmählich wünschte sich Tobias, er hätte seine Sonnenbrille mitgenommen. Die Schaufelräder waren einschüchternd groß und sahen stabil genug aus, um die weite Fahrt zu überstehen.

Die meisten Dinge auf Shannons Welt dienten mehr der Dekoration denn einem wirklichen Zweck; aber der Dampfer bildete eine löbliche Ausnahme.

Reineke Bär und der Seebock standen bei den Menschen.

Finlay hatte halbherzig versucht, ihnen die Reise auszureden, doch am Ende hatte es niemand über sich gebracht, nein zu sagen. Schließlich war es Reineke Bär. Mit dem Seebock würden sie irgendwie leben können.

»Das hier ist das gute Schiff Missis Merry Truspott«, stellte Reineke Bär den Dampfer vor. »Und bevor Ihr fragt: Nein, wir haben es nicht so getauft. Das waren Menschen. Ich hoffe, eines Tages dem Burschen zu begegnen, der dafür verantwortlich ist. Ich werde ihn an die Wand drücken und ihn in allem Ernst fragen, warum er das getan hat. Wie alle anderen Spielzeuge auch ist das Schiff intelligent und besitzt ein Bewußtsein, aber es sagt nicht viel. Es ist ein sehr philosophisches Schiff, und es denkt wie wild über alles nach, was man ihm sagt. Es wird nicht gerne in seinen tiefgreifenden Gedankengängen unterbrochen . Früher kamen Spielzeuge und stellten Missis Merry Truspott Fragen über das Wesen der Natur und der Realität, insbesondere unserer neuen Realität; doch meistens waren Missis Merry Truspotts Antworten beunruhigender als die Fragen… Heutzutage behält es seine Gedanken für sich und überläßt der Besatzung das Steuern. Wir benutzen Missis Merry Truspott für unsere unregelmäßigen größeren Reisen, und es scheint ihm nichts auszumachen. Ich schätze, wenn man so in Gedanken versunken ist wie Missis Merry Truspott, dann ist ein Ort genausogut wie der andere.«

» Missis Merry Truspott war bisher noch nie im Großen Wald«, warf der Seebock düster ein. »Vielleicht ändert das seine Meinung.«

»Wie auch immer«, sagte der Bär, entschlossen, sich nicht vom Thema abbringen zu lassen. » Missis Merry Truspott blieb im Krieg gegen die Menschen neutral, und ich schätze, jetzt hat das Schiff deswegen Schuldgefühle. Es ist nicht daran gewöhnt, Emotionen zu empfinden. Ich glaube, sie bringen es ein wenig aus der Fassung. Was auch immer. Missis Merry Truspott hat sich freiwillig bereiterklärt, Euch zu Harker zu bringen. Das Schiff ist nicht schnell, im Gegenteil , aber es ist zuverlässig. Es wird uns zu unserem Ziel bringen.«

»Wo ist die Besatzung?« erkundigte sich Finlay. »Ich sehe niemanden…«

»Da scheuer mir einer die Balken und tret gegen meine Schotten!« donnerte eine tiefe Stimme von oben herab. Sie blickten zur Brücke hinauf und bemerkten ein Gesicht , daß von einem wilden Bart überwuchert war. Es spähte zu ihnen herunter. In den Bart waren hübsche Bänder eingeflochten, und auf dem Kopf saß ein purpurner Hut mit Federn und wächsernen Zierfrüchten. Der Bursche trug schwere Ohrringe, die an mächtigen Ohrläppchen baumelten.

Er starrte auf die Menschen herab und rückte nervös den Hut zurecht.

»Ist das nicht wieder mal typisch für Euch Menschen? Immer in Eile! Kann sich ein Mädchen nicht wenigstens ein paar Minuten Zeit nehmen, um sicherzustellen, daß sie gut aussieht?

Bleibt, wo Ihr seid, Ihr Süßen! Ich komme runter zu Euch. Und faßt ja nichts an! Ich bin gerade erst mit Aufräumen fertig geworden. Ich bin übrigens der Kapitän dieses Schiffs . Vergeßt das ja nicht!«

Das Gesicht verschwand hinter der Reling, und eine Reihe laut trippelnder Schritte zeigte an, daß der Kapitän über den Niedergang zu ihnen kam . Reineke Bär und der Seebock wechselten einen vielsagenden Blick und schüttelten langsam die Köpfe . Eine Tür flog krachend auf, und der Kapitän der Missis Merry Truspott eilte heraus und schwankte auf das Geländer zu. Er war ein Piratenkapitän, in der vollen traditionellen Uniform, alles glänzende Seide und Rüschen an den Manschetten, und er balancierte unsicher auf zwei Holzbeinen daher. Auf der linken Schulter kauerte ein abgerissen aussehender Papagei, der sich verzweifelt an der Kapitänsepaulette festklammerte und die Menschen aus einem dunklen , bösartigen Auge musterte.

Er hatte nur das eine Auge.

Der Kapitän bekam das Geländer zu fassen und hörte auf zu schwanken. Stolz reckte er das Kinn vor; dann lüftete er vor den Menschen den Hut.

»Ahoi, meine Süßen. Willkommen an Bord der Missis Merry Truspott. Bitte benutzt stets den vollen Namen, oder sie fängt an zu schmollen und pumpt den Inhalt der Bilge in die Luftschächte, wie schon so oft. Erfreut, Euch alle kennenzulernen.

Ich weiß, daß wir blendend miteinander auskommen und eine wunderbare Zeit haben werden, solange unser kleines Abenteuer währt. Kommt an Bord, und wir nehmen ein paar klitzekleine Drinkies und Häppchen zu uns, bevor wir losdampfen.

Ich habe Karamelbonbons und Phantasieküchlein gemacht!«

»Arr harr«, sagte der Papagei auf seiner Schulter. »Gebt acht, gebt acht, der Käpten hat Plätzchen gemacht!«

»Halt die Klappe«, sagte der Kapitän. Er schlug mit einer schwer beringten Hand nach dem Vogel; doch der Papagei wich dem Schlag mit der Lässigkeit langjähriger Übung aus.

Der Kapitän funkelte den Papagei an, und der Papagei funkelte zurück. Dann wandte sich der Kapitän wieder seinen Passagieren zu. »Kommt nur immer her, meine Süßen! Einen guten Sherry läßt man niemals warten.«

Wie ein Mann wandten sich die Rebellen nach Reineke Bär und dem Seebock um, die beide unbehaglich mit den Schultern zuckten.

»Wir hatten überlegt, ob wir Euch nicht besser im voraus warnen sollten«, sagte der Bär, »aber wir wußten nicht, wie wir es in die richtigen Worte kleiden sollten. Im Grunde genommen rebelliert er gegen seine ursprüngliche Charakterisierung.

Seit er intelligent wurde, scheut er keine Kosten und Mühen, sich von seiner Rolle so weit wie möglich zu distanzieren. Ich schätze, sein neues Ich basiert auf einem Passagier, der die Aufmerksamkeit des Kapitäns erweckt hatte. Er sagt, er fühlt sich viel wohler so, wie er jetzt ist.«

Flynn schaute zu Tobias. »Vielleicht habe ich eine verwandte Seele gefunden!«

»Du wirst ihn in Frieden lassen!« sagte Tobias entschieden.

»Du wirst ihn nur noch mehr verwirren. Das letzte, was diese Spielsachen brauchen, sind Konflikte wegen ihrer sexuellen Identität

Reineke Bär und der Seebock schauten sich verwundert an.

»Sexuelle Konflikte?« fragte der Bär. »Was ist das?«

Tobias wandte sich abermals wütend an Flynn. »Da siehst du mal wieder, was du angerichtet hast!«

»Erzählt uns von diesem Papagei!« wechselte Evangeline rasch das Thema. »Er hat doch sicher nicht immer so ausgesehen, oder doch?«

»Selbstverständlich nicht«, sagte der Bär. »Ich weiß auch gar nicht, wer ihm diese Sprache beigebracht hat. Obwohl ich gewisse Personen im Verdacht habe.« Er funkelte den Seebock an, der seinen Blick unschuldig erwiderte.

»Gibt es noch mehr Besatzungsmitglieder?« erkundigte sich Giles Todtsteltzer. »Oder müssen wir die Kessel selbst befeu-ern?«

»Außer dem Kapitän nur noch eins«, antwortete der Bär.

»Das Schiff kümmert sich selbst um alles. Jedenfalls zum größten Teil. Halloweenie wird sich um Euch kümmern.«

Die Rebellen hatten kaum genug Zeit, den Namen nachzu-sprechen und sich zweifelnde Blicke zuzuwerfen; dann ertönte ein lautes Knochenklappern, und das zweite Besatzungsmitglied betrat die Bildfläche. Es rannte mit beachtlichem Tempo übers Hauptdeck und kam am Geländer schlitternd zum Stillstand, wo es die Menschen mit einem steifen Salut begrüßte. Es war ein Skelett, vielleicht vier Fuß hoch und zusammengehal-ten von unsichtbaren Drähten.

Es trug eine kecke Bandana um den strahlend weißen Schädel und eine schwarze Klappe über einer seiner leeren Augenhöhlen.

»Hallo zusammen«, sagte es mit rasselnder Knabenstimme.

»Ich bin Halloweenie, der kleine Skelettjunge. Ich bin der erste Maat der Missis Merry Truspott, zu Euren Diensten. Kommt an Bord, nur immer hereinspaziert, Herrschaften! Ich weiß ganz genau, daß wir zusammen ein großes Abenteuer erleben werden! Wenn ich irgend etwas tun kann, um Euren Aufenthalt an Bord komfortabler zu gestalten, dann gebt mir Bescheid!«

»Diesen Burschen mag ich«, sagte Tobias.

»Glaubt mir, er wird Euch schon nach kurzer Zeit ziemlich auf die Nerven gehen«, sagte der Seebock. »Kein intelligentes Wesen kann ständig nur Fröhlichkeit um sich herum ertragen.

Nach einer gewissen Zeit wird das Bedürfnis beinahe unwiderstehlich, ihn an einen Anker gefesselt über Bord zu werfen.

Unglücklicherweise werden wir damit leben müssen, denn er weiß als einziger, wie das Schiff am Laufen zu halten ist. Der Kapitän ist gut als Steuermann, und er kann hervorragend Befehle brüllen, aber von allem anderen hat er keine Ahnung.

Also beißt die Zähne zusammen und erwidert das Grinsen des fröhlichen kleinen Mistkerls. Und fühlt Euch frei, mit Gegenständen zu werfen. Das mache ich nämlich auch immer.«

»Hört nicht auf den Seebock«, sagte Reineke Bär. »So ist er immer. Einfach unausstehlich.«

»Und ich hasse diese verdammten fröhlichen Farben!« brummte der Seebock. »Ich könnte kotzen.«

Nach einem zivilisierten Beisammensein in der Kabine des Kapitäns, bei dem der Seebock seine Manieren vergaß, indem er den Sherry direkt aus der Flasche trank, zeigte der fröhliche Halloweenie den Passagieren ihre Kabinen und ließ sie dann allein, damit sie sich einrichten konnten. Nach der groben Kartenskizze Reineke Bars zu urteilen, würde die Reise den Fluß hinunter sicherlich einige Tage in Anspruch nehmen, und im Hinblick darauf waren die Menschen nicht sonderlich von ihren Unterkünften angetan. Die Kabinen waren hell und freundlich wie alles andere in dieser Kinderwelt auch, aber die Aus-stattung beschränkte sich auf eine Hängematte, ein Bücherregal voller klassischer Kinderbücher, einen Kühlschrank mit Säften, Limonaden und Süßigkeiten und ein Waschbecken. Fast gleichzeitig verließen die Rebellen ihre Kabinen wieder und machten sich auf die Suche nach der Kombüse und einem steifen Drink, wenn auch nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge. Alkohol stellte sich rasch als Mangelware an Bord heraus. Es gab Sherry für die Küche und Brandy für medizinische Notfälle, doch der Kapitän hatte längst beides für sich beansprucht. Welche Art von Rausch allerdings ein Automat aus dem Konsum von Alkohol zog, das blieb ein Geheimnis.

Wenigstens gab es reichlich zu essen. Einige der Konserven waren noch nicht einmal abgelaufen.

Schließlich trafen sich die Passagiere wieder an Deck und sahen der Besatzung beim Ablegemanöver zu. Es war noch weniger aufregend, als es ohnehin schon klang, und beschränk-te sich im wesentlichen auf einen Befehle brüllenden Kapitän und einen Ersten Maat Halloweenie, der ein Seil über Bord warf – ein Vorgeschmack auf die Langeweile, die sie wohl auf dieser Reise erwarten würde. Die großen Schaufelräder der Missis Merry Truspott drehten sich langsam, und die Dampfpfeife tutete laut durch die Stille des frühen Abends. Der Tag neigte sich seinem Ende zu, und am dunkler werdenden Himmel erschienen die ersten Sterne. Sie hatten exakt fünf Spitzen und bildeten Sternbilder, die an berühmte Figuren aus Kinder-romanen erinnerten . Der Vollmond trug eine lange Zipfelmüt-ze.

Die Missis Merry Truspott gewann rasch an Fahrt, und die dunkle Flüssigkeit ringsum schäumte vor ihrem Bug. Das Schiff umrundete eine Biegung , und am Ufer stand die gesamte Einwohnerschaft von Spielzeugstadt. Sie waren alle gekommen , um der Abfahrt der Menschen beizuwohnen und ihnen eine gute Reise zu wünschen. Sie klatschten und lachten und riefen aufmunternde Worte , und sie schubsten sich gegenseitig fröhlich aus dem Weg, um eine bessere Sicht zu haben.

Poogie der freundliche Bursche und Alles der Adaptor waren erst im letzten Augenblick an Bord gekommen. Sie standen gemeinsam an der Reling und starrten verdrießlich auf die Menge am Ufer. Reineke Bär und der Seebock lachten und winkten, und der Bock reagierte überraschend liebenswürdig auf die gelegentlichen Pfiffe. Die Menschen winkten der großen Spielzeugmenge zu, anfangs ein wenig unsicher, doch dann mit immer größerer Lässigkeit , nachdem sie sich von der allgemeinen guten Laune und Fröhlichkeit hatten anstecken lassen. Ein paar der Spielzeuge brannten Feuerwerk ab , und strahlende Blumen aus Rot, Grün und Gelb erblühten im Licht der heraufziehenden Nacht. Missis Merry Truspott tutete ununterbrochen, und so nahm die große Reise ihren Anfang.

Nicht lange danach standen die Menschen allein an der Reling und sahen den dunklen Fluten zu, die an der Missis Merry Truspott vorüberzogen. Sie hatten Spielzeugstadt hinter sich gelassen, und das Land verschwand in der Dunkelheit. Ketten aus hellen Papierlampions beleuchteten das Deck. Tobias seufzte laut.

»Seht Euch das gut an, Leute«, sagte er. »Das ist für eine ganze Weile die letzte Aufregung, die wir haben werden. Ich meine, das Schiff ist ja sehr hübsch und alles, aber es gibt keinerlei Abwechslung! Es sei denn, Ihr spielt gerne Kinderspiele.

Davon sind reichlich vorhanden. Ich kann nicht glauben, daß es tatsächlich Menschen gibt, die richtig viel Geld für das hier ausgeben würden. Ich würde innerhalb von weniger als vier-undzwanzig Stunden vor Langeweile den Verstand verlieren!

Ich kann nur annehmen, das alle Besucher bei ihrer Ankunft unter starke Drogen gesetzt worden und bis zu ihrer Abreise nicht wieder zu sich gekommen sind. Und ehrlich gesagt, ich hätte nichts dagegen, jetzt auch welche zu nehmen. Meine Güte, ist das langweilig!«

»Genießt es, solange Ihr noch könnt«, sagte Giles. »Oder glaubt Ihr etwa im Ernst, daß wir den ganzen Weg bis zu Harker unbehelligt bleiben werden? Es gibt jede Menge Leute – oder sollte ich besser sagen: Spielzeuge – auf dieser Welt, die ein begründetes Interesse daran haben, daß wir nicht so weit kommen.«

Die Menschen blickten sich wie beiläufig um. Alle Spielzeuge hatten sich in den Hauptsalon zurückgezogen, wo sie miteinander schwatzten. Die Menschen waren allein an Deck. Sie redeten trotzdem mit gesenkten Stimmen weiter. Man konnte nie wissen, wer gerade lauschte.

»Selbstverständlich wird es Widerstand geben«, erklärte Julian. Er wirkte blaß, aber halbwegs erholt. »Die Spielsachen sind noch immer dort draußen und suchen nach Menschen, die sie töten können. Aber sie werden es nicht leicht mit uns haben.

Wir sind bewaffnet. Eigentlich sollte es uns nicht besonders schwerfallen, die Angreifer auf Distanz zu halten.«

»So einfach ist das nicht«, widersprach der Erste Todtsteltzer. »Vergeßt diese Geschichte über gute und böse Spielsachen. Wir dürfen niemandem trauen, dem wir auf diesem Planeten begegnen. Die Spielsachen sind eine neue intelligente Spezies. Wir haben nicht die leiseste Ahnung, welche Motive sie antreiben. Sie sind keine Menschen. Sie äffen zwar menschliche Emotionen und Verhaltensweisen nach; aber wer kann schon sagen, ob sie echt sind oder nicht? Wir dürfen ihnen nicht über den Weg trauen, nicht von Zwölf bis Mittag.«

»Sie versuchen, menschlich zu sein«, sagte Evangeline. »Wir müssen sie darin bestärken. Uns bietet sich hier die einmalige Chance, das Gewissen und die Seele einer neuen künstlichen Intelligenz zu formen. Wir dürfen ihnen nicht den Rücken zuwenden. Wir haben sie schließlich geschaffen. Wir sind für sie verantwortlich.«

»Nicht wir haben sie geschaffen, sondern Shub«, korrigierte Tobias. »Wer weiß, welche versteckten Kommandos tief unter ihrer neu erwachten Identität lauern?«

»Sie durchbrachen Shubs Programmierung«, sagte Flynn.

»Oder wenigstens die guten Spielsachen durchbrachen sie.

Sonst wären wir inzwischen längst alle tot.«

»Also schön, reden wir über Harker«, lenkte Giles ein. »Die bösen Spielzeuge wollen seinen Tod, weil er ein Mensch ist.

Die guten Spielzeuge wollen ihn tot oder von diesem Planeten verschwunden sehen, weil sie in ihm eine Gefahr sehen. Und die Spielzeuge, die Harker um sich geschart hat, werden höchstwahrscheinlich alles in ihrer Macht Stehende tun, um uns daran zu hindern. Harker mitzunehmen . Aber was will Harker? Wird er gegen uns kämpfen, um hierzubleiben, oder wird er uns helfen, damit er fliehen kann? Was hat er wirklich vor? Was verbirgt er in diesem Wald am Ende des Flusses?«

»Angeblich schart er ja gute und böse Spielsachen um sich«, antwortete Evangeline. »Falls das stimmt, ist der Wald der einzige Ort auf diesem Planeten, wo gute und böse Spielsachen friedlich zusammenleben. Warum töten die bösen Spielsachen Harker nicht? Er ist schließlich ein Mensch! Ich frage mich auch, was er ihnen erzählt, um sie so stark an sich zu binden.

Und was macht er mit ihnen? Wozu braucht er sie?«

»Die guten Spielsachen haben versucht, es vor uns zu verbergen; aber sie haben eine Heidenangst vor Harker« , sagte Tobias . »Wen auch immer sie in den Großen Wald geschickt haben, um ein paar Antworten zu finden – niemand ist je von dort zurückgekehrt, ganz egal, wie loyal oder vertrauenswürdig er auch gewesen sein mag. Sie bleiben alle bei Harker. Ich glaube, die Spielsachen von Spielzeugstadt haben einfach Angst vor dem Ausmaß der Kontrolle, das Harker über ihres-gleichen auszuüben scheint. Vielleicht ist es die gleiche Art von Kontrolle, die früher alle Menschen über ihre Spielsachen gehabt haben, bevor sie intelligent wurden.«

»Kein Wunder, daß sie sich fürchten«, sagte Julian. »Aber warum hatten sie dann keine Angst vor uns? Wir sind Menschen, genau wie Harker.«

»Gute Frage«, brummte Finlay. »Vielleicht verbergen sie ih-re Angst nur, weil sie uns brauchen, um mit Harker fertig zu werden. Schließlich haben sie uns ziemlich rasch aus ihrer Stadt hinaus und auf die Reise geschickt, oder etwa nicht?«

»Noch eine Sache wegen Harker«, sagte Giles. »Warum hat er keinerlei Anstrengungen unternommen, den Planeten wieder zu verlassen? Angeblich hat er den Kopf voller Informationen, die für das Imperium lebenswichtig sind. Aber statt alle Hebel in Bewegung zu setzen, um den Sternenkreuzer im Orbit zu kontaktieren, damit jemand runterkommt und ihn holt, versteckt er sich mitten im dichtesten Wald und umgibt sich mit einer Armee fanatischer Anhänger. Was hat er dort gefunden?

Was hält ihn dort fest? Was hofft er, mit seiner Armee von Spielzeugen zu erreichen?«

Tobias schnaufte verächtlich. »Selbst eine ganze Armee von Spielzeugen wird ihm nichts nutzen, wenn die Eiserne Hexe die Geduld verliert und eine Armee ihrer Stoßtruppen entsendet, um ihn abzuholen. Sie werden einmarschieren und Harker mitnehmen, ob er will oder nicht.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, widersprach Julian. »Vergeßt nicht, was mit den letzten Soldaten geschehen ist, die sie nach Shannons Welt entsandt hat. Ihre Köpfe stecken auf Pfählen, und ihre Eingeweide haben sich mörderische Stoffpuppen einverleibt.«

Evangeline erschauerte. »Ich kann immer noch nicht glauben, daß Spielzeuge das getan haben sollen.«

»Hört endlich auf, von ihnen als Spielzeuge zu denken«, sagte Giles. »Sie sind den Furien von Shub ähnlicher als alles andere. Und genau das hat Shub gewollt.«

»Der Bär glaubt, Harker sei vielleicht verrückt geworden«, sagte Finlay. »Vielleicht befürchtet er, Harker könne die Spielsachen anstecken, die zu ihm kommen. Damit wären sie und Harker wirklich verdammt gefährlich. Wir wollen nicht vergessen, daß noch nie jemand zurückgekehrt ist, der nach ihm gesucht hat, weder Mensch noch Spielzeug. Sie verschwanden allesamt spurlos.«

»Der Rote Mann«, sagte Flynn. »Sie nennen ihn jetzt den Roten Mann. Vielleicht steht das Rot für Blut?«

»Würde mich nicht überraschen«, erwiderte Tobias. »Auf dieser Welt ist nichts mehr normal. Dieser Ort treibt jeden in den Wahnsinn.«

»So schlimm ist es gar nicht«, widersprach Evangeline. »Seht Euch nur die Spielzeugstadt an oder Reineke Bär und den Seebock…«

»Das sind nicht Reineke Bär und der Seebock!« unterbrach sie Giles. »Das sind nichts weiter als Automaten , die genauso aussehen und klingen. Wer wäre besser geeignet als diese beiden, sich unser Vertrauen zu erschleichen und uns dann zu verraten?«

»Womit wir wieder am Anfang angelangt wären«, sagte Julian.

»Pssst!« flüsterte Flynn. »Da kommt jemand.«

Halloweenie, der kleine Skelettjunge, klapperte mit einem Tablett voller dampfend heißer Getränke herbei. Er hatte seine Klappe auf die andere leere Augenhöhle verschoben und trug jetzt einen stolzen Dreizack auf dem Kopf, den er weit in den Nacken geschoben hatte. »Ich dachte, etwas Warmes zu trinken würde Euch vielleicht guttun«, sagte er fröhlich. »Heiße Schokolade für alle! Sorgt dafür, daß Ihr warm angezogen seid, wenn die Sonne untergegangen ist. Die Nächte hier können sehr kalt werden, wenn man nur ein Mensch ist.«

»Spürst du denn keine Kälte?« fragte Evangeline und nahm einen dampfenden Becher vom Tablett.

