SIMON R. GREEN Über das abenteuerliche Leben des OWEN TODTSTELTZER Der Legende dritter Theil TODTSTELTZERS KRIEG

KAPITEL EINS DER KAMPF UM DIE NEBELWELT

Jedes Imperium braucht eine Müllkippe. Einen Ort irgendwo weitab in einer finsteren Ecke, wohin es die Tunichtgute und Querulanten abschieben kann. Imperatorin Löwenstein XIV hatte die Nebelwelt, einen kalten, unwirtlichen Felsen weit außerhalb der üblichen Verkehrswege und so gut wie ausschließlich von Verrätern, Kriminellen und Spitzbuben bevölkert, die von ihrem Glück verlassen worden waren – und von geflohenen imperialen Espern. Löwenstein tolerierte die Existenz der Nebelwelt in ihrem mit harter Hand geführten Reich nur aus einem Grund: Sie wußte stets, wo ihre faulen Äpfel zu finden waren.

Natürlich hätte es Löwenstein vorgezogen, sie alle umzubringen; doch ihre Ratgeber waren weiser. Sie wußten, daß Verbannte insgesamt betrachtet weit weniger Schwierigkeiten bereiten als Märtyrer. Mit den Jahren jedoch wurde die Nebelwelt zu einem Zufluchtshafen für alle Arten von Rebellen und Gesetzlosen, und was einst als nützliche Müllkippe angefangen hatte, entpuppte sich zusehends als ein aufsässiger, giftiger Dorn in der Seite von Löwensteins Reich. Löwenstein gab Befehl, diesen Dorn zu entfernen – wenn es sein mußte, mit Gewalt –, nur um festzustellen, daß der Planet in der Zwischenzeit durch einen psionischen Schild geschützt wurde, erzeugt durch die Kräfte zahlreicher Esper – einen Schild, der mehr als ausreichte, um alles abzuwenden, was Löwensteins Imperiale Flotte auf ihn schleudern konnte.

So kam es, daß die Nebelwelt – trotz aller finsteren Ränkeschmiede Ihrer Kaiserlichen Majestät – zum einzigen überlebenden Rebellenplaneten im gesamten Imperium wurde, zum einzigen Planeten, der sicher war vor Löwensteins Wut.

Jedenfalls dachten seine Bewohner das.

Die Sonnenschreiter II kam aus dem Hyperraum und fiel in einen Orbit um die Nebelwelt. Die lange schlanke Yacht glitzerte nur so vor Ortungsantennen, doch es gab nirgendwo in der Umgebung Imperiale Sternenkreuzer. Das Imperium hatte gelernt, einen Sicherheitsabstand einzuhalten. Es gab nur das einzelne, golden glänzende Schiff, das lautlos über einer kalten, eintönigen Kugel hing.

Owen Todtsteltzer hatte es sich in der Lounge der Sonnenschreiter II auf einem Sessel bequem gemacht und war dankbar für die Ruhe. Und für die Tatsache, daß wenigstens im Augenblick – niemand auf ihn zu schießen versuchte .

Owen hatte gelernt, die stillen Momente im Leben zu genießen – und wenn auch nur aus dem einen einzigen Grund, daß es so wenige davon gab .

Er hatte die erste Sonnenschreiter bei einer Bruchlandung auf dem Planeten Shandrakor verloren, doch die Hadenmänner hatten das Schiff nach Owens Instruktionen rekonstruiert – um den Hyperraumantrieb herum, den sie aus dem Wrack der ursprünglichen Sonnenschreiter geborgen hatten. Es war ein ganz besonderer Hyperraumantrieb: Einer der Prototypen des neuen Motors, den das Imperium gegenwärtig in Massenproduktion zu fertigen versuchte, und der – für den Augenblick zumindest – ein ganzes Stück schneller war als alles, was das Imperium aufzubieten hatte.

Theoretisch zumindest.

Die Yacht selbst sah fast genauso aus, wie Owen sein altes Schiff in Erinnerung hatte, und sie war mit dem gleichen ursprünglichen Luxus und Überfluß ausgestattet – auch wenn die Hadenmänner der Versuchung nicht hatten widerstehen können, einige Dinge im Verlauf der Konstruktion zu verbessern.

Und manchmal verdeutlichten ihre Vorstellungen von Verbes-serung nur, wie sehr sich die aufgerüsteten Männer von Haden bereits von der Menschheit entfernt hatten. Owen konnte mit Türen umgehen, die in soliden Wänden erschienen, sobald er sich näherte. Er mochte auch die Beleuchtung, die sich automatisch ein- und ausschaltete, ohne daß man es befehlen mußte; aber Kontrollen, die nur durch Gedankenbefehl funktionierten, führten wirklich zu weit. Nach ein paar Beinahe-Katastrophen, weil seine Gedanken im entscheidenden Augenblick abge-schweift waren, hatte sich Owen fest vorgenommen, die Steuerung des Schiffs in Zukunft den Schiffslektronen zu überlassen.

Die Hadenmänner hatten auch einige Details der Innenaus-stattung falsch interpretiert – Kleinigkeiten, die Owen trotz allem beunruhigten: Böden, die aus keinem erkennbaren Grund schief waren oder sich wölbten, Sitze, die sich einer nicht ganz korrekten Körperform anpaßten, Lichter und Farben, die das menschliche Auge als unterschwellig unangenehm empfand.

Owen hob seine neue linke Hand und betrachtete sie nachdenklich. Das goldene Metall der künstlichen Hand, das andere Geschenk, das die Hadenmänner ihm gemacht hatten, leuchtete warm im Licht der Schiffslounge. Owen hatte die Vorstellung zunächst nicht gefallen, in derart intimem Kontakt mit Hadenmann-Technologie zu stehen, doch nachdem er seine echte Hand in den riesigen Kavernen unter der Wolflingswelt im Kampf mit dem Grendel verloren hatte, war ihm keine andere Wahl geblieben, als das Geschenk dankbar anzunehmen. Es war eine gute Hand; stark und reaktionsschnell und praktisch unverwundbar, und wenn sie sich auch die ganze Zeit ein wenig kalt und nicht ganz wie seine eigene Hand anfühlte, so konnte er doch sehr gut damit leben. Owen streckte langsam die goldenen Finger und bewunderte ihre flüssige Eleganz. Er vertraute der Hand, weil er mußte; bei seinem neuen Schiff war das allerdings anders. Die Hadenmänner mochten für den Augenblick seine Verbündeten sein, doch ein Volk, das einst offiziell den Titel Feinde der Menschheit getragen hatte – und das mit gutem Grund –, mußte trotz aller Geschenke mit Mißtrauen betrachtet werden. Es bestand immer die Möglichkeit, daß die Hadenmänner ihre eigenen, dunklen Pläne verfolgten und die Mittel zu ihrer Umsetzung in Owens Schiff, in den Verbesse-rungen und vielleicht sogar in seiner künstlichen Hand verborgen hatten.

Owen seufzte. Das Leben war nicht immer so kompliziert gewesen. Er betrachtete das Bild, das der Spiegel in der Wand hinter ihm zeigte: Ein Mann Mitte Zwanzig erwiderte brütend seinen Blick. Er war groß und langgliedrig mit dunklem Haar und noch dunkleren Augen. Ein Mann, der harte Zeiten hinter sich hatte – und wahrscheinlich noch härtere vor sich. Vor noch gar nicht so langer Zeit war Owen Todtsteltzer ein einfacher Gelehrter gewesen , ein unbedeutender Historiker, der nur für sich selbst von Bedeutung gewesen war. Dann hatte Löwenstein ihn ausgestoßen und ihn als Verbrecher gebrand-markt, und Owen war keine andere Wahl geblieben, als zum Rebell und Kämpfer zu werden. Die Hadenmänner hatten ihn Erlöser genannt, und die Untergrundbewegung nannte ihn die Letzte Hoffnung der Menschheit. Owen glaubte nicht ein Wort von alledem.

Das Klimpern von Glas riß ihn aus seinen Gedanken, und Owen blickte liebevoll zu Hazel d’Ark hinüber, die auf der Suche nach etwas halbwegs Trinkbarem die Flaschen des Barschranks durchwühlte. Owen wußte, wie Hazel sich fühlen mußte. Die Hadenmänner hatten sich die größte Mühe mit den Nahrungssynthetisierern gegeben , doch die verschiedenen al-koholischen Getränke , die sie zustande gebracht hatten, schmeckten allesamt gleich abscheulich. Was Hazel allerdings nicht davon abhielt, sie zu trinken… wenngleich sie beharrlich versuchte, eine Mischung zu finden, die in ihr nicht den Drang erweckte, das Zeug auf der Stelle wieder auszuspeien. Owen bewunderte sie für ihre Geduld und wünschte ihr im stillen viel Glück. Was ihn jedoch persönlich betraf – er hätte die Flaschen noch nicht einmal angerührt, wenn ihm jemand eine geladene Pistole an den Kopf gehalten hätte.

Owen betrachtete Hazel. Er bewunderte ihr schmales, spitzes Gesicht und die lange Mähne aus aufreizend rotem Haar. Nach konventionellen Maßstäben konnte man sie zwar nicht als schön bezeichnen, aber Hazel war in nichts konventionell, wenn sie etwas daran ändern konnte.

Bevor sie zu den Rebellen stieß, war sie Piratin gewesen, Söldnerin, Klonpascherin – und das waren nur die Dinge, die sie zugegeben hatte. Sie war gut mit dem Schwert, doch sie zog Pistolen vor, und zwar so viele wie möglich. Und seitdem sie und Owen das gewaltige Lager voller Projektilwaffen im Arse-nal der Todtsteltzer-Fluchtburg entdeckt hatten, hatte Hazel es sich angewöhnt, sich so viele Pistolen und Gewehre samt Munition umzuhängen oder in die Taschen zu stopfen, wie sie nur tragen konnte.

Owen glaubte, daß sie das schiere Gewicht als beruhigend empfand. Owen hingegen beunruhigte es eher – vor allem Hazels Neigung, recht leichtfertig mit den Sicherungshebeln umzugehen.

Er seufzte leise und trommelte mit den Fingern auf die Lehnen seines Sessels, während er darauf wartete, daß die das Schiff steuernden Lektronen der Hadenmänner mit ihren Sicherheitsüberprüfungen fertig wurden. Rein technisch gesehen, vertraute er sein Leben dem störungsfreien Funktionieren der KIs an, welche die Hadenmänner eingebaut hatten – was absolut überhaupt nichts mit seinem Drang nach Sicherheit und Unversehrtheit zu tun hatte. Andererseits hatten Owen natürlich auch keine große Wahl. Irgend jemand mußte das Schiff steuern, und das war ganz bestimmt nicht Owen Todtsteltzer.

Die zahlreichen verschiedenen Systeme eines Raumschiffs im Griff zu haben war harte Arbeit, die viel Geschick erforder-te, und wenn Owen sich nach Arbeit gesehnt hätte, wäre er nicht als Aristokrat zur Welt gekommen.

Die ursprüngliche Sonnenschreiter war von der Familien-KI Ozymandius gesteuert worden, doch Ozymandius hatte sich als Verräter in den Diensten des Imperiums entpuppt. Er hatte geheime Kontrollworte benutzt, um Owen gegen seine Freunde kämpfen zu lassen, und Owen war keine andere Wahl geblieben, als Ozymandius zu zerstören obwohl die KI schon viel länger als alle anderen sein Freund gewesen war.

Owen hatte auch seine Konkubine töten müssen, als sie auf Befehl des Imperiums versucht hatte, ihn zu ermorden. Man konnte einfach niemandem mehr trauen in diesen Tagen.

Wahrscheinlich nicht einmal der Frau, die man liebte… Owen riß seinen Blick von Hazel los und konzentrierte sich in einer bewußten Anstrengung auf etwas anderes. Wenigstens hatten die Hadenmänner diesmal die Toiletten richtig konstruiert. Ihre früheren diesbezüglichen Experimente waren ein wenig… kläglich gewesen. Offensichtlich hatten Hadenmänner keinen Bedarf für derartige Unwichtigkeiten – was Owen ein gutes Stück mehr über die Natur seiner unsicheren Verbündeten verriet, als er eigentlich wissen wollte.

Hazel schlenderte herbei, einen Drink in der Hand. Die Flüssigkeit war von einem blassen Blau, und sie sah aus, als wollte sie aus dem Glas klettern. Mit einem wenig damenhaften Grunzen ließ sich Hazel in den Sessel Owen gegenüber fallen und machte es sich bequem. Sie liebte Luxus, kleinen wie großen, und hauptsächlich deswegen, weil sie in ihrem Leben bisher so wenig davon gekannt hatte. Sie nahm einen großen Schluck von ihrem Drink, verzog das Gesicht – und schluckte trotzdem.

Hazel ließ niemals ein volles Glas stehen. Es war eine Frage des Prinzips. Owen hatte ein Grinsen unterdrücken müssen, als Hazel es ihm erklärt hatte. Er hatte nicht gedacht, daß Hazel überhaupt wußte, was ein Prinzip war. Selbstverständlich hatte Owen genügend Verstand besessen, ihr das nicht laut zu sagen.

»Und wie schmeckt das Zeug diesmal?« erkundigte er sich wohlgesonnen.

»Glaub mir, du willst es gar nicht wissen«, entgegnete Hazel.

»Die Tatsache, daß ich es überhaupt trinke, ist ein Zeichen, wie unendlich ich mich langweile. Wie lange denn noch, bis wir endlich landen können?«

»Nicht mehr lange, Hazel. Freut Ihr Euch darauf, wieder in Eurem angestammten Revier zu sein?«

»Nicht wirklich, Todtsteltzer. Nebelhafen ist gefährlich, heimtückisch und verflucht kalt, und das nur an den besseren Tagen. Ich kenne tollwütige Ratten mit blutenden Hämorrhoi-den, die freundlicher sind als ein durchschnittlicher Nebelweltler. Ich kann einfach nicht glauben, daß ich mich vom Untergrund dazu habe überreden lassen, in dieses Höllenloch zu-rückzukehren.«

Owen zuckte die Schultern. »Wer sonst, wenn nicht wir, Hazel? Irgend jemand muß schließlich den Untergrund beim Rat von Nebelwelt repräsentieren, und Ihr und ich kennen die Lage vor Ort besser als jeder andere, den sie hätten schicken können.

Laßt den Kopf nicht hängen, Hazel. Diesmal wird es bestimmt nicht so schlimm werden wie bei unserem letzten Besuch – glaube ich. Wir alle sind ein gutes Stück stärker und gerissener als beim letzten Mal.«

Hazel runzelte die Stirn. »Jepp. Deswegen wollte ich sowieso mal mit dir reden. Als dieses Hologramm von einem Blutläufer mich in seinem Labor auseinandernehmen wollte, hast du ihn über Lichtjahre hinweg gepackt und in Stücke gerissen. Einfach durch die Kraft deiner Gedanken. Ich wußte nicht, daß du diese Art von Macht besitzt, Todtsteltzer. Ich jedenfalls hab’ sie nicht.«

»Ich wußte ebenfalls nichts davon, Hazel, bis ich sie benötigte . Unser Aufenthalt im Labyrinth des Wahnsinns hat uns weit mehr verändert, als wir zuerst dachten. Wir sind anders geworden.«

»Der Klang deiner Worte gefällt mir nicht, Todtsteltzer. Wo hören die Veränderungen auf? Sind wir noch Menschen? Oder enden wir am Schluß wie die Hadenmänner, so verschieden von dem, was wir einmal waren, daß wir genausogut Fremdwesen sein könnten?«

Owen zuckte erneut die Schultern. »Ich weiß nicht mehr als Ihr. Ich denke, wir sind so menschlich, wie wir sein wollen.

Unser Menschsein liegt schließlich nicht in dem begründet, was wir tun, sondern wie wir es tun. Außerdem bin ich noch gar nicht sicher, ob unsere Fähigkeiten von Dauer sind. Sie scheinen zu kommen und zu gehen. Wir hatten eine Verbindung untereinander, eine Art mentaler Kopplung zwischen all denjenigen, die das Labyrinth des Wahnsinns durchschritten haben, doch diese Verbindung ist gerissen, als wir uns getrennt haben und unserer eigenen Wege gegangen sind.

Und jetzt kann ich nicht einmal mehr Euch spüren, Hazel.

Spürt Ihr mich noch in Eurem Verstand?«

»Nein«, antwortete Hazel. »Schon seit einiger Zeit nicht mehr.«

»Das könnte mein Fehler sein«, sagte Ozymandius in Owens Ohr. »Vielleicht stört meine Anwesenheit die Schwingungen zwischen euch.«

»Halt den Mund, Ozymandius«, murmelte Owen lautlos. »Du bist tot. Ich habe dich zerstört.«

»Das hättest du wohl gerne. Nein, ich bin noch immer bei dir, um dich zu beraten und um dich durch die kleinen Widrigkei-ten des Lebens zu leiten, Owen.«

»Die einzige kleine Widrigkeit, die mir gegenwärtig zu schaffen macht, ist diese maulende KI in meinem Ohr«, entgegnete Owen. »Würde ich einen guten Kyberdruiden kennen, hätte ich dich längst exorziert. Wer oder was auch immer du bist, ich brauche deine Hilfe nicht. Ich kann ganz hervorragend allein auf mich aufpassen.«

»Also bitte, du undankbarer kleiner Rotz! Wären nicht meine Berechnungen gewesen, wärst du niemals lebendig von Virimonde entkommen, als deine eigenen Sicherheitsleute wegen des auf dich ausgesetzten Kopfgelds hinter dir her waren!

Weißt du, was dein Problem ist? Du bist undankbar. Sieh doch zu, wie du allein zurechtkommst! Ich ziehe mich zum Schmollen zurück.«

Hazel beobachtete Owen unauffällig. Der Todtsteltzer war wieder einmal unvermittelt still geworden. Seine Augen blickten in eine unbestimmte Ferne. Das machte er in letzter Zeit häufiger, und er schaffte es jedesmal, sie damit zu ärgern – und das, obwohl sie vom Beginn ihrer zögerlichen Partnerschaft an gewußt hatte, daß er ein zerstreuter, nachdenklicher Bursche war. Hazel hatte stets an die Tugend des schnellen Handelns geglaubt, vorzugsweise mit einem Schwert oder einer Pistole in der Hand. Mach zuerst sicherheitshalber alle nieder, und denk er s t später über die Konsequenzen nach – wenn überhaupt. Sie fragte sich, was Owen von ihr denken würde, sollte er herausfinden, daß sie wieder Blut nahm.

Blut. Die gefährlichste der Menschheit bekannte Droge. Extrem suchterzeugend. Seelenzerstörend. Sie kam von den anderen aufgerüsteten Männern, den Wampyren, einer der weniger erfolgreichen Versuche des Imperiums, Terrortruppen zu erschaffen. In den Adern der Wampyre floß synthetisches Blut, das sie stärker, schneller und fast unbesiegbar machte. Schon ein paar Tropfen dieses Blutes konnten einen gewöhnlichen Menschen dazu bringen, sich – zumindest für eine Weile – genauso zu fühlen: gerissen und voller unerschütterlichem Selbstvertrauen. Und genau das brauchte Hazel in letzter Zeit mehr und mehr. Sie war schon einmal von dieser Droge abhängig gewesen, in ihren frühen Tagen auf Nebelwelt. Sie hatte die Sucht besiegt, obwohl der Entzug sie fast das Leben gekostet hätte. Seither hatte sie sich in beinahe jeder Hinsicht verändert, und nur wenige dieser Veränderungen gefielen ihr.

Hazel hatte nie daran gedacht, Rebell zu werden. Sie hatte sich immer nur nach einem behaglichen Leben gesehnt, weiter nichts – nach einem Leben, frei von Hunger und von Gefahr.

Ihre beste Zeit hatte sie als Trickbetrügerin gehabt. Damals hatte sie reiche Blutsauger um ihre unrechtmäßigen Gewinne erleichtert und war in der Nacht verschwunden, bevor ihre Opfer realisieren konnten, daß sie hinters Licht geführt worden waren. Hazel hatte noch nie in ihrem Leben für etwas anderes gekämpft als für Geld. Bar auf die Hand. Sie hatte noch nie jemand anderem als sich selbst vertraut. Und jetzt war sie eine der wichtigsten Figuren der neuen Rebellion. Sie war Zielscheibe für jeden verdammten Kopfgeldjäger und Meuchelmörder des Imperiums, und ständig wurde sie um ihre Meinung oder Vorschläge in Angelegenheiten gefragt, von denen sie nicht die geringste Ahnung hatte.

Zum ersten Mal in ihrem Leben hingen Leben und Zukunft zahlloser Menschen von Hazels Aktionen und Entscheidungen ab – und das bedeutete jede Menge Streß und neue Unsicherheit. Alles , was sie tat oder unterließ, zog Konsequenzen nach sich. Es war unerträglich. Der Druck lastete schwer auf Hazel und verdrängte jeden klaren Gedanken. Bisweilen wurde er sogar derart stark, daß sie weder essen noch schlafen konnte .

Und deshalb hatte sie auch Blut genommen. Zunächst nur einen Tropfen, und nur hin und wieder, wenn es gar nicht anders ging. Die Hadenmänner hatten ihr nur allzu bereitwillig so viel davon gegeben, wie sie wollte. Hazel hatte nicht gefragt, woher es stammte. Und jetzt stand sie im Begriff, auf Nebelwelt zu landen, wo Blut weit verbreitet war.

Hazel wollte nicht wieder süchtig werden. Sie wollte nicht wieder zu einem Plasmakind werden, mit dem einen, alles be-herrschenden Gedanken an das Blut und der verzehrenden Sucht danach und dem Bewußtsein, daß es sie langsam zerstör-te. Hazel widersetzte sich allem, das Macht über sie auszuüben versuchte. Sie hatte die Sucht schon einmal besiegt , und sie würde es wieder tun. Schließlich benötigte sie nur hin und wieder einen Tropfen , weiter nichts. Nur eine klitzekleine Kleinigkeit , damit sie besser mit dem Streß fertig wurde. Sie blickte Owen an , und preßte die Lippen zusammen. Sie wußte , warum die mentale Verbindung zu Owen abgerissen war. Das Blut störte. Es trennte sie voneinander. Hazel konnte es ihm nicht sagen. Owen würde es nicht verstehen.

Plötzlich wurde die Tür der Lounge geöffnet, und Hazels und Owens Mitrebellen auf dieser Mission spazierten herein. Sie redeten demonstrativ kein Wort miteinander, wie immer. Der neue Jakob Ohnesorg – Jung Jakob, wie Owen ihn bei sich nannte – war groß, muskulös und teuflisch hübsch anzusehen mit schulterlangem, dunklem Haar, das stets so aussah, als sei es eben erst dauergewellt worden. Owen mußte ihn nur ansehen, um sich klein und schwächlich zu fühlen. Ohnesorg steckte in einer silber-goldenen Kampfrüstung, als sei er darin geboren worden. Er erweckte den Eindruck von Kraft, Weisheit, Selbstvertrauen und Güte. Ein geborener Führer, ein charisma-tischer Kämpfer, ein Held aus den Legenden und insgesamt ein gutes Stück zu jung für das alles. Er war aus dem Nichts gekommen, genau in dem Augenblick, in dem die Rebellion jemanden wie ihn am dringendsten gebraucht hatte, und Owen traute ihm nicht über den Weg.

Zusammen mit Hazel hatte Owen vor einiger Zeit in der Stadt Nebelhafen nach dem legendären Berufsrebellen Jakob Ohnesorg gesucht. Sie hatten einen gebrochenen alten Mann gefunden, der sich vor seiner Vergangenheit versteckt hatte, und sie hatten ihn aus seinem Loch gezerrt, weil die Rebellion den Namen brauchte, wenn schon nicht den Mann. Ohnesorg hatte neben ihnen gekämpft, war mit ihnen durch das Labyrinth des Wahnsinns gegangen, hatte sich zusammen mit ihnen einer gewaltigen Übermacht Imperialer Truppen gestellt und hatte gemeinsam mit Owen, Hazel und den anderen gesiegt. Owen hatte an ihn geglaubt, und er war stolz darauf gewesen, ihn einen Freund nennen zu dürfen. Der alte Mann hatte gerade angefangen, wieder zu der Legende von einst zu werden, als plötzlich dieser junge Riese auf der Bildfläche erschienen war und behauptet hatte, der echte Jakob Ohnesorg zu sein – mit dem Ergebnis, daß Owen nun nicht mehr wußte, wem von beiden er Glauben schenken sollte.

Jung Jakobs letzte Schlacht hatte zwei Jahre zuvor auf der Winterwelt Vodyanoi IV stattgefunden. Wie üblich hatte er eine Menge Lärm veranstaltet und eine Armee aus Anhängern ausgehoben – allerdings nur, um einmal mehr in den Hintern getreten zu werden, als er sich plötzlich gut ausgebildeten Imperialen Stoßtruppen gegenübergesehen hatte. Seine Freunde hatten ihn im letzten Augenblick herausgeschmuggelt, und so war er nicht zugegen gewesen, als seine Anhänger niedergemetzelt oder gefangengenommen worden waren. Seine Rebellion hatte wieder einmal verloren, doch die Legende hatte überlebt.

Hätte nur der alte Jakob Ohnesorg nicht dagegengehalten, daß alles gelogen gewesen sei. Nach seiner Version hatte er seine letzte Schlacht auf Eisfels geschlagen, und zwar schon mehrere Jahre zuvor, und seine Streitkräfte hatten eine schändliche Niederlage erlitten. Er selbst war von Imperialen Truppen gefangengenommen worden. Er hatte lange Zeit in Verhörzellen zugebracht, war gefoltert worden, und die Imperialen Hirntechs hatten ihn einer gründlichen Gehirnwäsche unterzogen, bis es seinen Freunden eines Tages gelungen war, in sein Ge-fängnis einzudringen und ihn zu befreien. Sie hatten ihn in die Sicherheit der Nebelwelt geschmuggelt, wo Jakob Ohnesorg seinen Namen und seine Legende aufgegeben hatte, um fortan als graues Gesicht in der Menge zu leben, versteckt und sicher vor Bittstellern oder Verantwortung.

Allerdings… Jakob Ohnesorg, der Berufsrebell, war während dieser Zeit auf verschiedenen Welten aktiv in Erscheinung getreten. Also: Wer erzählte die Wahrheit, und wer log? Wer war der Echte Jakob Ohnesorg? Der ältere Jakob gab zu, daß die Imperialen Hirntechs während der Monate seiner Gefangenschaft ganze Arbeit an ihm geleistet und seine Gedanken und Erinnerungen manipuliert hatten, während sie seinen Willen Tag für Tag ein weiteres Stück brachen. Vielleicht hatten sie ihm auch nur eingeimpft, er sei der berühmte Berufsrebell gewesen; während er in Wirklichkeit nur ein Niemand war, den das Imperium geformt hatte, um als gebrochener Mann für Propagandazwecke herzuhalten. Wie bei so vielen anderen Dingen auch, so wußte Owen auch in diesem Fall nicht mehr, was er glauben sollte und was nicht. Wenigstens besaß der Alte Jakob mehr oder weniger das richtige Alter, während Jung Jakob aussah, als wäre er höchstens Ende Zwanzig. Er war in Höchstform. Zweifellos hätten die vielen Jahre der Rebellion einige Spuren bei ihm hinterlassen müssen, und zwar trotz seines – wie er behauptete – ausgiebigen Gebrauchs von Regenerationsmaschinen. Der Untergrund hatte sich außerstande gesehen, sich für den einen oder anderen zu entscheiden. Der Alte Jakob nahm für sich in Anspruch, der Mann mit der Erfahrung zu sein. Jung Jakob hingegen sah um einiges überzeugender aus. Also war der Untergrund darin übereingekommen, für den Augenblick beide Jakobs zu akzeptieren, und hatte sie auf getrennte Missionen geschickt, damit sie sich in Aktion beweisen konnten.

Der Alte Jakob war beauftragt worden, den Bergbauplaneten Technos III aufzuwiegeln, und Hazel und Owen mußten wohl oder übel Jung Jakob in ihrem Team aufnehmen, trotz aller lautstarken Proteste. Jung Jakob hatte alles mit einem gotterge-benen Lächeln über sich ergehen lassen – was ihn in Owens Augen noch weniger vertrauenswürdig erscheinen ließ. Traue niemals einem Mann, der zuviel lächelt, hatte sein Vater stets gesagt. Das ist nicht normal. Nicht in diesen Tagen. Hazel war – wenn das überhaupt ging – noch weniger von dem Neuzugang beeindruckt als Owen, und sie hatte dem Mann auch ins Gesicht gesagt, daß sie ihn für einen Lügner und Hochstapler hielt. Jung Jakob hatte weiter gelächelt und geantwortet, daß er auf eine Gelegenheit hoffe, um ihr seinen Wert beweisen zu können. Hazel hatte daraufhin erwidert, daß sie ihm seinen Finger zu fressen geben würde, sollte er es wagen, sie auch nur anzurühren. Jung Jakob hatte wohlgelaunt gekichert und er-klärt, daß sie sehr hübsch sei, wenn sie wütend wäre. Owen hatte Hazel festhalten müssen, bis der rote Nebel vor ihren Augen wieder verschwunden war.

Der andere Neuzugang war der Esper, der unter dem Namen Johana Wahn bekannt war. Sie hatte sich der Gruppe aufge-drängt, die zur Nebelwelt gehen sollte, mit der Begründung, daß ein Planet, der größtenteils von abtrünnigen Espern bewohnt wurde, sicherlich die letzte Manifestation des ÜberEspers Mater Mundi, die Heilige Mutter Aller Seelen, kennenlernen wollte, die eigenhändig die Große Flucht der Esper aus der Hölle des Wurmwächters ermöglicht hatte. Auf den ersten Blick war Johana durchaus unscheinbar. Sie war klein und blond und besaß ein blasses geisterhaftes Gesicht, das von riesigen blauen Augen beherrscht wurde. Sie hatte einen breiten Mund und ein merkwürdig beunruhigendes Lächeln, das mehr Zähne als Humor zeigte. Ihre Stimme klang rauh und wenig anziehend, denn ihre Kehle hatte unter dem fortwährenden Schreien in den finsteren Zellen von Silo Neun gelitten.

Bevor der Untergrund Johana Wahn als Verdeckte Agentin in die Hölle des Wurmwächters gesandt hatte, war sie nichts weiter als ein ganz gewöhnlicher Esper gewesen. Nachdem Mater Mundi in sie gefahren war, hatte sie sich jedoch über Nacht zu einem Esper mit ganz außergewöhnlichen Kräften entwickelt.

Ihre bloße Gegenwart brachte die Luft ringsum zum Knistern, ein Phänomen, das jeder in ihrer Nähe spürte. Einst war sie nichts weiter als eine schwache Telepathin gewesen, doch nun war sie im Besitz jeder nur denkbaren Esperfähigkeit – eine Begabung, die bisher als unmöglich gegolten hatte. Obwohl natürlich niemand so dumm war, etwas Derartiges in Gegenwart von Johana Wahn zu sagen. Die meisten Leute besaßen genug Verstand, ihr nicht einmal nahe genug dafür zu kommen.

Johana Wahn respektierte Owen und Hazel wegen der Kraft, die sie der Rebellion gegeben hatten. Da ihre Persönlichkeit sich allerdings mitten im Satz von der relativ unauffälligen Johana in den wirklich beunruhigenden Wahn verwandeln konnte, fanden die beiden es andererseits äußerst schwierig, nähere Bekanntschaft mit ihr zu schließen. Immerhin bemühten sich Owen und Hazel um Nachsicht. Schließlich hatte Johana Wahn sich freiwillig gemeldet und in Silo Neun einsperren lassen. Die Hölle des Wurmwächters hätte jedermann zerbrechen können. Was half, war die Tatsache, daß Johana Wahn dem jungen Jakob Ohnesorg ebenfalls nicht traute. Vielleicht nur, weil sie den unablässigen Wettstreit im Heischen um Aufmerksamkeit mißbilligte.

Sie verharrte kurz im Eingang und wartete, bis alle Augen auf sie gerichtet waren, dann stolzierte sie quer durch die Lounge zum letzten freien Sessel und ließ sich darauf nieder wie auf einem Thron. Jung Jakob blieb an der Tür stehen und verfiel in seine natürliche Heldenpose. Johana ignorierte ihn mit großartiger Nonchalance. »Wie lange noch, bis wir landen?« erkundigte sie sich eisig.

»Jetzt fangt nicht auch noch so an«, beschwerte sich Owen.

»Selbst mit dem neuen Antrieb dauert es noch eine gewisse Zeit, um von einer Seite des Imperiums zur anderen zu gelangen.«

»Tatsächlich befinden wir uns schon seit gut zwanzig Minuten im Orbit um Nebelwelt«, raunte Ozymandius in seinem Ohr.

»Was?« brauste Owen unhörbar auf. »Warum hat mir die KI des Schiffs nichts davon gesagt?«

»Du hast sie nicht dazu aufgefordert. Schließlich ist sie nicht annähernd so komplex wie meine Wenigkeit.«

»Und warum hast du mir nicht gesagt, daß wir angekommen sind?«

»Wer, ich? Ich bin tot, oder hast du das vergessen? Es liegt mir fern, mich aufzudrängen, wenn meine Gegenwart nicht erwünscht ist.«

Owen unterdrückte einen resignierten Seufzer und blickte zu seinen Kameraden. »Wie es scheint, befinden wir uns zur Zeit in einem Orbit um unser Ziel. Bisher wurden wir nicht beschossen. Hazel, Ihr kennt diese Leute am besten von uns. Öffnet einen Kommunikationskanal, und findet heraus, welchen exorbitanten Preis sie diesmal für unsere Landung verlangen.«

Hazel grunzte wenig begeistert und stemmte sich aus ihrem Sessel . Sie ließ sich Zeit, und wegen des Gewichts der vielen Projektilwaffen, die sie ständig mit sich herumschleppte, kostete es sie einiges an Mühe. Ohne ersichtliche Eile schlenderte sie zu den Kommunikationsinstrumenten und setzte einen Ruf an die Raumüberwachung von Nebelhafen ab. Es gab nur eine einzige Stadt und einen einzigen Raumhafen auf der Nebelwelt, und das war Nebelhafen. Ein wilder und verwirrender Ort, den man nicht ohne Einladung besuchte – wie das Imperium bereits mehrmals schmerzhaft herausgefunden hatte.

Während Hazel mehr oder weniger geduldig darauf wartete, daß ihr jemand antwortete, blickte sich Owen unter seinen Kameraden um. Er rutschte unruhig in seinem Sessel hin und her, als er bemerkte, daß Johana Wahn ihn schon wieder beobachtete. Ihr ESP ließ sie ahnen, welch gewaltigen Veränderungen in Owen und Hazel vorgegangen waren; doch es reichte nicht aus, um ihr zu verraten, was für Veränderungen das waren. Johana Wahn spürte, daß Hazel und Owen auf eine eigene Weise genauso mächtig waren wie sie selbst. Sie schien sich nicht schlüssig darüber zu sein, ob sie sich fürchten oder ob sie beeindruckt oder eifersüchtig sein sollte. Owen hatte ihre Unsicherheit ausgenutzt und sie dazu überredet, unauffällig den Geist Jung Jakobs zu sondieren und herauszufinden, was sich darin verbarg.

Zu ihrer beider Überraschung hatte sich herausgestellt – jedenfalls soweit es Johanas ESP betraf –, daß es keinen Geist gab. Das bedeutete entweder, daß Jung Jakob eine erstaunlich mächtige mentale Abschirmung besaß, oder… Bisher waren sie nicht auf ein entweder oder gestoßen, das ihnen auch nur halbwegs gefiel.

Owen wich Johanas brennendem Blick aus. Als gäbe es nicht schon genug Dinge, die ihm Sorgen bereiteten.

»Hallo, Sonnenschreiter II«, erklang eine müde Stimme aus dem Lautsprecher des Kommunikationspaneels . »Hier spricht John Silver, Leiter der Raumüberwachung von Nebelhafen.

Hört auf, Eure Ausrüstung zu justieren. Ich habe das visuelle Signal schon wieder verloren. Wenn ich den Piraten in die Finger kriege, der uns diese Schrottsysteme verkauft hat! Ich werde ihm einen doppelten Palstek in die Beine knoten! Willkommen zu Hause, Hazel! Stiehl keine wertvollen Sachen und versuch, diesmal niemand Wichtigen umzubringen, ja? Du kannst dein Schiff landen, wo immer du willst; der Raumhafen ist so gut wie leer. Heutzutage gibt es nicht gerade viel Verkehr in unsere Richtung.«

»Verstanden«, antwortete Hazel. »Laß den Kopf nicht hängen, John. Wir haben den Frachtraum gerammelt voll mit wirklich netten Überraschungen für dich, als da wären: mehr Projektilwaffen und Munition und Sprengstoff, als du dir mit Gewalt sonst wo hinstecken kannst. Genau das, was du brauchst, um Imperialen Spionen und Störenfrieden dein Mißvergnügen deutlich zu machen

»Du hast schon immer die hübschesten Geschenke mitgebracht, Hazel«, erklang die Antwort. »Und jetzt entschuldige mich, wenn ich dich alleine lassen muß. Ich bin völlig erledigt.

Ich habe alle Hände voll zu tun. Die Präkos spielen seit einigen Tagen verrückt. Sie bestehen darauf, daß irgend etwas wirklich Übles in der Luft liegt. Wir können keine Einzelheiten aus ihnen herausholen, die auch nur halbwegs Sinn ergeben… Wie auch immer, ich habe einfach nicht die Zeit, um mich mit einem einzelnen Schiff abzugeben, ganz gleich, ob verbündet oder nicht.«

»Für den Fall, daß er es vergessen hat, Hazel«, sagte Owen.

»Erinnert ihn doch bitte daran, daß wir diesmal nicht als flüchtige Vogelfreie zu ihm kommen. Wir repräsentieren den Untergrund von Golgatha.«

»Schon gut, ich hab’s gehört«, sagte Silvers Stimme. »Ich hätte mir gleich denken können, daß du an Bord bist, Todtsteltzer. Wir haben den Ärger nicht vergessen, den du bei deinem letzten Besuch verursacht hast. Irgend jemand wird dich empfangen, sobald du unten bist, aber erwarte bitte keine Kapelle oder den Goldenen Schlüssel der Stadt. Wir mußten die Instrumente verpfänden, und der Schlüssel hat sowieso nie ge-paßt. Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt. Fangt keinen Ärger an. Und jetzt geht aus der Leitung, damit ich mich wieder auf meine Arbeit konzentrieren kann.«

»Ist das eine typische Begrüßung auf der Nebelwelt?« erkundigte sich Johana Wahn nach einem Augenblick des Schweigens.

»Ja«, erwiderte Hazel. »Unten in Nebelhafen haben sie Paranoia zu einer Kunstform erhoben. Mit gutem Grund übrigens.

Es gibt eine lange Geschichte von schmutzigen Tricks und At-tentaten. Das Imperium versucht seit Ewigkeiten, Nebelhafen zu unterminieren oder den Raumhafen zu zerstören. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit haben sie eine Esperseuche in Gang gesetzt, indem sie einen getarnten Überträger namens Typhus-Marie einschleusten. Eine Menge Leute mußten sterben, bevor die Sicherheit Typhus-Marie endlich entdeckte und festnageln konnte. Nebelhafen hat sich immer noch nicht ganz davon erholt.«

»Sie haben eine Menge durchgemacht«, stimmte Jung Jakob zu. »Wir müssen sie trotzdem von der Wichtigkeit unserer verschiedenen Missionen hier überzeugen. Wir brauchen die Nebelwelt auf unserer Seite, wenn wir die Rebellion gewinnen wollen. Ihre Esper werden eine unbezahlbare Unterstützung sein.«

»Ich bin wirklich froh, daß jemand die Zusammenhänge im Auge behält«, sagte Owen. »Allerdings würde ich an Eurer Stelle nicht so hochtrabend daherreden, sobald Ihr unten seid.

Die Nebelweltler mögen keine langen Reden.«

»Das mußt du ja am besten wissen«, bemerkte Hazel von der Seite.

Die Landeplätze waren praktisch verlassen. Nur eine Handvoll Schmugglerschiffe drängten sich an einem Ende zusammen, als suchten sie gegenseitig Schutz. Die Sonnenschreiter II schwebte gemütlich auf einen freien Platz, der mit flackernden Kero-sinlampen markiert worden war.

Der große Kontrollturm aus Stahlglas war das einzige Zeichen hochentwickelter Technologie auf dem gesamten Raumhafen. Seine hellen elektrischen Lichter schimmerten durch den dichten, wabernden Nebel. Owen ließ die Schiffslektronen alles mit Ausnahme der Sicherheitssysteme abschalten, dann führte er die Gruppe aus dem Schiff und auf das Landefeld.

Die Kälte schnitt ins Fleisch wie ein Messer, als die Rebellen durch die Luftschleuse ins Freie traten. Sie brannte auf den Gesichtern und in den Lungen, während sie sich in ihre dicken Felle kuschelten. Owen schlug seine behandschuhten Hände gegeneinander und schaute sich um. Er hatte ganz vergessen, wie sehr er diese Welt haßte, und nicht allein wegen der Kälte.

Der Nebel war so früh am Morgen am dichtesten, kurz vor dem Aufgang der blassen Nebelweltsonne. Hinter dem Kontrollturm schimmerten schwach die Lichter der Stadt durch sich ständig bewegende graue Wände aus Dunst. Jung Jakob blickte sich gelassen um. Er besaß nicht einmal den Anstand, zusammen mit den anderen vor Kälte zu zittern.

»Hier hat sich kein Stück verändert«, erklärte er. »Kälter als die Brust einer Hexe und noch ein ganzes Stück weniger einladend.«

»Und wann warst du das letzte Mal hier?« erkundigte sich Hazel, ohne sich die Mühe zu machen, ihr Mißtrauen zu verbergen.

»Ich war im Laufe der Jahre mehrere Male hier«, erwiderte Ohnesorg leichthin. »Genaugenommen hat hier alles angefangen. Vor gut zwanzig Jahren versuchte ich, hier eine Armee für die Rebellion auf Lyonesse auszuheben. Ein paar tapfere Seelen schlossen sich unsrer Sache an, doch das war auch schon alles. Ich war damals eben noch nicht so bekannt. Ich hoffe nur, daß ich diesmal mehr Erfolg habe.«

»Aufgepaßt«, sagte Johana Wahn. »Irgend jemand nähert sich. Insgesamt drei Leute. Einer davon ist ein Esper. Ich kann seinen Verstand nicht sondieren.«

»Versuch’s lieber erst gar nicht!« ermahnte Hazel. »Wir sind auf einer Esperwelt. Mentale Privatsphäre wird hier sehr ernst genommen. Ärgere die Mächte, die hier am Werk sind, und wir scharfen deine Überreste in einer Zwangsjacke nach Hause.

Von jetzt an benutzt du dein ESP nur noch, wenn man dich dazu einlädt. Hast du verstanden?«

Johana Wahn zuckte die Schultern. »Ich kann nichts dafür, wenn ihre Bewußtseine die ganze Zeit über geradezu nach mir schreien. Und die Mächte, die hier am Werk sind, täten besser daran, mir nicht in den Weg zu kommen. Ich wurde durch die Mater Mundi transformiert, und es gibt nicht ein einziges Be-wußtsein in dieser Stadt, das mir ebenbürtig wäre

»Damit wäre ja alles klar«, sagte Hazel eisig. »Von jetzt an hältst du dich von uns anderen ein gutes Stück entfernt. Auf diese Weise sind wir wenigstens halbwegs in Sicherheit, wenn dir irgend etwas Schreckliches zustößt was auch immer es sein mag.«

Eine beißende Erwiderung Johana Wahns blieb ihnen erspart, weil plötzlich drei Gestalten aus dem wabernden Dunst traten.

Es gab keine Vorwarnung. Im einen Augenblick sahen sie nichts als Nebel, dann stapften zwei Männer und eine Frau auf sie zu.

Owen empfand diese Tatsache als milde beunruhigend. Normalerweise warnten ihn seine Kräfte rechtzeitig vor Ereignissen wie diesen. Warum, verdammt noch mal, funktioniert es einmal, und dann wieder nicht? Er bemerkte, daß sich seine Hand automatisch auf das Schwert an der Seite gesenkt hatte, und er beeilte sich, sie wieder von dort wegzunehmen. Zwei der Neuankömmlinge kannte er aus den Dateien, die man ihm beim letzten Briefing gezeigt hatte. Der Raumhafendirektor Gideon Stahl war ein kleiner dicker Mann mit ruhigen, beson-nenen Augen und einem beunruhigend zynischen Lächeln. Er war gut gekleidet, wenn auch ein wenig schlampig – einige seiner Felle sahen aus, als hätten sie die Räude. Er war angeblich Mitte Vierzig, doch er sah mindestens zehn Jahre älter aus

–, so wie man halt aussah, wenn man für einen Raumhafen wie Nebelhafen verantwortlich war.

Die Frau neben Stahl hinterließ einen weitaus tieferen Eindruck bei den Wartenden. Sie wirkte ausgesprochen einschüchternd. Trotz der bitteren Kälte war sie nicht in Felle gehüllt, sondern trug lediglich die offizielle Uniform eines Imperialen Investigators. Owen spürte, wie sich Hazel neben ihm versteifte. Er betete, daß sie genug Vernunft besaß, um keinen Streit vom Zaun zu brechen. Investigator Topas war mittelgroß, schlank, attraktiv – und sie besaß kältere Augen, als es der Nebel jemals sein würde. Ihr kurzgeschorenes dunkles Haar verlieh ihren klassischen Gesichtszügen eine ruhige, ästhetische Aura, doch ihre blauen Augen waren die Augen eines Killers.

Allein ihr Anblick reichte, um Owen langsam und ganz, ganz vorsichtig zurückweichen zu lassen. Er wollte sie auf gar keinen Fall provozieren. Owen hatte von Investigator Topas ge-hört. Jeder hatte schon von ihr gehört. Topas war eine Sirene und der einzige Esper, der je zum Investigator ausgebildet worden war. Als sie beschlossen hatte, das Imperium hinter sich zu lassen und zur Nebelwelt aufzubrechen, hatten sie ihr eine ganze Kompanie Wachen hinterhergeschickt, insgesamt fünfhundert Mann. Topas hatte sie mit einem einzigen Lied getötet, als sich ihr ESP und ihre Stimme zu einer tödlichen Macht vereint hatten, die weder aufgehalten noch abgelenkt werden konnte.

In Nebelhafen war sie offiziell nur Sergeant bei den Stadtwachen, doch sie hatte auch ihren alten Titel behalten. Hauptsächlich deswegen, weil sich kein Dummer gefunden hatte, der deswegen mit ihr Streit anfangen wollte. In einer Stadt voller gefährlicher und verzweifelter Individuen gab es niemanden, der sich mit Topas anlegte. Nachdem Owen sie jetzt mit eigenen Augen sah, konnte er auch verstehen warum. Ohne sich umzusehen spürte er, wie Hazel neben ihm sich unruhig rührte wie ein Hofhund, der einen Rivalen roch, und so beschloß er, die Dinge ins Rollen zu bringen, bevor sie eine Gelegenheit hatten, ihm aus der Hand zu gleiten.

»Direktor Stahl und Investigator Topas«, begann er freundlich. »Sehr liebenswürdig von Euch, zu so früher Stunde persönlich herzukommen und uns in Empfang zu nehmen. Darf ich Euch meine Begleiter vorstellen…?«

»Wir wissen, wer Ihr seid«, unterbrach ihn Stahl. »Und wärt Ihr nicht die offiziellen Repräsentanten der Untergrundbewegung Golgathas, hätte ich Euch niemals eine Landeerlaubnis erteilt. Ihr macht immer nur Scherereien, und noch mehr Ärger ist wirklich das letzte, was Nebelhafen im Augenblick gebrauchen kann. Nur zu Eurer Information: Wir sind nicht früh auf-gestanden – wir waren noch gar nicht im Bett. Seit dem Erscheinen der Typhus-Marie und dem Ausbruch der Esperseu-chearbeiten die Überlebenden unter uns in Doppelschichten, um die Dinge irgendwie wieder ans Laufen zu bringen. Außerdem habe ich das Chaos nicht vergessen, das Ihr bei Eurem letzten Besuch hinterlassen habt, Todtsteltzer. Ich sollte Euch die Schäden in Rechnung stellen.«

»Wenn ich die Höhe der Landegebühren bedenke, dachte ich eigentlich, sie seien schon enthalten«, erwiderte Owen mit unerschütterliche Ruhe.

»Und bevor du fragst«, mischte sich Hazel ein, »nein, du kriegst diesmal nicht deine inoffiziellen zehn Prozent Anteil an der Fracht, die wir mit uns gebracht haben. Meinetwegen kannst du jetzt lamentieren . Aber wundere dich nicht, wenn ich dir deswegen an die Kehle springe.«

»Gebt nichts um ihre Worte«, beschwichtigte Owen. »Sie ist nun mal, wie sie ist. Aber was, wenn ich fragen dürfte, verschafft uns die Ehre, von Eurem Komitee in Empfang genommen zu werden, wo wir doch allesamt persona non grata sind?

Höflichkeit gegenüber dem Untergrund?«

»Nein«, entgegnete Topas. Ihre Stimme war so kalt wie ein Grab. »Wir wollten einen Blick auf den legendären Rebellen Jakob Ohnesorg werfen, weiter nichts.«

Ohnesorg bedachte sie mit seinem gewinnendsten Lächeln und verbeugte sich formell. »Erfreut, Eure werten Bekanntschaften zu machen, Investigator und Direktor. Seid versichert, daß ich alles in meiner bescheidenen Macht Stehende unternehmen werde, um dafür zu sorgen, daß unsere geschäftlichen Angelegenheiten leise und unauffällig über die Bühne gehen.

Wir werden alle Beteiligten nicht mehr als unbedingt erforderlich stören. Allerdings mache ich keinen Hehl aus meiner Absicht, die Nebelwelt in den Untergrund und auf die Seite der Rebellion zu bringen. Man hat Euch viel zu lange allein in der Kälte gelassen . Es ist wirklich an der Zeit, daß wir alle zusam-menstehen und den Kampf zum Imperium tragen.«

»Großartig«, sagte Stahl ungerührt. »Noch ein verdammter Held . Hier kommen eine Menge Helden durch, wißt Ihr? Sie kommen und gehen, und niemals ändert sich irgend etwas wirklich.«

»Ah«, entgegnete Jung Jakob und grinste breit. »Aber sie sind nicht Jakob Ohnesorg.«

Zu Owens Überraschung erwiderte Direktor Stahl das Grinsen. Unvermittelt trat Johana Wahn vor. »Für den Fall, daß irgend jemand es vergessen haben sollte: Ich bin auch noch da«, sagte sie laut. »Ich repräsentiere die Weltenmutter, Unsere Mutter Aller Seelen.«

»Na, herzlichen Glückwunsch«, sagte Topas. »Ihr seid schon die zehnte diesen Monat. Es scheint der beliebteste Trickbetrug von ganz Nebelhafen zu sein. Vielleicht deswegen, weil so viele Leute verzweifelt daran glauben möchten. Wärt Ihr nicht bei Jakob Ohnesorg, hätte ich Euch schon aus Prinzip ins Ge-fängnis geworfen. Also haltet Euch besser bedeckt und macht keinen Ärger, ja? Habt Ihr mich verstanden?«

Plötzlich erstrahlten Johanas Augen mit einem inneren Licht wie die Fernscheinwerfer eines Wagens. Freie Energie knisterte und funkte in der Luft ringsum, als sich die Macht in ihr regte. Ihre Gegenwart erfüllte die Luft wie die Flügel eines riesigen Vogels und drängte alle Umstehenden zurück. Irgend etwas lebte tief in Johana Wahn, mächtig und gewaltig und vielleicht nicht ganz menschlich, und es stand im Begriff zu erwachen. Gideon Stahl zog eine Pistole. Investigator Topas öffnete den Mund, um zu singen. Owen und Hazel warfen sich auf Johana Wahn und drückten sie zu Boden. Die Macht in ihr schlug nach den beiden – und wurde von einer noch größeren Macht zur Seite gelenkt und besiegt einer Macht, die noch nicht fokussiert und trainiert war, die aber trotzdem mehr als ausreichte, um einen einfachen Esper zum Verstummen zu bringen, der nur im Vorübergehen von etwas Gewaltigem be-rührt worden war. Die Gegenwart zerbrach wie ein Spiegel und war verschwunden.

Owen und Hazel rollten Johana Wahn aufs Gesicht und drückten es in den Dreck des Landeplatzes. Owen setzte sich auf sie – nur für den Fall – und grinste Stahl und Topas an.

»Achtet nicht auf Johana«, erklärte er. »Das Reisen bekommt ihr nicht. Wenn Ihr sie erst näher kennengelernt habt, ist sie nur noch unausstehlich.«

Stahl schnaufte und steckte die Pistole wieder ein. Topas runzelte die Stirn. »Irgend etwas ist geschehen«, sagte sie. »Ich habe kaum etwas bemerkt, aber Ihr beide habt irgend etwas mit ihr angestellt. Hinter Euch steckt mehr, als auf den ersten Blick zu erkennen ist, Owen Todtsteltzer.«

»Das wird schon so sein«, gab Stahl ihr recht. »Willkommen auf Nebelwelt, Leute. Haltet diese Esperfrau an der kurzen Leine, oder ich werde ihr einen Maulkorb anlegen lassen. Der Mann, der hinter uns im Nebel lauert, nennt sich John Silver.

Er ist gegenwärtig der Leiter der Raumhafensicherheit. Er wird während Eures Aufenthalts ein Auge auf Euch werfen und sich die größte Mühe geben, Euch Ärger zu ersparen, wenn er jemals eine Pension sehen möchte. Ich wünsche Euch alles erdenkliche Glück bei der Erledigung Eurer Aufträge und falls etwas schiefgeht, dann will ich nichts darüber hören. Macht Euch nicht die Mühe, vorbeizukommen und Auf Wiedersehen zu sagen, bevor Ihr wieder verschwindet. Und jetzt, wenn Ihr uns bitte entschuldigen würdet? Topas und ich haben noch andere Dinge zu erledigen.«

Und mit diesen Worten machten die beiden auf dem Absatz kehrt und verschwanden im alles verhüllenden Nebel. John Silver starrte ihnen wütend hinterher, stieß einen unflätigen Fluch aus und vollführte eine noch unflätigere Geste, bevor er zu den Neuankömmlingen trat und sich mit knappem Lächeln vorstellte. »Nehmt es nicht persönlich«, sagte er. »Das machen sie mit jedem so. Meist aus gutem Grund, aber so ist die Nebelwelt nun einmal. Hallo Hazel! Schön, dich wiederzusehen.«

»Auch schön, dich zu sehen, du alter Pirat!« entgegnete Hazel grinsend. Sie trat vor und umarmte Silver . Owen war fast schockiert. Hazel gehörte normalerweise nicht zu der Sorte Mensch, die sich mit anderen verbrüderte . Er nutzte die Gelegenheit, um den Kopf des Leiters der Raumhafensicherheit genauer zu betrachten. Silver war groß und breitschultrig, mit scharfen, jugendlichen Gesichtszügen, und er steckte in einem dicken, exquisit geschneiderten Pelzmantel, über dem der purpurne Umhang der Esper wehte. An der Hüfte baumelte ein einfaches Kurzschwert in einer abgenutzten Lederscheide, doch Owen zweifelte nicht eine Sekunde daran, daß der Mann unter seinen Fellen auch noch ein oder zwei Pistolen versteckt hatte.

Er sah jedenfalls genau nach der Sorte aus. Außerdem schien er Hazels Umarmung über die Maßen zu genießen. Schließlich lösten sich die beiden wieder voneinander und traten zurück, wobei sie sich noch immer an den Händen hielten.

»Du siehst gut aus, Hazel! Hast du in letzter Zeit jemand Interessanten ausgeraubt?«

»Du wärst überrascht. Wie zur Hölle kommt ein Gauner wie du in die Position des Sicherheitschefs? Das ist ja genauso, als würde man einen ausgehungerten Wolf dazu abkommandieren, auf eine Herde Schafe aufzupassen.«

Silver zuckte liebenswürdig die Schultern. Hazels Worte schienen ihn in keinster Weise beleidigt zu haben. »Selbst der wildeste Wolf muß sich irgendwann einmal niederlassen und ruhiger werden, Hazel. Wir haben eine Menge guter Leute während der Esperseuche verloren, einschließlich der meisten meiner Vorgesetzten. Die Typhus-Marie hat sie innerhalb weniger Tage alle getötet oder ihnen die Gehirne ausgebrannt, und als es uns schließlich gelungen ist, sie zu überwältigen, war ich der einzige, der noch auf den Beinen stand. Zu jedermanns Überraschung – einschließlich meiner eigenen – gehe ich seit dieser Zeit einer guten und größtenteils ehrlichen Arbeit nach.

Hauptsächlich wahrscheinlich deswegen, weil so viel zu tun ist, daß ich weder die Zeit noch die Energie übrig habe, um auf krumme Gedanken zu kommen.«

»Ich hätte nie gedacht, derartige Worte aus deinem Mund zu hören«, lachte Hazel. Sie blickte zurück und bemerkte, daß Owen sie und Silver nachdenklich musterte. »Owen, steig von Johana runter und komm her. Ich möchte dir einen alten Freund vorstellen.«

Owen erhob sich vorsichtig. Johana blieb, wo sie war. Ihr Atem ging rasselnd. Hazel grinste. »Owen, darf ich dir einen alten Freund und Vertrauten vorstellen? Ex-Pirat, Ex-Trickbetrüger, Ex-Rechtsanwalt und Ex-Gelegenheitstransvestit, wenn das Geld knapp wurde. Im allgemeinen ein guter Kamerad, auf den man sich verlassen kann, und zwar auf beiden Seiten des Gesetzes. Ganz besonders dann, wenn man einen Schwindel plant. Der beste Lügner mit dem unschuldigsten Gesicht, das ich je gesehen habe.«

»Deswegen bin ich in meinem gegenwärtigen Job auch so gut«, erklärte Silver gelassen. »Man braucht einen Lügner, um einen anderen zu entdecken. Und ich kenne sämtliche Tricks, weil ich die meisten davon zu meiner Zeit selbst benutzt habe.«

»Das ist ja alles sehr charmant und schelmisch«, warf Jung Jakob ein, »aber wir haben Geschäfte zu erledigen.«

»Oh, selbstverständlich«, entgegnete Silver. »Wartet nur ein wenig ab. Ich besorge Euch eine Karte und ein paar Wachen.«

»Nicht nötig. Ich finde mich auf Nebelwelt ganz gut alleine zurecht. Und ich habe noch nie Leibwächter benötigt.« Jakob Ohnesorg verbeugte sich höflich in Richtung der anderen – sogar in Richtung Johana Wahns –, dann stapfte er selbstbewußt in den Nebel davon. Sein gerader Rücken strahlte nur so vor Kraft und Energie.

»Beeindruckend«, sagte Silver. »Ich hoffe nur, er wird nicht überfallen und ausgeraubt. Wir würden nie das Ende der Geschichte erfahren.«

»Auch ich habe einen Auftrag zu erledigen«, sagte Johana Wahn eisig. Als den anderen bewußt wurde, daß sie aufgestan-den war, ohne daß es jemand bemerkt hatte ruckten ihre Köpfe überrascht herum Sie sah noch gefährlicher aus als zuvor, wenn das überhaupt möglich war. »Und ich brauche ebenfalls keine Karte und keine Leibwächter. Bleibt mir einfach nur aus dem Weg.«

Sie stolzierte davon, und der Nebel teilte sich vor ihr, als könne er ihr gar nicht schnell genug aus den Füßen kommen.

Hinter ihr schloß sich der Dunst wieder, und rasch war sie verschwunden .

Hazel blickte ihr hinterher und schüttelte langsam den Kopf .

»Wißt ihr, ich hätte schwören können, daß wir als Team arbeiten sollten.«

»Macht Euch keine Gedanken deswegen«, sagte Owen. »Ich persönlich fühle mich viel sicherer, nachdem die beiden weg sind. Was ihre geistige Gesundheit angeht, würde ich für keinen von beiden meine Hand ins Feuer legen.«

»Du kapierst wieder mal gar nichts, wie üblich«, entgegnete Hazel. »Gott allein weiß, wieviel Schaden Johana Wahn anrichtet, wenn niemand auf sie aufpaßt. Außerdem wollte ich in Jung Jakobs Nähe bleiben in der Hoffnung, daß sich jemand findet, der weiß, ob es der echte Jakob ist oder nicht.«

»Ich dachte, Ihr wärt Euch sicher, daß er ein Betrüger ist?«

»Bin ich auch. Aber ein Beweis wäre trotzdem schön, oder?«

»Wir können ihm jederzeit hinterher.«

»Nein, können wir nicht, Todtsteltzer. Dann würde er nämlich mit Sicherheit wissen, daß wir ihm nicht über den Weg trauen.«

»Ich hasse derartige Diskussionen«, maulte Owen. »Wir können den lieben langen Tag argumentieren und drehen uns am Ende immer noch im Kreis. Wir könnten uns schließlich auch in ihm irren, oder?«

»Halt, einen Augenblick mal!« unterbrach John Silver die beiden. »Wollt Ihr damit etwa sagen, daß Jakob Ohnesorg möglicherweise nicht Jakob Ohnesorg ist?«

»Wir sind nicht sicher«, antwortete Hazel. »Sagen wir einfach, wir haben unsere Zweifel.«

»Aber er sieht echt aus!« widersprach Silver. »Jeder Zoll ein Krieger und ein Held!«

»Ganz genau«, pflichtete Owen ihm bei. »Er ist zu perfekt.

Zu gut, um echt zu sein.«

»Paranoia«, erklärte Hazel und grinste . »Ein Spiel für die gesamte Familie und jeden, der vielleicht zusieht. Laßt uns machen, daß wir aus der Kälte kommen und ein warmes Plätzchen finden, bevor mir die Zehen abfallen.«

Owen warf einen anerkennenden Blick in die Runde, während er in einen tiefen bequemen Sessel neben einem offenen Kaminfeuer sank. Sie befanden sich in John Silvers Privatquartier.

Der Ex-Pirat und Chef der Sicherheit lebte nach Nebelwelt-Maßstäben in ziemlichem Luxus. Es gab eine ganze Reihe von Hightech-Einrichtungen, einschließlich elektrischer Beleuchtung (selten auf einer Welt, die jede Form von Hightech an der Imperialen Blockade vorbeischmuggeln mußte, was sowohl mit gewaltigen Kosten für den Käufer als auch für den Liefe-ranten verbunden war). Entweder war Silvers Posten extrem gut bezahlt, oder Silver hatte seine frühere Piratentätigkeit doch noch nicht völlig aufgegeben. Hazel nahm Owen gegenüber Platz und starrte verdrießlich in die flackernden Flammen.

Sie wirkte müde und erschöpft und älter, als sie in Wirklichkeit war. Irgend etwas bereitete ihr Kopfzerbrechen, doch Owen hütete sich davor, sie nach dem Grund dafür zu fragen. Sie würde ihm nur den Kopf abbeißen. Sie würde mit ihm reden, wenn sie soweit war, oder niemals.

Silver gab sich Mühe in seiner Rolle als Gastgeber. Er sorgte sich um das Wohl seiner Gäste, plapperte fröhlich über belanglose Dinge und drückte Owen und Hazel große Becher mit Glühwein in die Hände. Hazel hielt ihren Becher einfach nur fest und machte keinerlei Anstalten zu trinken; also nahm Owen schon aus Höflichkeit einen tiefen Schluck. Normalerweise haßte er Glühwein, doch dieser hier schmeckte nicht schlecht. Er war scharf gewürzt und hinterließ eine angenehme Wärme, während er durch die Kehle hinabrann und sich im Magen ausbreitete . Owen nickte Silver dankbar zu, der seinen Gästen gegenüber Platz genommen hatte und sie nun erwartungsvoll anblickte.

»Erzählt uns doch, was sich in letzter Zeit zugetragen hat«, bat Owen, nachdem eine lange Pause deutlich gemacht hatte, daß Hazel nicht daran dachte, ein Gespräch anzufangen. »Bei unserem letzten Besuch waren wir nicht lange genug hier, um Fragen zu stellen. Was hat es mit diesem Gerede von einer Typhus-Marie und der Esperseuche auf sich?«

»Das Imperium schleuste sie ein«, erzählte Silver . »Sie hatte eine extrem starke Esperbegabung und war darauftrainiert und konditioniert, andere Esper zu töten. Überall in der Stadt starben unsere Leute mit ausgebrannten Gehirnen . Wo sie vorüberkam, erwachten Kinder weinend aus dem Schlaf und wollten sich nicht wieder beruhigen lassen. Sie tötete eine Menge gute Leute, bevor wir sie endlich besiegten. Das Imperium hatte geplant, mit ihrer Hilfe so viele Esper zu töten, daß der psionische Schirm zusammenbrechen würde, der die Nebelwelt schützt, um auf diese Weise die Imperiale Flotte heranzubringen. Doch glücklicherweise ist es nicht so weit gekommen.

Obwohl wir verdammt nah dran waren…«

»Was geschah nach ihrer Gefangennahme?« erkundigte sich Hazel, ohne vom Feuer aufzublicken.

»Wir konditionierten die Typhus-Marie neu«, berichtete Silver. »Es war schließlich nicht ihre Schuld. Sie war von Imperialen Hirntechs programmiert worden. Jetzt arbeitet sie für unsere Seite.«

»Und Ihr vertraut ihr?« fragte Owen. »Das Imperium könnte ihr jede Menge Kontrollworte ins Unterbewußtsein eingepflanzt haben. Sie würde nichts von ihrer Existenz ahnen, bis jemand sie aktiviert.«

»Es gab tatsächlich eine ganze Menge. Wir fanden sie alle.

Das hier ist eine Esperwelt, Todtsteltzer. Die Tiefen des menschlichen Geistes können keine Geheimnisse vor uns verbergen.«

»Wie groß ist der Schaden, den sie angerichtet hat?« fragte Owen.

»Sehr groß. Wir sind immer noch mit den Aufräumarbeiten beschäftigt. Viele Leute in wichtigen Positionen sind hirnver-brannt oder ums Leben gekommen, und lange Zeit herrschte Chaos in der Stadt, weil die verschiedensten Gruppierungen um die Kontrolle kämpften. Das Schlimmste ist vorüber, dem Herrn sei Dank, aber es gibt nach wie vor Machtkämpfe und Rangeleien. Achtet auf das, was hinter Eurem Rücken vorgeht, solange Ihr Euch hier aufhaltet. Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die Euch beide allein schon deswegen umbringen würden, damit nicht jemand anderes zu Euch Kontakt aufnehmen kann.«

»So«, sagte Hazel und richtete den Blick schließlich doch noch auf John Silver. »Und du, John? Wie geht es dir sonst so?«

»Ich kann nicht klagen, Hazel«, antwortete Silver und blinzelte überrascht, weil sie so unvermittelt das Thema gewechselt hatte.

»Mir scheint, du kannst wirklich nicht klagen. Diese Bude hier ist verdammt noch mal besser als das Rattenloch unten an den Docks, in dem du dich früher immer verkrochen hast.

Nein, warte, wenn ich’s genau bedenke: Ratten hätten sich niemals dort versteckt, aus Angst, sich eine Infektion zu holen.«

»Leiter der Raumhafensicherheit ist ein echter Traumjob, Hazel«, erklärte Silver leichthin. »Solange ich die Dinge im Griff habe und alles friedlich ist, blickt mir niemand allzu genau auf die Finger. Also springe ich auf der einen Seite ziemlich hart mit der Sorte Leute um, zu der ich früher auch gehört habe, und auf der anderen schaffe ich hier und da eine klitzekleine Kleinigkeit auf die Seite, um meine Pension aufzubes-sern. Es ist ein hartes Leben, aber irgend jemand muß es tun.«

»Habt Ihr denn keine Angst, Direktor Stahl könnte es herausfinden?« erkundigte sich Owen. Er war nicht sicher, ob er schockiert sein sollte oder nicht. Schließlich befand er sich in Nebelhafen.

»Ausgerechnet Direktor Stahl? Er ist noch ein größerer Gauner als ich! Nein, die einzige, auf die ich aufpassen muß, ist Investigator Topas. Wenn sie jemals irgend etwas gegen mich in die Finger bekommt, werde ich nicht lange genug überleben, um vor ein Gericht gestellt zu werden. Tatsächlich werde ich auf dem ersten Gravschlitten in die Berge fliehen, den ich mir ausleihen oder stehlen kann, sobald ich auch nur den Verdacht hege, sie könnte eine Spur haben. Wie eine derart ehrliche Haut jemals auf der Nebelwelt landen konnte, ist mir ein ausgesprochenes Rätsel.«

»Also gehört sie zur gesetzestreuen Sorte?« erkundigte sich Hazel unschuldig.

Silver erschauerte, und das sicher nicht wegen der Kälte.

»Diese Frau ist so aufrichtig, daß sie sogar ihrem eigenen Schatten mißtraut. Zum Glück ist sie in der Regel hinter dicke-ren Fischen als mir her. Ich will Euch mal eine Vorstellung von der Sorte Mensch geben, zu der Investigator Topas gehört. Hat einer von Euch das Loch in der Rückseite ihres Umhangs bemerkt?«

»Jepp«, antwortete Owen. »Ein Disruptorstrahl. Ich nehme an, Investigator Topas hat den Umhang nicht getragen, als es entstand?«

»Richtig angenommen. Ihr Ehemann trug ihn. Irgend jemand schoß ihm aus unmittelbarer Nähe in den Rücken. Topas fand den Killer und jagte ihn. Sie tötete ihn langsam, doch sie trägt den Umhang noch immer, und sie hat das Loch niemals reparieren lassen. Welche Art von Mensch muß man sein, um so zu reagieren?«

»Kalt, besessen und unbeirrbar«, antwortete Hazel. »Mit anderen Worten: ein Investigator.«

»Laßt uns über etwas anderes reden«, sagte Silver, »bevor ich anfange, ständig über die Schulter nach hinten zu sehen und bei unerwarteten Geräuschen vor Schreck zusammenzuzucken.

Jakob Ohnesorg und diese Johana Wahn sind auf eigene Faust aufgebrochen. Aus welchem Grund seid Ihr hier? Oder ist es Euch nicht gestattet, mit mir darüber zu reden?«

»Es ist kein großes Geheimnis«, erklärte Hazel. »Ich bin hier, um im Namen des Untergrunds von Golgatha mit dem Rat in Verbindung zu treten. Eigentlich hätte jemand anderes kommen sollen, doch die Pläne wurden in letzter Minute geändert, und ich war die einzige, die nicht schnell genug in Deckung ging. Also wurde ich als Freiwillige ausgespäht. Owen ist hier, um ein altes Netzwerk von Informanten zu reaktivieren, das sein Vater vor einigen Jahren in Nebelhafen aufgezogen hat.

Du kannst verschwinden, sobald du soweit bist, Todtsteltzer.

Ich werde eine Zeitlang bei John Silver verbringen, bevor ich aufbreche.«

Owen runzelte die Stirn. »Ich dachte, wir wollten zusammenbleiben? Ihr kennt Nebelhafen ein gutes Stück besser als ich, Hazel.«

»Und was soll ich für dich tun, Aristo? Soll ich dir vielleicht die Hand halten?«

»Ihr habt selbst gehört, was John Silver gesagt hat«, beharrte Owen stur. »Wir haben keine Freunde dort draußen, und… unsere Verbindung ist unzuverlässig.«

»Ich kann selbst auf mich aufpassen«, entgegnete Hazel.

»Und das kannst du auch.«

Owen verzog das Gesicht. Er war nicht überzeugt. Es machte wenig Sinn, sich aufzuteilen, wo sie beide so viele alte und neue Feinde hatten, die man ständig im Auge behalten mußte.

Einen Augenblick lang überlegte er, ob Silver vielleicht in der Vergangenheit mehr als nur ein Freund für Hazel gewesen war, und ob das vielleicht der Grund war, warum Hazel ihn offensichtlich loswerden wollte; doch das schien unwahrscheinlich.

Die Körpersprache der beiden war zu verschieden. Andererseits würde Hazel allerdings auch nicht mit sich reden lassen, solange sie in dieser Stimmung war, und ebensowenig machte es Sinn, sich darüber zu ärgern. Hazel war schon immer besser in Wutanfällen gewesen als Owen. Das war alles so würdelos.

Außerdem sah Hazel gar nicht gut aus. Sie schwitzte von der Nähe des Feuers, und sie hatte die Lippen zu einem dünnen, häßlichen Strich zusammengepreßt. Owen schob seinen Sessel zurück und erhob sich.

»Schön, ganz wie Ihr meint. Wenn Ihr lieber Eure Zeit verschwendet, indem Ihr mit einem alten Freund ein Schwätzchen haltet, anstatt mit unserem Auftrag voranzukommen, dann bitte sehr. Ich kann Euch nicht daran hindern.«

»Verdammt richtig, Todtsteltzer, das kannst du nicht. Und sprich gefälligst nicht in diesem Ton mit mir, ja? Ich kenne meine Pflicht, aber ich werde mich auf meine Weise darum kümmern, und wann und wie ich Lust dazu habe.«

»Wir haben nur wenig Zeit, Hazel. Oder habt Ihr vielleicht vergessen, wie dicht uns das Imperium auf den Fersen sitzt?«

»Nichts habe ich vergessen! Kümmere du dich um deinen eigenen Kram, Todtsteltzer, und ich kümmere mich um meinen!

Verschwinde endlich, Aristo! Dein Anblick macht mich ganz krank. Ich brauche dich nicht!«

»Nein«, erwiderte Owen. »Ihr habt noch nie jemanden gebraucht, Hazel.«

Er verbeugte sich knapp in John Silvers Richtung und stapfte aus dem Raum. Er verzichtete darauf, die Tür hinter sich zuzu-schlagen. Das Schweigen dauerte noch einige Zeit an, während Hazel feindselig auf die geschlossene Tür starrte, und Silver sie nachdenklich musterte . Er hatte Hazel schon in zahlreichen Stimmungen erlebt, doch diese hier war eindeutig neu . Wie es schien, bedeutete dieser Todtsteltzer ihr etwas – oder wenigstens seine Meinung über sie . Silver hoffte, daß sie sich nicht in den vogelfreien Aristokraten verliebt hatte . Hazel hatte noch nie Glück in Herzensangelegenheiten gehabt. Am Ende war stets sie es gewesen, die draufgezahlt hatte. Er zuckte zusammen, als sich Hazel unvermittelt nach ihm umwandte. Ihre Augen funkelten wütend.

»Wir waren immer gute Freunde, oder nicht, John?«

»Selbstverständlich waren wir das, Hazel. Wir sind ein gutes Stück Wegs zusammen gegangen.«

»Ich brauche deine Hilfe, John.«

»Ich bin für dich da. Alles, was du willst, Hazel. Sag es nur.«

»Ich brauche Blut, John. Nur ein oder zwei Tropfen. Weißt du, wo ich es kriegen kann? Kennst du eine… diskrete Quelle?«

»Wenn das alles ist?«

»Ja, John. Das ist alles.«

Silver schürzte die Lippen. »Der Todtsteltzer weiß nichts davon, oder?«

»Nein, er weiß es nicht, und du wirst es ihm auch nicht verraten, John. Er würde es nicht verstehen.«

»Ich bin nicht sic her, ob ich es verstehe, Hazel. Ich dachte, du hättest diesen Mist hinter dir? Ich habe dir die Hände gehalten, den Schweiß von der Stirn gewischt und den Hintern ab-geputzt, als du diesen Dreck das letzte Mal aus deinem Kreislauf geschwitzt hast. Ich will das nie wieder tun müssen. Es hätte dich um ein Haar umgebracht, Hazel.«

»Ich rede nicht davon, wieder ein Plasmakind zu werden, John! Diesmal habe ich es unter Kontrolle. Ich brauche nur hin und wieder einen Tropfen, weiter nichts. Du hast ja keine Ahnung, was ich mitgemacht habe, John. Du weißt nicht, unter welchem Druck ich stehe.«

»Ich habe gesagt, daß ich dir helfen würde, Hazel. Wenn du Blut brauchst – ich kann es besorgen. Jeder von uns hat das Recht, auf seine Weise vor die Hunde zu gehen. Als Sicherheitschef habe ich Zugang zu sämtlichen beschlagnahmten Drogen von gelandeten Schiffen. Niemand wird ein paar Tropfen vermissen.« Er schwieg einen Augenblick. Dann: »Bist du ganz sicher, Hazel?«

»O ja. Ich brauche etwas in meinem Leben, an das ich mich klammern kann.«

Jung Jakob Ohnesorg schlenderte ohne Eile durch die Straßen von Nebelhafen. Niemand belästigte ihn. Irgend etwas an seiner unbeirrbaren Haltung und seiner kalten Zuversicht schien die Leute davon zu überzeugen, daß es besser sei, auf Distanz zu bleiben. Das – und die Energiepistole, die er offen in einem Holster an der Hüfte trug.

Nur die wirklich Mächtigen und Einflußreichen in Nebelhafen hatten Zugang zu Energiewaffen.

Ohnesorg schlenderte ins Händlerviertel. Er suchte nach einem alten Freund. Ratsmitglied Donald Royal war in jüngeren Tagen einer der größten Helden der Nebelwelt gewesen , und auch heute noch, im Herbst seines Lebens, war er ein einflußreicher Mann.

Nach einer Weile blieb Ohnesorg vor einem rußgeschwärzten alten Gebäude in einem Teil des Viertels stehen, der entschieden bessere Zeiten gesehen hatte. Donald Royal konnte es sich leisten, praktisch überall in der Stadt zu leben, doch er hatte schon immer hier gelebt, und er dachte gar nicht daran umzu-ziehen.

Ein sturer alter Mann.

Ohnesorg klopfte höflich an die Tür. Lange Zeit geschah gar nichts; dann bemerkte er, daß er durch einen Spion gemustert wurde. Er grinste charmant in Richtung Tür und achtete darauf, die Hände möglichst weit entfernt von den Waffen zu halten.

Die Tür schwang auf, und eine atemberaubende junge Frau empfing ihn. Soweit es Ohnesorg betraf, hatte er sie noch nie im Leben gesehen; aber er lächelte – für alle Fälle.

Sein Gegenüber war groß gewachsen für eine Frau und besaß einen Lockenkopf von kastanienbraunem, schulterlangem Haar. Ihr Gesicht war ein wenig zu breit, um wirklich schön zu sein, doch die vorspringenden Wangenknochen verliehen ihr eine rauhe Sinnlichkeit. Sie bewegte sich wie eine Kämpferin.

Ihr Blick war fest, und ihre Mimik verriet keinerlei Emotion.

Ihre Kleidung war funktionell, aber gut geschnitten, und an der Hüfte trug sie eine Energiewaffe. Ohnesorg bemerkte, daß ihr rechter Daumen unmittelbar hinter der Waffe in den Gürtel gehakt war. Er räusperte sich höflich.

»Guten Abend. Ich suche nach Donald Royal. Ich dachte, er würde noch immer hier wohnen.«

»Das tut er auch, aber ich weiß nicht, ob er jetzt gestört werden will. Ich bin seine Partnerin. Ich lasse niemanden ohne triftigen Grund zu ihm.«

»Und ich bin Jakob Ohnesorg. Ich bin gekommen, um mit Donald über unsere Pläne und die neue Rebellion gegen das Imperium zu reden.«

Plötzlich lächelte die Frau, und ihr Blick wurde warm. »Das ist… ein triftiger Grund. Mein Name ist Madeleine Skye.

Kommt doch herein. Verzeiht meine Vorsicht, aber hier kommen nicht viele Legenden vorbei.«

Sie trat zurück, und Ohnesorg verbeugte sich höflich, bevor er an ihr vorbei in einen schummrigen, engen Flur trat. Er hängte seinen Mantel und den Schwertgurt an einen Haken, ohne daß sie ihn darum gebeten hätte, und erlaubte Skye, ihn durch den Flur in ein gemütliches Wohnzimmer zu führen.

Flackernde Öllampen bildeten die einzige Lichtquelle und tauchten den Raum in einen gelblichen weichen Schein. Dicke, ledergebundene Buchrücken reihten sich an drei Wänden. Die vierte war mit antiken, abgenutzten Klingen dekoriert: von schlanken Dolchen bis hin zu einer gewaltigen zweihändigen Axt. Unter den Waffen knisterte ein kleines Feuer zufrieden in einem Kamin, der von einer Fassung aus schwarzem Holz mit massiv geschnitzten gotischen Figuren umgeben war. Auf dem Kaminsims stand eine Uhr; das Zifferblatt war in den Bauch eines aus Holz geschnitzten Hundes mit bösem Gesicht einge-lassen. Die Augen und die dicke rote Zunge der Kreatur rollten im Takt der Sekunden hin und her.

Neben dem Feuer saß ein alter Mann mit geistesabwesendem Blick in einem großen gepolsterten Ohrensessel. Früher einmal mußte er groß und kräftig gewesen sein, doch die gewaltigen Muskeln aus der Jugend waren im Alter dahingeschmolzen, und jetzt hingen seine Kleider lose an ihm herab. Lange Strähnen von dünnem, weißem Haar umrahmten ein hageres, knochiges Gesicht. Madeleine Skye stellte sich beschützend dicht neben dem Sessel.

»Wir haben einen Besucher, Donald«, sagte sie.

»Das sehe ich selbst, Frau. Ich bin schließlich weder blind noch senil. Ich nehme an, es handelt sich um eine wichtige Persönlichkeit, sonst hättest du ihn ja wohl abblitzen lassen, oder?« Er blickte Ohnesorg nachdenklich an und runzelte die Stirn . »Ich kenne Euch von irgendwoher. Ich vergesse niemals ein Gesicht.« Dann hellte sich sein Antlitz auf, und er sprang aus seinem Sessel. »Gütiger Gott, das ist doch völlig unmöglich! Jakob? Bist du das, Jakob Ohnesorg? Ich will verdammt sein, er ist es!« Der Alte grinste breit und ergriff Jung Jakobs ausgestreckte Hand. Sie verschwand in den faltigen Händen des Alten. »Jakob Ohnesorg, wie er leibt und lebt! Was zur Hölle machst du hier?«

»Alte Freunde besuchen«, erwiderte Ohnesorg und lächelte.

»Es ist lange her, Donald.«

»Das kannst du laut sagen, verdammt lange. Setz dich, Jakob! Setz dich, und laß dich ansehen.«

Ohnesorg zog den Ohrensessel auf der anderen Seite des Kamins zu sich heran und nahm darin Platz. Höflich gab er vor, nicht zu bemerken, wie Donald mit ein wenig Hilfe von Madeleine Skye vorsichtig wieder in seinen Sessel sank. Royal musterte Ohnesorg mit wachen, abwägenden Augen. Nichts an ihm wirkte jetzt noch geistesabwesend, als hätte ihm die Erinnerung an seine eigene Vergangenheit neue Kraft verliehen.

Madeleine trat zurück, um den beiden ein wenig Privatsphäre zu gewähren. Sie blieb an der Tür stehen und lehnte sich lässig gegen den Rahmen. Es war Ohnesorg nicht entgangen, daß ihre Hand noch immer in der Nähe der Waffe schwebte. Er lächelte Donald herzlich an.

»Ein schönes Zuhause hast du hier«, sagte er. »Gemütlich.

Die Uhr gefällt mir.«

»Tatsächlich?«, erkundigte sich Donald. »Ich kann das verdammte Ding nicht ausstehen. Es war das Lieblingsstück meiner verstorbenen Frau, und ich kann mich einfach nicht dazu durchringen, es wegzuwerfen. Du siehst gut aus, Jakob. Es ist bestimmt zwanzig Jahre her, seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben. Es war hier in diesem Raum, in den gleichen verdammten Sesseln. Du warst damals ein Unruhestifter, wie er im Buche steht. So jung und so lebendig und voller Hoffnung und Wut, daß ich dir nicht widerstehen konnte. Ich gab dir alles Gold, das ich besaß, und die Namen von jedem, von dem ich glaubte, er würde dir zuhören. Ich wäre selbst mitgekommen, aber ich war schon damals ein wenig zu alt und gebrechlich für derartige Abenteuer. Du warst ein begnadeter Redner, Jakob, und ich konnte noch nie einem überzeugenden Spitzbuben widerstehen.«

»Du warst einer der ersten, die wirklich an mich geglaubt haben«, sagte Ohnesorg. »Ich werde das nie vergessen. Aber es war gut, daß du nicht mit mir nach Lyonesse gegangen bist.

Die Dinge liefen von Anfang an gründlich schief. Ich war jung und unerfahren. Ich hatte noch viel zu lernen. Wir feierten ein paar kleine Siege, doch in der entscheidenden Schlacht wurden wir zurückgeschlagen und überrollt. Ich rannte um mein Leben, während ringsherum gute Männer und Frauen starben, um mir Zeit zu verschaffen. Trotzdem haben wir der Eisernen Hexe das Fürchten gelehrt, wenn auch nur für einen Augenblick.«

»Ich habe von Lyonesse gehört«, mischte sich Madeleine vom Eingang her ein. »Eure Armee wurde aufgerieben. Jeder zehnte Einwohner wurde wegen Unterstützung von Hochverrat gehängt, und die Überlebenden mußten für die nächsten zehn Jahre doppelte Steuern entrichten. Man könnte sagen, daß Lyonesse vor Eurer Rebellion besser dran war.«

»Achte nicht auf das, was Madeleine sagt«, entschuldigte sich Donald. »Sie glaubt, daß Optimismus und Tugend Luxus sind. Madeleine ist erst glücklich, wenn sie die dunkle Seite der Medaille sehen kann. Sie hat mich überredet, meinen Ruhestand aufzugeben und mit ihr eine Detektei zu eröffnen. Ich steuere meinen Verstand bei, und Madeleine kümmert sich um die bösen Buben. Ich muß sagen, ich fühle mich seither so lebendig wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Ich bin kein Typ für den Ruhestand. Madeleine besteht noch immer darauf, meinen Leibwächter zu spielen, obwohl ich immer noch mit einem Schwert umgehen kann.«

»Ich bin sicher, sie versteht ihr Geschäft«, sagte Ohnesorg.

»Donald, ich muß mit dir reden.«

»Natürlich mußt du das, Jakob. Wir haben eine ganze Menge zu erzählen. Es ist zweiundzwanzig Jahre her, daß wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ich habe deine Fortschritte verfolgt – jedenfalls so gut das von hier aus ging. Neuigkeiten brauchen ihre Zeit, um bis nach Nebelwelt vorzudringen. Du hast dich kein Stück verändert, Jakob. Im Gegensatz zu mir. Wie bist du so jung geblieben? Du warst Ende Zwanzig, als wir uns ken-nenlernten, und du siehst aus, als seist du in all den Jahren keinen einzigen Tag älter geworden.«

»Das verdanke ich einer ganzen Reihe längerer Aufenthalte in den Regenerationsmaschinen«, antwortete Ohnesorg. »Und ein wenig kosmetischer Chirurgie. Die Menschen wollen keinem alternden Rebellen folgen. Es ist wohl kein Geheimnis, daß ich zu mehreren Gelegenheiten ziemlich viel abbekommen habe. Nach außen hin mag ich ja vielleicht jung wirken, doch meine Knochen kennen die Wahrheit. Und ich bin immer noch ich. Immer noch der berufsmäßige Rebell, bereit, beim kleinsten Anlaß für Wahrheit und Gerechtigkeit zu kämpfen. Meine Ziele sind immer noch die gleichen wie vor zwanzig Jahren, Donald. Und genau wie vor zwanzig Jahren brauche ich auch heute wieder deine Hilfe.«

Donald seufzte und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Ich furchte, meine Möglichkeiten sind in diesen Tagen mehr als eingeschränkt, Jakob. Ich bin zwar noch immer im Stadtrat, aber Politik interessiert mich eigentlich nicht mehr, und das heißt: Mein Einfluß ist so gut wie nicht existent. Hin und wieder mische ich mich noch in die Geschäfte ein; aber nur um die anderen zu erinnern, daß ich noch am Leben bin, und ich versuche, in meinem Beruf als Privatdetektiv meinen eigenen kleinen Beitrag für Wahrheit und Gerechtigkeit zu leisten, doch um ehrlich zu sein: Das wirkliche Wichtige in der Stadt geht einfach an mir vorbei. Ich kann dir Namen und Adressen von einigen Leuten geben, die dir vielleicht zuhören werden, doch mein eigener Name ist nicht mehr die Empfehlung wie noch bei deinem ersten Besuch vor zwanzig Jahren. Die Zeiten haben sich geändert, Jakob, und nicht zum Besseren . Nebelhafen ist ein kälterer und weitaus zynischerer Ort geworden als der, den du und ich in Erinnerung haben.«

»Du kannst noch immer vor dem Rat der Stadt für mich bürgen«, entgegnete Jung Jakob. »Es scheint einige Unsicherhei-ten zu geben, ob ich wirklich derjenige bin, für den ich mich ausgebe. Wenn du öffentlich meine Identität bestätigen könntest, würde mir das sehr helfen.«

»Kein Problem«, erwiderte Donald. »Ich mag vielleicht nicht mehr so jung sein wie einst, aber weder meine Augen, noch mein Gedächtnis haben darunter gelitten. Du bist Jakob Ohnesorg, daran besteht nicht der geringste Zweifel. Ich würde mein Leben darauf verwetten.«

»Nicht so voreilig«, mischte sich Madeleine von der Tür her ein. »Aussehen ist nicht alles. Du hast selbst gesagt, daß er viel zu jung scheint. Woher sollen wir wissen, daß er kein Klon ist?«

»Ein Gentest wird diese Frage beantworten«, antwortete Jakob Ohnesorg.

»Unglücklicherweise haben wir hier in Nebelhafen keinen Zugang zu derartigen Technologien«, entgegnete Madeleine.

»Angenehm, nicht wahr?«

»Still, Madeleine!« ermahnte sie Donald. »Es ist ganz einfach, den Mann zu überprüfen. Es gibt ein paar Dinge, die nur Jakob Ohnesorg und ich wissen können . Dinge, über die wir gesprochen haben und Leute, die wir damals kannten.

Stimmt’s, Jakob?«

»Selbstverständlich. Laß mich einen Augenblick nachdenken. Es ist schon so lange her.« Ohnesorg schürzte die Lippen und stützte das Kinn auf die Faust. »Ich erinnere mich an einige der Leute, zu denen du mich geschickt hast. Da gab es einen Lord Durandal, den Abenteurer. Oder Graf Eisenhand von den Marschen. Ist einer der beiden noch in der Gegend?«

»Nein«, antwortete Donald. »Sie leben beide nicht mehr. Eisenhand ist ertrunken, als er versuchte, ein Kind zu retten, das in den Autumnusfluß gefallen war. Für einen alten Mann war er ein verdammt guter Schwimmer. Er hat das Kind gerettet, doch der Schock des eiskalten Wassers war zuviel für ihn. Er wußte, daß es ihn das Leben kosten würde, und er ist trotzdem hineingesprungen. Das war ein Mann! Durandal verschwand in der Dunkelzone, auf irgendeiner verdammten Suche nach der verlorenen Welt der Wolflinge. Ich habe keine Ahnung, ob er sie jemals gefunden hat. Er ist nie wieder zurückgekehrt

»Eine Schande«, sagte Ohnesorg. »Ich habe beide bewundert .

Ich hatte gehofft, daß sie ebenfalls für mich bürgen könnten.

Wir brauchen schließlich immer noch einen Beweis, oder? Was hältst du davon: Du hast mir all dein Gold gegeben, das du vor zweiundzwanzig Jahren hattest. Und das waren genau siebzehn Kronen. Habe ich recht?«

»Ganz genau!« Donald Royal schlug sich auf den Schenkel.

»Ich erinnere mich wieder! Siebzehn Kronen! Niemand anderes hätte das wissen können, Madeleine.«

Sie schüttelte unbeeindruckt den Kopf. »Ein Esper hätte es aus Jakobs Schädel holen können. Oder sogar aus deinem, Donald.«

»Ach, mach dir nichts aus ihr«, wandte sich Royal entschul-digend an Jakob Ohnesorg. »Sie wurde schon mißtrauisch geboren. Ließ die Milch ihrer Mutter auf Steroide untersuchen.

Du bist der echte Jakob Ohnesorg. Ich werde für dich bürgen.

Und vielleicht nimmst du dir diesmal die Zeit, auf mich zu hören, bevor du wieder Hals über Kopf aufbrichst, um mit zu wenig Truppen und ohne vernünftigen Nachschub für Wahrheit und Gerechtigkeit im Imperium zu kämpfen.«

»Diesmal werde ich dir zuhören«, erwiderte Ohnesorg. »Ich habe aus meinen Fehlern gelernt.«

»Dazu hattet Ihr schließlich auch oft genug Gelegenheit«, sagte Madeleine. Sowohl Donald Royal, als auch Jakob Ohnesorg ignorierten ihren Einwand.

»Diesmal haben wir eine echte Chance, Donald«, erklärte Ohnesorg und beugte sich vor. »Eine ganze Armee von Klonen und Espern und Verbündete mit mehr Macht als alles, wovon wir je zu träumen gewagt hätten. Ich würde sogar meinen Stolz vergessen, um das nicht aufs Spiel zu setzen

»Du bist ein guter Mann, Jakob«, sagte Royal. »Versammle deine Leute und ruf den Rat zusammen. Madeleine und ich werden dort sein.«

»Ich danke dir, Donald. Es bedeutet mir sehr viel.« Ohnesorg erhob sich geschmeidig und wartete höflich, bis Donald Royal sich aus seinem Sessel gekämpft hatte.

Sie schüttelten sich erneut die Hände, und Ohnesorg ging hinaus. Madeleine folgte ihm zur Tür, um sicher zugehen , daß er nichts mitgehen ließ , dann kehrte sie wieder zurück.

Im Eingang zum Wohnzimmer blieb sie stehen und funkelte Donald Royal wütend an.

»Du glaubst also, er ist nicht echt?« erkundigte sich Donald ruhig und ließ sich wieder in seinen Sessel sinken.

»Verdammt richtig, das tue ich«, fauchte sie. »Er ist zu gut.

Zu vollkommen. Er sieht großartig aus, hat jede Menge Muskeln und benutzt die richtigen Worte und Phrasen. Wie ein Volksheld, der von einem Komitee geschaffen wurde. Und ich kaufe ihm diese Geschichte mit den Regenerationsmaschinen einfach nicht ab. Ich meine, technisch gesehen ist es wohl möglich, aber woher soll ein flüchtiger Rebell Zutritt zu dieser Art von Technologie haben? Nach allem, was ich weiß, sind Regenerationsmaschinen ausschließlich für den Adel bestimmt.

Nein, Donald. Du glaubst ihm nur deswegen, weil du dir wünschst, er sei echt. Weil er zu deinen wenigen guten Erinnerungen an die Vergangenheit gehört, die noch unter den Lebenden wandeln.«

»Vielleicht hast du recht«, gab Donald zu. »Ich glaube nicht, daß er uns alles verraten hat, oder daß alles, was er gesagt hat, der Wahrheit entspricht. Aber jeder Instinkt in mir sagt, daß er der echte Jakob Ohnesorg ist. Er ist ganz genau so, wie ich ihn in Erinnerung habe. Ein überlebensgroßer Held und ein überzeugender Gauner, beides in einem. Er hat den einzigen Test bestanden, der mir eingefallen ist. Was muß er sonst noch tun, um dich zu überzeugen, Madeleine? Soll er vielleicht übers Wasser gehen?«

»Falls er es täte, würde ich hinterher seine Stiefel kontrollieren«, konterte Madeleine.

Johana Wahn wanderte durch die Straßen von Nebelhafen.

Harter Schnee knirschte unter ihren Füßen, und ihr Atem kondensierte in raschen Stößen in der kalten Luft vor ihrem Gesicht; doch in den Fellen war es angenehm warm. Hitze und Kälte und andere Launen der Nebelwelt hatten sämtliche Macht über Johana verloren. Laut ihren Unterlagen besaß die Vereinigung der Esper ein eigenes Büro im Gildehaus . Aber Johana spürte es auch so, ohne sich in die Papiere zu vertiefen.

Sie spürte die anderen Esper in ihrem Kopf, so deutlich wie ein helles Licht, das in der Stadtmitte erstrahlte. Wo auch immer sie hinkam, überall liefen Menschen geschäftig hin und her – doch alle wichen ihr in weitem Bogen aus, selbst wenn sie überhaupt keinen einsichtigen Grund dafür hatten.

Die Gildenhalle selbst war ein unscheinbares Gebäude mittlerer Größe. Johana war ein wenig erstaunt, ein großes Hin-weisschild vor dem völlig ungeschützten Haus zu sehen. Überall sonst im Imperium wurde eine derartige Ansammlung von Espern mit dem Tode oder Gehirnlöschung bestraft, je nachdem, wie wichtig die einzelnen Delinquenten waren. Die einfache Freizügigkeit der hiesigen Espervereinigung ermunterte Johana ganz außerordentlich, und sie stapfte fröhlich über den Kiesweg zur Eingangstür.

Nirgendwo waren Wachen zu sehen, aber Johana hatte auch keine erwartet – nicht einmal in einer Jauchegrube wie Nebelhafen. Esper hatten ihre eigenen, subtileren Wege, alles im Auge zu behalten und ungebetene Gäste am Eintreten zu hindern. Die große Eingangstür wirkte imposant und stabil. Johana suchte nach einem Klopfer oder einer Glocke, doch es gab weder das eine noch das andere. Sie hob die Hand, um anzuklop-fen, und die Tür schwang vor ihr zurück. Ein großer schlanker Mann in formeller Abendgarderobe füllte den Durchgang und starrte hochmütig auf sie herab. Sein Kopf war kahlrasiert und zeigte hier und dort kleine chirurgische Narben. Die Augen standen ein wenig zu weit auseinander, und das Lächeln war höflich und absolut nichtssagend.

»Kommt herein, Johana Wahn«, sagte er. »Wir haben Euch schon erwartet.«

»Das hatte ich gehofft«, erwiderte sie. »Wolltet Ihr mich nicht hereinlassen? Oder soll ich mich vielleicht an Euch vorbeiteleportieren?«

Der Türsteher – oder was zur Hölle auch immer er war – trat würdevoll zur Seite, und Johana ging mit hoch erhobener Nase an ihm vorbei. Was ihr könnt, kann ich schon lange. Die Halle war offen und weitläufig , und die Luft roch süß von Vasen voller Blumen, die in jeder Nische und auf jedem Sims standen. Johana hätte nur allzu gerne gefragt, wo zur Hölle auf einer eisigen, unwirtlichen Welt wie dieser solche Blumen ge-diehen, doch sie behielt den Gedanken für sich. Fragen könnten ihr durchaus als Schwäche ausgelegt werden, und es war lebenswichtig, daß sie einen starken Eindruck hinterließ.

Der Butler nahm ihre Felle und hängte sie an einen Haken. Er blickte indigniert auf Johanas Stiefel und den schmelzenden nassen Schnee auf den Teppichen, doch sie ignorierte ihn.

Nackte Füße könnten als zu ungezwungen aufgefaßt werden.

»Ich nehme an, Eure Präkos haben von meinem Kommen berichtet?« erkundigte sie sich beiläufig. »Man erzählt sich, sie seien die besten im gesamten Imperium. Haben sie Euch auch verraten, aus welchem Grund ich zu Euch gekommen bin?«

»Bisher noch nicht.« Der Butler schloß sorgfältig die Tür und wandte sich lächelnd wieder Johana zu. Es war ein Lächeln, das ihr ganz und gar nicht gefiel. Es wirkte bei weitem zu vertraulich. Der Lakai ging durch die Halle davon, ohne darauf zu warten, daß Johana ihm folgte. Über die Schulter sagte er:

»Wir alle wissen, wer Ihr seid. Wir hätten herausfinden können, aus welchem Grund Ihr gekommen seid, wenn wir das gewollt hätten, aber wir würden es lieber aus Eurem eigenen Mund hören. Hier entlang. Man wird sich gleich um Euch kümmern

Zur Hölle damit!, dachte Johana Wahn . Die Dinge glitten ihr aus der Hand . Diese Leute hier mußten wahrscheinlich daran erinnert werden, wer oder was sie war. Sie griff mit ihrem ESP nach draußen und durchtränkte die Blumen in der Halle damit.

Die Pflanzen sprangen aus ihren Vasen und fingen mit beachtlicher Geschwindigkeit an zu wachsen. Blüten wurden innerhalb von Sekundenbruchteilen bestäubt und bildeten Samen, Reben und Ausläufer. Sie rankten sich über sämtliche Wände vom Boden bis zur Decke und bekämpften sich gegenseitig um einen Platz am Licht. Der Duft der Blüten wurde immer intensiver. Der Lakai blickte auf Johana. Sein Gesicht blieb unbeeindruckt, aber nur beinahe.

»Ich wußte nicht, daß Ihr dazu imstande seid.«

»Offenbar wißt Ihr nur sehr wenig über mich«, entgegnete Johana. »Und jetzt bringt mir einen der Verantwortlichen her, mit dem ich reden kann, oder ich verwandle diese Halle in einen Dschungel.«

»Sie haben uns gewarnt, daß Ihr Schwierigkeiten machen würdet«, entgegnete der Butler oder was zur Hölle er war.

»Wenn es Euch nichts ausmacht, kurz im Lesezimmer zu warten? Man wird sich Eurer annehmen, so schnell es geht.«

»Und zwar sehr schnell«, entgegnete Johana.

»Das würde mich nicht weiter überraschen. Und zu Eurer Information, ich bin der Kanzler dieser Loge, und kein verdammter Butler. Hier ist das Lesezimmer. Bitte bemüht Euch, kein Mobiliar zu zerbrechen und kein Feuer anzuzünden. Einige dieser Bücher hier sind sehr alt und für uns sehr viel mehr wert als Eure geschätzte Person.«

»Das glaubt auch nur Ihr«, sagte Johana. »Und jetzt setzt Euch bitte in Bewegung, Kanzler. Laßt mich nicht zu lange warten, sonst komme ich womöglich noch auf komische Gedanken.«

»Daran zweifele ich keine Sekunde«, sagte der Kanzler und geleitete Johana ins Lesezimmer. Es war ein großer, hell erleuchteter Raum mit breiten, bequemen Sesseln, glänzenden getäfelten, Wänden und einem einladenden, gemütlich prasselnden Feuer im Kamin. Der gesamte Raum verbreitete eine ruhige, entspannte Atmosphäre, der Johana auch nicht einen Augenblick lang traute. Wahrscheinlich wollte man damit lediglich ihre Wachsamkeit ablenken. Unauffällig sondierte sie die umliegenden Räume und stellte zu ihrer nicht gelinden Überraschung fest, daß ihr mächtiges ESP harmlos von massiven psionischen Schilden abprallte.

»Bitte unterlaßt das«, ermahnte sie der Kanzler. »Es gibt viele private Plätze in unserer Loge, und alle sind mental abge-schirmt, um die sensibleren unserer Leute vor dem Lärm der Welt draußen zu schützen. Hin und wieder dienen sie aber auch dem umgekehrten Zweck: nämlich die Welt draußen vor dem einen oder anderen von uns zu schützen. Ich rate Euch mit aller gebotenen Dringlichkeit: Respektiert ihre Privatsphäre. Um Eurer selbst willen, wenn schon nicht um der anderen.«

Der Kanzler wußte, wann es angebracht war, den Vortrag zu beenden, und so verbeugte er sich knapp und ließ Johana allein im Lesezimmer zurück. Er zog die Tür hinter sich ins Schloß, und Johana wartete auf das Geräusch eines sich drehenden Schlüssels… doch es kam nicht. Vermutlich glaubte die Espervereinigung, daß ihr andere Wege zur Verfügung stünden, um Johana aufzuhalten, falls sie irgend etwas unternehmen sollte. Diese Dummköpfe. Johana schnaufte wütend und warf sich in den Sessel, der am gemütlichsten aussah. Sie hatte die Hölle des Wurmwächters überlebt, und nun gab es nicht mehr viel, wovor sie sich fürchtete. Sie starrte finster um sich.

Bei näherer Betrachtung entpuppte sich das Lesezimmer als ein ausgesprochen trister Ort. Es besaß weder Stil, noch wirkte es anheimelnd. Wahrscheinlich war es für die Esper eine Art

›neutraler Boden‹, wo sie sich mit den Menschen aus der Welt draußen treffen konnten.

Johana versank mürrisch in der Behaglichkeit ihres Sessels und versuchte, sich zu entspannen . Mut und Leidenschaft und ein Gefühl der Vorsehung hatten sie hierhergeführt; doch nicht zum ersten Mal im Verlauf der Reise wußte sie nicht genau, wie es weitergehen sollte. Alles hing davon ab, wie ernst sie von der Espervereinigung von Nebelwelt genommen werden würde. Sie war nicht mehr daran gewöhnt, mit Menschen umzugehen, die nicht durch ihre bloße Gegenwart in Ehrfurcht versanken, oder die zumindest von ihr beeindruckt waren oder zumindest von dem, was aus Johana Wahn geworden war. Andererseits befanden sich in diesem Haus die stärksten Esper auf einem Planeten, wo es vor Begabten nur so wimmelte. Sie würden nicht leicht zu beeindrucken sein, und Johana durfte sie auch nicht so einfach bedrohen. Der Untergrund brauchte die volle Unterstützung und Anerkennung durch die Nebelwelt.

Vielleicht würde es auch gar nicht funktionieren. Mißgelaunt verzog Johana das Gesicht. Wenn du Zweifel hast, halte dich an den Plan. Der Untergrund hatte einige Zeit damit verbracht, ihr die richtigen Worte und Phrasen einzubleuen . Inzwischen konnte Johana sie im Schlaf rezitieren, und außerdem glaubte sie auch leidenschaftlich an die Argumente.

Aber trotzdem: Diese Leute hier sollten besser lernen, ihr ein wenig mehr Respekt entgegenzubringen. Sie war von der Weltenmutter berührt worden, und sie war nicht mehr die einfache Johana Wahn. Sie war viel mehr.

Johana konzentrierte sich. Ihr Bewußtsein verteilte sich und durchdrang mit Leichtigkeit die mentalen Schilde, die sie um-gaben. Augenblicklich erfüllte Stimmengewirr ihren Verstand, rauh und ohrenbetäubend, und Visionen rasten an ihrem geistigen Auge vorüber, zu schnell, um ihnen zu folgen. Johana wurde schwindlig. Sie umklammerte die Armlehnen ihres Sessels, um sich aufrechtzuhalten . So viele Geister, und alle arbeiteten sie auf Hochtouren. Vergangene Geschehnisse und zu-künftige Möglichkeiten vermischten sich, bis Johana sie kaum noch voneinander unterscheiden konnte. Sie brandeten von allen Seiten heran wie die Wogen der Flut an einen einsamen Felsen vor der Küste, doch Johana blieb unbeweglich und ließ sich weder davonspülen, noch untergraben. Sie konzentrierte sich weiterhin und lauschte in dem ohrenbetäubenden Lärm auf die Informationen, die sie suchte – und langsam erfaßte sie Einzelheiten, wie Schiffe, die geisterhaft aus dem Nebel auftauchen und wieder verschwinden.

Irgend jemand betete und schluchzte dabei so heftig, daß Johana die Worte kaum verstand. Visionen von brennenden Ge-bäuden und Menschen, die schreiend durch die nächtlichen Straßen rannten. Etwas Dunkles und Schreckliches hing über der Nebelwelt, wie eine gigantische Spinne, die genüßlich ihre Beute betrachtete . Johana hörte Schüsse, und das Blut eines Kindes spritzte auf eine Wand . Die Straßen waren überfüllt von Menschen, die wild durcheinanderrannten, während ringsherum die Rammen loderten und der Tod sich von allen Seiten näherte.

In einer Zelle gar nicht weit von Johanas augenblicklichem Standort entfernt hämmerte jemand mit aufgesprungenen blutigen Händen auf gepolsterte Wände ein, und obwohl er stumm war, schrie sein Verstand unablässig schieres Entsetzen hinaus.

Und über allem war ein Name: ein Name, der immer und immer wieder auftauchte, ein Name, der in einem Chor von Stimmen an die Oberfläche drang wie ein Herzschlag, eine Prophezeiung des Untergangs, die unabwendbar näherrückte.

Legion. Die Legion kommt. Legion.

Johana zitterte am ganzen Leib und brach den Kontakt ab.

Sie atmete schwer und kämpfte darum, ihre Sinne wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ohne Zweifel hatte sie soeben einen Blick in die Zukunft geworfen. Sie hatte gesehen, wie sich die Straßen Nebelhafens in eine Hölle verwandelten, und sie hatte gesehen, wie Imperiale Truppen das fliehende Volk niedermet-zelten. Sie hatte gesehen, wie die Stadtmauern einstürzten und Gebäude explodierten, und über alledem hatte sie einen nicht enden wollenden Schrei gehört – einen nichtmenschlichen Schrei.

Es konnte in einem Jahr passieren oder vielleicht in einer Woche. Vielleicht hatte es sogar schon angefangen. Johana wußte es nicht. Wie auch? Präkognitive Visionen ließen nie einen Rückschluß auf die Zeit zu.

Johana hob ihre mentalen Schilde, bis sie wieder allein in ihrem Kopf war und sich endlich wieder in Sicherheit fühlte. Sie stöhnte lautlos und rieb sich die schmerzenden Schläfen.

»Geschieht Euch recht«, sagte eine rauhe Stimme von der Tür her. »Warum müßt Ihr auch lauschen?« Johanas Kopf ruckte herum, und sie sprang erschrocken auf. Sie hatte nicht gehört, wie die Tür geöffnet worden war. Im Eingang stand Investigator Topas. Sie sah genauso hart und kompromißlos aus wie bei ihrer ersten Begegnung. Neben Topas stand eine große, entsetzlich magere Frau in blassen, pastellfarbenen Kleidern. Die Frau war genauso bleich und farblos wie ihre Kleidung. Strähniges blondes Haar umrahmte ungekämmt ein hageres, scharf geschnittenes Gesicht mit blitzenden blauen Augen. Auf den Wangen waren große vernarbte Flecken zu sehen, und ein Teil ihrer Nase fehlte, als hätte ein Tier ihn weg-gefressen. Die Frau wirkte spröde und schien in einem fast übernatürlichen Licht zu strahlen. Wäre sie nicht so unglaublich mager gewesen, hätte sie vielleicht sogar gefährlich ge-wirkt. Sie sah aus, als würde ein starker Windhauch ausreichen, um sie davonzuwehen.

»Es ist unhöflich, so zu starren«, sagte Topas. »Falls Ihr Euch fragen solltet: Es sind Erfrierungen. Auf der Nebelwelt wird es hin und wieder ziemlich kalt. Wenn Ihr freundlich fragt, zeigt sie Euch vielleicht auch die Stummel, wo sie einst ein paar Finger hatte. Ihr Name lautet Marie.«

Johana verstand sofort, und sie betrachtete die geisterhaften Gestalt mit neuem Respekt. »Typhus-Marie? Die Seuchenüberträgerin?«

»Diesen Namen trage ich nicht mehr«, erwiderte Marie. Ihre Stimme klang dünn und leise – es war kaum mehr als ein Murmeln –, doch Johana hatte keinerlei Schwierigkeiten, ihre Worte zu verstehen . In Maries Tonfall und in ihrem Blick lag eine überwältigende Macht. »Die Typhus-Marie war eine andere Person. Jemand, den das Imperium erschaffen hat, um die Dreckarbeit zu erledigen. Das bin ich nicht mehr. Ich bin einfach nur Marie.«

Johana nickte. »Ich weiß, wozu die Imperialen Hirntechs imstande sind. Sie haben ihre Drecksfinger auch in mein Gehirn gesteckt. Trotzdem, wenn man bedenkt, welchen Schaden Ihr der Nebelwelt zugefügt habt… Ich bin überrascht, daß man Euch frei herumlaufen läßt. Zur Hölle, ich bin tatsächlich überrascht, daß Ihr überhaupt noch am Leben seid, Marie!«

»Fräulein Taktlos«, entgegnete Investigator Topas, »wir auf der Nebelwelt geben den Menschen keine Schuld an dem, was das Imperium ihnen angetan hat. Die meisten der Menschen hier haben irgendwann mal etwas für das Imperium getan, wo-für sie sich schämen. Der Rat hat Marie in meine Obhut gegeben. Wir arbeiten jetzt als Team zusammen. Marie und ich, wir haben eine Menge gemeinsam. Meistens Dinge, die wir dank der Eisernen Hexe und ihrer verdammten Intrigen verloren haben. Aber genug der leeren Worte. Ihr wolltet mit der Vereinigung der Esper sprechen, doch unsere führenden Kräfte sind zur Zeit sehr beschäftigt. Ihr könnt mit uns reden. Wir werden Eure Botschaft weiterleiten, falls erforderlich. Bis dahin werdet Ihr sicherlich einen guten Eindruck hinterlassen wollen, oder?

Laßt die Blumen in Frieden und respektiert die mentalen Abschirmungen in diesem Haus, ja? Sie dienen genauso Eurem Schutz wie dem anderer. Viele Leute haben bei uns Schutz und Hilfe gesucht wegen der schrecklichen Dinge, die das Imperium mit ihnen angestellt hat. Einige von ihnen sind noch immer konditioniert, und viele trauern nach wie vor um die geliebten Wesen, die sie während der Esperseuche verloren haben. Respektiert ihre Privatsphäre.«

Johana zuckte die Schultern. Sie hatte eine Mission zu erfüllen. »Sie werden mich alle hören wollen, sobald sie wissen, wer und was ich bin. Ich repräsentiere Unsere Mutter Aller Seelen, und in mir ruhen die Kräfte der Weltenmutter. Ich werde ihre Dunkelheit mit Licht erfüllen und ihren Leiden ein En-de bereiten. Und mit ihrer Hilfe werde ich schließlich das Imperium selbst zu Fall bringen, und…«

»Spart Euch die großen Worte«, unterbrach sie Topas. »Das alles haben wir schon mehr als einmal gehört . Legenden sind hier in Nebelhafen nicht einen Penny wert . Hauptsächlich deswegen, weil es hier so viele Menschen gibt, die sich verzweifelt wünschen, daran zu glauben . Es ist an Euch, uns zu beweisen , daß Ihr nicht einfach nur ein weiterer Esper seid, der an Wahnvorstellungen leidet.«

Johana ließ sich den rüden Ton gefallen – jedenfalls für den Augenblick. »Erzählt mir mehr über die Vereinigung der Esper. Wie fing es an?«

Falls Investigator Topas wegen des unvermittelten Thema-wechsels überrascht war, dann zeigte sie es zumindest nicht.

»Wie alles anfing? Am Anfang bestand die Aufgabe der Vereinigung darin, alle Esper zusammenzurufen, wenn wir rasch den psionischen Schild um die Nebelwelt herum errichten mußten.

Aus diesen Anfängen erwuchs schließlich eine Art Selbsthilfe-gruppe, bevor wir dann zu einer politischen Macht, die ihre eigenen Interessen durchzusetzen vermochte, wurden. Nebelhafen ist kein Ort für die Schwachen. Auf den Straßen laufen Typen herum, die einen bei lebendigem Leib fressen, sobald sie Furcht riechen. Und manchmal locken Versuchungen, denen nur die wenigsten von uns alleine widerstehen könnten.

Heutzutage ist die Espervereinigung zu einer politischen und wirtschaftlichen Macht geworden, deren Einfluß sich über die gesamte Stadt erstreckt. Und diejenigen unter uns, die die Verantwortung tragen, sind keinesfalls begierig darauf, ihre be-trächtliche Macht von einem halb verrückten ehemaligen Insassen der Wurmwächterhölle unterminieren zu lassen, der von sich behauptet, Avatar der Weltenmutter zu sein. Einige von uns glauben nicht einmal daran, daß eine Weltenmutter überhaupt existiert oder jemals existiert hat. Und andere haben einfach nur ein persönliches Interesse daran, ihre Existenz zu verleugnen. Das sind die Gründe, weswegen Ihr mit uns sprecht und nicht mit den Anführern unserer Vereinigung . Und zudem erweckt Euer Name auch nicht gerade Vertrauen in Eure Fähigkeiten. So, und jetzt könnt Ihr meinetwegen mit Eurer Vorstellung anfangen. Ich muß wohl nicht erst erwähnen, daß Ihr gut daran tätet, überzeugend zu wirken.«

Johana grinste Topas und Marie unvermittelt an, und die beiden erschauerten unwillkürlich . Plötzlich war etwas in diesem Zimmer: eine Präsenz und eine Macht, wie sie noch vor wenigen Augenblicken nicht zu spüren gewesen war. Johana Wahn ergab sich in ihre Bestimmung, ließ all ihre Abschirmungen fallen und erstrahlte so hell wie Sonnenfeuer in einem Kristall-glas. Ihre Präsenz wurde überwältigend, erfüllte den Raum und dröhnte in der Luft wie der Herzschlag eines Riesen. Topas und Marie wichen zurück, und die Hand des Investigators fiel automatisch auf den Griff der Klinge an ihrer Hüfte. Johanas ESP peitschte in die Bewußtseine von Topas und Marie und riß ihre Abwehr mit beiläufiger Leichtigkeit ein. Nackt standen die beiden vor ihr, ohne jeden Schutz. Johana hätte alles mit ihnen machen können; sie hätten ihr alles geglaubt und alles gesagt, was sie wollte, und beide wußten sie es. Doch statt dessen öffnete sie ihnen ihr eigenes Bewußtsein, zeigte ihnen ihr eigenes Leid während der Zeit in der Hölle des Wurmwächters, alles innerhalb eines einzigen Augenblicks komprimierter lebendig gewordener Hölle.

Sie waren dabei, als der Wurm sich in Johanas Gehirn fraß.

Sie waren dabei, als er die Kontrolle über jede ihrer Regungen und jeden Gedanken übernahm. Sie waren dabei, als sie zusammengerollt und nackt auf dem Boden ihrer Zelle lag. Sie erlebten, wie Johana zitterte und bebte, umgeben vom Gestank des eigenen Urins und Kots und Erbrochenen. Ihre Zelle war nur wenig größer als ein Sarg, mit glatten stählernen Wänden und einer Decke, die zu niedrig war, um mehr als nur zu knien oder zu kriechen. Kaum jemals fiel ein Lichtstrahl hinein, und es gab nichts als beinahe endlose Dunkelheit und den Wurm, der sich in Johanas Bewußtsein eingenistet hatte und sie mit den endlosen Alpträumen der projizierten Halluzinationen und Wahnvorstellungen des Wurmwächters überschüttete. Sie verlor ihre Stimme in Silo Neun, während sie um eine Hilfe schrie, die niemals kam, oder während sie einfach nur darum flehte, daß der Schmerz und das Entsetzen und das Leiden endlich aufhören mochten.

Und dann geschah das Wunder. Mater Mundi, die Weltenmutter, kam zu ihr. Unsere Mutter Aller Seelen entfaltete sich in Johana Wahns Bewußtsein wie ein strahlend schöner Schmetterling, der einer häßlichen Raupe entschlüpft, und von dort aus breitete sie sich aus und umfing jeden einzelnen Esper in der Hölle des Wurmwächters, verband sie zu einer einzigen unaufhaltsamen Macht, einer Klinge, die mitten durch das Herz des Wurmwächters selbst fuhr. Das Geistwesen konnte nicht lange existieren, ohne die Seelen aller beteiligten Esper zu verbrennen, doch für einen einzigen flüchtigen Augenblick war jeder von ihnen großartiger, als es die gesamte Menschheit jemals gewesen war – und mächtiger. Und all diese Macht fokussierte sich in der Gestalt Johana Wahns.

Nur, daß Johana Wahn nicht ihr wirklicher Name war. Sie war einst jemand anderes gewesen, eine Agentin des Untergrunds, die sich freiwillig gemeldet hatte und unter falscher Identität in die Hölle des Wurmwächters in Silo Neun geschickt worden war, um Informationen über mögliche Fluchtwege aus dem Gefängnis zu sammeln. Ihr ursprüngliches Selbst und ihre frühere Identität waren verschwunden, erloschen und vernichtet durch Johana Wahn, die von Großartigkeit berührt worden war und deren ESP eine Macht erreicht hatte, die schier unglaublich schien. Johana Wahn, die Repräsentantin Mater Mundis, die einst jemand anderes gewesen war.

Die Projektion fiel in sich zusammen, als die verschiedenen Seelen in ihr gegeneinander kämpften und kreischten und Johanas Bewußtsein umflatterten wie Motten das Licht, wider alle Vernunft von etwas angezogen, das sie am Ende doch nur zerstören konnte. Johana Wahn, die so viel mehr und doch zugleich soviel weniger war wie einst.

Johana fiel in sich selbst zurück und fiel und fiel und fiel und schlang die Arme um den Leib aus Angst, sich aufzulösen.

Tränen brannten in ihren Augen, und nur schiere Willenskraft hielt sie zurück. Tränen der Erinnerung an etwas Großartiges und Wunderbares, etwas, das die unscheinbare Johana Wahn berührt und verändert und dann wieder verlassen hatte.

Marie trat vor und legte den Arm um Johanas zitternde Schulter. »Alles wird gut. Wir haben verstanden. Wir werden mit unseren Führern sprechen. Sie müssen dich anhören, auch wenn sie das zum jetzigen Zeitpunkt vielleicht noch nicht wissen. Bleib hier. Wir werden die Dinge in Bewegung bringen.«

Sie drückte Johana ein letztes Mal tröstend an die Brust und bedeutete Topas mit einer Kopfbewegung, die Tür zu öffnen.

Topas gehorchte mit unbewegter Miene. Anschließend führte Marie Johana zu ihrem Sessel zurück, dann verließ sie zusammen mit Topas das Zimmer. Johana blieb zusammengesunken und allein zurück wie ein erschöpftes hilfloses Kind. Die beiden Esper zogen die Tür des Lesezimmers hinter sich ins Schloß und gingen durch den Korridor davon.

»Sie scheint nicht besonders belastbar?« bemerkte Topas.

»Wenige von uns sind das heutzutage«, entgegnete Marie.

»Allerdings scheint Johana ein extremer Fall zu sein. Wenn wir sie nicht mit Samthandschuhen anfassen, halten wir am Ende eine multiple Persönlichkeit in den Händen – und eine verdammt machtvolle noch dazu. Hast du ihre Energie gespürt? Es war, als blicke man direkt in die Sonne. Ich habe noch nie eine derart mächtige Begabung erlebt. Ich bin nicht einmal sicher, ob sie menschlich ist oder nicht. Kann es sein, daß es tatsächlich die Weltenmutter war?«

Topas zuckte unbehaglich die Schultern. »Ich war nie besonders religiös. Trotzdem habe ich das gleiche gesehen wie du.

Vielleicht ist sie wahnsinnig, aber irgend etwas hat sich durch sie manifestiert. Die Abdrücke auf ihrem Bewußtsein sind nicht zu übersehen, selbst jetzt nicht. Und Mater Mundi ist als Antwort genauso gut wie alles andere, wer oder was auch immer es sein mag. Aber auf jeden Fall hast du recht: Die Anführer müssen mit ihr reden, und wenn auch nur aus dem einzigen Grund, daß unter Kontrolle gehalten wird. Gott allein weiß, welchen Schaden sie anrichtet, wenn sie durchdreht.«

»Genau wie bei mir«, sagte Marie.

»Das ist vorbei. Du bist wieder du selbst.«

»Vielleicht. Meinst du, ich wüßte nicht, daß du mich im Auftrag des Rates noch immer im Auge behältst? Nicht jeder ist davon überzeugt, daß meine Deprogrammierung erfolgreich verlief.«

»Ich bin bei dir, weil ich es wollte, und aus keinem anderen Grund. Vielleicht ist es dir entgangen, aber du hast noch immer eine Menge Feinde hier in Nebelhafen«, erklärte Topas. »So gut wie jeder hier hat im Verlauf der verdammten Seuche den ein oder anderen Angehörigen verloren, weißt du?«

»Ich werde niemals wieder töten«, sagte Marie. »Eher bringe ich mich selbst um.«

»Das weiß ich.«

»Die arme Johana. Sie hat schrecklich viel durchgemacht.«

»Haben wir das nicht alle?«

Owen Todtsteltzer spazierte allein durch die überfüllten Straßen des Händlerviertels. Er blickte finster um sich, während er innerlich vor Wut schäumte. Die Menschen, an denen er vorüberkam, warfen nur einen Blick in sein Gesicht und ließen ihm dann reichlich Platz. Einige wichen sogar auf die andere Straßenseite aus, nur für den Fall. Überall priesen Straßenhändler ihre Waren mit den blumigsten Worten an, doch Owen schenkte ihnen nicht die geringste Aufmerksamkeit. Mit jedem Schritt wurde er immer wütender, und es war ihm egal, ob andere das bemerkten oder nicht. Daß sein Orientierungssinn nicht besonders gut funktionierte, besserte seine Laune auch nicht gerade. Er hatte sich nicht im buchstäblichen Sinn verirrt; er wußte nur nicht mehr genau, wo er sich gerade befand. Er war erst ein einziges Mal hier gewesen. Damals hatte Hazel ihn geführt, und er hatte nicht auf den Weg geachtet.

Glücklicherweise erinnerte sich wenigstens Ozymandius an die Richtung.

Owen stapfte immer tiefer in das Viertel, trat dann und wann nach einer Schneewehe und konzentrierte sich auf den Weg, um nicht ständig an Hazel denken zu müssen, die allein bei John Silver geblieben war.

Er hatte kein Recht, eifersüchtig zu sein, wie Hazel ihm ganz ohne Zweifel ins Gesicht gesagt hätte, und trotzdem… auf seine Weise liebte er sie, ganz egal, was sie von ihm denken mochte. Falls sie überhaupt jemals über ihn nachgedacht hatte.

Owen seufzte und stapfte weiter , und schließlich stand er vor dem schäbigen, heruntergekommenen Gebäude, in dem das Abraxus Informationszentrum untergebracht war. Abraxus wußte alles, was in Nebelhafen vor sich ging – manchmal sogar, bevor die Betroffenen selbst etwas davon wußten. Abraxus fand Antworten auf sämtliche Fragen, konnte einem die Sorgen nehmen oder die schlimmsten Alpträume bestätigen – wenn man den richtigen Preis zu zahlen bereit war.

Von außen machte Abraxus nicht viel her.

Es hauste in der ersten Etage über einer gewöhnlichen Bäk-kerei. Nirgendwo gab es ein Schild, das auf seine Gegenwart hinwies: Jeder wußte, wo es zu finden war.

Bei seinem letzten Besuch des Informationszentrums hatte Owen eine Menge Dinge in Erfahrung gebracht. Einige davon waren nützlich gewesen, andere besorgniserregend. Unter anderem hatte Abraxus ihm verraten, wie er sterben würde.

Ich sehe dich, Owen Todtsteltzer. Das Schicksal hält dich in seinen Fängen, sosehr du dich auch dagegen sträubst. Du wirst ein gewaltiges Imperium zu Fall bringen, und du wirst das En-de von allem erleben, an das du je geglaubt hast. Du wirst alles aus Liebe tun, aus einer Liebe, die du nie erfahren wirst. Und wenn es vorüber ist, dann wirst du sterben allein, weit weg von allen Freunden und ohne Beistand oder Hilfe.

Owen erschauerte. Seine Nackenhaare richteten sich auf, als er sich an die Worte erinnerte. Selbst die besten Präkos irrten sich mindestens genauso häufig, wie sie recht behielten; andernfalls hätten sie das Imperium schon längst unter ihrer Kontrolle – aber auch so empfand Owen die Prophezeiung als beunruhigend. Keine Hinweise, keine rätselhaften Andeutungen, keine versteckten Botschaften – nichts außer einer unverblümten Schilderung seiner Zukunft und seines Todes. Er wußte, daß er trotzdem weitermachen und genau das tun würde, was er für richtig hielt – zur Hölle mit den Konsequenzen –, doch er mußte noch einmal mit Abraxus sprechen. Seit seinem letzten Besucht der Nebelwelt war eine Menge geschehen, und Owen hatte das Labyrinth des Wahnsinns überwunden. Das mußte die Dinge ändern. Es mußte einfach.