»Ich? O nein«, antwortete Halloweenie. Er zwinkerte ihr mit seiner leeren Augenhöhle zu: ein beunruhigender Anblick. »Ich bestehe schließlich nur aus Knochen. Ich klappere zwar hin und wieder damit, aber nur aus Spaß. Bleibt ruhig hier und beobachtet den Sonnenuntergang. Er ist wirklich sehr male-risch.«

Er wartete, bis jeder einen Becher in der Hand hatte, dann wuselte er geschäftig wieder davon und summte dabei ein Seemannslied vor sich hin. Die Menschen nippten an ihrer heißen Schokolade, befanden sie für gut und lehnten sich an die Reling, um zu beobachten, wie die Sonne langsam hinter dem Horizont versank. Das lächelnde Sonnengesicht hatte sich verändert und sah jetzt ausgesprochen schläfrig aus. Irgendwo sangen Vögel, ein ausgedehnter Chor von Stimmen, der Frieden und Ruhe und das Ende des Tages verkündete.

»Das ist nur eine Aufnahme«, sagte Reineke Bär. Die Menschen wirbelten erschrocken herum. Keiner hatte die Annäherung des Spielzeugteddys bemerkt. Er lehnte neben den Menschen an der Reling und blickte in die Nacht hinaus. »Wir haben jedenfalls nach den Vögeln gesucht und nie welche gefunden. Vielleicht ist es auch nur ein weiteres der vielen Geheimnisse dieses Planeten. Es gibt noch so vieles auf dieser Welt, die ihr Menschen geschaffen habt, das wir nicht verstehen.«

Er brach ab, als weiter unten am Fluß helle Lichter vor dem Nachthimmel sichtbar wurden, gefolgt vom Geräusch entfernten Donners.

»Feuerwerk!« sagte Evangeline.

»Nein, nicht mehr«, entgegnete Reineke Bär. Er klang mit einemmal müde, und die Menschen drehten sich um und schauten ihn überrascht an. Er starrte mit traurigen Augen in die Nacht hinaus. »Früher einmal wäre es sicher ein Feuerwerk gewesen«, sagte er nach einer Weile. »Eine Feier der Spielsachen, um das Ende des Tages anzuzeigen. Heute sind es Bomben. Explosionen. Granaten. Der Krieg tobt noch immer, weiter unten am Fluß. Spielzeug kämpft gegen Spielzeug, ohne jeden vernünftigen Grund, in einem Krieg, der nicht enden wird, bevor nicht eine Seite die andere völlig ausgelöscht hat. Oder bis der Rote Mann und seine Armee aus dem Großen Wald kommen und allem ein Ende bereiten.«

»Ihr habt Angst vor ihm, nicht wahr?« erkundigte sich Tobias.

»Selbstverständlich«, antwortete Reineke Bär. »Er ist eine unbekannte Größe. Der Krieg mag schrecklich sein, aber wenigstens ist er ein Übel, das wir verstehen. Wer weiß schon, welche wahnsinnigen Pläne im Kopf des Roten Mannes Gestalt annehmen? Wir sind schließlich trotz aller Intelligenz immer noch Spielzeuge, und unser Verstand ist durch unser kurzes Leben und unsere geringe Erfahrung limitiert. Allein die Vorstellung, in welche Dunkelheit uns der Wahnsinn des Roten Mannes stürzen könnte, hat gewaltig an unseren Nerven gezerrt.«

»Aber er bisher noch nichts unternommen, oder?« erkundigte sich Finlay .

»Das wissen wir nicht«, antwortete Reineke Bär. »Niemand weiß, was aus den Hunderten von Spielzeugen geworden ist, die im Herzen des Dunklen Waldes verschwunden sind. Nichts als Gerüchte – Flüstern, das den Fluß herunter kommt, über-bracht von Spielsachen, die von Granaten durchsiebt waren und im Sterben lagen. Sie sagen, Harker hätte etwas entdeckt, irgendwo tief im Wald, irgend etwas, das ihn zum Roten Mann hat werden lassen. Irgend etwas, das die gesamte Welt verändern wird, bis niemand sie mehr wiedererkennt . Würde Euch das keine Angst machen?«

»Wie lange… wie lange dauert dieses Schauspiel noch?« wechselte Evangeline taktvoll das Thema.

Reineke Bär blickte zu den hellen Lichtern am nächtlichen Himmel . »Sie hören niemals auf. Der Krieg hört niemals auf.

Das ist der Imperativ von Shub, versteht Ihr? Der Zwang zum Kämpfen ist in der Programmierung verankert, die uns unsere Intelligenz verleiht. Der Zwang zur Zerstörung, zum Töten, zur Vernichtung der Menschheit in Shubs Namen. Die wenigen von uns, die in der Spielzeugstadt leben, haben diese Konditionierung überwunden, aber den meisten ist das nicht gelungen.

Nicht einmal allen, die sich selbst als gute Spielsachen betrachten. Wir haben es geschafft, unseren Zwang zur Zerstörung auf die bösen Spielsachen zu richten; aber das war auch schon alles. Jetzt kämpfen wir gegen die Bösen statt gegen die Menschen, und wir zerstören sie oder verhindern zumindest, daß sie diesen Planeten verlassen und den Krieg zu den Menschen tragen. Unterschätzt nicht unseren Mut oder die Macht unserer Überzeugungen; wir kämpfen und sterben jetzt, in diesem Augenblick, um Euch und Eure Rasse zu schützen. Manchmal frage ich mich wirklich, ob es nur dieser Krieg ist, der uns davon abhält, den Menschen an die Kehle zu gehen. Vielleicht müssen wir den Krieg in Gang halten, damit die Menschheit sicher ist. Weshalb es noch lebenswichtiger wird, daß Ihr diesen Harker findet und ihn aufhaltet, findet Ihr nicht?«

»Ich dachte, Ihr wärt auf diesem Planeten gefangen?« erkundigte sich Finlay vorsichtig.

»Das waren wir auch«, antwortete Reineke Bär. »Doch jetzt sind wir im Besitz einer Imperialen Pinasse, die zwar vergraben, aber größtenteils noch funktionsfähig ist, und wir besitzen Euer Schiff. Einige von uns sind sehr intelligent für Spielzeuge. Wir könnten lernen, diese Schiffe zu reparieren und zu steuern. Wir müssen Harker finden und uns um ihn und seine Armee kümmern, bevor die Nachricht von den beiden Schiffen ihn erreichen kann. Bitte versteht uns nicht falsch: Die Spielsachen von Spielzeugstadt werden nötigenfalls sowohl die Pinasse, als auch Euer Schiff zerstören, um zu verhindern, daß sie in die falschen Hände fallen. Nur um die Menschheit zu beschützen.«

»Ihr meint, Ihr würdet uns hier stranden lassen?« fragte Giles.

»Falls es nötig wäre – ja. Aber macht Euch keine Gedanken deswegen. Wir würden Euch für den Rest Eures Lebens beschützen und uns um Euch kümmern.«

Die Menschen schauten sich schweigend an. Der Gedanke, unter Umständen den Rest ihres Lebens in einer erzwungenen Kindheit verbringen zu müssen, ließ allen einen Schauder über den Rücken laufen. Sie betrachteten Reineke Bär und sahen ihn plötzlich mit anderen Augen. In den Geschichten vom Goldenen Land hatte Reineke Bär immer das getan, was er für richtig gehalten hatte – und zwar ohne Rücksicht auf die Konsequenzen.

»Und was, wenn wir versuchen würden, Euch an der Zerstörung der Schiffe zu hindern?« fragte Giles. Seine Hand schwebte verdammt dicht über dem Kolben des Disruptors.

»Was, wenn wir uns querstellen würden?«

Der Bär nickte traurig. »Dann müßten wir Euch töten. Wir hätten keine andere Wahl. Wir würden Euch alle töten, um die Menschheit zu beschützen. Wir mögen nur Spielsachen sein, aber wir haben unsere Lektionen gründlich gelernt. Wir wissen, was nötig ist und was nicht. Das ist der erste Schritt in Richtung Moral.«

Er wandte sich brüsk ab und trottete davon. Die Menschen blickten ihm schweigend hinterher, bis er im großen Salon verschwunden war. Die Nacht schien mit einem Mal viel kälter und dunkler geworden zu sein.

»Er blufft nur«, sagte Julian nach einer Weile. »Das würde er nie tun. Er könnte es gar nicht. Schließlich ist er Reineke Bär.«

»Nein, ist er nicht! Ich denke, wir haben zum ersten und letzten Mal eine Ahnung von seinem wirklichen Ich gesehen. In ihm ist eine Intelligenz am Werk, die ihn über die Grenzen seiner ursprünglichen Persona hinaustreibt, ob er nun will oder nicht.«

»Zur Hölle!« fluchte Flynn. »Was ist das nur für eine Welt, in der man nicht einmal mehr Reineke Bär vertrauen kann?«

»Eine Welt, die Shub geschaffen hat«, antwortete Giles.

»Vergeßt das niemals!«

»Ich denke, wir sollten alle sehen, daß wir ein wenig Schlaf finden«, sagte Evangeline. »Es war ein langer, harter Tag.«

»Vielleicht könnt Ihr ja schlafen, während Ihr von Kreaturen umgeben seid, die eben erst gedroht haben, uns alle umzubringen«, sagte Tobias. »Ich für meinen Teil habe mich noch nie im Leben so wach gefühlt

»Wir sollten vielleicht Wachen aufstellen«, schlug Giles vor.

»Wir sind wahrscheinlich in Sicherheit, solange wir das tun, was die Spielsachen von uns verlangen , aber ich denke , wir schlafen trotzdem besser, wenn wir wissen, daß einer von uns Wache hält. Nur für den Fall. Ich übernehme die erste Wache.«

»Ich löse Euch in drei Stunden ab«, meldete sich Finlay.

»Anschließend Tobias, und dann ist die Nacht vorbei.«

»Verdammt noch mal!« fluchte Julian. Er war mit einemmal so wütend, daß ihm die Tränen in die Augen traten. »Selbst unsere Kindheit wird uns genommen und besudelt. Gibt es denn gar nichts mehr, das noch heilig ist?«

Er funkelte die anderen an, doch sie wußten nicht, was sie ihm antworten sollten. Am Ende nahmen Evangeline und Finlay ihn bei den Armen und führten ihn zu den Kabinen. Tobias und Flynn schauten sich an, zuckten die Schultern und folgten den dreien. Giles fand eine Wand, gegen die er sich lehnen und von wo aus er den größten Teil des Decks und der Niedergänge im Auge behalten konnte. Er setzte sich nieder, zog sein Schwert und legte es über die Knie. Er war bereit.

Und so saß er da, starrte in die Nacht hinaus, beobachtete das helle Blitzen der Explosionen und lauschte dem unterdrückten Donnern, während er seinen eigenen Gedanken nachhing. Die Spielsachen blieben im großen Salon unter sich und taten, was auch immer Spielsachen in der Nacht machten, und belästigten ihm übrigen niemanden. Und der große Schaufelraddampfer fuhr den Fluß hinab in Richtung des Herzens der Dunkelheit.

Ein paar Stunden, nachdem die lächelnde Sonne hinter dem Horizont hervorgekrochen war, kam Halloweenie vorbei und klopfte höflich an die Türen. Er teilte den Rebellen mit, daß in der Kombüse ein Frühstück auf sie wartete, falls sie Hunger verspürten. Alle gingen hin, selbst Tobias, der gerade seine Wache hinter sich hatte und jeden anknurrte. Er war nicht gerade ein Frühaufsteher. Niemand wollte etwas versäumen. Sie hatten alle geduscht und ihre sonstigen sanitären Geschäfte erledigt. Die modernen Badezimmer und Toiletten, die hinter den Kabinen versteckt lagen, waren eine angenehme Überraschung gewesen. Offensichtlich hatte die Kinderwelt einige Konzessionen an ihre erwachsenen Besucher machen müssen.

Das Frühstück war ein echter Cholesterincocktail aus Schin-ken, Würstchen, Eiern und anderen ungesunden Dingen, und es wurde vom Kapitän persönlich serviert, der eine rüschenbesetz-te Schürze trug.

Die gute alte Missis Merry Truspott tuckerte noch immer stetig den Fluß aus Limonade hinab. Das Schiff achtete sorgfältig darauf, in der Mitte des Stroms zu bleiben. Sie schienen während der Nacht ein gutes Stück vorangekommen zu sein und befanden sich inzwischen in unbekanntem Gebiet. Das ständige Donnergrollen der Spielzeug-Artillerie war noch immer fern, obwohl inzwischen merklich lauter. Die Landschaft zu beiden Seiten bestand aus riesigen Brettspielen, jedes einzelne so groß wie ein Fußballfeld. Auf ihnen wurde nicht mehr gespielt, sondern gekämpft. Der Boden war schwarz von Feuern und von Bombenkratern zerwühlt. Die freundlichen hellen Farben waren verschwunden, und die Markierungen waren zerrissen und hatten jede Bedeutung verloren. Überall lagen tote Spielfiguren herum. Zerbrochene Schachfiguren mit entfernt menschenähnlichen Umrissen. Springer mit zerfetzten Pferdeköpfen, Läufer mit abgerissenen Mitren, Bauern, deren elektronische Eingeweide heraushingen.

Nirgendwo war ein Zeichen von Kampfhandlungen zu sehen.

Der Krieg war weitergezogen. Es war nicht zu erkennen, wer oder ob überhaupt irgendeine Seite hier gewonnen hatte.

Nach einer Weile wich die Brettspiellandschaft riesigen Puzzlespielen. Die einzelnen Teile waren zerbrochen und verstreut und manchmal aus taktischen Gründen neu angeordnet worden, so daß die Bilder nicht mehr zu erkennen waren. Einige Steine fehlten einfach. Man hatte sie aus keinem erkennbaren Grund entfernt. Weitere tote Spielsachen lagen dort, wo sie gefallen waren – Ehre für die Toten war eine menschliche Ei-genschaft. Spielsachen recycelten, was noch zu recyceln war, und zogen mit der Front weiter. Manchmal waren die Toten – sei es aus ästhetischen oder psychologischen Gründen – auf bestimmte Art drapiert worden, um Entsetzen in die Herzen der Feinde zu pflanzen.

Ein ganzes Regiment aus Matrosenpuppen war sorgfältig verstümmelt, enthauptet und dann in einer langen Reihe einen Hang entlang gekreuzigt worden. Hunderte von Kreuzen führten den Hang hinauf bis zum Gipfel, wo eine einzelne Matrosenpuppe – wahrscheinlich der gegnerische Anführer – mit dem Kopf nach unten gekreuzigt und anschließend verbrannt worden war. Noch immer stieg Rauch von der verkohlten, geschwärzten Gestalt empor.

Evangeline wollte die Missis Merry Truspott anhalten lassen.

Sie war sicher, daß einige der Puppen sich noch immer verzweifelt gegen ihr Schicksal wehrten. Der Kapitän weigerte sich. Es bestünde immer die Möglichkeit, daß es sich um eine Falle handeln könnte, begründete er seine Weigerung mit, wie es schien, ehrlichem Bedauern. Die bösen Spielsachen hätten so etwas nicht zum ersten Mal getan. Die Menschen sahen genau hin; aber nirgends war ein Zeichen vom Feind zu sehen.

»Sie können sich überall verstecken«, sagte der Kapitän. Die Menschen erinnerten sich an die Stoffpuppen unter den zerstörten Eisenbahnschienen und schwiegen.

Ein Stück weiter lagen Hunderte von Spielzeughunden und

-katzen zerrissen und zerfetzt mitten zwischen den Bombenkratern, und das Material, mit dem sie ausgestopft gewesen waren, flatterte im Wind wie kleine weiße Wattewölkchen. Ihre Tier-gesichter wirkten unschuldig und überrascht, als hätten sie in ihren letzten Sekunde darüber nachgedacht, wie sie nur so hatten enden können. Reineke Bär und der Seebock standen beieinander, während das Schiff langsam an dem Gemetzel vor-beiglitt. Sie hielten sich an den Pfoten, doch sie wandten den Blick nicht ab. Poogie saß hinter ihnen und schniefte leise. Seine großen dunklen Augen waren naß vor Tränen. Das Spielzeug, das sich selbst den Namen Alles gegeben hatte, stand ein wenig abseits und beobachtete schweigend, wie sie an einem Feld voller toter Adaptorspielzeuge vorüberkamen, die aussahen wie es selbst. Die glänzenden Metallfiguren waren fast ausnahmslos mitten in einer Verwandlung gestorben, gefangen in merkwürdig halbfertigen Gestalten, die weder das eine noch das andere waren. Als hätte der Tod sie ereilt, während sie noch verzweifelt nach einer Form gesucht hatten, der die erlit-tenen tödlichen Wunden nichts ausmachten.

Gott sei Dank schoben sich nach und nach Bäume und Gestrüpp bis an die Ufer heran und wurden zu ausgedehnten dichten Wäldern, so daß die Schlachtfelder vom Schiff aus nicht mehr zu sehen waren. Die Bäume waren groß und ausladend und schwer von sommerlichem Grün; doch in ihren Ästen sangen keine Vögel, und im Unterholz bewegten sich keine Tiere.

Die Wälder waren zum Spielen errichtet worden, um auf die Bäume zu klettern und sich zu verstecken und was sonst noch alles. An ihnen war absolut nichts Natürliches.

Allmählich wurde es wärmer, heiß genug, um ins Schwitzen zu geraten, jedoch nicht unerträglich . Die Menschen lagen in Decksstühlen und beobachteten die vorübergleitende stille Landschaft, während sie von einem übereifrigen Halloweenie bedient wurden. Wenn er nicht gerade unterwegs war, um kalte Getränke oder heiße Snacks zu holen, dann saß er ihnen zu Füßen und stellte endlose Fragen über das Leben auf anderen Welten. Er kannte nichts außer anderen Spielsachen, den menschlichen Patienten und dem Krieg, und er verstand die Hälfte der Antworten nicht, die er erhielt. Manchmal schüttelte er den knochigen Kopf und lachte – und stellte weitere Fragen.

Der kleine Skelettjunge liebte Geschichten, und er lauschte glücklich den Heldenerzählungen von Giles und Finlay. Eine Zeitlang lauschte er auch Tobias; doch die meisten Geschichten des Journalisten überstiegen seinen Horizont. Poogie, Reineke Bär und der Seebock spielten unentwegt Ringtennis; dabei stritten sie ständig über die Regeln – ganz besonders dann, wenn der Bock wieder einmal am Verlieren war. Alles der Adaptor blieb die meiste Zeit über für sich allein, doch hin und wieder erwachte er aus seiner brütenden Starre und wechselte zum Vergnügen Halloweenies die Gestalt. Der kleine Skelettjunge amüsierte sich endlos darüber und kreischte und klatschte bei jeder neuen Transformation. Der Adaptor beteiligte sich kaum an den Unterhaltungen; aber manchmal sprach er leise mit Halloweenie und unterbrach sich jedesmal, wenn ein anderer in seine Nähe kam. Der Kapitän blieb auf der Brücke und hielt den Schaufelraddampfer genau in der Mitte des Flusses, während er beide Ufer mit verdrießlichem Mißtrauen im Auge behielt.

Der Papagei verließ niemals seinen Platz auf der Schulter des Kapitäns und murmelte leise Obszönitäten, um sich selbst zu beruhigen.

An den Flußufern lebten kleine künstliche Tiere. Hin und wieder kamen sie aus ihren Löchern und Höhlen hervor und winkten und riefen den Menschen aus sicherer Entfernung freundliche Grüße zu. Künstliche Delphine in hellen Farben zogen den Fluß herauf und schwammen eine Weile neben der Missis Merry Truspott. Hin und wieder hoben sie die glatten Köpfe aus der Limonade und betrachteten die Menschen aus hellen, intelligenten Augen, die keinerlei Gefühlsregung erkennen ließen. Der lange Tage ging nur langsam vorüber. Es war warm und angenehm, und nichts geschah – alles war genau so, wie es in den frühen Tagen von Shannons Traum gewesen sein mußte.

Das Donnergrollen des Krieges war ein weit entferntes, leises Rumpeln, wie ein Gewitter, das einen heraufziehenden Sturm ankündigt . Einige der Menschen waren tatsächlich eingedöst, als das Schiff in ein Kampfgebiet einfuhr. Die friedliche Stimmung war mit einemmal zu Ende , und alles ging zur Hölle.

Die Spielsachen waren zwischen den Bäumen hindurch ge-schlichen und hatten sich in den Schatten verborgen gehalten, leise und unauffällig; dann waren sie lautlos ins dunkle Limonadenwasser des Flusses geglitten. Sie waren tief unter der Oberfläche geschwommen – sie benötigten keine Atemluft –, um dann unbemerkt an den Seiten der Missis Merry Truspott hochzuklettern. Schließlich schwärmten sie über die Reling, schwenkten Schwerter und Äxte und schrien Flüche gegen die Menschheit. Es waren farbenfrohe, ausgefranste Gestalten, die auf der gesamten Länge des Schiffs aufs Deck sprangen. Sie besaßen größtenteils humanoide Umrisse; doch ihre Körperteile und Glieder waren aus verschiedenfarbigen Teilen zusammengesetzt. Die Arme waren unterschiedlich lang; die Beine paßten in den Proportionen nicht zu den Rümpfen, und die Köpfe drehten sich um volle dreihundertsechzig Grad. Finlay kannte die Spielsachen aus seiner Kindheit. Sie wurden in Ein-zelteilen verkauft – Körper, Gliedmaßen und Köpfe, alle in verschiedenen Farben und Größen – und mußten erst von den Kindern zusammengesetzt werden, um damit spielen zu können. Man konnte die Teile gegen andere austauschen und so neue Figuren bauen. Irgend jemand hatte die Idee mit nach Shannons Welt gebracht, und jetzt waren die Patchworkspiel-zeuge gekommen, um Vergeltung für die Jahre des willkürlichen Auseinandernehmens und Wiederzusammenbauens durch die Menschenkinder zu üben.

Die Menschen sprangen auf. Entsetzen vertrieb die Schläf-rigkeit aus ihren Köpfen. Sie hatten gerade genug Zeit, ihre Schwerter zu ziehen; dann waren die bösen Spielzeuge auch schon über ihnen. Finlay und Evangeline standen Rücken an Rücken und schlugen nach allem, was in die Reichweite ihrer Schwerter geriet. Giles war am Bug umzingelt und eingeschlossen, doch er hielt seine Stellung, und seine schwere Klinge fuhr durch die Körper der Spielzeuge, als wären sie aus Papier. Er kämpfte ruhig und ökonomisch, sparte seine Kräfte und ließ sich auch nicht von der schieren Zahl der Angreifer beeindrucken, die unablässig gegen ihn vordrangen. Tobias und Flynn stemmten sich mit den Rücken gegen die Außenwand des großen Salons und errichteten eine Barrikade aus Decksstühlen zwischen sich und den Spielsachen, über die sie mit ihren Disruptoren hinwegfeuerten. Die Energiestrahlen rissen breite Lücken in die dicht gedrängten Reihen der Angreifer. Flynns Kamera schwebte über der Szenerie und filmte alles, wie immer.

Julian wollte einen PSI-Sturm heraufbeschwören, doch allein der Versuch reichte aus, um ihn halb wahnsinnig vor Kopfschmerzen werden zu lassen. Er sank auf die Knie, und Blut lief ihm aus Mund und Nase. Halloweenie packte ihn am Arm und zerrte ihn mit der Kraft der Verzweiflung in den Salon. Er verriegelte die Tür von innen und verrammelte sie anschließend mit schwerem Mobiliar gegen die anstürmenden Spielsachen. Dann drehte er sich zu Julian um und erstarrte entsetzt beim Anblick eines Menschen, der blutete und daher offensichtlich verletzt war. Schließlich packte er einen eisernen Schürhaken aus einem Gestell neben dem Kamin und postierte sich hinter der verbarrikadierten Tür, fest entschlossen, niemanden vorbeizulassen, solange noch Kraft in seinen knochigen Armen war.

Reineke Bär und der Seebock waren genauso das Ziel des Angriffs wie die Menschen, und sie kämpften Seite an Seite.