In vielerlei Hinsicht war er heute ein ganz anderer Mensch als früher.

»Zur Hölle«, knurrte er. »Jeder weiß, daß man Präkos nicht trauen kann.«

»Und wem willst du dann trauen?« flüsterte Ozymandius in seinem Ohr.

»Ich wünschte, du würdest nicht immer mit mir reden. Du weißt verdammt noch mal sehr genau, daß du tot bist.«

»Dann bin ich also nur ein Spuk? Beantworte doch meine Frage, Owen. Wem willst du heutzutage noch vertrauen? Hazel hat dich rausgeworfen, weil sie mit Silver allein sein wollte.

Jung Jakob Ohnesorg ist vielleicht nicht der, für den er sich ausgibt, und Johana Wahn lebt in einer anderen Realität als der Rest von uns. Ich frage dich also: Wem willst du vertrauen?«

»Jedenfalls nicht dir. Ich vertraue dem echten Jakob Ohnesorg, daß er das tut, was für die Rebellion das beste ist. Ich vertraue Ruby Reise, daß sie ihm bis zum letzten Rückendek-kung gibt, solange am Ende nur reichlich Beute auf sie wartet.

Ich vertraue Giles Todtsteltzer, daß er den Namen der Familie hochhält. Und ich vertraue alles in allem auch Hazel, daß sie am Ende das Richtige tut.«

»Und Silver?«

»Hazel geht ihren eigenen Weg. Das habe ich immer ge-wußt.«

»Überzeugend klingt das immer noch nicht«, erwiderte Ozymandius. »Jakob Ohnesorg ist hauptsächlich dafür bekannt, daß ihm auf jedem Planeten, wo er sich sehen läßt, früher oder später in den Hintern getreten wird. Ruby Reise ist eine ehemaligen Kopfgeldjägerin, der man schon aus Prinzip nicht vertrauen kann, und Giles’ Motive und Ansichten sind seit neunhundert Jahren überholt. Du hast noch nie besonderes Talent gezeigt, wenn es um die Wahl deiner Freunde ging, Owen. Hazel hat irgend etwas vor. Das weißt du tief im Innern ganz genau.«

»Hazel hat immer irgend etwas vor. Für eine tote KI bist du ganz schön zynisch . Du hast meine Freunde noch nie gutgeheißen, auch nicht, als du noch gelebt hast . Ich vertraue meinen Mitstreitern, weil mir keine andere Wahl bleibt. Meine einzige Hoffnung zu überleben besteht darin, die Löwenstein von ihrem Eisernen Thron zu stoßen. Um das zu verwirklichen, brauche ich eine Rebellion, und für eine Rebellion brauche ich Verbündete.«

»Ist das der einzige Grund, warum du um Veränderungen kämpfst?«

»Nein. Ich habe zuviel alltägliche Bosheit und zuviel Leid gesehen, und das gesamte Imperium fußt darauf. Ich kann den Blick nicht mehr abwenden. Die Dinge müssen sich ändern, selbst wenn ich mit dem Leben dafür bezahle.«

»Du meinst mit dem Tod. Was soll deiner Meinung nach dem Imperium folgen? Was kennst du schon anderes als die Privilegien der Aristokratie und die Herrschaft der Familien?«

»Frag mich nicht«, entgegnete Owen. »Zuerst einmal müssen wir den verdammten Krieg gewinnen. Wenn wir erst vor der Löwenstein und ihrer Rache in Sicherheit sind, können wir immer noch über das streiten, was auf das Imperium folgen soll. Und schlimmer als das, was jetzt herrscht, kann es gar nicht werden.«

»Berühmte letzte Worte«, spottete Ozymandius. »Du bist Historiker, Owen. Du weißt selbst am besten, was nach Rebellionen geschieht. Die Gewinner wenden sich gegeneinander und kämpfen bis zum Tod, um zu entscheiden, welche der Fraktionen die ehemals regierende ersetzt. Jedenfalls stehen die Chancen gut, daß keiner der Sieger Verwendung für einen durch und durch blaublütigen Aristokraten wie dich hat. Am Ende er-reichst du nichts weiter, als das Imperium in einen Bürgerkrieg zu stürzen, der Jahrhunderte andauert und ganze Planeten brennend in der ewigen Nacht zurückläßt.«

»Weißt du eigentlich, daß du einen seit deinem Tod wirklich richtig deprimieren kannst? Außerdem, was kümmert’s dich?

Für eine KI wird es immer eine Verwendung geben.«

»Es kümmert mich tatsächlich nicht«, gestand Ozymandius freimütig. »Ich wollte mich lediglich ein wenig unterhalten, das ist alles.«

»Also schön, dann halt jetzt die Klappe. Ich habe Geschäfte mit Abraxus zu erledigen, und ich kann nicht mit dir reden, während ich dort drin bin. Sie haben wahrscheinlich noch nie im Leben etwas von toten KIs gehört.«

Ozymandius kicherte leise und verstummte. Owen blickte sich unauffällig um, um sich zu vergewissern, daß ihn niemand beobachtete, dann kletterte er die altersschwache Außentreppe hinauf zum Eingang im ersten Stock. Das Haus hatte schon bei seinem letzten Besuch wenigstens eines neuen Anstrichs bedurft, und mit der Zeit war es nicht besser geworden. Im Holz zeigten sich deutlich dunkle Flecken aufsteigender Feuchtig-keit, und die einfache Messingplatte auf der Tür mit der schnörkellosen Aufschrift ›Abraxus‹ war eindeutig seit Wochen nicht mehr poliert worden, vielleicht sogar seit Monaten.

Es roch eindeutig nach Katzenpisse, wie Owen nicht wenig verblüfft zur Kenntnis nahm, da er seit seiner Ankunft auf der Nebelwelt noch keine einzige Katze zu Gesicht bekommen hatte. Selbstverständlich gab es weder eine Klingel noch einen Türklopfer. Owen hämmerte mit der Faust gegen die Tür und trat zur Sicherheit noch ein paarmal dagegen. Anschließend fühlte er sich schon besser. Nach einer Pause, die lange genug dauerte, um Owen seine Position vor Augen zu führen, schwang die Tür auf, und der Mann namens Chance füllte den Durchgang. Er musterte Owen von oben bis unten, dann winkte er ihn herein. Owen folgte der Aufforderung mit hoch erhobe-nem Kopf.

Innen hatte sich nichts verändert. Zwei Reihen wackliger Pritschen standen dicht an dicht nebeneinander in einem langen Raum mit einem schmalen freien Mittelgang. Auf den Pritschen lagen komatöse Kinder zwischen vier und fünf Jahren und früher, magerer Pubertät. Sie wurden künstlich mit Hilfe intravenöser Tropfe ernährt, und Katheter führten die Stoff-wechselprodukte in schmutzige Behälter ab. Einige der Kinder waren in Decken gehüllt; andere hatten sich freigestrampelt.

Ein paar waren an ihre Betten gefesselt . Über allem hing der penetrante Gestank von billigem Desinfektionsmittel und me-dizinischem Alkohol. Die Kinder waren Esper, teilweise mit eingeschränkten Hirnfunktionen, teilweise mit gesundem Intellekt, aber allesamt zu schwach, um auf sich allein gestellt in der rauhen Wirklichkeit der Nebelwelt zu überleben. Chance kaufte sie von ihren Eltern und setzte ihre ESP-Begabungen dazu ein, ganz Nebelhafen mit einem telepathischen Netzwerk zu überziehen. Er sah und hörte alles. Und das war Abraxus.

Chance hielt die Kinder am Leben, solange er konnte; es lag in seinem eigenen Interesse . Keines von ihnen erreichte jemals das Erwachsenenalter. Es waren die Schwachen und Hilflosen, die Gebrochenen und Mißbrauchten, und zu dem Zeitpunkt, da sie Chance in die Hände fielen, war es bereits zu spät für jede Hilfe – was Abraxus als solches allerdings nicht beeinflußte. Es gab stets Nachschub. Die Kinder waren Chance treu ergeben, im Schlaf wie auch im Wachsein; er war das nächste an einem Freund, das die meisten von ihnen jemals kennengelernt hatten.

Owen schüttelte langsam den Kopf, doch er wandte den Blick nicht ab. Bei seinem ersten Besuch hatte der Anblick ihn bis ins Innerste seiner Seele erschüttert. Sein erster Impuls war gewesen, Abraxus einzureißen und Chance zu töten, doch er hatte es nicht getan. Sosehr Owen sich auch sträubte, es zuzugeben: Abraxus war das Beste, was diesen Kindern in ihrem Zustand überhaupt widerfahren konnte – genetisch geschädigten und schwachsinnigen Espern, die allesamt eine schreckliche Vergangenheit hinter sich hatten und keine Zukunft vor sich.

Ein weiteres Produkt des verdammten Imperiums. Owen drehte sich um und funkelte Chance an, den Gründer und Manager des Abraxus-Informationszentrums. Chance war ein großer, muskulöser Mann, fast genauso breit wie hoch, und er steckte in schwarzer Lederkleidung mit metallenen Manschetten. Sein halbes Gesicht war von einer äußerst häßlichen und komplizierten Tätowierung überzogen, und sein Grinsen war leer. Seine Augen glänzten zu hell, und er blinzelte zu selten.

Owen fragte sich, ob Chance vielleicht schon verrückt gewesen war, bevor er Abraxus gegründet hatte, oder ob das unentwegte Sterben und Leiden der Kinder ihn hatte überschnappen lassen.

Gleich wie, Owen hielt einen Sicherheitsabstand zu ihm ein, und seine Hand schwebte ständig in der Nähe der Waffen.

Chance nickte ihm unvermittelt zu.

»Ich wußte, daß Ihr wiederkommen würdet, Owen Todtsteltzer«, sagte er. »Was kann ich diesmal für Euch tun?«

»Das wißt Ihr nicht?« entgegnete Owen. »Ihr scheint nachzu-lassen, Chance. Ich habe Fragen, die nach Antworten verlangen.«

»Ist das nicht der Grund, aus dem wir alle hier sind?« fragte Chance. »Ich denke, ich sollte Euch besser darauf hinweisen, daß Ihr, als Ihr uns das letzte Mal mit Eurem Besuch beehrt habt, Euren gesamten Kredit aufgebraucht habt. Und seither sind die Preise dramatisch gestiegen. Ihr wißt ja selbst, wie das ist: Kleine Unternehmen müssen andauernd darum kämpfen, nicht unterzugehen.«

»Euer Unternehmen existiert nur dank des Geldes meines Vaters«, entgegnete Owen tonlos. »Rein technisch gesehen gehört Abraxus mir, denn ich bin sein einziger Erbe.«

»Ihr wurdet für vogelfrei erklärt«, erwiderte Chance. »Sämtlicher Besitz der Todtsteltzers wurde durch die Imperatorin konfisziert. Außerdem sind wir hier in Nebelhafen, und hier gelten andere Gesetze. Abraxus gehört mir.«

Owen grinste freudlos. »Ich schätze, da täuscht Ihr Euch gewaltig. Ich bin hier in Nebelhafen, um das alte Spionagenetz der Todtsteltzers zu revitalisieren. Ich beabsichtige, es im Verlauf der Rebellion einzusetzen. Dieses Spionagenetz, verehrter Chance, schließt Euch und Abraxus definitiv mit ein. Und da ich – trotz all meiner Fehler, zugegeben – einer der Leute bin, die die gegenwärtige Rebellion anführen, wird Abraxus mir Rede und Antwort stehen. Wenn Ihr also Eure höchstwahrscheinlich äußerst gut bezahlte Position als Manager behalten wollt, dann empfehle ich Euch wärmstens, daß Ihr endlich damit aufhört, mir ständig dumm zu kommen. Habt Ihr mich verstanden?«

»Ohne mich könnt Ihr Abraxus nicht betreiben« entgegnete Chance. »Die Kinder sind mein Eigentum, mit Körper und Seele.«

»Sie werden sicher rasch darüber hinwegkommen. Kinder sind… unendlich anpassungsfähig, wenn Ihr versteht, was ich meine.«

Chance dachte darüber nach. »Ihr würdet tatsächlich Abraxus riskieren, nur um wieder die Kontrolle über das Netz zu erlangen?«

»Selbstverständlich«, antwortete Owen . »Schließlich bin ich ein Todtsteltzer. Wir Todtsteltzers haben eine lange Tradition, was unsere Sturheit betrifft. Zur Hölle mit den Konsequenzen.«

Chance rümpfte die Nase . »Und was wollt Ihr wissen, Todtsteltzer?«

»Das ist schon besser. Ich habe eine Frage.«

»Vielleicht könntet Ihr etwas genauer werden? Schließlich wollt Ihr ja auch eine genaue Antwort, oder? Meine Kinder sind Esper und keine Orakel.«

»Dann fragt sie, wer meinen Vater getötet hat. Ich meine, welche Person genau?«

Chance nickte und wanderte durch den Mittelgang zwischen den Bettenreihen entlang, während seine Blicke erwartungsvoll von einem Kind zum anderen glitten. Owen wartete, ohne eine Miene zu verziehen. Er verbarg seine Überraschung über die eigene Frage. Es war nicht die gewesen, mit der er eigentlich hatte anfangen wollen. Er war hier, um Informationen über das Spionagenetz seines Vaters einzuholen. Bis er sich selbst die Frage hatte stellen hören, hatte er nicht gewußt, wie sehr ihn der Name des Mörders seines Vaters interessierte. Sein Vater war auf der Straße von einem Meuchelmörder niedergestochen worden, den die Imperatorin gedungen hatte, und das hatte Owen noch nicht einmal überrascht. Er hatte einfach angenommen, daß die zahlreichen Intrigen und Verschwörungen seinen Vater endlich eingeholt hatten. Owen war hauptsächlich nur wütend über die Störung gewesen, die der Tod seines Vaters für sein zuvor wohlgeordnetes Leben bedeutet hatte. Damals hatte er nicht gefragt, wer ihn ermordet hatte. Es war ihm egal gewesen. Damals.

Arthur Hadrian Todtsteltzer, groß gewachsen, attraktiv und unglaublich charmant, hatte die größte Freude an Intrigen und Ränkeschmieden gehabt, und wenigstens ein paar davon waren purer Selbstzweck gewesen. Was wiederum bedeutete, daß er nicht viel Zeit für seinen Sohn Owen gehabt hatte.

Wenn Arthur Hadrian Todtsteltzer – wie es hin und wieder geschah – einfiel, daß er einen Sohn und Erben besaß, griff er mit eiserner Hand in dessen Leben ein und tat, was er für das Beste hielt – zur Hölle mit Owens eigenen Wünschen . Owens Erinnerung an den Vater war alles andere als gut, und ihre wenigen Unterhaltungen hatten stets in bitterem Streit geendet.

Der Todtsteltzer hatte nie verstehen wollen, daß sein Sohn sich selbst als Gelehrten betrachtete, als einen Mann des Wortes, nicht des Schwertes.

Als Owen vom Tod seines Vaters erfahren hatte, war sein erstes Gefühl Erleichterung gewesen. Endlich war er frei! Endlich stand er nicht mehr unter Bevormundung und konnte sein eigenes Leben leben.

Erst später – erst vor kurzem, um genau zu sein – hatte Owen angefangen zu verstehen, welche Motive seinen Vater angetrieben und bewegt hatten . Allein die Tatsache, daß er der Todtsteltzer gewesen war, hatte Arthur viele Feinde am Imperialen Hof und auch außerhalb verschafft. Ein Aristokrat auf Golgatha konnte Intrigen genausowenig ausweichen, wie ein Fisch das Wasser verlassen konnte. Vor allem hatte Arthur an Rebellion als Mittel zum Zweck geglaubt – ob um des Imperiums willen oder zu seinem eigenen Vorteil, das wußte Owen noch immer nicht; doch allmählich begann er die Motive seines Vaters zu verstehen. Je mehr er erkannte, mit welch schrecklichen Methoden die Löwenstein ihre Herrschaft aufrechterhiel-ten, desto mehr wurde ihm bewußt, daß er das Imperium mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen mußte.

Owen brachte es noch immer nicht fertig, seinem Vater zu vergeben oder ihn gar zu lieben – jenen Mann, der den Ausbil-dern und Lehrern seines Sohnes befohlen hatte, den Jungen windelweich zu prügeln, immer und immer wieder, in dem Versuch, das geheime Vermächtnis der Todtsteltzer hervorbre-chen zu lassen und an die Oberfläche zu zwingen: den Zorn.

Eine Mischung aus genetisch manipulierten Drüsen und spezieller Ausbildung, die einen Todtsteltzer für einen kurzen Zeitraum stärker , schneller und gerissener werden ließ als jeden normalen Menschen. Schließlich hatte es auch funktioniert, doch Owen erinnerte sich nur an den Schmerz und das Blut – und all das nur, um eine Gabe in ihm zu wecken, die er überhaupt nicht hatte haben wollen. Erst vor kurzem war Owen bewußt geworden, warum der alte Todtsteltzer so verzweifelt versucht hatte, seinen Sohn zu einem Kämpfer zu machen statt zu einem Gelehrten. Der alte Todtsteltzer hatte gewußt, daß ein Gelehrter nicht imstande sein würde, sich den Kräften zu wi-dersetzen, die sich nach seinem Tod auf seinen Sohn stürzen würden. Und er hatte verdammt recht damit gehabt.

Genauso, wie Owen zu einem der Führer der neuen Rebellion und damit zu einem Kämpfer für die Gerechtigkeit geworden war, so war er schließlich auch seines Vaters Sohn geworden.

Und erst nachdem Owen die Wahrheit erkannt hatte, war ihm bewußt geworden, wieviel er verloren hatte und wie wichtig es für ihn war herauszufinden, wer seinen Vater ermordet hatte.

Er blickte auf, als Chance ihn ungeduldig zu sich winkte.

Owen ging zu ihm hinüber und blieb vor einer Pritsche stehen, in der ein Mädchen von höchstens zehn Jahren lag. Das Kind trug schäbige Kleidung, die zwei Nummern zu groß war, und es warf sich unruhig auf seiner Liege hin und her, als würde es in seinem Schlaf durch laute Stimmen gestört, die nur es allein hören konnte. Es hatte die Augen geschlossen, doch hin und wieder murmelte es unverständliche Worte und ganze Sätze.

Für Owen ergab nichts davon einen Sinn. Chance kniete neben der Pritsche nieder und zog eine halbvolle Papiertüte mit Bonbons hervor . Er nahm ein Bonbon und knetete es in den Fingern, bis es weich und geschmeidig war, dann steckte er es in den schlaffen Mund des Kindes. Das Kind fing langsam an zu kauen. Chance näherte sich mit dem Mund dem rechten Ohr des Mädchens.

»Zeit, das Spiel zu spielen, Katie«, sagte er. »Zeit, mir all die Dinge zu erzählen, die du weißt. Hier bei mir ist Owen Todtsteltzer. Er möchte wissen, wer seinen Vater getötet hat. Wes-sen Hand führte die Klinge, die seinem Leben ein Ende setzte? Wer war es, Katie?«

Das Mädchen runzelte die Stirn und schürzte unglücklich die Lippen, doch es wachte nicht auf. Nach einer Weile schluckte es den Rest des Bonbons herunter und sprach mit klarer Stimme: »Diese Frage hast du mir vor langer Zeit schon einmal gestellt. Die Antwort ist noch immer die gleiche. Es war der lächelnde Mörder, der Hai in seichten Gewässern, der Mann, der nicht aufgehalten werden kann, es sei denn, durch seine eigene Hand. Sein Name ist Kid Death. Kid Death hat den Todtsteltzer getötet.«

Owen nickte langsam. In seinem Gesicht regte sich kein Muskel, doch seine Hände waren zu Fäusten geballt. Er hatte nicht erwartet, diesen Namen zu hören; es überraschte ihn auch nicht. Kid Death war eine Zeitlang der Lieblingsassassine der Imperatorin gewesen. Sein richtiger Name lautete Lord Kit Sommer-Eiland. Inzwischen war er ein Befürworter der Rebellion und ein Freund von Owens entferntem Vetter, der den Titel des Lord Todtsteltzer angenommen hatte, nachdem Owen für vogelfrei erklärt worden war. Zur Zeit waren beide nach Virimonde unterwegs, der ruhigen Hinterwelt, die einst Owen gehört hatte. Es spielte keine Rolle. Und es spielte auch keine Rolle, daß Owen und Kid Death inzwischen auf der gleichen Seite kämpften . Owen würde ihn töten, sobald die Rebellion ihn nicht mehr benötigte, ebenso wie jeden, der ihm dabei in den Weg trat . Ein zögerndes Grinsen erschien auf Owens Gesicht, und er öffnete die Fäuste wieder. Wenigstens etwas, wor-auf er sich freuen konnte.

»Du bist nicht hergekommen, um mir diese Frage zu stellen«, sagte das Kind unvermittelt. Seine Augen bewegten sich unruhig unter den geschlossenen Lidern. »Es gibt noch etwas, das du mich fragen möchtest. Etwas, das du wissen mußt. Frag mich. Frag mich.«

»In Ordnung«, erwiderte Owen. Seine Brust war mit einemmal wie zugeschnürt, und es kostete ihn Mühe, ein Beben aus seiner Stimme zu halten. »Als ich das letzte Mal hier war, wurde mir erzählt, wie ich sterben würde. Ich muß wissen, ob sich daran etwas geändert hat.«

»Nein«, antwortete das Mädchen tonlos. »Du wirst hier in Nebelhafen sterben, allein und verlassen, im Kampf gegen eine Übermacht, die niemand alleine zu schlagen vermag. Und nach deinem Tod werden sie nicht einmal davor zurückschrecken, dir deine Stiefel zu stehlen.«

»Wann?« fragte Owen. »Wann wird das geschehen?«

»Deine Frage bezieht sich auf einen Zeitpunkt«, entgegnete das Kind und wandte den Kopf ab. »Ich habe die Zeit nie verstanden.«

»Versuch es bitte«, verlangte Owen. »Versuch es, verdammt noch mal!«

Er streckte die Hände aus, um das Mädchen an den Schultern zu packen, doch Chance kam ihm zuvor und zog ihn von der Pritsche weg. Owen schüttelte den schweren Mann ohne jede Mühe ab; aber der Augenblick war vergangen, und er hatte sich wieder unter Kontrolle. Schwer atmend stand er über dem schlafenden Kind… und wandte sich ab.

»Es spielt keine Rolle«, sagte er schließlich mehr zu sich selbst als zu Chance. »Ich weiß seit Virimonde, daß ich für jeden neuen Tag dankbar sein muß. Ich hätte eigentlich schon dort sterben sollen. Nur ein Wunder hat mich gerettet. Niemand darf mehr als ein Wunder in seinem Leben erwarten.

Trotzdem ist es hart, sein eigenes Todesurteil zu hören und zu wissen, daß es nichts, aber auch wirklich absolut gar nichts gibt, das man daran ändern könnte.«

»Wenn Ihr die Antworten nicht hören wollt, dann dürft Ihr die Fragen nicht stellen«, erklärte Chance. »Außerdem habe ich ja bereits gesagt: Ihr dürft den Vorhersagen der Präkos nicht trauen. Würden sie sich niemals irren, dann wäre ich inzwischen längst ein reicher Mann. Ich gebe Euch ein Beispiel: Seit einer ganzen Weile sagen meine Kinder übereinstimmend, daß etwas wirklich Böses auf dem Weg nach Nebelhafen ist, aber nicht zwei von ihnen stimmen darin überein, um was zur Hölle es sich dabei handelt. Ich habe nichts weiter als einen Namen: Legion. Und bis jetzt seid Ihr das einzig Unangenehme, das hier aufgetaucht ist…«

»Es spielt keine Rolle«, unterbrach ihn Owen. »Wenn ich sterben muß, dann sterbe ich aufrecht, wie es sich für einen Todtsteltzer gehört

»Oh, sehr poetisch!« spottete Chance. »Gott bewahre mich vor Helden. Seht mal, ich habe ein Geschäft, das weiterlaufen muß. Paßt auf, daß Euch die Tür bei Eurem Weg nach draußen nicht in den Rücken schlägt.«

»Seid still!« fauchte Owen. »Wir haben noch einiges zu besprechen. Meine ersten Fragen waren rein persönlicher Natur.

Jetzt kommen wir zu den wirklich wichtigen Dingen. Ich bin hier als Repräsentant der Untergrundbewegung von Golgatha, und ich rufe in ihrem Namen offiziell das alte Spionagenetz meines Vaters in Nebelhafen wieder ins Leben zurück. Er hat nicht allein Euch und Abraxus finanziell unterstützt; es gibt über die Stadt verteilt Dutzende von Leuten und Geschäften, die er gegründet und unterstützt hat, als Gegenleistung für das Sammeln und Weiterleiten nützlicher Informationen. Einige dieser Geschäfte scheinen tatsächlich äußerst erfolgreich zu laufen. Sie sind zu Macht und Einfluß gelangt, und das in einer Stadt wie dieser.

Nach der Ermordung meines Vaters trocknete der Informati-onsfluß nach und nach aus. Wahrscheinlich dachten sie, sein Tod befreie sie von ihren Verpflichtungen . Ich bin gekommen, um ihnen klarzumachen, daß sie sich geirrt haben. Heute bin ich der Todtsteltzer, und jetzt treibe ich die Schulden ein, mitsamt Zinsen. Das alte Netzwerk wird seine Arbeit wieder aufnehmen, und diesmal wird es seine Informationen an die Rebellion weiterleiten, oder ich werde höchstpersönlich jeden einzelnen dieser Hurensöhne in den Ruin treiben. Einschließlich Euch, Chance.«

»Scheiße!« entfuhr es dem Manager des Abraxus-Informationszentrums.

»Wenn Ihr es so nennen wollt…« Owen grinste fröhlich.

»Ihr könnt damit anfangen, mir Namen und Orte zu nennen, die Ihr kennt. Den Rest erfahren wir von Euren Espern. Im Anschluß daran werdet Ihr mir dabei behilflich sein, ein Treffen aller beteiligten Parteien zu arrangieren, und zwar noch im Laufe des heutigen Tages genaugenommen innerhalb der nächsten zwei Stunden, falls ihnen an ihren Geschäften und einigen lebenswichtigen Innereien noch etwas liegt. Fangt an, Chance.

Ich habe viel zu tun, und vielleicht bleibt mir nicht soviel Zeit, wie ich ursprünglich dachte, um alles zu erledigen

Chance nahm durch seine Esper mit den richtigen Leuten Verbindung auf, eine Prozedur, von der Owen ganz definitiv aus-geschlossen war. Er wartete ungeduldig auf den Stufen vor den Geschäftsräumen und überlegte, ob er seine Initialen in die Tür oder lieber in die Mauer schnitzen sollte. Chance tauchte ein paar Minuten später wieder auf und zuckte beim Anblick von Owens Werk zusammen. Wortlos führte er Owen die Außentreppe hinunter und in das verwirrende Labyrinth enger Straßen und Gassen, aus dem das Zentrum von Nebelhafen bestand.

Der Nebel war dünner geworden, doch inzwischen hatte ein feiner, störender Nieselregen eingesetzt und den Schnee unter ihren Schritten in rutschigen Matsch verwandelt. Owen hielt sich dicht hinter Chance und versuchte, nicht an das zu denken, was er gerade seinen nicht eben billigen neuen Stiefeln antat.

Nach einer Weile verließen sie das Händlerviertel und kamen ins Quartier der Gilden. Die Straßen und Gebäude hier befanden sich in einem sichtlich besseren Zustand. Es gab richtiges Pflaster, und in regelmäßigen Abständen brannten helle Laternen, einige davon sogar mit elektrischem Licht. Die Gebäude waren ebenso dekorativ wie funktional, und die vorüberkom-menden Menschen sahen reicher, wenn schon nicht glücklicher aus als ihre Nachbarn im Händlerviertel. Vor einem der älteren Gildehäuser blieb Chance schließlich stehen. Er wartete einen Augenblick, damit Owen das Haus betrachten und gebührend beeindruckt sein konnte. Es war ein massives, flaches Gebäu-de, drei Stockwerke hoch, gotische Bögen, große Glasfenster.

Hunderte hölzerner Rokoko-Kinkerlitzchen bedeckten jeden freien Quadratzoll. Die Dach rinnen endeten in großen, gemeißelten Wasserspeiern aus Stein, aus deren Mäulern sich Wasser ergoß, was den unvorteilhaften Eindruck erweckte, als würden die Skulpturen sich auf die Passanten erbrechen. Vielleicht war das sogar Absicht. Schließlich war das hier ein Gildehaus.

Owen wollte Chance nicht vor den Kopf stoßen, indem er ihm sagte, daß er an Löwensteins Hof beeindruckendere Toiletten gesehen habe, also nickte er nur nachdenklich, um zu zeigen, daß er genügend beeindruckt war, und bedeutete Chance mit einer Geste vorauszugehen.

Vor dem Eingang standen zwei bewaffnete Wachen. Sie verbeugten sich respektvoll vor Chance, während sie Owen ignorierten. Er verzichtete darauf, sie zu töten. Schließlich wollte er keine Szene machen. Noch nicht.

Das Foyer hinter den mächtigen Türen war groß, gemütlich und äußerst repräsentativ. Die Wände waren mit Paneelen aus glänzendem Holz verkleidet, der Holzboden auf Hochglanz gebohnert, und alles strahlte im Licht elektrischer Lampen – Lampen, die nicht so sehr dazu dienten, Licht zu erzeugen, sondern um gebührende Bewunderung hervorzurufen.

Die zahlreichen Möbel und anderen Einrichtungsgegenstände waren luxuriös bis hin zur Opulenz. Der Raum stank förmlich nach Geld wie eine alte Familienbank. Owen verspürte einen Hauch von Heimweh.

Nachdem sie durch den Eingang getreten waren, ihre Stiefel auf dem Metallrost abgetreten und den Schneematsch von ihren Umhängen gebürstet hatten, trat ihnen ein Butler in den Weg.

Der Mann trug einen altmodischen Frack, eine gepuderte Pe-rücke und auf dem Gesicht einen lange geübten Ausdruck höchster Mißbilligung. Chance reichte ihm seine Visitenkarte, und der Mann nickte kaum wahrnehmbar. Dann nahm er Chances und Owens Umhänge mit Daumen und Zeigefinger und reichte sie einem Lakaien, der sich beeilte, sie entgegenzunehmen. Anschließend verlangte er, daß die Besucher ihre Waffen herausgaben, und damit fing der Ärger an.

»Ich gebe meine Waffen niemandem«, widersprach Owen energisch.

»Macht keinen Wirbel«, riet ihm Chance. Er öffnete seinen Gürtel und reichte dem Butler das Schwert. »Es ist nicht persönlich gemeint. Normale Sicherheitsbestimmungen. Jeder macht das.«

»Ich bin aber nicht jeder«, entgegnete Owen . »Und ich behalte meine Waffen. Sie würden sich ohne mich nackt fühlen.«

»Ich muß darauf bestehen«, erklärte der Butler in eisigem Ton. »Wir lassen nicht jeden Dahergelaufenen von der Straße herein, wißt Ihr?«

Owen versetzte ihm einen Kinnhaken.

Der bewußtlose Butler stürzte mit einem befriedigend lauten Poltern in einiger Entfernung auf den gewachsten Holzboden und schlitterte noch einen guten Meter, bevor er reglos liegenblieb. Überall drehten sich Köpfe nach Owen um. Einige der Anwesenden schienen seine Tat durchaus gutzuheißen. Aus bis dahin verborgenen Nischen und Türen stürzten Wachen mit gezogenen Schwertern – und verharrten zu Salzsäulen erstarrt, als Owen demonstrativ die Hand auf den Griff seiner Energiewaffe legte.

»Er gehört zu mir«, sagte Chance in die plötzliche Stille hinein. »Obwohl ich wünschte, es wäre nicht so. Er wird erwartet.«

Die Sicherheitsleute warfen sich fragende Blicke zu, zuckten die Schultern und steckten die Schwerter wieder weg. Ganz offensichtlich waren sie zu dem Schluß gekommen, daß dieses Problem sie nichts anging. Die übrigen Leute im Foyer dachten offenbar genauso und wandten sich wieder ihren leisen Gesprächen zu. Owen nickte liebenswürdig lächelnd in alle Richtungen, während der bewußtlose Butler weggetragen wurde.

»Bitte macht das nicht noch einmal«, sagte Chance. »Der erste Eindruck ist verdammt wichtig.«

»Das denke ich auch«, entgegnete Owen. »Und jetzt setzt Euch endlich in Bewegung, oder soll ich erst noch in die Blu-mentöpfe pinkeln?«

»Ich wünschte, ich könnte glauben, daß das ein Scherz war«, brummte Chance. »Hier entlang. Versucht wenigstens , niemand Wichtigen umzubringen, ja?«

Sie drangen in die Tiefen des Gebäudes vor. Offensichtlich hatte es Chance ziemlich eilig. Die Umgebung blieb ge-schmackvoll luxuriös. Diener und richtige Menschen eilten schweigend hin und her, um irgendwelche wichtigen Dinge zu erledigen. Sprechen war anscheinend verpönt oder gar verboten, denn Owen hörte nichts außer einem gelegentlichen Rüstern. In ihm wuchs das lausbübische Bedürfnis, sich von hinten an eine der schweigenden Ikonen heranzuschleichen und laut »Buh!« zu rufen, nur um zu sehen, was anschließend passieren würde.

Leider hatte er keine Zeit dafür. Aber vielleicht auf dem Rückweg?

Alle sahen glatt und geschäftsmäßig aus, die Kleidung ein wenig altmodisch – aber das hier war schließlich auch nur die Nebelwelt. Die Menschen schienen Chance zu kennen, und niemand verpaßte die Gelegenheit, ihm naserümpfend hinter-herzublicken, wenn sie glaubten, er würde es nicht sehen.

Chance ignorierte sie hochmütig. Schließlich endete der Korridor in einem Vorzimmer vor einer grimmig dreinblickenden Sekretärin, deren einzige Aufgabe es zu sein schien, ihren Vorgesetzten vor unerwünschten Besuchern zu schützen. Sie war schlank, wenn nicht gar dürr, und sie sah aus, als sei sie hart genug, um Glas zu zerbeißen . Wahrscheinlich schärften die Wachen in ihrer Freizeit die Schwerter an ihr . Die Kleidung der Frau verbarg sorgfältig jeden Hinweis auf Weiblichkeit, und ihr Blick war streng genug, um jedes Unkraut welken zu lassen.

»Falls Ihr keinen Termin habt, kann ich nichts für Euch tun«, erklärte sie in einem Ton, der so kalt war, daß ein Pinguin er-froren wäre. »Falls Ihr es wünscht, kann ich Euch natürlich einen Termin geben, doch ich weiß jetzt schon, daß Herr Neeson in den nächsten Wochen keinen Platz mehr in seinem Ka-lender hat.«

Chance blickte zu Owen. »Weiter kann ich Euch nicht helfen. Es gibt Hindernisse, die sind für mich einfach zu groß.

Und bitte, schlagt sie nicht.«

»Daran würde ich nicht einmal im Traum denken«, entgegnete Owen. »Ich würde mir wahrscheinlich sowieso nur die Hand brechen.« Er beugte sich über den Schreibtisch und starrte der Sekretärin in die feuersteinharten Augen. »Mein Name ist Owen Todtsteltzer. Meines Vaters Geld hat dieses Geschäft ermöglicht. Ich bin gekommen, um die Schuld einzutreiben.

Und zwar sofort.«

Die Sekretärin zuckte ob dieser Worte noch nicht einmal zusammen, obwohl bei der Nennung des Namens Todtsteltzer eine Augenbraue leicht nach oben wanderte. »Ich verstehe. Ich bin sicher, daß Herr Neeson unter normalen Umständen nur allzu gerne bereit wäre, mit Euch zu sprechen; doch wie die Dinge im Augenblick stehen… Mein Schreibtisch ist übervoll mit…«

Owen trat zurück und zog das Schwert. Er holte schwungvoll aus und ließ es mit all seiner Zorn-verstärkten Kraft auf den Schreibtisch niederkrachen. Die Klinge zerteilte das hölzerne Möbel sauber in der Mitte, und die beiden Hälften fielen polternd rechts und links der Sekretärin um. Chance schüttelte langsam den Kopf. Owen steckte das Schwert wieder ein, als sei nichts geschehen. Die Sekretärin räusperte sich vorsichtig.

»Ich denke, Ihr könnt direkt zu Herrn Neeson hinein, Lord Todtsteltzer. Ich bin sicher, Herr Neeson wird ein paar Minuten für Euch erübrigen können. Ich werde dafür sorgen, daß man Euch nicht stört. Mag einer der Herren vielleicht einen Tee oder Kaffee?«

»Bringt einen Brandy«, antwortete Owen. »Einen großen, bitte. Herr Neeson wird ihn sicher gebrauchen können.« Grinsend wandte er sich an Chance. »Man muß eben wissen, wie man mit diesen Leuten zu reden hat. Meine Familie hat seit Jahrhunderten Übung in diesen Dingen. Was mich angeht, ich habe schon immer gewußt, daß ich das Zeug zu einem großartigen Diplomaten in mir habe.«

»Noch seid Ihr nicht drin«, widersprach Chance. »Das hier ist nur das äußere Büro. Hinter dieser Tür befindet sich ein weiteres Vorzimmer. Dort drinnen erwarten uns die eigentlichen Wachhunde.«

»Schön, wenn sie bissig werden, werfe ich ihnen einen Knochen hin. Welchen würdet Ihr am wenigsten vermissen, Chance?«

Sie gingen durch die Verbindungstür und fanden sich in einer kleinen, leeren Kammer wieder. Zwischen ihnen und der gegenüberliegenden Tür standen drei große, muskulöse Burschen.

Jeder der drei hielt eine mächtige Axt in den Pranken. Die Männer erweckten einen ruhigen und äußerst professionellen Eindruck, und ihre Äxte sahen ganz danach aus, als seien sie häufig im Einsatz gewesen. Chance blickte zu Owen.

»Ein interessantes taktisches Problem, nicht wahr? Kein Raum zum Ausweichen, und es ist vollkommen sinnlos, mit ihnen zu reden. Einen könntet Ihr vielleicht mit Eurem Disruptor ausschalten, doch die beiden anderen wären über Euch, bevor Ihr das Schwert auch nur ziehen könntet . Außerdem ist ein Schwert gegen eine Axt sowieso zwecklos. Wie Ihr Euch sicher denken könnt, bin ich außerstande, Euch zu helfen. Ich muß meine strikte Neutralität wahren. Das versteht Ihr sicher.«

»Selbstverständlich. Normalerweise wäre ich genauso neutral und unbeteiligt, wenn ich mich drei Neandertalern wie diesen gegenübersähe. Unglücklicherweise jedoch bin ich in ziemlicher Eile – unglücklicherweise für die drei, meine ich –, ganz zu schweigen von meiner sich ständig verschlechternden Laune. Sie kommen mir gerade recht, um mich ein wenig abzureagieren. Also paßt auf, mein guter Chance. Paßt auf und lernt.«

Owen trat mit leeren Händen vor, und die drei Wachen kamen ihm mit erhobenen Äxten entgegen. Es dauerte kaum eine Sekunde. Owen schlug den ersten Gegner mit der Faust be-wußtlos, wirbelte auf einem Bein herum und trat dem zweiten in den Unterleib. Und während der dritte noch immer mit der Axt ausholte, machte Owen einen Schritt nach vorn, packte den Mann mit beiden Händen am Kragen und stieß ihm den Kopf ins Gesicht.

Chances Kiefer klappte herab. Owen stand ungerührt da und schaute sich mit stiller Befriedigung um. Er atmete nicht einmal schneller. Die drei Wachen saßen oder lagen stöhnend auf dem Boden und sahen insgesamt ausgesprochen schlecht aus.

»Ihr hattet recht«, bemerkte Chance. »Ihr würdet tatsächlich einen großartigen Diplomaten abgeben. Niemand würde es wagen, anderer Meinung zu sein. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der sich so unglaublich schnell bewegt hat. Was zur Hölle seid Ihr?«

»Ich bin ein Todtsteltzer. Vergeßt das nie wieder.« Owen trat zur gegenüberliegenden Tür und betätigte die Klinke. Die Tür war verschlossen.

Owen rief eine laute Warnung und warf sich mit der Schulter gegen das Holz, und die Tür gab mit lautem Krachen nach.

Eine Angel war aus dem massiven hölzernen Rahmen gerissen worden. Owen hielt die Tür fest, richtete sie vorsichtig wieder hochkant auf und lächelte dann das halbe Dutzend erschrockener Männer an, das sich an einem langen Tisch versammelt hatte. »Klopf klopf«, sagte er fröhlich. »Mein Name ist Owen Todtsteltzer, und Ihr befindet Euch in ernsten Schwierigkeiten.

Gibt es Fragen dazu?«

»Kommt herein, Lord Todtsteltzer«, sagte der Mann am Kopf der Tafel. »Wir haben Euch bereits erwartet.«

»Ja«, erwiderte Owen. »Jede Wette, daß Ihr das habt.« Er blickte über die Schulter zu Chance. »Sucht Euch einen Stuhl, setzt Euch und haltet den Mund. Ich will nicht, daß Ihr mich ablenkt.«

»Das paßt mir ausgezeichnet«, erwiderte Chance. »Ich möch-te diese Schau um nichts in der Welt versäumen. Aber Ihr seid ganz auf Euch allein gestellt, Todtsteltzer, das wißt Ihr.«

Die sechs Männer funkelten Chance wütend an, als er sich einen Stuhl heranzog und dann in einer Ecke des Zimmers Platz nahm, wo er alles sehen konnte, ohne in die Schußlinie zu geraten.

Owen trat an das Ende des langen Tisches, und aller Augen richteten sich wieder auf ihn.

Er ließ sich Zeit, während er ein wütendes Gesicht nach dem anderen in sich aufnahm. Er kannte keinen der Sechs; doch er erkannte Männer mit Macht und Einfluß, wenn er sie sah – nicht an ihren perfekt geschneiderten Garderoben oder an ihrem Übergewicht, sondern an ihrem Verhalten.

Sie waren verärgert über seine Ankunft, aber nicht besorgt.

Sie empfanden keine Furcht vor ihm. Sie waren schon so lange reich und geborgen, daß sie sich nicht mehr vorstellen konnten, wie das war, sich vor jemandem zu fürchten. Owen grinste kurz. Das zumindest würde er ändern.

Vielleicht fühlte er sich durch sie ein klein wenig an sich selbst erinnert, an den Owen Todtsteltzer auf Virimonde, bevor er wachgerüttelt worden war – und falls das zutraf, dann um so schlimmer für sie.

»Möchtest du vielleicht, daß ich diese Leute für dich identifiziere?« erkundigte sich Ozymandius in seinem Ohr. »Ich habe in meinen Datenbänken sämtliche Einzelheiten über sie.«

»Gern, warum nicht?« flüsterte Owen unhörbar. »Mach dich endlich mal nützlich . Moment mal – Datenbänke? Wo steckt deine Hardware? Du bist schließlich tot!«

»Werde bitte nicht persönlich. Und paß auf, was ich zu sagen habe. Ich werde mich nicht wiederholen. Wir fangen links an und gehen im Uhrzeigersinn weiter. Der erste ist Artemis Daley. Ein Händler. Er besorgt alles, vorausgesetzt, der Preis stimmt. Legal oder illegal: Um solche Kleinigkeiten hat er sich nie gekümmert. Wer sich mit der Bezahlung verspätet, kriegt es mit seinen Knochenbrechern zu tun.

Neben Daley haben wir Timothy Neeson, Bankier. Ihm ge-hört dieses Gebäude, ebenso wie viele andere hier in Nebelhafen. Er ist die Nummer eins in seinem eng begrenzten Gebiet, und das bedeutet, daß er in Nebelhafen sehr viel Macht besitzt.

Kein Geschäft in Nebelhafen, an dem er nicht mitverdient.

Der nächste in der Reihe ist Walt Robbins, der größte Grundbesitzer der Stadt. Ihm gehört fast alles, was nicht der Bank gehört. Seine Spezialität sind billige Arbeitskräfte und Slums, weil damit das meiste Geld zu verdienen ist.

Auf der anderen Seite des Tisches haben wir Thomas Stacey.

Er ist der Rechtsanwalt für die anderen Anwesenden – und für jeden sonst, der über genügend Geld verfügt , um seinen hohen Maßstäben zu entsprechen. Er hat noch nie einen Prozeß verloren; aber das hat nichts mit seinen anwaltlichen Fähigkeiten zu tun.

Schließlich sind da noch Matthew Conelly und Padraig McGowan. Conelly ist der Besitzer der Docks , angefangen beim Raumhafen bis hin zu den Landestellen im Autumnusfluß , und McGowan ist der Boß der Dockarbeitergewerkschaft. Sie mau-scheln untereinander , ganz gleich, wer dafür zahlen muß. Zusammen sind sie diejenigen, die in Nebelhafen bestimmen, wo es langgeht. Sieh sie dir gut an, in all ihrer anrüchigen Pracht.

Wenn du sie umbringst, würde sich die Luft in Nebelhafen schlagartig beträchtlich verbessern.«

»Ich wußte gar nicht, daß du so viele Daten über Nebelhafen besitzt«, murmelte Owen erstaunt.

»Du weißt eine ganze Menge nicht, Owen Todtsteltzer. Ich bin verdammt groß, und ich weiß einiges.«

»Habt Ihr uns etwas zu sagen, Todtsteltzer?« erkundigte sich Neeson, der Bankier. Er war ein großer fetter Mann mit einer straff über dem Bauch sitzenden Weste. »Oder wollt Ihr einfach nur dastehen und uns den lieben langen Tag anstarren?«

»Ich habe nur meine Gedanken gesammelt«, antwortete Owen. »Schließlich haben wir eine gemeinsame Vergangenheit, meine Herren. Dem Geld meines Vaters habt Ihr Eure heutige Stellung zu verdanken. Todtsteltzer-Geld. Ursprünglich dazu gedacht, ein geheimes Informationsnetzwerk hier auf der Nebelwelt zu errichten. Mein Vater hat Euch in Positionen gebracht, wo Ihr Macht und Einfluß hattet, damit Ihr die Dinge für ihn im Auge behalten konntet.

Statt dessen habt Ihr sein Geld benutzt, um noch mächtiger zu werden und die Geschicke dieser Stadt in die Hand zu nehmen. Ihr wurdet so reich und mächtig, daß Ihr Eure ursprüngliche Aufgabe vergessen habt. Vielleicht habt Ihr auch einfach nur beschlossen, daß derart reiche und mächtige Gestalten, wie Ihr es seid, sich nicht mehr um irgendwelche Aufträge zu scheren brauchten.«

»Ihr habt es erfaßt«, erwiderte Stacey, der Rechtsanwalt. Er war lang und hager, und auf seinen Wangen waren geplatzte Aderchen zu sehen. »Und wir verspüren nicht die geringste Lust, uns wieder vor irgendeinen politischen Karren spannen zu lassen. Wir denken nicht mehr in derart kleinkarierten Bahnen. Wir haben es geschafft, und das Leben gefällt uns so. Wir sind es, die bestimmen, was in Nebelhafen geschieht. Wir sind das ökonomische Lebensblut, das diese Gesellschaft am Leben erhält. Legt Euch mit uns an oder wagt es gar, uns zu drohen, und die Wirtschaft der ganzen Stadt bricht in sich zusammen.

Wir sorgen schon dafür. Die Menschen würden ihre Ersparnisse verlieren; das Geld wäre nichts mehr wert, und eine Hun-gersnot bräche aus, während sich auf den Docks die Nahrung stapelt und darauf wartet, verteilt zu werden. Ihr könnt uns nichts anhaben, Todtsteltzer. Sämtliche Bewohner von Nebelhafen würden sich gegen Euch erheben und Euch in Stücke reißen, solltet Ihr auch nur den Versuch wagen.«

»Sie würden darüber hinwegkommen«, entgegnete Owen.

»Sobald sie sehen, daß das alte korrupte System durch ein ge-rechteres ersetzt wird.«

»Gerechtigkeit ist ein relatives Konzept«, entgegnete Robbins, der Grundbesitzer. Er war ein kleines dickes Faß von einem Mann. »Arme und Reiche wird es immer geben. Wir sorgen für Stabilität. Ihr habt nicht die leiseste Ahnung von den wirtschaftlichen Realitäten einer abtrünnigen Welt wie der uns-rigen.«

»Ich weiß sehr gut, was Geldgier ist«, erwiderte Owen. »Ich weiß genau, wie Verrat und Eigennutz riechen. Und ich erkenne mit einem einzigen Blick blutsaugenden Abschaum.«

»Das ist gut«, sagte Ozymandius. »Zieh sie durch Schmei-cheleien auf deine Seite.«

»Wir wissen, aus welchem Grund Ihr hergekommen seid«, meldete sich Daley zu Wort, der Händler und Schieber, ein großer Mann mit eingezogenen Schultern und einem finsteren Gesicht. »Ihr wollt uns unser Hab und Gut nehmen, im Namen der Rebellion und Eurer naiven Politik. Schön, mein Junge, Ihr seid einen weiten Weg gekommen, und zwar umsonst. Unser Einfluß erstreckt sich mittlerweile bis weit über die Nebelwelt hinaus. Wir tätigen Investitionen auf zahlreichen Welten des Imperiums. Sogar auf Golgatha. Elias Gutmann war sehr hilfreich bei der Zusammenstellung unserer Portfolios. Ja, ich dachte mir, daß Ihr diesen Namen kennt. Ein Mann von wirklicher Macht und großem Einfluß. Er hat uns verraten, daß Ihr kommen würdet.«

»Gutmann«, sagte Owen. Er spuckte den Namen aus, als sei er eine Obszönität. »Er ist der Rebellion mehr als einmal um den Bart gestrichen. Ich wußte schon immer, daß seine Interessen auf Seiten des Imperiums liegen. Seine Informationen stammen direkt von der Löwenstein. Wenn Ihr seinem Ratschlag gefolgt seid, dann wart Ihr nichts weiter als Marionetten der Imperatorin, und das hier, auf dem Planeten der Rebellen.

Wißt Ihr überhaupt, wie man ›Interessenkonflikt‹ buchsta-biert?«

»Geld kennt keine Loyalität«, erklärte Neeson. »Genausowenig wie Politik. Gutmann war stets ein guter Freund von uns.«

»Jede Wette, daß er das war«, erwiderte Owen. Seine Stimme wurde mit jedem Wort kälter. »Und wenn seine Kredite schließlich fällig werden, preßt Ihr das Geld aus den Leuten von Nebelhafen, die Schulden bei Euch haben. Egal ob sie bezahlen können oder nicht. Die Nebelwelt wird nichts anderes mehr sein als ein ganz gewöhnlicher Planet des Imperiums, der ausblutet, um den Reichtum Golgathas zu mehren.«

Er blickte den Männern der Reihe nach in die Gesichter und sah nichts als gleichgültiges Schulterzucken und ausdruckslose Mienen.

»So sind Geschäfte eben«, sagte Daley schließlich.

»Das sind keine Geschäfte, das ist Ungerechtigkeit«, widersprach Owen. »Und ich habe bei meinem Blut und meiner Ehre einen Eid geschworen, daß ich jeder Form von Ungerechtigkeit ein Ende bereite, und das schließt Euer Tun mit ein. Vielleicht werde ich Euch alle töten und sehen, ob Eure Nachfolger zu einer vernünftigeren Zusammenarbeit fähig sind. Aber egal wie es auch kommen mag: Euer Geld wird die Rebellion unterstützen, genau wie es von Anfang an geplant war. So wie es mein Vater gewollt hat.«

»Das glaube ich nicht«, entgegnete Neeson. »Wachen! Packt ihn!«

Auf beiden Seiten des Raums flogen Türen auf, und eine kleine Armee von Wachen stürzte herein. Sie waren mit Schwertern und Äxten und zum Teil sogar mit Disruptoren bewaffnet. Owen fiel in seinen Zorn, und eine vertraute Kraft durchflutete seinen Körper. Er fühlte sich beinahe übernatürlich wach und bewußt, als hätte er sein ganzes bisheriges Leben im Halbschlaf verbracht. Er spürte, daß er alles vollbringen konnte, und daß er jedem Risiko gewachsen war, ohne die Folgen fürchten zu müssen. Owen riß sich zusammen. Das war der Zorn, der da sprach, und nicht Owen Todtsteltzer. Owen benutzte ihn in letzten Zeit zu häufig und zu ausgedehnt, trotz der damit verbundenen Gefahren, und er wußte es. Doch er vertraute auf die Veränderungen, die sein Körper im Labyrinth des Wahnsinns erfahren hatte, vertraute darauf, daß sie ihn vor den normalerweise verkrüppelnden Nebenwirkungen schützten.

Ihm blieb keine andere Wahl; er hatte so viel zu tun. Das Blut hämmerte in seinem Kopf und in seinem Schwertarm. Es rief ihn zur Schlacht, und er ergab sich mit einem Grinsen in sein Schicksal.

Die Wachen schienen sich nur noch in Zeitlupe zu bewegen.

Owen warf sich mitten ins dichteste Getümmel, und er wußte, daß die wenigen Disruptoren nicht auf ihn abgefeuert werden würden, solange die Gefahr bestand, die eigenen Leute zu treffen . Sein Schwert blitzte hell auf. Er führte es mit unmenschlicher Kraft und Geschwindigkeit, und bald spritzte Blut durch die Luft. Rufe und Flüche und hysterische Befehle von den sechs Männern am Tisch, und über allem die entsetzlichen Schreie der Verwundeten und Sterbenden, während Owens Klinge wie ein Schlachtermesser in ihren Leibern wütete. Er bewegte sich unter seinen Feinden wie ein tödlicher Geist, viel zu schnell, um aufgehalten oder gar pariert zu werden, und sein Schwert hielt blutige Ernte. Owen war überall zugleich, schlug und stach und schnitt, und vor ihm fielen Männer, die blanke Furcht auf den Gesichtern. Ein abgetrennter Arm zuckte über den Boden, und das Blut der Leichen tränkte die schweren Teppiche. Ein Disruptorstrahl sog eine schwarze Brandspur längs über den massiven Tisch, ohne jemanden zu treffen. Feuer flackerte auf.

Owen lachte laut, obwohl in seiner Stimme keine Spur von Humor lag. Die Schlacht raste von einem Ende des Raums zum anderen, und die Wände wurden von Blut bespritzt, bis die ursprüngliche Farbe nicht mehr zu erkennen war. Die sechs mächtigsten Männer von ganz Nebelhafen wichen von der brennenden Tafel zurück und drängten sich ängstlich in einer Ecke des Raums zusammen. Ungläubig mußten sie mit ansehen, wie ein einzelner Mann ihre gesamte Privatarmee nieder-metzelte. Und dann, von einem Augenblick auf den anderen, war es vorbei. Owen Todtsteltzer stand zwischen den Toten und Sterbenden, ein schreckliches Grinsen im Gesicht. Langsam schaute er sich um, während Blut dick und träge von seiner Klinge tropfte. Seine Kleidung war davon durchtränkt, und nicht ein Tropfen gehörte ihm. Er atmete nicht einmal schneller. Dann richtete er sein Grinsen auf die sechs führenden Männer von Nebelhafen, und sie wanden sich unter seinem Blick. Owen ging aus dem Zorn, doch die erwartete Erschöpfung blieb aus. Er fühlte sich noch immer, als könnte er gegen die gesamte Stadt antreten, wenn es sein mußte. Chance kroch unter dem brennenden Tisch hervor, wo er in Deckung gegangen war. Owen streckte die Hand aus, um dem Manager von Abraxus auf die Beine zu helfen. Chance zuckte ängstlich zu-rück. Er rappelte sich auf und blickte Owen aus ungläubigen Augen an.

»Sie hatten nicht den Hauch einer Chance! Ihr habt die Wachen abgeschlachtet wie Vieh! Wer in Gottes Namen seid Ihr?«

»Ich bin der Todtsteltzer«, entgegnete Owen. »Vergeßt das nie.«

Owen drehte sich wieder zu den sechs Männern um, die sich in einer Ecke des Raums drängten. Kaum einer brachte es fertig, seinen Blick zu erwidern. Ohne Eile ging Owen auf sie zu und stieg dabei gelassen über reglose Körper. Seine Stiefel verursachten schmatzende Geräusche auf dem blutdurchtränkten Teppich . Stacey, der Rechtsanwalt, starrte ihm mit einem Ausdruck von Trotz in den Augen an.

»Ihr seid ein Monstrum. Ihr könnt uns trotzdem nicht schlagen. Wir haben Geld. Wir können neue Männer anheuern. Wir können eine ganze Armee von Söldnern anheuern, falls es nötig ist, um Euch zu Fall zu bringen.«

»Heuert nur Eure Armee an«, sagte Owen. »Laßt sie nur alle kommen. Sie retten Euch nicht.«

»Ihr könnt uns nicht umbringen!« rief Neeson. »Wenn wir sterben, landet alles Geld beim Testamentsvollstrecker. Es könnte Jahre dauern. Niemand käme heran.«

»Niemand wird mich aufhalten«, entgegnete Owen. »Weder Ihr noch das Gesetz oder das gesamte verdammte Imperium.

Euer Tag ist zu Ende, und ich bringe Euch die Nacht.«

»Ihr seid vollkommen wahnsinnig!« kreischte Daley. »Genau wie Euer verdammter Vater!«

»Mein Vater war mehr wert als hundert von Eurer Sorte!« erwiderte Owen und steckte das Schwert ein. Er war viel zu wütend. Er wollte es mit bloßen Händen tun. Erneut raste Zornverstärkte Kraft durch seine Adern und da war noch etwas anderes. Er packte die lange schwere Tafel, ignorierte die Flammen, hob sie vom Boden hoch und riß sie auseinander. Achtlos warf er die beiden Teile von sich und rückte auf die sechs heimlichen Herren von Nebelhafen vor . Schreiend flüchteten sie zur Tür. Chance folgte ihnen auf dem Fuß. Sie rannten durch das Vorzimmer und kreischten um Hilfe, während Owen sie vor sich her trieb.

Er war jetzt mehr als nur ein Mensch; er wütete wie eine unaufhaltsame Naturgewalt. Seine Wut raste durch Korridore und Räume und zerstörte alles, was ihr in den Weg kam. Wände rissen und stürzten ein; Ziegelsteine bröckelten, und Mörtel verwandelte sich zu Staub. Große Löcher erschienen im Boden und in der Decke. Holz fing ohne ersichtlichen Grund an, in einem grellen, unnatürlichen Feuer zu brennen. Menschen flohen schreiend aus dem Gebäude, während überall Decken ein-brachen und herabfallendes Mauerwerk sie zu begraben drohte.

Die teppichbedeckten Gänge wogten wie die Wellen eines Ozeans, bevor sich Spalten wie bei einem Erdbeben auftaten.

Und hinter allen kam Owen Todtsteltzer, schweigend und unerbittlich, und er brachte die großartige Gildenhalle zum Einsturz, so wie er eines Tages auch das Imperium stürzen würde, das durch sie repräsentiert wurde.

Einige wenige tapfere Wachen stellten sich ihm entgegen; doch sie wurden beiseitegefegt wie Blätter im Wind. Türen wurden aus ihren Angeln gerissen oder explodierten in ihren Rahmen. Fenster zerbarsten, und Glassplitter segelten wie Schrapnell umher. Stapel von Akten und Papieren flatterten wie erschreckte Vögel durch die Luft. Rohrleitungen platzten, und überall entstanden Wasserfontänen. Freigelegte elektrische Leitungen knisterten und sprühten Funken. Das gesamte Bauwerk schien im Todeskampf aufzuheulen, während es langsam in sich zusammenfiel. Owen Todtsteltzer stapfte durch das Chaos und den Lärm, und er genoß sein Werk. Eine tapfere Seele feuerte mit einem Disruptor auf ihn, doch der Energiestrahl prallte harmlos ab. Nichts und niemand konnte Owen aufhalten.

Schließlich erreichte er die letzten Tür, die schwere Tür, durch die er das Gebäude wenige Minuten zuvor betreten hatte.

Sie flog bei seiner Annäherung krachend aus den Angeln und auf die Straße hinaus, der Menschenmenge vor die Füße, die sich neugierig vor der Halle versammelt hatte. Die Leute redeten durcheinander und beobachteten ungläubig , wie das massive Gebäude einstürzte. Als Owen auf der Straße erschien, verstummten sie und wichen zurück. Die Owen umgebende Macht war in der Luft spürbar wie der Herzschlag eines Riesen. Er ließ seinen Geist ins Gebäude zurücktreiben, um sicherzugehen, daß niemand in seinem Innern gefangen war; dann brachte er es endgültig zum Einsturz. Das Krachen herabfallender Mauerstücke donnerte durch die Straßen, und Rauch und Staub quoll aus leeren Fensteröffnungen und Eingängen. Nur Sekunden später war von dem Bauwerk, das einst eine der größten Gildenhallen von ganz Nebelhafen gewesen war, nur noch ein Haufen Trümmer übrig.

Stille breitete sich aus. Die Gebäude ringsum hatten nicht einen Kratzer abbekommen. Und der Mann, der für all das verantwortlich war, blickte auf sein Werk und fand es gut. Langsam ließ er seine Kräfte versiegen und schloß sie in seinem Innern weg. Er war wieder ein gewöhnlicher Mensch.

Und genau in diesem Augenblick zeigte sich die Stadtwache.

Alle zehn.

Sie blieben in sicherer Entfernung stehen und beobachteten vorsichtig den weiteren Verlauf der Ereignisse. Owen lächelte ihnen freundlich zu.

»Eine Privatangelegenheit«, rief er. »Feindliche Übernahme, sozusagen. Nichts, um das Ihr Euch Sorgen machen müßtet, meine Herren.«

Die Stadtwachen blickten zu Owen, dann zu den Überresten des Gildehauses, und schließlich schauten sie sich gegenseitig an, bevor sie entschieden, die Gegend zu räumen und woanders die Stadt zu bewachen. Die sechs ehemaligen heimlichen Herren von Nebelhafen riefen den Stadtwachen klagend hinterher, doch sie wurden ignoriert. Die Stadtwache mischte sich nicht in private Streitigkeiten ein. Schließlich war das hier Nebelhafen. Die sechs wandten sich zögernd um und schauten zu Owen, der sich vor ihnen aufgebaut hatte und ein unfreundliches Grinsen zeigte.

»Ihr armen Bastarde würdet auf Golgatha nicht einmal fünf Minuten überleben«, sagte er ruhig. »Man würde Euch bei lebendigem Leib auffressen und anschließend nach einem Dessert rufen. Und jetzt werdet Ihr machen , was man Euch sagt, dann werdet Ihr das Ganze vielleicht überleben. Auf die Knie!«

Sie gehorchten widerspruchslos. Sämtlicher Wille zum Widerstand hatte sie verlassen.

»Ihr habt einen neuen Meister, Herrschaften. Von nun an wird Euch wieder ein Todtsteltzer sagen, wo es langgeht . Ihr werdet in Eure zweifelsohne tiefen Taschen greifen und das Informationsnetz genauso wieder errichten, wie es mein Vater ursprünglich geplant hat. Ihr werdet eine Organisation wieder-beleben, die Informationen sammelt und verarbeitet, um den Menschen von Nebelhafen zu dienen und sie zu schützen, insbesondere vor Angreifern und Einflüssen von außerhalb. Darüber hinaus werdet Ihr die Errichtung neuer Verteidigungsanlagen für diesen Planeten finanzieren. Der psionische Schild wurde durch die Esperseuche arg geschwächt , also benötigen wir ein gutes System neuester Technologie, um ihn zu verstärken. Ihr werdet Euch darum kümmern.

Zum Schluß noch eins: Das Geld meines Vaters war von Anfang an dazu bestimmt, den Bewohnern dieser Stadt ein ge-rechteres und leichteres Leben zu ermöglichen. Ich erwarte eine Reihe weitreichender, praktischer Vorschläge dazu. Von Euch allen, schriftlich und innerhalb einer Woche. Sollte sich einer der Herren verspäten, werde ich ihn an die Wand nageln, um die anderen zu motivieren. Ich meine das durchaus wörtlich.«

»Aber… aber es gibt Aktionäre!« protestierte Neeson. »Leute, denen wir verantwortlich sind. Sie werden niemals zulassen, daß wir all das…«

»Schickt sie zu mir«, unterbrach ihn der Todtsteltzer. »Ich werde sie überzeugen. Hat sonst noch jemand etwas zu sagen?

Nein? Gut. Ihr lernt rasch, wie ich sehe. Und jetzt werdet Ihr meinen Befehlen gehorchen, und zwar bis ins kleinste Detail, oder ich kremple Euch von innen nach außen . Ist das klar?«

Sie nickten eifrig. Owen kehrte ihnen den Rücken zu und stapfte die Straße hinunter davon. Er spürte noch immer die Macht, die das Labyrinth des Wahnsinns ihm verliehen hatte.

Sie hüllte ihn ein wie ein schützender Umhang. Das Labyrinth des Wahnsinns hatte ihn auf eine Weise verändert, die er noch immer nicht verstand; doch die Macht war real, und sie gehorchte ihm, und er genoß sie. Er fühlte sich, als könne er alles erreichen, wenn er es nur wollte. Es war ein wunderbares Ge-fühl, die Dinge auf eine so direkte und einfache Weise ins rechte Lot zu bringen.

»Ist dir eigentlich bewußt«, meldete sich Ozymandius in seinem Ohr, »daß du in die falsche Richtung marschierst, falls du wieder zum Stadtzentrum zurück möchtest?«

»Halt die Klappe, Ozymandius. Ich habe gerade meinen dra-matischen Abgang.«

Owen beschloß, in die gemieteten Räume zurückzukehren und zu sehen, wie weit Hazel mit Silver gekommen war. Er konnte kaum abwarten, das Gesicht des Sicherheitschefs zu sehen, wenn er ihm erzählte, was er mit dem Gildehaus gemacht hatte. Vielleicht beeindruckte er sogar Hazel damit – zumindest ein ganz klein wenig. Owen sorgte sich um sie.

Trotz seiner neuen Macht spürte er die mentale Verbindung nicht mehr, die zwischen Hazel und ihm bestanden hatte. Außerdem wollte er mit ihr über seine neue Kraft sprechen und wie sie sich anfühlte. Vielleicht besaß Hazel sie auch. Es gab so viel zu bereden.

Owen Todtsteltzer stapfte durch die Straßen Nebelhafens, und selbst der Nebel ging ihm aus dem Weg.

Hazel d’Ark und John Silver, alte Gauner und noch ältere Freunde, saßen in gemütlichen Sesseln zu beiden Seiten eines offenen Kaminfeuers und tranken heiße Schokolade aus schäbigen Porzellanbechern. Beide starrten schweigend auf die kleine Phiole mit schwarzem Blut auf dem kleinen Beistell-tisch. Sie sah nicht gefährlich aus, diese Phiole – aber das tun gefährliche Dinge eigentlich nie. Beide wußten, was das Blut bewirken konnte , was es ihnen gab und was es ihnen nahm, und es war ein Zeichen von Willenskraft und Stärke, daß sie noch immer zögerten. Blut war ein Rauschgift, das von den Wampyren stammte. Es war das synthetische Plasma der aufgerüsteten Männer. Schon ein paar Tropfen reichten aus, damit ein normaler Mensch sich stark und schnell und voller Selbstvertrauen fühlte. Jedenfalls solange man es nahm. Blut erzeugte ein wunderbares Gefühl von Lebendigkeit es war, als sei die normale Welt nichts weiter als ein böser, grauer, deprimieren-der Alptraum, aus dem man endlich erwacht war. Der Effekt hielt natürlich niemals lange an, und nach und nach benötigte man immer höhere Dosen, um die gleiche Wirkung zu erzielen.

Und langsam, Tropfen um Tropfen, verbrannte das Blut einen von innen heraus . Es war geschaffen worden, um Wampyre von den Toten zurückzubringen und ihnen übermenschliche Kraft und Schnelligkeit zu verleihen. Es war nie dazu gedacht gewesen, in einem normalen menschlichen Kreislauf zu koexi-stieren.

Trotzdem wollten Menschen es haben. Sie brauchten es, und sie waren bereit, dafür zu kämpfen und zu töten… und es gab immer jemanden, der es synthetisierte und vermarktete – für den richtigen Preis, versteht sich. Ganz besonders auf einem Planeten wie der Nebelwelt.

»Es ist wirklich ganz einfach«, sagte Silver. »Als Leiter der Sicherheitsbehörde des Raumhafens besitze ich Zugang zu allem, was auf unseren Straßen beschlagnahmt wird. Und da ich außerdem die Aufzeichnungen der Lektronen kontrolliere, wird niemand etwas bemerken, wenn ich mir hin und wieder ein paar Tropfen für mich selbst und ein paar besondere Freunde nehme. Du kannst ein Höllenloch wie Nebelhafen nicht ohne eine Stütze leiten, auf die du dich hin und wieder lehnst. Und nicht alle von uns haben das Zeug zum unbestechlichen Helden wie Investigator Topas. Allerdings bin ich nicht süchtig danach. Ich kann es kontrollieren. Bei dir bin ich mir nicht so sicher, Hazel. Du warst schon immer gierig auf dieses Zeug.

Dein letzter Entzug hätte dich um ein Haar das Leben gekostet.

Willst du das wirklich alles noch einmal durchmachen?«

Hazel starrte in ihren Becher und schwieg . »Du weißt nicht, welcher Druck auf mir lastet, John«, sagte sie schließlich. »Zuviel ist in zu kurzer Zeit geschehen. In der einen Minute war ich noch ein kleiner Fisch, und in der nächsten schon bin ich ein Rebell und alle sind hinter mir her – einschließlich einiger Leute, die ich eigentlich auf meiner Seite geglaubt habe. Solange ich kämpfen und um mein Leben rennen mußte und nicht die Zeit fand zum Nachdenken, ging es mir gut. Aber jetzt…

Was ich auch tue, es ist von Bedeutung, und was ich auch sage, es hat Konsequenzen – nicht nur für mich, sondern für die ganze verdammte Rebellion. Sie haben mich zu einer verdammten Heldin und Anführerin gemacht, und sie erwarten von mir, daß ich vollkommen bin.

Doch das ist noch nicht einmal alles. Auf der Wolflingswelt, da… da ist irgendwas mit mir passiert, John. Irgend etwas hat mich… verändert. Ich bin nicht mehr das, was ich einmal war.

Ich bin mehr. Und ich habe die ganze Zeit über Angst. Ich kenne mich selbst nicht mehr. Ich habe Alpträume, und ich weiß nicht, ob sie in der Vergangenheit spielen oder in der Zukunft.

Schreckliche Dinge, fremdartige Dinge geschehen in meinen Träumen. Nur das Blut hilft dagegen. Es… es stabilisiert mich.

Ich werde ruhiger. Und es hilft mir zu glauben, daß ich noch immer ein Mensch bin.«

Sie setzte ihren Becher ab und streckte die Hand aus. Die kleine Glasphiole sprang vom Tisch, segelte durch die Luft und landete direkt in Hazels wartender Hand. Silver starrte Hazel entgeistert an.

»Ich wußte gar nicht, daß du ein Esper bist, Hazel!« stammelte er.

»Ich bin auch keiner. Ich bin irgend etwas anderes. Ich bin… mehr als ein Esper.« Hazel schraubte die Kappe der Phiole ab und roch genießerisch an der schwarzen Flüssigkeit im Innern .

Sie blähte die Nüstern, als ihr der vertraute Geruch schwer und rauchig in die Nase stieg. Hazel saugte ihn förmlich in die Lungen, und in ihren Adern schienen Funken zu knistern. Vorsichtig neigte sie die Phiole und ließ einen einzelnen Tropfen Blut auf ihre Zunge fallen. Sie schluckte ihn rasch herunter, um den bitteren Nachgeschmack zu vermeiden; dann schloß sie die Phiole rasch wieder und stellte sie auf den Tisch, um nicht in Versuchung zu geraten, einen zweiten Tropfen zu nehmen.

Schließlich lehnte sich Hazel in ihrem Sessel zurück und stöhn-te laut auf, als die vertraute Hitze durch ihren Körper strömte und ihr zu neuer Kraft, neuem Selbstvertrauen und neuer Energie verhalf. Der Druck, die Pflichten und die Zweifel, die sie plagten, waren wie weggewischt. Zum ersten Mal seit Tagen entspannten sich ihre Gesichtszüge. Zögernd lächelte sie. Es war ein wunderbares Gefühl.

Silver beobachtete Hazel. Er schwieg, bis er sicher war, daß die Wirkung eingesetzt hatte. Ursprünglich hatte er geplant, selbst etwas zu nehmen; doch die Erinnerung an das, was Hazel in der schlimmsten Zeit ihrer Sucht gewesen war, hatte ihn umgestimmt. Er war kein Junkie. Er hatte sich selbst unter Kontrolle. Also blieb er sauber und beschloß, Hazel zu helfen, indem er über sie wachte. Noch während er dies dachte, riß Hazel die bis dahin halb geschlossenen Augen auf, sprang aus ihrem Sessel und blickte wild um sich. Silver stand ebenfalls auf, setzte seinen Becher ab und packte Hazel an den Armen.

Sie schien ihn nicht zu bemerken, und ihre Arme waren so steif und unnachgiebig wie Stahlstreben. Silver beobachtete sie besorgt. Man mußte vorsichtig sein mit Plasmasäufern, wenn man nicht selbst Blut getrunken hatte. Dank ihrer neugewonnenen Kräfte konnten sie einen normalen Menschen im Handumdre-hen töten, und sie würden einen Dreck darauf geben, auch wenn der Effekt des Blutes wieder nachgelassen hatte.

Hazel drehte den Kopf von einer Seite zur anderen und starrte wild mit weit aufgerissenen Augen in einem plötzlich verhärmt wirkenden Gesicht um sich.

»Hazel?« sagte Silver und bemühte sich um einen ruhigen Tonfall. »Was ist? Stimmt etwas nicht?«

»Es… es ist anders«, antwortete Hazel mit schwerer Zunge.

»Ich bin anders. Ich hätte hier auf dieser Welt kein Blut trinken dürfen. Nicht mit so vielen Espern ringsum. Sie… beeinflus-sen mich. Ich kann nicht mehr unterscheiden, was in meinem Kopf ist und was draußen. Das Blut hat irgend etwas in mir aufgeweckt… etwas, von dem ich nicht einmal wußte, daß es da war. Ich kann Dinge sehen, John. Viele Dinge. Nichts ist mehr vor mir verborgen.«

Sie starrte auf die Wand vor sich, und plötzlich war die Mauer verschwunden! Es dauerte einen Augenblick, bis Silver begriff, daß er sah, was Hazel sah. Ihr Bewußtsein hatte sich mit dem seinen verbunden und zeigte ihm, was im benachbarten Zimmer vor sich ging: Der junge Dieb und Einbrecher namens Katze leerte einen kleinen Lederbeutel voller glänzender Juwelen auf einen Tisch, und seine Hehlerin, die Frau namens Cyder, lachte und klatschte in die Hände.

Hazel drehte den Kopf in eine andere Richtung, und die Wand wurde wieder sichtbar. Sie starrte die gegenüberliegende Wand an, die daraufhin ebenfalls verschwand und den Blick auf eine Runde sich streitender Kartenspieler freigab.

Silver wollte Hazel schütteln; doch sie war so steif und hart wie eine Statue. Plötzlich schaute sie ihm in die Augen, und im gleichen Augenblick fühlte er sich nackt und durchschaubar, als würde sie alles von ihm wissen, Gutes und Böses und die Dinge dazwischen. Hazel schien größer geworden zu sein, größer als Silver, und sie ragte über ihm auf wie ein antiker Gott der Gerechtigkeit ohne jede Spur von Mitleid oder Gnade. Silver wich zurück und ließ Hazels Arme los, als hätte er sich verbrannt. Hazels Blick richtete sich nach innen, und rings um sie herum entstanden Bilder und Visionen. Sie kamen und gingen im Sekundentakt, und sie zeigten Gesichter und Orte, von denen Silver zumindest einige erkannte.

Ein alter Mann saß zusammengesunken auf einer Pritsche, erschöpft und gescheitert am Leben selbst. Er trug Hausmei-sterkleidung. »Sie haben mich gebrochen«, sagte er. »Geht, und sucht Euch einen anderen Führer und Heilsbringer.« Dann war er verschwunden, und Owen Todtsteltzer nahm seinen Platz ein. Er blutete aus zahlreichen Wunden und hieb mit dem Schwert auf unsichtbare Feinde ein. »Wenn Ihr die Lücke erkennt, dann rennt los, Hazel! Ich halte sie solange auf.« Ein Mob aus Schatten stürmte von allen Seiten heran, und der Todtsteltzer ging schwertschwingend zwischen ihnen unter.

Die Szene verschwand, und eine grinsende Ruby Reise erschien. »Ich mache nur wegen der Beute mit.«

Silver unternahm einen zweiten Versuch, Hazel aus ihrer Trance zu rütteln; doch er kam noch nicht einmal in ihre Nähe.

Die Erinnerungen besaßen die Macht der Wirklichkeit.

Ruby Reise wich einer großen, pelzigen, wolfsähnlichen Gestalt. Mit plötzlichem Schrecken erkannte Silver, daß er einen der legendären Wolflinge vor sich hatte. Das riesige Wesen blickte Silver tief in die Augen und sagte: »Eine traurige und bittere Ehre, der letzte seiner Art zu sein.« Er verschwand und wurde von einem Hadenmann mit leuchtenden goldenen Augen ersetzt. Hinter dem Hadenmann ragte ein gewaltiger Bie-nenstock aus Gold und Silber auf, der dick mit Eis überzogen war. Die lange verlorene Gruft der Hadenmänner. Der aufgerüstete Mann namens Tobias Mond starrte Silver an und sagte mit seiner summenden, unmenschlichen Stimme: »Wir wollten nie etwas anderes als unsere Freiheit.« Und dann schmolz das Eis, und die Luft verschwamm in seltsamen Farben, als die Hadenmänner aus ihrer Gruft kamen, großartig und glorreich und perfekt jenseits aller Menschlichkeit. Dann war wieder Owen Todtsteltzer zu sehen, der Hazel traurig in die Augen schaute. »Ihr könnt nicht gegen das Böse kämpfen, indem Ihr selbst böse werdet.«

Hazel wandte sich von ihm ab und blickte zu Silver, und der Todtsteltzer verschwand. Ihre Augen trafen sich, und neue Visionen erschienen. Silver, der mit Halsabschneidern und Abschaum Geschäfte machte, um den Frieden auf Nebelhafens Straßen zu erhalten. Silver, der Knochenbrecher wie Markus Rhein auszahlte, damit sie ihn und seine Blutgeschäfte in Ruhe ließen. Silver, der das Gesicht abwandte, während Rivalen mundtot gemacht wurden, mit Geld oder auf die harte Tour.

Die Visionen verblaßten, und Hazel schaute Silver aus kalten Augen an.

»Nur ein paar Tropfen hin und wieder, für dich und ein paar besonders gute Freunde, wie? Scheiße! Du hast ein richtiges Drogengeschäft aufgezogen und überall in der Stadt deine Verteiler! Wie viele neue Plasmakinder gibt es inzwischen dort draußen, John? Wie viele Blutsüchtige liegen kalt und steif in leeren Zimmern, weil sie deine Preise nicht mehr zahlen konnten?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Silver. »Ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Ich… ich schlage mich eben durch, wie jeder andere in Nebelhafen auch. Seit der Esperseuche haben wir eine irrsinnige Inflation . Das Geld ist mittlerweile noch nicht einmal mehr halb soviel wert wie zuvor. Meine gesamten Ersparnisse sind vor die Hunde gegangen. Würde ich es nicht tun, gäbe es jemand anderen. Das weißt du doch selbst, Hazel.

Ich wollte niemals irgend jemanden verletzen, aber…«

»Ja«, unterbrach ihn Hazel schroff. »Es gibt immer ein

›Aber‹. Nicht wahr, John?«

Silver trat einen Schritt vor und streckte die Hand nach ihr aus. Hazel ergriff sie, und Silver zuckte ob der rohen, unnachgiebigen Kraft in Hazels Fingern zusammen. Sie lächelte ihn kalt an. »Die Schau ist noch nicht vorüber, John. Du hast die Vergangenheit und die Gegenwart gesehen. Jetzt ist die Zukunft an der Reihe – ob du es nun willst oder nicht.«

Ihre Hand hielt die seine eisern umklammert. Silver schrie laut auf, als der Raum ringsum im Chaos verschwand. Menschen rannten schreiend durch die Straßen Nebelhafens. Häuser brannten. Imperiale Angriffsschlitten rasten durch den Himmel.

Energiestrahlen schossen durch heraufquellende Wolken aus schwarzem Rauch. Überall lagen Tote. Kriegsmaschinen rissen die Stadtmauern nieder. Brennende Barken trieben über einen blutroten Autumnusfluß voller Leichen – und über allem tönte ein nicht enden wollender Schrei, der nichts Menschliches mehr an sich hatte. Hazel ließ Silvers Hand los, und plötzlich befand er sich wieder in seinem Wohnzimmer mit dem gemütlichen Kaminfeuer. Silver wich einen Schritt zurück. Er zitterte am ganzen Leib. Sein Kopf war noch immer voll vom Gestank vergossenen Blutes und brennender Leichname, und der unheimliche Schrei klingelte noch immer in seinen Ohren. Hazel stand da und beobachtete ihn, kalt und erbarmungslos wie ein griechisches Orakel.

»Das ist die Zukunft, John«, sagte sie. »Deine Zukunft, und meine. Und du hast geholfen, sie so zu gestalten. Irgend etwas Böses ist auf dem Weg zur Nebelwelt. Etwas sehr, sehr Böses.

Und es dauert nicht mehr lange, bis es hier sein wird.«

Und dann plötzlich und ohne Vorwarnung war sie wieder nur noch Hazel, und die Aura von Macht und Erhabenheit, die sie umgeben hatte, war verschwunden. Sie sank in ihren Sessel am Feuer, und sie wirkte klein und erschöpft und äußerst verletzlich. Silver trat langsam vor und setzte sich in den Sessel ihr gegenüber. Ein Teil von ihm wäre nur allzu gerne schreiend aus dem Zimmer gerannt, doch er konnte nicht. Ein Teil von ihm war zu Tode erschrocken und der Panik nah, voller Angst vor dem unheimlichen Wesen, zu dem seine alte Freundin Hazel geworden war, aber er durfte es nicht zeigen . Sie brauchte ihn; sie brauchte ihren alten Freund und Kameraden, und trotz der vielen Schlechtigkeiten , die er zu verantworten hatte – für einige davon schämte er sich tatsächlich –, wollte John Silver verdammt sein, wenn er Hazel jetzt im Stich lassen würde.

Lange Zeit saßen sie schweigend beieinander, und das einzige Geräusch im Zimmer war das Knistern und Knacken des Kaminfeuers. Trotz der lodernden Flammen war es plötzlich ungemütlich kalt.

»Was ist mit dir geschehen?« fragte Silver schließlich. »Früher hattest du diese Kräfte jedenfalls nicht.«

Hazel grinste erschöpft. »Was ist mit dir geschehen, John?

Was ist aus den Menschen geworden, die wir einst waren?«

»Früher, als wir noch jung waren, war alles viel einfacher«, erwiderte Silver und starrte ins Feuer, weil es ihm leichter fiel, als Hazel in die Augen zu schauen. »Du warst Söldner; ich war Pirat, und wir waren beide davon überzeugt, zu Großem bestimmt zu sein. Wir waren ein großartiges Trickbetrügerduo.

Drei Jahre ohne Pause zogen wir den Engel-der-Nacht-Schwindel ab, erinnerst du dich? Obwohl ich persönlich den Sternentor-Trick besser fand. Ich hatte viel Spaß beim Zeichnen der Karten. Sie waren so beeindruckend, richtige kleine Kunstwerke. Hätte uns nicht unser Glück verlassen, würden wir heute noch die gleiche Show abziehen.«

»Wir wurden zu gierig«, warf Hazel ein.

»Das auch.«

»Die Dinge waren wirklich einfacher. Das stimmt. Es hieß, wir gegen sie, und wir haben nur diejenigen um ihr Geld erleichtert, die es sich leisten konnten. Eine einfache, unschuldige Zeit. Aber sie ging vorüber, und wir haben uns verändert.

Wir sind nicht mehr das, was wir einmal waren, John. Unsere Freunde sind nicht mehr die gleichen, und unsere Interessen ebenfalls nicht. Wir haben nichts mehr gemeinsam bis auf unsere Erinnerungen und das Blut. Und keins von beidem tröstet mich auch nur halb soviel wie früher. Können wir uns gegenseitig überhaupt noch vertrauen, John?«

»Das müssen wir wohl«, entgegnete Silver. »Weil es niemand sonst tut.«

»Owen schon«, widersprach Hazel.

Silver riß sich vom Anblick des Kaminfeuers los und blickte ihr in die Augen. »Du kennst ihn besser als ich«, sagte er. »Wie ist er in Wirklichkeit, dieser Owen Todtsteltzer?«

»Er ist ein guter Mann, obwohl es ihm nicht bewußt ist . Ein richtiger Held, wie er im Buche steht . Tapfer und hingebungs-voll und viel zu verdammt ehrlich, als gut für ihn wäre. Früher oder später wird er diese Rebellion ganz allein anführen. Nicht, weil er sich danach drängt, sondern weil er der verdammt noch mal beste Mann für die Aufgabe ist. Owen ist ein netter Kerl; aber es gibt so vieles, das er nicht versteht; zum Beispiel der Druck von Verantwortung und die Unsicherheit, die weniger vollkommene Menschen wie dich und mich dazu bringt, Blut zu trinken oder rein oberflächliche Beziehungen zu unterhalten.

Owen hat in seinem ganzen Leben noch nie eine Krücke gebraucht, auf die er sich hätte stützen müssen. Er erkennt, was richtig ist, und er macht genau das, obwohl er sich die ganze Zeit über beschwert und jammert. Aber damit täuscht er niemanden. Owen ist ein aufrechter Mann in einer miesen Zeit.«

»Du liebst ihn, nicht wahr?« fragte Silver.

»Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete Hazel.

Silver wußte, was als nächstes kommen würde. Er beugte sich vor, bis ihre Gesichter nur noch wenige Zoll voneinander entfernt waren – und dann küßte er Hazel, und beide wußten, daß es ein Abschied war. Und genau in diesem Augenblick betrat Owen Todtsteltzer das Zimmer und sah sie beide zusammen. Er blieb mitten im Eingang stehen und schwieg, während Hazel und Silver sich hastig voneinander lösten und auf-sprangen. Einen langen Augenblick sagte niemand ein Wort.

Hazel atmete schwer; doch sie errötete nicht. Silver sah, wie Owens Hand zum Schwert an der Hüfte zuckte, sah die Kälte in Owens Augen und wußte, daß er dem Tod sehr nahe war – nicht, weil der Todtsteltzer eifersüchtig war, sondern weil das hier ein Geheimnis zuviel, ein Betrug zuviel gewesen war. Und dann glitten die Augen des Todtsteltzers zur der Phiole auf dem Tisch, und alles änderte sich. Owen wußte, was sich im Innern der Phiole befand, und was es zu bedeuten hatte. In seinem Geist kämpften Wut und endlose Müdigkeit miteinander.

»Das ist es also«, flüsterte er. »Kein Wunder, daß unsere mentale Verbindung so schlecht war, mit all diesem Dreck in deinem Kopf, Hazel. Wie lange hängst du schon wieder dran?«

»Eine ganze Weile.«

»Woher hattest du es?«

»Von den Hadenmännern. Sie waren sehr verständnisvoll.«

Hazels Stimme schwankte zwischen Trotz und Flehen um Verständnis. »Ich brauche es, Owen.«

»Warum hast du mir nichts davon gesagt?«

»Weil ich wußte, wie du reagieren würdest! Du hast keine Ahnung, unter welchem Druck ich stehe!«

»Wir waren von Anfang an zusammen! Was hast du durchgemacht, was ich nicht durchgemacht habe? Verdammt noch mal, Hazel, ich hatte mich auf dich verlassen und darauf, daß du deine Aufgabe in Nebelhafen erfüllst! Ich kann nicht alles allein machen! Unsere Arbeit hier ist wichtig!«

»Das weiß ich selbst!« Hazel funkelte ihn an. Sie ballte die Fäuste, bis die Knöchel weiß hervortraten. »Du verläßt dich auf mich. Der Untergrund verläßt sich auf mich. Die ganze verdammte Rebellion verläßt sich auf mich! Ist denn niemandem von euch in den Sinn gekommen, daß ich es satt haben könnte, soviel Verantwortung zu tragen? Wir sind nicht alle Übermenschen so wie du, Todtsteltzer! Nicht jeder von uns ist zum Helden geboren! Du hast wahrscheinlich in deinem ganzen Leben nicht ein einziges Mal gezögert oder geschwankt, stimmt’s? Du hast immer gewußt, was richtig ist und was falsch. Aber wir anderen, wir sind nicht so vollkommen!«

»Ich bin nicht vollkommen«, erwiderte Owen . »Ich tue nur meine Arbeit, und von dir habe ich das gleiche erwartet, Hazel.«

»Du hörst mir nicht zu!« fauchte Hazel. »Du hast mir noch nie zugehört!«

»Warum hast du mir nie etwas von Silver und dir erzählt?«

»Weil es dich einfach nichts angeht!«

»Du hast auch nie über Blut gesprochen. Was hast du mir sonst noch alles verschwiegen, Hazel? Ich habe wirklich geglaubt, ich könnte wenigstens dir vertrauen, Hazel.«

»Siehst du? Du machst es schon wieder! Du versuchst schon wieder, alles auf mich abzuwälzen, damit du hinterher als Opfer dastehen kannst! Zur Hölle damit, Todtsteltzer! Zur Hölle mit dir! Ich bin es leid! Ich will einfach nicht mehr! Ich habe es satt, das Gewicht deiner Erwartungen auf den Schultern zu tragen! Und ich kann deine Gegenwart nicht mehr ertragen…!«

»Ja«, unterbrach sie Owen. »Du hast ja schließlich Silver und das Gift, das er dir zu fressen gibt. Du willst alles, nur nicht erwachsen werden und Verantwortung übernehmen. Nur nicht diejenigen unterstützen, die sich auf dich verlassen. Sich nur nicht um die sorgen, die dich lieben. Du willst Silver: Er gehört dir, Hazel, dir ganz allein. Ich muß raus hier. Ich brauche frische Luft.«

Owen machte auf dem Absatz kehrt und stapfte davon. Krachend warf er die Tür ins Schloß . Er war so wütend, daß er Hazel wahrscheinlich geschlagen hätte, wenn er geblieben wäre, und sie wußten beide, daß sie das niemals vergessen und noch weniger verzeihen würde. Auch hätte er vor lauter Wut John Silver am liebsten auf der Stelle getötet . Owen hatte gehofft, daß er und Hazel… daß sie vielleicht eines Tages…

Doch Owen hatte so vieles gehofft, und nichts davon war je in Erfüllung gegangen. Owen hatte schon so viele Dinge verloren, die ihm etwas bedeutet hatten. Es hätte ihn nicht überraschen dürfen, daß ihm auch die einzige Frau genommen wurde, die er je geliebt hatte.

Er hätte erst gar nicht nach Nebelhafen zurückkehren sollen.

Von Anfang an war alles schiefgelaufen. Es hatte nicht den geringsten Einfluß auf Hazel. Sie ging ihren eigenen Weg, und daran würde sich auch nichts ändern, das wußte Owen. Aber er hatte geglaubt, sie hätte beschlossen, wenigstens eine Weile mit ihm zu gehen. Jederzeit hätte sie mit ihren Sorgen und Nöten zu ihm kommen können – auch mit ihrer verdammten Sucht. Er hätte versucht, sie zu verstehen, und er hätte ihr geholfen. Owen wußte, was Druck bedeutete. Sein ganzes Leben hatte er unter dem Druck gelebt, dem Namen Todtsteltzer gerecht zu werden.

Owen stapfte mit schweren Schritten die Treppe hinunter und schob sich durch die dichtgedrängte Menge im Schankraum.

Einige der Gäste schienen gegen sein rüpelhaftes Verhalten protestieren zu wollen; doch ein Blick in Owens Gesicht reichte aus, um sie davon abzuhalten . Owen stieß die Tür auf und trat hinaus auf die Straße. Die kalte Luft traf ihn wie ein Schlag. Hinter ihm fiel die Tür wieder ins Schloß. Owen lehnte sich gegen die Wand und kämpfte gegen seine Wut an, bis er sich wieder ein wenig beruhigt hatte. Es dauerte einen Augenblick, bis er bemerkte, daß er allein auf der Straße war – was für eine derart geschäftige Stadt wie Nebelhafen ausgesprochen merkwürdig war.

Gesichter beobachteten ihn hinter dunklen Fensterscheiben, als erwarteten sie, daß jeden Augenblick etwas geschah. Owen stieß sich von der Wand ab und trat hinaus auf die Straße; die Hände hatte er auf seine Waffen gelegt. Gefahr lauerte in der Dunkelheit. Er hätte es viel früher bemerkt, wäre er nicht so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen.

Unvermittelt erschienen drei Männer auf der gegenüberliegenden Straßenseite und starrten ihn an. Entweder waren sie herbeiteleportiert, oder – was wahrscheinlicher war – sie hatten sich bis jetzt hinter einem telepathischen Schirm verborgen. Sie sahen nicht sonderlich beeindruckend aus: durchschnittliche Größe, durchschnittliche, leere Gesichter und Fellkleidung, wie sie in Nebelhafen üblich war. Doch in ihnen lauerte eine Macht, die Owen spüren konnte, obwohl ihm ihre Natur noch nicht ganz klar war. Der Mann in der Mitte trat einen Schritt vor. Seine Augen wirkten in dem blassen Gesicht unnatürlich dunkel.

»Ihr habt Feinde, Todtsteltzer. Mächtige Männer, die Euren Tod wollen.«

»Zur Hölle«, erwiderte Owen. »Jetzt habe ich aber Angst!

Was wollt Ihr drei mit mir anstellen? Mich zusammenschla-gen? Seht mal, ich bin im Augenblick wirklich nicht in Stimmung dazu. Warum lauft Ihr nicht einfach weg? Ich gebe Euch fünf Minuten Vorsprung .«

Der Mann lächelte nur und schüttelte den Kopf. »Zeit zu sterben, Todtsteltzer .«

Plötzlich schien der Boden unter Owens Füßen lebendig zu werden, und er verlor das Gleichgewicht. Sofort griff er nach seinem Schwert, und gleichzeitig tat sich vor ihm ein breiter Abgrund auf, und Risse breiteten sich in alle Richtungen aus.

Blutrotes Licht strahlte hell aus der Tiefe, und mit einemmal war die Luft erfüllt vom Gestank von Schwefel und verbranntem Fleisch. Die schmerzerfüllten Schreie unzähliger Menschen drangen von tief unten herauf.

Der Untergrund erzitterte aufs neue, und während Owen noch um sein Gleichgewicht kämpfte, wurde er nach vorn geschleudert. Er taumelte auf den roten Abgrund zu und auf das, was tief unten in dem Höllenloch lauerte. Owen spürte eine unerträgliche Hitze, und der Schweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht. Seine Felle schwärzten sich und rauchten in der Hitze, und die nackte ungeschützte Haut auf Gesicht und Händen rötete sich und fing höllisch an zu schmerzen, während er unaufhaltsam auf den breiten Riß mitten in der Straße zustol-perte . Am Rand des Abgrunds verharrte er und kämpfte verzweifelt gegen einen Sturz an . Ringsum kochte die purpurne Luft . Die Schreie und der Gestank waren überwältigend. Lange Stahlketten schossen aus dem Spalt herauf. An ihren Enden saßen Morgensterne mit langen Stacheln, die durch Owens Kleidung drangen und tief in seinem Fleisch versanken. Owen schrie entsetzt auf, als die Ketten sich mit einemmal strafften und ihn langsam, aber gnadenlos in den unendlichen Abgrund des Höllenlochs zerrten.

Doch selbst jetzt, am äußersten Rand der Verdammnis, gab Owen noch nicht auf. Er spannte seine Muskeln an, und die Ketten rissen. Die Enden peitschten zurück in die Tiefe. Hitze schoß empor. Die Luft war heiß genug, um ihn zu Asche zu verbrennen, doch Owen trotzte ihr. Langsam bildete sich ein Gedanke in seinem Kopf: Ich glaube das alles nicht. Nichts davon. Überhaupt nichts. Im gleichen Augenblick war das Höllenloch verschwunden, das Feuer erloschen, und die Straße lag wieder kalt und dunkel da, und alles war wie immer. Owens Lungen sogen sich voll mit kalter, köstlicher Luft, und er funkelte die drei Männer auf der anderen Straßenseite an.

»Projektive Telepathie«, sagte er leise. »Stark genug, um je-de beliebige Illusion ins Bewußtsein eines normalen Mannes zu pflanzen und ihn davon zu überzeugen, daß es real sei. Und wenn sein Bild in der Illusion stirbt, dann stirbt er gleich mit.

Eine ziemlich seltene Begabung im Imperium, doch auf einer Welt voller Esper ist es wahrscheinlich nichts Ungewöhnliches.

Schön, meine Herrn. Ihr habt Euer Bestes gegeben. Darf ich Euch jetzt meine Künste demonstrieren?«

Plötzlich ballten sich über den Männern Sturmwolken zusammen, und ein Blitz fuhr herab und traf den Telepathen in der Mitte. Die elektrische Entladung tötete ihn im Bruchteil einer Sekunde und riß die beiden anderen von den Beinen. Ein weiterer Blitz, und der zweite Angreifer war tot. Der letzte Überlebende floh stolpernd durch Schnee und Matsch und starrte Owen aus entsetzten Augen an.

»Die Blitze sind nicht echt! Ich glaube nicht, daß sie echt sind!«

»Wie Ihr meint«, erwiderte Owen. »Aber ich versichere Euch, daß Ihr Euch irrt seid. Einem Gewitter ist es gleich, ob Ihr an es glaubt oder nicht. Und ich gebe mich nicht mit Illusionen ab.«

Der Esper schluckte mühsam. »Wenn Ihr mich verschont, verrate ich Euch, wer meine Auftraggeber sind.«

»Ich weiß, wer Eure Auftraggeber sind«, entgegnete Owen.

»Ich schätze, die Lektion, die ich diesen ehrenwerten Geschäftsmännern erteilt habe, war noch nicht hart genug. Vielleicht wird Euer Tod sie überzeugen.«

»Aber… aber ich ergebe mich! Ich gebe auf!«

»Ich kenne kein Erbarmen mit gedungenen Mördern.«

Der Esper schlug erneut mit seinen Illusionen zu; doch sie wirbelten lediglich den Bruchteil einer Sekunde wie bleiche Geister um Owen herum, bevor sie sich auflösten, ohne seinen mentalen Schild auch nur angekratzt zu haben . Der Esper starrte voller Angst auf Owen.

»Ihr habt drei von uns überwunden! Das ist völlig unmöglich.

Ihr seid kein Mensch!«

»Nicht mehr«, bestätigte Owen. »Nicht mehr. Und jetzt haltet den Mund, und sterbt wie ein Mann.«

Ein dritter Blitz krachte aus den Sturmwolken herab, und der Esper war tot. Genau in diesem Augenblick strömte aus allen Richtungen eine kleine Armee schwerbewaffneter Männer in die Straße. Sie beeilten sich, den Todtsteltzer zu umzingeln und ihm sämtliche Fluchtwege abzuschneiden. Sie wirkten grimmig und entschlossen, und sie erweckten den Eindruck, als verstünden sie ihr Geschäft. Owen war beeindruckt.

Es waren wenigstens hundert. Neeson und seine Geschäftspartner schienen jeden Unterschlupf der Stadt abgegrast haben, um in so kurzer Zeit eine derartige Streitmacht aufzustellen.

Owen saß in der Falle, und er wußte es. Er hatte seine neuen mentalen Fähigkeiten bis an ihre Grenzen beansprucht, um sich von der Illusion zu befreien und anschließend die drei Blitze zu produzieren, und nun hatte er nicht mehr die Kraft, weitere Blitze zu beschwören. Er hatte einen harten Tag hinter sich: Das Schwert lag schwer in seiner Hand; er war todmüde, und sämtliche Knochen taten ihm weh. Und nichts von alledem spielte eine Rolle. Er war Owen Todtsteltzer, und er war wütend wie die Hölle. Die Angreifer kamen ihm gerade recht, um sich abzureagieren.

Plötzlich fiel ihm die Prophezeiung des jungen Espers wieder ein, daß er alleine in den Straßen Nebelhafens sterben, und daß er ohne Freunde einer unmöglichen Übermacht gegenüberstehen würde. Owen lachte lauthals auf, und einige der Männer erschauerten beim dunklen Klang seiner Stimme. Es war das Lachen eines Mannes, der nichts mehr zu verlieren hatte. Owen Todtsteltzer hob das Schwert, grinste sein berüchtigtes Totenkopfgrinsen und fiel in den Zorn. Er brüllte den Kriegsruf seiner Familie: »Shandrakor!« und stürzte sich auf seine Feinde.

Sie drängten von allen Seiten heran, und dann gab es nur noch das Klirren von Stahl auf Stahl.

Es war ein Gemetzel. Blut floß in breiten Strömen über das Kopfsteinpflaster, und am Ende… Owen stand triumphierend inmitten eines großen Berges aus Sterbenden und Toten. Er blutete aus zahllosen Wunden, doch er war unbezwungen und lachte laut den wenigen Söldnern hinterher, die noch rechtzeitig die Flucht ergriffen hatten.

Soviel zu der verdammten Prophezeiung.

Er beendete den Zorn und fühlte sich augenblicklich vollkommen erschöpft. Allein der Schock verhinderte, daß er die Schmerzen seiner Wunden spürte; doch Owen wußte, daß er sich möglichst bald hinlegen und ausruhen mußte, damit das Vermächtnis des Labyrinths des Wahnsinns ihn heilen konnte.

Er durfte nicht auf der Straße ohnmächtig werden; das schadete nur dem Ruf. Also steckte er das Schwert mit halbwegs sicherer Hand in die Scheide zurück und wandte sich einmal mehr dem Eingang der Schwarzdorn-Taverne zu und dem Zimmer, das er dort gemietet hatte. Mitten in der Drehung verharrte er.

Hazel und Silver waren ihm wieder eingefallen. Er wollte sie nicht wiedersehen. Ja, er wollte noch nicht einmal in ihrer Nähe sein. Doch am Ende ging er trotzdem hinein und die Treppe hinauf zu seinem Zimmer. Er wußte nicht, wohin er sonst hätte gehen sollen.

Der Imperiale Sternenkreuzer Herausforderung kam aus dem Hyperraum und steuerte in einen Orbit um die Nebelwelt. In seinem Privatquartier wartete Kapitän Bartek, auch bekannt als Bartek der Schlächter, gespannt auf eine Reaktion der Welt unter ihm. Seit Typhus-Marie waren die überlebenden Esper der Nebelwelt dazu übergegangen, jedes Imperiale Schiff im gleichen Augenblick anzugreifen, da es aus dem Hyperraum fiel. Doch die Sekunden verstrichen, und nichts geschah.

Schließlich entspannte sich Bartek ein wenig. Die neuen Schilde funktionierten offenbar. Theoretisch war kein Esper und auch keine Gruppe von Espern imstande, die Anwesenheit der Herausforderung zu entdecken; doch sie hatten keine Zeit gehabt, die Schilde im Vorfeld zu testen.

Natürlich nicht.

Kapitän Bartek erhob sich aus seinem üppig dimensionierten Sessel und durchquerte ohne Eile sein Quartier, ein großer, schwerer Mann mit langsamen, kontrollierten Bewegungen, kalt und berechnend. Bartek hielt nichts von Emotionen. Sie standen ihm nur im Weg, wenn es um Pflichterfüllung und Effizienz ging. Sein Quartier war groß und komfortabel und wurde von Pflanzen beherrscht, die sämtliche Wände bedeckten und sogar von der Decke herabhingen. Reben, Blumen und Dornenbüsche wuchsen wirr durcheinander und kämpften um Raum. Riesige Blüten wetteiferten mit merkwürdigen Gewächsen von Hunderten fremdartiger Welten, und alle wurden sie durch ein kompliziertes hydroponisches System am Leben erhalten . Die Pflanzen erfüllten die Luft mit einem schweren, schwülstigen Duft, den allein Bartek als erträglich empfand. Er zog die Gesellschaft von Pflanzen der von Menschen vor. Bei Pflanzen wußte er, woran er war – nicht zuletzt deswegen, weil Pflanzen durchschaubar waren und nicht widersprachen. Außerdem empfand er die leuchtenden Farben und reichen Düfte als angenehm beruhigend – besonders da er eine Position innehatte, in der er niemals ausspannen und niemals irgend jemandem vertrauen durfte. Er verließ sein Privatquartier nur, wenn es absolut unumgänglich war.

Bartek hatte den Befehl erhalten, die Nebelwelt wieder ins Imperium einzugliedern. Das war eine Ehre, soviel stand fest, aber eine verdammt gefährliche. Bestimmt hatte sich außer ihm niemand freiwillig gemeldet. Sein letzter Auftrag war die Blockade des Planeten Grendel gewesen, wo er die Gewölbe der Schläfer bewacht hatte. Seine sechs Sternenkreuzer hatten die Quarantäne über dem Planeten jahrelang ohne den geringsten Zwischenfall aufrechterhalten, bis Kapitän Schwejksam von der Unerschrocken auf Befehl Ihrer Majestät auf Grendel gelandet war und herausgefunden hatte, daß die abtrünnigen KIs von Shub irgendwie eine Streitmacht an der Blockade vor-beigeschleust und die Gewölbe geplündert harten.

Selbst heute noch war es Bartek ein Rätsel, wie so etwas hatte geschehen können. Die Instrumente seines Schiffes und sämtliche Aufzeichnungen behaupteten hartnäckig, daß nichts seiner Aufmerksamkeit entgangen war. Auch die anderen Schiffe hatten nichts bemerkt.

Bartek und seine Besatzungen waren in Ungnade zurückgerufen worden, und bei ihrer Ankunft auf Golgatha waren alle, angefangen von Bartek bis hinunter zum einfachsten Besatzungsmitglied, in aller Gründlichkeit von Espern und Imperialen Hirntechs untersucht und verhört worden. Man war fest entschlossen, eine Antwort auf das Rätsel zu finden. Vergeblich. Sie fanden nicht den kleinsten Hinweis, obwohl ihre teilweise drastischen Methoden einige der schwächeren Besatzungsmitglieder das Leben gekostet und andere in den Wahnsinn getrieben hatten. Bartek erwachte noch immer mitten in der Nacht und zitterte am ganzen Leib wegen der Alpträume und der Erinnerung an die schrecklichen Dinge, die sie mit ihm angestellt hatten.

Am Ende hatte man ihn und die überlebenden Mitglieder der sechs Sternenkreuzerbesatzungen offiziell von aller Schuld freigesprochen. Umsonst, wie er rasch bemerkt hatte. Niemand vertraute ihnen mehr. Bartek machte den Leuten keinen Vorwurf daraus. Insgeheim befürchtete er selbst, daß Shub irgend etwas mit seinem Verstand angestellt und irgendwelche geheimen Kontrollworte und Befehle in sein Bewußtsein programmiert hatte, die so tief verborgen waren, daß nicht einmal die Hirntechs sie hatten finden können. Ganz ohne Zweifel waren auch andere auf diesen Gedanken gekommen, und so war Bartek nicht weiter überrascht gewesen, als er schließlich den Befehl erhalten hatte, zur Flottenakademie zurückzukehren und dort eine Stellung als Instrukteur anzutreten. Seine Karriere als Kommandant war damit beendet gewesen, und gleichzeitig war es den Geheimdiensten möglich, ihn unauffällig im Auge zu behalten.

Und dann war ein Aufruf gekommen. Freiwillige sollten sich melden, um die Nebelwelt zurückzuerobern. Es mußten Freiwillige sein. Jeder im Imperium wußte, daß es wahrscheinlich auf eine Selbstmordmission hinauslief. Bartek ergriff die Gelegenheit begierig beim Schopf. Selbstmordmission hin oder her, es war ihm egal. Wenn seine Imperatorin sagte, die Mission sei erfüllbar, dann reichte ihm das. Er sehnte sich verzweifelt nach einer Möglichkeit, seine Loyalität zu beweisen, um wieder in die Herde aufgenommen und rehabilitiert zu werden.

Die Löwenstein hatte ihn sofort als Führer der Mission akzeptiert. Teilweise, weil aus seinen Akten hervorging, daß er seinen Auftrag um jeden Preis ausführen würde, und teilweise, weil es kein großer Verlust sein würde, falls er und seine Mannschaft versagten. Bartek wußte und akzeptierte das. Er dachte insgeheim genauso.

Der Türsummer ertönte leise, und auf Barteks geknurrten Befehl hin glitt die Tür auf. Leutnant Ffolkes trat vor und zog den Kopf ein wenig ein, um die herabhängenden Kletterpflanzen um die Tür herum nicht zu berühren. Hinter Ffolkes kamen der Reporter Tobias Shreck und sein Kameramann Flynn. Tobias Shreck, auch genannt Tobias der Troubadour, war ein kleiner, dicker, ständig schwitzender Mann mit glattem, blondem Haar, ungezwungenem Lächeln und scharfem Verstand und war be-rühmt dafür, keinerlei moralische Schranken anzuerkennen. All das zusammengenommen hatte ihn zu einem erstklassigen Reporter gemacht. Flynn war von der großen, schlaksigen Sorte und besaß ein täuschend ehrliches Gesicht. Die auf seine Schulter montierte Kamera wirkte wie eine einäugige Eule.

Tobias und Flynn waren von der Imperatorin persönlich ausgewählt worden, die Einnahme von Nebelhafen zu dokumentieren und aufzuzeichnen. Die Löwenstein hatte sich von ihrer Berichterstattung über die Rebellion auf Technos III sehr beeindruckt gezeigt und ihnen deutlich zu verstehen gegeben, daß es ausgesprochen unklug wäre, diesen neuen Auftrag abzuleh-nen – jedenfalls nicht, wenn die beiden ihre lebenswichtigen Organe dort bevorzugten, wo sie gegenwärtig ihren Dienst verrichteten. Sowohl Tobias, als auch Flynn waren nicht ganz sicher, ob ihr neuer Auftrag Belohnung oder Strafe war; doch beide besaßen genug Verstand, keine diesbezüglichen Fragen an die Löwenstein zu richten. Also sagten sie Ja, Euer Majestät und Danke sehr, Euer Majestät und fragten sich insgeheim verzweifelt, wie zum Teufel sie diesen Auftrag bloß überleben sollten.

Ganz ohne Zweifel würde die Einnahme der Nebelwelt jede Menge erstklassiger Gelegenheiten bieten, Geschichte live und in Farbe aufzuzeichnen – zusammen mit jenen Unmengen von Blut und Zerstörung, die die Massen an den Schirmen zu Hause so sehr liebten. Leider bestand darüber hinaus ebenso zwei-felsfrei eine verdammt hohe Wahrscheinlichkeit, daß man ihnen die Schädel wegblies. Rebellen, die um ihre Heimat und ihr Leben kämpften, würden nicht innehalten , um zwischen einem Imperialen Sturmtruppler und einem ehrenhaften Nachrichtenmann zu unterscheiden, der nur seine Arbeit tat. Doch wie Tobias in der Vergangenheit schon so oft gesagt hatte: Kriege und Schlachten lieferten stets das beste Material. Wenn man das beste Material und das damit verbundene Geld wollte, dann mußte man eben dorthin gehen, wo dieses Material geliefert wurde.

Natürlich gab es auch noch das Problem der Imperialen Zensur. Die Löwenstein wollte Material, das ihre Truppen gut und die Rebellen schlecht aussehen ließ. Ihre Zensoren hatten mit Sicherheit entsprechende Anweisungen erhalten. Überdies wurden Tobias’ und Flynns Bedenken durch den offiziellen Gorilla bestätigt, den man ihnen zur Seite gestellt hatte. Er sollte ihre Arbeit überwachen und sie vor Ärger bewahren. Leutnant Ffolkes, der ›Gorilla‹, war ein Karrieremilitarist, wie er im Buche stand, ein großer, dürrer Bursche, der Befehle buch-stabengetreu ausführte und der keine Gelegenheit ausließ, sich bei einem vorgesetzten Offizier anzubiedern. Wahrscheinlich schlief er in Habachtstellung und teilte sich wegen unreiner Gedanken selbst zum Strafexerzieren ein. Jedenfalls hatte er Tobias und Flynn gleich zu Beginn deutlich gemacht, daß er Reporter und Kameramänner für ein notwendiges Übel hielt.

Er hatte ihnen geraten, seinen Befehlen und Anweisungen bis ins kleinste Detail Folge zu leisten – falls sie wüßten, was gut für sie wäre.

Ihre Weigerung, ihn auch nur halbwegs ernst zu nehmen, sowie die Tatsache, daß sie ihn hinter seinem Rücken Gladys nannten, kränkte ihn zutiefst, ebenso wie ihre Angewohnheit, in die entgegengesetzte Richtung davonzulaufen, sobald sie ihn erblickten.

Tobias und Flynn sahen sich interessiert im Privatquartier des Kapitäns um, da Bartek sie für den Augenblick zu ignorieren schien. Er war vollauf damit beschäftigt, ein kleines, wehrloses Gewächs zu beschneiden. Ffolkes zuckte nervös. Er war nicht sicher, ob er vielleicht höflich hüsteln sollte, um seine Gegenwart kundzutun. Tobias und Flynn waren bisher noch nie ins innere Heiligtum eingeladen worden. Den größten Teil der Zeit hatten sie in der wenig mehr als sarggroßen Kabine verbracht, die Ffolkes ihnen zugewiesen hatte, weit weg vom Rest der Besatzung. Sie sollten keine Gelegenheit erhalten, sich mit jemandem aus der Schiffsbesatzung zu verbrüdern – teils, weil sie keine Informationen aufschnappen sollten, die nicht für ihre Ohren bestimmt waren, doch hauptsächlich, weil sie die Besatzung vielleicht dazu anstacheln könnten, unangenehme Fragen zu stellen. Die Offiziere der Imperialen Flotte vertraten schon seit jeher die Meinung, daß nur eine unwissende Besatzung eine gute Besatzung war.

Tobias verbrachte die meiste Zeit damit, zwischen Wut und wachsender Gewißheit zu schwanken: Wut über die Tatsache, daß man ihm den Ruhm und die Belohnungen vorenthielt, die seine Berichterstattung über die Rebellion auf Technos III sicherlich verdient hatten, und wachsender Gewißheit darüber, daß die Invasion der Nebelwelt eines der bedeutendsten zeitge-nössischen Ereignisse werden würde, was für ihn noch mehr Ruhm und noch mehr Geld bedeutete – aber natürlich nur, falls es ihm gelang, das Material an der Zensur vorbeizuschmuggeln wie auf Technos III. Was das Austricksen von Leutnant Ffolkes anbetraf, sah er keine großen Probleme; der Kerl war einfach zu blöd, Kapitän Bartek war eine andere Sache. Tobias betrachtete nachdenklich den Miniaturdschungel des Kapitäns.

Er suchte nach Hinweisen auf den Charakter des Kapitäns, die er vielleicht gegen ihn verwenden konnte.

Flynn interessierte sich wie erwartet einen Dreck dafür.

Er haßte alles, was mit Militär zu tun hatte, und es war ihm egal, ob das jemandem auffiel oder nicht. Überdies war Flynn ein zufriedener Homosexueller und im Privatleben Transvestit, und beides würde ihn sofort in den Bunker befördern, sollte Ffolkes es herausfinden – auch wenn Obwohl Flynn steif und fest behauptete, im Offizierskorps ein paar gleichgerichtete Seelen erspäht zu haben.

Jedenfalls war er aus Furcht vor den omnipräsenten Sicherheitssystemen des Schiffs beherrscht genug, um keines seiner hübschen Kleider anzulegen, nicht einmal in der vorgeblichen Privatsphäre ihrer Kabine. Er gab sich damit zufrieden, unter der Alltagskleidung Reizwäsche zu tragen und ein ganz schwaches Make-up aufzulegen.

Tobias lebte in der ständigen Angst, sein Kameramann könn-te einen Unfall haben und müßte zur Krankenstation gebracht und dort untersucht werden. Er wußte genau, daß Kapitän Bartek es nicht verstehen würde.

Als hätte der Kapitän den letzten Gedanken gehört, legte er endlich seine Miniaturgartenschere beiseite und wandte sich zu seinen Besuchern um. Sein Gesicht blieb kalt und unnahbar, während er sich Tobias und Flynn näherte, die trotz Ffolkes’ hektisch drängendem Rüstern keinerlei Anstalten machten, in Habachtstellung zu gehen. Bartek blieb unmittelbar vor den beiden Reportern stehen. Als er schließlich sprach, klang seine Stimme leise und gelassen und verdammt einschüchternd.

»Ich habe Eure Berichterstattung über die Rebellion von Technos III gesehen. Rein technisch betrachtet war sie ange-messen, obwohl Eure Wahl des Materials einem Hochverrat ziemlich nahe gekommen ist. Dieser Unsinn wird sich unter meinem Kommando auf keinen Fall wiederholen. Die Rebellen sind der Feind, und sie werden unter gar keinen Umständen als etwas anderes dargestellt! Ihr werdet Eure Berichterstattung auf die Siege meiner Truppen beschränken und alles andere ignorieren, solange Leutnant Ffolkes nicht ausdrücklich das Gegenteil sagt. Es wird keine Liveübertragungen geben, es sei denn, ich ordne sie an. Der größte Teil Eurer Aufzeichnungen wird später gesendet, und Ffolkes und ich werden persönlich jeden Meter Film untersuchen, bevor wir ihn freigeben. Verstöße gegen diesen oder einen anderen Befehl werden mit augenblicklicher Festnahme geahndet. Man wird Euch ersetzen und bei unserer Rückkehr nach Golgatha den Prozeß wegen Hochverrats machen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

»Vollkommen klar, Kapitän«, antwortete Tobias. Er lächelte und nickte eifrig und beschloß insgeheim, Bartek stets so zu filmen, daß er plump und dumm wirkte. Tobias störte sich nicht im geringsten an Barteks Drohungen . Auf Technos III hatte man ihm so ziemlich das gleiche gesagt, und auch dort hatte es nichts genützt. Jeder halbwegs gute Reporter wußte, daß nur eins zählte: Soviel Material nach draußen und auf so zahlreiche Bildschirme zu schaffen, wie nur irgend möglich.

Später konnte man immer noch streiten, und zwar, wenn es für die Verantwortlichen zu spät war, irgend etwas dagegen zu unternehmen, ohne sich eine Blöße zu geben. Natürlich hatte Tobias bisher noch nicht unter Bartek dem Schlächter gearbeitet. Der Mann hatte eine unübersehbare Neigung, Probleme durch extreme Gewaltanwendung zu lösen.

»Kommt mit«, sagte Bartek unvermittelt. »Ich möchte, daß ihr euch etwas anseht.«

Er stapfte an ihnen vorbei und verließ sein Quartier. Die Tür hatte kaum genug Zeit, ihm aus den Füßen zu gleiten. Tobias und Flynn tauschten einen verwirrten Blick aus und beeilten sich, dem Kapitän zu folgen. Ffolkes rannte hilflos hinter ihnen her, wie üblich.

Bartek marschierte durch einen Korridor nach dem anderen.

Er ignorierte die militärischen Grüße seiner Mannschaft und stapfte tiefer und tiefer in einen Bereich des Schiffs, der für die beiden Reporter normalerweise absolut tabu war. Tobias spürte eine wachsende Aufregung. Seit sie an Bord gekommen waren, hatte er durch Bluff, Bestechung und Drohung versucht, sich Zutritt zu diesem Bereich zu verschaffen – ohne jeden Erfolg.

Jeder an Bord wußte, daß dort etwas Wichtiges versteckt wurde, eine Geheimwaffe für die Invasion; doch niemand wußte etwas Genaueres. Und wer doch mehr wußte, war entweder zu erfahren oder zu verängstigt, um den Mund aufzumachen. All das hatte Tobias’ Neugier zum Kochen gebracht. Und jetzt würde er endlich einen Blick darauf werfen können! Verstohlen gab er Flynn einen Wink, die Kamera einzuschalten. Das Gerät war mit Flynns Komm-Implantat verbunden und konnte aktiviert werden, ohne daß von außen etwas zu bemerken war – ein Trick, der sich schon bei mehr als einer Gelegenheit als nützlich erwiesen hatte.

Schließlich blieb Bartek vor einem massiven Schott stehen, die sich allein durch einen Esper öffnen ließ. Tobias konnte nichts anderes tun, als seine Ungeduld irgendwie im Zaum zu halten, bis der Esper auf der anderen Seite des Schotts den Kapitän identifiziert hatte. Ein rascher, unauffälliger Seitenblick auf Ffolkes’ nervöses, weißes Gesicht verriet Tobias, daß auch der Sicherheitsoffizier noch keinen Blick auf das geworfen hatte, was sich hinter der Tür verbarg. Andererseits schien er jedoch genug zu wissen, um es erst gar nicht sehen zu wollen.

Dann schwang das Schott endlich auf, und Bartek führte sie hinein. Tobias trat ihm beinahe in die Hacken.

Vor ihnen lag ein weites Rund, dessen Ränder gerippte Stahlwände bildeten. Den größten Teil des Saals nahm ein riesiger gläserner Tank ein. Die Seiten waren gut dreißig Fuß hoch und von beachtlicher Länge. Der Tank enthielt eine dicke, blaßgelbe Flüssigkeit, die unablässig wie zäher Sirup hin und her schwappte. Darin schwebte eine entsetzlich anzuschauende, gewaltige graue Fleischmasse, durchsetzt von technischen Im-plantaten, die durch zahllose Kabel und Drähte mit dem Tank und den Apparaten dahinter verbunden waren. Die Masse wogte formlos in ihrem Tank, eine krankhafte Ansammlung zu-sammengeklumpter organischer Materialien wie ein einziges gewaltiges Krebsgeschwür in einem Meer aus Eiter. Der Gestank war fürchterlich. Tobias verzog das Gesicht und trat zögernd vor. Das Gebilde faszinierte ihn. Hinter sich hörte er Ffolkes keuchen und würgen.

»Wunderbar, nicht wahr?« bemerkte Bartek. »Das wird das Geheimnis unseres Erfolges sein. Das entscheidende Element, das die Eroberung der Nebelwelt erst ermöglicht. Im Augenblick erzeugt es einen Schirm, der verhindert, daß die Esper der Nebelwelt und ihre Technologie uns entdecken. Es besitzt noch eine ganze Reihe anderer Fähigkeiten, die sich allerdings erst offenbaren werden, wenn unsere Invasion begonnen hat.«

»Was zur Hölle ist das?« fragte Tobias. »Ist es lebendig?«

»O ja, das ist es«, antwortete Bartek. »Ihr seht vor Euch die neueste Schöpfung Imperialer Biotechnologie. Imperiale Wissenschaftler exekutierten sämtliche Esper, die in Silo Neun gefangen waren. Alle, die den Ausbruchsversuch überlebt haben. Dann hat man ihre Gehirne herausgenommen und miteinander verbunden, um das große Konstrukt zu formen, das Ihr nun vor Euch seht. Tausende lebender Gehirne, verschmolzen zu einem einzigen riesigen Esperlektron, einem gigantischen ESP-Blocker und noch viel mehr. Er wird durch die Würmer kontrolliert, welche die Gefangenen früher in ihren Gehirnen hatten. Das Erbe des Wurmwächters. Sie sitzen in regelmäßigen Abständen im Hirngewebe und überwachen und steuern die Denkprozesse. Die Würmer haben ein primitives Über-Ich gebildet, das uns gestattet, direkt per Telepathie mit dem Konstrukt zu kommunizieren. Es nennt sich selbst Legion

»Die Esper-Bewußtseine…«, sagte Tobias langsam. »Leben sie… leben sie noch? Sind sie sich dessen bewußt, was man aus ihnen gemacht hat?«

Bartek zuckte die Schultern. »Das weiß niemand so genau.

Sie sind jetzt Bestandteil von etwas Größerem.«

Tobias trat langsam näher, bis er ganz dicht vor dem Glas des Tanks stand. Hinter sich spürte er Flynn, der unauffällig alles aufzeichnete. Das Entsetzen über die Verbrechen an Tausenden wehrloser Menschen verschlug Tobias für einen Augenblick die Sprache, doch er dachte bereits fieberhaft darüber nach, wie man dieses Ding den Zuschauern am besten präsentieren könn-te. Sie würden alles über diese… diese Abscheulichkeit wissen wollen, und er war der einzige, der darüber berichten konnte.

Er bemühte sich, nicht mehr daran zu denken. Emotionen durften einer guten Geschichte nicht im Weg stehen. Jeder Reporter wußte das.

»Warum heißt es Legion?« fragte er schließlich.

Ich bin Legion, weil ich Viele bin.

Die psionische Stimme klingelte in Tobias’ Gehirn wie die verrottenden Stimmbänder einer seit Monaten toten Leiche.

Sie brach in seine Gedanken ein und rollte sich darin zusammen wie eine Giftschlange, die sich zischend auf den Angriff vorbereitet. Es war eine erbarmungslose, brutale Invasion von Tobias’ Bewußtsein, und ihm wurde übel. Legions Gegenwart in seinem Kopf erzeugte ein Gefühl, als wäre er unrein. Verzweifelt kämpfte er um seine Selbstbeherrschung. Die Stimme fuhr fort:

Ich bin alles, was ich früher war, und mehr. Ich bin viel größer als die Summe meiner Teile. Kein Esper kann mir widerstehen. Ihr Schirm wird fallen, und ich werde ihre Gedanken fressen. Ich werde sie in mir aufnehmen, und die Nebelwelt wird in ihrem Blut und Leid ertrinken.

Legion sprach mit vielen Stimmen gleichzeitig. Es war ein entsetzlicher Chorus aufeinanderprallender Akzente, laut und leise, rauh und schrill, alles zugleich, eine unnatürliche Mischung, die schrecklich unmenschlich klang. Und im Hintergrund, wie das entfernte Rauschen eines Meeres, hallten die Schreie Tausender verdammter Seelen, die in der Hölle lebten.

»Wer… wer genau spricht da eigentlich zu mir?« erkundigte sich Tobias und klammerte sich an seine professionelle Distanz. »Die Hirne der Esper, die Würmer, das kollektive Be-wußtsein? Was?«

Doch Legion gab keine Antwort, und plötzlich war das Ding aus Tobias’ Verstand verschwunden. Er verspürte eine überwältigende Erleichterung. Tobias stolperte rückwärts. Er wollte Abstand zwischen sich und dieses schreckliche Ding im Tank bringen. Flynn war augenblicklich bei ihm und packte ihn stützend am Arm. Und schließlich war es zu Tobias’ Überraschung Ffolkes, der die Antworten auf seine Fragen lieferte. Der Sicherheitsoffizier sprach mit erschütterte, leiser Stimme.

»Wir wissen nicht, wer zu uns spricht. Wir glauben, daß Legion selbst nicht genau weiß, was es ist. Nur eines können wir mit Sicherheit sagen: Legion ist bewußt und wach, und es wird immer stärker. Es kann mit Leichtigkeit jeden psionischen Schirm zerstören, den die Nebelweltler gegen uns zu errichten imstande sind. Und ohne Schirm sind sie uns hilflos ausgelie-fert.«

»Und wie stark wird es noch?« fragte Tobias. Seine Stimme klang wieder ein wenig fester, nachdem Legion sich aus seinem Kopf zurückgezogen hatte.