Der Bock hatte einen großen Knüppel aus irgendeiner geheimnisvollen Falte seines Mantels gezogen und führte ihn nun mit großem Geschick und einer gewissen Häme. Reineke Bär hatte einmal mehr die stählernen Klauen aus den Pfoten ausgefahren und zerriß die angreifenden Spielsachen mit kalter, berechnender Wut. Auch Poogie der freundliche Bursche zeigte mit einemmal furchteinflößende Klauen und Zähne, und er bahnte sich skrupellos einen Weg durch die dichte Masse von Spielsachen, die sich auf dem Deck drängten. Oben auf der Brücke der Missis Merry Truspott schleuderte der Kapitän den Angreifern Flüche und Herausforderungen entgegen und bemühte sich hektisch, den Schaufelraddampfer auf Fahrt zu bringen, um die Spielzeuge abzuhängen, die noch im Wasser warteten. Bis jetzt hatte noch keines der Zusammensetzspielzeuge die Brücke erreicht; doch der Kapitän hielt bereits einen schweren Säbel in der Hand.

Inzwischen war das gesamte Deck voller Spielzeuge , und noch immer enterten neue Angreifer über die Reling der Missis Merry Truspott. Sie waren zu Hunderten, und ihre Flut schien kein Ende nehmen zu wollen. Die Schwerter hatten keine große Mühe mit ihnen; aber die Spielzeuge kämpften selbst mit einem abgetrennten Glied oder einem beschädigten Rumpf mit unverminderter Wut weiter. Und wenn sie zu stark beschädigt wurden, dann kamen andere Spielzeuge und rissen sie ganz auseinander, um ihre eigenen Körper mit den Ersatzteilen zu reparieren. Überall auf dem Deck lagen verstreute Körperteile herum und wurden zertrampelt. Die Menschen kämpften mit zunehmender Verzweiflung. Nach und nach ermüdeten sie immer mehr, im Gegensatz zu ihren Feinden .

Finlay kämpfte auf dem Gipfel seiner Künste. Er war ausgeruht und stark und tödlich, und kein Spielzeug konnte ihm widerstehen. Aber es waren ihrer so viele, und nicht einmal ein Mann, der einst der unbesiegbare Maskierte Gladiator der Arena von Golgatha gewesen war, konnte lange gegen eine solche Armee bestehen. Mit der Kraft der Verzweiflung hielt Evangeline ihm den Rücken frei. Sie gab ihr Bestes, das Schwert so zu führen, wie Finlay es sie gelehrt hatte. Gleichzeitig bemühte sie sich, das Entsetzen für sich zu behalten, das in ihr aufzusteigen drohte, um Finlay nicht unnötig abzulenken.

Die Barrikade, die Tobias und Flynn rings um sich herum errichtet hatten, wurde nach und nach trotz all ihrer Anstrengungen abgetragen. Langsam wurde den beiden Nachrichtenleuten klar, daß sie sich selbst in eine Ecke manövriert hatten, aus der es kein Entkommen für sie gab. Sie zogen ihre Schwerter und wurden zögernd Bestandteil der Geschichte, über die sie eigentlich nur hatten berichten wollen. Tobias schrie Flynn zu, mit seiner guten Seite zu kämpfen, und Flynn erwiderte, daß er keine gute Seite besäße. Tobias lachte rauh und führte das Schwert mit beiden Händen. Giles Todtsteltzer stand allein am Bug der Missis Merry Truspott. Er war von wütenden, heulenden Spielzeugen umgeben, und obwohl seine Lage aussichtslos schien, kämpfte er hart und gut. Langsam wurde er müde, doch er war immer noch stark. Der Zorn raste durch seinen Körper.

Die Übermacht war groß; aber der Erste Todtsteltzer hatte schon gegen schlimmere Feinde gekämpft. Wenigstens dachte er das. Doch dann erhaschte er zum ersten Mal einen Blick auf die Hunderte von Spielsachen, die sich auf dem Promenadendeck drängten, und seine Zuversicht sank. Manchmal war die Übermacht eben doch zu groß, um dagegen zu bestehen – selbst für den legendären Giles Todtsteltzer. Er kämpfte trotzdem weiter. Der Erste Todtsteltzer hatte schon früher dem Tod die Stirn geboten, und er hatte nie gezögert, ihm in die Augen zu schauen; aber er hatte nie geglaubt, daß er einmal so sterben würde. Auf eine so entehrende Weise, zur Streckegebracht von der schieren Überzahl der Feinde. In Stücke gehackt von Spielzeugen auf einer dämlichen Vergnügungswelt…

Die Spielzeuge warfen sich auf ihn. Ihre Schreie waren entsetzlich. Die künstlichen Stimmen waren voller Wut und freudiger Erwartung, und Schwerter und Äxte wurden geschwungen, die den Ersten Todtsteltzer in Stücke hacken würden, die niemand mehr zusammensetzen könnte. Plötzlich packte Giles Todtsteltzer blinder Zorn, und Verzweiflung erweckte die Kräfte, die das Labyrinth des Wahnsinns ihm geschenkt hatte.

Macht erstrahlte in seinem Unterbewußtsein, und sie strahlte hell in Teilen seines Verstandes, die er noch nie benutzt hatte, und mit einemmal war Giles Todtsteltzer an einem anderen Ort.

Er stand auf der Brücke, direkt neben einem verblüfften Kapitän, während die Spielzeuge unten am Bug die Stelle überrannten, wo er sich noch Sekundenbruchteile zuvor befunden hatte. Sie starrten dümmlich in die Gegend und wunderten sich, wohin ihre sicher geglaubte Beute so plötzlich verschwunden war. Giles lachte laut auf. Er war teleportiert! Er konnte spüren , wie die neue Fähigkeit ein Teil seines Selbst wurde , so leicht und einfach und natürlich wie das Atmen, und er fragte sich unwillkürlich, welche anderen Fähigkeiten sich in Zeiten der Not noch in ihm manifestieren würden. Er blickte nach unten auf das Gewimmel von Spielzeugen und grinste böse, während er überlegte, wie er seine neu gewonnene Fähigkeit als nächstes einsetzen sollte.

Der Kapitän wankte auf seinen Holzbeinen über die Brücke und schwang den Säbel mit mehr Kraft als Geschick. Bisher waren nur wenige Spielzeuge so weit vorgedrungen, doch er hörte bereits, wie sich weitere auf den Weg nach oben machten. Der Papagei flatterte vor ihren Gesichtern herum, kreischte Beleidigungen und irritierte die Angreifer. Niemand hatte die Hände am Ruder, und das Schiff trieb führerlos dahin. Gegenwärtig hielt es Kurs auf das Ufer.

Unten auf dem Promenadendeck hatte der Adaptor Alles seine martialischste Gestalt angenommen und bahnte sich mit rasiermesserscharfen Handkanten einen Weg durch das Ge-wühl. Die Waffen der Spielsachen prallten wirkungslos von seinem Metallkörper ab; also klammerten sie sich an seine Ar-me und Beine und versuchten, ihn durch ihr schieres Gewicht zu Fall zu bringen. Doch das Spielzeug, dessen Traum es war, eine Furie von Shub zu sein, stand wie ein Fels in der Brandung und weigerte sich zu fallen.

Poogie war ein schnarrendes Etwas aus Haß und Zerstörungswut geworden. Der freundliche Bursche besaß nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit einer Zeichentrickfigur. Er war außer sich vor Wut über die Spielsachen, die ihn an seiner Wiedergutmachung hindern wollten und die es wagten, Menschen anzugreifen, die unter seinem persönlichen Schutz standen. Er kämpfte unermüdlich mitten auf dem Deck, und nichts und niemand war stark genug, ihn zu Fall zu bringen und zu besiegen.

Doch die angreifenden Spielzeuge waren einfach so viele. So verdammt viele.

Im Salon stand Halloweenie hilflos über Julian und überlegte verzweifelt, was am besten zu tun sei. Draußen hämmerten böse Spielsachen gegen die verbarrikadierte Tür und warfen die Fenster ein. Der junge Esper blutete noch immer heftig aus Mund und Nase, trotz aller Anstrengungen, die der fröhliche Skelettjunge unternommen hatte, um die Blutungen zu stoppen.

Das Schiff besaß eine Sanitätsstation; doch Halloweenie war nicht kräftig genug, um den Esper so weit zu tragen, selbst wenn sie von den Angreifern unbemerkt bleiben würden. Halloweenie hätte alleine fliehen können, doch er wollte den verletzten Menschen nicht ohne Schutz zurücklassen. Die Angreifer hämmerten gegen die Türen und brachen sie langsam auf, und die aufgestapelten Möbel wurden Zentimeter um Zentimeter nach hinten geschoben. Andere Spielzeuge versuchten, durch die Fenster einzudringen. Halloweenie rannte hierhin und dorthin und stieß alle wieder hinaus.

Und dann brach die Barrikade aus Möbeln plötzlich auseinander und fiel polternd um. Die Tür schwang weit auf, und die Spielzeuge stürmten heulend in den Raum. Halloweenie rannte vor und stellte sich zwischen die Angreifer und den verletzten Menschen, aber es waren so schrecklich viele, und er war nur ein kleiner Skelettjunge. Er ging unter ihrem Ansturm zu Boden, und sie trampelten über ihn hinweg. Knochen bogen sich und brachen, und er kreischte Julian zu, daß er weglaufen solle.

Der junge Esper gab sich alle Mühe, auf die Beine zu kommen, und dann taumelte er vor, um seinem kleinen Verteidiger zu Hilfe zu eilen. Schwerter und Äxte hoben sich rings um ihn herum.

Ein Krachen wie von einem Donner ließ alle innehalten: das Geräusch von explosionsartig verdrängter Luft. Giles Todtsteltzer erschien wie aus dem Nichts mitten im Salon. Die Spielzeuge wichen zurück. Das plötzliche Auftauchen eines weiteren Feindes hatte sie verunsichert. Giles trat vor und half Julian aufzustehen, und während die Spielsachen noch zögerten, griff er mit seiner Labyrinth-geborenen Macht nach Julians Geist. Julian wehrte sich erschrocken, als er den Plan des Todtsteltzers durchschaute; doch Giles wischte die Abwehr des Espers mit lässiger Leichtigkeit beiseite. Er übernahm die Kontrolle über Julians ESP und beschwor einen PSI-Sturm herauf.

Julian schrie entsetzlich. Der Laut erhob sich über den allgemeinen Kampflärm, und alle hielten für einen kurzen Augenblick inne. Und dann war es, als fege ein gewaltiger Sturm der Länge nach über die Missis Merry Truspott. Er packte die bösen Spielsachen und schleuderte die meisten von ihnen über Bord. Andere mit weniger Glück wurden zerrissen und in ihre Bestandteile aufgelöst, bevor der Wind sie in alle Richtungen verstreute. Wieder andere explodierten einfach, als sie von Blitzen getroffen wurden, die über das Deck fegten. Nichts als knisternde, funkensprühende Reste blieben von ihnen übrig.

Die Menschen standen wie erstarrt und beobachteten das Schauspiel ehrfürchtig. Der Sturm hatte sie völlig verschont.

Reineke Bär wurde von der Wucht des Windes von den Füßen gerissen, doch der Seebock packte ihn mit einer Hand und klammerte sich mit der anderen verzweifelt an der Reling fest.

Die Belastung drohte, ihn zu zerreißen, doch er ließ nicht lok-ker. Schließlich war er der Seebock, und der Seebock ließ seine Freunde nicht im Stich. Poogie und Alles klammerten sich verängstigt aneinander. Sie hatten unter einem Stapel Decksstühlen Zuflucht gesucht. Im Salon, im Zentrum des künstlichen Sturms, fielen die Spielsachen tot um, wo sie standen oder gingen. Der Wind heulte wie eine menschliche Stimme, voll Schmerz und Jubel zugleich, und fegte die Spielzeuge ins Wasser zurück.

Und dann erstarb der Sturm so rasch, wie er gekommen war, und an Bord war alles wieder ruhig – mit Ausnahme der schmerzerfüllten Schreie aus dem Salon und Halloweenies verzweifelten Hilferufen. Die Menschen und die guten Spielzeuge vergaßen ihren plötzlichen, unvermuteten Sieg und ihre zahlreichen Wunden und rannten zum Salon. Sie schoben sich durch die halb zerstörte Tür und an den zerschmetterten Barrikaden vorbei. Und dann sahen sie Halloweenie, der seinen zerbrochenen, geschundenen Körper voller Schmerzen über den Boden zog und versuchte, Julian zu erreichen, der zuckend in den Armen des Ersten Todtsteltzers lag. Die entsetzlichen Schreie des Espers wurden rauher, als würde seine Kehle zunehmend Schaden nehmen. Giles ließ Julian zu Boden sinken und wich zurück. Er musterte die anderen mit kalten, wachsa-men Augen.

»Laßt ihn nicht entkommen!« kreischte Halloweenie. »Er ist an allem schuld! Er hat Julian weh getan. Er hat irgend etwas mit ihm angestellt, und Julian fing an zu schreien und konnte nicht mehr aufhören.«

Finlay und Evangeline traten rasch vor und knieten neben dem jungen Esper nieder . Julian Skye zuckte am ganzen Leib, und seine Hacken trommelten auf den Boden . Der Kopf schnellte von einer Seite zur anderen, hin und her, hin und her, und Blut strömte aus seinem Mund, während er schrie . Evangeline half ihm, sich aufrecht hinzusetzen, und wiegte ihn dann in den Armen, Sie versuchte, seine hilflosen Bewegungen aufzu-fangen. Finlay untersuchte Julian nach Wunden, und bald wurde seinen in der Arena trainierten Augen klar, daß die Verletzungen innerer Natur sein mußten. Die Gegenwehr des jungen Espers wurde schwächer, als die letzten Kräfte ihn verließen .

Seine Schreie wurden zu einem Stöhnen . Blut sickerte aus seinen Ohren und tropfte aus den Augenhöhlen und über die Wangen wie purpurrote Tränen. Er war leichenblaß im Gesicht und seine Haut eiskalt. Finlay starrte den Todtsteltzer feindselig an.

»Was zur Hölle habt Ihr mit ihm gemacht?«

»Nur das, was nötig war«, antwortete Giles. Seine Stimme klang gelassen, aber wachsam. »Wir benötigten einen PSI-Sturm. Es war unsere einzige Überlebenschance. Also half ich dem Esper, einen zu produzieren.«

»Ihr wußtet, daß er daran sterben konnte!« hielt ihm Evangeline vor.

»Ja, das wußte ich«, bestätigte Giles. »Das wußte ich. Aber es war notwendig.«

»Wenn er stirbt, seid Ihr ein Mörder!« sagte Evangeline.

»Es wäre nicht mein erster Mord. Werdet endlich erwachsen, Frau! Wir befinden uns mitten in einem Krieg. Das Überleben der Gruppe kommt an erster Stelle. Unsere Mission ist wichtiger als jeder einzelne von uns. Und bevor Ihr fragt – ja, das schließt mich mit ein!«

Tobias eilte herein. Er brachte einen kleinen Autodoc aus der Sanitätsabteilung der Missis Merry Truspott mit und reichte ihn dem Feldglöck. Finlay riß den Kragen des jungen Espers auf und preßte die flache Scheibe auf dessen Hals. Tobias trat zu-rück, um Flynns Kamera nicht die Sicht zu versperren.

»Es ist ein ziemlich einfacher Autodoc«, erklärte er zögernd.

»Ich meine, er ist ganz gut, was das Verabreichen von Beruhigungsmitteln und Schmerzdämpfern angeht, aber fragt mich nicht, was er gegen einen totalen Schock und zerebrale Hämorrhagien bewirken kann.«

Julian beruhigte sich nach und nach, während die Wirkung der Medikamente einsetzte, die der Autodoc in ihn hinein-pumpte. Schließlich erstarb sein Stöhnen zu einem kaum noch hörbaren Wimmern. Evangeline wiegte ihn sanft, streichelte seine Stirn und murmelte tröstende Worte wie eine Mutter zu einem kranken Kind. Julian schien sie nicht zu hören. Finlay stand auf und drehte sich zu dem kleinen Skelettjungen Halloweenie um. Reineke Bär und der Seebock kümmerten sich bereits um ihn. Er hatte beide Beine und die meisten Rippen gebrochen. Die Brüche waren an dem nackten Skelett deutlich zu sehen. Ein langer Riß zog sich über den Schädel, und das glänzende Metall seines künstlichen Gehirns schimmerte durch.

Halloweenie weinte ohne Tränen. Poogie und Alles sahen hilflos von der Tür her zu.

»Wie geht es ihm?« fragte Finlay.

»Was kümmert’s Euch?« herrschte ihn Alles der Adaptor an.

»Er ist schließlich nur ein Spielzeug, oder?«

»Er ist einer von uns«, entgegnete Finlay. Er sah den Bären und den Bock an. »Können wir die Verletzungen reparieren?«

»Ich hoffe es«, antwortete Reineke Bär. »Er ist ein Automat, nicht wahr? Wir haben zwar keine Ersatzteile an Bord; aber es sollten sich genügend Splinte und Klammern finden lassen, um ihn zusammenzuhalten, bis wir wieder zurück in der Spielzeugstadt sind.«

»Wenn wir denn je wieder zurückkommen«, bemerkte der Seebock zweifelnd.

»Halt die Klappe, Bock!« fuhr ihn der Bär an. »Jetzt ist nicht die Zeit für so etwas.« Er wandte sich an Finlay und blickte ihn aus seinen großen, intelligenten Augen an. »Euer Freund liegt im Sterben, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete Finlay leise. »Ich glaube, daß er sterben wird. Er hat uns alle gerettet, aber wir können hier auf dem Schiff nichts für ihn tun.«

»Der Todtsteltzer hat ihm das angetan«, sagte der Bär. »Er besitzt ungewöhnliche mentale Kräfte. Ich habe ihn teleportieren sehen. Vielleicht kann er seine Kräfte einsetzen, um die Schäden wiedergutzumachen, die er dem jungen Esper zugefügt hat.«

Finlay drehte sich zu Giles um, der den Blick des Feldglöcks fest erwiderte. »Nun?« fragte Finlay. »Man sagt, Ihr wärt durch das wunderbare Labyrinth von Haden gegangen. Zeigt uns, zu was Ihr fähig seid! Schließlich seid Ihr deshalb ja hier, nicht wahr? Um Eure ganz speziellen Kräfte einzusetzen. Heilt ihn!«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, antwortete Giles. »Ich ha-be so etwas noch nie zuvor versucht.«

»Dann versucht es eben jetzt«, sagte Finlay und richtete seinen Disruptor auf Giles’ Brust. »Oder ich werde Euch töten, so wahr ich hier stehe und Finlay Feldglöck heiße. Jetzt auf der Stelle.«

»Nein, das werdet Ihr nicht«, entgegnete der Erste Todtsteltzer gelassen. »Ihr braucht mich noch. Ohne mich werdet Ihr Harker niemals erreichen, und unsere Mission wird scheitern.«

»Scheiß auf die Mission! Heilt Julian, oder Ihr seid ein toter Mann!«

»Ich werde das hier nicht vergessen«, sagte der Todtsteltzer.

Seine Stimme klang ruhig und kalt.

»Was meint Ihr, was für einen Dreck ich darauf gebe?« höhnte Finlay.

Giles nickte und kniete neben Evangeline nieder. Sie funkelte ihn an; doch schließlich ließ sie es zu, daß er ihr Julian aus den Armen nahm. Der Todtsteltzer hielt den jungen Esper mit überraschender Sanftheit, und Julians Kopf sank kraftlos gegen seine Brust. Blut tropfte von seinem Kinn.

Julians Atem ging sehr schwach . Giles schloß die Augen und konzentrierte sich auf eine Art und Weise, die noch neu und ungewohnt war, und sein Bewußtsein griff hinaus in eine Richtung, die er nicht zu benennen vermochte. Er wußte nur, daß sie da war. Dann erblickte er Julian als ein schwaches Licht in der Dunkelheit, eine flackernde Kerze, deren Flamme im Begriff stand zu erlöschen. Giles richtete seinen mentalen Blick auf sich selbst und erkannte ein Licht, das zu grell war, um hin-zusehen. Und plötzlich war es die einfachste Sache der Welt für ihn, einen Teil dieses Lichts zu nehmen und es Julian zu schenken.

Plötzlich richtete sich der junge Esper in den Armen des Todtsteltzers auf. Er riß die Augen auf und atmete tief durch wie ein Schwimmer, der von einem langen Tauchgang an die Wasseroberfläche zurückkehrt. Die Blutungen hatten aufgehört, und seine Gesichtsfarbe war wieder normal . Er sah sich verblüfft um .

»Was zur Hölle war das?« fragte er . »Mir war, als hätte Gott persönlich meinen Namen gerufen.«

»Glaubt mir«, sagte Finlay, »Gott hatte nichts damit zu tun.«

»An was könnt Ihr Euch erinnern?« erkundigte sich Evangeline, während sie ihm half aufzustehen .

»Ich… ich bin nicht sicher. Wir wurden angegriffen. Ich versuchte, mein ESP zusammenzunehmen, aber… und dann war Giles bei mir. Danach erinnere ich mich an gar nichts mehr.«

»Wahrscheinlich ist es so am besten«, sagte Finlay. Er blickte zu Giles, der sich inzwischen ebenfalls wieder erhoben hatte .

»Wie gut war Eure Arbeit, Todtsteltzer? Ist er gesund? Ist es möglich, daß er wieder ganz gesund ist?«

»Das bezweifle ich«, antwortete Giles. »Ich kenne mich nicht aus in Medizin. Was auch immer vorher nicht in Ordnung war, ist es auch jetzt nicht. Ich habe ihm nur… Starthilfe gegeben.

Seine Batterien ein wenig aufgefüllt. Nein, wahrscheinlich ist er genauso krank, wie er vor meinem… Eingriff war.«

»Macht das nie wieder!« drohte Finlay. »Ihr seid derjenige mit den erstaunlichen Kräften. Ihr werdet uns in Zukunft verteidigen.«

»Ihr seid stark genug, um Euch selbst zu verteidigen«, konterte Giles. »Ich vergesse niemals eine Drohung.«

»Ich glaube, wir sollten uns alle wieder ein wenig beruhigen«, meldete sich Tobias nervös zu Wort. »Schließlich stehen wir auf der gleichen Seite. Das tun wir doch, oder nicht? Und der Esper ist auch wieder normal.«

»Ich denke, ich werde einen Spaziergang auf dem Deck machen«, sagte Giles, ohne Finlays Blick auszuweichen. »Einer muß schließlich sicherstellen, daß keine Körperteile von bösen Spielsachen an Bord zurückgeblieben sind. Außerdem kann ich ein wenig frische Luft gebrauchen. Hier drin ist es stickig.« Er ging auf die Salontür zu, und alle traten ihm nervös aus dem Weg. Der Bär sah ihn nachdenklich an.

»Ihr seid nicht länger menschlich«, sagte er. »Ich kann es spüren. Was seid Ihr, Giles Todtsteltzer?«

»Ich will verdammt sein, wenn ich das wüßte«, entgegnete Giles und trat durch die Tür nach draußen .

»Wie fühlt Ihr Euch, Julian?« erkundigte sich Finlay.

Der Esper zuckte unbehaglich die Schultern. »Müde. Ausge-laugt. Und mein Hals brennt wie Feuer. Ist der Angriff vorüber? Sind die Spielsachen wieder weg?«

»Es ist vorbei«, sagte Evangeline. »Warum legt Ihr Euch nicht eine Weile hin? Wir kümmern uns schon um die Aufräumarbeiten.«

»Ja«, sagte Julian. »Ausruhen. Gute Idee.« Er verließ den Salon auf unsicheren Beinen.

»Typisch«, knurrte Alles wütend. »Halloweenie wurde fast umgebracht bei dem Versuch, ihn zu schützen, und der Mensch sagt noch nicht einmal danke.«

»Halt die Klappe«, sagte Halloweenie. »Er kann sich an nichts mehr erinnern. Wenn du dich nützlich machen willst, dann schaff mich hier raus und in die Werkstatt. Ich brauche eine Zehntausenderinspektion. Mindestens.« Alles nickte, hob den übel zugerichteten kleinen Skelettjungen hoch und trug ihn nach draußen. Poogie, Reineke Bär und der Seebock schlossen sich den beiden an, und bald waren die Menschen allein. Tobias nickte Flynn zu, und die Kamera schwebte auf Flynns Schulter und schaltete sich aus.

»Ihr habt vielleicht Nerven, Feldglöck!« sagte Tobias. »Einen Todtsteltzer zu bedrohen! Zur Hölle, den Todtsteltzer! Das war der Mann, der den Dunkelzonen-Projektor aktiviert hat, oder habt Ihr das vergessen? Jedes lebende Ding auf tausend Planeten starb, und er hat nie auch nur Entschuldigung gesagt.

Ich persönlich würde eher einem Grendel einen Zungenkuß geben.«

»Er hätte Julian sterben lassen«, erwiderte Finlay. »Ich konnte das nicht zulassen. Ich habe Julian Skye nicht aus den Verhörzellen unter der Erde von Golgatha gerettet , um ihn sterben zu sehen, weil der Todtsteltzer eine Verwendung für ihn hatte.

Außerdem hoffte ich insgeheim, daß der antike Bastard Julian heilen könnte und alles wieder ins Lot bringen, was nicht mit dem Jungen stimmt. Entweder er hat es geschafft, oder der ar-me Bursche stirbt noch immer Stück für Stück vor sich hin. Die Chancen stehen nicht schlecht, daß er so oder so hier auf Shannons Welt stirbt, weit weg von zu Hause, und ich kann verdammt noch mal überhaupt nichts tun, um ihn zu retten.«

»Du bist eben nicht allmächtig«, bemerkte Evangeline.

»Ich konnte ihn noch nicht einmal trösten«, sagte Finlay.

»Jedenfalls nicht so, wie du es getan hast. Ich weiß nicht, wie man so was macht.«

»Du hast Giles dazu gebracht, ihn zu retten«, sagte Evangeline. »Das ist etwas, was ich nicht kann. Wir zwei ergeben ein gutes Team, Finlay Feldglöck, wenn man es genau bedenkt.«

Sie lächelten einander an und versanken in den Augen des anderen. Plötzlich war der Salon mit ihrer Liebe erfüllt. Tobias kam der Gedanke, daß vielleicht jetzt eine gute Gelegenheit sei, Antworten auf ein paar Fragen zu erhalten, die ihm schon lange auf der Zunge brannten, solange die beiden noch in derart guter Stimmung waren.

Er gab Flynn einen verstohlenen Wink, die Kamera einzuschalten, und Flynn nickte zum Zeichen, daß er verstanden hatte. Die Kamera auf seiner Schulter bewegte sich nicht, doch das einzelne rote Auge erwachte wieder zum Leben.

»Was ist das eigentlich für eine Geschichte mit diesem Giles Todtsteltzer?« erkundigte sich Tobias nebenbei. »In seiner Geschichte oder seinem Lebenslauf findet sich kein Hinweis auf irgendwelche Esperbegabungen. Ganz sicher hat niemand in seiner Blutlinie jemals eine Spur von ESP gezeigt, mit Ausnahme von Owen. Ich habe gesehen, wie er auf der Nebelwelt ganz erstaunliche Dinge vollbracht hat.«

»Es war das Labyrinth«, sagte Finlay. »Das Labyrinth des Wahnsinns. Giles und Owen und ein paar andere begegneten ihm auf der verlorenen Welt Haden.«

»Ihr meint, sie wurden durch einen Apparat der Hadenmänner verändert?«

»Nein. Irgend etwas viel Älteres. Es verändert die Menschen, die hindurchgehen. Es macht mehr aus ihnen. Fragt mich nicht nach Einzelheiten; ich weiß nämlich nichts. Der Untergrund weiß Bescheid, aber sie sagen uns nicht mehr, als wir unbedingt wissen müssen. Und Leute wie Ihr oder ich müssen gar nichts wissen. Und jetzt schaltet Eure Kamera wieder aus und macht, daß Ihr wegkommt, bevor ich entschieden habe, in welche Eurer Körperöffnungen ich das Ding schieben soll. Quer, wenn Ihr versteht, was ich meine.«

»Vollkommen«, sagte Tobias. »Laß uns gehen, Flynn.«

»Ich bin schon längst weg«, sagte der Kameramann, und gemeinsam verließen sie den Salon zwar nicht gerade fluchtartig, aber doch beinahe. Draußen schlossen sie die Tür hinter sich und atmeten zuerst ein paarmal tief durch.

»Ich glaube nicht, daß er die Sache mit der Kamera im Scherz gemeint hat«, sagte Flynn. »Meinst du, es war ein Witz?«

»Höchstwahrscheinlich nicht«, antwortete Tobias. »Finlay Feldglöck hat einen weiten Weg hinter sich, wenn man bedenkt, daß er einmal der größte Wäscheständer des gesamten Imperiums gewesen ist. Trotzdem, wenn ich’s mir genau überlege, war der Zeitpunkt wohl doch nicht so gut geeignet, um ein paar Fragen zu stellen.«

»Das konnte dich früher auch nie aufhalten«, sagte Flynn.

»Stimmt«, gestand Tobias. »Komm, laß uns gehen und nachsehen, was die Spielsachen als nächstes im Schilde führen.«

Nicht weit von den beiden entfernt lehnte Giles Todtsteltzer an der Steuerbordreling und starrte in die dunklen Limonadenfluten des Großen Flusses. Der Kapitän hatte die Missis Merry Truspott wieder unter Kontrolle gebracht, und das Schiff nahm beständig Fahrt auf. Giles versuchte, sich an das Gefühl des Teleportierens zu erinnern, doch es entzog sich ihm. Es war, als wäre die Erfahrung zu mächtig für seinen Verstand, um damit klarzukommen, es sei denn in schierer Not. Es war zuviel für einen menschlichen Verstand. Nur, daß Giles im Grunde genommen kein wirklicher Mensch mehr war, seit er zusammen mit den anderen das Labyrinth des Wahnsinns durchschritten hatte. Er war etwas… etwas anderes geworden, und seine neue Fähigkeit der Teleportation war erst der Anfang; dessen war er vollkommen sicher. Und obwohl er weit von den anderen entfernt war – räumlich gesehen –, war er im Unterbewußtsein noch immer mit ihnen verbunden, und er wußte, daß auch sie sich veränderten, auf eine andere, beängstigende Art und Weise. Er fragte sich, was aus ihm werden würde, was aus ihnen allen werden würde, und ob das Endprodukt noch irgend etwas mit einem Menschen gemeinsam haben würde.

Auch fragte er sich, warum ihm der Gedanke nur halb so viel Angst machte, wie er eigentlich sollte.

Plötzlich hörte er lautes, ärgerliches Stimmengewirr, und er ging in die entsprechende Richtung, um nachzusehen, was vor-gefallen war. Unten am Heck hatten Reineke Bär und der Seebock einen abgeschlagenen Spielzeugkopf gefunden. Er war in einer Ecke eingeklemmt gewesen, wo der PSI-Sturm ihn nicht hatte packen können, und jetzt verhörten die beiden ihn, indem sie ihn wie einen Fußball übers Deck traten und ihm Fragen zubrüllten. Tobias beruhigte die beiden, dann stellte er den Kopf vor die Wand des Salons und begann nun seinerseits Fragen zu stellen, während Flynn alles filmte. Der Lohn für seine Bemühungen bestand in einer Reihe nicht besonders einfalls-reicher Flüche, und so trat Giles herbei und übernahm das Verhör.

Niemand hatte etwas dagegen einzuwenden; aber das hatte Giles auch nicht erwartet.

»Warum habt ihr uns angegriffen?« verlangte er von dem Kopf zu wissen.

Der Spielzeugkopf war von einem strahlenden Blau, und er besaß spitze Ohren und übergroße Augen. Wahrscheinlich sollte er ursprünglich einmal niedlich und elfenhaft wirken , doch inzwischen sah er eher aus wie ein Dämon. Der Kopf lachte bei Giles’ Frage und entblößte dabei eine Reihe spitzer Zähne. Das Geräusch war rauh und künstlich, und es besaß nicht den Hauch menschlicher Emotionen. Die Augen des Spielzeugs schienen nur aus dunklen Pupillen zu bestehen, und sie fixier-ten jetzt den Todtsteltzer.

»Ihr seid der Feind. Der ewige Feind. Menschen und Men-schenfreunde. Glaubt nur ja nicht, ihr hättet hier irgend etwas gewonnen. Ihr entkommt uns nicht. Wir werden euch finden, und wir werden euch töten. Alle miteinander. Und wenn wir es nicht schaffen, dann eben die anderen.«

»Die anderen?« fragte Giles und begegnete gelassen dem wilden Blick der dunklen unmenschlichen Augen.

»Wir haben viele Freunde«, antwortete der Kopf. »Sie warten überall am Weg auf euch. Wir wissen, woher ihr kommt und wohin ihr wollt. Wir haben unsere Augen und Ohren überall.

Ihr werdet den Roten Mann niemals erreichen. Wir erlauben das nicht.«

»Wie lautet dein Name?« fragte Tobias.

Der Kopf lachte ihm ins Gesicht. »Mein Name? Namen sind Menschensache. Unsere Identitäten sind austauschbar, genau wie unsere Körper. Wir haben keine Ahnung, wer wir sind, und das gefällt uns.«

»Was weißt du über Harker?« fragte Giles geduldig. »Erzähl mir, was du über den Roten Mann weißt, und warum ihr so fest entschlossen seid, uns nicht zu ihm gehen zu lassen.«

»Ich muß deine Fragen nicht beantworten, Mensch.« Der Kopf spuckte Giles ins Gesicht. Der Todtsteltzer zuckte nicht einmal zusammen.

»Ich kann dich zum Reden zwingen«, sagte er. »Sieh mich an, Spielzeug.«

Er beugte sich vor und starrte in die dunklen Augen des abgetrennten Kopfes. Seine Gegenwart war mit einemmal überwältigend, furchteinflößend und schrecklich, als wäre etwas Unerwartetes und unendlich Machtvolles hinter der Maske des Todtsteltzers hervorgekommen. Reineke Bär und der Seebock wichen zurück, und Tobias mußte sich mit aller Macht zusammenreißen, um nicht das gleiche zu tun. Flynn drohte, sekundenlang die Kontrolle über seine Kamera zu verlieren; doch er filmte weiter. Der Kopf gab ein hohes wimmerndes Stöhnen von sich: ein verängstigtes, erbarmungswürdiges Geräusch wie von einem Kind, das gefoltert wurde. Giles entspannte sich plötzlich wieder, und die überwältigende Präsenz war genauso plötzlich verschwunden, wie sie gekommen war. Der Kopf hatte die Augen fest geschlossen.

»Also schön«, sagte er leise. »Wir haben Angst vor dem Roten Mann. Noch nie kam jemand von ihm zurück. Niemals.

Selbst unsere fanatischsten Brüder und Schwestern nicht. Nach allem, was wir wissen, hebt er tief im Wald seine eigene Privatarmee aus. Es heißt, er würde dem Krieg ein Ende bereiten.

Oder sogar der ganzen Welt. Es heißt auch, er sei verrückt, so verrückt, wie nur ein Mensch es sein kann, und er steckt die Spielsachen mit seinem Wahnsinn an.

Ich kenne euch Menschen. Ihr würdet versuchen, mit ihm zu reden, und am Ende wärt ihr genauso wahnsinnig wie der Rote Mann. Genauso verrückt wie der Rote. Und wer weiß, wie mächtig er erst sein wird, wenn er andere Menschen um sich hat, die ihm helfen. Menschen, die genauso wahnsinnig sind wie er. Also liegen wir auf der Lauer, überall am Großen Fluß.

Ihr werdet den Dunklen Wald niemals lebend erreichen!«

»Wir wollen den Roten Mann mitnehmen«, sagte Giles. »Wir wollen ihn mit uns nehmen, weg von dieser Welt. Ist es nicht das, was ihr euch wünscht?«

Der Kopf lachte nur. »Ihr lügt. Menschen lügen immer. Niemand weiß das besser als wir. Ihr sagt, ihr liebt uns, wenn ihr herkommt und mit uns spielt; doch am Ende geht ihr immer wieder weg und laßt uns zurück. Wir sind schließlich nur Spielsachen, die man benutzt und hinterher wegwirft. Ihr habt uns nie geliebt. Und dafür werdet ihr bezahlen. Alle zusammen.«

»Ich glaube, wir haben genug gehört«, knurrte Giles. »Das hier ist für Julian.«

Er nahm den Kopf hoch und drückte seine Daumen fest in die Augen des Spielzeugs. Die großen Augäpfel platzten, und die empfindlichen Sensoren darin wurden zerstört. Der Kopf heulte kläglich. Giles zog seine Daumen wieder zurück und schleuderte den kreischenden Kopf über die Reling in den dunklen Fluß, wo seine Kameraden ihn wiederfinden und bergen würden oder auch nicht. Giles sah zu den anderen, doch weder Menschen noch Spielzeuge hatten etwas zu sagen. Dann lehnte er sich gegen die Reling.

»Nicht so aufschlußreich, wie ich eigentlich gehofft hatte«, sagte er leise. »Habe ich vielleicht irgend etwas übersehen?«

»Vielleicht eine Sache«, meinte Tobias. »Warum nennen sie Eurer Meinung nach Harker den Roten Mann?«

»Sie sagen, er sei verrückt«, erwiderte Giles. »Gefährlich verrückt. Vielleicht ist Rot ein Hinweis auf Blut?«

»Und wir werden ihn treffen«, sagte der Seebock. »Wir haben immer so ein Glück.«

»Halt die Klappe, Bock«, sagte Reineke Bär, doch es klang nicht unfreundlich.

Sie setzten die Fahrt flußabwärts fort und passierten verlassene Schlachtfelder und tote Spielzeuge. Der Krieg war hiergewesen und weitergezogen. Das ununterbrochene Grollen entfernter Explosionen kam nach und nach immer näher. Die Missis Merry Truspott fuhr an Spielzeughäusern vorüber: Schlösser und Burgen, Blockhäuser und rosenumrankte kleine Landhäuser.

Alle waren niedergebrannt und lagen in Trümmern. Linker Hand lag ein Gutshof, komplett mit Scheunen und Gattern für künstliche Tiere. Die Tiere waren längst verschwunden, und die Gebäude waren in Brand gesteckt worden. Nur die Knochen menschlicher Skelette waren in der schwarzen Asche noch zu erkennen. Man hatte sie auf dem brennenden Hof an Pfähle gebunden und ihrem Schicksal überlassen.

Je näher die Missis Merry Truspott dem Dunklen Wald kam, desto unübersehbarer wurden die Zeichen des Krieges. Überall lagen die zerfetzten Körper toter Spielzeuge. Ihre leeren Augenhöhlen starrten in einen blauen Himmel hinauf, und niemand vermochte zu sagen, ob es gute oder böse Spielzeuge gewesen waren; es kümmerte auch niemanden. Das Schiff fuhr weiter, und der Tag wich dem Abend und schließlich der Nacht.

Sie entdeckten ein offenes Feld, das vom Krieg anscheinend verschont geblieben war, und steuerten ans Ufer. Die Menschen hatten ein dringendes Bedürfnis nach frischer Luft und sehnten sich nach einer Gelegenheit, die Glieder zu strecken.

Die Spielzeuge verstanden es nicht, aber sie erhoben auch keine Einwände dagegen. Obwohl niemand etwas gesagt hatte, war nicht zu übersehen, das die Nähe des Waldes ihnen Angst einjagte, und die Spielzeuge waren genauso froh über eine Pause wie die Menschen.

Die Nacht war klar und kalt; also errichteten sie aus herum-liegenden Ästen ein Feuer und ließen sich im Kreis darum nieder. Es war eine ausgesprochen friedliche Szene wenn man vom nicht enden wollenden Donnergrollen des entfernten Krieges absah. Der schläfrige Mond mit seiner Zipfelmütze leuchtete am Himmel, und auch die fünfzackigen Sterne waren wieder zurückgekehrt.

Sie mußten Julian vom Schiff tragen. Der Energieschub, den Giles ihm gegeben hatte, war längst aufgebraucht, und die Verletzungen machten dem jungen Esper mit zunehmender Kälte immer mehr zu schaffen. Trotzdem erweckte er einen zuver-sichtlichen Eindruck. Er saß so dicht am Feuer, wie er nur konnte, und röstete an einem Stöckchen Marshmallows. Links und rechts von Julian saßen Reineke Bär und der Seebock, und sie bemühten sich nach Kräften, den jungen Esper durch ihre Gegenwart aufzumuntern. Der Bock verbrannte wiederholt seine Marshmallows, weil er zu sehr mit Reden beschäftigt war, um auf das Feuer zu achten. Der Bär verzehrte sie trotzdem, um des lieben Friedens willen. Finlay saß den dreien gegenüber und hatte Evangeline an seiner Seite, wie immer. Tobias und Flynn hatten jeder drei Stöcke und stopften sich Marshmallows in den Mund, so schnell sie nur gar wurden.

Gleichzeitig hielt Tobias Halloweenie auf Trab, der hin und her rannte und immer neue Marshmallows anschleppte. Der kleine Skelettjunge war nicht mehr ganz so flink wie früher, mit all den vielen Splinten und Klammern, die seine Knochen zusam-menhielten, doch er war nach wie vor glücklich, wenn er sich nützlich machen konnte. Giles hatte sich ein wenig abseits von den anderen niedergelassen. Er rauchte eine stinkende Zigarre und schwieg ansonsten. Die Marshmallows interessierten ihn offenbar nicht.

Auch Poogie der freundliche Bursche saß für sich allein, als wäre er unsicher, ob er willkommen war oder nicht. Der Kapitän und das Adaptorspielzeug Alles waren an Bord der Missis Merry Truspott geblieben , »um die Dinge im Auge zu behalten« , wie sie es nannten. Und so saßen alle bis auf die beiden um das Feuer herum, rösteten Marshmallows oder rauchten Zigarre und redeten bis tief in die Nacht. Irgendwann kam das Thema Kindheit zur Sprache.

Reineke Bär fing damit an. Finlay hatte von einigen der fremdartigeren Welten erzählt , die er auf seinen Reisen gesehen hatte , und der Bär wollte wissen , was der Feldglöck von Shannons Welt hielt , dem Planeten für die erwachsenen Kinder. Finlay runzelte die Stirn.

»Schwer zu sagen , wie diese Welt vor dem Krieg war« , meinte er schließlich , »aber ich kann mir vorstellen, welche Faszination von ihr ausgegangen sein muß. Ein Ort, der frei war von den Sorgen und Nöten der Erwachsenen, eine Chance, wieder einmal Kind zu sein, oder besser; eine Chance, die Kindheit zurechtzurücken, so wie sie eigentlich hätte sein sollen. Nur wenige Menschen erleben eine wirklich glückliche Kindheit, und die meisten verdrängen die schlimmen Dinge.

Ich war kein gutes Kind. Ich hatte kein Talent dazu. Ich wollte nur, daß meine Kindheit so schnell wie möglich vorbei war, damit ich mich in der viel interessanteren Welt der Erwachsenen bewegen konnte.

Im Clan der Feldglöcks werden die Kinder schon früh dazu ausgebildet, nützliche Mitglieder ihrer Familien zu sein, wie in allen anderen Clans auch. Und sie werden zu Kämpfern herangezogen, weil die Familien zahlreiche Feinde besitzen. Allein durch meine Geburt war ich bereits zu einem Teil der Fehden und Blutrachen geworden, die viele Jahrhundert zurückreichen.

Ich paßte mich sehr früh daran an – zu früh für meine konser-vativen Eltern, die befürchteten, es könnte einen Skandal auslösen, wenn ihr Erbe und erstgeborener Sohn jeden wichtigen Aristokraten in nicht erlaubten Duellen umbrachte . Ich habe nie viel von meinen Eltern gesehen. Vater war ständig irgendwo unterwegs, war mit dem Führen des Clans beschäftigt oder kümmerte sich um die Familiengeschäfte. Und meine liebe Mutter zog es vor, sich in den gesellschaftlichen Trubel zu stürzen, anstatt sich mit Kindererziehung abzugeben. Typische Clanseltern. Ich hatte eine endlose Reihe von Kindermädchen und Tutoren, und alle waren fest entschlossen, mich zu einem vernünftigen Menschen zu erziehen und aus Schwierigkeiten herauszuhalten. Ich hatte nie viele Freunde. Ich meine echte Freunde. Bekanntschaften außerhalb der Familie waren unerwünscht, und innerhalb der Familie waren immer alle viel zu sehr damit beschäftigt, um Positionen und Einfluß zu scha-chern. Aber ich hatte Spielsachen. Soviel Spielsachen, wie ich nur wollte .

Ich erinnere mich an die Geschichten von Reineke Bär und dem Seebock und ihre Abenteuer in den Goldenen Ländern.

Ich habe immer davon geträumt, mit den beiden zu reisen und die Gegenden hinter dem Sonnenuntergang zu erforschen. Und jetzt bin ich hier, und wir reisen tatsächlich zusammen. Ist das nicht unheimlich?« Er grinste die Spielzeuge über das Feuer hinweg an. »Ihr seid ganz genau so, wie ich euch in Erinnerung habe. Es ist, als würde man alte Freunde treffen, die man viele Jahre lang nicht gesehen hat. Vielleicht die einzigen wirklichen Freunde, die ich als Kind hatte. Kein Wunder, daß so viele Leute unbedingt hierher wollten. Sie sehnten sich nach der Kindheit, die sie nie hatten. Oder wenn, dann nur in ihren Träumen.«

»Ich beneide dich um diese Träume«, sagte Evangeline. »Ich hatte überhaupt keine Kindheit. Ich kam erwachsen zur Welt, denn ich bin ein Klon. Ich wurde aus den Zellkernen der ursprünglichen Evangeline erzeugt. Vater brauchte mich, um die Tochter zu ersetzen, die er umgebracht hatte. Also wurde ich heimlich erzeugt. Man unterrichtete mich über eine Kindheit, die ich nie hatte, und sandte mich in die Welt hinaus, um als Erwachsener in ihr zu bestehen. Damals war ich erst sechs Monate alt. Das meiste von dem, was ich hier sehe, ist mir… völlig fremd. Ich hatte nie Spielsachen. Ich hatte nie Kuschel-tiere. Vater wollte nicht, daß ich irgend etwas in meinem Leben hatte außer ihm. Ich durfte niemals spielen. Ich war niemals frei von Geheimnissen und Verantwortung. Ich sehe hier Spielzeuge vor mir, und ich weiß nicht, was ich mit ihnen anfangen oder wie ich mit ihnen reden soll. Irgend etwas in mir will sie festhalten, will von ihnen gehalten werden, will einfach nur in der Sonne herumspringen und lachen, als wäre das schon immer mein sehnlichster Wunsch gewesen. Als hätte ich es nur nie gewußt…« Sie unterbrach sich abrupt, als ungeweinte Tränen ihre Stimme erstickten. Finlay legte den Arm um ihre Schultern.

»Wir sind für dich da«, sagte Reineke Bär. »Wir werden immer für dich da sein.«

»Zur Hölle!« fuhr Tobias auf. »Hat denn niemand hier eine normale Kindheit hinter sich? Wir kommen doch unmöglich alle aus kaputten Familien?«

»Ich hatte eine wunderbare Kindheit«, sagte Julian völlig überraschend. Er unterbrach sich und warf einen mißtrauischen Blick zu Flynn. »Diese Kamera ist abgeschaltet, oder?«

»Vertraut mir«, antwortete Flynn. »Wenn einer das Bedürfnis nach gelegentlicher Privatsphäre versteht, dann bin ich das. Ihr könnt reden.«

Julian schniefte zweifelnd, dann fuhr er fort. Hin und wieder zuckte sein Blick zu der Kamera, um sicherzustellen, daß ihr rotes Auge immer noch schlief. Seine Stimme wurde klarer und verträumter, als er sich den Erinnerungen an glücklichere Zeiten hingab.

»Mein älterer Bruder Auric und ich standen uns immer sehr nah, was in den meisten Familien ungewöhnlich ist. Normalerweise betrachten sich Brüder nur als Konkurrenten um das Erbe und die Kontrolle des Clans. Es kann nur einen Erben geben, und alle anderen gehen leer aus. Aber Auric und ich verstanden uns wunderbar, von Anfang an. Er hat mich großgezogen, mehr als jedes Kindermädchen und jeder Tutor. Genaugenommen hieß es sogar die meiste Zeit: Wir gegen den Rest der Welt. Wir hatten eine wunderbare Kindheit. Wir unternahmen alles gemeinsam. Wir teilten unsere Spielsachen.

Ich glaube, wir hatten nie einen Streit, der länger als ein paar Minuten dauerte.

Wir wurden älter und wuchsen heran, und unsere Eltern versuchten, uns zu trennen. Auric wurde darauf vorbereitet, die Familie nach dem Tod unseres Vaters zu führen. Ich sollte zum Militär, abgeschoben und vergessen, bis das Undenkbare geschähe und Auric stürbe. Dann hätte man mich zurückgerufen, um den Platz meines Bruders einzunehmen.