»Das wissen wir nicht«, antwortete Bartek. »Aber macht Euch deswegen keine Gedanken. Rein physisch betrachtet ist Legion vollkommen hilflos. Es könnte nicht eine Sekunde außerhalb seines Tanks überleben. Ohne unsere technische Unterstützung und die chemische Nährlösung, in der es schwimmt, könnte es nicht existieren. Es ist von uns abhängig, und das weiß es.«

»Aber Ihr wißt immer noch nicht, was es ist!« sagte Flynn leise. »Und Ihr wißt auch nicht, wozu es imstande sein wird.«

»Ich sage Euch, was Legion ist« entgegnete Bartek und lächelte zum ersten Mal. »Legion ist eine Waffe. Legion ist eine Waffe, mit deren Hilfe ich die Nebelwelt ein für allemal vernichten werde.«

Einige Zeit später, Leutnant Ffolkes hatte Tobias und Flynn sicher zu ihrem Quartier zurückeskortiert, eilte er in einen anderen Bereich des Schiffs und klopfte verstohlen an eine Tür.

Er benutzte das geheime Zeichen, das man ihm gegeben hatte.

Die Tür öffnete sich fast im gleichen Augenblick, und er schlüpfte hinein. Er schwitzte, und seine Hände zitterten. Spezielle Lektronenschaltungen sollten seine Anwesenheit vor den Überwachungssystemen des Schiffs verbergen; doch er wußte nicht, ob sie wie beabsichtigt funktionierten oder nicht. Nachdem die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war, beruhigte er sich ein wenig. Er ruckte dem einzigen Bewohner des Raums zu, und Investigator Razor erwiderte seinen Gruß.

Razor war ein großer, schwerer Mann mit beeindruckenden Muskeln und einem ruhigen, nachdenklichen Gesicht. Seine Hautfarbe war dunkel, das kurzgeschnittene Haar weiß, und die eng beieinander stehenden Augen von einem überraschenden Grün. Der Investigator wirkte ruhig und gelassen; doch Ffolkes ließ sich dadurch nicht täuschen. Er wußte, daß Razor nicht freiwillig hier war. Der Investigator hatte ein ruhiges, zufriedenes Leben als Sicherheitschef des Chojiro-Clans geführt, bis die Imperatorin beschlossen hatte, Investigatoren nicht mehr zu gestatten, für die Familienclans zu arbeiten, egal ob im Ruhestand oder nicht. Statt dessen hatte sie sämtliche noch lebenden Investigatoren, gleichgültig, welchen Status sie innegehabt hatten, zurück unter direkte Imperiale Kontrolle gebracht. Unter dem Chojiro-Clan war Razor ein wohlhabender, einflußreicher Mann gewesen; jetzt war er nur noch ein einfacher Investigator, älter und vielleicht ein wenig langsamer als die meisten anderen . Aber die Eiserne Hexe persönlich hatte Investigator Razor für die Nebelwelt-Mission ausgesucht, und jetzt war er hier, obwohl er sich schon längst nichts mehr aus Selbst-mordmissionen machte.

Razor war auf die Herausforderung versetzt worden, weil er früher eng mit Investigator Topas zusammengearbeitet hatte.

Er war ihr Mentor und Lehrer gewesen in einer Zeit, als das Imperium sich noch nicht im klaren darüber gewesen war, ob ein Investigator mit Esperfähigkeiten eine gute Sache war oder nicht. Topas’ Fahnenflucht und die Tatsache, daß sie jetzt auf der Nebelwelt lebte, hatten diese Frage beantwortet. Man hatte Razor von aller Schuld freigesprochen, doch niemand hatte Einwände erhoben, als er um frühzeitigen Ruhestand nachge-sucht hatte.

Die Nebelwelt-Mission sollte eine zweite Chance für ihn sein: eine Chance, dem Imperium seinen Wert und seine Loyalität zu beweisen, indem er seine alten Bekanntschaft ausnutzte, um so nahe wie möglich an Topas heranzukommen. Und dann würde er Topas töten. Niemand hatte ihn gefragt, wie er sich bei diesem Gedanken fühlte. Imperiale Investigatoren durften keine Gefühle haben.

»Ihr bringt neue Befehle?« wandte er sich leise an Ffolkes.

»Ja«, antwortete der Sicherheitsoffizier und blickte sich unbehaglich in der spartanisch eingerichteten Kabine des Investigators um, da er dem kalten, unverwandten Blick Razors nicht standhalten konnte. »Ich werde Euer Kontaktmann zum Chojiro-Clan sein. Ich bin durch Heirat mit ihnen verwandt. Ich soll Euch ausrichten, daß man Euch nicht vergessen hat, und daß die Familie Euch für Eure Arbeit hier fürstlich belohnen wird.

Ich bin hier, um Euch über Kapitän Barteks Pläne zu informieren, sobald Legion den Esperschild überwunden hat.

Wir könnten hingehen und den Planeten aus dem Orbit her-aussengen, doch Ihre Imperiale Majestät hat beschlossen, die Nebelwelt einzunehmen und nicht zu zerstören. Zum einen, weil sie Esper noch immer als eine Waffe im bevorstehenden Krieg gegen die Fremden betrachtet, und zum anderen, weil sie beweisen will, daß niemand sie herausfordern und ungestraft davonkommen kann. Ihre Majestät wünscht, daß die Anführer der Rebellen in Ketten vorgeführt werden, damit jeder sehen kann, daß sie besiegt worden sind.

Also lauten Barteks Befehle: Systematische, aber nicht vollständige Zerstörung der Stadt Nebelhafen. Bis zu fünfzig Prozent Tote unter der Zivilbevölkerung werden als akzeptabel betrachtet. Die Stadt ist Straße um Straße einzunehmen, falls es notwendig sein sollte, auch im Häuserkampf.

Was das bedeutet, könnt Ihr Euch denken: Vollständiges Chaos und Verwirrung. Wir werden unseren Vorteil daraus ziehen. Sobald Ihr mit Investigator Topas und der Typhus-Marie fertig seid, werdet Ihr mit verschiedenen einflußreichen Bewohnern von Nebelhafen in Verbindung treten. Die Namen und Adressen habe ich hier auf einer Liste. Lernt sie auswendig und vernichtet die Liste anschließend.

Diese Leute waren einst Teil eines Spionagenetzes, das die Stadt überzogen und Informationen für den vorletzten Lord Todtsteltzer gesammelt hat. Seit seinem Tod hat sich eine Reihe von ihnen an den Chojiro-Clan gewandt . Sie bitten um Schutz und finanzielle Unterstützung. Mit Hilfe der Familie werden diese Leute nach der Einnahme der Nebelwelt die neue Verwaltung bilden. Euer Auftrag lautet, sie am Leben zu erhalten, bis die Kampfhandlungen vorüber sind.«

Razor nickte gelassen.

»Scheint nicht übermäßig schwierig zu werden. Habt Ihr vielleicht eine Idee, warum Chojiro die Kontrolle über diesen widerlichen Planeten erlangen will?«

»Ich stelle keine Fragen«, antwortete Ffolkes. »Auf diese Weise lebt man länger. Doch falls Ihr einen Rat haben wollt, würde ich sagen, daß die überlebenden Esper sowohl eine vorzügliche Einnahmequelle, als auch eine geheime Ressource darstellen. Der Chojiro-Clan plant weit in die Zukunft. Lebt wohl, Investigator. Ich hoffe, wir müssen uns nicht wiedersehen.«

»Ihr habt Furcht«, stellte Razor fest. »Ich kann es förmlich riechen. Wovor fürchtet Ihr Euch, Leutnant?«

»Ich weiß nicht, wovon ihr redet«, entgegnete Ffolkes. »Ich muß jetzt wirklich gehen. Man wird mich sonst vermissen.«

Und dann wurde er gegen die Wand geschleudert, und Razors Schwert war mit einemmal an seiner Kehle. Ffolkes schnappte nach Luft, und auf seiner Stirn bildeten sich dicke Schweißperlen. Er hatte noch niemals jemanden gesehen, der sich derart schnell bewegte . Razor brachte sein Gesicht dicht vor Ffolkes, und der Sicherheitsoffizier wagte noch nicht einmal, mit der Wimper zu zucken.

»Ihr habt Angst vor mir, Leutnant. Das ist gut. So soll es auch sein. Falls Ihr auch nur ein Wort über meine fortbeste-hende Verbindung zum Chojiro-Clan verliert, ganz egal zu wem, dann werde ich Euch töten. Glaubt Ihr mir, Leutnant?«

Razors Schwert ritzte ganz schwach die Haut von Ffolkes’ Hals, und ein einzelner Bluttropfen rann über die Haut in den Kragen des Offiziers. Ffolkes wagte nicht zu nicken, doch er brachte ein gestammeltes »Ja« hervor. Razor grinste, nahm das Schwert vom Hals seines Opfers und trat einen Schritt zurück.

»Nur, damit wir uns recht verstehen. Und jetzt macht, daß Ihr wegkommt, Wendehals! Falls ich Euch brauchen sollte, werde ich Euch finden. Und wenn Ihr mich dazu zwingt, nach Euch zu suchen, dann bin ich das letzte, was Ihr in Eurem Leben sehen werdet.«

Er öffnete die Tür, und Ffolkes schoß an ihm vorbei hinaus auf den Gang. Der Sicherheitsoffizier rannte durch den Korridor davon, so schnell er konnte – zur Hölle, ob jemand ihn dabei beobachtete oder nicht! Keine noch so hohe Bezahlung war soviel Ärger wert. Nichts auf der Welt war soviel Arger wert.

Die Pinassen der Herausforderung fielen aus dem frühen Abendhimmel über der Nebelwelt wie silberne Raubvögel in eine blutigrote Nacht. Sie trugen die Imperialen Truppen hinab zur Oberfläche des Rebellenplaneten.

Die Esper von Nebelhafen sahen und hörten nichts von alledem. Sie wußten nicht einmal, daß das Imperium bereits so nah war. Legion weitete seine Fähigkeiten unablässig aus und er-probte sie. Theoretisch hätte Legion die Pinassen auch aus viel größerer Entfernung abschirmen können, doch wie mit so vielen seiner Kräfte lernte es durch Übung. Hunderte silberner Schiffe landeten eins nach dem anderen auf einer weiten, von Schnee und Eis bedeckten Ebene unterhalb der letzten Ausläufer der Totenkopf-Berge. Die Landestelle lag noch ein gutes Stück von Nebelhafen entfernt, doch relativ nah bei einer kleinen vorgeschobenen Siedlung namens Hartsteinfels. Abgesehen von ein paar einsam liegenden Farmen war es der einzige bewohnte Ort neben der Hauptstadt: ein kleines, bedeutungsloses Städtchen mit etwas mehr als zweitausend Einwohnern, wenn man den Informationen des Imperiums vertrauen konnte.

Keine Verteidigungsanlagen, sehr wenig Technologie. Ein gutes Testgelände, bevor der Hauptangriff stattfand.

Männer und Frauen rannten aus ihren flachen Steinhäusern und starrten ungläubig auf die Pinassen, die aus dem Abendhimmel fielen. Legion mochte vielleicht imstande sein, Esper und Sensoren an der Nase herumzuführen; doch selbst eine solch gewaltige psionische Begabung vermochte nicht, das Donnern der Maschinen vor den Leuten unten am Boden zu verbergen. Noch nicht jedenfalls.

Die Einwohner von Hartsteinfels versammelten sich hinter den hohen Steinmauern ihrer kleinen Stadt und beobachten und unterhielten sich aufgeregt, während die Schiffe immer tiefer sanken. Es dauerte nicht lange, bis sie sich ausmalen konnten, was die silbernen Schiffe zu bedeuten hatten. Sie hatten den größten Teil ihres Lebens damit verbracht, auf eine Invasion zu warten und sich darauf vorzubereiten – auf jenen Tag, an dem das Imperium zur Nebelwelt zurückkehren und sie als sein Eigentum beanspruchen würde.

Männer und Frauen rannten in die Häuser, um ihre Kinder zu verstecken und die Waffen hervorzuholen.

Soldaten strömten aus den langen schlanken Pinassen. Sie trugen schwer an ihren Kampfrüstungen und der dicken Win-terkleidung, und sie waren mit Schwertern, Energiewaffen und persönlichen Schutzschirmen ausgerüstet. Die Pinassen besaßen Disruptorkanonen, doch sie würden erst bei der Erstürmung von Nebelhafen eingesetzt werden.

Infanteristen beeilten sich, einen Verteidigungsring rings um das Landefeld zu errichten. Im Augenblick ignorierten sie die kleine Stadt noch. Imperiale Sturmtruppen formierten sich und warteten auf ihren Einsatzbefehl. Sie waren kalte, disziplinierte und erfahrene Killer, die nur darauf warteten, von der Leine gelassen zu werden. Unteroffiziere bellten Befehle; Offiziere nahmen ihre Positionen ein, und noch immer landeten weitere Schiffe und weitere Truppen marschierten aus den Schleusen auf die Ebene aus Schnee und Eis.

Tobias Shreck und sein Kameramann Flynn hatten sich in dichte Pelze gehüllt. Sie stolperten hinaus in die Kälte, fluchten leise und begannen mit den Dreharbeiten. Man hatte ihnen befohlen, alles zu dokumentieren, und Leutnant Ffolkes stand unmittelbar hinter ihnen, um sicherzustellen, daß die beiden ihrem Befehl auch Folge leisteten. Er beobachtete, wie die Armee sich formierte, und seine Brust schwoll vor Stolz. Es waren Tage wie dieser, die einen glücklich machten, zur Imperialen Flotte zu gehören.

Aus dem letzten der Landungsschiffe trat schließlich der Kommandant der Imperialen Angriffsmacht: Investigator Razor. Er hatte sich weder mit isolierter Kampfrüstung noch mit Pelzen geschützt; er trug nichts weiter als die offizielle Uniform der Investigatoren. Razor spürte die Kälte nicht – aber natürlich wußte jeder, daß Investigatoren nicht ganz menschlich waren. Die Imperatorin persönlich hatte Razor das Kommando über sämtliche Bodentruppen übertragen. Zum Teil deswegen, weil er schon früher Invasionsstreitkräfte geführt hatte, aber sicherlich auch deswegen, weil sie ihm zeigen wollte, daß sie ihm voll und ganz vertraute, trotz seines Alters und seiner Verbindungen zum Chojiro-Clan.

Razors Stabsoffiziere versammelten sich um ihren Kommandanten und berichteten über die Fortschritte der Operation. Razor nickte knapp. Er hatte noch nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, daß etwas schieflaufen könnte. Der Anfang war immer leicht zu planen. Sein persönlicher Adjutant reichte ihm ein Fernglas, und Razor betrachtete die Stadt und das umgebende Land. Normalerweise hätte er sich via Komm-implantat in die Schiffslektronen eingeloggt und die Sensoren ausgelesen, doch Legion blockierte sämtliche elek-tromagnetischen Frequenzen. Razor und seine Verbände mußten sich also mit primitiven Hilfsmitteln begnügen. Abgesehen von der Stadt gab es nichts zu sehen außer Schnee und Eis, soweit das Auge reichte. Die weiße Fläche erstreckte sich bis hin zu den Totenkopf-Bergen, die kalt und ungerührt in den Himmel ragten, als wäre das, was zu ihren Füßen geschah, vollkommen bedeutungslos. Razor grinste flüchtig.

Schließlich wandte er sich der zehn Fuß hohen Steinmauer zu, hinter der die Stadt lag. Es war eine massive Konstruktion aus Stein und Mörtel, die sicherlich einiges aushielt. Ein paar Salven aus den Energiewaffen würden das erledigen. Männer und Frauen waren auf Laufstegen hinter der Mauerkrone in Stellung gegangen. Die meisten trugen nichts als Schwerter, Äxte oder ein paar Speere; doch einige besaßen auch Energiewaffen, allerdings bei weitem zuwenig, und beide Seiten wußten es. Die Stadtbewohner waren schon so gut wie tot. Sie hatten sich nur noch nicht hingelegt. Razor sog die kalte Luft ein und konzentrierte sich auf die vor ihm liegende Aufgabe. So weit oben auf dem Plateau gab es kaum Nebel, und die Luft war klar und sauber. Er gab den Angriffsbefehl, und eine Hundertschaft Marineinfanteristen eröffnete das Feuer aus ihren Disruptoren.

Die Stadtmauer explodierte, und Steintrümmer und blutige Fetzen flogen in alle Richtungen.

Rauchwolken stiegen auf, und ein Regen scharfkantiger Splitter und zerrissener Körperteile prasselte blutigem Hagel gleich in den weißen Schnee. Schreie erklangen, und die Überlebenden zogen sich von der großen Bresche in ihrer Stadtmauer zurück. Ein paar blieben und versuchten, die Verwundeten zu bergen, doch die Marineinfanteristen schossen sie ab wie die Fliegen. Auf der gegenüberliegenden Seite von Hartsteinfels waren weitere Truppen in Stellung gegangen, und auch dort wurde ein Loch in die Mauer gesprengt. Die Bewohner der Stadt waren zwischen den beiden vorrückenden Verbänden eingeschlossen, und es gab keine Weg aus der Falle. Razor nickte seinen Stabsoffizieren zu, zog Schwert und Disruptor und führte seine Truppen in die Stadt hinein.

Der Kampf wurde entschlossen und blutig geführt, doch er dauerte nicht lange. Die Marineinfanteristen hatten alle Vorteile auf ihrer Seite: gewaltige Übermacht, massierte Energiewaffen, Energieschilde. Die Stadtbevölkerung kämpfte tapfer; Männer und Frauen verteidigten wild entschlossen ihre Heimat.

Schwerter zischten durch die Luft, und heißes, dampfendes Blut spritzte in den Schnee. Schreie, Kampfrufe, gebellte Befehle; und Körper und Eingeweide besudelten den Boden. Es gab weder Raum noch Zeit für Helden, nur zwei ungleiche Armeen, die in verbissener Anonymität kämpften.

Über dem Gerassel der Schlacht erklang das Fauchen von Energiewaffen, stets gefolgt vom plötzlichen Gestank verbrannten Fleisches. Die Imperialen Streitkräfte konnten zwar keine Disruptoren mehr einsetzen, wollten sie vermeiden, die eigenen Leute zu treffen, doch die wenigen Stadtbewohner mit Energiewaffen hatten sich in ihren Häusern verbarrikadiert und betätigten sich hinter geschlossenen Fensterläden verzweifelt als Heckenschützen. Schließlich gelang es den Imperialen, die entsprechenden Häuser zu lokalisieren, und sie sprengten sie mit Granaten in die Luft. Die Mauern der flachen Gebäude sackten zusammen, und Dächer stürzten ein und begruben die Heckenschützen unter sich. Aus entgegengesetzten Richtungen rückten die Marineinfanteristen gnadenlos und unaufhaltsam vor. Sie trieben die Verteidiger vor sich her und metzelten alles nieder, was nicht schnell genug weichen konnte oder wollte.

Schließlich waren die Überlebenden mitten in ihrer eigenen Stadt eingeschlossen und gefangen.

Als endlich alles vorüber war, senkte sich eine düstere Stille über die Ruinen dessen, was einst Hartsteinfels gewesen war.

Die letzten Verteidiger waren gefallen, und die wenigen, die sich ergeben hatten, meist Frauen und Kinder, standen dicht zusammengedrängt in kleinen, gutbewachten Gruppen beieinander. Überall brannten Häuser. Purpurne Flammen leckten über sich langsam schwarz färbende Steinwände. Die Straßen waren mit Leichen übersät, hauptsächlich Stadtbewohner, während die Marineinfanteristen kaum Verluste erlitten hatten.

Ein paar Dutzend Infanteristen bewegten sich unter den Gefallenen. Sie markierten ihre eigenen Verwundeten für die Sanitätsmannschaften und erlösten die verletzten Rebellen von ihren Leiden.

Investigator Razor stand mitten in der Stadt auf einem kleinen freien Platz, den seine Truppen für ihn geräumt hatten, und blickte langsam in die Runde. Er war ein wenig mißgestimmt über den Kampfverlauf. Er hatte mehr Männer verloren als erwartet – allerdings hatte er auch nicht mit Energiewaffen bei den Rebellen gerechnet. Er hob die Hand und rief seine Stabsoffiziere einschließlich seines Stellvertreters, Major Chevron, zu sich. Chevron war ein großer, muskulöser Mann, der aussah, als sei er in einer Kampfrüstung geboren worden. Er ging vor Razor in Habachtstellung, doch er salutierte nicht. Formell war er ranghöher als Razor, doch beide wußten, wer hier das Sagen hatte.

»Die Stadt ist sicher, Sir«, meldete Chevron ruhig. »Die Be-völkerung ist entweder tot oder gefangen, mit Ausnahme einiger weniger, die sich noch in ihren Häusern verbergen. Die Stadt ist gefallen.«

»Sie waren im Besitz von Energiewaffen, Major«, entgegnete Razor. »Warum bin ich nicht darüber informiert worden?«

»Es waren nur wenige, Sir. Sie dienten wie die Stadtmauern in erster Linie zur Verteidigung gegen einheimische Raubtiere.

Häßliche Viecher. Sie nennen sie Koboldshunde. Es wurde in den ersten Besprechungen erwähnt, Sir.«

Razor nickte unverbindlich. »Können wir als gesichert annehmen, daß es keine weiteren Rebellensiedlungen mehr in der Umgebung gibt?«

»So ziemlich, Sir. Nur ein paar vereinzelte Farmen, hier und da. Wir können sie aus der Luft erledigen, während wir auf Nebelhafen vorrücken. Die Nachricht wird nicht vor uns dort eintreffen. Legion blockiert sämtliche Frequenzen. Offensichtlich ist es nichts Ungewöhnliches, daß auf diesem Planeten von Zeit zu Zeit die Kommunikation zusammenbricht. Nebelhafen wird sich keine Gedanken machen, weil die Stadt seit einer ganzen Weile nicht mehr geantwortet hat. Bis man erkennt, daß irgend etwas nicht in Ordnung ist, hämmern wir bereits an ihre Pforten.«

»Also bleibt uns ein wenig Zeit zum Disponieren . Gut.« Razor lächelte schwach. »Treibt die Gefangenen zusammen und exekutiert sie.«

»Sir?« Major Chevron blinzelte den Investigator unsicher an.

Der Befehl hatte ihn überrascht. »Soweit ich verstanden habe, sollten die Gefangenen als Geiseln und menschliche Schilde benutzt werden…?«

»Dann habt Ihr falsch verstanden. Habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt, Major? Tötet alle! Einschließlich derer, die sich noch in ihren Häusern verstecken. Jetzt sofort!«

»Jawohl, Sir. Sofort.«

Der Major winkte die am nächsten stehenden Offiziere herbei und erteilte die entsprechenden Befehle. Die Offiziere gaben die Befehle an ihre Männer weiter, und die Imperialen Truppen zogen erneut ihre bereits mit Blutverkrusteten Schwerter und Äxte und machten sich mit ausdruckslosen, unbeteiligten Mienen an die Arbeit . Klingen zischten durch die Luft, und die überlebenden Frauen und Kinder und die wenigen Männer wurden rasch niedergemetzelt. Sie hatten kaum Zeit zu schreien, und das einzige Geräusch in der stillen Luft war das dumpfe Geräusch von hartem Stahl, der tief in menschliches Fleisch sank. Frauen versuchten, ihre Kinder mit ihren Leibern zu schützen, vergeblich. Die Marineinfanteristen erledigten ihre Arbeit äußerst sorgfältig .

Razor lächelte. Er wollte, daß seine Soldaten sich ihrer Pflicht bewußt waren. Außerdem war es wichtig, daß die Leute nicht auf den Gedanken kamen, er könnte in seinem fortgeschrittenen Alter weich geworden sein. Er wußte, daß einige Leute nur darauf warteten, daß er einen Fehler beging, um ihren Vorteil daraus zu ziehen. Angefangen bei Major Chevron, der kein Hehl aus seiner Ansicht machte, daß er eigentlich das Kommando hätte haben müssen.

Marineinfanteristen sammelten sich vor den wenigen Häusern zusammen, in denen sich noch Rebellen verschanzt hatten.

Sie versuchten, die Häuser in Brand zu stecken, doch Steinmauern und Schieferdächer brannten nicht gut. Schließlich gaben sich die Soldaten damit zufrieden, die Fenster zu zerbrechen und Granaten hineinzuwerfen.

Ein paar Stadtbewohner flüchteten vor dem Rauch und den Explosionen auf die Straße. Sie brüllten obskure Kampfrufe und schwangen Schwerter und Äxte, und die Infanteristen schossen sie aus sicherer Entfernung ab. Es dauerte nicht lange.

Am Ende brannte jedes einzelne Haus der Stadt, und eine schwere schwarze Rauchwolke stieg in den dunkler werdenden Abendhimmel über der Nebelwelt.

Tobias und Flynn befanden sich mitten im Geschehen und zeichneten alles und jedes auf. Flynns Kamera flog hin und her auf ihrem Antigravkissen, schwebte über den Köpfen, wenn es ein wenig zu heiß wurde, und Tobias kommentierte die Szenerie. Flynn wurde das Gemetzel zuviel, und er wollte aufhören zu filmen, doch Ffolkes verbot es und setzte dem Kameramann einmal sogar den Disruptor an den Kopf. Tobias redete und redete, und wenn seine Stimme hin und wieder rauher klang – nun, in der Luft war jede Menge Rauch. Die beiden Reporter waren seit ihren Erlebnissen auf Technos III daran gewöhnt, gewaltsamen Tod in Nahaufnahme zu filmen, aber nichts, was sie dort gesehen hatten, hatte sie auf das hier vorbereitet. Auf Technos III hatte ein Krieg zwischen zwei mehr oder weniger gleich starken Seiten getobt. Das hier war reine Schlachterei.

Ffolkes war nicht in der Nähe, als Razor den Befehl zur Exekution der Überlebenden erteilte. Flynn blickte Tobias an.

»Ich kann das nicht!«

»Film weiter!«

»Ich kann nicht! Das ist obszön! Sie haben sich längst ergeben!«

»Ich weiß. Aber es ist wichtig, daß wir jede Einzelheit festhalten.«

Flynn funkelte ihn an. »Du würdest alles für deine verdammten Quoten tun, wie?«

»So ziemlich viel, ja, aber das hier ist etwas anderes. Die Menschen müssen erfahren, was sich hier zugetragen hat. Was die Löwenstein in ihren Namen getan hat.«

Flynn verzog den Mund zu einer häßlichen Grimasse. Seine Augen füllten sich mit Tränen, doch er filmte weiter, bis zum letzten blutigen Husten und zum letzten zuckenden Leichnam .

Als es endlich vorüber war, setzte er sich in den blutbesudelten Schnee und weinte. Die Kamera schwebte über ihm. Tobias stand vor Flynn und klopfte ihm tröstend auf die Schulter. Er war viel zu wütend, um zu weinen.

»Bartek wird niemals zulassen, daß diese Aufnahmen gezeigt werden«, sagte Flynn schließlich. »Er wird alles herausschnei-den

»Den Teufel wird er tun«, widersprach Tobias. »Er wird stolz auf dieses Gemetzel sein. Seine Truppen haben heute einen großartigen Sieg errungen. Den ersten auf der Nebelwelt. Du verstehst eben nicht, wie ein militärischer Verstand funktioniert, Flynn.«

»Und dafür danke ich Gott!« Flynn stand wieder auf und schüttelte Tobias’ Hand ab. Seine Kamera landete wieder auf dem Schulterpolster. Ffolkes trat zu ihnen. An seiner Kampfrüstung klebte Blut, doch es war nicht sein eigenes. Er war blaß im Gesicht. Der Sicherheitsoffizier warf einen Blick auf die erbärmlichen Haufen verstümmelter Leichen, dann sah er Tobias und Flynn beinahe flehentlich an.

»Macht Euch keine Sorgen«, sagte Tobias. »Wir haben alles aufgezeichnet.«

»Das war nicht so geplant«, erklärte Ffolkes mit erstickter Stimme. »Das ist kein Krieg mehr.«

»Doch, das ist es«, widersprach Investigator Razor, und Ffolkes wirbelte herum. Der Investigator trat mit der Stiefelspitze gegen eine der Leichen. »Das hier ist Abschaum. Feinde des Imperiums. Auf der Nebelwelt gibt es keine Unschuldigen.

Allein dadurch , daß sie sich entschlossen haben, hier zu leben, sind sie automatisch Verräter und Kriminelle und zum Tod verurteilt.«

»Und was ist mit den Kindern?« fragte Flynn. »Sie haben sich ihr Leben nicht ausgesucht. Sie wurden hier geboren, weiter nichts!«

Razor sah den Kameramann gelassen an. »Sie wären zu Verrätern erzogen worden. Kann es sein, daß Ihr ein wenig zart besaitet seid, mein Junge?«

»Ja«, antwortete Flynn. »Dafür ganz bestimmt.«

»Macht Euch keine Gedanken, Junge. Das hier ist noch gar nichts im Vergleich zu dem, was in Nebelhafen stattfinden wird. Ich werde Euch noch zum Mann machen, seid unbe-sorgt.«

Er wandte sich ab und ging davon, um weitere Befehle zu erteilen. Die Marineinfanteristen sammelten die Leichen der gefallenen Stadtbevölkerung ein und schichteten sie zu einem großen Haufen in der Mitte der kleinen Stadt auf. Der Haufen wurde stetig größer, und die Soldaten mußten über Leichen klettern, um die Toten immer höher aufzustapeln. Schließlich war es vollbracht. Der gewaltige Leichenberg ragte sogar über die Dächer der brennenden Häuser auf. Razor ließ ihn in Brand stecken. Rauch stieg auf, und der Gestank brennenden Fleisches hing schwer in der Luft.

Für einige der Soldaten war das zuviel. Sie wandten sich ab von den Körpern, die sich in den Flammen krümmten, von dem blutigem Fleisch, das schwarz wurde und riß, und sie überga-ben sich in den weißen Schnee. Ihre Vorgesetzten standen über ihnen und schrien Befehle und Zurechtweisungen. Flynn filmte alles.

»Ich will Razor tot sehen«, sagte er schließlich. »Ich schwöre, dafür wird er sterben.«

»Er ist Investigator, Flynn. Gewöhnliche Leute wie du und ich bringen normalerweise keine Investigatoren um.«

»Irgend jemand muß es tun«, entgegnete Flynn. »Solange es noch gewöhnliche Leute gibt.«

Der dichte schwarze Rauch stieg hoch über die Überreste dessen auf, was noch vor kurzer Zeit die Stadt Hartsteinfels mit ihren etwas mehr als zweitausend Einwohnern gewesen war, während die Imperialen Marineinfanteristen in geordneter Formation zu den wartenden Schiffen zurückkehrten und sich auf den Flug nach Nebelhafen vorbereiteten.

Zwei Marineinfanteristen patrouillierten durch die ehemalige Hauptstraße von Hartsteinfels. Zwischen ihnen wanderte eine Flasche Fusel hin und her. Zu beiden Seiten brannten Gebäude, und das gewaltige Krematoriumsfeuer prasselte in der Stadtmitte. Fettiger schwarzer Rauch stieg hoch in den abendlichen Himmel hinauf. Für Kast und Morgan, zwei Karrieresoldaten, war es nichts weiter als ein gewöhnlicher Auftrag. Sie hatten in den Jahren unter Bartek dem Schlächter schon Schlimmeres gesehen und getan. Sie unterschieden sich nicht sehr voneinander, diese beiden Marineinfanteristen. Beide waren groß und muskulös; beide trugen blutbesudelte Kampfrüstungen; beide besaßen breite, gutgelaunte Gesichter und Augen, die schon alles gesehen hatten.

Sie wanderten durch die Stadt und warteten darauf, daß sie an die Reihe kamen, an Bord ihrer Pinasse zu gehen, um nach Nebelhafen zu fliegen. Wer als erster drin war, mußte als letzter raus, wie immer. Bis jetzt hatten sie noch nichts Angenehmes an der Nebelwelt entdeckt. Es war scheißkalt; die Einwohner schossen auf einen, wenn man nicht damit rechnete, und nirgendwo gab es ein gemütliches Plätzchen. Also gingen sie von Haus zu Haus und suchten alles, was nicht bis auf die Grundmauern niedergebrannt war, nach Beute und Fusel ab.

Frauen gab es schließlich nicht mehr.

»Verdammte Scheißgegend«, sagte Morgan.

»Stimmt. Scheißgegend«, bestätigte Kast und beugte sich vor, um eine Zigarette an einem brennenden Türrahmen anzuzünden. »Trotzdem tut es gut, sich die rostenden Knochen mal wieder zu vertreten.«

»Verdammt richtig«, erwiderte Morgan. »Ich dachte, ich würde verrückt. Monatelang immer nur auf den Scheißärschen sitzen und den Scheiß-Grendelplaneten aus dem Orbit beobachten. Das hier ist wenigstens ehrliche Arbeit. Soldatenar-beit.«

Keiner von beiden verlor ein Wort über die Zeit in den Fol-terzellen auf Golgatha, über das Schreien und Schluchzen, während die Imperialen Hirntechs gnadenlos nach Informationen über die durchbrochene Quarantäne gesucht hatten. Es tat einfach gut, wieder frei zu sein und gegen einen richtigen Feind kämpfen zu können. Den Schmerz ein wenig zurückzah-len… Schließlich war das die Methode des Imperiums, oder?

Sie stolperten über den Leichnam einer Frau, der anscheinend übersehen worden war. Der Körper lehnte zusammengesunken in einem Eingang. Die beiden Marineinfanteristen blieben vor der Toten stehen, und ihr blutiger Kopf schien ein kleines Stück nach vorn zu sinken, als nicke sie ihnen grüßend zu. Kast stieß Morgan den Ellbogen in die Rippen.

»Ich glaube, sie mag dich.«

»Wahrscheinlich ist sie sogar noch warm. Werfen wir eine Münze, wer als erster darf?«

»Sicher. Aber wir nehmen eine von meinen. Du betrügst immer.«

Sie warfen eine Münze, und Morgan gewann. Als er sich bückte, um den Leichnam an den Schultern zu packen, fiel der Kopf der Frau herunter und rollte durch den Schnee davon.

Augenblicklich jagten die beiden Marineinfanteristen hinterher.

Lachend improvisierten sie ein Fußballspiel. Der kopflose Leichnam lag vergessen im Hauseingang. Morgan trat den

›Fußball‹ mit einem wohlgezielten Schuß durch eine leere Fen-sterhöhle und vollführte einen triumphierenden Luftsprung .

»Tor! Tor! Siehst du, Kast? Ich hab’s dir gleich gesagt. Ich kann’s immer noch. Ich hätte glatt eine Karriere als Profi ein-schlagen können!«

»Ja, ja, und aus mir hätte glatt ein Unteroffizier werden können, wenn meinen Mutter nicht meinen Vater geheiratet hätte.

Los jetzt, Bewegung. Die Zeit wird allmählich knapp.«

Der Rest der Stadt war enttäuschend langweilig. Am Lei-chenfeuer zog Kast eine Packung Marshmallows aus der Tasche . Die beiden setzten sich, um die Marshmallows am Feuer zu rösten, während sie fröhlich Erinnerungen an vergangene Feldzüge austauschten. Der Himmel wurde stetig dunkler, und das Feuer tauchte die verlassene, zerstörte Stadt in einen purpurnen Höllenglanz. Kast und Morgan saßen an ihrem gewaltigen Lagerfeuer und sangen Lieder über Kameradschaft, Gewalt und über verlorene Freunde, und schließlich marschierten sie grölend aus der brennenden Stadt. Die letzte der Pinassen wartete, um sie nach Nebelhafen zu bringen.

In Nebelhafen, im Abraxus-Informationszentrum, wachten alle Kinder gleichzeitig schreiend auf. Sie saßen kerzengerade auf ihren Pritschen, hatten die Münder weit aufgerissen und Blut und Tod in den Augen. Diejenigen, die an ihre Betten gebunden waren, kämpften verzweifelt gegen ihre Fesseln an. Chance lief aufgeschreckt zwischen ihnen umher und versuchte, diejenigen zu trösten, die sich trösten lassen wollten; doch der Todesschrei der vielen Esper in Hartsteinfels war zu stark und zu übermächtig, und er brach sich durch die Kehlen der Kinder seine Bahn.

Langsam, ganz langsam kehrte in einige von ihnen wieder so etwas wie Vernunft zurück. Den restlichen verabreichte Chance starke Sedativa, sobald er sich wieder halbwegs konzentrieren konnte. Von den anderen erfuhr er bruchstückhaft, was sich in Hartsteinfels zugetragen hatte.

Zum ersten Mal in vielen, vielen Jahren setzte er sich mit Direktor Stahl im Kontrollturm des Raumhafens in Verbindung.

Stahl nahm sich Zeit, bis er den Anruf beantwortete, und als sein fettes Gesicht schließlich auf dem Schirm erschien, wirkte er bei Chances Anblick alles andere als erfreut. »Macht es kurz. Die Hälfte meiner diensttuenden Esper ist anscheinend verrückt geworden, und der Rest ist in Katatonie verfallen . Wir haben ein heilloses Durcheinander. Was wollt Ihr, Chance?«

»Eine Imperiale Streitmacht hat vor wenigen Minuten Hartsteinfels dem Erdboden gleichgemacht«, kam Chance geradewegs zur Sache. »Es war eine große Armee, und sie ist in diesem Augenblick auf dem Weg hierher.«

Stahl runzelte die Stirn. »Seid Ihr sicher? Wir hatten keine Verbindung mit Hartsteinfels, und auf unseren Sensoren ist nichts zu sehen.«

»Die Stadt existiert nicht mehr«, erwiderte Chance. »Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind – alle tot. Das Imperium ist auf der Nebelwelt gelandet, Stahl! Ihr müßt etwas unternehmen!«

»Ich melde mich wieder.« Stahl schaltete den Kommlink aus und bellte Befehle. Er glaubte nicht recht an Chances Information – nicht zuletzt deshalb, weil er es nicht wollte –, doch er durfte kein Risiko eingehen. Er ließ die diensttuenden Esper ohrfeigen, bis sie sich wieder halbwegs beruhigt hatten, und befahl ihnen anschließend, mit ihren Bewußtseinen so weit nach draußen zu greifen wie nur irgend möglich. In der Zwischenzeit aktivierte das Turmpersonal die Langstreckensenso-ren. Schon nach wenigen Augenblicken entdeckten die Esper ein großes dunkles Nichts an der Stelle, wo sich die Stadt Hartsteinfels befinden sollte, ein Nichts, das sie nicht durchdringen konnten. Sie entdeckten auch noch etwas anderes: ein Wesen, groß und mächtig und hinter einer Abschirmung verborgen.

Hoch oben im Orbit um die Nebelwelt erkannte Legion, daß es entdeckt worden war. Endlich! Seine Zeit war gekommen, und jetzt konnte es tun, wozu man es geschaffen hatte: Terror und Verzweiflung über die Feinde des Imperiums bringen. Es ließ den Schild fallen und griff mit seiner unglaublichen Macht nach der Stadt Nebelhafen.

Die Sensoren des Raumhafens entdeckten das Imperiale Schiff im Orbit augenblicklich – und Hunderte von Pinassen auf der Oberfläche, mit Kurs auf Nebelhafen . Direktor Stahl hämmerte auf den Alarmknopf, während ringsherum Esper schrien und zusammenbrachen und sich auf dem Boden wanden, weil sie das Entsetzen nicht ertragen konnten, das Legion war. Das Turmpersonal gab sich alle Mühe, sie wieder zur Vernunft zu bringen; doch einige waren bereits tot, andere waren wahnsinnig geworden, und der Rest hatte sich so weit in sich selbst zurückgezogen, daß er unerreichbar war. Sie versteckten sich in ihrem eigenen Verstand. Stahl benutzte eine Notfrequenz und rief die Espervereinigung an. Es dauerte ewig, bis jemand seinen Ruf entgegennahm. Statische Entladungen huschten über den Schirm, und das Signal wurde unter Legions Einfluß schwächer und schwächer. Am Ende erschien ein Mann mit panischem Blick auf dem Schirm. Sein Gesicht war schweißnaß und voller Entsetzen.

»Schafft mir einen Verantwortlichen an den Schirm!« bellte Stahl. »Wir müssen unseren psionischen Schild errichten! Das ist ein Notfall!«

»Das wissen wir selbst«, antwortete der Esper auf der anderen Seite. Er verdrehte die Augen wie ein durchgehendes Pferd.

»Das Imperium ist hier! Wir können nichts dagegen tun! Es ist, als würde ein gigantischer ESP-Blocker die gesamte Stadt lahm-legen . Unsere Fähigkeiten sind nutzlos. Wir können uns nicht einmal mehr hören. Die Hälfte unserer Leute ist in Katatonie gefallen, um nicht ganz wahnsinnig zu werden. Und das ist noch nicht alles: Dieses Blockerfeld wird von Minute zu Minute stärker! Wir können keinen psionischen Schirm errichten.«

Plötzlich schoß ein Blutschwall aus Nase und Ohren des Mannes. Er wirkte überrascht, wollte etwas sagen… dann verschwand sein Gesicht vom Schirm.

Stahl rief erneut an, doch niemand antwortete. Und dann erlosch der Bildschirm ganz. Alle Kommunikationsfrequenzen waren mit einem Schlag blockiert. Stahl und seine Leute wandten sämtliche Notfallprozeduren an und aktivierten Reserveag-gregate, doch keines davon wollte funktionieren. Stahl saß in seinem Kommandantensitz, umgeben von Chaos und Schreien.

Der psionische Schild war unten. Gegenwärtig wurden die Disruptorkanonen des Raumhafens hochgefahren, die Beute aus einem abgestürzten Raumschiff; aber ohne funktionierende Kommunikationsemrichtungen gab es keine Möglichkeit, die Waffen auf ein Ziel zu richten. Techniker arbeiteten fieberhaft daran, die Sensoren des Kontrollturms ins Kommunikationssystem einzuschleifen; allerdings wußte niemand, ob und wie lange das funktionieren würden. Schon jetzt versagten einige der schwächeren Aggregate ihren Dienst. Das unnatürliche Kraftfeld des Sternenkreuzer im Orbit war einfach zu stark.

Stahl rief ein Dutzend Läufer zusammen und schickte sie in die Stadt. Sie sollten die Wachen und die Miliz organisieren.

Noch während er seine Befehle erteilte, wußte er, daß es nicht reichen würde. Nebelhafen hatte sich schon zu lange auf seinen psionischen Schild verlassen. Unter dessen Schutz waren die Wachen weich geworden, und viele Jahre schon hatte niemand mehr die Miliz ernst genommen. Stahl grunzte. Die Einwohner Nebelhafens waren immer noch Kämpfer. Wenn sie in dieser Stadt überleben wollten, blieb ihnen auch gar nichts anderes übrig. Falls die Imperialen Kräfte glaubten, sie könnten einfach einmarschieren und die Stadt übernehmen, würden sie eine gewaltige Überraschung erleben.

Stahl richtete den Blick auf die verbliebenen Sensorschirme und die ständig steigende Zahl sich nähernder Pinassen, und das Blut gefror ihm in den Adern. Es waren Hunderte! Das dort war kein Kommandounternehmen mehr; das war eine ganze Armee! Die Invasion der Nebelwelt hatte begonnen!

Hoch oben im Orbit schwebte Legion in seinem Tank und streckte unsichtbare Hände nach den Espern der Nebelwelt aus, um mit dreckigen Fingern in ihren Bewußtseinen herumzusto-chern.

Legion war das Produkt aus Tausenden von Esperhirnen, gekreuzt mit kaum verstandenen Apparaturen, die der Technologie einer Fremdrasse nachgebaut worden waren. Selbst die Konstrukteure hatten nicht genau gewußt, was sie dort eigentlich erschufen.

Für den Augenblick befolgte Legion Befehle, weil es sich amüsierte; morgen war ein neuer Tag. Es sandte seine Macht aus, und Esper starben, weil ihre einfachen menschlichen Gehirne nicht imstande waren, dem Druck zu widerstehen. Andere zogen sich tief in sich selbst zurück und schalteten ihre Bewußtseine ab, um sich zu schützen. Einige tapfere Seelen versuchten, Legion zu sondieren – und wurden verrückt dabei, weil sie seine Natur nicht verstanden. Legion lachte nur und breitete seine psionische Macht in einer alles verschlingenden Woge über Nebelhafen aus; ein nicht enden wollender Schrei des Triumphs.

Selbst Nicht-Esper konnten ihn hören und wanden sich unter dem Ansturm des entsetzlichen, unmenschlichen Geräuschs.

Stahl senkte den Blick vor dem Chaos, das in seinem Kontrollturm herrschte. Eine eisige Hand griff nach seinem Magen, während ihm Schweißperlen übers Gesicht rannen. Sein ganzes Leben lang hatte er in Furcht vor diesem Augenblick gelebt, und er hatte niemals wirklich geglaubt, daß er kommen würde .

Selbst als die Typhus-Marie in Nebelhafens Straßen und Gassen Amok gelaufen war, hatte er mit Hilfe von ein paar Freunden im letzten Augenblick den Sieg aus den Klauen der Vernichtung reißen können. Doch jetzt waren die Verteidigungseinrichtungen lahmgelegt . Der psionische Schild hatte versagt, und schon bald würden die Imperialen Truppen hungrig nach Blut und Zerstörung vor den Toren der Stadt stehen. Stahl schluckte mühsam und riß sich zusammen, so gut es ging. Er drehte sich zu seinem Kommunikationsoffizier um, der mit hängenden Schultern über größtenteils nutzlosen Systemen saß.

»Also schön, Leute. Paßt auf. Dieser Turm ist nutzlos geworden, denn unsere Kommunikationsanlagen sind ausgeschaltet.

Wir sind nur noch ein verdammt gut sichtbares Ziel für die angreifenden Truppen . Unsere erste Pflicht ist demnach, von hier zu verschwinden, und zwar so schnell wie nur irgend möglich . Tot nutzen wir niemandem mehr. Zerstört alle noch funk-tionierenden Systeme, bevor Ihr geht. Wir wollen nichts zu-rücklassen, was der Feind gegen uns verwenden könnte. Irgendwo muß es Dateien geben, die für einen Fall wie diesen angelegt wurden. Dort steht drin, was zu tun ist und wohin wir zu gehen haben. Die Sicherheitsleute müßten es wissen. Also kämpft hart; leistet Widerstand, und nehmt so viele von den Bastarden mit, wie Ihr nur könnt. Wenn das nicht funktioniert, dann rennt, als sei der Leibhaftige hinter Euch her. So, das war’s: Ich bin weg von hier. Gott schütze uns alle.«

Er wandte sich ab und raffte ein paar nützliche Dinge in eine Reisetasche. Ihm kam der Gedanke, daß er diesen Raum vielleicht niemals wiedersehen würde, daß er vielleicht niemals wieder als Raumhafendirektor Befehle erteilen würde. Was auch immer als nächstes geschehen mochte, ein Kapitel in seinem Leben ging zu Ende, und er wußte nicht, ob er darüber traurig oder erleichtert sein sollte .

Der Posten des Direktors war schwer und eine undankbare Aufgabe gewesen, selbst wenn man die kleinen Geschäfte be-rücksichtigte, die er nebenbei getätigt hatte, und das viele Geld, das er dadurch gescheffelt hatte. Er hatte seine Arbeit stets ernst genommen und die Stadt geschützt, so gut er konnte . Seine Stadt . Bis heute. Und jetzt konnte er nur noch alles abschalten, fliehen und sein Heim räumen, gleichgültig, wer auch immer es als nächster für sich beanspruchen würde.

Stahl seufzte schwer und verschloß die pralle Reisetasche.

Sie hätten sich wirklich aufraffen sollen, die Selbstzerstörungs-einrichtung zu installieren, als noch Zeit dazu gewesen war. Sie hatten es immer und immer wieder verschoben, weil es wichtigere Dinge gegeben hatte.

Ringsherum herrschte ein wütender, ohrenbetäubender Lärm mit einem Hauch von Panik darin. Stahl ignorierte die Rufe und Schreie und machte sich auf den Weg nach draußen. Er blickte nicht ein einziges Mal zurück. Jetzt warteten andere Aufgaben auf ihn. Er war Mitglied des amtierenden Stadtrates, und er mußte sich mit den anderen Räten treffen und die Verteidigung Nebelhafens organisieren – oder das, was davon noch übrig war.

Auf den Straßen herrschte Chaos. Menschen rannten durcheinander und schoben und drängten in alle Richtungen zugleich. Stahl setzte seine Körpermassen ein, um sich einen Weg durch das Gedränge zu bahnen. Er fühlte sich ein wenig besser, nun, da er etwas tun konnte und ein Ziel vor Augen hatte. Wenn es ihm nur gelang, bis zum Schwarzdorn vorzudringen… vielleicht konnte er den angreifenden Truppen doch noch ein paar wirklich unangenehme Überraschungen bereiten.

Es dauerte fast eine Stunde, bis er sich durch die Menschenmenge vorgearbeitet hatte. Die Nachricht von der Landung des Imperiums war nach außen gedrungen – unvermeidlich in einer Stadt wie Nebelhafen –, und die Straßen waren ein einziger Hexenkessel. Leute schrien und rannten durcheinander und schwangen Waffen, angefangen bei Disruptoren bis hin zu antiken Klingen, die von Generation zu Generation für einen Tag wie diesen weitergereicht worden waren. Einige hielten trotzige Reden; andere prophezeiten den Untergang, und Möch-tegernkampfer und Flüchtlinge versuchten, sich gegenseitig aus dem Weg zu schieben. Hier und dort wurden bereits Straßen-barrikaden errichtet und verursachten weiteres Gedränge und neue Panik. Taschendiebe und Beutelschneider hatten die beste Zeit ihres Lebens. Das hier war immer noch Nebelhafen.

Weder drohende Invasion noch Mord und Totschlag konnten verhindern, daß die Einwohner jedwede Möglichkeit nutzten, Geld zu machen. Stahl stürmte mit gesenktem Kopf voran.

Als er endlich den Schwarzdorn erreichte, mitten im Zentrum des Diebesviertels, war die Taverne schon bis zum Bersten überfüllt . Helles Licht fiel aus den Fenstern auf die Straße . Der Laden gab eine hervorragende Zielscheibe ab .

Die meisten Angehörigen des Rates waren bereits eingetroffen; doch sie waren zu sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig anzuschreien und zu streiten, um Stahls Ankunft zu bemerken. Typisch, dachte Stahl und ließ sie mit sich allein.

Erschöpft schob er sich bis zu der langen Holztheke vor. Er brauchte jetzt einen harten Drink. Zur Hölle mit seinen Magen-geschwüren.

Cyder, die Inhaberin, half persönlich hinter der Theke aus.

Stahl bestellte gleich mehrere große Brandys bei ihr, alle im gleichen Glas, weil es vielleicht einige Zeit dauern würde, bis er Nachschub bestellen konnte. Cyder zuckte unmerklich die Schultern und schüttete Stahls Brandys allesamt in einen großen silbernen Krug. Sie grinste ihn breit an.

»Hätte ich gewußt, daß die Katastrophensitzungen des Rats so gut fürs Geschäft sind, hätte ich meinen Laden schon längst freiwillig dafür zur Verfügung gestellt«, sagte sie.

»Das ist wieder einmal typisch für Euch, Cyder«, erwiderte Stahl. »Die Stadt steht vor der Vernichtung, und wir mit ihr, und Ihr denkt an nichts arideres als an Euren Profit.«

Cyder bedachte ihn mit einem koketten Augenaufschlag.

»Eine junge Frau muß eben immer darauf achten, daß sie ihr Auskommen hat…«

»Bitte, hört auf damit«, unterbrach Stahl. »Es sieht unecht aus.«

Cyder zuckte die Schultern. »Wer auch immer in Nebelhafen das Kommando hat, die Leute wollen trinken. Und Geld von einem Soldaten ist genausogut wie das von jedem anderen auch.«

»Immer vorausgesetzt, sie brennen den Schwarzdorn nicht bis auf die Grundmauern nieder, weil hier die Katastrophensitzungen des Rates stattgefunden haben«, entgegnete Stahl und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Becher.

»Verdammt!« schimpfte Cyder . »Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Warum habt Ihr Euch überhaupt mein Etablis-sement ausgesucht?«

»Weil es zentral liegt, Cyder. Weil niemand in einer Absteige wie dieser hier nach dem Rat suchen wird. Und weil Ihr praktisch jeden Bewohner der Stadt kennt. Eine perfekte Kombination, wie Ihr sicher zugeben werdet. Ich an Eurer Stelle würde noch ein paar Fässer aus dem Keller heraufbringen lassen.

Wenn der Rat erst mit seiner Tagung begonnen hat, werden die Leute hier rein- und rauslaufen, als hätten sie Feuer in den Un-terhosen, und sie werden wahrscheinlich alle einen ziemlichen Durst haben. Drohende Todesgefahr und der Angriff auf die Stadt bringen so etwas mit sich, wißt Ihr? Ich vermute, Donald Royal ist noch nicht aufgetaucht?«

»Bisher nicht. Er ist ein alter Mann, und er hat einen weiten Weg bis hierher. Selbst ohne das Durcheinander in den Straßen.«

»Verdammt! Er ist der einzige im gesamten Rat, dem ich zutraue, das Richtige zu tun. Jede Wette, daß ein paar verdammte Narren schon laut über eine ehrenvolle Kapitulation nachdenken

»Seht es doch von der guten Seite«, riet ihm Cyder. »Wenigstens müssen wir uns diesmal keine Sorgen wegen einer wild-gewordenen Typhus-Marie machen.«

»Nein«, stimmte ihr Investigator Topas kühl zu. »Das müßt Ihr nicht.«

Stahl und Cyder wirbelten erschrocken herum und erblickten Marie und Topas, die sich durch die Menge schoben und zur Theke drängten. Die Gäste beeilten sich, den beiden Frauen aus dem Weg zu gehen. Selbst die Gefahr einer bevorstehenden Invasion hatte sie nicht die einfachsten Höflichkeitsregeln vergessen lassen, und wenn doch, dann wenigstens nicht den eigenen Selbsterhaltungstrieb. Stahl schenkte den Frauen sein pro-fessionellstes Alles-unter-Kontrolle-Lächeln. Keine von beiden wirkte auch nur im geringsten beeindruckt, und so ließ er es wieder verschwinden.

Cyder funkelte Marie an. Unbewußt glitt ihre Hand über die dünnen Narben auf dem Gesicht, eine Erinnerung an das letzte Zusammentreffen der beiden Frauen, als Cyder beinahe durch ein einziges tödliches Lied der Typhus-Marie gestorben wäre.

Cyder war niemand, der leicht vergaß oder gar verzieh.

Stahl entschloß sich, die Dinge in Bewegung zu bringen, bevor sie eine Gelegenheit hatten, ihm aus der Hand zu gleiten.

»Wurde auch langsam Zeit, daß Ihr auftaucht, Investigator«, sagte er an Topas gewandt. »Ich unterstelle Euch hiermit die Stadtwache. Mit sofortiger Wirkung. Ihr wißt besser als jeder andere von uns, wie das Imperium kämpft und wie man ihm am besten gegenübertritt. Ordnet an, was immer Euch geboten erscheint. Requiriert alles, was Euch nötig dünkt. Wir können später immer noch darüber diskutieren… falls es überhaupt ein

›Später‹ geben sollte. Ich wünsche jeden einzelnen Mann der Wache seit zehn Minuten auf der Straße. Und keine Entschuldigungen, verdammt! Tretet ihnen in die Hintern, wenn es sein muß. Eure erste Aufgabe ist es, sämtlichen nicht lebenswichtigen Verkehr zu unterbinden. Ohne unsere Kommunikationssysteme müssen wir auf Kuriere zurückgreifen, und ich will auf gar keinen Fall, daß sie sich ihren Weg durch eine panische Menschenmenge bahnen müssen. Also macht mir die Straßen frei. Wenn es sein muß, schlagt ruhig ein paar Köpfe ein. Anschließend sucht Ihr jeden, der eine Waffe oder etwas Ähnliches besitzt und schickt ihn zu den Stadtmauern in Stellung.

Sie sollen so lange durchhalten wie nur irgend möglich und sich dann Straße um Straße zurückfallen lassen. Ich hoffe nur, bis dahin ist mir etwas Besseres eingefallen.«

»Solltet Ihr Euch nicht besser vorher mit dem Rest der Ratsversammlung besprechen, Direktor?« erkundigte sich Marie.

»Mit diesem Haufen von Spinnern? Ich habe Anarchisten-treffen gesehen, die besser organisiert waren. Sie werden meine Entscheidungen bestätigen, sobald sie sich wieder ein wenig beruhigt haben. Was steht Ihr noch hier herum?«

»Sonst noch was?« fragte Topas. Stahls böse Blicke beein-druckten sie kein Stück.

»Sicher. Wenn Ihr Wunder zustande bringen könnt, dann wäre jetzt ein wirklich hervorragender Zeitpunkt dafür«, entgegnete er. »Und noch etwas, Topas: Was auch immer geschieht, Ihr laßt Marie nicht für eine Sekunde aus den Augen. Sie ist viel zu gefährlich, als daß wir riskieren dürften, sie von der Leine zu lassen.«

»Ich verstehe«, sagte Marie. »Ich will nichts weiter als helfen, Direktor.«

Stahl schenkte ihr einen Blick aus Augen, die zu schmalen Schlitzen zusammengepreßt waren. »Die Hälfte meiner Esper kann nicht mehr klar denken, seit dieser neue Apparat des Imperiums ihre Kräfte blockiert. Wie kommt es, daß Ihr kaum darunter zu leiden scheint?«

»Mein ESP ist im Augenblick nicht aktiviert, Direktor. Ich war und bin eine sehr mächtige Sirene. Die Deprogrammierung durch Euch hat nichts daran geändert.«

»Nicht, daß wir es nicht versucht hätten«, brummte Stahl .

»Also schön . Ihr bleibt bei Topas, und wenn Ihr Eure Stimme einsetzen müßt, dann achtet darauf, daß Ihr in die richtige Richtung singt. Und jetzt macht, daß Ihr von hier verschwindet, alle beide. Ich muß eine Stadt verteidigen.«

Wenige Stunden, nachdem Legion sein Tarnung hatte aufgeben müssen, erschienen in der eisigen Öde die ersten Imperialen Truppen. Sie drängten sich zu Hunderten auf gepanzerten Antigravschlitten und Barken. Welle auf Welle schwebte über die Stadtmauern herein, als wären sie überhaupt nicht vorhanden.

Vereinzelt stachen die Energielanzen von Disruptorschüssen aus den wenigen Waffen der Rebellen in den Himmel, nur um harmlos an schimmernden Imperialen Schutzschilden abzuprallen.

Imperiale Angriffe waren gewöhnlich so organisiert, daß schwere Panzerwagen und Kriegsmaschinen die Hauptstreit-macht bildeten; doch in der Kälte und dem Eis der Nebelwelt hätten derart schwere Vehikel den Vormarsch zu sehr verlangsamt. Die meisten Maschinen waren sowieso viel zu groß, um in den engen Straßen und Gassen von Nebelhafen manövrieren zu können. Deswegen waren die Imperialen Luftdivisionen gefordert, die Stadt sturmreif zu schießen. Ihre Schlitten rasten heulend aus der Höhe herab wie ein Schwarm tollwütiger Fledermäuse; schlanke, tödliche Gefährte, deren Disruptorkanonen unaufhörlich feuerten und die Straßen taghell erleuchteten, während Bauwerke aus Holz und Stein explodierten und in Flammen aufgingen.

Menschen rannten in Panik durch die Straßen, während große Kampfbarken majestätisch über ihnen durch die Nacht glitten und Tod und Zerstörung brachten.

Die Antigravschlitten jagten den Fliehenden hinterher und kurvten durch die engen Gassen. Sie terrorisierten ihre Opfer, bis sie ihrer überdrüssig wurden und ihnen mit blitzenden Energiestrahlen ein Ende bereiteten. Die Imperialen Luftstreitkräfte drangen unaufhaltsam weiter vor, bis mit einemmal Esper auf die Straßen stürmten und sich den Angreifern entgegenstellten.

Die Espervereinigung hatte ihre stärksten Begabungen zu-sammengezogen und Legions Blockade für den Augenblick lahmgelegt. Sie wußten , daß es nicht lange dauern konnte; doch im Augenblick hatten sie gegen Legion die Oberhand behalten, und ein paar hundert tapfere Seelen erhoben sich auf Flügeln psionischer Energie und begegneten den Invasoren in ihrer vermeintlich sicheren Position.

Die Esper schossen zwischen den viel langsameren Imperialen Luftfahrzeugen hindurch. Einige der Esper waren mit Energiewaffen ausgerüstet, andere mit Armbrüsten und wieder andere besaßen nichts weiter als blanken Stahl und ihren unbeugsamen Mut. Die Energieschilde der Barken knisterten und brachen zusammen, als weitere Esper unten in den Straßen die Technik verhexten und die Energie aus den Batterien saugten.

Die vorbeifliegenden Esper schossen auf ungeschützte Ziele und hielten blutige Ernte. Imperiale Soldaten schrien voller Angst und stürzten in die Tiefe; doch am Ende erwies sich die Streitmacht der Angreifer als einfach zu groß. Sie war unaufhaltsam. Bald waren die Zielerfassungslektronen wieder aktiviert, und die fliegenden Verteidiger wurden einer nach dem anderen abgeschossen, trotz all ihrer Schnelligkeit und ihrem Todesmut. Sie fielen aus dem nächtlichen Himmel wie brennende Vögel, und die Imperialen rückten wieder vor, als sei nichts geschehen.

Weitere Esper kamen auf die Straßen und traten an die Stelle der Gefallenen. Viele Bewohner Nebelhafens fanden angesichts der drohenden Gefahr für ihre Stadt und ihr Leben einen Mut, von dem sie niemals geglaubt hätten, daß sie ihn besaßen .

Sie standen buchstäblich mit dem Rücken zur Wand, doch sie zogen mit grimmiger Entschlossenheit und kühlem Blick in den Kampf.

Sie sprangen aus Verstecken in die Luft, in vertraute Strömungen hinein, und schlugen den Imperialen Feuerleitlektro-nen ein Schnippchen nach dem anderen, während sie ihre Ziele wie tödliche Insekten angriffen.

Einige stürzten sich todesverachtend in die Antriebsmaschi-nen der Barken: Selbstmordangriffe, die nur hin und wieder von Erfolg gekrönt wurden. Und wenn eine Barke aus dem Himmel fiel, dann krachte sie auf die wenig stabilen Wohnhäuser aus Holz und Ziegel und brachte sie mit ihrem gewaltigen Gewicht zum Einsturz. Explodierende Barken zerstörten ganze Straßenzüge und setzten Häuserblocks in Flammen.

Und das schlimmste war: Für jede abgestürzte Barke kamen neue hinzu. Sie rückten erbarmungslos und unaufhaltsam wie eine Naturgewalt gegen die Stadt vor, die einzunehmen sie gekommen waren.

Von allen Seiten zugleich drangen die Imperialen Streitkräfte gegen das Stadtzentrum vor, und sie hinterließen eine Spur der Verwüstung. Block um Block, Straße um Straße rückten sie vor. Kein einziger Angreifer wich von seinem vorher sorgfältig geplanten Weg ab. Der Rest der Stadt blieb verschont. Das Imperium war gekommen, um Nebelhafen zu erobern und die Kontrolle zu übernehmen, und nicht, um die Stadt zu zerstören.

Inzwischen brannten überall in der Stadt Feuer. Flammen loderten hoch hinauf in den Nachthimmel, und aus den Straßen drangen Schreie herauf. Die Hölle war über Nebelhafen gekommen, und Tobias Shreck und sein Kameramann Flynn befanden sich mitten im Geschehen und zeichneten alles auf.