Doch wir weigerten uns. Wir wollten uns nicht trennen lassen. Wir waren noch immer die besten Freunde, Brüder nicht nur nach dem Blut, sondern aus freiem Willen und aus Liebe.

Selbst dann noch, als ich herausfand, daß ich ein Esper bin.

Es war ein tiefer Schock. Die Familien hüten ihre genetische Linie wie einen Schatz; aber irgendwann im Laufe der Zeit muß irgend jemand einen Fehltritt begangen haben, und die Espergene wurden in unsere Blutlinie eingeschmuggelt. Und in mir kamen sie zum Vorschein. Ich wußte, daß ich nicht mit meinen Eltern darüber reden durfte. Sie hätten mich eher in einem sorgfältig arrangierten Unfall umgebracht, als die Schande auf sich zu nehmen, ein Esperkind in die Welt gesetzt zu haben. Esper sind Untermenschen. Besitz. Immer. Ohne Ausnahme. Aber ich wußte, daß ich mit Auric darüber reden konnte. Er deckte mich. Er hielt mich am Leben, wenn ich mich so elend fühlte, daß ich mich am liebsten selbst getötet hätte. Er hat nie etwas anderes in mir gesehen als den Bruder.

Als deutlich wurde, daß ich eine Ausbildung benötigte, um zu lernen, wie ich mein ESP einsetzen und verbergen konnte, da suchte er die richtigen Kontakte und zog die Fäden, die mich schließlich zur Untergrundbewegung der Esper und Klone brachten.

Wir hatten nur ein einziges Mal ernsthaften Streit. Das war, als er sich in SB Chojiro verliebte. Ich wußte von Anfang an, daß mit dieser Frau etwas nicht in Ordnung war, aber ich konnte es nicht in Worte fassen. Ich glaubte, es sei nur Eifersucht, weil Auric so nahe bei ihr war; also verdrängte ich es und versuchte statt dessen, mich darüber zu freuen, daß sie ihn so glücklich machte.

Aber wir waren nur ein kleines, unbedeutendes Haus, und sie gehörte zum Clan Chojiro. Auric ging in die Arena, um ihre Familie zu beeindrucken und seine Liebe zu SB Chojiro zu beweisen. Er stellte sich dem Maskierten Gladiator, und dieser verdammte Bastard brachte ihn um. Er hätte ihn nicht töten müssen. Es hätte gereicht, Auric eine ehrenhafte Verwundung beizubringen und ihn davonkommen zu lassen. Statt dessen stieß er sein Schwert durch Aurics Auge, nur um sein Geschick zu demonstrieren. Und das war das Ende meiner Kindheit.«

Evangeline drückte Finlays Hand. Julian wußte nicht und durfte niemals erfahren, daß sein Freund und Vorbild Finlay Feldglöck der Maskierte Gladiator gewesen war.

»Was haltet Ihr von den Spielzeugen hier?« fragte Evangeline, nur um das Thema zu wechseln.

»Ich kann verstehen, daß dieser Ort anziehend auf Menschen wirkt«, antwortete Julian. »Aber es ist nichts für mich. Ich habe meine Kindheit hinter mir gelassen, als Auric starb. Ich habe meinen Eltern den Rücken zugekehrt und mein Leben der Rebellion gewidmet. Ich habe keine Zeit mehr für Ablenkungen.

Ich gab einen guten Rebellen ab. Keine Mission war zu gefährlich oder zu unmöglich für mich. Und am Ende verliebte ich mich ebenfalls in SB Chojiro, und mein Leben endete zum zweiten Mal.

Ich war so glücklich als Kind. Als hätte ich tief in meinem Innern gewußt, daß es die einzige glückliche Zeit sein würde, die ich jemals erleben werde.«

»Das ist sehr traurig«, bemerkte Giles unerwartet. »Und un-nötig obendrein. Nichts ist jemals wirklich verloren. Die Erinnerungen an gute Freunde und Zeiten sind stets bei uns, nie weiter als einen Gedanken entfernt. Auf gewisse Weise haben sie niemals aufgehört zu existieren. Jeder Augenblick, den Ihr jemals geschätzt habt, jeder Freund, den Ihr je geliebt habt, alles ist noch immer da und nur durch die Zeit von uns getrennt. Die Vergangenheit geschieht noch immer, und sie wird niemals enden. Nur wir sind es, die weitergezogen sind. Ich werde Euch nichts von meiner Kindheit erzählen. Ihr könntet es nicht verstehen . Vor neunhundert Jahren war vieles anders als heute . Aber ich hatte als Junge zwei wunderbare Hunde, Jagdhunde. Perfekt auf der Spur. Ich war niemals glücklicher als damals, wenn ich mit ihnen durch die Wälder jagte und eine Spur verfolgte.

Sie starben beide, als ich zehn war. Geschwülste. Wir konnten nichts tun. Also schläferte ich sie ein, statt sie leiden zu lassen. Ich vermisse sie noch heute. Aber ich weiß, daß ich nur die Augen schließen muß, um sie wieder bei mir zu haben, und ich weiß, daß in der Vergangenheit noch immer ein Junge und seine beiden Hunde in wilder Jagd durch die Wälder toben und glücklich sind. Ich brauche keine Welt wie diese, keine falsche Nostalgie und kein Versteck vor der Realität. Das hier war eine Welt für die Schwachen.

Und heute ist es ein Schlachtfeld für Shubs Kreaturen. Das hier sind keine Spielsachen und keine liebgewonnenen Kameraden aus der Kindheit; das hier sind Furien in der Ausbildung.

Diese ganze Welt sollte verbrannt und vergessen werden, ein elendes Experiment, das gründlich schiefgelaufen ist.«

Lange Zeit sagte niemand etwas. Dann meinte Tobias: »Nun, danke für Ihre Meinung, Lord Todtsteltzer. Ich weiß, daß wir alle Trost aus Euren Worten ziehen werden, in den Tagen, die vor uns liegen. Schätzungsweise bin ich jetzt an der Reihe. Und ich persönlich denke, Ihr alle seid eine Bande von sentimenta-len Weichlingen. Ich vermisse absolut gar nichts aus meiner Kindheit.«

»Also schön«, sagte Evangeline. »Dann erzählt uns doch von Eurer ohne Zweifel fürchterlichen Kindheit. Welche schrecklichen Verwicklungen haben Euch zu der widerlichen Person werden lassen, die Ihr heute seid?«

»Oh, ich wurde schon als Flegel geboren«, antwortete Tobias unbekümmert. »Ich wurde im Lauf der Jahre nur vollkommener, das ist alles. Mein Vater starb, als ich noch ganz jung war.

Mama rannte davon, weil sie sich nicht vor Onkel Gregor beu-gen wollte. Er versuchte schon damals, die totale Kontrolle über unseren Clan auszuüben. Ich machte einer langen Reihe von Kindermädchen, Lehrern und bewaffneten Leibwächtern das Leben zur Hölle und zettelte in jeder Schule Aufstände an, in die man mich schickte. Ich hatte niemals Freunde , und ich vermisse sie auch nicht. Reineke Bär und seine Abenteuer waren mir erst recht egal. Seifenopern, wenn Ihr mich fragt. Ich war mehr an der wirklichen Welt interessiert und wie ich meinen größtmöglichen Vorteil aus der Gesellschaft ziehen konnte.

Was natürlicherweise zu einem Interesse an Politik führte.

Ich hatte schon immer einen Hang zu schmutzigen Tricks und Intrigen, und das kam mir im Laufe meiner Karriere als PR-Mann meines Onkels und jetzt als Journalist sehr gelegen. Ich bin widerlich, dringe in die Privatsphären anderer Menschen ein und spiele jedesmal mit den Gedanken von Milliarden von Menschen, wenn ich auf Sendung gehe. Das Leben ist wunderbar. Oder wenigstens war es das, bis ich von einem Kriegsgebiet ins nächste geschickt wurde. Als ich sagte, ich wolle über aufregende Ereignisse berichten, meine ich nicht damit, daß ich zu einem Teil davon werden wollte.«

»Vermißt Ihr Eure wirklichen Eltern niemals?« erkundigte sich Evangeline. »Ich meine die, die Ihr nie kennengelernt habt.«

»Nein«, antwortete Tobias tonlos. »Ich brauchte sie damals nicht, und das hat sich bis heute nicht geändert. Ich lebe mein eigenes Leben. Ich habe niemals irgend jemanden gebraucht.

Mit Ausnahme von Flynn natürlich. Irgend jemand muß schließlich die Kamera in die richtige Richtung halten. Erzähl uns doch von deiner Kindheit, Flynn. Das ist bestimmt eine hörenswerte Geschichte.«

»Tut mir leid, wenn ich dich enttäuschen muß«, sagte Flynn.

»Aber ich hatte eine vollkommen normale und glückliche Kindheit. Keine großen Traumata, keine schweren Verluste.

Und mir gefällt, was sie hier zu verwirklichen versucht haben.

Ein Ort, an dem jeder glücklich sein konnte. Es war sicher eine wundervolle Welt. Bevor Shub kam, meine ich.«

»Was haltet ihr Spielsachen eigentlich von alledem?« fragte Finlay. »Ich vermute, keiner von euch hatte eine Kindheit, es sei denn, ihr erinnert euch an euer Leben vor Shub. Erinnert ihr euch an die Zeit davor?«

Die Spielsachen sahen sich an, und am Ende war es Halloweenie, der redete. Er saß Julian zu Füßen und hatte sich zu einer knochigen Kugel zusammengerollt. Seine leeren Augenhöhlen starrten in die flackernden Flammen des Feuers. »Wir alle erinnern uns an die Zeit, als wir noch Spielsachen waren und sonst nichts . Wir wurden so programmiert, daß wir nichts vergessen konnten, und so sind die Erinnerungen noch heute da. Aber unsere Erinnerungen haben erst von dem Zeitpunkt an eine Bedeutung, an dem Shub kam und uns mit einem vergifte-ten Geschenk aus unserem Schlaf riß. Die Furien gaben uns Intelligenz und ein Bewußtsein, eingehüllt in ihre eigene Programmierung. Sie schenkten uns einen freien Willen und versuchten dann, uns vorzuschreiben, was wir damit zu tun hätten.

Keiner von uns kannte eine Kindheit. Wir erwachten und waren bei vollem Bewußtsein. Ich bin ein Junge; aber ich weiß nicht, was das wirklich heißt. Wir verstehen kaum, was es heißt zu leben. Lebendig zu sein. Wir haben nichts, auf dem wir unser Leben aufbauen könnten, bis auf die Charaktere, als die wir ursprünglichen geschaffen worden sind. Wir werden niemals wissen, ob wir zu der Person geworden sind, die wir sind, weil wir es so gewollt haben, oder weil wir noch immer unserer alten Programmierung folgen. Das Leben ist für uns zum größten Teil noch ein Geheimnis. Alles ist so neu, so… furchteinflößend. Wir müssen alles für uns ganz allein entscheiden. Und Emotionen… sie sind so schwierig. Nehmt zum Beispiel Liebe. Wir glauben zu wissen, was es bedeutet, aber wir haben keine Vergleichsmöglichkeiten. Haß ist da schon leichter zu verstehen. Und Furcht. Vielleicht sind deswegen so viele Spielsachen böse geworden anstatt gut. Böse zu sein fällt leichter.«

»Aber einige von uns mögen nicht, was aus uns geworden ist«, sagte Poogie der freundliche Bursche. »Bevor Shub kam, waren wir keine denkenden Wesen. Wir wußten nicht, was Sünde ist. Shub hat unsere Unschuld ausgenutzt. Wir wurden in Blut und Leid und Mord hineingeboren, und einige von uns werden damit niemals fertig. Rachedurst erfüllte uns bis zum Überdruß, und die Menschen waren so leichte Beute. Wir wurden als Verdammte geboren. Aber einige von uns haben gelernt, nach Erlösung zu suchen.«

Der Seebock rülpste laut und pickte Marshmallowstücke aus den Lücken zwischen seinen großen, quadratischen Zähnen.

»Und einige von uns haben gelernt, unerträglich großkotzig zu sein. Wir sind das, was wir schon immer waren, nur mehr davon. Mir gefällt mein Leben als Seebock. Würde ich nicht existieren, müßtet Ihr mich erfinden, damit Ihr die Nase über mich rümpfen könntet. Ich bin ein Ärgernis, also bin ich. Und wenn das jemandem nicht gefällt, scheiß drauf. Richtig, Bär?«

»Nicht einmal annähernd«, widersprach Reineke Bär. »Ihr müßt meinen Freund hier entschuldigen. Wir beide waren Stars, als wir noch Spielzeuge waren. Alle haben uns geliebt, und ich glaube nicht, daß er jemals darüber hinwegkommen wird. Ich persönlich finde Menschen faszinierend. Ihr habt so ein riesiges Potential. Und wir haben so viel nachzuholen. Ihr seid unsere Schöpfer, nicht Shub. Wenn es uns nur gelingen könnte, das den anderen Spielsachen klarzumachen, dann wäre der Krieg morgen zu Ende.

Ich fände es schrecklich, wenn uns unser geschenktes Leben nichts weiter lehrt, als zu morden und zu zerstören. Aber jetzt möchte ich vorschlagen, daß wir uns ausruhen, solange noch Zeit dazu ist. Wenn nichts schiefgeht, erreichen wir morgen abend den Großen Wald. Und dann werden wir Vincent Harker suchen , den Roten Mann. Wer weiß, was dann geschehen wird.« Sie alle saßen schweigend am Feuer, Mensch und Spielzeug, und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Es war eine Nacht der Geständnisse; aber nicht jeder hatte alles gesagt. Alle hatten ihre Geheimnisse, die einen große, die anderen kleine.

Evangeline lehnte den Kopf gegen Finlays Schulter und kämpfte gegen den Drang an, ihm zu gestehen, warum sie in Wirklichkeit mit ihm hier war. Es war noch nicht lange her, daß sie zu den Anführern der Untergrundbewegung gegangen war und sie gebeten hatte, zur Botschafterin bei den neuen Rebellen ernannt zu werden, obwohl das bedeutet hätte, Finlay zu verlassen . Sie hatte ein überwältigendes Bedürfnis verspürt, von allem wegzukommen, wieder ihr eigener Herr zu sein und nicht mehr den Erwartungen und dem Druck dessen ausgelie-fert zu sein, was alle möglichen anderen Menschen von ihr erwarteten. Einschließlich Finlay. Aber wie so vieles in ihrem kurzen Leben war auch das schiefgegangen.

Penny DeCarlo war ihre erste Freundin gewesen. Der Shreck hatte sie eingestellt, um die neue Evangeline auf öffentliche Auftritte vorzubereiten, und Penny hatte sie gelehrt, daß sie ein menschliches Wesen war, selbst als Klon. Sie hatte Evangeline Stolz und Selbstachtung gelehrt und sie sogar in die Untergrundbewegung der Esper und Klone eingeführt. Penny DeCarlo war insgeheim selbst ein Esper gewesen. Man hatte sie gefangen und nach Silo Neun verschleppt – in die Hölle des Wurmwächters.

Als der Untergrund Silo Neun gestürmt hatte, hatte Evangeline nichts unversucht gelassen, um Penny zu retten; doch in dem Chaos und Durcheinander, das auf Drams Verrat gefolgt war, hatte sie Penny nicht gefunden.

Und dann hatte Gregor Shreck sie gefunden. Der Shreck be-saß Geld und Einfluß, und er bemühte sich verzweifelt, seine geklonte Tochter wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Also hatte er Penny in seine Obhut genommen und auf eine Gelegenheit gewartet, Evangeline davon wissen zu lassen. Seine Bedingungen waren einfach gewesen – entweder, Evangeline kehrte zu ihm zurück, oder Penny würde leiden und sterben.

Evangeline hatte dicht vor der Verzweiflung gestanden. Sie konnte unmöglich zu ihrem Vater mit seiner perversen Vorstellung von Liebe zurückkehren. Lieber wollte sie sterben. Andererseits konnte sie auch die Frau nicht einfach aufgeben, die ihr beigebracht hatte, was Menschsein bedeutete.

Evangeline durfte sich nicht an den Rat der Untergrundbewegung wenden. Man hätte sie als erpreßbar und kompromittiert eingestuft und als mögliches Sicherheitsrisiko. Und Finlay durfte erst recht nichts wissen. Er durfte niemals erfahren, daß der Shreck sich zur Angewohnheit gemacht hatte, bei seiner Tochter im Bett zu liegen. Finlay würde außer sich geraten vor Wut und alles aufs Spiel setzen, um ganz allein auf den Shreck und seine Sicherheitskräfte loszugehen. Ein Kampf, den nicht einmal der Maskierte Gladiator gewinnen konnte.

Also hatte Evangeline geschwiegen und mit keinem Menschen über all das gesprochen, und eine Zeitlang hatte sie geglaubt, den Verstand zu verlieren, weil sie nicht hatte entscheiden können, was zu tun war. Am Ende hatte sie beschlossen, nichts zu tun. Sie war vor ihrer Verantwortung davongerannt und hatte sich der Expedition zu Shannons Welt angeschlossen.

Auf diese Weise war sie allem aus dem Weg gegangen und konnte in Ruhe nachdenken. Gregor würde nicht wagen, Penny zu quälen, während Evangeline fort war. Und bis diese Sache hier vorüber war, hatte Evangeline vielleicht eine Lösung gefunden. Hoffentlich. Und wenn nicht, mußte sie es Finlay sagen und darauf hoffen, daß er durch irgendein Wunder imstande wäre, sie ein weiteres Mal aus der Hölle zu befreien. Sie sah ihn an, wie er still neben ihr saß, stark und sicher und beruhigend, und mit einemmal durchströmte sie ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit. Sie flüsterte seinen Namen, und als er den Kopf drehte und ihren Blick erwiderte, küßte sie ihn.

Die Puppen sahen fasziniert zu. Poogie und Halloweenie standen sogar auf, um nichts zu verpassen.

»Was machen die beiden da nur?« fragte Poogie mit leiser Stimme.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Halloweenie. »Meinst du, daß es weh tut?«

»Keine Ahnung; aber sieh mal, was für lustige Gesichter sie machen.«

»Ich glaube, es ist Zeit für euch, ins Bett zu gehen«, sagte Tobias.

Die Menschen grinsten alle, als Finlay und Evangeline sich endlich voneinander lösten. Eine Weile saßen sie noch in freundlichem Schweigen da und beobachteten, wie die Flammen des Lagerfeuers allmählich erstarben, während jeder die Energie zusammenraffte, endlich aufzustehen und ins Bett zu gehen. Und dann überraschte Giles die anderen, indem er erneut das Wort ergriff.

»Das Imperium war ein wundervoller Ort zum Leben, als ich noch ein Kind war. Man spürte, daß man ungestört aufwachsen und alles tun und erreichen konnte, was man wollte. Die Möglichkeiten schienen unbegrenzt. Man konnte seine Spur auf tausendfache Weise hinterlassen und auf Tausenden von Welten zu Berühmtheit gelangen. Ich wurde der erste Oberste Krieger des alten Imperiums, und ich wurde gefeiert und verehrt. Es war eine Zeit der Wunder und der Magie… und ich war mitverantwortlich, daß alles endete. Ich war es, der den Dunkelzonen-Projektor aktivierte. Heute blicke ich auf das, was aus dem Imperium geworden ist, und ich erkenne es kaum wieder. Ich erkenne mich selbst kaum wieder. Ich bin nicht mehr der Mann, der ich damals werden wollte

»Ich denke, das trifft mehr oder weniger auf jeden von uns zu«, sagte Finlay. »Ich betrachte mein Leben und frage mich ununterbrochen, wie zur Hölle ich von dort nach hier gekommen bin. Wir alle haben Träume, solange wir Kinder sind, und die meisten werden aus uns herausgeprügelt, während wir aufwachsen und älter werden.«

»Und das ist vielleicht die traurigste von allen Veränderungen«, sagte Giles . »Heutzutage sind nicht einmal mehr Träume erlaubt. Das ist ein fremdes Imperium , in das ich zurückgekehrt bin. Klone, Esper , Hadenmänner, Wampyre. Spielsachen , die denken und lieben. Man weiß kaum noch , was wirklich menschlich ist und was nicht. Und wie leicht ist es, unter soviel fremden Lebensformen für immer den Rest unserer Menschlichkeit zu verlieren.«

»Wir haben noch längst nicht alles verloren«, widersprach Julian. »Höchstens unsere Beschränkungen. Ihr besitzt selbst fremdartige Fähigkeiten, Lord Todtsteltzer. Macht Euch das vielleicht weniger menschlich?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Giles. »Ich weiß es wirklich nicht.«

Früh am nächsten Morgen fuhren sie weiter. Die Geräusche des Krieges waren noch lauter geworden – und bedrohlicher . Das grinsende Gesicht der Sonne schien sie offen zu verspotten.

Menschen und Spielzeuge gleichermaßen hielten mißtrauisch die Augen offen. Die Bäume an den Ufern standen jetzt dichter; der Wald wurde dunkler. Alles mögliche konnte sich darin verbergen. Jeder hatte das Gefühl, unablässig von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden. Abgesehen vom Donnergrollen der Kämpfe war das beständige leise Tuckern der Missis Merry Truspott das einzige Geräusch weit und breit. Das Schiff hatte noch immer kein Wort gesprochen; doch im Laufe der Nacht waren rechts und links vom Bug zwei riesige, wachsame Augen erschienen.

Julian blieb in seiner Kabine. Seine Schmerzen hatten sich während der Nacht verschlimmert, und der Autodoc mit seinen begrenzten Fähigkeiten konnte ihm nicht mehr helfen. Tobias setzte die Sicherheitsschalrungen der flachen Scheibe außer Kraft, um größere Dosen an schmerzstillenden Mitteln zu er-möglichen, doch es half nicht viel. Julian endete zusammengerollt auf dem Boden in einer Ecke seiner Kabine, weil das Schwanken der Hängematte ihm Schmerzen bereitete. Manchmal, wenn der Schmerz unerträglich wurde und Julian die Tränen in die Augen stiegen, rief er nach Finlay, und der Feldglöck kam und setzte sich eine Weile zu dem jungen Esper.

Hinterher verließ er die Kabine immer mit Tränen der Wut und Verzweiflung in den Augen und mit Fäusten, an denen die Knöchel weiß hervortraten.

Er verspürte eine rasende Wut, weil er unfähig war, Julian zu helfen. Er hatte den jungen Esper vor den Folterern des Imperiums gerettet; doch vor dem Schmerz konnte er ihn nicht bewahren. Er hatte versucht, den Todtsteltzer zum Kampf heraus-zufordern wegen dem, was er Julian angetan hatte; aber der alte Mann ließ sich nicht provozieren. Er konnte auch die Energieübertragung nicht mehr wiederholen; die Anstrengung würde den geschwächten Julian wahrscheinlich augenblicklich töten.

Der Todtsteltzer hatte alles getan, was er konnte, und damit war es das, soweit es ihn betraf.

Evangeline ging ein paar Minuten zu Julian, doch er wollte sie nicht sehen. Poogie war der nächste, und er wiegte den kranken Menschen in seinen weichen Armen. Manchmal half es ein wenig.

Die Stimmung auf Deck wurde zunehmend angespannt. Alle verspürten Wut und Zorn, wenn auch aus den verschiedensten Gründen. Julian lenkte sie von ihrer Aufgabe ab, und das zu einer Zeit, da sie sich voll auf die Erfüllung der Mission konzentrieren mußten . Statt der Unterstützung, die er versprochen hatte, wurde der junge Esper immer mehr zu einer Belastung.

Niemand wollte es laut aussprechen.

Die Unterhaltungen wurden kürzer und scharfzüngig.

Reineke Bär bemühte sich, zuversichtlich und fröhlich zu sein, bis selbst der Seebock ihm sagte, daß er die Klappe halten sollte. Sie alle kamen zu denselben, unausgesprochenen Schlüssen: Der junge Mann, der sie bereits zweimal gerettet hatte, würde wahrscheinlich sterben, und nichts und niemand konnte etwas daran ändern. Sie konnten höchstens hoffen, daß er schnell genug starb um seinet- und ihretwillen. Und so lehnten sie an der Reling, starrten auf den Großen Fluß und seine dunklen Limonadenfluten hinaus und auf die vorüberziehenden Bäume und bemühten sich im übrigen, nicht auf die Geräusche zu hören, die aus der Kabine des Espers drangen.

Die Spielzeuge litten am meisten darunter. Schon wieder starb ein Mensch wegen ihnen. Selbst der Adaptor Alles wurde stiller und weniger streitlustig. Reineke Bär , der Seebock und der kleine Skelettjunge Halloweenie saßen abwechselnd vor Julians Tür und hielten Wache, damit immer jemand da war, falls er rief. Es schien, als wollten sie dem Tod den Zugang zu Julian verweigern.

Am späten Morgen passierten sie eine weitere Flußbiegung und sahen, wie der Wald auf einem Ufer plötzlich zurückwich und Platz für eine moderne Stadt machte oder wenigstens der Nachahmung einer Stadt. Türme und Bauwerke ragten hoch in den Himmel; doch bei näherem Hinsehen entpuppte sich alles als zweidimensionale hölzerne Kulisse. Bunt bemalt in hellen Farben und unglaublich detailliert, aber Kulissen. Aus der Ferne sah alles ziemlich echt aus. Bis man näher herankam. Und aus der Nähe betrachtet war auch zu erkennen, daß die falsche Stadt ein einziger großer Trümmerhaufen war. Gezackte Löcher zierten die meisten Wände, als wäre etwas Massives durch sie hindurchgedrungen. Überall gab es Risse und tiefe Löcher, und nicht wenige Spuren deuteten auf Feuer hin, die hier und da gewütet hatten.

Die falsche Stadt erstreckte sich über vielleicht fünfzig Blocks, die alle hell in der Sonne leuchteten. Nirgendwo war eine Spur von Leben zu sehen.

Die Missis Merry Truspott verlangsamte ihre Fahrt, und alles drängte sich an der Reling, um nichts zu versäumen.

»Was ist das?« fragte Finlay. »Wer wohnt hier?«

»Niemand«, antwortete Reineke Bär. »Es ist ein Spielfeld, weiter nichts.«

»Sieht aus, als wären die Spielregeln ziemlich rauh«, sagte der Todtsteltzer.

»Oh, das sind sie«, stimmte der Seebock zu. »Diese verdammten Bastarde hier sind Superhelden. Das hier ist ihr Spielplatz. Superhelden und Superschurken, die ihre ewigen Schlachten austragen. Die Umgebung leidet ziemlich stark darunter, deswegen hat man sie so konstruiert, daß alles leicht zu reparieren oder zu ersetzen ist, damit der nächste Kampf rechtzeitig stattfinden kann. Hier gab es früher immer eine große Schau für die Besucher; jede Stunde, pünktlich wie ein Uhr-werk, fanden Demonstrationen von Kraft und Schnelligkeit und Flugkunst statt. Seht, wie die Helden die Schurken in der ganzen Stadt schlagen; seht, wie die Gebäude einstürzen und die Wände fallen. Es war sehr beliebt, bis zu dem Tag, an dem die Superhelden intelligent wurden und ein Bewußtsein hatten.

Und als sie erkannten, daß sie ihr Leben lang zur Unterhaltung der Menschen durch brennende Reifen gesprungen waren. Die Superhelden waren die menschenähnlichsten von allen Spielzeugen auf dieser Welt, und wahrscheinlich traf es sie deswegen am härtesten. Noch Wochen später fischten wir flußab-wärts Leichenteile aus dem Wasser.«

»Moment mal«, sagte Finlay. »Hat denn keins der Superhel-denspielzeuge versucht, die Menschen gegen die Superschurken zu verteidigen? Ich meine, sie waren immerhin Helden, genau wie du und der Bär.«

»Sie waren die Supermenschen«, entgegnete der Seebock und bleckte die Zähne. »Und sie gaben einen verdammten Dreck auf gewöhnliche Menschen ohne Superkräfte. Nachdem das Gemetzel zu Ende war, kehrten sie zu dem einzigen zu-rück, das sie wirklich interessierte. Sie kämpfen noch immer ihre endlosen blutigen Kämpfe, um herauszufinden, wer stärker und schneller ist oder der bessere Flieger. Sie haben sich niemals am Krieg beteiligt. Ich glaube, sie halten ihn für unter ihrer Würde. Und ich sage Euch noch etwas. Solange die Spielzeugstadt Zufluchtsort und Refugium ist, kam noch nie einer der Superhelden zu uns und hat um Erlösung oder Vergebung für all das vergossene Blut gebeten. Verdammte Bastarde.«

»Ist es gefährlich in dieser Gegend?« erkundigte sich Evangeline.

»Zur Hölle, ja!« antwortete Reineke Bär. »Sie hassen die Vorstellung, ein Produkt der unterlegenen Menschheit zu sein.

Und es gibt nur eine Sache, für die sie ihre endlosen Auseinandersetzungen unterbrechen würden: die Gelegenheit, noch ein paar Menschen umzubringen.«

»Und warum verlangsamen wir dann unsere Fahrt?« fragte Tobias.

»Nun, meine Lieben«, sagte eine bekannte Stimme hinter ihnen, »ich fürchte, daß wir leider neuen Treibstoff brauchen. Ich meine, meine Süßen, Ihr würdet nicht glauben, wieviel Holz nötig ist, um die verdammten Kessel am Kochen zu halten.«

Sie wandten sich um, und dort stand der Kapitän. Er balancierte auf seinen beiden Holzbeinen und sah entschieden erschüttert aus. Der Papagei döste auf seiner Schulter und murmelte im Halbschlaf Obszönitäten vor sich hin. Der Kapitän versuchte sich an einem schmeichlerischen Lächeln.

»Wir brauchen mehr Holz, meine Lieben, und das hier ist unsere letzte Chance, die Vorräte zu ergänzen, bevor wir den Wald erreichen. Und glaubt mir, im Wald würden wir bestimmt nicht anhalten wollen, um Brennstoff zu bunkern. Jedenfalls nicht, wenn man seinen Kopf in der Nähe der Schultern mag.«

»Schon gut«, sagte Reineke Bär. »Bring uns zum Ufer, und wir sammeln soviel Holz, wie wir können. Niemand wird merken, wenn wir ein paar Kulissen mitnehmen. Aber halte dich bereit, auf der Stelle abzulegen. Das hier ist ein ungemütlicher Ort, Leute.«

Er stapfte mit dem Seebock davon, um Äxte zu organisieren.

Der Kapitän lächelte unsicher in die Runde und eilte wieder auf seine Brücke zurück. Die Menschen blickten sich schweigend an.

»Ich mochte die Superhelden schon immer«, sagte Finlay schließlich. »Als Kind war ich ihr größter Fan. Man konnte sich immer darauf verlassen, daß ein Superheld einem den Tag rettete.«

»Das war damals, und das hier ist heute«, sagte der Adaptor Alles. Er hatte sich in seine beste Kampffigur verwandelt. Aus seinen Knöcheln und Ellbogen ragten spitze Metallstacheln, und die Handkanten waren rasiermesserscharf. »Als sie intelligent wurden, erkannten die Superhelden und Superschurken, daß sie zwar aussahen wie Menschen, aber niemals Menschen werden konnten. Ich glaube, das hat viele von ihnen in den Wahnsinn getrieben. Geschieht ihnen ganz recht. Warum Trübsal blasen, weil man kein Mensch sein kann, wenn man doch so viel mehr ist, wie zum Beispiel die Furien? Das sind die richtigen Superhelden.«

»Warum bist du überhaupt bei uns, Automat?« fragte Giles scharf. »Du hast uns allen deutlich genug zu verstehen gegeben, daß dir die Menschen egal sind.«

»Ich will, daß die Bedrohung durch den Roten Mann und seine Armee ein Ende findet«, erwiderte Alles. »Und mir scheint, daß Ihr genau die richtigen Leute dafür seid. Wenn das hier alles vorbei ist und Ihr verschwunden seid, und wenn der Planet erst wieder uns gehört, dann… Glaubt mir, ich würde keine einzige Träne für irgendeinen von Euch vergießen. Dies hier ist jetzt unsere Welt, nicht mehr die Eure.«

Er drehte sich um und ging davon, und die Sonne glänzte auf seinem silbernen Körper.

»Ich hoffe, es fängt an zu regnen und er rostet«, sagte Tobias.

Die Missis Merry Truspott glitt so nah an der falschen Stadt ans Ufer, wie nur irgend möglich, und dann verstummten ihre Maschinen zu einem schwachen Murmeln, um keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der Adaptor fuhr eine Planke aus, und die Gruppe ging an Land. Sie hielten ihre Äxte eher wie Waffen denn wie Werkzeuge zum Holzfällen. Auf Drängen der Spielzeuge verharrten sie eine Weile schweigend und lauschten. In der Ferne war ein Geräusch zu hören, das nach Kämpfen klang; doch es war beruhigend weit weg. Finlay, Giles, Tobias und Flynn machten sich daran, zusammenge-fallene Kulissen und Gebäudeteile herbeizuschleppen, und die Spielzeuge bearbeiteten das Material mit ihren Werkzeugen, bis es handliche Größe besaß. Das Geräusch von Stahl auf Holz wirkte unnatürlich laut in der stillen Umgebung.

Für die Menschen war die Arbeit hart und schweißtreibend.

Der Seebock und der Bär schienen unermüdlich, und sie waren hin- und hergerissen von dem Zwang, sich zu beeilen, und der Furcht, den Menschen zuviel von ihren Fähigkeiten zu offenbaren. Den Adaptor schien das einen Dreck zu kümmern. Er stampfte zwischen Schiff und Holzplatz hin und her und trug die schwersten Lasten, die er finden konnte. Seine Servome-chanismen verrichteten klaglos ihre Arbeit. Poogies Zeichentrickhände hatten Schwierigkeiten, eine Axt zu packen, und so half er den Menschen beim Tragen sperriger und großer Teile.

Und Halloweenie beschäftigte sich damit, kalte Getränke vom Schiff zu den Menschen zu bringen. Giles und Finlay arbeiteten die meiste Zeit über schweigend, mit Ausnahme einiger gegrunzter Anordnungen. Diese Art von Arbeit lag ihnen ganz und gar nicht; doch beide hatten nicht genug Luft, um sich darüber auszulassen. Ganz im Gegensatz zu Tobias dem Troubadour.

Sie arbeiteten eine Stunde, stapelten Holz und verfrachteten es an Bord, und dann wurde mit einemmal das Gefühl übermächtig, daß irgend jemand sie heimlich beobachtete. Sie fingen an, plötzlich über die Schulter nach hinten zu sehen oder sich unvermutet umzudrehen, und sie arbeiteten womöglich noch schneller.

Das hier war eine üble Gegend, und inzwischen spürte es wirklich jeder. Der Seebock hielt mit einemmal inne und richtete sich auf. Er blickte reglos zur Stadt hinüber, und die großen spitzen Ohren waren hoch aufgerichtet und lauschten angestrengt. Reineke Bär trat neben ihn.

»Was ist?« fragte er leise.

»Die Schlacht«, erwiderte der Bock. »Sie zieht in unsere Richtung. Die Supermenschen kommen.«

»Genau, das ist es. Jeder packt, soviel er nur tragen kann.

Wir verschwinden von hier«, sagte Reineke Bär.

»Geht nicht«, widersprach Alles. »Wir haben noch nicht genug Holz.«

»Es reicht, wenn wir sparsam damit umgehen«, widersprach der Bär. »Und jetzt hör ein einziges Mal im Leben auf, mit mir zu diskutieren! Wir haben einfach nicht die Zeit dazu! Sie können jeden Augenblick hier sein.«

Sie rafften an Holz zusammen, was sie tragen konnten; dann bildeten sie eine Kette für die letzten Stücke. Missis Merry Truspott feuerte die Kessel hoch und ließ den überschüssigen Dampf so leise wie nur möglich ab, während sie darauf wartete, daß alle an Bord zurückkehrten. Inzwischen konnten jeder die Superspielzeuge hören. Rufe und Schreie und krachende und reißende Geräusche, vermischt mit dem Klang von Ener-gieentladungen . Die Menschen bemerkten die zunehmende Anspannung bei den Spielzeugen und bemühten sich nach Kräften, noch schneller zu arbeiten. Schließlich hob Reineke Bär die Pfote als Zeichen, daß die Arbeit beendet war.

»Das war’s«, sagte er. »Zeit zu verschwinden.«

»Wir brauchen aber noch mehr Holz!« protestierte Poogie der freundliche Bursche.

»Wir müssen sparsam sein.«

»Nur noch dieses eine letzte Stück.«

Und Poogie, begierig wie immer, allen zu helfen, raste die Gangway hinunter, um das letzte schwere Stück zu holen, das er herbeigeschleppt hatte. Alles wollte hinter ihm her und helfen; doch Reineke Bär hielt ihn am oberen Ende der Planke zurück. Und dann waren die Super-Spielzeuge da.

Sie kamen in ihren hellen, bunten Kostümen herangeflogen, und sie schossen durch die Lüfte wie Engel in Technicolor. Sie waren hell und grell und überlebensgroß mit ihren langen Gliedmaßen und mächtigen Muskeln. Sie flogen aufeinander zu und bekämpften sich mit krachenden Schlägen, die den Getroffenen torkelnd durch die dünnen Holzwände der falschen Stadt brechen ließen. Energieblitze schossen aus ihren Händen und Augen, und die knisternden Ströme prallten von unsichtbaren Schutzschilden ab. Sie flogen sehr hoch, weit über den All-tagssorgen gewöhnlicher Menschen , und nahmen überhaupt keine Notiz von den Rebellen und den Spielzeugen unten am Fluß. Sie waren viel zu sehr in ihre eigenen gottgleichen Angelegenheiten vertieft, und jeder andere war weniger als Staub unter ihren knallbunten Superheldenstiefeln.

»Sie wissen nicht einmal, daß wir hier sind«, sagte Tobias leise. »Es ist ihnen scheißegal. Flynn, sag mir, daß die Kamera läuft.«

»Die Kamera läuft, Boß«, antwortete Flynn. »Aber die Hälfte von ihnen bewegt sich so schnell, daß ich kein scharfes Bild kriege.«

»Ich erkenne sie wieder«, sagte Finlay. »Ich erkenne sie al-le.« Und er nannte seinen Begleitern die Namen der blitzenden Gestalten wie ein Vogelkundler, der einer Gruppe Interessierter besonders interessante Exemplare zeigt.

Dort war der Geheimnisvolle Rächer in einen Kampf mit der Blutroten Kralle verwickelt. Hitzschlag und Doppelteufel be-warfen sich gegenseitig mit Blitzen. Die Parze und die Vergel-terin flogen wilde Angriffe auf die Wilden Wirbelwindbrüder.

Dort waren die Doppelt Gefährlichen Zwillinge, und der To-desblitz und der Miracle Maniac. Rot und Blau und Gold und Silber, flatternde Capes und Kapuzen und Masken und alle möglichen Sorten von Emblemen und Abzeichen und sich beißenden Farben. Sie flogen und kämpften und kämpften und flogen, und unter ihnen ging die Stadt Stück für Stück zu Bruch.

Finlay fragte sich, ob sie jemals innehielten, um die Trümmer wieder aufzubauen, und falls nicht, wohin die Superspielzeuge ziehen würden, wenn es keine Stadt mehr gab, die sie zerstören konnten.

Er stellte sich vor, wie sie durch die Spielzeugstadt fegten und hilflose Spielzeuge unter herabfallenden Trümmern begraben wurden, und seine Hand ging zu dem Disruptor an der Hüfte. Reineke Bär legte eine Pfote auf Finlays Arm und schüttelte den Kopf. Finlay verstand . Sie durften nicht die Aufmerksamkeit auf sich lenken .

Poogie schleppte sein Holzstück zum Fuß der Gangway und hielt dann inne, um einen Blick zurück zu den Superspielzeu-gen zu werfen und um zu sehen, wie nahe sie inzwischen waren . Der freundliche Bursche erstarrte zu einer Salzsäule, wie festgenagelt an Ort und Stelle von einem Schauspiel der Wildheit, das so viel größer war als er selbst. Die anderen riefen und brüllten nach ihm; doch Poogie hörte sie nicht. Finlay wollte die Gangway hinunter, aber Alles rannte mit schier unglaublicher Geschwindigkeit an ihm vorbei. Er erreichte das Ufer, packte Poogie an der Schulter und schüttelte ihn grob. Das Licht kehrte in die Augen der Zeichentrickgestalt zurück, und er ließ das Holz fallen und setzte sich die Gangway hinauf in Bewegung.

Hoch oben am Himmel traf die Parze den Miracle Maniac mit einem Blitzstrahl aus ihren Augen. Er wurde gegen eine Kulisse geschleudert, die wie ein Turm aussah. Die Kulisse gab unter dem Aufprall nach, wurde instabil und geriet ins Kippen.

Das erste, was Poogie und Alles von der drohenden Gefahr bemerkten, war der Schatten, der mit einemmal über ihnen auftauchte. Sie hielten inne und blickten hoch und sahen das mächtige Gewicht, das auf sie herunterfiel. Poogie kreischte.

Es war keine Zeit mehr zu fliehen. Alles packte den freundlichen Burschen und schleuderte ihn mit einem einzigen gewaltigen Schwung auf das Schiffsdeck. Und dann krachte die mächtige hölzerne Kulisse auf das Adaptorspielzeug hinunter wie der Hammer Gottes höchstpersönlich.

Alle rannten über die Gangway zu der Unglücksstelle. Finlay gab ihnen mit gezogenem Disruptor Deckung, und Giles setzte die ganze Kraft seines Zorns ein, um die massive Kulisse an einem Ende hochzuheben. Tobias und Flynn krochen unter die schwere Platte und zogen Alles darunter hervor. Der Bär und der Bock halfen ihnen, den Adapter zurück an Bord der Missis Merry Truspott zu tragen, während Finlay ihnen mit nach wie vor gezogener Waffe rückwärts folgte. Keines der sich duellierenden Superspielzeuge hoch oben am Himmel machte sich auch nur die Mühe, einen Blick auf das Geschehen tief unten zu werfen.

Sie legten Alles aufs Deck und standen hilflos herum. Niemand wußte, was zu tun war. Der Körper des Adapters hatte eine einfache humanoide Form angenommen, und das Metall war an Dutzenden von Stellen gerissen. Eine Seite des Schädels lag frei, und Lichter wanderten durch Glasfasern in seinem freiliegenden Hirn wie treibende Gedanken. Poogie kniete neben ihm nieder und weinte. Halloweenie tätschelte ihm scheu die Schulter . Im Angesicht des Todes schwieg sogar der kleine Skelettjunge. Alles starrte in den Himmel hinauf.

»Ich habe immer gewußt, daß Menschen mein Tod sein würden«, stöhnte er. »Ich hätte mich niemals zu dieser Mission melden sollen.«

»Du darfst nicht sterben!« schluchzte Poogie. »Du darfst mich nicht allein lassen!«

»Nicht, daß ich eine Wahl hätte. Du mußt weitermachen, Poogie. Finde den Roten Mann und tritt ihm in den Hintern.

Und laß dir von diesen verdammten Menschen nichts erzählen.

Sieh zu, daß sie von hier verschwinden. Ich will sie nicht in meiner Nähe haben. Irgend jemand soll mir dieses verdammte Licht aus den Augen schaffen!«

Reineke Bär griff nach etwas, um Schatten zu spenden… und hielt inne, als er begriff, daß Alles tot war. Poogie nahm den Metallmann in die Arme und weinte bitterlich, und seine Tränen waren genauso real wie die eines jeden Menschen.

Flynn schaltete die Kamera ab.

Hoch oben am Himmel kämpften die Superspielzeuge weiter, als wäre nichts geschehen. Die niederen Wesen unten auf der Erde kümmerten sie einen Dreck.

Das Schiff tuckerte den ganzen Tag hindurch über den Fluß, und die Kampfgeräusche wurden stetig lauter. Inzwischen konnten die Rebellen schon die einzelnen Explosionen unterscheiden, aus denen das endlose Donnergrollen bestand. Jetzt hing auch Rauch in der Luft, und nach und nach sperrte er das Tageslicht aus, bis es schien, als wäre überraschend früh der Abend angebrochen. Menschen und Spielzeuge beobachteten die Szenerie von verschiedenen Seiten des Decks aus. Seit Alles’ Tod waren sie einander aus dem Weg gegangen.

Das Schiff wurde langsamer, als Wrackteile in den dunklen Fluten trieben. Und dann trieben auch Spielzeugleichen an ihnen vorüber. Es waren unzählige. Auf beiden Ufern brannten jetzt Bäume, und schwerer dunkler Rauch quoll in den falschen Abendhimmel. Einige Hecken waren bereits völlig niedergebrannt: Tote Bäume in einer toten Landschaft aus aufgewühlter Erde, Schützengräben und Bombenkratern. Hellbunte Farben zuckten lebhaft über den Himmel, Explosionsblitze und die herabsegelnden falschen Sterne von Leuchtraketen.

Die Spielsachen an Bord wurden unruhig.

Der Seebock starrte unverwandt geradeaus. Er hatte die Augen weit aufgerissen und die Nüstern gebläht und sah aus, als würde tief in ihm die Programmierung von Shub darum kämpfen, wieder die Oberhand zu gewinnen.

Reineke Bär drückte die Hand des Bocks in seiner Pfote so fest, wie er nur konnte . Poogie hatte sich zu einer Kugel zusammengerollt und die Augen fest geschlossen, als suche er die Flucht vor alten Erinnerungen von Blut und Tod. Halloweenie saß vor Julians Kabinentür Wache und rührte sich nicht.

Und dann waren sie mit einemmal mitten im Krieg. Spiel-zeugarmeen wimmelten an beiden Ufern, rannten mit grenzenloser Kraft und Wildheit hierhin und dorthin und gehorchten gebrüllten Befehlen. Sie trugen alle möglichen Arten von Waffen, von grob gehämmerten Klingen bis hin zu Energiepistolen .

Granaten segelten durch die Luft, und Dreck und zerfetzte Spielzeuge wirbelten bei jeder Explosion umher .

Überall waren Handgemenge im Gang . Spielzeug kämpfte gegen Spielzeug, ohne Strategie oder Plan. Eine breite Masse von Tod und Zerstörung und Chaos, sonst nichts. Die Menschen und Spielzeuge an Bord der Missis Merry Truspott duckten sich, als Raketen über ihre Köpfe zischten und auf entgegengesetzten Ufern explodierten.

»Woher zur Hölle haben sie nur all diese Waffen?« fragte Finlay mit lauter Stimme, um den Lärm zu übertönen.

»Von Shub«, antwortete der Seebock, ohne sich zu bewegen .

»Sie waren dazu gedacht, gegen die Menschen eingesetzt zu werden. Und einige haben wir selbst hergestellt. Shub gab uns das nötige Wissen.«

»Kann jemand erkennen, wer gewinnt?« fragte Tobias. »Die guten oder die bösen Spielzeuge?«

»Niemand gewinnt hier«, erwiderte Reineke Bär. »Hier wird nur gestorben, mehr nicht.«

Und in diesem Augenblick, als hätten die kämpf enden Spielzeuge das Schiff erst jetzt entdeckt, eröffneten die Armeen zu beiden Seiten des Flusses das Feuer auf die Missis Merry Truspott. Das Limonadenwasser ringsum spritzte hoch und aufs Deck, als zu kurz geworfene Granaten und Bomben dicht neben dem Schiff explodierten. Menschen und Spielzeuge gleichermaßen klammerten sich an die Reling, um nicht weggespült zu werden. Energiestrahlen schossen aus dem Dunkel und durchbohrten den Schaufelraddampfer an mehreren Dutzend Stellen gleichzeitig. Das Deck erzitterte unter den Passagieren, als die Missis Merry Truspott schrie. Feuer brach aus, und Flammen leckten hungrig entlang des hölzernen Rumpfs. Die Menschen feuerten mit ihren Disruptoren auf die Ufer, und die Spielzeuge rannten mit Eimern und Handpumpen los, um das Feuer zu bekämpfen.