Flynns Kamera schoß hierhin und dorthin, während Tobias leise seinen fortlaufenden Kommentar dazu ablieferte. So weit über dem Ort der Zerstörung fiel Gelassenheit und Distanz nicht besonders schwer, und Tobias bemühte sich, seinen Zuschauern immer wieder deutlich zu machen, daß in dem Inferno dort unten richtige Menschen starben und verbrannten.

Nicht, daß es die meisten seiner Zuschauer sonderlich berührt hätte. Es verstärkte höchstens den Nervenkitzel in den gemütlichen warmen Wohnzimmern.

Tobias klammerte sich an das Geländer seiner Barke, als ein plötzlicher Aufwind aus kochendheißer Luft das schwere Fahrzeug von einer Seite zur anderen warf. Flynn war so versunken in den Anblick der Bilder, die ihm seine Kamera lieferte, daß er ganz vergessen hatte, wo er war. Deshalb hatte er sich auch nicht festgehalten. Fast wäre er über Bord gegangen, hätte Tobias ihn nicht im letzten Augenblick gepackt und zurückgezogen. Der Kameramann nickte noch nicht einmal zum Dank. Er war weit weg bei seiner umherjagenden Kamera, die über den sengenden Flammen schwebte wie ein Imperialer Engel und die Geburt der Hölle aufzunehmen schien.

»Gutes Material?« fragte Tobias laut neben Flynns Ohr.

»Wenn du sehen könntest, was ich sehe«, gab Flynn zurück.

»Kriegsberichterstattung hat es schon immer gegeben, aber noch nie aus solcher Nähe oder auch nur halbwegs so deutlich .

Ich kann einzelne Gebäude filmen, sogar einzelne Individuen, oder zurückgehen und eine Panoramaaufnahme der ganzen verdammten Stadt liefern. Es ist einfach wunderbar, Tobias.

Das feurige Rot und Gold vor dem Schwarz der Nacht. Die brennenden Häuser. Die Flammen… das alles ist von einer Majestät und Größe, die weder Mitleid noch Gnade kennt. Sie braucht keine Entschuldigung und keine Ausflüchte; sie ist, wie sie ist. Eine Stadt stirbt Stück für Stück, und ich nehme alles auf. Die Farben sind ganz erstaunlich – hell und einfach atemberaubend. Und das Krachen der Explosionen… als liefe ein Riese durch die Straßen, ein gewaltiger Schritt nach dem anderen, und der Boden bebt unter seinen Füßen. Tobias, das ist… ein erhebendes Gefühl!«

»Riechst du den Rauch?« fragte Tobias. »Brennendes Fleisch zwischen all dem Holz und Ruß. Hörst du die Schreie? Laß dich nicht mitreißen, Flynn. Das ist keine Invasion, das ist ein verdammtes Gemetzel.«

Er brach ab, als ein Esper aus der Dunkelheit auf ihn zu-schoß. Der fliegende Esper war mit einer automatischen Armbrust bewaffnet, einer aus verbotener Technologie improvisierten Waffe. Die tödlichen Bolzen tackerten über die Männer an der Reling hinweg, während diese sich vergeblich bemühten, den rasend schnellen Angreifer aufs Korn zu nehmen. Tobias packte Flynn und riß ihn mit sich aufs Deck. Eine Disruptorkanone schwenkte herum, um das nächste Haus unter Feuer zu nehmen, und plötzlich schwebte der Esper unmittelbar vor ihr.

Er schob seinen Arm tief in den Lauf und blockierte auf diese Weise die Waffe.

Tobias hob den Kopf… und schaute dem Mann direkt in die Augen.

Der Esper grinste wild. Er hatte Todesangst, und er gab einen Dreck darauf – das war deutlich zu sehen. Und dann explodierte die Bombe, die er in der Hand gehalten hatte, und die Kanone flog in Stücke. Der Esper wurde nach hinten geschleudert.

Blutfontänen sprudelten aus der klaffenden Wunde, wo einst sein rechter Arm gesessen hatte. Der Esper stürzte auf die Straße hinab und lachte lautlos . Tobias sah ihm hinterher, bis er im Rauch und den Flammen verschwunden war.

Leutnant Ffolkes stapfte übers Deck heran. Vorsichtig kletterte er über die Toten und Verwundeten. Der Sicherheitsoffizier hielt einen Disruptor in der Hand, und ein Ärmel seiner Uniform war blutbesudelt. Wieder schien es nicht sein eigenes zu sein. Ffolkes spähte über die Reling nach unten und ruckte gelassen beim Anblick der brennenden Stadt, als verspüre er eine innere Befriedigung.

»Von dort unten verpaßt Ihr das Beste, wirklich!« sagte er beiläufig. »Darf ich annehmen, daß Ihr trotzdem alles dokumentiert?«

»Oh, selbstverständlich«, antwortete Tobias und erhob sich vorsichtig. »In Nahaufnahme und manchmal sogar sehr persönlich.«

Ffolkes musterte ihn. »Die Imperatorin mag Euch vielleicht den Befehl dazu gegeben haben, Shreck; aber ich bin immer noch derjenige, der die Verantwortung trägt. Haltet Euch an Eure Instruktionen. Keine… Polemik, oder ich werde Euch kaltstellen.«

»Verstanden«, erwiderte Tobias. »Keine Polemik. Nichts als Blut und Tod und brennende Wohnhäuser.«

»Genau. Ich bin ja so froh, daß wir uns verstehen«, sagte Ffolkes. »Macht weiter.«

Er stolzierte davon, um jemand anderen zu ärgern. Tobias winkte ihm mit einer obszönen Geste hinterher, dann bemerkte er, daß Flynn noch immer auf dem Boden lag. Er zog ihn zu sich hoch. Der Kameramann war ganz in das versunken, was ihm sein elektronisches Auge über das Komm-Implantat vermittelte. Tobias hätte sich mit Hilfe seines eigenen Komm-Implantats in die Frequenz der Kamera einloggen können, doch er verspürte keine Lust dazu. Es gab für alles Grenzen. Es fiel ihm auch so schon schwer genug, mit dem fertig zu werden, was sich vor seinen Augen abspielte.

Owen Todtsteltzer zitterte am ganzen Leib. Er kroch auf Händen und Knien durch sein Zimmer in der SchwarzdornTaverne, wo von der Invasion bisher noch nichts zu bemerken war. Sein Kopf war heiß, und dicke Schweißperlen tropften von seinem verzerrten Gesicht. Schmerzwellen rasten durch seinen Körper – scharfe, stechende Schmerzen, die bis tief in die Eingeweide hinabreichten. Owen litt an hohem Fieber. Seine Gedanken waren träge und verschwommen. Die Schmerzen drohten ihn zu zerreißen. Er kroch weiter, Zentimeter um Zentimeter, als wolle er vor den Schmerzen fliehen. Sein Gesicht war eine einzige Grimasse; doch kein Laut kam über seine Lippen. Owen schrie nicht. Es kostete ihn beinahe übermenschliche Anstrengung, aber er war ein Todtsteltzer. Er durfte nicht zulassen, daß ihn irgend jemand in dieser Verfassung sah. Er prallte mit der Schulter gegen ein Tischbein und fegte das Hindernis mit einem Schwinger beiseite. Erneut versuchte er sich zu übergeben, doch sein Magen war längst leer.

Owen war blind vor Schmerz durch den Inhalt gekrochen.

Das Zittern hatte begonnen, als er die schmale Treppe hinter der Theke nach oben geklettert war. Zuerst hatte er geglaubt, es sei eine Reaktion auf die Todesgefahr, in der er geschwebt hatte, oder vielleicht die Folgen der Anstrengung, gegen so viele Angreifer gleichzeitig gekämpft zu haben. Der Tag war schließlich recht hart gewesen.

Dann war es schlimmer geworden. In Owens Kopf hatte sich mit einemmal alles gedreht. Seine Hände hatten gezittert wie Espenlaub, und sein Gang war zunehmend unsicherer geworden, bis er geschwankt hatte wie ein Betrunkener. Irgendwie hatte er es bis ins Obergeschoß geschafft und war mit der Schulter an der Wand weitergegangen, um nicht hinzufallen.

Der Weg bis zu seinem Zimmer war ihm endlos erschienen, aber schließlich hatte er es geschafft . Owen hatte es sogar irgendwie fertiggebracht, die Zimmertür hinter sich zu schließen, bevor er zusammengebrochen war und sich übergeben hatte.

Sein Kopf krachte gegen ein neues Hindernis . Er spürte es kaum.

Es dauerte einen Augenblick, bis er begriff, daß er an der Wand angelangt war und daß es nicht mehr weiterging. Er drehte sich mühsam um und stöhnte vor Pein. Dann lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Wand und saß mehr oder weniger aufrecht. Die Schmerzen waren noch schlimmer geworden – falls das überhaupt möglich war –, und Owen hatte das Gefühl, bei lebendigem Leib zu verbrennen. Das Zimmer war ein einziger verschwommener Schatten, und Owen spürte, wie Tränen über seine Wangen strömten, ohne daß er es hätte verhindern können.

»Lieber Gott, was geschieht nur mit mir?« stöhnte er und er-schrak beim Klang seiner eigenen Stimme.

»Nebeneffekte. Das kommt von deinem ständigen Gebrauch des Zorns«, antwortete Ozymandius in seinem Kopf. »Ich habe dich immer davor gewarnt. Was auch immer das Labyrinth des Wahnsinns mit dir gemacht hast, du bist und bleibst ein Mensch. Du hast den Zorn zu häufig und zu lang benutzt, und das rächt sich jetzt. Erinnerst du dich? Die Kerze, die doppelt so hell leuchtet, brennt nur halb so lange. Du hast darauf vertraut, daß das Labyrinth des Wahnsinns und seine Auswirkungen die Schäden heilen würden, die du dir selbst zugefügt hast; doch wie es scheint, hast auch du noch Grenzen. Menschliche Grenzen, Owen. Dein Körper hat sich selbst entflammt, und jetzt ist nichts mehr da, um die Flammen zu löschen.«

»Es muß doch etwas geben, was ich dagegen tun kann«, stöhnte Owen zwischen zusammengepreßten und doch klap-pernden Zähnen hervor. Fieber und Schüttelfrost wechselten sich inzwischen ab.

»Ich fürchte, deine Möglichkeiten sind ziemlich beschränkt, Owen. Du kannst erneut in den Z orn fallen, aber das würde die Dinge auf lange Sicht nur verschlimmern. Eine Regenerationsmaschine könnte dir vielleicht helfen, aber ich wüßte nicht, wo es auf der Nebelwelt eine geben sollte. Natürlich könntest du dich auch den Ärzten ausliefern… oder dem, was auf diesem Planeten so Arzt heißt. Ich für meinen Teil rate dir davon ab.«

»Verdammt! Oz… Hilf mir!«

»Tut mir leid, Owen. Du selbst hast dich in diese Lage gebracht. Ich kann nichts tun.«

»Ozymandius, werde ich… werde ich sterben?«

»Das weiß ich nicht, Owen. Allerdings sieht es nicht gut aus.«

»Ozymandius…«

»Still, Owen. Es wird schon alles wieder gut. Ich bin ja bei dir.«

Ein leises Klopfen erklang an der Zimmertür. Owen biß die Zähne zusammen und fragte mit unsicherer Stimme: »Ja? Wer ist da?«

Eine Pause, dann: »Lord Todtsteltzer, der Rat der Stadt bittet Euch, nach unten zu kommen. Euer Rat und Eure Unterstützung werden dringend gebraucht.«

Owen schluckte mühsam. Sein Mund zitterte; seine Zunge war geschwollen, und die Lippen waren taub. Er mußte dem Boten antworten, oder der Mann würde hereinkommen und nachsehen, ob alles in Ordnung war. Owen durfte nicht zulassen, daß jemand ihn in dieser Verfassung sah. Andernfalls würde ihm niemand je wieder vertrauen. Man würde ihn wie einen Invaliden behandeln und irgendwohin abschieben. Owen wollte verdammt sein, wenn er sich das Leben eines Krüppels aufdrängen lassen würde. Und falls er sterben mußte… Er zog es vor, allein zu sterben. Ihm wurde bewußt, daß der Bote noch immer auf eine Antwort wartete.

»Ich komme gleich«, sagte er so laut und deutlich, wie er konnte.

Eine weitere Pause, dann meldete sich die Stimme erneut.

Der Ton war äußerst respektvoll: »Lord Todtsteltzer, die Invasion Nebelhafens hat begonnen. Ihr könnt die Explosionen nicht überhört haben. Ich soll Euch nach unten begleiten…«

»Ich sagte, ich komme gleich!« rief Owen. Ihm war egal, wie seine Stimme klang.

Er hörte, wie der Bote draußen entschlossen mit den Füßen scharrte. Schließlich entfernten sich seine Schritte. Owen grinste freudlos. Speichelfäden hingen an seinem Kinn. Er hatte geglaubt, das Labyrinth des Wahnsinns hätte ihn zu einem Übermenschen gemacht und ihm ermöglicht, die menschlichen Schranken hinter sich zu lassen. Wie es schien, hatte er sich getäuscht. Er war noch immer ein Mensch, nichts weiter, und er würde es auf die gleiche Art beweisen wie jeder andere auch: Er würde sterben. Er versuchte, sich aufzurichten, vergebens. Sein Kopf wurde von Minute zu Minute schwerer und sank vornüber, bis er auf der Brust ruhte. Owen hörte seinen eigenen Atem. Er klang laut, unregelmäßig und mühsam.

Allmählich wich der Schmerz. Noch kurze Zeit zuvor hätte er neue Hoffnung aus dieser Tatsache geschöpft, doch inzwischen wußte er, was es in Wirklichkeit zu bedeuten hatte. Er starb.

Sein Körper schaltete sich ab, Stück für Stück. Er wünschte, die anderen wären bei ihm gewesen… Sie hätten ihre mentale Verbindung eingehen können, ihm helfen können, oder einfach nur… ihm Gesellschaft leisten. Aber wie immer war er allein.

Allein bis auf eine Stimme in seinem Kopf, der er nicht traute.

Vermutlich wäre es jetzt an der Zeit gewesen zu beten, doch Owen hatte sich noch nie etwas aus Gebeten gemacht. So viele Dinge blieben ungetan. So viele Dinge ungesagt. Er hatte immer geglaubt, dazu sei später noch Zeit… Er hatte Hazel nie gesagt, daß er sie liebte.

Die Tür flog krachend auf, und Hazel d’Ark stand im Eingang. Sie warf einen entsetzten Blick auf Owen und stürzte herbei, um vor ihm niederzuknien. Mit geübter Routine nahm sie seine Hand, grunzte, als sie die klamme Kühle spürte, und prüfte Owens Puls. Die andere Hand legte sie an seine Stirn, zuckte zusammen, als sie das Fieber spürte, und wischte Owens schweißnasse Hand an ihrer Hose ab. Sie prüfte seinen Puls erneut, diesmal mit einer Uhr, und öffnete anschließend Owens Kragen, damit er leichter atmen konnte.

»Todtsteltzer…? Verstehst du, was ich sage? Owen! Weißt du, was dir fehlt?«

»Zuviel Zorn…«, antwortete er. Zumindest glaubte er, daß er geantwortet hatte. Er war nicht mal sicher, ob Hazel überhaupt da war. Vielleicht war alles nur Einbildung, weil er sich so sehr wünschte, sie zu sehen. Und dann durchzuckte ihn ein scharfer Schmerz: Sie hatte ihm eine heftige Ohrfeige versetzt.

»Bleib wach, Todtsteltzer! Hast du Zorn gesagt?«

»Nebeneffekte«, stieß er rauh hervor. »Es zerreißt mich. Ich verbrenne von innen heraus. Nicht einmal das Labyrinth des Wahnsinns kann mir noch helfen.«

»Scheiße«, fluchte Hazel leise. »Ich erinnere mich, daß du mich über die Gefahren des Zorns zu warnen versucht hast.

Eine Sucht, die einen Menschen töten kann. Fluch und Segen der Todtsteltzer. Verdammt! Bleib wach, Owen! Halt durch, ich hole einen Arzt!«

»Nein. Kein Arzt kann mir helfen. Hazel, ich wollte dir noch etwas sagen…«

»Schon gut, Owen. Schon gut. Ich verstehe dich. Ich weiß genau, was du durchmachst. Ich habe es am eigenen Leib erfahren. Du wirst nicht sterben. Man nennt es Entzug. Ich bleibe bei dir. Ich weiß noch ganz genau, wie ich mich bei meinem Entzug gefühlt habe, damals, als Plasmakind. Du wirst nicht sterben, Owen. Du wirst dir nur wünschen, tot zu sein.«

Sie setzte sich neben Owen, schlang die Arme um ihn und wiegte ihn wie ein Kind. Ihre Arme waren stark und ruhig. Ein Gefühl von Frieden und Ruhe strömte aus ihr und erfüllte Owen. Sein Zittern und die Muskelkrämpfe ließen allmählich nach und verebbten schließlich ganz. Der Schmerz wich aus ihm wie Wasser, das in einen bodenlosen Abfluß strömt. Das Fieber schwand, und Owens Atem normalisierte sich. Noch immer floß Kraft von Hazel zu ihm. Ihre mentale Verbindung funktionierte endlich wieder. Ihre Gedanken blieben getrennt, denn Hazel hatte eine entschlossene Schranke zwischen sich und Owen errichtet.

Physisch allerdings stimmten sie sich mehr und mehr aufeinander ein, bis sämtliche Nebeneffekte des Zorns verschwunden waren, bis der Schmerz vergangen und Owen wieder er selbst war. Sie saßen noch eine Weile beisammen, und Hazel hielt Owen noch immer in den Armen.

»Wunderbar«, sagte Owen schließlich. »War es für dich genauso schön?«

Hazel lachte und stieß ihn weg. »Du bist wieder gesund, Kerl. Und jetzt mach, daß du auf die Beine kommst . Unten schreien sie laut nach dir

Sie erhoben sich und lächelten sich an. Keiner von beiden wußte so recht, was er als nächstes sagen sollte. »Danke«, meinte Owen schließlich. »Du hast mich gerettet. Ich wäre wahrscheinlich hier gestorben, aber du hast mich davor bewahrt. Ich wußte gar nicht, daß du diese Fähigkeit besitzt.«

»Ich habe eine Menge Fähigkeiten, von denen du nichts ahnst, Todtsteltzer. Und noch ein paar mehr.«

»Das stimmt. Wo steckt Silver?«

»Irgendwo draußen auf der Straße. Er kämpft für seine Stadt.

Ich hätte nie gedacht, daß er ein Held sein könnte, aber das zeigt nur wieder einmal, wie sehr man sich in Menschen täuschen kann.«

»Stimmt«, entgegnete Owen. »Niemand von uns ist vollkommen.«

Mehr an Entschuldigung und Versöhnung würde es nicht geben, und beide wußten es. Deswegen wechselten sie rasch das Thema.

»Du weißt«, sagte Hazel, während sie zur Tür gingen, »daß das jederzeit wieder geschehen kann. Immer dann, wenn du den Zorn zu sehr einsetzt

Owen zuckte die Schultern . »Ich habe nur getan, was nötig war. Der Zorn ermöglicht es.«

»Ich weiß genau, wie es sich anfühlt«, erklärte Hazel. »Bei dir ist es der Zorn, bei mir ist es Wampyrblut.«

Sie traten in den Korridor und blickten sich an. Schließlich lächelte Owen. »Ich schätze, man muß selbst süchtig sein, um einen anderen Süchtigen zu verstehen. Gehen wir runter und spielen wieder einmal die Helden, und beten wir zu Gott, daß die armen Bastarde, die sich auf uns verlassen, niemals herausfinden, daß wir Statuen auf tönernen Füßen sind. Du bist eine echte Freundin, Hazel. Ich weiß nicht, was ich ohne deine Hilfe getan hätte.«

»Jetzt übertreibe mal nicht, Aristo«, entgegnete Hazel. Sie mußte unwillkürlich grinsen.

Nebeneinander gingen sie die Treppe hinab und berührten sich nur ganz leicht.

Unten entdeckten sie, daß es in der gesamten Taverne keinen einzigen Gast mehr gab. Auch das Mobiliar hatte man entfernt.

Die Stühle waren an den Wänden aufgestapelt worden, und der Rat der Stadt Nebelhafen hatte sich um einen großen runden Tisch mitten in der Gaststube versammelt. Die Räte saßen über einem Stadtplan und stritten lauthals und gestikulierten mit Händen und Füßen. In einem ununterbrochenem Strom kamen Leute von der Straße herein und brachten Lektronenterminals, Monitorschirme und andere nützliche Ausrüstung aus dem Technikerviertel, bevor sie wieder nach draußen verschwanden. Läufer kamen und gingen mit neuesten Informationen und blieben nur kurz, bevor sie wieder in der Nacht verschwanden.

Sie waren die Augen und Ohren des Rats, nachdem die Kommunikationssysteme nicht mehr funktionierten . Wenigstens waren die Menschen in Nebelhafen daran gewöhnt zu improvi-sieren.

Die Inhaberin des Schwarzdorns beobachtete das Durcheinander aus der Sicherheit der langen Holztheke am anderen En-de des Gastraums. Cyder besaß ein strahlendes Lächeln, das ihre Augen manchmal nicht erreichte. Dünne Narben wie Sor-genfalten zogen sich über eine Hälfte ihres Gesichts. Sie war früher die härteste und fleißigste Hehlerin von ganz Nebelwelt gewesen. Inzwischen war sie eine höchst ehrenwerte Bürgerin, Besitzerin einer beliebten, profitablen Taverne und wenn man den Worten ihres alten Freundes John Silver glauben durfte – auf dem besten Weg, einen Sitz im Rat der Stadt zu erhalten.

So etwas gibt es auch nur auf der Nebelwelt, hatte Owen gesagt. Glaub nicht alles, was man dir erzählt, hatte Hazels Antwort gelautet.

Neben Cyder stand der junge Katze und nippte an einem Bier. Katze – Cyders Kumpan, Liebhaber und gelegentlicher Sündenbock. Cyder war bekannt dafür, nicht gerade zimperlich zu sein. Katze besaß ein blasses, jugendliches Gesicht, das von dunklen, wachen Augen beherrscht wurde und von Pockennarben, die wie Tätowierungen aussahen. Er steckte in einem weißen Thermoanzug, der sowohl im ständigen Nebel als auch im Schnee gleichermaßen gute Tarnung bot. Katze war groß, geschmeidig und taubstumm, und er war wahrscheinlich der beste Dieb, den die Nebelwelt je gesehen hatte.

Angeblich hatte er sich aus dem Geschäft zurückgezogen, jetzt, da Cyder genug Geld hatte, um für ihn zu sorgen aber Dachläufer mit seinen Qualitäten waren stets gefragt, und Katze liebte seine Arbeit.

Owen und Hazel gingen zur Theke, und Cyder begrüßte sie mit einem mürrischen Gesicht. »Ich weiß nicht, warum ich euch überhaupt aufgenommen habe«, sagte sie. »Jedesmal, wenn ihr in meinem Leben auftaucht , geht alles vor die Hunde und meine Taverne verwandelt sich in einen Trümmerhaufen.

Ich würde eine Versicherung gegen euch abschließen , wenn ich nur jemanden finden könnte, der so dumm ist und die Police unterschreibt. Seht euch doch nur an, was jetzt schon wieder geschieht! Ich bin Zuschauer in meinem eigenen Laden! Ich habe gutes Geld verdient, bis der verdammte Rat meine Gäste hinausgeworfen hat. Die Ratsmitglieder sind viel zu beschäftigt, um ans Trinken zu denken. Wer bezahlt mir meinen Ver-dienstausfall?«

»Entspannt Euch«, beruhigte sie Owen. »Ich habe ein paar Geschäftspartner in der Stadt, die mit Freuden dafür aufkommen werden. Nun, genaugenommen nicht gerade mit Freuden, aber sie werden es trotzdem tun. Sie wissen nämlich, daß ich sie an den Knien köpfe, falls sie sich weigern. Und das meine ich wörtlich.«

»Was ist hier überhaupt los?« fragte Hazel, nachdem sie und Cyder sich flüchtig über die Theke hinweg umarmt und die Luft in der Nähe der Wangen geküßt hatten.

»Wir organisieren den Widerstand«, antwortete Cyder und schenkte sich einen ziemlich großen Drink ein. »Bis das Imperium uns findet, heißt das; aber das wird noch eine Weile dauern. Hoffentlich. Offiziell wissen nur die Ratsmitglieder selbst von dieser Versammlung hier, aber wir brauchen mehr und mehr Leute, die uns helfen, und irgendwann wird ganz bestimmt jemand reden. Irgend jemand redet immer irgendwann.

Bis dahin gibt sich der Rat die größte Mühe, den Widerstand zu organisieren und die Schäden und die Zahl der Todesopfer möglichst gering zu halten.«

Stahl bemerkte schließlich, daß Owen und Hazel eingetroffen waren. Er winkte den beiden, zu ihm zu kommen, und stellte sie den übrigen Ratsmitgliedern vor, die nicht im geringsten beeindruckt waren – weswegen Owen beschloß, sich ebenfalls unbeeindruckt zu zeigen. Was im übrigen nicht besonders schwer war.

Donald Royal hatte sich inzwischen ebenfalls eingefunden.

Er wirkte alt und gebrechlich, doch sein Wille schien ungebrochen. In seiner Begleitung befanden sich Madeleine Skye und Jung Jakob Ohnesorg. Quentin McVey war als Repräsentant der Gilden gekommen. Er war gekleidet wie ein farbenblinder Pfau, ohne jede Spur von Geschmack. Albert Magnus repräsentierte die Kaufleute. Er war ganz in Grau gekleidet, einer Farbe, die zu der seiner Haut paßte, und er sah aus, als wäre er schon eine ganze Weile tot und erst kürzlich wieder ausgegraben worden. Lois Barron sprach für das Diebesviertel. Sie war eine kleine, kompakte Frau, die wirkte, als könne sie eine Blechdose zerkauen und Nägel spucken. Sie besaß einen Händedruck wie eine Schraubzwinge, und Owen mußte sich zusammenreißen, um nicht aufzustöhnen. Der letzte in der Runde war Iain Castle.

Er war der Repräsentant des Technikerviertels, ein humorloser Zwerg mit krummen Schultern.

Sie alle bedachten Owen mit merkwürdigen Blicken, und als er in den großen Spiegel hinter der Theke schaute, verstand er auch warum. Er war von oben bis unten mit Blut und Erbrochenem besudelt, und seine Kleidung sah aus, als wäre jemand darin gestorben. Sein Gesicht war totenbleich, und die Augen lagen so tief in den Höhlen, daß er sich beinahe wunderte, überhaupt etwas sehen zu können. Alles in allem erweckte Owen den Eindruck eines gemeingefährlichen Irren, der endlich den wahren Sinn des Lebens entdeckt hatte und darüber verdammt angewidert war. Hazel hingegen sah aus wie ein Kneipenschläger – aber so sah sie eigentlich immer aus.

Quentin McVey ergriff als erster das Wort. Er schraubte sich ein Monokel ins linke Auge und musterte Owen von oben bis unten. »Laßt diesen Burschen da waschen und schickt ihn dann auf mein Zimmer.«

»Vergeßt es«, erwiderte Owen liebenswürdig. »Ihr könntet mich nicht bezahlen.«

»Ihr hattet schon immer einen Hang zu Grobheiten, Quentin«, bemerkte Lois Barron. »Aber das ist gewöhnlich, sogar für Euch. Meine Güte, dieses heruntergekommen aussehende Pärchen dort soll unsere Verbindung zur Untergrundbewegung von Golgatha sein? Eine Schande! Wenn diese beiden vor meiner Haustür aufgetaucht wären, hätte ich die Hunde auf sie gehetzt

»Richtig«, stimmte ihm Magnus zu. »Schafft sie raus. Wir haben viel zu tun. Wenn Golgatha ernst genommen werden will, dann soll es uns gefälligst andere Gestalten als diese dort schicken.«

»Schmeißt sie endlich raus!« keifte Iain Castle, der Zwerg.

»Wir haben keine Zeit für dieses Pack.«

Owen und Hazel streckten ihre mentalen Fühler aus und schlossen sich zusammen. Geheimnisvolle Energien strömten zwischen ihnen hin und her und wurden immer stärker. Ihre Gegenwart wurde plötzlich überwältigend und erfüllte den Raum vom Boden bis unter die Decke und von einer Wand bis zur anderen. Alle Augen waren jetzt auf die beiden gerichtet.

Sie sahen wild und machtvoll aus und so stark, daß sie beinahe übermenschlich wirkten. Die mentale Energie hämmerte auf die umgebende Luft ein wie der Herzschlag eines Riesen. Die Ratsmitglieder verspürten das plötzliche Bedürfnis davonzu-rennen oder auf die Knie zu fallen, doch sie waren an Ort und Stelle gefesselt und zu keiner Regung fähig. Hypnotisiert wie das Kaninchen vor der Schlange.

Neue Energie durchströmte Owen und Hazel und spülte alle Schwäche und Unreinheit weg. Hazels Blutsucht hatte die mentale Verbindung zu Owen schon so lange behindert, daß beide gar nicht mehr gewußt hatten, wie mächtig sie in diesem Zustand waren.

»Hört augenblicklich auf damit!« stieß Cyder trotz der Ehrfurcht hervor, die von ihr Besitz ergriffen hatte und sie gegen die Wand gedrückt hielt. »Wir sind beeindruckt, ganz ehrlich.

Aber jetzt hört endlich auf damit, bevor das Imperium und seine Esper euch entdecken.«

Owen und Hazel zügelten die mentale Energie, und plötzlich waren sie wieder ein ganz gewöhnlicher Mann und eine ganz gewöhnliche Frau. Owen konnte nicht glauben, daß er sich noch wenige Minuten zuvor dem Tod nahe gewähnt hatte.

Jetzt, mit Hazel an seiner Seite, hatte er das Gefühl, als könne er es mit einer ganzen Armee aufnehmen. Anscheinend gab es noch immer einiges von dem zu enträtseln, was das Labyrinth des Wahnsinns mit ihnen gemacht hatte.

»Beruhigt euch«, sagte Hazel gelassen an die Adresse der Rats Versammlung. »Ich glaube kaum, daß irgendein Esper uns entdecken könnte. Was auch immer die Ursache für unsere Macht sein mag – ganz bestimmt ist es kein ESP.«

Die Ratsmitglieder warfen sich bedeutsame Blicke zu, und einige von ihnen wirkten noch aufgebrachter als zuvor. Owen erkannte mit einemmal, daß sie genauso viel Angst vor ihm und Hazel verspürten wie vor dem verdammten Imperium. Für den Augenblick jedenfalls. Das Imperium war wenigstens ein bekannter Gegner. Owen trat mit beruhigend ausgestreckten Händen vor und gab sich Mühe, so zu tun, als bemerke er nicht, daß sie alle zusammenzuckten und vor ihm zurückwichen.

»Ruhig Blut, Leute«, sagte er. »Wir sind hier, um Euch zu helfen. Dies ist Eure Stadt, und Ihr müßt uns schon sagen, wie wir Euch am besten bei der Verteidigung helfen können.«

Unvermittelt trat Donald Royal vor und schaute Owen tief in die Augen. Sein Blick war fest und entschlossen. »Ja. Ihr seid ein Todtsteltzer. Ich kann es an Euren Augen sehen. Verdammt, es tut gut, wieder einen Todtsteltzer bei sich zu haben.

Eure Familie hatte schon immer die Gabe, die Dinge in ihrem Sinn zu bewegen. Ich kannte Euren Vater und Euren Großvater, mein Junge. Gute Männer, alle beide, auf ihre eigene Art und Weise. Wenn das hier alles vorbei ist, werde ich Euch ein paar Geschichten über sie erzählen, die Ihr wahrscheinlich nicht in den Familienannalen findet. Es tut gut, Euch hier zu haben und zu sehen, daß Ihr die Tradition Eures Clans fort-setzt.«

»Spart diesen Alte-Zeiten-Mist für später auf!« unterbrach ihn Castle. »Welche Art von Hilfe bringt Ihr, Todtsteltzer?

Wollt Ihr vielleicht nach draußen gehen und die Imperialen Sturmtruppen zu Tode beeindrucken? Meinetwegen kann Euch das ESP oder Juju oder was auch immer zu den Ohren herauskommen, aber damit haltet ihr keine angreifende Armee auf.

Sicher hat Golgatha nicht nur Euch beide hergeschickt, um seine besten Wünsche auszudrücken. Wir brauchen Waffen, Sprengstoff und Ausrüstung.«

»Wir haben eine ganze Schiffsladung Projektilwaffen und Kisten mit Munition mitgebracht«, erwiderte Owen gelassen.

»Während wir hier reden, müßten sie schon verteilt werden.

Das ist alles.«

»Projektilwaffen?« fragte Magnus ungläubig. »Was sollen diese verdammten Antiquitäten gegen Antigravbarken mit Disruptorkanonen nutzen?«

»Laßt Euch überraschen«, antwortete Hazel. »Außerdem habt Ihr Owen und mich. Wir wiegen eine ganze Armee auf.«

»Oh, wunderbar!« höhnte Lois Barron. »Ein ehemaliger Aristo und eine ehemalige Piratin mit aufgeblasenem ESP und Anfällen von Größenwahn! Als hätten wir davon nicht schon genug! Warum erschießen wir uns nicht einfach alle selbst?

Soll das Imperium doch sehen, wie es unsere Leichen wegräumt!«

»Wenn Ihr nicht aufhört zu jammern, erschieße ich Euch höchstpersönlich«, fauchte Royal. »Diese beiden sind bestimmt nicht größenwahnsinnig. Ihr habt ihre Macht am eigenen Leib gespürt.«

»O ja, wir sind anders«, bestätigte Owen.

»Soviel ist sicher«, stimmte ihm Hazel zu. »Außerdem haben wir auch immer noch Johana Wahn. Wenn ich nur wüßte, wo sie im Augenblick steckt.«

»Ich glaube nicht, daß wir dem Rat jetzt schon von ihr erzählen sollten«, sagte Owen. »Sie würden sich nur neue Sorgen machen.«

»Wenn Ihr diesen beiden hier nicht vertrauen wollt, gibt es da immer noch mich«, meldete sich Jung Jakob Ohnesorg zu Wort.

Alle Augen richteten sich auf ihn. Er hatte so lange geschwiegen, daß sie seine Anwesenheit völlig vergessen hatten.

Rasch wurde deutlich, daß der Rat die große, muskelbepackte Gestalt mit dem hübschen Gesicht weitaus höher schätzte als Owen und Hazel.

»Und wer zur Hölle seid Ihr?« fragte Castle und kletterte auf einen Stuhl, um über die Köpfe der anderen sehen zu können.

»Ich kenne sein Gesicht«, sagte McVey. »Ich bin sicher, ich habe dieses Gesicht schon einmal gesehen.«

Donald Royal lächelte. »Erlaubt mir, Euch einen guten alten Freund vorzustellen. Der einzig wahre Jakob Ohnesorg.«

Die Ratsmitglieder starrten sprachlos und aus weit aufgerissenen Augen auf den Berufsrebellen, und plötzlich sprangen alle wie ein Mann auf und drängten sich um Jung Jakob, schüttelten ihm die Hand, klopften ihm auf die Schultern und erzählten, wie überglücklich sie wären, daß er in der Stunde ihrer Not gekommen sei, um sie zu retten. Ohnesorg lächelte und nickte bescheiden, jeder Zoll ganz der Held und die geborene Legende. Owen wandte sich zu Hazel um.

»Ich könnte kotzen.«

»Das hast du bereits getan. Versuch wenigstens, mich nicht zu treffen.«

Schließlich waren es die Ratsmitglieder überdrüssig , Ohnesorg immer und immer wieder zu erzählen, welch ein Retter er in ihren Augen war, und ihn zu ständigem höflichem Nicken und zurückhaltender Zustimmung zu nötigen. Sie führten ihn zu dem großen runden Tisch, um ihm die Karte von Nebelhafen zu zeigen. Stahl zog Ohnesorg zu sich heran und erklärte ihm die Lage. Owen und Hazel schoben sich auf die andere Seite. Sie waren fest entschlossen, sich nicht einfach abschieben zu lassen. Stahl ignorierte sie trotzdem und konzentrierte sich ganz und gar auf Ohnesorg.

»Genau, Jack. Diese Karte zeigt alle vier Viertel von Nebelhafen, von Stadtrand zu Stadtrand. Die Stadt ist von hohen Mauern umgeben, aber sie werden nicht lange halten. Sie waren nie dazu gedacht, mehr als einheimische Raubtiere abzuhalten. Eine Kriegsmaschine geht wahrscheinlich einfach durch sie hindurch. Und gegen Antigravschlitten oder Imperiale Barken sind sie sowieso nutzlos. Hier oben im Norden liegen Händlerviertel und das Viertel der Gilden, und unten im Süden befinden sich die beiden Viertel der Techniker und der Diebe.

Der Autumnusfluß fließt durch alle mit Ausnahme des Technikerviertels. Wir haben die Leichter auf dem Fluß eingesetzt, um Menschen zu evakuieren und Nachrichten zu transportieren, weil unsere Kommunikationssysteme ausgefallen und die Straßen von Menschen und Barrikaden verstopft sind. Einer unserer wenigen Notfallpläne, der mehr als nur einen Dreck wert ist. Alle anderen setzen Esper voraus, und unsere Esper sind nicht mehr in der Lage, am Kampf teilzunehmen. Was auch immer das Imperium einsetzt, es hat so gut wie jeden in den Wahnsinn getrieben, der auch nur über eine Spur von ESP verfügt. Ein paar unserer stärksten Telepathen halten noch durch, aber niemand weiß, wie lange. Die Überreste der Espervereinigung haben sich den gegnerischen Luftstreitkräften ent-gegengeworfen, aber sie haben uns lediglich etwas mehr Zeit verschafft, und das ist alles. Wir haben Läufer eingesetzt, die uns pausenlos mit Informationen versorgen; aber wenn wir eine Nachricht erhalten, ist meistens schon alles vorbei. Ich wünsche mir nichts sehnlicher als wenigstens ein einziges funktionierendes Kommunikationssystem, doch die Läufer sind alles, was uns geblieben…«

»Nicht mehr!« sagte eine neue Stimme vom Eingang her. Al-le Köpfe fuhren herum, und dort stand sie höchstpersönlich und machte einen selbstzufriedenen Eindruck: Johana Wahn. In ihrer Begleitung befanden sich Chance und ein gutes Dutzend seiner Kinder aus dem Abraxus. Die Kinder waren wach und standen mehr oder weniger sicher auf den Beinen, doch ihre Augen waren wild und nervös.

Die meisten der Anwesenden erschauerten unwillkürlich beim Anblick der wahnsinnigen Kinder in ihren schlecht sitzenden, heruntergekommenen Kleidern.

»Also schön«, sagte Magnus mit seiner kalten grauen Stimme. »Wer zur Hölle seid Ihr, Frau, und warum habt Ihr dieses… Gesocks hergebracht?«

»Mein Name ist Johana Wahn, und ich bin die letzte Manifestation der Mater Mundi, der Weltenmutter . Also paßt auf, was Ihr sagt, oder ich verwandle Euch in ein kleines hüpfendes Etwas. Diese Kinder hier sind möglicherweise die letzten Esper von ganz Nebelhafen, die nicht durch die neue Waffe des Imperiums verrückt geworden sind – weil sie selbst unter normalen Bedingungen schon dem Wahnsinn verfallen sind. Die restlichen Kinder haben überall in der Stadt Stellung bezogen. Es ist nicht ganz einfach, mit ihnen zu arbeiten, aber wenn Ihr Euch daran gewöhnt habt, steht Euch wieder ein funktionierendes Kommunikationssystem zur Verfügung.

Ich selbst bin hier, um Euch zu schützen – für den Fall, daß das Imperium herausfindet, wo Ihr seid. Ich besitze die Kräfte der Mater Mundi, und ich bin ein mehr als ebenbürtiger Gegner für alles, was das Imperium Euch entgegenwerfen kann. Fühlt Ihr Euch nicht gleich alle ein wenig sicherer?«

»Vielleicht würde ich das tatsächlich«, antwortete Donald Royal. »Vielleicht, wenn ich es nicht ausgerechnet aus dem Mund einer Frau gehört hätte, die den Namen Johana Wahn trägt.«

»Gut gemacht, Johana«, unterbrach Jung Jakob Ohnesorg die drohende Konfrontation. »Ich wußte, daß Ihr es bis zu uns schaffen würdet. Und jetzt wollen wir uns um diese Kinder kümmern, bevor wir weitermachen. Die armen Kleinen sehen aus, als hätten sie einen weiten, beschwerlichen Weg hinter sich.«

Leute wimmelten durcheinander und brachten den Kindern heiße Getränke und Decken, auf denen sie sich ausbreiten konnten, während Chance im Weg stand und mißtrauisch darauf achtete, daß seinen Kindern nichts geschah. Johana Wahn wandte sich der Theke zu und orderte einen ungewöhnlich starken Cocktail. Sie schien der Auffassung, daß die Kinder jetzt nicht mehr in ihre Verantwortlichkeit fielen. Wie immer hatte Johana Wahn auch heute eine recht eigenwillige Vorstellung von Prioritäten, und wie immer stand sie selbst ganz oben auf dieser Liste. Die Kinder hatten sich kaum hingelegt, da versteiften sich alle gleichzeitig auf ihren improvisierten Betten und verdrehten die Augen nach hinten.

»Machen sie das öfters?« erkundigte sich Lois Barron.

»Haltet den Mund«, entgegnete Chance. »Sie sehen gerade irgend etwas.«

»Sie sind da«, sagte eines der Kinder mit leiser, verträumter Stimme. »Die Stadtmauer im Südwesten ist gefallen. Imperiale Fußtruppen strömen hindurch. Die Wölfe sind im Stall.«

»Scheiße!« fluchte Stahl. »Ich hatte gehofft, daß uns ein wenig mehr Zeit bleiben würde. Chance, wie zuverlässig sind Eu-re Schutzbefohlenen?«

»Wenn es um die Gegenwart geht – hundert Prozent. Was die Zukunft betrifft…«

»Schon gut, ich weiß, ich weiß.« Stahl dachte angestrengt nach. »Bringt die Läufer wieder auf die Beine. Mir ist ganz egal, wie müde sie sind. Ich brauche sie, um Verstärkungen zusammenzurufen für das, was von der Stadtmauer noch übrig ist.«

»Nicht nötig, die Läufer zu belästigen«, widersprach Jung Jakob Ohnesorg. »Laßt sie ausruhen, sie sind fix und fertig.

Gebt mir ein paar Männer; ich führe eine Streitmacht zur Mauer, um die Angreifer aufzuhalten.«

Und damit war die Versammlung beendet. Alles rief durcheinander und brüllte Befehle und Anweisungen. Albert Magnus erklärte sich bereit, Ohnesorg zur nächsten Milizgruppe zu führen und von dort aus zur Stadtmauer. Ohnesorg klopfte ihm auf die Schulter und nannte ihn einen guten Mann, und Magnus wäre beinahe errötet . Sie eilten zur Tür hinaus, und Hazel und Owen eilten hinter ihnen her. Johana Wahn machte sich schmollend daran, Chance beim Versorgen der Kinder zu helfen und das zu interpretieren, was sie sahen. Sie schien die Tätigkeit für unter ihrer Würde zu halten, führte sie aber trotzdem aus, um zu zeigen, daß sie bereit war zu helfen.

Cyder nahm Katze beiseite und schrieb in einer stillen Ecke mehrere Botschaften, die er abliefern sollte. Wenn die Imperialen Truppen tatsächlich bereits in der Stadt waren, dann wollte sie sichergehen, daß ihr Besitz in Sicherheit war. Nur weil vor der Tür gerade ein Krieg tobte, hieß das noch lange nicht, daß man sich nicht mehr um seinen Besitz kümmern durfte. Katze runzelte die Stirn, doch dann zuckte er die Schultern. Er konnte einfach nicht nein sagen, was Cyder betraf. Und als einer der besten Diebe und Dachläufer Nebelhafens standen seine Chancen, weder entdeckt noch aufgehalten zu werden, besser als die der meisten anderen. Nebelhafens Meer aus ineinander überge-henden Dächern und Giebeln war für ihn vertrautes Territorium. Also grinste er Cyder beruhigend an, küßte sie zum Abschied, küßte sie noch einmal, um ihr Glück zu wünschen, und küßte sie ein drittes Mal, weil es ihm so gut gefiel, bevor er aus dem nächsten Fenster nach draußen verschwand, die Wand hinauf und über die Dächer. Leichten Schrittes eilte er durch den Schnee. Woher sollte er auch wissen, daß er niemals wieder in den Schwarzdorn zurückkehren würde?

Hoch über der Nebelwelt schwebte Legion in seinem gewaltigen Tank und spannte die mentalen Muskeln. Legion wurde ständig stärker, und mit dunkler Macht griff es nach der Stadt Nebelhafen und maß sich mit den Bewußtseinen der Esper.

Männer und Frauen fielen, wo sie standen oder saßen, mit Schaum vor dem Mund und Wahnsinn in den Augen. Der Wahnsinn war die einzige Zuflucht vor dem entsetzlichen Be-wußtsein, das sich in ihren Köpfen breitmachte und sie von dort aus beobachtete . Esper fielen in Katatonie oder Ohnmacht, oder sie zuckten und wanden sich hilflos in ihren Betten, als sich Legions Macht unkontrolliert in der Luft ringsum entlud.

Legion war in der Nacht unterwegs, spazierte auf und ab durch menschliche Gedanken und verbreitete namenlosen Schrecken .

Es war gewaltig und unaufhaltsam, und nichts und niemand konnte ihm widerstehen. Es war Legion, und es war viele in einem.

John Silver kämpfte zusammen mit zahlreichen anderen an der Bresche in der südwestlichen Mauer, während Legion auf ihn einschrie. Er hatte in seiner Zeit als Pirat viele Kämpfe ausge-fochten, und die Übermacht war manchmal erdrückend gewesen, aber er hatte noch nie etwas wie das hier erlebt. Die Hut der Imperialen Sturmtruppen schien kein Ende nehmen zu wollen. In immer neuen Wellen strömten sie durch die gewaltigen Lücken in der Mauer, die Imperiale Kriegsmaschinen gerissen hatten. Silver hatte keinerlei Zeitempfinden mehr. Alles war ein einziger Rausch aus Blut und Schmerz und klirrendem Stahl, und obwohl John Silver seine Stellung mitten in den Trümmern der Mauer hielt und keinen Fuß wich, wußte er, daß er am Ende keine Chance haben würde.

Nachdem die Koboldshunde die Stadt als Folge der durch die Typhus-Marie verbreiteten Esperseuche überfallen hatten , war durch den Rat der Stadt beschlossen worden, die zwanzig Fuß hohen Steinmauern auf dreißig Fuß zu erhöhen. Dreißig Fuß solider Stein, vier Fuß dick.

Die Mauern hatten den Vormarsch der Imperialen Truppen nicht einmal verlangsamt. Die riesigen Kampfwagen, fünfzig Fuß hoch und zwanzig breit, waren durch die Mauer gebrochen, als wäre sie aus Papier. Die gehärteten Stahlrümpfe wi-derstanden allem, was nicht Disruptor war, und die wenigen Energiewaffen der Verteidiger reichten einfach nicht, um sie aufzuhalten.

Also waren die Kampfwagen an einem Dutzend Stellen gleichzeitig durch die Mauer gebrochen, und hinter ihnen waren die Imperialen Sturmtruppen ausgeschwärmt und hatten auf alles gefeuert, was sich in den Trümmern noch regte. Die Verteidiger waren ihnen mit kaltem Stahl in der Hand und grimmiger Entschlossenheit im Kopf entgegengetreten . Sie waren über gefallene Kameraden gesprungen und hatten sich den Imperialen Truppen gestellt, und erst da war der Vormarsch langsamer geworden und schließlich zum Halten gekommen, weil das Kampfgetümmel in den Mauerbreschen heranstürmenden Marineinfanteristen den Weg versperrte.

Der Kampf tobte erbittert, und keine Seite gewährte oder flehte um Gnade. In ihren Köpfen war kein Platz für irgend etwas anderes als Haß und Mord, ein blutrünstiger Wahn, der von der Wut der Rebellen und den Kampfdrogen der Imperialen genährt wurde – und über allem der nicht enden wollende Schrei Legions.

Die Kampfwagen waren größtenteils nutzlos, nachdem sie die Breschen in die Mauern gebrochen hatten. Sie waren zu groß und zu schwerfällig, um in den engen Straßen und Gassen zu operieren, und sie konnten ihre Disruptorkanonen nicht gegen die Verteidiger einsetzen, ohne die eigenen Leute zu treffen. Und so kam es wieder einmal zum Kampf Mann gegen Mann, und kalter Stahl blitzte auf. Das Schlachtengetümmel wogte mal hierhin, mal dorthin, und irgendwie hielten die Verteidiger stand.

John Silver hatte irgendwann im Laufe des Kampfes einen tiefen Schnitt quer über die Stirn erhalten, und er mußte ständig den Kopf schütteln, damit ihm kein Blut in die Augen floß.

Typisches Silver-Glück. Alles ging schief. Er hatte noch mehr Wunden, und seine Kleidung war blutdurchtränkt, doch jetzt war nicht die Zeit, um darüber nachzudenken. Es würde ihn nur deprimieren. Die Euphorie seines letzten Wampyrblutrausches war längst vergangen, und nur noch Adrenalin und Pflichtbe-wußtsein hielten ihn auf den Beinen.

Sein Schwert hob und senkte sich, und meistens prallte es wirkungslos von parierendem Stahl oder einem Schutzschild ab. Der Schmerz in Silvers Schwertarm wurde unerträglich. Im Gedränge der Leiber war kein Raum für einen kunstvollen Schwertkampf oder für Beinarbeit. Man stand Fußspitze an Fußspitze mit seinem Gegner und schlug aufeinander ein, und der Schnellere oder Stärkere war der Gewinner. Und sobald ein Angreifer fiel, nahm ein neuer seine Stelle ein.

Silver hätte am liebsten aufgegeben und wäre davongerannt, doch es gab keinen Ort, wohin man fliehen konnte. Falls Nebelhafen fallen und das Imperium einmarschieren würde, wür-de man ihn auf jeden Fall hängen, schon allein aus Prinzip.

Außerdem hielt ihn, wie schon viele Male zuvor, sein Pflichtgefühl an einer Stelle fest, wo Mut allein nicht reichte. Er schuldete Nebelhafen eine Menge, und Silver war ein Mann, der seine Schulden beglich. Die Linie der Verteidiger stieß plötzlich ein paar Fuß vor, nutzte irgendeinen momentanen Vorteil, und Silver mußte aufpassen, wohin er trat. Der Boden war mit Leichen und Verletzten übersät. Silver erkannte einige Gesichter, doch er verdrängte jeglichen Gedanken daran. Es gab nichts außer dem Kampf, dem Klirren von Klinge an Klinge, und dem sicheren Wissen, daß er irgendwann fallen mußte.

Und dann waren plötzlich Verstärkungen da und hämmerten auf die Angreifer ein wie die Antwort auf ein Gebet. Kriegs-schreie von einem Dutzend verschiedener Welten und Kulturen erfüllten die Luft, als die frischen Kräfte die Angreifer Schritt um Schritt zurückwarfen.

Der Todtsteltzer war da, und er war bereits voller Blut und sah aus wie der Tod auf zwei Beinen. Hazel d’Ark kämpfte neben ihm, und sie führte ihre Klinge mit vernichtender Kraft und Schnelligkeit. Albert Magnus vom Rat der Stadt, in der vordersten Reihe – ein staubiger grauer Mann mit einem Schwert in jeder Hand, unüberwindlich wie eine Naturgewalt.

Und als Anführer des Gegenangriffs: Jakob Ohnesorg, der legendäre Rebell. Groß und imposant in seiner silbernen Kampfrüstung, das Gesicht vertraut von Hunderten von Fahndungs-plakaten, und die Wildheit seiner Klinge trieb die Angreifer in die Flucht . Ohnesorgs Klinge war schnell und tödlich, und niemand vermochte ihn aufzuhalten.

Silver lachte lautlos und kämpfte mit neu gewonnener Kraft in den Armen weiter. Vielleicht würde er heute ja doch noch nicht sterben. Er zog eine kleine Phiole aus dem Ärmel und trank die darin verbliebene restliche schwarze Flüssigkeit mit einem Schluck. Es war das letzte Wampyrblut, aber die Chancen standen nicht schlecht, daß die Schlacht vorüber war, bevor die Wirkung nachließ – auf die eine oder andere Weise. Also was zur Hölle!

Owen Todtsteltzer kämpfte in der vordersten Linie und trotzte den Imperialen Truppen. Niemand kam an ihm vorbei. Er hatte erneut den Zorn heraufbeschworen, und er fühlte sich jetzt stärker als je zuvor, weil er mit Hazel verbunden war. Irgendwie wußte er, daß die Nebenwirkungen diesmal nicht zu einem Problem werden würden. Zusammen mit Hazel waren sie beide weit mehr als die Summe ihrer Teile, mehr als einfach nur Menschen. Er schlug und stieß mit unüberwindlicher Kraft auf den Gegner ein und durchbrach jede noch so verzweifelte Abwehr mit verächtlicher Leichtigkeit. Männer fielen schreiend zu allen Seiten und erhoben sich nicht wieder. Blut spritzte von Owens zischender Klinge, und er grinste wie ein hungriger Wolf, der Beute gewittert hatte, jeder einzelne Zoll der Krieger, der er niemals hatte sein wollen.

Hazel d’Ark kämpfte an Owens Seite. Sie schwang das Schwert in kurzen, brutalen Kreisen, und es schnitt durch Fleisch und Knochen wie das Beil eines Schlächters. Blut besudelte ihre Kleidung, doch es war nicht ihr eigenes. Blut durchnäßte ihren Schwertarm bis zum Ellbogen hinauf, und die Schreie der Verwundeten und Sterbenden klangen wie Musik in ihren Ohren.

Hazel hatte immer eine Schwäche für Nebelhafen gehabt. Ihr hatte die Vorstellung gefallen, daß sie immer zur Nebelwelt zurückkehren konnte und dort aufgenommen werden würde, gleichgültig, wo sie sich gerade befand oder was sie gerade tat.

Für Hazel kam die Nebelwelt einer Heimat am nächsten. Und jetzt wollte das Imperium ihr diese Heimat nehmen, genau wie die vielen anderen Dinge, die es ihr im Verlauf der Jahre genommen hatte. Hazel wollte verdammt sein, wenn sie der Eisernen Hexe diesen letzten Sieg erlauben würde. Nicht, solange sie noch atmete und Stahl in der Hand hielt.

Ihre Verbindung mit Owen war sehr stark. Sie spürte seine Gegenwart an ihrer Seite, stark und zuverlässig wie stets. Eine andere Gegenwart drängte sich in Hazels Bewußtsein, und plötzlich war ein vertrauter Geruch in ihren Nüstern, stark und verlockend. Hazel blickte zur Seite, und nicht weit von ihr stand John Silver. Er kämpfte wie ein Besessener, mit weit aufgerissenen Augen und einem Grinsen wie ein Wahnsinniger. Silver war auf Blut. Hazel sah das Plasma in ihm und roch es selbst auf diese Entfernung noch in seinem hechelnden Atem. Ein Teil von ihr sehnte sich ebenfalls danach. Nur ein oder zwei Tropfen würden reichen. Hazel würde sich wunderbar fühlen; alle Angst würde schwinden, und sie würde die Ausweglosigkeit des Kampfes vergessen, den sie kämpfte. Nur ein oder zwei Tropfen. Hazel kämpfte gegen das Verlangen an und vergrub es tief in ihrem Innern. Sie benötigte kein Blut, um das zu tun, was hier zu tun war. Vielleicht, weil die Situation so einfach und klar war: Kämpf oder stirb; gewinne oder verliere alles, was dir jemals etwas bedeutet hat. Und vielleicht auch, weil sie wieder mental mit Owen verbunden war und in seiner Gegenwart und Kraft jenen Trost fand, den sie brauchte.

Auf den Kampfwagen schwangen Disruptorkanonen herum und nahmen Rebellenkämpfer am Rand des Schlachtfelds unter Beschuß. Die Opfer explodierten in dunklen Wolken verdamp-fenden Blutes. Gewaltige Formationen aus Antigravbarken schwebten über den Köpfen der Verteidiger heran wie ein Sturm aus Metallblättern, die der Wind des Krieges über die Stadt wehte. Sie waren umgeben von Hunderten kleiner, wendiger Angriffsschlitten. Keine Esper flogen mehr auf, um sich der Flut entgegenzustemmen, und langsam rückte die Luft-streitmacht in die Stadt vor. Disruptorstrahlen zuckten herab, und die getroffenen Häuser explodierten. Die Luft war erfüllt vom Brüllen machtvoller Maschinen und dem Donner einstürzenden Mauerwerks, und in all dem Lärm gingen die Schreie und das Geheul der Verwundeten und die Kriegsrufe der Kämpfenden unten am Boden beinahe unter.

Und noch immer hallte über alledem der endlose Schrei des schrecklichen Wesens, das sich Legion nannte.

Albert Magnus, der graue, verbitterte Mann, kämpfte hart und gut mit seinen beiden Schwertern, und zum ersten Mal seit Jahren fühlte er sich wieder lebendig.

Er führte die beiden Klingen in weiten, koordinierten Bögen und zwang seine Gegner in die Defensive. Aber es waren ihrer zu viele, und Albert konnte nicht in sämtliche Richtungen gleichzeitig sehen. Ein Hieb traf ihn aus einer unerwarteten Richtung, und eine Klinge drang zwischen seine Rippen. Voller Schmerz und Unglauben schrie er auf, und Blut spritzte aus seinem Mund. Albert ließ die Waffen fallen. Irgend jemand riß das Schwert aus seiner Seite, und das verursachte neuen Schmerz. Und dann weitere Schwerter und Äxte, die ihn bearbeiteten wie einen Holzklotz. Albert fiel, und der Kampf wogte über ihn hinweg, bis er schließlich unter den Füßen der Kämpfenden gestorben war.

Jung Jakob Ohnesorg schien überall zugleich zu sein. Sein Schwert war nur ein silbernes Blitzen, und Ohnesorg war ein strahlender, todesverachtender Held, der einer unglaublichen Übermacht ins Gesicht lachte. Allein seine Anwesenheit reichte aus, um Größe und Heldenmut in den Männern und Frauen ringsum zu entfachen, und sie kämpften mit seinem Namen als Schlachtruf auf den Lippen. Er ging unglaubliche Risiken ein und überstand sie allesamt unverletzt, und niemand konnte ihm widerstehen. Er schien niemals müde zu werden und wurde niemals getroffen, ein Gigant von einem Mann, der das blanke Entsetzen in die Reihen der Imperialen trug.

Owen nahm es angewidert zur Kenntnis. Er war über und über mit Blut besudelt und am Rand der Erschöpfung, und es schien einfach nicht fair, daß jemand so schnell, so gut und gleichzeitig so verdammt gutaussehend war.

Ganz zu schweigen davon, daß er unmenschlich viel Glück zu haben schien.

Den Imperialen Sturmtruppen war es bis zu diesem Augenblick nicht einmal gelungen, Ohnesorg eine einzige Wunde beizubringen. Owen wußte, daß er sich ziemlich gut schlug, aber er hatte bereits ein gutes Dutzend kleinerer Wunden da-vongetragen. Das war in einem Gedränge wie diesem hier unausweichlich. Das Labyrinth des Wahnsinns hatte bereits angefangen, die Wunden wieder verheilen zu lassen, und der Zorn verhinderte, daß Owen stärkere Schmerzen empfand, aber hier ging es ums Prinzip.

Dennoch: Jakob Ohnesorg war eine Legende, und Legenden pflegten nun einmal über den Sorgen und Nöten gewöhnlicher Sterblicher zu stehen. Wenn er wirklich Jakob Ohnesorg war.

Owen wollte verdammt sein, wenn er wußte, was er noch glauben sollte. Sicher, dieser Mann dort paßte besser zur Legende als der gebrochene alte Mann, den Owen aus seinem Versteck in Nebelhafen aufgescheucht hatte, und der behauptete, Jakob Ohnesorg zu sein; aber Owen glaubte an Menschen, nicht an Legenden. Er zuckte innerlich die Schultern und hieb einen weiteren Imperialen Marineinfanteristen mit einem einzigen wilden Schlag nieder. Ohnesorg war jedenfalls nicht der einzige wirkliche Kämpfer in dieser Schlacht.

Und wer auch immer dieser hübsche Bastard in Wirklichkeit sein mochte, Jung Jakob Ohnesorg war genau das, was Nebelhafen in diesem Augenblick brauchte. Sein Name war ein auf-putschender Schrei und vielleicht das einzige, was imstande war, die zerstrittenen Parteien Nebelhafens zu einen und sie Seite an Seite in den Kampf ziehen zu lassen. Owen beschloß, sich damit zu begnügen – wenigstens fürs erste.

Hazel d’Ark spürte, wie ihr Bewußtsein sich in merkwürdige Dimensionen ausdehnte. Seit der Veränderung, die das Labyrinth des Wahnsinns an ihr vorgenommen hatte, waren ihre mentalen Fähigkeiten langsam, aber stetig gewachsen. Und seit Hazels Ankunft auf der Nebelwelt war die Geschwindigkeit, mit der diese Veränderungen stattfanden, deutlich gestiegen.

Sie wußte jetzt bereits im voraus, von wo ein Angriff kommen würde, und so konnte sie entsprechend reagieren . Niemand vermochte sich an sie heranzuschleichen, nicht einmal von hinten, und sie kannte die Schwachstellen eines Gegners sofort, wenn sie ihn sah . Es war weit mehr als Instinkt oder Erfahrung; es war, als hätte sie diese Dinge schon immer gewußt und als würden sie ihr im entsprechenden Augenblick wieder einfallen.

Und noch mehr: Vor Hazel öffneten sich unzählige Dimensionen, und andere Versionen ihrer Selbst erschienen nach und nach um sie herum. Sie tauchten stets nur kurz auf, manchmal gerade lang genug, um einen Schwerthieb abzulenken oder einen Angriff zu kontern, den Hazel selbst nicht hätte aufhalten können. Während sie weiterkämpfte, erschienen immer wieder neue, andere Hazel d’Arks und kämpften an ihrer Seite. Einige unterschieden sich kaum merklich vom Original, eine zusätzliche Narbe hier, eine andere Haarfarbe dort. Andere waren vollkommen anders gebaut oder gehörten sogar anderen Rassen oder Spezies an. Eine Hazel besaß eine goldene Hadenmann-Hand wie Owen. Eine war ein Mann, und wenigstens eine schien überhaupt nicht menschlich zu sein, oder zumindest nicht ganz. Hazel lächelte ihnen zu, und sie lächelten zurück.

Gemeinsam mit ihren anderen Ichs drängte sie sich in die vorderste Schlachtreihe, und sie schlossen die größte Lücke in der Stadtmauer und trotzten den Angriffen des Imperiums.

John Silver sah die verschiedenen Hazels Seite an Seite kämpfen und glaubte im ersten Augenblick, eine schlechte Lie-ferung Blut beschere ihm Halluzinationen. So etwas war ihm nach dem Genuß von Wampyrblut noch nie passiert. Erst als eine kahlköpfige Hazel d’Ark in der Ledertracht der Kopfgeldjäger einen Schwertstreich parierte, der Silver sonst unweiger-lich getötet hätte, gestand er sich zögernd ein, daß die verschiedenen Hazels wohl real waren. Er verdrängte die aufkommende Furcht. Nebelhafen war selbst in seinen besten Zeiten ein Ort für Verrückte gewesen, und ausgerechnet heute würde sich daran bestimmt nichts ändern.

Dann sah er Owen Todtsteltzer, der sich einen Weg durch das Kampfgetümmel bahnte und Imperiale Sturmtruppen niedermähte, als wären sie Luft, und Jakob Ohnesorg, der trotzig und unbezwingbar inmitten eines Berges feindlicher Leichen stand. Ein Schauer der Ehrfurcht durchzuckte John Silver. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie drei solche Kämpfer gesehen. Er hatte das Gefühl, an der Seite von Göttern zu kämpfen.

Seine Bewunderung hielt nur einen Augenblick, dann wich sie einem Gefühl von Neid. John Silver war ein ganz gewöhnlicher Mann, weiter nichts . Er besaß nur gewöhnliche Kräfte und gewöhnlichen Mut, und er tat, was er konnte, während diese drei Übermenschen sein Bestes wie nichts aussehen ließen. Silver kämpfte weiter , doch ein Teil seines Mutes hatte ihn verlassen.

Der hin und her wogende Kampf spülte ihn nach vorn neben den Todtsteltzer. Der Todtsteltzer warf ihm ein rasches, freundliches Grinsen zu, und Silver bemühte sich, es zu erwidern.

Und in diesem Augenblick bemerkte er das Schwert eines Imperialen, das direkt auf Owens Rücken zielte. Der Todtsteltzer hatte es nicht gesehen. Er war zu sehr mit den beiden Infanteristen beschäftigt, die sich vor ihm aufgebaut hatten. Die Zeit schien langsamer zu werden und schließlich völlig stillzustehen, und Silver hatte das Gefühl, als hätte er alle Zeit der Welt, um sich genau zu überlegen, was er als nächstes tun sollte. Er konnte dem Todtsteltzer eine Warnung zurufen, oder er konnte versuchen, selbst die Klinge aufzuhalten, doch in diesem Augenblick wünschte er sich nur, daß der Todtsteltzer sterben würde: weil er ein Übermensch war, weil er Hazel näher und ihr wichtiger war, als John Silver es jemals sein würde… Es wäre ein Leichtes gewesen, einfach nur dazustehen und zuzusehen, wie die Klinge Owen tötete. Niemand würde ihm hinterher einen Vorwurf machen können. Das Durcheinander war einfach zu groß, und niemand konnte von ihm erwarten, daß er alles sah. Silver zögerte, während er in Gedanken ein Dutzend verschiedener Möglichkeiten durchspielte. Der Tod des verdammten Todtsteltzers würde ihm so viel bringen…

Und dann bewegte sich die Zeit wieder normal, und bereitete allen Spekulationen ein Ende.

Die Klinge raste auf Owens Rücken zu, und Silver schoß vor.

Sein Schwert blockte den Streich ab. Der Aufprall war so heftig, daß ihm die Waffe aus der Hand geprellt wurde und zu Boden polterte. Der Infanterist wandte sich gegen Silver und riß das Schwert zum tödlichen Hieb zurück. Silver warf sich zur Seite, und die Klinge ritzte nur die Haut seines Unterarms.

Blut rann über Silvers Arm. Der Soldat holte zu einem weiteren Streich aus. Silver sammelte das Blut aus seiner Wunde in der hohlen Hand und schleuderte es dem Angreifer in die Augen. Geblendet zögerte der Mann für den Bruchteil einer Sekunde, und das reichte John Silver, um sich nach seinem Schwert zu bücken und den Angreifer zu erledigen.

All das geschah in kaum mehr als einer Sekunde . Owen Todtsteltzer bemerkte nichts von alledem. Er war mit seinen eigenen Problemen beschäftigt. Silver raffte seine fünf Sinne zusammen und nahm den Kampf wieder auf. Für einen ge-wöhnlichen Sterblichen hatte er sich gar nicht so schlecht geschlagen. Und wenn in dieser Schlacht schon Götter kämpften, dann war John Silver froh, wenigstens auf ihrer Seite zu stehen.

Die Wogen der Schlacht spülten ihn von Owen Todtsteltzer fort, der sich gerade einen Weg durch einen Berg von Leichen bahnte, um wieder an Hazels Seite zu kämpfen. Es dauerte einen Augenblick, bis Owen bemerkte, daß es nicht die Hazel war, die er kannte, und noch einen weiteren, bis er entdeckte, daß es eine ganze Reihe von Hazel d’Arks zu geben schien.

Und dann rief plötzlich jemand in den hinteren Reihen der Angreifer: »Rückzug!« Andere Stimmen nahmen den Ruf auf, allesamt Imperiale Sturmtruppen, und plötzlich schmolz die Zahl der Angreifer vor Owen zusammen. Alles wandte sich zur Flucht. Wohin Owen auch blickte, überall war es das gleiche Bild. Die Überreste der riesigen Streitmacht lösten sich auf, und alle rannten um ihr Leben. Der unbewegliche Fels in der Brandung, die Verteidiger Nebelhafens, hatte die Wucht des Angriffs gebrochen. Rasch verwandelte sich der Rückzug in eine panische Flucht, und innerhalb weniger Sekunden war niemand mehr da, der kämpfen wollte. Die Verteidiger stießen heisere Jubelrufe aus. Owen drehte sich zu Hazel um und blinzelte verwundert, als er entdeckte, daß sie nur noch eine Person war. Sie erwiderte seinen Blick mit einem breiten Grinsen, und Owen beschloß, keine Fragen zu stellen. Noch nicht. Außerdem war er nicht sicher, ob er die Antwort überhaupt hören wollte.

Die Verteidiger riefen seinen und Hazels Namen, aber lauter noch den von Jakob Ohnesorg. Er war ihr Held. Sie salutierten vor ihm mit erhobenen Schwertern, und ihre Augen leuchteten vor Bewunderung. Sie wären ihm selbst in die Hölle gefolgt.

Und in diesem Augenblick eröffneten die Imperialen Kampfwagen das Feuer aus den Disruptorkanonen. Nun da sie nicht länger befürchten mußten, die eigenen Leute zu treffen, konnten sie gefahrlos schießen . Die Energiewaffen rissen blutige Lücken in die dicht gedrängten Reihen der Verteidiger, die sich daraufhin zur Flucht wandten. Ohnesorgs Stimme erhob sich über den allgemeinen Lärm.

»Halt, meine Freunde! Wir können diese Maschinen schlagen!«

Owen schob sich durch die Menge und packte Ohnesorg am Arm. »Seid Ihr verrückt? Ihr könnt doch nicht im Ernst glauben, daß wir mit Schwertern gegen die Imperialen Disruptorkanonen kämpfen können! Wir müssen uns zurückziehen und eine neue Verteidigungsstellung finden!«

»Er hat verdammt recht«, sagte Hazel, die plötzlich an Owens Seite stand. »Was Ihr vorhabt, ist reiner Selbstmord, Ohnesorg.«

»Bitte verzeiht«, erwiderte Jung Jakob. »Ihr habt natürlich vollkommen recht. Ich habe mich für einen Augenblick hinreißen lassen.«

»Na prima«, sagte Owen. »Dann haltet jetzt die Klappe und lauft.«

Die Verteidiger zogen sich vor den angreifenden Kampfwagen zurück, doch es war eine geordnete Bewegung, keine wilde Flucht. Sie strömten durch die engen Straßen und Gassen Nebelhafens in dem sicheren Bewußtsein, daß die gewaltigen Maschinen ihnen nicht würden folgen können. Die Kanonen der Wagen schwenkten von einer Seite zur anderen in dem Bemühen, eine Gruppe von Rebellen zu finden, die einen Schuß wert war, doch die Verteidiger hatten ihre Lektion gelernt, und sie teilten sich in immer kleinere Gruppen auf, während sie sich weiter zurückzogen. Und so eröffneten die Imperialen Kampfwagen schließlich das Feuer auf die Gebäude und Häuser am Stadtrand, und Schauer von Ziegelsteinen und Mörtel flogen durch die Luft, während die Überreste in Flammen aufgingen.

Schreie und Rufe wurden laut, und Menschen verschwanden unter einstürzenden Häusern, und schon bald gab es nichts mehr außer einem Haufen brennender Trümmer, wo vorher die Straße gewesen war. Die gewaltigen Kampfwagen rückten unaufhaltsam über den Schutt hinweg vor.

Als die Imperialen Sturmtruppen sahen, daß ihre Kampfwagen siegreich waren, formierten sie sich in ihrem Schutz neu, und aus dem anfänglich geordneten Rückzug der Verteidiger wurde schließlich doch noch wilde Flucht. Owen und Hazel blieben stehen und blickten sich um.

Die Kampfwagen rollten mit brüllenden Kanonen auf sie zu, während Nebelhafen Straße um Straße dem Erdboden gleichgemacht wurde. Oben am Himmel schwebten die Barken wie große Sturmwolken. Owen streckte eine Hand nach Hazel aus, und sie ergriff sie. Beide hatten den gleichen Gedanken. Ihre vereinigten Bewußtseine griffen nach draußen und in die Höhe.

Plötzlich machte eine der Antigravbarken mitten in der Luft einen Satz, als wäre sie von einer gewaltigen, unsichtbaren Faust gepackt worden. Die Maschinen brüllten auf und über-hitzten, als eine unheimliche Macht das Schiff aus dem Himmel riß und auf die vorrückenden Kampfwagen schleuderte.

Die gewaltige Explosion zerriß die Nacht, und die aus den ineinander verkeilten Wracks aufschießenden Flammen erleuchteten die nahe gelegenen Straßen . Die Angreifer mußten sich einmal mehr zurückziehen, wollten sie nicht Gefahr laufen, von herabfallendem, geschmolzenem Metall erschlagen und verbrannt zu werden. Die Wrackteile wurden von der Wucht der Explosion Hunderte von Metern weit davon-geschleudert, und doch blieben die Verteidiger davon unberührt. Die Trümmer fielen unmittelbar vor ihnen zu Boden, als würden sie von einer unsichtbaren Macht geschützt. Die Rebellen blieben stehen und drehten sich um, und sie jubelten und feierten das glückliche Geschick, das sie wieder einmal gerettet hatte.

Und niemand außer John Silver wußte, wem sie ihr Leben zu verdanken hatten. Er beobachtete, wie Owen und Hazel aus ihrer Starre erwachten, bemerkte ihre ineinander verschränkten Hände – und grinste anzüglich. Hazel und Owen ließen einander los und mischten sich unter die jubelnde Menge. Silver beobachtete die beiden und fragte sich einmal mehr, wer oder was sie waren, und ob sie – rein theoretisch – irgendwann so mächtig werden konnten, daß sie zu einer noch größeren Gefahr für die Nebelwelt wurden, als es das Imperium je gewesen war. Er setzte sich in Bewegung, um die beiden einzuholen.

Seine Gedanken bedrückten ihn. Gleichzeitig entwickelte er bereits die ersten Pläne, wie er auf eine solche Bedrohung reagieren konnte, sollte es notwendig werden. Und er dachte darüber nach, ob es vielleicht doch ein Fehler gewesen war, dem Todtsteltzer das Leben zu retten.

Er hatte sich stets den meisten anderen Menschen ein wenig überlegen gefühlt, weil diese sich vor Espern fürchteten. Jetzt spürte Silver zum ersten Mal, wie solche Leute sich fühlen mußten. John Silver war nicht mehr oben auf der Spitze. Er war nicht einmal sicher, ob er die Spitze von seiner momentanen Position aus überhaupt noch sehen konnte.

Mitten unter den zurückweichenden Imperialen Stoßtruppen befanden sich Tobias Shreck und sein Kameramann Flynn.

Man hatte die beiden abgesetzt, damit sie Nahaufnahmen der siegreichen Invasion liefern konnten nur, daß die Dinge sich ein wenig anders entwickelt hatten.

Im selben Augenblick, da deutlich wurde, daß die Dinge aus dem Ruder liefen, hatte Leutnant Ffolkes sich an Flyrm gewandt und ihm befohlen, seine Kamera einzuholen und abzu-schalten. Die Liveübertragung war zu Ende, angeblich wegen technischer Schwierigkeiten. Und um deutlich zu machen, wie ernst diese technischen Schwierigkeiten waren, drückte Ffolkes dem Kameramann eine Waffe in den Rücken und hielt sie dort, bis das Gerät wieder sicher auf Flynns Schulter gelandet war.

Das einzelne rote Auge erlosch, und die Kamera war aus. Tobias protestierte, doch niemand hörte auf ihn. Er hatte nichts anderes erwartet, aber er mußte protestieren, weil man sonst vielleicht denken würde, er wäre mit den Jahren weich geworden. Weder Tobias noch Flynn zweifelten auch nur eine Sekunde daran, daß Ffolkes die Waffe benutzt hätte.

Der Sicherheitsoffizier schäumte vor Wut über die Niederlage der Imperialen Sturmtruppen, und er erweckte ganz den Eindruck, als würde er seine Wut an jedem abreagieren, der dumm genug war, ihm in den Weg zu kommen.

Und so kam es, daß Tobias und Flynn sich zusammen mit den Sturmtruppen zurückzogen, bis Ffolkes den Befehl erhielt, sich irgendwo anders unbeliebt zu machen. Nach seinem Verschwinden filmten sie ein paar großartige Szenen mit der ab-stürzenden Barke und mußten anschließend rennen wie die Teufel, als geschmolzenes Metall wie glühender Hagel aus dem Himmel fiel.

Während sie durch den Schnee außerhalb der Stadtmauern in vorübergehende Sicherheit trotteten, bemühten sich Tobias und Flynn um einige Interviews von den geschlagenen Sturmtruppen, doch sie gaben ihr Vorhaben rasch wieder auf. Die negati-ven Antworten hatten sich rasch von obszönen Flüchen zu Morddrohungen gesteigert.

»Ich frage mich, wohin sie uns als nächstes schicken«, sagte Flynn nach einer Weile.

»Irgendwohin, wo die Dinge sich ein ganzes Stück besser entwickeln, sollte man jedenfalls meinen«, entgegnete Tobias.

»Immer vorausgesetzt, es gibt einen solchen Ort.«

»Den gibt’s bestimmt. Wenn du mich fragst, hatten die Verteidiger hier lediglich einen Haufen Glück, das ist alles.«

»Ich weiß nicht«, sagte Flynn. »Wie groß waren die Chancen, daß eine Imperiale Barke ausgerechnet auf die Imperialen Kampfwagen stürzt?«

Tobias blickte Flynn an. »Was willst du damit andeuten?

Glaubst du, die Rebellen haben sie irgendwie zum Absturz gebracht? Vergiß es. Die Rebellen besitzen keine Waffen, die so etwas könnten. Und wenn du meinst, das sei das Werk von Espern gewesen, dann laß dir sagen, daß selbst der berüchtigte Esper Investigator Topas keine Barke zum Absturz bringen könnte. Esper sind einfach nicht stark genug für so etwas.

Selbst ohne Legion, das sie nach und nach in den Wahnsinn treibt.«

»Wir sind hier auf der Nebelwelt, und du redest über Nebelhafen«, widersprach Flynn. »Ich habe alles mögliche über Nebelhafen gehört. Freiwillig wäre ich niemals hierhergekommen

»Sicher, Nebelhafen steckt voller Überraschungen«, gestand Tobias. »Hast du gesehen, wer die Rebellen angeführt hat? Es war Jakob Ohnesorg, und er sah ganz genauso aus wie in den alten Holos. Aber wenn das Jakob Ohnesorg sein soll, wen haben wir dann als Anführer der Rebellen auf Technos III gesehen? Der Mann sah viel älter und mitgenommener aus. Ich kann nicht glauben, daß er in so kurzer Zeit von Technos III nach hier gekommen sein soll. Jedenfalls nicht, ohne daß das Imperium Wind davon bekommen hätte.«

»Vielleicht ist einer von beiden ein Doppelgänger?« vermutete Flynn. »Oder ein Klon.« Er verzog das Gesicht. »Gleichgültig, wer oder was dieser Ohnesorg ist – es gibt eine Menge, was man uns verschwiegen hat.«

»Was genaugenommen nichts Neues ist«, bemerkte Tobias.

»Wenn wir ihm wieder begegnen, können wir ihn vielleicht um ein Interview bitten. Ich könnte jeden Preis dafür verlangen.

Garantiert beste Sendezeit.«

»Die herrschenden Schichten würden dir niemals gestatten, so etwas auszustrahlen. Sonst wären sie bald nicht mehr die herrschenden Schichten.«

Tobias grinste. »Wo es einen Geldbeutel gibt, da gibt es auch einen Weg.«

In der Schwarzdorn-Taverne, mitten im Gewirr der Straßen und Gassen des Diebesviertels, bemühten sich Vertreter der Espervereinigung nach besten Kräften, auf dem laufenden zu bleiben. Ständig trafen neue Boten mit Nachrichten aus allen Ecken der Stadt ein. Die Ratsmitglieder – ohne Albert Magnus – brüteten noch immer über der großen Karte von Nebelhafen.

Ihre Mienen wurden immer düsterer. Selten kamen gute Nachrichten.

Esper markierten die Positionen der Antigravbarken und Schlitten als kleine schwarze Schatten, die über der Karte schwebten. Fliegende Verteidiger wurden als hellrote Punkte dargestellt, die stets nach kurzer Zeit und ohne Vorwarnung verschwanden. Niemand mußte nach dem Grund dafür fragen.

An den Stadtgrenzen, wo die Imperialen Streitkräfte die Mauer eingerissen hatten, tauchten weitere Schatten auf. Sie bewegten sich unaufhaltsam auf das Zentrum zu, trotz der verzweifelten Anstrengungen der Verteidiger, sie aufzuhalten oder wenigstens den Vormarsch zu verlangsamen. Einzig und allein in der südwestlichen Ecke der Karte kamen die Schatten nicht voran, und nach und nach erreichten Neuigkeiten über einen unerwarteten Sieg den Rat.

Chances Kinder lagen zusammengekauert auf Decken in einer Ecke des Raums. Sie plapperten leise vor sich hin, während Chance zwischen ihnen umherging und sie versorgte. Er beruhigte die Kinder, gab ihnen hier und da Bonbons, und wenn er eines von ihnen zu lange vernachlässigte, neigte es dazu, in Alpträume zu versinken und laut und erbärmlich zu schreien oder zu weinen.

Die Repräsentanten der Espervereinigung gaben sich die größte Mühe, die Position des Schwarzdorns und der darin versammelten Menschen mittels ihrer überlegenen mentalen Fähigkeiten zu verschleiern; doch selbst ihre Macht reichte nicht aus, um die Kinder von Abraxus vor dem nicht enden wollenden, entsetzlichen Schrei Legions zu schützen. Es nagte an ihren Seelen wie ein Hund am Knochen. Niemand wußte, wie die Kinder es verkrafteten, doch der Ausdruck in ihren kleinen Gesichtern, ihr verzweifeltes Weinen und die ausgemergelten , verkrümmten Körper auf den schmutzigen Decken waren Antwort genug auf die nicht gestellte Frage. Chance flehte den Rat um Erlaubnis an, den Kindern Beruhigungsmittel verabreichen zu dürfen, doch er wurde immer und immer wieder abgewie-sen. Die Kinder wurden gebraucht.

Einige Esper teleportierten mit wichtigen Nachrichten herein und waren gleich wieder verschwunden, und die Luft strömte jedesmal mit einem Knall in das dabei entstehende Vakuum.

Statische Entladungen zuckten über die Körper der Esper und entluden sich schmerzhaft am nächsten Metall. Mit jedem Sprung riskierten sie ihr Leben. Legions Schrei störte sie in ihrer Konzentration. Einige verschwanden auf Nimmerwieder-sehen, nachdem sie sich entmateralisiert hatten. Manche kamen in Stücken in der Taverne an, andere entsetzlich verstümmelt.

Einer hatte sich halb in der Wand materialisiert. Er war noch immer dort. Niemand wußte, wie man ihn befreien konnte, ohne die Wand einzureißen. Zum Glück war er bereits tot, also legte man lediglich ein Tuch über sein Gesicht, um das Starren der blinden Augen und den verzerrten Mund zu verbergen, und ignorierte ihn.

Ein Mann materialisierte mitten in der Luft und krachte in einem Gewirr heraushängender Eingeweide zu Boden. Sein Sprung hatte ihn von innen nach außen gestülpt. Zum Entsetzen aller schien er nicht einmal sterben zu wollen. Donald Royal schlug ihm mit einem erlösenden Hieb den Kopf ab.

Die Ratsmitglieder und die Repräsentanten der Espervereinigung bemühten sich nach Kräften, eine planvolle Verteidigung auf die Beine zu stellen, doch alles geschah so rasch, daß ihnen nichts anderes übrigblieb, als auf die Aktionen des Imperiums zu reagieren und Schadensbegrenzung zu betreiben. Nach und nach wurden alle heiser vom ständigen Brüllen, und die Müdigkeit stand jedem ins Gesicht geschrieben. Cyder sorgte da-für, daß stets frischer Kaffee und heißes Würzbier bereitstand und leitete alles an Informationen weiter, was sie von ihren eigenen Verbindungsleuten hereinbekam. Sie bemühte sich, nicht an Katze zu denken und was aus ihm geworden sein mochte. Über ihr ließ das Donnern vorbeifliegender Barken die Taverne in den Grundmauern erzittern. Die Imperialen hatten keine Ahnung, wie nah sie dem Zentrum des Rebellenwider-stands gekommen waren.

Kast und Morgan zerrten ihren Gefangenen durch das Chaos der Schlacht zu Investigator Razor, der gedankenverloren in den Trümmern dessen stand, was einmal die nordöstliche Stadtbefe-stigung gewesen war. Er beobachtete, wie seine Truppen tiefer und tiefer in die brennende Stadt vordrangen und jeden Widerstand erstickten. Razor wartete, bis die beiden Marineinfanteristen mit ihrem Gefangen auf Armeslänge an ihn herangekommen waren, bevor er sich zu ihnen umwandte und ihre Anwesenheit zur Kenntnis nahm. Sein düsteres Gesicht war gelassen wie immer, doch in seinen Augen brannte ein brutales Feuer, das selbst zwei so hartgesottene Burschen wie Kast und Morgan einen Schauder über den Rücken jagte. Sie verbeugten sich hastig vor dem Investigator und schlugen ihren Gefangenen, bis er es ihnen gleichtat. Schweigend betrachtete Razor den Mann eine Weile. Der Gefangene war gut gekleidet, obwohl seine Kleidung im Augenblick zerrissen und schmutzig und mit seinem eigenen Blut besudelt war. Sein Gesicht war zerschlagen und geschwollen. Ganz offensichtlich hatten Kast und Morgan ihn nicht gerade mit Samthandschuhen angepackt.

»Und wen haben wir da?« erkundigte sich Razor.

»Einen Verräter und Informanten, Sir«, meldete Kast fröhlich. »Sein Name lautet Artemis Daley. Er behauptet, jemand zu sein, der in Nebelhafen die Fäden zieht. Er hat versprochen, uns mit nützlichen Informationen zu versorgen, wenn wir die Gebäude und Grundstücke in Frieden lassen, die ihm gehören oder an denen er interessiert ist. Er hat sich sogar bereit erklärt, uns eine Karte mit diesen Besitztümern zu zeichnen. Ist das nicht äußerst hilfreich? Unter einem gewissen Druck hat er sich dann auch noch erboten, uns eine weitere Karte zu zeichnen, die uns ganz genau zeigt, wo der Rat von Nebelhafen sich gegenwärtig versteckt hält. Als Gegenleistung für sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit, sozusagen . Also haben wir ihn zu Euch gebracht, Sir . Wenn er ist, wer er zu sein behauptet, und wenn er weiß, was er zu wissen behauptet, dann könnte er tatsächlich nützlich sein. Und bevor Ihr darüber nachdenkt, Sir, meinen Freund hier und mich zu belobigen oder uns wo-möglich sogar zu befördern, dann möchten wir sagen, daß wir nur unsere Pflicht getan haben, Sir.«

»Aber die Gehaltserhöhung würden wir trotzdem nehmen, Sir«, fügte Morgan hinzu. »Oder einen Orden, falls welche verliehen werden.«

»Ihr habt Euch wacker geschlagen«, lobte Razor. »Und jetzt schweigt.« Er wandte sich an den Gefangenen, und ein schwaches Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Der Gefangene wurde, wenn das überhaupt möglich war, noch nervöser als zuvor. Razor trat näher. »Ich kenne Euch, Artemis Daley. Ihr seid in den Akten. Ihr macht alle möglichen Geschäfte – egal ob illegal oder nicht. Ein mittelgroßer Fisch in einem ziemlich kleinen Teich.

Ihr habt uns in der Vergangenheit die eine oder andere Information verkauft . Nichts von wirklicher Bedeutung, trotzdem ausreichend, um Euch zu einem von uns zu machen. Also, redet, Artemis. Verratet mir, wo sich meine Feinde verstecken.«

»Wir… wir müssen uns noch über den Preis verständigen, Euer Ehren«, stammelte Daley. Er hatte Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. »Ich bin schließlich ein ehrenwerter Geschäftsmann, der nur versucht, in schweren Zeiten einen kleinen Profit herauszuschlagen. Ich habe kein Interesse am Krieg, Sir. Trotzdem darf ein Mann in meiner Position sich nicht dazu hinreißen lassen, wertvolle Informationen einfach so wegzugeben . Es könnte publik werden. Mein Ruf wäre ruiniert.

Ich bin sicher, Ihr versteht, was ich meine.«

»Ich verstehe genau, was Ihr meint«, entgegnete Razor. Er warf einen Blick zu Kast. »Bringt ihn um.«

»Wartet! Wartet!« Daley wollte zurückweichen, doch Kast und Morgan hatten ihn sicher im Griff. Sie zwangen ihn auf die Knie. Daley zitterte so heftig, daß Schweißtropfen von seiner Stirn in den Schnee fielen. »Wartet, Euer Ehren! Erlaubt mir, Euch… eine kleine Kleinigkeit als Zeichen meines guten Willens zu geben. Der Rat… Ihr findet ihn im Diebesviertel. Er versteckt sich in der Schwarzdorn-Taverne.« Er blickte Razor hoffnungsvoll an. »Ich würde Euch mit Freuden eine Karte zeichnen, Euer Ehren, aus der ersichtlich wird, wo genau diese Taverne zu finden ist, aber es ist ein wenig schwer zu zeichnen, wenn man auf den Knien rutschen muß…«

»Wir besitzen unsere eigenen Karten«, unterbrach ihn Razor.

»Außerdem haben wir alles, was wir von Euch wollten.« Er nickte Kast und Morgan zu. »Statuiert ein Exempel an diesem Verräter.«

Kast und Morgan nickten fröhlich und zerrten Daley davon.

Daley trat und zappelte, aber das verlangsamte den Schritt der beiden Soldaten noch nicht einmal. »Das könnt Ihr doch nicht machen! Ich bin ein wichtiger Mann in Nebelhafen! Ich habe Euch doch alles gesagt, was Ihr wissen wolltet! Ich habe Euch alles…«

Er brüllte weiter, bis Morgan ihm den Knauf seiner Waffe über den Schädel zog, und selbst dann noch murmelte er leise Proteste.

Erst als Kast und Morgan ihn am nächsten Laternenmast aufhängten, verstummte er. Sie traten zurück und sahen zu, wie Daley an seinem Strick zappelte. Razors Lächeln war bitter. Er hatte keine Zeit für Verräter. Er beobachtete geduldig, wie der Mann starb und fragte sich, wie lange es wohl noch dauern mochte , bis die Agenten des Chojiro-Clans endlich mit ihm Kontakt aufnehmen würden.

Die Menschen im Schwarzdorn bemerkten erst , daß das Imperium ihr Versteck gefunden hatte, als Disruptorstrahlen von den Antigravbarken direkt über ihnen herabhämmerten. Das Schieferdach flog auseinander, und das Obergeschoß der Taverne verwandelte sich von einem Augenblick zum andern in eine Flammenhölle , die sämtliche Zimmer erfaßte. Die wenigen, die sich dort oben aufhielten, verbrannten bei lebendigem Leib. Die Energiestrahlen fraßen sich in den Boden und erreichten schließlich den darunterliegenden Schankraum, wo sie von einem psionischen Schild abgelenkt wurden, den die Esper darin buchstäblich in allerletzter Sekunde errichtet hatten.

Chances Kinder hatten unmittelbar vor Beginn des Angriffs eine Warnung ausgestoßen . Die Esper im Schwarzdorn gehörten zu den stärksten Begabungen ganz Nebelhafens . Gemeinsam wehrten sie den Beschuß der Disruptorkanonen ab; aber selbst sie konnten den Schwarzdorn nicht vor der Vernichtung retten.

Die Balkendecke des Schankraums begann zu schwelen und färbte sich rasch schwarz. Das gesamte Haus erzitterte unter der Wucht des Beschusses. Steine zersprangen, und ein feiner Staub aus Mörtel rieselte herab. Schnell wurde es ungemütlich heiß. Die Esper konnten es nicht verhindern.

Sie waren vollauf damit beschäftigt, den Disruptorbeschuß abzuwehren.

Donald Royal bellte Befehle und organisierte die Leute. Er ließ die hintere Treppe mit Tischen und anderem Mobiliar ver-barrikadieren, für den Fall, daß die Flammen von oben durch die geschlossene Tür brechen sollten. Cyder schaffte Eimer mit Wasser heran, um plötzlich aufflackernde Brandherde bekämpfen zu können. Chances Kinder weinten und schrien jetzt beinahe ununterbrochen, doch er wagte nicht, ihnen Beruhigungsmittel zu geben. Vielleicht mußten sie schon bald um ihr Leben rennen.

Ein paar Leute drehten durch und rannten zum Ausgang.

Royal brüllte ihnen hinterher, doch sie wollten nicht hören. Sie rannten nach draußen – und wurden im gleichen Augenblick von Energiestrahlen zerrissen, da sie das Haus verließen.

Weitere Antigravbarken schwebten heran und verstärkten die ohnehin schon beeindruckende Feuerkraft der Imperialen Luft-einheiten über der Taverne. Jedes Haus rings um den Schwarzdorn war längst zu einem schwelenden Trümmerhaufen geworden. Tote Männer und Frauen lagen in den Straßen, die Leichen geschwärzt vom fortgesetzten Feuersturm.

Im Innern des Schwarzdorns brach ein dicker Holzbalken aus seinen Verankerungen unter der Decke und krachte wie ein Riesenhammer herab. Lois Barron wich nicht schnell genug aus und wurde unter dem Balken begraben. Blut sprudelte aus ihrem Mund, während sie mit schwachen Händen versuchte, den Balken zur Seite zu drücken. Es war offensichtlich, daß sie starb, und trotzdem bemühten sich die anderen verzweifelt, Lois zu befreien.

Schließlich rührte sie sich nicht mehr. Der Zwerg Castle saß neben der Toten und hielt ihre Hand. Er schien alles andere ringsum vergessen zu haben. McVey und Donald Royal blieb keine Zeit zum Trauern. Sie waren die letzten verbliebenen Angehörigen des Rats von Nebelhafen, und sie hatten viel zu tun. Wenn irgend jemand einen Ausweg aus dieser Falle finden konnte, dann sie.

In diesem Augenblick wurde der psionische Schild schwächer und zeigte erste Risse. Selbst die stärksten Esperbegabungen Nebelhafens hatten Schwierigkeiten, unter dem Einfluß von Legions fortwährendem Schrei in den Köpfen zu funktionieren. Ihre Kräfte verbrauchten sich, und das gleiche galt für ihre Körper. Blut lief ihnen aus Nasen und Ohren. Der unentwegte Ansturm des gewaltigsten ESP-Blockers, den das Imperium jemals geschaffen hatte, löschte ihre Bewußtseine Stück für Stück aus.

Die Risse im psionischen Schild wurden breiter. Dünne Energielanzen schossen durch die Decke des Schankraums und spießten hier und da Leute auf wie Insekten auf Nadeln. Und dann traf ein einzelner breiter Strahl den stärksten der Esper, und der Schild brach endgültig zusammen.

Im gleichen Augenblick wurde Johana Wahn aktiv. Sie errichtete den Schirm aufs neue. Sie hatte eigentlich gehofft, daß ihre Hilfe nicht nötig sein würde. Zweifellos würde Legion nun, da sie ihre Gegenwart enthüllt hatte, seine gesamte Aufmerksamkeit auf sie richten, und Johana war nicht ganz sicher, ob sie dieses unnatürliche Ding schlagen konnte. Trotzdem: Sie tat, was sie tun mußte, und sie nahm den gesamten Druck auf sich, während ringsherum ein Esper nach dem anderen zusammenbrach und starb. Bald schon war die Anspannung beinahe unerträglich. Trotz all ihrer Fähigkeiten war Johana Wahn kein wirklicher Gegner für die vielen Gehirne, aus denen Legion zusammengesetzt war. Falls sie und die anderen im Schankraum des Schwarzdorns überleben wollten, dann würde sie mehr sein müssen als nur Johana Wahn.

Und so griff sie in sich hinein, suchte nach der hell strahlenden Stelle, wo sie einst in der dunklen Zelle von Silo Neun von der Mater Mundi berührt worden war. Sie rief nach dem Überesper, Unserer Mutter Aller Seelen, er solle herbeikommen, um sich einmal mehr durch sie zu manifestieren, und um mit ihr als Werkzeug alle Esper Nebelhafens zu einem gewaltigen Kollektiv zu vereinen, das Legion und das verhaßte Imperium hinwegfegen würde. Sie rief, und niemand antwortete. Johana schrie, ein bitterer Schrei der Wut und Verzweiflung, der einen Augenblick lang sogar Legion übertönte. So weit Johanas Be-wußtsein auch reichte – sie fand nirgends eine Spur von Mater Mundi, sondern nur die hellen Funken der Esper von Nebelhafen, die einer nach dem anderen erloschen, und das gräßliche Ding, das sich Legion nannte und jetzt nach und nach seine gesamte Aufmerksamkeit auf Johana richtete. Die Mater Mundi hatte Johana Wahn verlassen.

Johana hielt trotzdem durch, getrieben von purer Willenskraft. Sie mußte durchhalten. So viele Menschen waren von ihr abhängig. Die kurze Begegnung mit Mater Mundi hatte Johana zu einem der stärksten Esper werden lassen, den das Imperium je gesehen hatte; doch selbst sie vermochte das Ding namens Legion lediglich aufzuhalten. Der Schmerz war beinahe unerträglich; aber Johana kämpfte weiter. Falls auch noch die letzten Mitglieder des Rates starben, würde jeglicher Widerstand rasch in sich zusammenbrechen, und das verhaßte Imperium hätte gewonnen.

Johana richtete ihre Gedanken nach innen. Sie unterbrach sämtliche Verbindungen zur Außenwelt und fokussierte all ihre Kraft auf die Erhaltung des psionischen Schirms. Sie hörte nicht länger die Schreie der Menschen, die in den Straßen rings um die Schwarzdorn- Taverne starben. Die Disrupterkanonen der Imperialen Barken brachten Tod und Zerstörung, doch Johana durfte sich nicht ablenken lassen. Die Aufrechterhaltung des psionische Schildes war das einzige, was jetzt noch zählte.

Johana wußte, daß die Anstrengung sie umbringen würde, doch es war ihr gleichgültig. Nach dem Entsetzen und dem Schmerz, dem sie in Silo Neun ausgesetzt gewesen war, hatte sie sich geschworen, lieber zu sterben, als noch einmal in die Hände des Imperiums zu fallen. Blut rann stetig aus ihren Ohren und ihrer Nase und spritzte bei jedem mühsamen Atemzug aus ihrem Mund. Ein Teil der Schmerzen verging allmählich, während Johanas Bewußtsein sich nach und nach abschaltete.

Sie starb, Stück für Stück, und sie bemerkte es noch nicht einmal. Ihr Gesicht war das eines grinsenden Totenschädels. Und trotzdem kämpfte sie weiter, weigerte sich aufzugeben, weigerte sich, auch nur einen Zoll zu weichen. Langsam gewann sie Einsicht in ihren Gegner und erkannte, wer oder was Legion war – und woraus es gemacht worden war. Aus den Gehirnen von Menschen, die Johana vielleicht gekannt hatte, und aus den Würmern des Wurmwächters. Und Legion sah Johana und erkannte sie ebenfalls. Die Würmer erinnerten sich an Johana und an das, was sie getan hatte, und sie hatten Angst vor ihr.

Johana lachte innerlich, und es war ein schreckliches, gnadenloses Lachen.

Die angreifenden Streitmächte rückten auf breiter Front vor, wenn auch an einigen Stellen langsamer als anderswo. Es war, als würde jeder Mann, jede Frau und jedes Kind, jeder Einwohner Nebelhafens, der auch nur halbwegs eine Waffe halten konnte, die Barrikaden und Kreuzungen verteidigen oder als Heckenschütze aus Seitengassen und dunklen Fenstern auf die Angreifer feuern. Die Imperialen Truppen mußten um jeden Zoll Boden kämpfen, und sie bezahlten für jeden noch so kleinen Sieg mit Blut und Tod.

Zurückweichende Verteidiger jagten Häuser und andere Bauwerke in die Luft und blockierten damit die Straßen, um den Vormarsch des Imperiums weiter zu behindern. Die Projektilwaffen der Rebellen verwirrten die Imperialen Truppen und schüchterten sie ein; sie waren es gewohnt, mit den vor-hersehbaren langen Pausen zu leben, die Disruptorgefechte nach sich zogen. Es dauerte eine Weile, bis sie lernten, hinter dem Schutz massiver Energieschilde vorzurücken, und von da an waren die Projektilwaffen unnütz.

Inzwischen gab es keine kämpfenden Esper mehr, weder auf den Straßen noch am Himmel. Legion war zu stark für die meisten, bis auf ganz wenige Ausnahmen, und alle anderen waren tot. Die Verteidiger ließen sich weiter zurückfallen, Straße um Straße, während sie den generationenalten Plänen zur letzten Verteidigung der Stadt folgten. Doch die Pläne waren seit vielen Jahren nicht mehr aktualisiert worden . Wichtige Routen waren seither durch Straßenmärkte oder neue Gebäude blok-kiert, und einige Straßen existierten nur noch auf den Karten.

Die Verteidiger kämpften verbissen, und sie wichen erst zurück, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gab. Langsam, aber unaufhaltsam näherten sie sich dem verwundbaren Herzen der Stadt.

Verwundete und Flüchtlinge zogen sich auf die Leichter im Autumnusfluß zurück. Das ging schneller und war sicherer, als sich den Straßen anzuvertrauen. Die kohlebefeuerten Leichter tuckerten den eisigen Fluß hinauf und hinunter, und ihre stählernen Steven brachen das frische Eis an der Wasseroberfläche.

Zu beiden Seiten des Flusses brannten Gebäude wie Höllenfeu-er . Der Autumnusfluß mäanderte durch die Stadt und passierte nacheinander Gildenviertel, Händlerviertel und Diebesviertel.

Leichter fuhren hierhin und dorthin und suchten verzweifelt nach einem sicheren Landeplatz. Die Menschen an Bord riefen sich einander Fragen und Neuigkeiten zu, erkundigten sich besorgt nach vermißten Angehörigen oder nach dem Stand der Schlacht; doch die Antworten waren meist schon alt und überholt und selten gut.

Auf den Docks entbrannten heftige Kämpfe, als die Spitzen der Imperialen Marineinfanterie versuchten, die Leichter zu entern. Sie wurden von Dockarbeitern mit Entermessern und Fanghaken zurückgeschlagen. Die Scheuerleute kannten jeden Zoll ihres Territoriums, und sie waren harte und entschlossene Kämpfer.

Einige Leichter waren überladen mit Flüchtlingen und Verwundeten und wurden zu langsam: leichte Ziele für die Antigravbarken und – schütten am nächtlichen Himmel. Unfähig zu manövrieren, wurden sie von Disruptorfeuer zerrissen, und brennende Leichen trieben in den dunklen Fluten des Autum-nusflusses.

Die größeren Leichter nahmen schwere Projektilwaffen an Bord und lehrten die Imperialen Flieger, einen respektvollen Sicherheitsabstand einzuhalten. Die Standardtaktik eines Schlittens war es, hereinkommendes Feuer mit Hilfe des Energieschirms abzufangen und anschließend den Schild zu senken und das Feuer zu erwidern, während die Energiewaffen des Feindes noch nicht wieder aufgeladen waren. Die Besatzungen der Schlitten rechneten nicht mit Waffen, die keine Nachla-dezeiten besaßen. Das Imperium verlor eine ganze Reihe Schlitten, bis sich die Nachricht herumgesprochen hatte.

Doch das Geschenk des Todtsteltzers an Waffen und Munition war weit verstreut und deswegen überall knapp, wohingegen die angreifenden Truppen über unendliche Ressourcen zu verfügen schienen. Die Schützen an Bord der Leichter duckten sich hinter improvisierten Brüstungen und gaben sich alle erdenkliche Mühe, keine Munition zu verschwenden.

Imperiale Marineinfanteristen marschierten durch die hart umkämpften Straßen Nebelhafens. Sie stiegen über die Leichen der Gefallenen und warfen Granaten in die wenigen Gebäude, die aussahen, als könnten sich noch Heckenschützen darin verborgen halten. Die besseren Bezirke der Stadt blieben selbstverständlich unberührt, und man postierte sogar Wachen, um Plünderer abzuschrecken. Wenn das Imperium erst die Kontrolle über Nebelhafen an sich gerissen hatte, würden diese Gebäude an die neuen, vom Imperium bestimmten politischen Führer gegeben werden. Doch überall sonst brannten die Häuser, und Flammen loderten in den nächtlichen Himmel wie Siegesfeuer.

Kast und Morgan stiefelten fröhlich durch die Etappe. Sie taten ihr Bestes, um den harten Kämpfen aus dem Weg zu gehen und beschäftigten sich damit, gegnerische Heckenschützen zu jagen und jeden zu erschießen, der es wagte, sie zu ärgern. Sie töteten jeden, der auch nur den Anschein einer Gefahr erweckte, egal ob Mann oder Frau, und sie warfen Granaten durch Fenster, wenn ihre Beute versuchte, in Deckung zu gehen.

Wie der Rest der Invasionstruppe waren auch sie nicht daran interessiert, Gefangene zu machen. Dazu war später noch Zeit, wenn die Stadt erst eingenommen war. Kast und Morgan nahmen sich die Zeit, hier und da unauffällig zu plündern, wenn sie niemand beobachtete; doch sie fanden nicht viel, selbst in den wenigen Häusern nicht, die bisher irgendwie vom Feuer und den Granaten verschont geblieben waren. Nebelhafen war nicht gerade für seinen Wohlstand berühmt, ausgenommen die besseren Viertel, und Kast und Morgan kamen nicht einmal in die Nähe dieser Bezirke.

Und so stapften sie ohne besondere Eile durch die engen Straßen und Gassen und ignorierten die Leichen und den Gestank und die blutverschmierten Pflastersteine. Eine Hasche wanderte zwischen ihnen hin und her, bis sie leer war. Bei der erstbesten Gelegenheit wurde sie durch eine neue ersetzt. Der Wein war größtenteils lausig schlecht, aber Wein war Wein, oder? Die beiden Soldaten grölten Schlachtlieder und vulgäre Zoten, wenn sie nicht gerade plünderten oder Leute umbrachten; aber irgendwie wollte keine rechte Stimmung aufkommen.

Bis sie ein Mädchen fanden , das sich in den Ruinen eines Hauses zu verbergen versuchte , welches die beiden bisher übersehen hatten.

Das Mauerwerk war schwarz und versengt , sämtliche Fenster zersplittert, aber ansonsten war das Gebäude relativ unbeschädigt. Genau der richtige Platz für einen verängstigten Flüchtling, um sich darin zu verstecken was auch der Grund dafür war, warum Kast und Morgan es überhaupt durchsuchten. Das Mädchen mochte vielleicht fünfzehn Jahre alt sein. Es war zu Tode verängstigt und zitterte am ganzen Leib, und es starrte die beiden Soldaten aus weit aufgerissenen Augen und mit fle-hendem Gesicht an.

Die Kleider des Mädchens waren zerrissen und rußgeschwärzt, und es sah ungefähr so appetitlich aus wie ein halb verbranntes Steak, doch Kast und Morgan waren nicht verwöhnt. Sie stießen die einzige Tür hinter sich zu und grinsten sich gegenseitig an.

»Das hat uns die ganze Zeit über gefehlt«, sagte Kast, »‘ne Invasion is’ keine richtige Invasion, bevor man nich’ sein Ding irgendwo reingesteckt hat.«

»Wer als erster?« fragte der mehr praktisch veranlagte Morgan. »Und damit du’s weißt: Nö, ich werf diesma’ keine Münze!«

Also spielten sie Schere Stein Papier, bis Kast gewonnen hatte. Er nestelte an seinem Gürtel herum. Das Mädchen startete einen Fluchtversuch. Morgan fing sie spielerisch wieder ein und zog sie an sich. Sie kratzte ihm durchs Gesicht, suchte mit ihren Nägeln seine Augen. Morgan wirbelte sie herum und bog ihr die Arme auf den Rücken. Sie trat und wehrte sich immer noch, also drückte er sie so fest an sich, daß ihr die Luft ausging, und schleuderte sie Kast vor die Füße. Er kniete vor ihr nieder, grinste fröhlich, und sie spuckte ihm ins Gesicht . Er gab ihr fast beiläufig eine Ohrfeige, und die Wucht seines Schlags ließ sie rückwärts taumeln . Sie fand an der Wand Halt . Schwer atmend blickte sie gehetzt von Kast zu Morgan und wieder zurück. Blut und Schleim tropften ihr aus der Nase. Kast grinste sie an.

»Wehr dich nur, soviel du willst, Kleines. Ich mag es, wenn ihr euch wehrt. Wenn du gut bist, ich meine wirklich gut, dann kriegst du hinterher auch ‘ne Belohnung. Wir lassen dich am Leben.«

Und dann erstarrten die beiden Marineinfanteristen. Draußen auf der Straße hatte jemand ihre Namen gerufen. Sie warteten in der Hoffnung, der Rufer würde weitergehen; doch die Stimme erklang erneut, diesmal lauter. Das Mädchen spannte sich und wollte schreien; Morgan schlug erneut zu.

»Verflucht«, stöhnte Kast. »Alle möglichen Leute hätten sie hinter uns herschicken können, aber es muß ausgerechnet der Sergeant Franke sein. Er würde uns das hier niemals durchgehen lassen. Er glaubt, er sei zum Offizier geboren, der Blöd-mann.«

Morgan zuckte die Schultern, machte einen Schritt nach vorn und schnitt dem Mädchen mit einer ökonomischen Bewegung die Kehle durch. Es sackte an der Wand zusammen und umklammerte die klaffende Wunde mit den Händen.

Blut sprudelte zwischen den Fingern hervor; dann fiel das Mädchen zu Boden. Kast fluchte lästerlich und schloß seinen Gürtel .

»Mach dir nichts draus«, tröstete ihn sein Freund Morgan.

»Wir werden schon noch die eine oder andere Gelegenheit bekommen . Franke kann schließlich nicht überall sein

Sie grinsten sich an und gingen fröhlich pfeifend auf die Straße hinaus. Alles in allem machte ihnen die Invasion eine Menge Spaß.

Der Raumhafen im Technikerviertel lag in Schutt und Asche.

Eine Zeitlang hatte die schwere Disruptorkanone aus dem abgestürzten Imperialen Raumschiff Dunkelwind die Angreifer in ihren Antigravbarken auf Distanz halten können. Auf kurze Entfernungen brauchte die Kanone keinen Feuerleitrechner, um ihre Ziele zu finden. Doch schon nach kurzer Zeit wichen die Angreifer in sichere Entfernung zurück und funkten die Unerschrocken um Hilfe an. Der Imperiale Raumkreuzer sandte sechs mit schweren Schilden ausgerüstete Pinassen, um die Kanone auszuschalten. Sie kamen brüllend aus der Nacht herab, zu schnell, um ein klares Ziel zu bieten, und zerstörten die Kanone in einer Explosion, die in ganz Nebelhafen zu hören war.

Nachdem der Raumhafen keine Verteidigung mehr besaß, jagten die Pinassen über das Flugfeld und schossen die Schiffe auf den Landeplätzen ab. Und während sie damit beschäftigt waren, rückten die Barken gegen den Kontrollturm vor.

Die Rebellenschiffe auf den Landeplätzen explodierten eins nach dem anderen. Feuerblitze erhellten die Nacht, und Rauch stieg in den Himmel. Merkwürdiges Licht flackerte auf und erlosch wieder, als die Hyperraumantriebe zusammenbrachen und ihre Energien freisetzten. Die Landeplätze waren jetzt stark radioaktiv verseucht, und das würde auch so bleiben, bis das Imperium industrielle Hochleistungsschrubber heranbrachte.

Einzig und allein das Schiff des Todtsteltzers, die Sonnenschreiter II, überlebte im Schutz ihrer mächtigen Schilde, einem Produkt überlegener Hadenmann-Technologie. Die Pinassen merkten die Sonnenschreiter II für spätere Maßnahmen vor und zogen weiter. Es gab genügend andere Ziele, mit denen sie sich beschäftigen konnten.

Der Kontrollturm leistete am längsten Widerstand. Er besaß eine gepanzerte Konstruktion und Fenster aus Stahlglas. Doch am Ende fiel auch er unter dem massierten Disruptorfeuer der am Himmel schwebenden Antigravbarken. Die Stahlglasfenster flogen nach innen, zerfetzt zu einem tödlichen Schrapnell, das jeden auf der Stelle tötete, der es gewagt hatte, im Turm zu bleiben. Um ganz sicherzugehen, daß niemand überlebte, setzten die Barken den Turm anschließend in Brand und überließen ihn allein seinem Schicksal.

Nachdem sie mit ihrer Arbeit fertig waren, schwebten Barken und Pinassen majestätisch anderen Zielen entgegen. Überall auf dem Raumhafen lagen Tote: Bodenmannschaften, die ihre Schiffe für Notstarts vorbereitet hatten, ganze Scharen von Einwohnern, die gedacht hatten, der stark verteidigte Raumhafen sei der sicherste Ort auf dem Planeten, und wohlhabende Bürger, die horrende Summen gezahlt hatten, um von der Nebelwelt geschmuggelt zu werden.

Die Schiffe des Imperiums hatten sie im Freien überrascht, wo es weit und breit kein Versteck und keine Fluchtmöglichkeit gegeben hatte. Sie hatten um Hilfe geschrien, die niemals kam, und waren am Ende gestorben.

Zerstörte Raumschiffe brannten auf den von Rissen durchzogenen Landefeldern. Die Überreste des einstigen Kontrollturms flackerten hell wie eine riesige Kerze, und die Wände schmolzen in der gewaltigen Hitze wie Wachs.

Der Raumhafen war gefallen.

Jung Jakob Ohnesorg führte Owen, Hazel, Silver und seine Schar von Bewunderern in die Stadt zurück, auf der Suche nach Menschen, die seiner Hilfe bedurften. Die vom südwestlichen Stadtrand zurückgeworfenen Imperialen Angreifer suchten inzwischen nach einem leichteren Zugang zur Stadt. Niemand zweifelte auch nur eine Sekunde daran, daß sie ihn finden würden.

Bald schon entdeckte Ohnesorg eine Straßenbarrikade, die unter dem Imperialen Ansturm zu fallen drohte, und rasch eilte er zur Unterstützung herbei. Die improvisierte Barrikade war aus Möbeln und anderen schweren Gegenständen errichtet worden, die man aus den umliegenden Häusern auf die Straße gezerrt, übereinandergestapelt und aneinander gebunden hatte, bis die resultierende Mauer gut ein Dutzend Fuß hoch stand.

Kleinere Möbel waren zerbrochen worden, und ihre hölzernen Überreste bildeten gezackte Spitzen, die aus der Barrikade her-vorragten und die andere Seite daran hindern sollten, den Verteidigern zu nahe zu kommen.

Eiserne Nägel waren zu Krähenfüßen verbogen worden, die Spitzen in Dung getaucht, und anschließend auf die Straße vor der Barrikade ausgestreut, wo die Sturmtruppen darauf treten mußten. Ohnesorgs kleine Armee ging hinter der Barrikade in Stellung und schoß mit Armbrustbolzen und Bleikugeln durch die Schießscharten auf jeden Angreifer, der mit einem Disruptor auf die Barrikade zielen wollte. Rasch wurde allen Beteiligten klar, daß nur ein Nahkampf das Schicksal der bedrohten Barrikade entscheiden konnte. Und weil die Barrikade die letzte Zufahrtsstraße ins Stadtzentrum blockierte, war ihre Kontrolle für beide Seiten von größter Bedeutung.

Und so stürmten die Imperialen Truppen über die Straße heran, geschützt durch massive Energieschilde, und feuerten im Laufen blind ihre Disruptoren ab. Die Energiestrahlen rissen breite Lücken in die Barrikade und setzten jeden Verteidiger in Brand, der das Pech hatte, im Weg zu stehen. Aber zum Glück gingen die meisten Schüsse daneben, und die Barrikade hielt dem ersten Ansturm stand. Die Rebellen feuerten auf die Beine der Angreifer, die einzig ungeschützte Stelle der hinter Ener-gieschildern verborgenen Soldaten. Ganze Sektionen der vorrückenden Streitmacht brachen ein, als die Truppen übereinander fielen und zu Boden stürzten. Und trotzdem rückten sie weiter vor, bis sich beide Seiten an der Barrikade gegenüberstanden, und nur noch Mut und Verzweiflung und nackter Stahl über den Sieg entschieden.

Owen und Hazel kämpften Seite an Seite, noch immer mental verbunden. Hazel brauchte kein Blut mehr und Owen keinen Zorn. Irgend etwas Neues war jetzt in den beiden am Werk, und dieses Etwas verlieh ihnen Kräfte und Schnelligkeit, die weit jenseits ihrer Vorstellungskraft lagen. John Silver hatte sein letztes Blut längst aufgebraucht, und nur noch Mut, Entschlossenheit und Pflichtgefühl hielten ihn auf den Beinen. Er hatte seine Furcht vor Owen und Hazel überwunden. Was auch immer die beiden sein mochten, sie waren ganz eindeutig die beste Waffe gegen die angreifenden Truppen, und so hatte Silver die Aufgabe übernommen, den beiden den Rücken freizu-halten. Wie es schien, brauchten selbst Götter hin und wieder jemanden, der ihre Schwachstellen schützte.

Interessanterweise konnte sich Silver nicht dazu überwinden, auch nur einen Dreck um Jung Jakob Ohnesorg zu geben. An dem Mann war etwas, das Silvers Nackenhaare zu Berge stehen ließ, obwohl er keinen Grund dafür nennen konnte. Vielleicht lag es daran, daß der legendäre Rebell zu vollkommen schien. Auf jeden Fall sah er zumindest aus wie ein Gott, wie er dort oben auf der Barrikade stand, das Schwert mit beiden Händen schwang und dem Imperium trotzte.

Der Kampf dauerte an. Überall vor, hinter und auf der Barrikade waren jetzt kleine Scharmützel im Gang. Owen und Hazel töteten jeden, der ihnen zu nahe kam. Sie brüllten ihre Schlachtrufe und wichen sogar Disruptorstrahlen aus, was eigentlich unmöglich sein sollte. Owens Shandrakor! erhob sich immer und immer wieder über den allgemeinen Lärm, und viele der Rebellen nahmen seinen Ruf auf. Inzwischen waren es fast genauso viele wie die, die Jakob Ohnesorgs Namen auf den Lippen hatten. Sie warfen die Imperialen Truppen zurück und stürmten am Ende selbst über die Barrikaden, um die Angreifer durch die Straßen zu jagen.

Handgemenge überall, wohin das Auge sah. Die Masse der Kämpfenden wogte mal hierhin, mal dorthin und trampelte über die Toten und die Verwundeten zu Tode. Die Truppen des Imperiums sangen Kampflieder und hielten dem Ansturm stand, denn hinter ihnen standen ihre bewaffneten Offiziere, und in ihren Adern zirkulierten benebelnde Kampfdrogen. Zu beiden Seiten der umkämpften Straße schwelten und brannten Häuser, und trotzdem hatten Kinder und Leute, die für den Nahkampf zu alt waren, auf den Dächern Stellung bezogen und bombardierten die Angreifer mit Dachziegeln und Steinen und kochendem Wasser. Sie nahmen sich Zeit zum Zielen, und manch ein Marineinfanterist wurde durch ein unerwartetes Geschenk von oben schachmatt gesetzt. Tobias Shreck und sein Kameramann Flynn befanden sich mitten im dicksten Trubel.

Sie zeichneten alles auf. Gegenwärtig waren sie in einen nahen Hauseingang geflüchtet und hielten die Köpfe gesenkt, während Flynns Kamera über den Kämpfenden schwebte und die besten Szenen festhielt. Tobias’ gemurmelter Kommentar wurde zunehmend heiser, doch er machte verbissen weiter. Er wußte, wenn es ihm irgendwie gelang, diese Aufnahmen an seinen Zensoren vorbeizuschmuggeln, dann würden die Nach-richtenagenturen einen ganzen Stapel neuer Preise und Auszeichnungen erfinden, nur um sie Tobias und Flynn zu verleihen. Das hier war genau das richtige Material.

Ffolkes war zunehmend sturer geworden im Hinblick auf das, was sie filmen durften und was nicht, und so hatten die beiden Reporter ihn mit dem Ruf: »Seht nur, dort drüben!« abgelenkt und waren im gleichen Augenblick in verschiedene Richtungen davongerannt. Als Ffolkes sich endlich darüber klargeworden war, wen von beiden er verfolgen oder wen er erschießen sollte, war es längst zu spät gewesen.

Tobias und Flynn hatten sich anschließend mit Leichtigkeit wiedergetroffen und waren aufgebrochen, um die Schauplätze der schwersten Kämpfe zu suchen. Es dauerte nicht lange, bis sie ein paar gefunden hatten. Und von diesem Zeitpunkt an waren sie vollauf damit beschäftigt gewesen, die Köpfe einzu-ziehen und Schüssen und anderen Angriffen auszuweichen, während sie von einem Brennpunkt zum anderen gerannt waren und Flynns Kamera alles aufgenommen hatte. Soldaten und Rebellen ignorierten Tobias und Flynn gleichermaßen , da sie offensichtlich keiner Partei angehörten , doch Kugeln, Disruptorstrahlen und einstürzenden Häusern war das egal. Tobias hätte am liebsten die Rebellen angefeuert, die in der Unterzahl und schlecht ausgerüstet waren und sich trotzdem nicht geschlagen geben wollten; aber das durfte er nicht riskieren – jedenfalls nicht, wenn er den Film, den er unter Lebensgefahr drehte, jemals im Imperium zeigen wollte. Also achtete er peinlich genau darauf, daß sein gemurmelter Kommentar neutral blieb, und ließ im übrigen die Bilder für sich selbst sprechen.

Der junge Meisterdieb namens Katze eilte über die Dächer und trug seinen Teil zur Verteidigung Nebelhafens bei. Er hatte alle von Cyder stammenden Botschaften abgeliefert, und genaugenommen hätte er inzwischen schon auf dem Weg zurück in den Schwarzdorn sein können, doch er konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen.

Nicht, daß er sich je als gewaltliebenden Menschen betrachtet hätte, doch die gnadenlose Zerstörung seiner Stadt hatte eine Wut in ihm erweckt, die er nicht mehr länger beherrschen konnte. Und so bewarf er die Soldaten unten in den Straßen mit Ziegeln und Steinen und allem, was er in die Hände bekam – jedenfalls wenn er nicht gerade Leute zurückriß, die ihrerseits Steine und Ziegel und alles mögliche warfen und von ihrem Enthusiasmus beinahe über den Rand der Dächer getrieben worden wären . Sie kannten sich auf den Dächern eben nicht so gut aus wie Katze.

Katze überwachte gerade die fachmännische Zerlegung eines gemauerten Schornsteins zwecks Gewinnung neuer Wurfge-schosse, als sein Blick zufällig auf das Ende der Straße fiel.

Dichter schwarzer Rauch hing in der Luft, der von aufsteigender heißer Luft und den Verwirbelungen vorbeifliegender Antigravbarken in diese und jene Richtung getrieben wurde.

Plötzlich teilte sich der Rauch und zeigte Katze ein halbes Dutzend Imperialer Marineinfanteristen, die ganz am Ende der Straße eine tragbare Disruptorkanone in Stellung brachten.

Ihr Plan schien offensichtlich. Sobald die Kanone erst feuerbereit war, mußten die Kanoniere nur noch ihre Männer zu-rückrufen, dann konnten sie schießen. Die Kanone würde die Barrikade und jeden in ihrer Nähe mit einem einzigen Schuß in Stecke reißen. Die Verteidiger hätten nicht den Hauch einer Chance.

Katze sprang noch im selben Augenblick auf und rannte über die steilen Dächer davon. Da er taubstumm war, hatte er keine Möglichkeit, die Verteidiger unten in den Straßen zu warnen, und bis er den Leuten auf den Dächern klargemacht hätte, was er wollte, wäre es zu spät. Also mußte er allein handeln. Leise bezog er über den Soldaten Position, während sie den Zusammenbau der tragbaren Kanone beendeten und die Zielerfassungsrechner hochfuhren. Sie hatten ihre Vorbereitungen bereits fast abgeschlossen, und Katze hatte nicht die leiseste Idee, wie er sie aufhalten konnte. Wenn er Steine oder andere Gegenstände auf sie schleuderte, würde er sie nur ablenken, und falls sie Disruptoren besaßen, würden sie ihn rasch vom Dach geschossen haben. Falls er auf sie heruntersprang, würde das Überraschungsmoment vielleicht reichen, einen oder zwei zu überwältigen, aber der Rest würde ihn zweifelsohne niederstrecken.

Auf der Suche nach Inspiration blickte sich Katze verzweifelt auf dem Dach um. Seine Augen leuchteten auf, als er einen schiefen Schornstein nicht weit vom Rand des Dachs entfernt entdeckte. Er ragte über die Dachkante hinaus, und ein verirrter Energiestrahl hatte eine Ecke herausgebrannt . Er sah aus, als genüge ein leichter Stoß, um ihn auf die Straße stürzen zu lassen. Katze überprüfte noch einmal die Position der Soldaten und ihrer Kanone. Genau unter dem Schornstein . Perfekt. Katze grinste und stemmte die Schulter gegen die Ziegel. Er druckte mit aller Kraft, doch der Schornstein gab nicht einen Millimeter nach. Er versuchte es erneut, diesmal mit Anlauf, und seine Füße rutschten auf dem schlüpfrigen Dach aus. Mit einemmal umgab ihn dichter schwarzer Rauch. Der Wind hatte gedreht. Katze ging in die Knie und hustete krampfhaft. Er rang nach Luft. Der Rauch war von glühender Asche durchsetzt, und Katze zog die Kapuze seines weißen Thermoanzugs über den Kopf, damit kein Funke in seine Haare kam. Unten auf der Straße war die Kanone inzwischen beinahe feuerbereit .

Voll stiller Wut lehnte Katze sich mit dem Rücken gegen den Schornstein, stemmte die Stiefel gegen die stabilsten Dachziegel und spannte sich mit all seiner Kraft. Hinter ihm gab das Gemäuer widerstrebend nach. Katzes Gesicht war schmerzverzerrt, während er sämtliche Energie in Beinen und Rücken freisetzte. Der Schmerz wurde stärker, und der Schornstein wollte immer noch nicht kippen. Katzes Herz drohte, ihm in der Brust zu zerspringen, und Schweiß strömte ihm übers Gesicht… und plötzlich brach der gemauerte Kamin ab und fiel. Es geschah ohne jede Vorwarnung. Im einen Augenblick nichts, und im nächsten schon ein lautes Krachen von brechenden Ziegeln und Mörtel, und der ganze verdammte Schornstein fiel in die Tiefe und riß Katze mit hinab.

Während des Sturzes drehte sich Katze reflexhaft, und suchte nach Vorsprüngen, an denen er sich festhalten konnte. Aus den Augenwinkeln erhaschte er einen flüchtigen Blick auf die erschrockenen Gesichter der Geschützmannschaft, die zu ihm hinaufschauten. Dann krachten die Ziegel wie ein Hammer auf sie hernieder, und sie wurden unter den Trümmern begraben.