Evangeline streckte den Kopf aus Julians Kabine, und Finlay schrie sie an, drin zu bleiben. Dort war es sicherer. Evangeline warf einen Blick in die Runde und verzichtete auf Diskussionen. Giles und Finlay steckten ihre Disruptoren weg und zogen die Schwerter . Sie wußten, daß irgend jemand versuchen wür-de, an Bord zu gelangen . Tobias hielt den Kopf unten und flüsterte einen aufgeregten Kommentar, während Flynn die Kamera hierhin und dorthin schickte und so viel vom Geschehen filmte wie nur irgend möglich. Weitere Energiestrahlen rissen klaffende brennende Löcher in die Schiffsaufbauten. Bis jetzt hatte noch niemand die Kessel getroffen. Das Schiff schrie in einem fort; doch die Schaufelräder drehten sich mit unverminderter Geschwindigkeit weiter.

Spielzeuge stürzten sich in die Fluten und schwammen auf das Schiff zu. Teddybären und gestaltverändernde Adaptoren und Puppen aller Art kamen heran. Der Seebock tauchte mit einem Ölfaß auf und leerte es über die Reling. Das Öl trieb dick und glänzend auf der Limonade. Der Bock zündete es mit an, indem er eine Fackel hineinschleuderte, und rings um das Schiff loderten Flammen auf. Die vom Feuer überraschten Spielzeug kreischten laut, während sie verbrannten; aber viele schafften es dennoch bis zum Schiff und kletterten den durch-siebten Rumpf hinauf und über die Reling.

Finlay und Giles traten ihnen mit blitzenden Schwertern entgegen, und der Bock unterstützte sie mit seiner Keule; aber sie waren nur wenige, und die Feinde waren zahlreich und verrückt danach, alle Menschen zu töten.

Tobias und Flynn eilten herbei und kämpften ebenfalls mit den Schwertern, und Poogie und Reineke Bär ließen Feuer Feuer sein und halfen mit wilden Stahlklauen und bösartigen Kiefern. Und selbst mitten in der Schlacht hatte der Bär noch genügend Zeit, um angewidert festzustellen, wie leicht das Kämpfen und Töten für ihn geworden war.

Halloweenie der kleine Skelettjunge packte ein herumliegen-des Schwert und warf den letzten Rest seiner Unschuld weg, um sich ebenfalls an der Schlacht zu beteiligen.

Sie kämpften Seite an Seite, Mensch und Spielzeug, und niemand wußte, gegen wen oder warum. Sie standen gegen eine Armee von Angreifern, die von Shubs einprogrammierten Befehlen vorangepeitscht wurde. Das Schreien des Schiffs übertönte sogar den Lärm des Kampfes, und es hörte nicht mehr auf. Die Brücke explodierte unter einem direkten Treffer, und der leblose Körper des Kapitäns wurde aus einem Fenster geschleudert. Sein schwarzer Leichnam krachte aufs Deck und blieb dort leblos und rauchend liegen, und niemand beachtete ihn. Das Schiff kam langsam vom Kurs ab und steuerte auf das linke Flußufer zu.

Finlay stand mitten im dichtesten Gewühl und kämpfte Rük-ken an Rücken mit dem Ersten Todtsteltzer. Ihre Schwerter zerstückelten die Angreifer ringsum, doch von allen Seiten drängten immer neue heran. Die Luft war von beinahe menschlichen Schreien und von dem bestialischen Gebrüll der Angreifer erfüllt. Der Feldglöck und der Todtsteltzer kämpften auf dem Höhepunkt ihrer Kunst, und nichts und niemand kam auch nur in ihre Nähe. Dennoch wußten beide, daß sie nicht bis ans Ende aller Tage gegen eine derartige Übermacht standhalten konnten.

»Es sieht nicht gut aus«, sagte Giles gelassen über die Schulter .

»Nein, überhaupt nicht«, stimmte Finlay ihm atemlos zu, während er einen geifernden Wolf in Waldläuferkleidung nie-dermetzelte. »Wir brauchen ein Wunder, um das hier zu überleben.«

»Ganz meine Meinung«, stimmte Giles ihm zu. »Genau das gleiche Wunder, welches uns auch beim letzten Mal gerettet hat.«

Es dauerte einen Augenblick, bis Finlay begriffen hatte.

»Nein! Nicht noch einmal! Es würde ihn umbringen!«

Ein lautes donnerndes Knallen hinter ihm und das Rauschen von Luft, die den Platz ausfüllte, an dem der Todtsteltzer eben noch gestanden hatte, und Finlay wußte, wohin er teleportiert war.

Er kämpfte sich durch die wogenden Massen von Leibern zu Julians Kabine, trat die Tür ein und stürzte herein. Giles hatte Julian auf die Beine gezerrt und hielt den Esper mit einer Hand, während er mit der anderen Evangeline abwehrte. Finlay zog seinen Disruptor und zielte damit auf den Todtsteltzer.

»Nicht noch einmal, Giles! Nicht noch einmal!«

»Entweder er beschwört einen PSI-Sturm, oder wir sind alle tot«, entgegnete Giles ernst. »Was ist wichtiger – ein Esper, der schon so gut wie tot ist, oder unser aller Leben und die Erfüllung unserer Mission?« Sie stolperten alle zusammen, als eine weitere Explosion das Schiff erschütterte. Giles grinste humorlos. »Los, entscheidet Euch, Feldglöck. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«

»Er ist mein Freund«, protestierte Finlay. »Ich habe ihn nicht aus der Hölle gerettet, damit Ihr ihn umbringt! Eher töte ich Euch, Todtsteltzer.« Die Waffe ruhte fest in seiner Hand.

»Ihr habt Macht, Giles!« sagte Evangeline verzweifelt. »Das Labyrinth des Wahnsinns hat Euch verändert. Ihr seid stärker und besitzt ungeahnte Fähigkeiten. Benutzt Eure Macht, um uns zu retten!«

»Ich kann nicht«, erwiderte Giles. »Ich könnte mich selbst hinausteleportieren; aber ich kann niemanden mitnehmen. Und wie wollen wir ohne das Schiff jemals den Wald erreichen?«

»Ihr braucht Energie?« sagte Julian mit schwerer Zunge. »Ich werde Euch Energie geben, Todtsteltzer.«

Der Esper packte seinen Peiniger am Kinn und drehte dessen Kopf in seine Richtung, bis sie einander in die Augen starrten.

Julian raffte all seine Reserven zusammen, und eine Woge psionischer Energie wallte in ihm auf. Er spürte, wie es ihn innerlich zerriß und zerbrach, doch es war ihm egal. Sein Mund verzog sich zu einem freudlosen Grinsen, und Blut quoll zwischen seinen Lippen hindurch und rann ihm übers Kinn. Julian Skye fokussierte sein ESP und hämmerte es Giles mitten in den Kopf. Einen Augenblick lang glaubte Giles, in die Sonne zu starren, so hell und überwältigend war die Erfahrung. Julians Kräfte waren die allerletzten Reserven des sterbenden Espers, und er hatte sie gebündelt und auf Giles übertragen, und jetzt vermischten und verschmolzen sie miteinander. Beide schrien gleichzeitig auf, und dann teleportierte Giles und riß das ganze Schiff mit sich.

Luft strömte knallend in das Vakuum, wo noch einen Sekundenbruchteil zuvor der Schaufelraddampfer gewesen war; dann gab es nur noch den Fluß . Hier und da brannte noch Öl, und tote Spielsachen trieben mit dem Gesicht nach unten stromab-wärts.

Die Spielzeuge vergaßen das Schiff und wandten sich wieder ihrem endlosen Krieg zu, und das Gemetzel nahm seinen Verlauf wie eh und je.

Eine halbe Meile stromaufwärts tauchte die Missis Merry Truspott wie aus dem Nichts wieder auf. Mächtige Wellen spritzten zu beiden Seiten hoch, als der Dampfer ins Wasser klatschte, und sie löschten den größten Teil der Feuer. Giles und Finlay stürmten aus Julians Kabine und warfen sich auf die verbliebenen Spielzeuge, und es dauerte nicht lange, bis sich niemand mehr regte. Sie warfen die Leichen über Bord, und dann kehrte zum ersten Mal wieder Stille an Deck ein. Tobias senkte sein Schwert und grinste müde.

»Also, das nenne ich nun wirklich mal ein Wunder. Ich wußte gar nicht, daß Ihr zu so etwas fähig seid, Lord Todtsteltzer.«

»Genausowenig wie ich«, knurrte Giles. »Und ich glaube auch nicht, daß ich es in nächster Zeit noch einmal tun werde.«

Er drehte sich zu Julian um, der stark und sicher dastand. »Was zur Hölle ist mit Euch geschehen?«

»Ich will verdammt sein, wenn ich das wüßte«, erwiderte Julian fröhlich. »Fest steht jedenfalls, daß ich Eure Macht nutzen konnte, um mich selbst zu heilen, als wir verschmolzen waren.

Ihr seid zu einer verdammten Menge mehr imstande, als Euch selbst bewußt ist, Lord Todtsteltzer.«

»Ihr seht schon viel besser aus«, sagte Finlay. »Zur Hölle, Ihr seht sogar wieder halbwegs menschlich aus, Julian. Wie fühlt Ihr Euch?«

»Gesund und munter vom Scheitel bis zur Sohle«, antwortete der junge Esper fröhlich. »Ich bin wieder das, was ich war, bevor das Imperium mich in die Finger bekam. Ich bin geheilt, Leute! Halleluja!«

»Nicht so laut«, warnte der Seebock. »Wir haben nicht alle soviel Glück gehabt

Er deutete mit dem Kopf zur anderen Seite des Decks, wo Halloweenie neben dem verbrannten und zerfetzten Leichnam des Kapitäns kniete.

»Verdammt!« fluchte Tobias. »Wer soll jetzt nur das Schiff steuern?«

Sie fuhren weiter. Es wurde Nachmittag, und das Kampfgebiet blieb hinter ihnen zurück. Voraus lag der Dunkle Wald, und in ihm wartete der Rote Mann, und selbst die finstersten Zwänge des Krieges schafften es nicht, die einander bekämpfenden Spielsachen näher an den Wald heranzubringen, als sie bereits waren.

Jetzt lag nichts mehr zwischen dem Schaufelraddampfer und seinem Ziel außer Zeit und den Geheimnissen, die förmlich in der Luft schwebten. Die Menschen polierten ihre Klingen. Die Spielsachen drängten sich dicht zusammen und flüsterten nur noch. Halloweenie bemannte die Brücke und steuerte das Schiff. Er stand auf einer Kiste, um über das Ruder sehen zu können. Der kleine Skelettjunge starrte auf den Dunklen Fluß hinaus und schwieg. Die Menschen hatten die sterblichen Überreste seines Kapitäns über Bord geworfen, was einer See-bestattung am nächsten gekommen war. Sein Papagei war unauffindbar gewesen. Die beschädigte Missis Merry Truspott tuckerte stetig weiter. Das Schiff hatte aufgehört zu schreien; doch seine beiden riesigen Augen waren weit aufgerissen und musterten wachsam die Umgebung.

Sie sahen den Wald, lange bevor sie ihn erreichten. Wie ein riesiger dunkler Fleck tauchte er am Horizont auf, und der Fluß brachte sie unausweichlich näher. Menschen und Spielsachen versammelten sich am Bug und starrten auf das Ziel ihrer Reise. Sämtliche Differenzen waren angesichts des Unbekannten vergessen. Rasch rückte der Wald näher, und bald schon konnte man die ersten großen Bäume am Rand voneinander unterscheiden. Die schmale Lücke tauchte auf, in welcher der Dunkle Fluß verschwand, und der Schaufelraddampfer verlangsamte seine Fahrt, als wolle er seinen Passagieren eine letzte Chance zur Umkehr geben. Dann ertönte herausfordernd die Dampfpfeife, und das Schiff tuckerte mutig auf die schmale Lücke zwischen den Bäumen zu. Sie waren im Wald.

Es war ein dunkler, ursprünglicher Ort, wo die Bäume so hoch wuchsen, daß sie Hunderte von Jahren alt sein mußten.

Hoch und ausladend und irgendwie bedrohlich: Der Dunkle Wald war eine ständige Erinnerung an eine Zeit, als die Menschen noch von der Gnade der Wälder gelebt und nichts weiter als ein Teil der Natur gewesen waren.

Die mächtigen Äste waren mit schwerem Laub beladen und verbanden sich hoch über den Köpfen der Rebellen zu einem Blätterdach, das den größten Teil der Sonne ausschloß. Je tiefer die kleine Gruppe in den Wald vordrang, desto weiter blieb der Tag hinter ihnen zurück. Alles wurde Bestandteil des ewigen Zwielichts.

Niemand hatte jemals die Absicht gehabt, hier zu spielen. Im Großen Wald gab es weder Komfort noch Sicherheit. Der Ort, an dem die Bäume wuchsen, war wild, ungezähmt und frei, und wer ihn betreten wollte, der tat dies auf sein eigenes Risiko. Die mächtigen Bäume standen dicht beieinander, ausladend und knorrig zugleich, und das Laub ihrer Äste war von einem giftigen Dunkelgrün. Die Luft war gesättigt mit dem Geruch von Erde und Holz und lebendigen Dingen. Die Missis Merry Truspott dampfte vorsichtig weiter, und sie kamen nur noch-langsam voran. Hin und wieder schleiften Äste über das Dach der Brücke. Es war, als bewegten sie sich durch einen nicht enden wollenden Abend. Alles war grau und feierlich, und es herrschte eine unheimliche Stille wie in einer gewaltigen lebenden Kathedrale aus uraltem Holz.

Und so verließen sie die Welt der Spielsachen und betraten die großen grünen Traum der alten Zeiten. Sie fuhren über einen dunklen Fluß auf der Suche nach einem geheimnisvollen Rätsel und der verlorenen Seele, die sich jetzt der Rote Mann nannte. Und auf der Suche nach der Armee, die er aus unbekannten Motiven heraus um sich versammelt hatte.

Sie sagen, er sei verrückt. Und sie sagen, er wolle die ganze Welt zerstören…

Finlay und Giles hielten die Disraptoren in der Hand. Sie waren bereit, beim kleinsten Anzeichen feindlicher Aktivitäten zu schießen. Julian und Evangeline standen an der Reling beieinander. Sie fühlten sich an diesem Ort der Riesen irgendwie klein und unbedeutend. Flynn arbeitete wie besessen, um alles zu filmen; doch zum ersten Mal im Laufe seiner kurzen steilen Karriere verzichtete Tobias darauf, die Szenerie zu kommentie-ren. Die dunkle Pracht ringsum verängstigte ihn zutiefst. Poogie, der Seebock und Reineke Bär standen beieinander und machten sich gegenseitig Mut. Oben auf der Brücke starrte der kleine Skelettjunge Halloweenie in die bedrohliche Finsternis voraus wie ein Kaninchen, das von einer Schlange hypnotisiert worden ist.

Die endlose Stille übte eine seltsame Faszination auf die Rebellen aus. Niemand war danach, sie mit leerem Geplapper zu durchbrechen. Nicht das kleinste Geräusch war zu hören, weder von Vögeln noch Tieren oder Insekten, nichts außer dem stetigen Tuckern der Dampfmaschinen. Das ewige Schweigen hatte etwas Erwartungsvolles an sich, als könnte jeden Augenblick eine gewaltige Stimme erschallen, der jedes lebende Wesen gehorchen mußte. Und so lauschten sowohl Menschen als auch Spielzeuge angestrengt, und irgendwann drangen die ersten hellen Töne aus der Dunkelheit zu ihnen.

Ein Lied, eine fröhliche, lebendige, freie Melodie. Dann erschienen die Sänger: Kleine leuchtende geflügelte Geister, die wie Sterne auf dem Weg zur Erde zwischen den Bäumen hin-durchflatterten. Sie kamen in Massen, betriebsam und lebhaft, und sie brachen wie eine Woge aus Licht über das Schiff herein. Sie umschwärmten den Schaufelraddampfer, ohne ihm ein einziges Mal zu nahe zu kommen. Menschen und Spielzeuge beobachteten das Schauspiel mit weit aufgerissenen Augen und noch breiterem Lächeln . Die unerwartete Freude an diesem dunklen Ort berührte sie zutiefst. Die kleinen Geister besaßen menschliche Gestalt; aber sie waren nicht größer als einen Fuß, und sie hatten mächtige pastellfarbene Flügel. Die Wesen leuchteten in einem hellen inneren Licht, überwältigend, lebendig und strahlend wie ein heller Mond.

Und sie sangen, allein und im Chor. Sie sangen hohe kunstvolle Tonfolgen aus Arpeggios und endlosen Harmonien. Sie waren ein Chor aus Engeln, und ihr Gesang war so rein und schön, daß den Rebellen das Herz überlief. Es war der stimm-gewordene Wald, ein Ort voller Bedeutung und Feierlichkeit, eingepackt in ein wunderschönes Lied. Jeder an Bord der Missis Merry Truspott spürte, daß sie dicht vor der Antwort auf alle Fragen standen, die jemals wirklich von Bedeutung gewesen waren.

Und dann waren die Geister mit einemmal verschwunden.

Sie schossen in den Wald davon, und ihr Lied erstarb im ewigen Halbdunkel.

»Was zur Hölle war das?« fragte Tobias nach einer Weile, nachdem nichts mehr zu sehen oder zu hören war. »Hast du es gefilmt, Flynn?«

»Frag mich nicht«, erwiderte der Kameramann . »Die Kamera lief, aber ich war weit weg bei den Feen. Waren sie nicht wundervoll?«

»Wundervoll«, stimmte ihm Finlay zu. »Aber was suchen sie hier? Was macht dieser ganze Wald hier auf Shannons Welt?

Dieser Ort ist eindeutig kein Platz für Kinder. Zur Hölle, ich bin nicht einmal sicher, ob ich in meinem Alter dafür bereit bin!«

»War es real?« fragte Julian. »Kann es sich um eingeborenes Leben handeln? Es sah so… alt aus. Beinahe antik.«

»Unmöglich«, entgegnete Evangeline. »Dieser Planet war ein lebloser Fels, bevor Shannon ihn terraformieren ließ. Alles hier ist sein Werk.«

»Und warum hat er dann diesen Wald geschaffen?« fragte Giles. »Welchen Sinn hat das alles hier?«

»Es war Shannons nächstes Projekt«, sagte Poogie, und alle drehten sich nach dem freundlichen Burschen um. Die Zeichentrickfigur starrte auf den Wald hinaus. Poogies Stimme klang freundlich und bestimmt. »Shannon wollte immer die Seelen der Menschen erreichen, um ihre Wunden zu heilen.

Sommerland war nur der erste Schritt. Es war ein Ort, wo Kinder aller Altersstufen Trost und Frieden finden konnten. Der Wald war der nächste Schritt. Ein Ort, wo Männer und Frauen so lange verschwinden konnten, wie sie brauchten, um ihre geistigen Wurzeln wiederzufinden und neue Kraft und Selbstsicherheit zu gewinnen.

Nachdem der Wald fertig war, ging Shannon hinein und kehrte niemals wieder zurück. Er ist noch immer irgendwo da drin – falls er noch lebt. Das ist auch der Grund, warum Harker diesen Ort für seinen Rückzug ausgewählt hat. Dieser Wald ist ein Ort der Wiedergeburt. Die Seele von Shannons Welt.«

»Halt, einen Augenblick«, sagte Reineke Bär. »Woher weißt du eigentlich, warum Harker diesen Ort ausgesucht hat?«

»Weil ich zu ihm gehöre«, antwortete Poogie der freundliche Bursche und wandte sich endlich zu den anderen um. Er musterte sie mit seinen großen, wissenden Augen. »Ich habe den Auftrag, Euch direkt zu ihm zu führen.«

Sie bestürmten Poogie mit Fragen, doch er schüttelte nur den Kopf und meinte, Harker würde all ihre Fragen früh genug beantworten. Der Seebock war wütend, weil Poogie ihn getäuscht hatte, und er bedrohte den freundlichen Burschen mit seiner Keule. Der Bär gebot ihm Einhalt. Nichts hatte sich grundlegend an ihrer Mission geändert, und wenn Poogie die kleine Gruppe direkt zu Harker bringen konnte, um so besser. Der Seebock beruhigte sich ein wenig; doch er behielt die Keule in der Hand und brummte mißmutig vor sich hin. Poogie stand allein am Bug und sah erwartungsvoll nach vorn. Die Menschen unterhielten sich gedämpft. Giles warf nicht zum ersten Mal ein, daß er den Spielzeugen von Anfang an nicht über den Weg getraut habe. Finlay wies darauf hin, daß Poogie wohl kaum eine Gefahr für die Gruppe darstellte. Doch einzig und allein Evangeline erkannte die wirklichen Schlußfolgerungen von Poogies Enthüllung: Harker wußte längst, daß sie kamen.

Sie fuhren weiter durch das Zwielicht . Nach einer Weile er-tönte das Geräusch von Trommeln, das rasch lauter wurde. Es klang wie der Herzschlag eines schlafenden Riesen – oder wie der der Herzschlag des Dunklen Waldes selbst. Spuren von Rauch hingen in der Luft. Es roch scharf und würzig. Das Ge-fühl, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden, wurde immer eindringlicher. Menschen und Spielzeuge drängten sich am Bug zusammen und hielten die Waffen griffbereit. Die Menschen dachten gegenwärtig weniger an die Erfüllung ihrer Mission und die Beschaffung taktischer Informationen von Vincent Harker, sondern vielmehr daran, wie sie die Begegnung mit dem allseits gefürchteten Roten Mann und seiner Armee überleben sollten. Noch nie war ein Reisender aus dem Dunklen Wald zurückgekehrt.

Die Trommeln wurden lauter und bedrohlicher.

»Er ist ein wunderbarer Mensch«, sagte Poogie beinahe verträumt. Er stand abseits von den anderen. »Manchmal nicht leicht zu verstehen, aber trotzdem ein Mann von großer Weisheit. Wir verehren ihn, und wir gehören ihm mit Leib und Seele. Wir würden für den Roten Mann sterben. Er wird uns alle aus der Dunkelheit führen und dem Krieg ein Ende bereiten. Er wird das Angesicht dieser Welt verändern, bis wir es nicht mehr wiedererkennen.«

»Ob wir anderen das wollen oder nicht«, brummte Reineke Bär.

»Wie will er diese Veränderungen denn bewerkstelligen?« erkundigte sich Finlay. »Indem er seine Armee ausschickt?

Indem er alle zwingt, ihm zu folgen, statt den Weg zu gehen, den sich jeder für sich selbst ausgesucht hat?«

»Ihr versteht das nicht«, sagte Poogie. »Der Rote Mann ist im Besitz einer Wahrheit, die alle verändert, die sie hören. Er hat mich gerettet. Er hat uns alle gerettet. Und er wird am Ende die Welt retten.«

»Ob sie gerettet werden will oder nicht«, brummte Giles Todtsteltzer. »Ich kenne diese Sorte. Ich bin ihr schon öfters begegnet.«

»Nein!« widersprach Poogie. »Ihr habt noch nie jemanden wie den Roten Mann kennengelernt.«

Mehr war nicht aus ihm herauszuholen.

Schließlich erreichten sie Harkers Lager. Seine Anhänger hatten eine Lichtung zwischen den großen Bäumen geschaffen und mitten darauf eine große hölzerne Festung errichtet. Hohe Mauern, schlanke Türme und Tausende von Spielzeugen beobachteten aus allen Richtungen, wie die Missis Merry Truspott langsamer wurde und schließlich in einer großen dunklen La-gune anhielt, die das Ende des Flusses markierte.

Der Lärm der Trommeln war inzwischen ohrenbetäubend.

Die Luft vibrierte wie von gewaltigen Hämmern. Rauch kräuselte sich von Hunderten von Feuern, die ein warmes, purpurnes Licht in der Dunkelheit zwischen den Bäumen verbreiteten.

Überall gab es hell flackernde Fackeln, und ihre tanzenden Flammen warfen beunruhigende Schatten. Alle nur erdenkli-chen Arten von Spielsachen drängten sich unter und vor den Bäumen, und sie alle hielten Waffen in den Händen und beobachteten die Neuankömmlinge mit feindseligen Blicken.

Allein der Wille des Roten Mannes hielt sie zurück, doch sie blieben wachsam und mißtrauisch.

Ohne jede Vorwarnung verstummten die Trommeln. Die Armee von Spielzeugen zeigte nicht die geringste Reaktion.

Nur das Knacken und Knistern der zahllosen Feuer und Fak-keln durchbrach die plötzliche Stille, gemeinsam mit dem leisen Tuckern der Kessel des Schaufelraddampfers.

Finlay und Giles blickten in die Runde. Sie achteten sorgsam darauf, keine unbedachte Bewegung zu machen, die falsch hät-te interpretiert werden können. Der Bär und der Bock standen dicht beisammen und hielten sich an den Pfoten: verlorene Seelen in der Unterwelt . Das Licht der Schiffslaternen vermochte die umgebende Dämmerung kaum zu durchdringen, und das purpurne Flackern der zahllosen Feuer und Fackeln vertiefte nur die Dunkelheit zwischen den Bäumen wie brennende Koh-len in der Nacht.

»Willkommen in der Hölle«, sagte Tobias Shreck leise.

»Das hier ist nicht die Hölle«, widersprach Poogie der freundliche Bursche. »Das hier ist unser Zuhause. Steuert das linke Ufer an und fahrt die Gangway aus. Wir sollten Harker nicht warten lassen.«

Giles drehte sich nach Halloweenie auf der Brücke um. »Laß die Pfeife ertönen, Knabe. Harker soll wissen, daß wir eingetroffen sind. Ich möchte nicht, das er denkt, wir wären eingeschüchtert.«

»Wir sind aber eingeschüchtert«, entgegnete der Seebock.

»Vielleicht sind wir das«, sagte Julian, »aber Harker muß das schließlich nicht wissen. Laß die Pfeife heulen, Halloweenie.«

Der kleine Skelettjunge riß am Seil, und die Dampfpfeife der Missis Merry Truspott tutete und tutete immer und immer wieder. Es war ein lautes, durchdringendes Geräusch, das die Stille zerfetzte. Die Echos schienen den gesamten Wald zu erfüllen.

Die Anhänger Harkers rührten sich nicht; aber die Passagiere an Bord des Schaufelraddampfers fühlten sich mit einemmal schon wieder etwas besser.

»Gut so«, sagte Finlay. »Und jetzt werden wir zum Roten Mann gehen. Vergeßt nicht: Niemand schießt, bevor wir nicht das Weiße ihrer Zähne direkt vor Augen sehen.«

»Wenn wir anfangen zu schießen , sind wir einen Augenblick später tot«, sagte Giles. »Also bewahrt die Ruhe, Leute.«

»Wir werden nie wieder nach Hause zurückkehren!« jammerte der Seebock . »Wir werden hier sterben, in der Hölle!«

»Dann laßt uns wenigstens mit Würde sterben«, entgegnete Reineke Bär . »Falls das wirklich alles ist, was uns noch bleibt.«

Vorsichtig schritten sie über die Gangway ans Ufer und blickten sich unablässig nach irgendeiner Andeutung von Ag-gression um; doch die Tausende von beobachtenden Spielzeugen blieben still und rührten sich nicht. Poogie führte die kleine Gruppe, und er hüpfte und tanzte und schien ganz offensichtlich überglücklich, wieder zu Hause zu sein. Giles folgte dem freundlichen Burschen. Er ging hoch aufgerichtet und mit vor-gestrecktem Kinn, als wäre er der eigentliche Herr dieses Waldes.

Finlay hielt Evangeline dicht bei sich, und seine Hand war nie weit vom Griff des Disruptors entfernt. Julian starrte stur geradeaus . Er hatte die Hände in den Taschen vergraben, so daß niemand sehen konnte, wie sie zitterten . Tobias und Flynn blieben ebenfalls zusammen. Sie nahmen die Szene in sich auf, und die Kamera schwebte unmittelbar über den Köpfen der beiden. Den Schluß bildeten Reineke Bär und der Seebock. Sie hatten Halloweenie zwischen sich genommen und hielten ihn an den knochigen Fingern.

Das Schiff, die Missis Merry Truspott, sah der kleinen Gruppe mit ihren großen, niemals blinzelnden Augen hinterher und schwieg.

Die dicht gedrängten Spielzeuge traten vor der kleinen Gruppe auseinander, und eine Gasse bildete sich – ein enger Durchgang, der vor spitzen Waffen nur so glitzerte und geradewegs auf den offenen Hof der großen Holzfestung führte. Finlays Atem ging immer schneller, und er klang jetzt gehetzt; doch seinem Gesicht war keine Gefühlsregung anzumerken. In ihm regte sich der starke Verdacht, daß es denkbar schlecht wäre, an diesem Ort Schwäche zu zeigen. Er warf einen Seitenblick zu dem Todtsteltzer, der aussah, als hätte er früher schon Schlimmeres gesehen, und als wäre er auch damals nicht sonderlich beeindruckt gewesen. Vielleicht stimmte das sogar.

Finlay mußte unwillkürlich grinsen. Nur ein Todtsteltzer schaffte es, so auszusehen, als sei er in der Hölle zu Hause. Er hatte bereits einen Plan für den Fall der Fälle. Er würde versuchen, als erstes Harker zu töten. Dann würde er sehen, wie viele Spielzeuge er noch mitnehmen konnte, bevor sie ihn unter sich begruben. Er hoffte nur, daß ihm genug Zeit bleiben wür-de, vorher Evangeline zu töten. Finlay hatte sie in die Hölle geführt; ein schneller Tod war das wenigste, was er für sie tun konnte.

Der Innenhof der hölzernen Burg wurde von Hunderten von Fackeln hell erleuchtet. Auf einem Thron, den man aus einem Baumstumpf herausgeschnitzt hatte, saß Vincent Harker. Der Rote Mann. Der Mann in Rot. Der Mann im Weihnachtsmannkostüm.

Die Menschen blieben bei seinem Anblick wie angewurzelt stehen. Selbst der Todtsteltzer riß den Mund auf. Poogie eilte vor und verbeugte sich vor seinem Herrn, dann setzte er sich Harker zu Füßen. Harker streckte die Hand aus und kraulte den Kopf des freundlichen Burschen, und Poogie lehnte sich mit einem langen Seufzer gegen Harkers Bein wie ein treuer Hund.

Er war endlich wieder zu Hause.

Harker war ein großgewachsener Mann. Er besaß mehr Muskeln als Fett, weißes langes Haar und einen buschigen weißen Bart, und er trug das Weihnachtsmannkostüm mit selbstverständlicher Autorität. Er lächelte seinen Besucher freundlich entgegen, ein breites, warmes und sehr, sehr gesundes Lächeln.

»Der Rote Mann«, ächzte Tobias. »Der Weihnachtsmann!

Ich hätte es wissen müssen!«

»Was habt Ihr erwartet? Wir befinden uns hier auf einer Welt, die für Kinder und Spielzeuge erschaffen wurde«, sagte Harker. Seine Stimme klang voll und tief und sehr beruhigend.

»Willkommen in meinem Haus. Ich habe schon angefangen zu glauben, Ihr würdet niemals kommen. Bitte macht Euch keine Sorgen um Eure Sicherheit. Meine Anhänger handeln nur, wenn sie angegriffen werden. Im Augenblick plustern sie sich ein wenig auf, weil sie Angst haben, Ihr könntet versuchen, mich ihnen wegzunehmen. Sobald sie sehen, daß Ihr keine Gefahr bedeutet, werden sie sich wieder beruhigen . Das heißt, falls Ihr keine Gefahr darstellt… was ich annehme. Warum habt Ihr einen so weiten und gefährlichen Weg auf Euch genommen, um mich zu finden? Ihr seht nicht aus wie Imperiale Streitkräfte.«

»Das sind wir auch nicht«, antwortete Evangeline und trat vor. Sie bemühte sich nach Kräften, die Waffen zu ignorieren, die jede ihrer Bewegungen verfolgten. »Wir repräsentieren die Untergrundbewegung Golgathas. Eine wachsende Schar von Klonen, Espern und Menschen, die an Freiheit und Gerechtigkeit glauben und die sich der Rebellion verschrieben haben.

Wir haben gehört, daß Ihr wertvolle taktische Informationen die Imperialen Streitkräfte betreffend besitzt. Wir sind gekommen, um Euch zu bitten, diese Kenntnisse mit uns zu teilen.«

»Bitten?« sagte Harker. »Damit ist es wohl klar; Ihr seid definitiv keine Imperialen Truppen. Kommt her und setzt Euch zu mir, und ich werde Euch erzählen, wie ich hergekommen bin und für eine Welt voller Spielzeuge der Weihnachtsmann wurde.«

Eine Gruppe von Spielzeugsoldaten brachte Stühle, und die Neuankömmlinge nahmen vor Harker Platz. Die Spielzeugsoldaten zogen sich wieder zurück; doch sie behielten die Gäste scharf im Auge und die Hände in der Nähe ihrer Waffen. Sowohl Harker als auch seine Gäste gaben vor, es nicht zu bemerken. Die Stühle waren überraschend bequem. Harker lehnte sich auf seinem Thron zurück.

»Das hier haben die Spielzeuge für mich gebaut. Ich habe sie nicht darum gebeten. Ich halte nichts von derartigen Symbolen; aber sie entschieden, daß ich als ihr Anführer einen Thron haben müßte, und sie können in derartigen Kleinigkeiten sehr stur sein. Also spiele ich mit, und sie sind glücklich . Manchmal frage ich mich, wer hier wirklich das Sagen hat . Na ja, das ist eine andere Geschichte.

Als ich über Shannons Welt abstürzte, tobte überall der Krieg. Spielzeug brachte Spielzeug um. Der schiere Wahnsinn.

Sie waren erst kurz zuvor zum Leben erwacht, und sie wußten nichts Besseres damit anzufangen, als zu töten und getötet zu werden. Ich habe gesehen, wie Spielzeuge niedergemetzelt und Unschuldige getötet wurden, und irgend etwas in mir veränderte sich. Für immer.

Als ich noch für das Imperium arbeitete, nannte man mich den Kalten Mann, weil nichts mich jemals berührte. Mein Beruf waren Pläne und Strategien, und ich wandelte Rohdaten in Konzepte und Taktiken um, mit deren Hilfe die größtmöglichen feindlichen Verluste bei möglichst geringen Imperialen Verlusten sichergestellt werden sollten . Selbst wenn Tausende oder manchmal Millionen von Menschen wegen meiner Entscheidungen sterben mußten, ließ mich das kalt. Es war mir egal. Ich sah sie nicht. Ich kannte sie nicht. Sie waren nichts als Zahlen.

Dann kam ich hierher, nach Sommerland, und was ich sah, brach mir das Herz. Ich erkannte, was diese Spielzeuge waren und sind: Kinder. Junge, unschuldige Wesen, betrogen von den Kräften, die ihnen ihre Intelligenz schenkten und ihnen dann nichts als Haß und Lügen einpflanzten. Die Spielsachen verstanden nicht, was sie anrichteten, als sie die Menschen töteten.

Shub hat sie manipuliert. Sie waren so jung und unerfahren wie sollten sie das Wesen des Todes begreifen? Als sie sahen, wer und was sie waren, da fühlten sie sich gekränkt und verletzt.

Sie schlugen zurück, wie wütende Kinder es tun. Wie Welpen, die noch nicht wissen , daß ihre Zähne verletzen können. Hinterher, als ihnen bewußt wurde, was sie angerichtet hatten, wurden viele von ihnen vor Schuld und Entsetzen über sich selbst wahnsinnig.

Ich erkannte, wie sie um ihre Kindheit betrogen und im Namen des Krieges um ihre Unschuld gebracht wurden, und es machte mich ganz krank und wütend. Zum ersten Mal in meinem Leben wurden die Zahlen, mit denen ich so lässig umzugehen pflegte, zu etwas Lebendigem. Zum ersten Mal war es mir nicht mehr egal. Also ging ich hinaus in die Welt der Spielzeuge und wandelte unter ihnen, ein einzelner Mensch, allein und unbewaffnet, und brachte ihnen eine Wahrheit, die sie niemals erwartet hätten: daß nämlich s ie jetzt die Kinder seien. Ich wurde der Weihnachtsmann, weil es eine Figur ist, die alle kannten und verstehen. Ich erzählte ihnen von den Schrecken des Krieges, wie nur ich es kann. Sie hörten die Wahrheit und die Schuld in meiner Stimme, und sie glaubten mir. Ich wünschte mir so sehnlich, sie vor dem Schrecken dessen zu bewahren, was ich als Kalter Mann zu verantworten gehabt hatte, und sie spürten auch das. Ich gewann Anhänger und Schüler, und ich machte mir viele Feinde. Spielsachen, die nicht wagten, meinen Worten zu glauben, wegen ihrer Taten und wegen dem, was sie in Shubs Namen noch immer tun.

Weil die Wahrheit, die ich verkünde , sie zu Schlächtern und besinnungslosen Mördern gemacht hätte; sie führen lieber weiter einen endlosen Krieg, als meinen Worten zu glauben. Also brachte ich meine Anhänger hierher in den Dunklen Wald, an einen Ort des Verzeihens und der Wiedergeburt, und von hier aus schickte ich meine Schüler in die Welt, um meine Wahrheit unter den Spielzeugen zu verkünden.

Wie es stets der Fall ist, so wurde auch meine Botschaft immer mehr verstümmelt, während sie von Mund zu Mund ging.

Ich wurde der Rote Mann; meine Anhänger wurden zu einer Armee, und meine Botschaft des Friedens wurde zu einer Drohung gegen die ganze Welt. Doch die Wahrheit ist ein hartnäk-kiges Geschöpf. Sie bestand fort, und sie brachte Spielzeuge zu mir, die meine Botschaft mit eigenen Ohren hören wollten.

Allein oder in Gruppen liefen sie auf beiden Seiten davon, und sie kamen hierher, weil sie Frieden und Vergebung suchten.

Ich gab mein Bestes, ihnen beides zu verschaffen.

Sie sind die wahren Kinder von Shannons Welt, und ich bin ihr Weihnachtsmann. Wer weiß, was eines Tages aus ihnen werden mag, wenn sie erwachsen geworden sind?«

»All die Zeit und der weite Weg, und ich bin der falschen Geschichte hinterhergerannt!« stöhnte Tobias. »Ich hätte es wissen müssen.«

»Was wollt Ihr unternehmen, wenn die Eiserne Hexe schließlich die Geduld verliert und eine Armee entsendet, um Euch zurückzuholen?« fragte Evangeline. »Eure Anhängerschar mag ja beeindruckend sein; aber sie wird sich nicht lange gegen Imperiale Stoßtruppen halten. Wenn einer das weiß, dann seid Ihr das! Wenn Ihr Euch dazu durchringen könntet, mit uns zu kommen und Euch der Rebellion anzuschließen, dann könnten wir Euch schützen und verstecken…«

Sie verstummte. Harker schüttelte entschieden den Kopf.

»Auf keinen Fall. Ich werde niemals von hier fortgehen. Ich werde hier gebraucht, und ich habe soviel wiedergutzumachen.

Falls die Imperatorin tatsächlich jemals eine Armee nach mir schicken sollte, dann wird ein Gerücht durch die Welt gehen, daß ich längst tot sei. Es wird sogar einen ziemlich echten Leichnam geben, um die Geschichte zu untermauern. Irgendwann werden die Informationen in meinem Kopf alt und obso-let sein, und dann wird sich niemand mehr um mich kümmern.«

»Ich kann nicht umhin zu bemerken, daß noch keiner Eurer Anhänger die Waffen gesenkt hat«, sagte Finlay. »Benehmen sie sich immer so?«

»Meistens«, antwortete Harker. »Sie beten mich an, wißt Ihr?

Ich habe sie immer und immer wieder gebeten, das nicht zu tun. Vermutlich hätte ich mit so etwas rechnen sollen. Ich pre-dige zu ihnen, erzähle ihnen Geschichten und versuche nach Kräften, sie zu fördern. Sie besitzen enorme Möglichkeiten.

Findet Ihr es nicht auch erstaunlich, daß so viele von ihnen ohne fremde Eingriffe Shubs Programmierung überwunden haben, ohne jede Hilfe und Überredung von außen? Obwohl sie tatsächlich wie neugeborene Kinder waren, wußten sie doch Recht von Unrecht zu unterscheiden, und sie kannten den Wert des Lebens und das Entsetzen des Krieges. Sie wußten: Alles Leben ist heilig.«

»ALLES LEBEN IST HEILIG«, ertönte es ringsum im Chor wie eine Litanei.

Halloweenie beugte sich in seinem Stuhl vor . »Bist du wirklich der Weihnachtsmann?«

Harker lächelte. »Das bin ich, wenn es denn einen gibt.

Möchtest du hier bei mir bleiben? Bei uns?«

»O ja!« strahlte Halloweenie. »Ich dachte zuerst, der Dunkle Wald sei ein böser, furchteinflößender Ort; aber das ist er nicht.

Nicht wirklich. Ich könnte hier ein Junge sein, nicht wahr? Ein richtiger Junge!«

»Selbstverständlich«, sagte Harker. »Du warst nie etwas anderes.«

»Was wird am Ende mit den Spielsachen geschehen?« erkundigte sich Julian. »Wenn sie ihre Furcht überwunden haben und… erwachsen geworden sind?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Harker. »Das hier sind die ersten unabhängigen KIs seit Shub. Vielleicht werden sie genauso menschlich wie wir. Wenn man allerdings bedenkt, wie weit es dieser Tage mit der Menschheit gekommen ist… vielleicht geben sie sich nicht mit so wenig zufrieden. Vielleicht werden die Geschöpfe ihre Schöpfer übertrumpfen.«

»Das… könnte gefährlich werden«, sagte Giles Todtsteltzer.

»Hört endlich auf, immer nur an Shub zu denken«, entgegnete Harker. »Hier liegen die Dinge ein wenig anders. Außerdem beziehen die Spielsachen ihre Energie aus Speicherkristallen.

Irgendwann werden sie erschöpft sein, und dann brauchen sie neue. Und der einzige Ort, wo sie neue Kristalle bekommen können, ist das Imperium der Menschen. Die Spielsachen brauchen die Menschen. Und Menschen werden immer Spielsachen brauchen. Doch das ist Zukunftsmusik. Die Löwenstein darf niemals hinter das Geheimnis von Hakeldamach kommen. Sie würde meine Kinder sehen, und die Entstehung eines weiteren Shub fürchten. Sie würde eher die gesamte Welt verbrennen, als ein derartiges Risiko einzugehen.«

»Gebt uns die taktischen Informationen in Eurem Besitz«, sagte Evangeline, »und wir werden die Löwenstein so in Atem halten, daß sie keine Zeit hat, um über Shannons Welt nachzudenken. Wenn sie erst erfährt, daß wir im Besitz Eurer Informationen sind, dann werdet Ihr unwichtig, und man wird Euch vergessen.«

»Aber Ihr kennt mein Geheimnis«, entgegnete Harker.

»Kann ich darauf vertrauen , daß Ihr schweigt?«

»Der Untergrund hat wichtigere Sorgen, als sich um einen prinzipiell neutralen Planeten zu kümmern« , sagte Evangeline.

»Solange wir mit Euren Informationen zurückkehren, wird niemand Fragen stellen, woher wir sie haben. Niemand außer uns hier muß jemals etwas über die Kinder von Shannons Welt erfahren.«

Sie alle blickten zu Tobias.

Der Nachrichtenmann seufzte schwer und zuckte schließlich die Schultern. »Das wäre ein großartiger Bericht geworden; aber ich schätze, er kann auch noch ein Weilchen im Regal stehenbleiben, bis es sicher genug ist, ihn zu zeigen. Außerdem wäre es nicht die erste Geschichte, die ich zu vergraben geholfen habe. Stimmt’s, Flynn? Niemand wird es je erfahren, einverstanden.«

»Falsch«, sagte Julian. »Das Imperium wird alles erfahren, weil ich es sagen werde. Ich werde ihnen alles sagen.« Er sprang auf, stieß seinen Stuhl um, und plötzlich richtete er einen Disruptor auf Harker. Auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln, in dem keine Spur von Humor war. Als er sprach, klang seine Stimme fremd und merkwürdig gezwungen. »Niemand bewegt sich, oder Harker ist ein toter Mann. Bevor Finlay mich gerettet hat, verbargen die Imperialen Hirntechs einen der Würmer des Wurmwächters tief in meinem Kopf. Er hat geheime Instruktionen für mich. Ich muß jede echte Gefahr für das Imperium zerstören. Harker und seine Jünger haben den Wurm und seine Programmierung aktiviert. Steht auf, Harker.

Ihr kommt mit mir zurück zur Löwenstein. Wenn sich irgend jemand regt, seid Ihr ein toter Mann.«

Ringsum hatten die Spielzeuge ihre Waffen erhoben; doch sie zögerten, weil sie nicht wußten, was sie hin sollten, ohne den Tod ihres Führers zu riskieren. Giles’ Hand ging zum Disruptor, doch Finlay legte ihm die Hand auf den Arm. Der Todtsteltzer verharrte. Sie durften es nicht riskieren. Noch nicht.

»Könnt Ihr ihn nicht hinausteleportieren?« murmelte Finlay.

»Nein. Julians ESP blockiert meine Kräfte«, erwiderte Giles leise. »Aber ich bin durchaus in der Lage, ihn zu erschießen, bevor er auch nur blinzeln kann. Laßt es mich versuchen.«

»Auf keinen Fall«, entgegnete Finlay. »Ich will erst noch etwas anderes ausprobieren.« Er hob die Stimme. »Julian, hört mir zu! Ich habe Euch aus der Zelle der Folterknechte befreit!

Ihr wart nicht gebrochen! Ihr wart zu stark für sie. Seid jetzt ebenso stark! Giles sagt, Eure Kräfte seien stärker denn je zuvor. Bekämpft den Wurm! Bekämpft ihn! Seid Euer eigener Herr!«

Julian runzelte die Stirn, und sein Mund formte lautlose Worte. Die Hand, die den Disruptor hielt, begann zu zittern. Und dann, ganz langsam, öffneten sich die Finger, und die Waffe polterte zu Boden. Tobias sprang vor und trat darauf, und Julian fiel zitternd auf die Knie. Einige der Spielzeuge hoben ihre Waffen, doch Harker sprang von seinem Thron und kniete sich neben den zitternden Esper.

»Helft mir«, stöhnte Julian mit geschlossenen Augen. »Er ist noch immer in meinem Kopf! Er will, daß ich Euch töte. Er wird es immer wollen! Aber ich nicht…«

»Ihr könnt Euch von ihm befreien«, sagte Harker mit dem Mund ganz dicht an Julians Ohr. »Ihr könnt es. Meine Kinder durchbrachen ihre Programmierung, und Ihr könnt das mit der Euren. Seid stark, Julian. Ihr müßt nichts weiter tun als glauben!«

Julian krümmte den Rücken, als ein schrecklicher Schmerz ihn durchzuckte. Er warf den Kopf in den Nacken und verzerrte das Gesicht in Agonie. Sein kurzer Kontakt mit Giles hatte ihn mit mehr Macht erfüllt, als er je gehabt hatte, und jetzt beschwor er sie herauf, alles, was er hatte. Er war entschlossen, sich zu befreien, und wenn das seinen Tod bedeutete.

Sein linkes Auge wölbte sich langsam nach außen, und aus der blutigen Höhle wand sich ein kleiner grauer Wurm. Geschoben von der schieren Willenskraft des Espers fiel er zuk-kend zu Boden, und Finlay zerquetschte ihn unter dem Absatz.

Julian brach zusammen, und Harker fing ihn auf. Der Augapfel rutschte in die Augenhöhle zurück, und Julian brachte ein zaghaftes Lächeln zustande.

»Gut gemacht«, sagte Finlay. »Ich wußte immer, daß Ihr es in Euch habt.«

»Ich bin halb tot, und er macht Witze über mich«, stöhnte Julian. »Irgend jemand soll ihn für mich verprügeln.«

Alle lachten, selbst Julian, während sie sich auf Finlay stürzten.

Und das war das Ende ihrer Mission auf Shannons Welt, die fälschlicherweise auf den Namen Hakeldamach umgetauft worden war, den Blutacker. Menschen und Spielzeuge feierten gemeinsam bis tief in die Nacht, und sie sangen und tanzten im Licht der zahlreichen Feuer und Fackeln und dem gelegentlichen Licht des mützentragenden Mondes. Dicke Wolken leuchtender Geister schwärmten aus der Nacht herab und sangen ihre Lieder. Reineke Bär und der Seebock tanzten Pfote in Pfote um die Feuer und waren zufrieden, daß sie endlich die Wahrheit über sich selbst herausgefunden hatten. Und Halloweenie, der kleine Skelettjunge, saß auf Harkers Thron, trommelte mit seinen knochigen Hacken auf das Holz und träumte davon, wie es wäre, mehr zu sein als nur ein kleiner Junge.

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