Katzes suchende Hände fanden eine hölzerne Fensterlade, und es gelang ihm, sich daran festzuhalten. Einen Augenblick lang hing er mit seinem gesamten Körpergewicht an einer einzigen Hand, doch dann riß ihn der Schwung seines Sturzes herum, und es war ein leichtes für ihn, durch das offene Fenster in den darunterliegenden Raum zu segeln. Katze rollte sich auf dem Boden ab und krachte gegen die hintere Wand, wo er liegenblieb, bis er wieder einigermaßen zu Atem gekommen war.

Nachdem sein Puls sich wieder ein wenig beruhigt hatte, beschloß Katze, daß es an der Zeit war, in den Schwarzdorn und seine Sicherheit zurückzukehren. Er wollte nicht, daß Cyder sich seinetwegen Sorgen machte.

Alter Streit und alte Zwistigkeiten waren vergessen, als die Rebellen sich draußen in den Straßen Nebelhafens einem gemeinsamen Feind entgegenstellten. Eingeschworene Todfeinde kämpften Seite an Seite und hielten sich gegenseitig die Rük-ken frei. Es schien, als wäre inzwischen jeder, der auch nur halbwegs laufen und eine Waffe halten konnte, in den Straßen, um eine Stadt zu verteidigen, deren Bedeutung den Rebellen erst klargeworden war, nachdem man sie ihnen zu nehmen drohte. Selbst Owens Feinde aus dem ehemaligen Spionagenetz der Todtsteltzers leisteten ihren Beitrag, wie sich herausstellte. Zwar waren sie Geschäftsmänner, keine Krieger, aber ohne Waffengewalt und Entschlossenheit wären sie nicht zu dem geworden, was sie heute waren. Und vielleicht erinnerten sie sich auch an die idealistischen jungen Männer, die sie einst gewesen waren. Vielleicht regten sich in ihnen längst vergessen geglaubte Ideale.

Neeson der Bankier und Robbins der Immobilienhai kämpften Seite an Seite, und ihre Schwerter blitzten, als sie sich wieder an ihr altes Geschick im Umgang mit Waffen erinnerten.

Stacey der Rechtsanwalt kämpfte mit einem eleganten Rapier, und Conelly und McGowan von den Docks hackten mit Äxten eine blutigen Schneise durch die Feinde. Sie alle kämpften gut und tapfer und für Männer ihres Alters und in ihren behaglichen Stellungen mit überraschendem Erfolg.

»Verdammt, das tut vielleicht gut!« bemerkte Robbins in einer ruhigen Phase zwischen den Kämpfen. »Ich fühle mich wieder wie in alten Zeiten, als wir noch jung waren und die Welt verändern und das Imperium stürzen wollten. Und all das völlig gratis!«

Robbins lachte. »Das waren glückliche Zeiten. Alles war so einfach. Ich hatte sowieso schon angefangen , mich in meinem Beruf als Geschäftsmann zu langweilen.«

Die Schwarzdorn-Taverne war ein lodernder Trümmerhaufen.

Das obere Stockwerk ein flammendes Inferno , das Dach verschwunden, verschlungen von Feuer und Rauch, die in den Nachthimmel stoben. Drei Antigravbarken schwebten über der Taverne, und ihre Disruptorstrahlen hämmerten immer und immer wieder auf den Schwarzdorn herab. Flammen leckten über die Außenmauern, und große Risse taten sich auf. Im Innern herrschte nichts als Chaos, Panik und Rauch.

Johana Wahn stand mitten im ehemaligen Schankraum und hatte die Arme ausgebreitet wie eine Gekreuzigte. Ihre mentalen Kräfte waren das einzige, was die tödlichen Disruptorstrahlen aufhielt. Blut rann in stetigem Strom aus ihrem Mund, ihrer Nase und ihren Ohren. Ihr Gesicht war totenbleich, und ihre wilden Augen blickten in eine unendliche Ferne. Johana starb, und jeder ringsum wußte es. Sie war der einzige Schutz, den die Gäste des S chwar z dorn noch hatten, und die Anstrengung ließ sie Stück um Stück sterben.

Donald Royal hatte die wenigen Überlebenden in Gruppen eingeteilt, die mit Decken und Wassereimern bewaffnet jeden Brand im Keim erstickten, der im Schankraum auszubrechen drohte. Der Notfall hatte dem alten Mann neue Kräfte verliehen, und er wuselte herum wie jemand, der nicht halb so alt war wie er. Ratsmitglied McVey hatte Chances Kinder zu einer kleinen Gruppe versammelt, die sich von den Wänden der Taverne fernhielt . Donald Royals Partnerin Madeleine Skye stand im Eingang und hielt einen Disruptor in der Hand. Imperiale Truppen hatten längst die Tür aus den Angeln geschossen und versuchten seit einiger Zeit, Granaten durch die so entstandene Lücke zu schleudern. Skye hatte die erste rechtzeitig gesehen und sie im gleichen Augenblick wieder hinausgeworfen, da sie gelandet war. Anschließend hatte sie an der Tür Posten bezogen, um jeden zu entmutigen, der das gleiche noch einmal versuchen wollte .

Draußen auf der anderen Straßenseite beobachtete eine größere Gruppe von Marineinfanteristen geduldig den Eingang.

Sie waren bereit, sich um jeden zu kümmern, der herauszukommen wagte. Keiner der Angreifer war daran interessiert, Gefangene unter den Gästen des Schwarzdorns zu machen.

Hinter der Theke wurde Cyder nach und nach ziemlich betrunken. Ihre Taverne war nur noch ein Trümmerhaufen; sie saß in einem brennenden Haus in der Falle, und Katze war nirgends zu sehen. Sie hoffte nur, daß er in Sicherheit war, doch insgeheim zweifelte sie daran. Katze hätte schon längst wieder zurück sein müssen. Wahrscheinlich war er in einen Kampf geraten… Sie hatte ihm immer und immer wieder gesagt, daß er sich in nichts hineinziehen lassen sollte… Cyder schenkte sich einen weiteren Drink ein.

»Meint Ihr nicht, daß Ihr inzwischen genug habt?« fragte Donald Royal.

»Zur Hölle, nein!« antwortete Cyder. »Ich kann immer noch klar denken.«

»Und wenn wir plötzlich flüchten müssen? Ihr wärt viel zu betrunken.«

»Flüchten? Wohin denn? Die Taverne ist von Soldaten eingeschlossen. Wir sind im gleichen Augenblick tot, da wir den Kopf durch die Tür stecken. Selbstverständlich werden wir auch sterben, wenn wir hier bleiben. Wenn uns die Rammen nicht kriegen, dann der Rauch. Oder diese Wahnfrau bricht zusammen, und die Antigravbarken der Imperialen legen alles in Schutt und Asche. Habe ich noch was übersehen?«

»Es besteht immer die Möglichkeit, daß noch irgend etwas geschieht«, entgegnete Royal. »Irgendein glücklicher Umstand, irgendeine Gelegenheit. Wir müssen bereit sein, sie beim Schopf zu packen…«

Cyder schüttelte den Kopf. »Dazu ist es längst zu spät, Donald. Wir gehen nirgendwo mehr hin…« Sie brach ab, runzelte die Stirn und schnitt schließlich eine Grimasse. »Hört Ihr das Singen auch?« fragte sie.

Genau in diesem Augenblick brach eine Außenwand der Taverne ein. Die Ziegel polterten durcheinander, und draußen auf der Straße war ein Haufen toter Soldaten zu sehen. Flammen rasten auf die Bresche in der Mauer zu, wo sie dann von einer unsichtbaren Macht aufgehalten und zur Seite gelenkt wurden.

Und dort, direkt vor der Bresche, standen singend Investigator Topas und die Frau, die einst unter dem Namen Typhus-Marie bekannt gewesen war. Die beiden machtvollsten Sirenen, die es je im Imperium – oder besser außerhalb davon – gegeben hatte.

»Hab’ ich Euch’s nicht gesagt?« Donald Royal grinste Cyder an. »Also schön, Leute! Wir verschwinden von hier! Packt alles Notwendige ein, und dann nichts wie raus durch das Loch in der Mauer. Madeleine, Ihr helft mir mit Johana Wahn. Cyder, stellt diese verdammte Flasche weg, oder ich trete Euch in den Arsch, daß Euch die Ohren wackeln.«

Inzwischen waren die Flammen überall. Die Luft war unerträglich heiß. Energielanzen krachten durch die Decke, als Johanas Schild zu bröckeln begann. Donald packte sie am Arm und zerrte sie zur Lücke in der Wand. Inzwischen rannen ihr wahre Blutströme übers Gesicht, und bei jedem Atemzug spritzte Blut aus ihrem schmerzverzerrten Mund. Johanas Haut schimmerte in einem leichenfarbenen Blauweiß, und ihre Hand in der von Donald Royal war kalt und feucht. Sie sah aus wie ein Leichnam, den man aufgewärmt und wieder hatte erstarren lassen; aber irgendwie hielt sie ihren psionischen Schild noch immer aufrecht und schützte die Rebellen, die aus der brennenden Taverne flüchteten. Ihre Schritte waren steif und unsicher, und Donald mußte sie mit brutaler Gewalt zum Weitergehen zwingen. Sie war nicht mehr imstande, mit ihm oder irgend jemand anderem zusammenzuarbeiten, nicht einmal, wenn es um die Rettung ihres eigenen Lebens ging. Ihre gesamte Welt war auf die einfache Notwendigkeit geschrumpft, den Schild zu erhalten, selbst wenn sie dabei sterben mußte. Donald schob und zerrte sie zu dem Loch in der Wand, und er schleuderte sie fast in die kalte Nacht hinaus.

Hastig kletterte er hinterher und hustete krampfhaft den Rauch hinaus. Er fühlte sich alt und müde, und in seinem Kopf drehte sich alles, doch er ließ sich nicht gehen. Noch nicht.

McVey half Chance, seine Schutzbefohlenen wieder auf die Beine zu bringen, und gemeinsam führten sie die halb wahnsinnigen Kinder zwischen sich durch das Loch in der Wand hinaus auf die Straße. Chance zählte die Kinder immer und immer wieder durch, um sicherzugehen, daß er auch ja keines vergessen hatte. Sie weinten und schrien oder schluchzten einfach nur bebend, während Legions nicht enden wollender Schrei durch ihre Köpfe schnitt wie glühender Draht.

McVey blieb im Loch stehen und zählte alle durch, während die letzten Rebellen an ihm vorbeihasteten. Einer fehlte.

McVey zwang sich so nah an die Öffnung, wie er nur konnte, und starrte in den brennenden Raum dahinter . Der Zwerg Iain Castle kauerte noch immer neben Lois Barrons Leichnam, der zerschmettert unter dem herabgestürzten Deckenbalken lag . Er hielt Lois’ tote Hand in der seinen und schaukelte sanft vor und zurück . McVey rief seinen Namen, und Castle drehte sich geistesabwesend zu ihm um .

»Iain! Kommt hier herüber! Laßt Lois liegen! Ihr könnt nichts mehr für sie tun McVey brüllte sich heiser, um das Tosen der Flammen und die Motoren der Antigravbarken über ihren Köpfen zu übertönen.

»Ich lass’ sie nicht zurück!« brüllte Castle zur Antwort. »Ich lass’ sie nicht allein hier liegen!«

»Sie ist tot! Und wenn Ihr nicht macht, daß Ihr da raus-kommt, seid Ihr bald genauso tot!« McVey widerstand dem Impuls, vom Loch zurückzuweichen, obwohl die unvorstellbare Hitze seine Haut auf dem ungeschützten Gesicht und den Händen Blasen werfen ließ. »Iain! Bitte! Ich will Euch nicht auch noch verlieren!«

Castle nickte zögernd, rappelte sich auf und taumelte durch den rauchgeschwängerten Schankraum auf das Loch in der Wand zu. Er stapfte geradewegs durch die Flammen, als würde er sie gar nicht bemerken, und stolperte mit brennenden Kleidern auf die Straße hinaus. McVey riß sich den Umhang von den Schultern und hüllte Castle darin ein, um das Feuer zu ersticken. Neben ihm sank Johana Wahn unvermittelt zu Boden, als wäre auf einen Schlag alle Kraft aus ihr gewichen. Ihr Mund erschlaffte, und ihre Augen sahen nichts mehr. Nicht weit von ihr entfernt sangen Investigator Topas und die Typhus-Marie noch immer im Duett, und ihre Stimmen verbanden sich mit ihrem ESP zu einem Schild, der die Rebellen schützte. Ihre Stimmen hoben und senkten sich in einstudierten Harmonien, und ein psionischer Energiesturm knisterte auf ihren Befehl hin durch die Straßen und hielt die Imperialen Streitkräfte auf Abstand.

Donald Royal bemerkte plötzlich, daß seine Partnerin fehlte.

Sie war nicht mit nach draußen gekommen. Ringsherum rannten Leute durcheinander, doch nirgends war auch nur eine Spur von Madeleine Skye zu sehen. Donald schob sich durch die Menge und packte McVey am Arm. »Wo steckt Madeleine? Ist sie nicht mit Euch nach draußen gekommen?«

»Ich habe sie nicht gesehen! Ich hatte meine eigenen Probleme!« McVey befreite sich aus Royals Griff, und Donald blieb allein zurück und starrte auf die brennende Taverne. Er ging auf das Loch in der Mauer zu und hielt wegen der gewaltigen Hitze die Hände schützend vors Gesicht. Der Schankraum war mittlerweile nur noch ein Flammenmeer, und dichter schwarzer Rauch quoll aus der Bresche. Donalds Herz zog sich schmerzvoll zusammen, als ihm klar wurde, daß Madeleine noch immer dort drinnen sein mußte. Immer und immer wieder rief er ihren Namen, doch es kam keine Antwort. Donalds Mund wurde zu einem schmalen Strich.

Er wußte, was er zu tun hatte. Er zog seinen Umhang vors Gesicht und schickte sich an, durch das Loch zu stapfen.

Nach wenigen Schritten blieb er wieder stehen. Die Hitze war einfach zu stark für ihn. Er versuchte es erneut und nahm all seinen Mut und seine Entschlossenheit zusammen, um sich gegen die Flammen voranzuzwingen; doch sein alter Körper wand sich und zuckte trotz aller Willenskraft vor der schrecklichen Hitze zurück. Er wollte einfach nicht weiter. Flammen leckten an seinem Umhang empor, und der Stoff fing Feuer.

Plötzlich wurde er von fremden Händen nach hinten gezerrt, und andere Hände klopften auf seine Schultern und über seinen Leib, um die Flammen zu ersticken. Donald wehrte sich verzweifelt.

»Laßt mich los, verdammt! Madeleine ist noch immer da drin!«

»Wenn sie wirklich noch da drin ist, dann ist sie inzwischen tot!« erwiderte Gideon Stahl, der Raumhafendirektor, und hielt den alten Mann mit entschlossenem Griff fest.

Donald stellte seine Gegenwehr ein. »Wenn sie tot ist, dann will ich auch sterben. Sie war meine Tochter, in jeder erdenkli-chen Hinsicht. Sie ist alles, was mir noch geblieben ist.«

»Ihr dürft hier nicht sterben«, widersprach Stahl. »Ihr werdet noch gebraucht. Ihr seid ein Ratsmitglied und ein alter, respektierter Kämpfer, dessen Name noch immer Menschen mobili-siert. Wagt es ja nicht, jetzt einfach aufzugeben, Donald Royal!

Ihr habt uns allen jahrelang erzählt, was für ein Held Ihr einst gewesen seid. Jetzt beweist es endlich, verdammt noch mal!

Beweist es auf eine Art und Weise, die zählt . Ihr könnt nicht wieder in die Taverne zurück. Niemand kann das.«

»Früher hätte ich es gekonnt«, entgegnete Donald Royal.

»Als ich noch ein Held war. Als ich jung war.«

Und dann zersplitterte eines der Fenster, und eine Gestalt sprang inmitten eines Feuerballs durch die Scheibe. Sie prallte auf das Kopfsteinpflaster der Straße , rollte sich ab, sprang auf und schleuderte ihren brennenden Umhang beiseite . Madeleine Skye klopfte mit schwarzen und verbrannten Händen über ihre schwelende Kleidung. Sie war zwar ein wenig angesengt, aber sie lebte noch und schien weitgehend unverletzt. Donald sprang vor, nahm sie in die Arme, und sie drückte ihn fest an sich.

»Ich hab’ in all dem Feuer und dem Rauch ein wenig die Orientierung verloren«, erklärte sie schließlich atemlos. »Ich wußte nicht mehr, wo zur Hölle ich war, ganz allein in diesem Loch. Dann hab’ ich dich rufen hören. Du hast mir damit nach draußen geholfen, Donald. Ich bin dir was schuldig.«

»Nein, bist du nicht«, widersprach Royal. »Du bist Familie.«

Cyder schwankte betrunken umher und beobachtete, wie ihre Taverne niederbrannte. Noch immer hielt sie eine Flasche von ihrem guten Brandy in der Hand. Der Schwarzdorn war ihr Zuhause und ihre Zuflucht gewesen. Cyders Gesicht blieb kühl und unbeteiligt. Ihre Augen waren trocken, und ihr Mund war ein entschlossener Strich. So leicht gab sich Cyder nicht geschlagen.

»Meine wundervolle Taverne!« sagte sie schließlich. »Du solltest mich reich machen. Reich, reich, reich!«

Johana Wahn brach endgültig zusammen. Ihre Kräfte hatten sie nun endgültig verlassen. Entschlossenheit und Willenskraft konnten sie nicht mehr weiter tragen, und sie verlor das Be-wußtsein. Der psionische Schild brach zusammen, und die Disruptorstrahlen der Antigravbarken krachten nun ungehindert in die Taverne. Schließlich brach das Gebäude auseinander . Die Wände fielen in sich zusammen, und die Decke stürzte ein.

Flammen schossen triumphierend in den nächtlichen Himmel hinauf. Das Lied von Topas und Marie schützte die Rebellen vor dem Feuer und den umherfliegenden Trümmern. Innerhalb von Sekunden war vom Schwarzdorn nur noch ein verkohltes Gerüst übrig, aus dem meterhohe Flammen schlugen. Stahl kniete neben Johana Wahn nieder, tastete nach ihrem Puls und hob eine Augenbraue.

»Erstaunlich. Sie weilt noch immer unter den Lebenden.

Chance, bringt sie von hier weg. Bringt sie zusammen mit Euren Kindern in die Gildenhalle der Espervereinigung. Dort wird man sich um Euch kümmern. Verrücktes Stück Weib. Das verdammt noch mal tapferste Ding, das ich in meinem ganzen Leben gesehen habe.« Er stand auf und erhob seine Stimme über den allgemeinen Lärm. »In Ordnung, alles verteilt sich!

Ihr kennt unseren zweiten Treffpunkt! Wir treffen uns dort in exakt einer Stunde von jetzt an! Keine Ausflüchte! Und jetzt setzt Euch in Bewegung!«

Und so gingen alle auf verschiedenen Wegen davon, halfen denen, die Hilfe benötigten und trugen die, die nicht mehr laufen konnten. Sie gingen in kleinen Gruppen zu zweit oder dritt und folgten den Pfaden, die der Rat vor Jahren für den Notfall ausgearbeitet hatte. Sie verschwanden im dunklen Labyrinth der Straßen und Gassen und waren sicher, daß keine Imperialen Truppen ihnen folgen konnten, ohne sich innerhalb weniger Augenblicke hoffnungslos zu verlaufen . Niemand redete von Kapitulation. Sie waren weder gebrochen noch geschlagen.

Schließlich hatten sie immer gewußt, daß dies ein Kampf auf Leben und Tod werden würde.

Bald schon waren alle verschwunden mit Ausnahme von Investigator Topas und der Typhus-Marie. Noch immer knisterte ihr Lied ringsum und erstickte Legions Schrei. Noch immer hielt das Lied die Truppen auf Distanz und deckte den Rückzug ihrer Freunde und Verbündeten. Sie waren die beiden machtvollsten Sirenen, die das Imperium je hervorgebracht hatte, und sie würden nicht weichen. Und dann plötzlich ließ der Druck nach. Die Antigravbarken schwebten nach getaner Arbeit weiter, und die Truppen zogen sich zurück. Topas und Marie hörten auf zu singen, um ihre Kräfte zu schonen. Die Welt ringsum war noch immer ein Chaos aus Flammen, Schreien und Kampfgetöse; doch dieser spezielle Teil der Welt schien mit einemmal merkwürdig still und ruhig. Als hätte irgendeine neue Macht die Bildfläche betreten. Topas und Marie blickten sich an. Hinter ihnen ertönte ein langsamer Applaus. Die beiden Frauen wirbelten herum und sahen sich einem großen, finsteren Mann in der Uniform eines Investigators gegenüber, der sie gelassen von der anderen Straßenseite her beobachtete. Topas runzelte die Stirn. Sie hätte eigentlich hören sollen, wie er sich näherte, selbst in all diesem Lärm und Chaos. Sie hätte wissen müssen, daß er gekommen war. Sein Schwert und der Disruptor hingen noch immer an seiner Hüfte, doch in einer Hand hielt er das Ende einer stählernen Kette, deren anderes Ende um den Hals eines nackten Mannes lag. Der Mann schien halb verhungert. Er war über und über mit Schmutz bedeckt, und seine nackte Haut zeigte deutliche Spuren von Mißhandlungen. Die linke Hälfte seines Schädels war chirurgisch entfernt worden, und das Gehirn darunter lag offen und war nur durch ein klares Stück Stahlglas geschützt. Zahlreiche Stecker waren überall in dem grauen Gewebe verteilt, die durch silberne Leihingen miteinander verbunden waren.

»Ein hübscher Bursche, nicht wahr?« fragte der finstere Mann mit der Kette in der Hand. »Er gehört mir. Gestatten: Investigator Razor, zu Euren Diensten. Man hat mich geschickt, um Euch in die Arme des Imperiums zurückzubringen.

Man wird Euch lehren, wieder die richtigen Lieder zu singen.

Erspart mir Eure Proteste, meine Damen. Sie würden nichts ändern. Ihr habt in dieser Angelegenheit kein Mitspracherecht mehr. Diese erbärmliche Kreatur an meiner Kette besitzt keinen Namen mehr, lediglich eine Funktion. Es ist ein lebender ESP-Blocker. Eines der besonderen Projekte des Hohen Lords Dram, glaube ich. Diese Kreatur lebt und kann Befehle ausführen, und damit ist sie weitaus stärker und praktischer als die üblichen ESP-Blocker in ihren Schachteln. Dieser Blocker hier ist stark genug, um selbst unter Legions Einfluß zu funktionieren, und er arbeitet unauffällig genug, daß Ihr unsere Annäherung nicht bemerkt habt. Ich fürchte, Ihr werdet feststellen, daß die Macht Eurer Lieder vergangen ist, meine Damen. Also laßt Euer Gezeter und kommt lieber gleich mit. Euer Leben in diesem Elend hier ist zu Ende. Von jetzt an gehört Ihr wieder dem Imperium.«

Topas zog das Schwert. »Lieber sterbe ich.«

Razor zog ebenfalls blank. »Das können wir arrangieren. Ich erhalte zwar einen Bonus, wenn ich Euch beide lebendig zu-rückbringe; aber Geld hat mir noch nie viel bedeutet. Wenn es sein muß, wird man sich mit einer lebenden Sirene und einer toten Verräterin zufriedengeben. Außerdem wollte ich schon immer wissen, wer von uns beiden besser ist.«

Er ließ die Kette fallen, doch der lebende ESP-Blocker blieb, wo er war. Er würde keinen Schritt ohne Befehl gehen. Die Typhus-Marie wich vor Topas zurück und schüttelte den Kopf.

»Ich kann dir nicht helfen, Topas«, sagte sie. »Es tut mir leid.

Ich werde nie wieder töten. Auf gar keinen Fall.«

»Das geht schon in Ordnung«, antwortete Topas und rückte gegen Razor vor. »Halte dich einfach im Hintergrund, damit du nichts von seinem Blut abkriegst.«

Und dann schossen Topas und Razor gleichzeitig vor und prallten zusammen. Funken stoben im Nebel, und Rauch wirbelte auf, als ihre Schwerter aufeinanderprallten. Sie finteten und schwangen ihre Waffen mit beinahe übermenschlicher Kraft und Schnelligkeit, zwei Investigatoren auf dem Höhepunkt ihrer Fähigkeiten und ihres Geschicks. Sie umkreisten einander und bedachten sich mit Schlägen, die die Verteidigung jedes anderen Kämpfers einfach beiseite gefegt hätten, während sie nach den Schwachstellen des Gegners suchten. Sie waren stark und schnell und wunderbar, und keiner von beiden wollte auch nur einen Zoll weichen.

Doch am Ende war Razor der ältere von beiden, und er wurde nicht von rohem Haß und dem verzweifelten Wunsch nach Rache angetrieben, wie sie durch Topas’ Adern strömten.

Langsam und erbarmungslos, Fuß um Fuß, Schritt um Schritt trieb sie ihn zurück, zwang ihn immer weiter in die Defensive, und Razor erkannte mit einemmal, daß er dem Tod gefährlich nahe war. Sein Stolz ließ ihn länger kämpfen, als eigentlich gut gewesen wäre; doch der Schmerz und das Blut der ersten kleineren Wunden, die ihm Topas’ Klinge zugefügt hatte, brachte ihn wieder zu Verstand. Er nutzte seine letzte Energie zu einem Ausfall und bedachte Topas mit einem Hagel von Schlägen, bis sie mit dem Rücken zur Typhus-Marie stand; dann erhob er die Stimme zu einem donnernden Befehl.

»Marie! Kode Delta drei! Töte Topas!«

Marie begann zu taumeln, als die einprogrammierten Kontrollworte in ihr Unterbewußtsein drangen. Die Espervereinigung hatte sich die größte Mühe gegeben , alle Spuren der Imperialen Konditionierung zu entfernen; doch einige Dinge waren so tief in ihrem Unterbewußtsein vergraben, daß nur ein andere Hirntech sie hätte finden können. Marie schrie auf, als die Programmierung die Oberhand über ihren Willen gewann und ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse rücksichtslos beiseite fegte. Die alte konditionierte Typhus-Marie erwachte wieder. Ihr Gesicht erschlaffte, und plötzlich sah jemand anderes aus ihren Augen. Und noch während Topas staunend erkannte, was da vor sich ging, trat die Typhus-Marie einen Schritt vor und schlug ihr mit geübter Hand ins Genick. Topas ging in die Knie. Sie drohte , das Bewußtsein zu verlieren, und das Schwert fiel ihr aus den unvermittelt kraftlos gewordenen Fingern. Marie beugte sich vor und schlug erneut zu, und Topas lag rettungslos im aufgewühlten Schnee.

Razor stand für einen Augenblick einfach nur da , während er nach Luft rang und darauf wartete, daß sein Puls sich wieder beruhigte.

Dann steckte er das Schwert weg und untersuchte Topas. Er fühlte ihren Puls und runzelte die Stirn. Dann sah er zu Marie hoch.

»Investigator Topas lebt noch. Ich hatte dir befohlen, sie zu töten!«

»Ich kann nicht«, antwortete Marie. »Ich kann niemanden mehr töten.«

»Du wirst mir gehorchen!« befahl Razor. Er erhob sich, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und funkelte sie von oben herab an. »Töte Investigator Topas!«

Marie zitterte am ganzen Leib, doch sie machte keinerlei Anstalten, etwas gegen Topas zu unternehmen. Zwei Gegensätze bekämpften sich in ihrem Kopf, und keine der beiden Seiten wollte nachgeben. Schließlich seufzte Razor, nahm die Typhus-Marie bei der Hand und schüttelte den Kopf. »Keine Sorge, Marie. Sie werden dich erneut brechen, und dann wirst du wieder jeden töten, den wir dir zu töten befehlen. Und du wirst dabei sogar lächeln. Was Topas angeht – sagen wir einfach, die Hexe ist im Kampf gegen mich gefallen

Er legte die Hand ans Schwert… und in diesem Augenblick traf ihn die Stahlkugel aus Katzes Schleuder mitten zwischen die Augen. Razors Kopf flog nach hinten, seine Augen drehten sich nach innen, und er stürzte zuckend in den Schnee. Katze fiel lautlos aus der Dunkelheit über den Dächern und eilte zu Topas. Er rüttelte sie heftig an der Schulter, doch sie reagierte nicht. Katze machte ein unglückliches Gesicht. Es war offensichtlich, daß sie mehr Hilfe benötigte, als er ihr geben konnte.

Irgend jemand zupfte ihn am Ärmel, und Katze wirbelte herum. Der nackte Mann kauerte neben ihm.

»Bitte«, flüsterte der lebende ESP-Blocker. »Bitte töte mich.

Laß mich nicht so weiterleben.«

Katze zog das Messer und schob es dem Mann ins Herz. Der nackte Mann zuckte zusammen und bemühte sich, Katze anzulächeln. Blut sprudelte aus seinem Mund. Katze zog das Messer wieder heraus, reinigte es an seinem Hosenbein und steckte es weg. Das Töten fiel ihm von Tag zu Tag leichter. Er wußte nicht, ob ihm gefiel, was dieser… Krieg aus ihm machte. Er beschloß, später darüber nachzudenken, und konzentrierte sich auf das, was vor ihm lag. Razor regte sich bereits wieder , und Katze überlegte, ob er ihn ebenfalls töten sollte. Er entschied sich dagegen; er wollte Razor nicht zu nahe kommen. Der Mann war schließlich ein Investigator. Er blickte von Topas zu Marie und wieder zurück. Er konnte nicht beide retten. Und Topas war zwar genaugenommen nicht sein Freund, aber er vertraute ihr doch ein verdammt gutes Stück mehr als der Typhus-Marie. Sie hatte schon einmal versucht, ihn umzubringen, damals, als sie zur Nebelwelt gekommen war, und nun, da ihre Konditionierung wieder erwacht war, konnte niemand sagen, was sie als nächstes tun würde. Also wandte er ihr fast ohne jedes Bedauern den Rücken zu, wuchtete sich Topas über die Schulter und verschwand rasch in den alles verbergenden Schatten.

Razor kam langsam wieder zu sich. Er setzte sich auf und zuckte unwillkürlich zusammen, als er den bösartigen Schmerz zwischen den Augen bemerkte. Er legte eine Hand auf die schmerzende Stirn und zwang sich auf die Beine. Offenbar wurde er alt. Seine Instinkte hätten ihn warnen müssen, daß noch ein dritter Mann im Spiel war. Fast wäre er über den toten ESP-Blocker gestolpert. Razor fluchte kurz. Der Hohe Lord Dram würde bestimmt nicht erfreut sein, daß er den Prototypen gleich beim ersten Einsatz verloren hatte. Außerdem war Topas verschwunden. Razor zuckte die Schultern. Er hatte immer noch die Typhus-Marie. Razor vernahm das Geräusch sich nähernder Schritte und blickte die Straße hinab. Er sah einen Trupp Marineinfanteristen, die sich durch den Nebel näherten.

Sie würden ausreichen, um ihn zur Herausforderung zurück zu eskortieren. Und dann würden die Hirntechs des Schiffes sich mit dem Verstand der Typhus-Marie auseinandersetzen und alles aus ihr heraussaugen, was sie wissen mußten. Marie hatte ganz eng mit der Ratsversammlung zusammengearbeitet, und sie wußte ohne Zweifel eine Menge nützlicher Dinge: einschließlich jenes Ortes, an dem sich der verstreute Rat wieder versammeln würde. Razor nahm die Typhus Marie beim Arm und führte sie mit sich davon. Sie begleitete ihn ohne Widerstand, und wenn sich hinter ihren starren Augen so etwas wie Angst regte, dann sah es zumindest niemand.

Owen Todtsteltzer, Hazel d’Ark und Jung Jakob Ohnesorg kämpften unvermindert weiter gegen eine unglaubliche und unaufhaltsame Übermacht, und Owen für seinen Teil wurde der ganzen Sache allmählich müde. Er wurde es müde zu kämpfen, ohne daß ein Ende in Sicht war; er wurde des Anblicks von Feinden müde, die fielen, nur um durch neue ersetzt zu werden; er wurde des niemals enden wollenden Schmerzes in Rücken und Armen müde, und er wurde des Gestanks von frisch vergossenem Blut und freiliegenden Eingeweiden müde, während irgendein weiteres armes Schwein durch seine Waffe fiel. Owen hatte an unzähligen Orten in ebenso unzähligen Schlachten gekämpft, und er hatte Verwundungen überlebt, die jeden geringeren Mann getötet hätten. Er war schon so oft der drohenden Niederlage entgangen, und nun fing wieder alles von vorne an.

Owen hatte sich nie nach dieser Art von Leben gesehnt. Er hatte nie ein Held und Führer und die Hoffnung der Menschheit sein wollen. Er war ein Gelehrter, kein Kämpfer. Und trotzdem ging er immer wieder dorthin, wo er gebraucht wurde, und immer und immer wieder warf er sich mitten ins dichteste Schlachtgetümmel, weil es außer ihm niemanden gab…

Er war der Todtsteltzer, und er würde das Gesicht nicht vor der Schlechtigkeit des Imperiums abwenden, genausowenig wie vom Leid der Unschuldigen. Er würde sich der Übermacht seiner Gegner stellen und wieder einmal im letzten möglichen Augenblick triumphieren… oder vielleicht doch nicht.

Gleichwie, er war die ganze Sache verdammt leid.

Owen stand Rücken an Rücken mit Hazel und hieb alles nieder, was sich ihm entgegenstellte. Er war auf dem Gipfel seiner im Labyrinth des Wahnsinns gewonnenen Fähigkeiten: Er war schnell, stark und tödlich weit über das menschliche Maß hinaus, und zum ersten Mal fragte er sich, ob das genug war. Die Flut der Angreifer schien kein Ende nehmen zu wollen. Ohnesorg und der Rest der kleinen Rebellenstreitmacht waren im Kampfgetümmel davongespült worden, und Owen und Hazel waren wie schon so oft wieder auf sich allein gestellt. Und so machtvoll sie auch sein mochten, sie waren nur zu zweit, und das Imperium hatte eine Armee. Marineinfanteristen stürmten aus allen Richtungen heran, endlose Wellen kampfbereiter Männer, vorangetrieben von Offizieren, die ihnen sofort in den Rücken schießen würden, sollten sie sich zur Flucht wenden.

Die Soldaten warfen sich gegen Owen und Hazel, wie ein Ozean gegen einen starrsinnigen Felsen an der Küste brandet, und Stück für Stück schliff der Feind den Felsen ab.

Owen und Hazel brannten langsam aus. Ihre eigene übermenschliche Energie verzehrte sie von innen heraus. Sie waren zu stark und zu schnell, und sie verlangten einfach zu viel von ihren lediglich menschlichen Körpern. Jeder einzelne ihrer Muskeln schmerzte inzwischen, jeder Nerv schrie, und ihre Lungen brannten vor Not nach mehr und mehr Sauerstoff .

Der menschliche Körper war einfach nicht dazu geschaffen, derartige Belastungen auszuhalten. Die Veränderung, die das Labyrinth des Wahnsinns an ihnen vorgenommen hatte, ließ sie durchhalten, heilte ihre Wunden und ermöglichte es ihnen, selbst dann noch auf den Beinen zu bleiben und zu kämpfen, als sie von der gewaltigen Übermacht eigentlich schon lange hätten bezwungen sein sollen; doch die Anstrengung brachte sie nach und nach um, und sie wußten es.

Sie waren schließlich nicht dumm.

Owen und Hazel wären augenblicklich davongelaufen, hätte es nur einen Fluchtweg gegeben oder einen Ort, zu dem sie hätten rennen können. Doch die Soldaten waren überall, und mittlerweile gab es in ganz Nebelhafen keine sichere Zuflucht mehr. Und so kämpften die beiden weiter wie Maschinen. Der Wille zu überleben war das einzige, was sie noch auf den Beinen hielt. Leichen stapelten sich rings um sie herum und engten ihre Bewegungsfreiheit zusehends ein. Owen dachte sehn-süchtig an die Macht, die er gegen das Gildenhaus eingesetzt hatte, um die ehemaligen Spione seines Vaters zu disziplinie-ren. Er hatte das Haus durch reine Willenskraft geräumt und niedergerissen; doch jene Willenskraft wohnte längst nicht mehr in ihm. Er hatte sie in diesem anscheinend endlosen Kampf vollkommen aufgebraucht.

Und noch während bewaffnete Männer heranstürmten und über die Leichen der Gefallenen kletterten, um sich auf den Todtsteltzer und seine Begleiterin zu stürzen, führte Major Chevron weitere Verstärkungen heran. Die letzten Verteidiger der Nordseite waren vor seinen Truppen gefallen, und er war auf dem Vormarsch in Richtung Stadtzentrum, als sein Vormarsch unvermittelt ins Stocken geriet und seine Streitkräfte nicht imstande waren, sich einen Weg durch den Flaschenhals zu bahnen, den Owen und Hazel entschlossen verteidigten.

Chevron hätte seine Leute zurückbeordern und durch andere Straßen schicken können; doch als er sah, wer und was das Problem verursachte, hatte er sich dagegen entschieden. Inzwischen hatte jeder vom Todtsteltzer gehört, und große Belohnungen zusammen mit noch größeren Privilegien erwarteten den Mann, der den Todtsteltzer in die Knie zwang. Chevron warf seine Männer nach vorn und wartete geduldig, daß seine Hunde des Krieges die Platzhirsche rissen.

Wenn Owen und seine Hexe schließlich fallen würden, konnte er vortreten und ihnen den Gnadenstoß versetzen, und das wäre es gewesen. Er würde im Triumph durch die brennenden Straßen Nebelhafens marschieren und den Kopf des Todtsteltzers auf einem Spieß vor sich hertragen, und niemand würde daran zweifeln, wer der wahre Held bei der Eroberung Nebelhafens war.

Die schiere Übermacht zwang Hazel und Owen immer weiter zurück, Schritt um Schritt, bis sie schließlich in einer Sackgas-se steckten, die nur einen einzigen Ausgang besaß, und dieser Ausgang war von den angreifenden Marineinfanteristen versperrt . Hohe Steinwände ragten zu drei Seiten in den Nachthimmel empor, und Owen und Hazel hatten keine andere Wahl, als sich zum letzten Gefecht zu stellen und zu sterben.

Die Marineinfanteristen rückten weiter vor, trunken von Blut und Tod und vollgepumpt mit Designer-Kampfdrogen, und sie scherten sich einen Dreck um die toten Kameraden, über die sie klettern mußten, um zu ihren Feinden zu gelangen. Owen Todtsteltzer und Hazel d’Ark kämpften jetzt Seite an Seite, mit dem Rücken zur Wand, und ihre Kräfte versagten nach und nach. Sie spürten die Wunden nicht und auch nicht das eigene Blut, mit dem ihre Kleidung durchtränkt war. Chevron beobachtete das Geschehen aus sicherem Abstand, schnitt eine ungeduldige Grimasse und gab dann Kast und Morgan ein Zeichen, die tragbare Disruptorkanone in Stellung zu bringen. Auf diese Weise würde die Angelegenheit zwar ekelhafter, aber dafür um so sicherer enden.

Die beiden Marineinfanteristen brachten die Kanone rasch in Position, richteten sie auf den Hinterhof und aktivierten die Dioden, die den Status der Aufwärmsequenzen anzeigten. Kast und Morgan waren von Chevrons Truppen aufgelesen worden, als sie von Norden her in Richtung Zentrum vorrückten. Sie hatten sich freiwillig gemeldet, die tragbare Kanone zu schleppen. Teilweise, weil sie auf diese Weise weiter vom eigentlichen Kampfgeschehen entfernt waren, aber größtenteils, weil sie sich mit einer Disruptorkanone zwischen sich und den überlebenden Rebellenkämpfern doch um einiges sicherer fühlten.

Die Einnahme Nebelhafens hätte eigentlich ein Spaziergang werden sollen; doch anscheinend hatten die Rebellen vergessen, einen Blick ins Drehbuch zu werfen. Sie wußten offensichtlich nicht, daß sie längst geschlagen waren. Also hielten Kast und Morgan die Köpfe unten und beschäftigten sich mit der Kanone, machten sie scharf und schußbereit und blickten schließlich fragend zu Chevron. Der Major rief seinen Leuten, sich zurückfallen zu lassen, damit die Kanone freies Schußfeld hatte, doch sie hörten ihn nicht. In ihren Köpfen waren nur Drogen und der Geruch des Sieges. Chevron brüllte erneut, und seine Stimme überschlug sich fast vor Wut, weil seine Männer nicht hören wollten. Dann drehte er sich zu Kast um Morgan um und nickte entschlossen. Die beiden sahen zu ihren Kameraden in der Schußlinie, schauten sich nachdenklich an, und schließlich zuckte Morgan die Schultern. Kast betätigte den Abzug der Kanone.

Ein dicker Energiestrahl fuhr brüllend in die Menge und löste alles in seine Bestandteile auf, was ihm im Weg war. Die Marineinfanteristen wurden zur Seite gewirbelt wie brennende Blätter in einem Sturm. Owen und Hazel ahnten mehr, als sie sahen, was dort auf sie zukam, und dann wurden sie bereits von dem heulenden Energiestrahl getroffen. Sie errichteten ihre psionischen Schilde erst im allerletzten Augenblick, doch die Zeit war zu knapp gewesen, und der Schild bremste die tödliche Energie lediglich ab. Die Wucht reichte immer noch, um Hazel von den Beinen zu reißen und durch die steinerne Wand in ihrem Rücken zu schmettern wie eine Kanonenkugel. Owen warf sich zur Seite, und der Energiestrahl streifte ihn nur. Dennoch wurde er gegen die Wand zu seiner Linken geschleudert, so daß das Mauerwerk vom Boden bis zur Spitze riß. Der Strahl erlosch, und Owen sank beinahe ohnmächtig zu Boden.

Er hatte das Gefühl, als läge er hier schon eine Ewigkeit.

Seine gesamte linke Seite war taub. Langsam rollte er sich auf die andere Seite und bemühte sich, die Beine unter den Körper zu schieben. Sein Kopf hämmerte, und er schmeckte Blut im Mund. Die Welt ringsum schien mit einemmal ungewöhnlich still geworden zu sein. Die Geräusche der Schlacht waren weit entfernt . Es schien fast so, als hielte die Welt den Atem an, um abzuwarten, was als nächstes geschah.

Owen erhob sich auf ein Knie, schwankte schwach und zwang sich schließlich auf die Beine, indem er sich an der beschädigten Wand abstützte . Teile toter Soldaten, zerrissen, verbrannt und miteinander verschmolzen, lagen überall auf der Straße verteilt und markierten so den Weg, den der Strahl der Kanone genommen hatte. Zwei Marineinfanteristen und ein Offizier standen hinter der auf Owen gerichteten Kanone, die sich laut summend für den nächsten Schuß auflud. Die drei Soldaten schienen auf etwas hinter Owen zu starren, und er drehte sich langsam um. Er entdeckte das Loch in der Wand, wo Hazel gestanden hatte, und er wußte sofort, was das zu bedeuten hatte. Er legte den Kopf in den Nacken und stieß einen Schrei voller Wut und Schmerz aus, der von den Wänden ringsum widerhallte.

Hoch über ihm schwebte eine Kamera und filmte alles. Tobias Shreck und sein Kameramann Flynn waren auf ihren Streif-zügen auf Chevrons Soldaten getroffen, und da der Verband in Richtung Stadtzentrum unterwegs war, hatten sie sich ihm angeschlossen. Unglücklicherweise hatte sich Chevron als genauso unausstehlich erwiesen wie ihr offizieller Sicherheitsoffizier, Leutnant Ffolkes. Aber er ließ sie wenigstens in Frieden arbeiten, solange es gute Aufnahmen vom Vormarsch der Imperialen und ihren Siegen zu filmen gab – wie zum Beispiel die Gefangennahme und anschließende Exekution dieses höchst bekannten Verräters und Gesetzlosen: Owen Todtsteltzer.

Tobias konnte sein Glück kaum fassen. Einer der großen Wendepunkte der Geschichte, und er war genau zum richtigen Zeitpunkt an Ort und Stelle. Er hatte den Todtsteltzer im gleichen Augenblick erkannt, als er ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Für viele Menschen im Imperium war der Todtsteltzer zum Inbegriff der Rebellion geworden, und inzwischen er war fast genauso berühmt wie der legendäre Rebell Jakob Ohnesorg. Aus der Nähe betrachtet, sah der Todtsteltzer vollkommen anders aus, als Tobias ihn sich vorgestellt hatte. Er war weder hochgewachsen noch breitschultrig; aber trotzdem hatte er etwas an sich – eine Aura von Größe und Erhabenheit. Irgendwie wußte man augenblicklich, daß man einem Mann gegenüberstand, der das Schicksal des Imperiums in Händen hielt. Und doch stand er nun hier: besiegt , auch wenn das Imperium eine ganze Armee dazu gebraucht hatte. Der letzte Widerhall seines verzweifelten Schreis war noch nicht verklungen, ein schreckliches, furchteinflößendes Geräusch, das Tobias einen Schauder über den Rücken jagte. Es war der Schrei eines mächtigen Tieres, des letzten seiner Art, gejagt und in die Enge getrieben. Und es war ein wilder Schwur, Tod und Verwüstung und Blut, der Schrei eines Mannes, der nichts mehr zu verlieren hatte. Der Todtsteltzer senkte den Kopf und starrte die Soldaten an, die gegen ihn aufmarschiert waren. Tobias stockte der Atem. Der Todtsteltzer, ein einzelner Mann in blutgetränkter Kleidung, war mit einemmal das gefährlichste und furchteinflößendste Wesen, das Tobias je gesehen hatte. Ihm war, als stünde er einem heraufziehenden Sturm im Weg, einer machtvollen, unaufhaltsamen Naturgewalt. Tobias schluckte mühsam, doch er wich nicht zurück. Er war hier, um zu sehen, wie eine Legende ihr Ende fand. Flynn regte sich unruhig neben ihm.

»Was ist los mit dir?« erkundigte sich Tobias, ohne den Blick von der Szene abzuwenden. »Erzähl mir nicht, daß wir das alles nicht filmen?«

»Jedenfalls bekomme ich nicht alles drauf«, antwortete Flynn leise. »Hier ist irgendeine Art von Energie, die die Systeme meiner Kamera stört. Ich will verdammt sein, wenn ich wüßte, was das ist. Ich habe so etwas noch nie im Leben gesehen; aber es scheint, als sei sie um den Todtsteltzer herum konzentriert.«

»Behalt deine Spekulationen für dich, Flynn. Kommt das Bild deutlich durch oder nicht?«

»Ja, aber…«

»Dann geh auf Liveübertragung. Das gesamte Imperium wird das hier sehen wollen. Verdammt, wir haben vielleicht ein Schwein! Sie werden diese Aufnahmen noch in zwanzig Jahren wiederholen!«

»Ich habe ihn«, sagte Flynn. »Der arme Bastard.«

Owen Todtsteltzer blickte sich beinahe gelangweilt um. Er war gefangen in einem schmutzigen Hinterhof, umgeben von Toten und Sterbenden, und er stand einer Armee Imperialer Truppen mitsamt einer Disruptorkanone gegenüber. Es gab keinen Ausweg mehr für ihn. Wie es schien, hatten sich Chances Esper am Ende doch nicht getäuscht. Sie hatten ihm prophezeit, daß er allein sterben würde, weit weg von seinen Freunden, und alles, woran er geglaubt und für das er gekämpft hatte, würde verlorengehen. Allerdings hätte Owen hätte nicht geglaubt, daß es schon so bald geschehen würde – oder daß die Prophezeiung auch Hazels Tod mit einschloß. Er hatte es nie geschafft, ihr seine Liebe zu gestehen, und jetzt war es zu spät dafür. Er musterte die Männer vor sich und hob das Schwert.

Blut troff von der Klinge. Owen hatte nicht die Absicht zu warten, bis die Kanone mit Nachladen fertig war. Ein letzter Akt des Trotzes, ein letzter Streich mit dem Schwert… Wenigstens würde er kämpfend untergehen, wie es sich für einen Todtsteltzer gehörte.

Noch ein paar Sekunden, um halbwegs wieder zu Atem zu kommen und sich über die merkwürdigen Wendungen zu amüsieren, die sein Leben genommen hatte. Das Leben war so schön gewesen; aber nun war Hazel tot; die Sache war verloren, und er konnte nur noch versuchen, in Würde zu sterben.

Owen würde so viele von den Bastarden mitnehmen, wie er nur konnte. Er grinste seine Feinde an, ein häßliches, humorloses Totenkopfgrinsen, und das Schwert in seiner Hand schien mit einemmal wieder ganz leicht.

Und genau in diesem Augenblick hörte er, wie sich hinter ihm etwas bewegte. Mit hochgerissenem Schwert wirbelte er herum, wütend darüber, daß sie ihm nicht einmal die Höflichkeit erweisen wollten , ihm ins Gesicht zu sehen, wenn sie ihn töteten… und sein Unterkiefer fiel herab, als er sah, wie sich Hazel d’Ark mit schmerzverzerrter Miene durch die Bresche in der rückwärtigen Mauer arbeitete. Sie war über und über mit ihrem eigenen Blut bedeckt und kalkweiß im Gesicht; doch sie hielt immer noch das Schwert in der Hand, und sie besaß noch immer genügend Energie, um Owen spöttisch anzugrinsen.

»Was ist los, Todtsteltzer? Du solltest doch inzwischen wissen, daß… ich nicht so leicht totzukriegen bin.«

Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Mauer und sank auf die Knie. Sie zitterte am ganzen Leib. Owen kniete neben ihr nieder und nahm ihre Hand in die seine. Hazels Hand war so kalt wie die einer Leiche. Sie hatte aus Mund und Nase geblutet, und noch immer tropfte etwas davon von ihrem Kinn. In seinem Bewußtsein spürte Owen ihre Präsenz, doch sie war schwach und verblaßte wie eine flackernde Kerze in einem dunklen Raum. Hazel lehnte an der Mauer und hatte die Augen halb geschlossen wie ein Läufer nach einem langen Rennen.

»Halt meine Hand, Owen. Ich hab’ Angst vor der Dunkelheit.«

»Ich halte sie schon, Hazel.«

»Dann halt sie hoch, damit ich es sehen kann. Ich spüre nichts mehr.«

Owen hielt ihrer beider Hände vor Hazels Gesicht, und sie grinste mühsam. »Sag bloß nicht, daß wir sterben, Owen. Es gibt immer einen Ausweg. Du mußt nur genau genug hinse-hen.«

Owen lächelte sie an. Er mußte die Lippen fest zusammen-pressen, damit Hazel nicht sah, wie sie zitterten. »Ich bin offen für jeden Vorschlag«, sagte er.

Kast drehte sich zu Major Chevron um. »Disruptorkanone aufgeladen und schußbereit, Sir«, meldete er.

»Worauf zur Hölle wartet Ihr dann noch, Idiot! Tötet sie. Tötet sie alle beide!«

Morgan hämmerte auf den Knopf, und der beutegierige Energiestrahl fraß sich durch den kleinen Hinterhof. Hazel umklammerte Owens Hand so fest, daß es schmerzte – und in jenem Sekundenbruchteil, bevor der Energiestrahl die beiden traf, vereinigten sich ihre mentalen Kräfte und wurden zu einer gewaltigen Macht. In diesem einen winzigen Augenblick voller Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit band die pure Not die beiden enger zusammen als je zuvor. Die Zeit schien mit einemmal stillzustehen. Energie staute sich in Owen und Hazel auf, Energie aus einer unbekannten Quelle, die sowohl aus ihrem Innern, als auch aus der Umgebung zu kommen schien, entsprungen aus Liebe und Wut und der Weigerung, sich geschlagen zu geben, solange sie noch gebraucht wurden. Die Energie leuchtete strahlend hell auf und schoß aus ihnen hervor, schnell und tödlich und unaufhaltsam. Sie traf auf den Strahl der Disruptorkanone und verschlang ihn auf einen Schlag; doch es war noch nicht zu Ende. Sie raste auf die Kanone zu und brachte sie zur Explosion. Kast und Morgan starben , bevor sie auch nur schreien konnten. Sie wurden in Fetzen gerissen und verwandelten sich in verstreute Blutflecken, die mit Knochensplittern durchsetzt waren. Major Chevron starb als nächster. All seine Träume von Eroberung und Sieg wurden mitsamt seinem Körper zerfetzt. Und der Energiestrahl raste noch immer weiter. Er krachte in die Reihen Imperialer Marineinfanteristen. Sie starben alle. Hunderte von Männern hoben hilflos ihre Schwerter und Pistolen gegen eine unbesiegbare und unaufhaltsame Macht. Ihre Körper explodierten, und Blut und Knochen flogen durch die Luft. Schließlich war es vorbei, und eine lähmende Stille breitete sich in dem dunklen Hinterhof aus.

Tobias Shreck und sein Kameramann Flynn schauten sich an.

Ringsum herrschte Tod und Chaos, und die beiden hatten nicht einmal einen Kratzer abbekommen. Selbst Flynns Kamera war unversehrt. Sie schwebte über dem Hof und war auf Owen und Hazel gerichtet , die noch immer mit dem Rücken an der Mauer nebeneinander saßen. Flynn schüttelte langsam den Kopf.

»Wieso sind wir nicht tot?«

»Der Teufel soll mich holen , wenn ich das wüßte!»fluchte Tobias. »Entweder sehen sie uns nicht als Feinde an, oder wir sind einfach nicht wichtig genug, um sich mit uns zu beschäftigen.«

Owen und Hazel saßen beisammen und blickten in die Runde. Als sie erkannten, daß die Gefahr fürs erste vorüber war, beruhigte sich ihr Atem allmählich wieder. Die Macht, die sie für kurze Zeit besessen hatten, war wieder verschwunden, und außer einer unendlichen Erschöpfung war nichts von ihr zu-rückgeblieben. Owen und Hazel hatten alles gegeben, was sie hatten geben können, und noch ein wenig mehr. Jetzt fühlten sich beide unendlich erschöpft.

Owens Blick fiel auf Tobias und Flynn, die regungslos und allein inmitten eines Meers aus Eingeweiden und Blut standen.

Er erhob sich unter Schmerzen und winkte die beiden zu sich heran. Flynn schien der Aufforderung nicht nachkommen zu wollen, doch Tobias zerrte ihn bis vor den Todtsteltzer. Aus der Nähe betrachtet, sah der Todtsteltzer weniger wie eine Legende aus, sondern eher wie ein ganz normaler Mensch. Genaugenommen sah er aus wie ein Mann, der eine übergroße Last zu tragen hatte, und der sich nur auf all das hier eingelas-sen hatte, weil ihm niemand die Arbeit hatte abnehmen wollen.

Der Todtsteltzer deutete auf die Kamera, die über den beiden Nachrichtenleuten schwebte.

»Bringt das Ding zu uns herunter. Ich habe etwas zu sagen.«

Flynn rief die Kamera über das Komm-Implantat herbei und richtete sie auf Owen. Der Todtsteltzer nickte Tobias und Flynn zu, dann drehte er sich zum Objektiv.

»Ich grüße Euch, Löwenstein, falls Ihr die Übertragung seht.

Ich bin der rechtmäßige Lord Todtsteltzer, und ich komme live aus der Rebellenstadt Nebelhafen zu Euch. Ich dachte, ich sollte Euch wissen lassen, daß Eure Invasion den Bach runtergegangen ist. Sie hatte von Anfang an keine Chance. Eure Bande von berufsmäßigen Mördern hat den freien Männern und Frauen der Nebelwelt nichts entgegenzusetzen. Sobald wir hier mit Aufräumen fertig sind und das Durcheinander beseitigt haben, das Ihr angerichtet habt, werden wir kommen und Euch einen Besuch abstatten. Merkt Euch mein Gesicht, Löwenstein.

Schon bald werdet Ihr erleben, wie Eure Streitkräfte aufgerieben werden und Euer Reich zerfällt und wie ich in Euren Thronsaal komme und Euch die Krone vom Kopf schlage und Euch so lange in Euren häßlichen Hintern trete, bis Ihr den Eisernen Thron freiwillig räumt. Ihr wart ein unglücklicher Fehler der Natur – eigentlich hättet Ihr niemals existieren dürfen. Ein Irrtum der Geschichte, was auch immer. Ich werde diesen Fehler bei der ersten sich bietenden Gelegenheit korri-gieren, meine Liebe. Wir sehen uns noch, Durchlauchtigste.«

Er sah zu Flynn. »Das war alles. Ihr könnt jetzt gehen.«

»Ich nehme nicht an, daß Ihr uns ein Exklusivinterview zu geben gedenkt?« erkundigte sich Tobias Shreck. Owen sah ihm in die Augen, und der Shreck setzte sich hastig in Bewegung.

»Nein, ich habe es nicht wirklich geglaubt. Komm, Flynn, es wird Zeit, daß wir von hier verschwinden. Schließlich wollen wir die Geduld unserer Gastgeber nicht über Gebühr strapazieren.«

Sie drehten sich um und rannten los. Die Kamera hüpfte hinter ihnen her. Owen grinste müde. Woher sollten die beiden auch wissen, daß er lediglich den starken Mann markiert und daß er dazu seine allerletzten Kräfte verbraucht hatte? Er wandte sich unsicher um und kehrte zur Mauer zurück, wo er sich erneut neben Hazel zu Boden sinken ließ. Sie hatte die Augen geschlossen, und ihr Atem ging extrem flach; doch sie spürte Owen neben sich und schlug die Augen halb auf.

»Ja. Genau wie du gesagt hast, mein Hengst. Ich hab’ ja schon immer gewußt, daß dein Talent als Redner sich eines Tages für uns auszahlen würde.«

»Wie fühlst du dich?« fragte Owen besorgt.

»Müde. Aber zufrieden . Was zur Hölle haben wir da schon wieder heraufbeschworen? Eine Macht, die das Labyrinth uns geschenkt hat?«

»Ich glaube eher nicht. Es fühlte sich mehr nach etwas an, das schon die ganze Zeit über in uns war. Das Labyrinth des Wahnsinns hat uns nur den Zugang dazu verschafft. Vielleicht lernt eines Tages die gesamte Menschheit, so etwas zu tun.«

»Ja«, erwiderte Hazel. »Vielleicht. Aber ich bezweifle, daß wir dann noch da sind. Dieser Energiestoß hat uns völlig aus-gepumpt. Ich bin am Ende.«

»Ich ebenfalls«, sagte Owen. »Schätze, unsere Zeit ist abgelaufen. Was jetzt kommt, kann nur noch schlimmer werden.

Wenigstens hatten wir die Gelegenheit, der Eisernen Hexe einen Schrecken einzujagen. Hazel, da ist etwas… Etwas, das ich dir schon lange habe sagen wollen…«

»Ich muß dir auch etwas sagen«, unterbrach sie ihn. »Meine Blutsucht… ist verschwunden. Ich kann es spüren. Dieser Energiestoß hat sie einfach aus meinem Kreislauf gespült. Ich bin am Ende also doch noch trocken geworden.«

»Das freut mich zu hören. Hazel, was ich dir sagen wollte …«

Und dann gingen seine Worte im Dröhnen von Antigravmo-toren über ihren Köpfen unter. Owen blickte nach oben und zwang sich wieder auf die Beine. Sechs Antigravbarken schwebten über dem kleinen Hinterhof, und ihre Disruptorkanonen waren auf ihn und Hazel gerichtet. Owen umklammerte den Griff seines Schwerts; doch er wußte, daß es diesmal keine Rettung mehr geben würde.

Selbst ausgeruht und im Vollbesitz seiner Kräfte hätte er gegen die schweren Disruptorkanonen von sechs Barken wahrscheinlich keine Chance gehabt. Ein trotziges Grinsen erschien auf seinem Gesicht.

»Wißt ihr Leute eigentlich, was das Sprichwort ›Mit Kanonen auf Spatzen schießen‹ bedeutet?«

»Der Kampf ist vorbei, Todtsteltzer«, sagte eine laut-sprecherverstärkte Stimme von oben. »Allerdings müßt Ihr nicht hier sterben. Imperatorin Löwenstein hat uns ermächtigt, Euch ein Angebot zu unterbreiten. Ergebt Euch, und man wird Euch am Leben lassen. Unsere Wissenschaftler könnten sehr viel lernen, indem sie Euch studieren.«

»Sag ihnen, sie sollen sich zur Hölle scheren, Todtsteltzer«, murmelte Hazel hinter ihm. »Meine Mutter hat mich nicht großgezogen, damit ich als Laborratte ende. Wahrscheinlich werden sie uns vivisezieren, sobald sie die Gelegenheit dazu haben. Oder ihre verdammten Hirntechs beschäftigen sich mit dem, was in unseren Schädeln steckt und sorgen dafür, daß wir die Seiten wechseln. Wir dürfen das nicht zulassen, Owen.«

»Unsere Sensoren zeigen an, daß Ihr ernsthaft verwundet seid, und Eure Begleiterin liegt im Sterben«, sagte die verstärk-te Stimme. »Wir können Euch beide retten. An Bord der Herausforderung befindet sich eine Regenerationsmaschine. Eure Begleiterin muß nicht sterben, Todtsteltzer. Es liegt allein an Euch.«

»Owen…«, begann Hazel.

»Es tut mir leid, Hazel«, entgegnete er. »Ich bin noch nicht soweit, uns beide sterben zu lassen.« Er blickte zu den Antigravbarken hinauf und warf sein Schwert in den Dreck. »Ich ergebe mich. Kommt und holt uns. Aber beeilt Euch. Ich glaube nicht, daß Hazel d’Ark noch viel Zeit bleibt.«

»Du verdammter Dummkopf!« stöhnte Hazel.

Er blickte sie an und lächelte bedauernd. »Das bin ich doch immer, wenn es um dich geht.«

Hazel versuchte, ihre Pistole zu ziehen; doch ihre Finger wollten ihr nicht gehorchen. Owen setzte sich wieder neben sie und lauschte andächtig, wie sie ihn verfluchte, bis die Imperialen Truppen eintrafen und beide in Gewahrsam nahmen.

In der Nähe des von außer Kontrolle geratenen Bränden taghell erleuchteten Zentrums von Nebelhafen leisteten Jung Jakob Ohnesorg und John Silver zusammen mit ihrer kleinen Rebellenstreitmacht den vorrückenden Imperialen erbitterten Widerstand. Der Vormarsch geriet ins Stocken.

Die Luft war heiß und rauchgeschwängert, und das Prasseln der zahllosen Feuer erstickte fast den Lärm der Antigravbarken und das triumphierende Geheul Legions. Die Straßen waren von einem Ende zum anderen voller Kämpfer, und wer hier keinen Platz mehr fand, kämpfte in den Hinterhöfen und Sack-gassen. Der niedergetrampelte Schnee verwandelte sich in blutgetränkten Matsch, und überall lagen reglose Körper. Die Projektilwaffen des Todtsteltzers zeigten im Nahkampf ihren Wert, doch selbst mit ihrer Hilfe schwankte das Schlachtenglück hin und her, und keine der beiden Seiten war imstande, einen Vorteil zu erringen. Stahl krachte gegen Stahl, und die Kämpfer stießen in dem Gedränge beinahe mit den Nasen zusammen. Für Strategie oder Taktik oder auch nur für gute Beinarbeit war kein Platz, sondern nur für die harte, monotone Arbeit des Schlachtens und Zerlegens von Menschen.

Jung Jakob Ohnesorg war mitten im dichtesten Getümmel.

Sein mächtiger Körper ragte aus der Menge, und er schien unbesiegbar. Seine lauten, triumphierenden Kampfrufe erhoben sich trotzig über den allgemeinen Lärm, und jeder, der an seiner Seite kämpfte, fühlte sich in seiner Nähe doppelt so stark.

Ohnesorgs Schwert hob und senkte sich wie eine Maschine, und er mähte sich einen Weg durch die feindlichen Streitkräfte in Richtung ihrer Befehlshaber und Offiziere . Er ließ sich weder aufhalten, noch gelang es irgend jemandem, ihn auch nur zu verlangsamen . Sein Mut und seine grimmige Entschlossenheit inspirierten die Rebellen zu immer größeren Anstrengungen, und sie stürzten sich ins Gewühl, als wären ihre Leben nichts wert .

Mitten im dichtesten Getümmel war auch John Silver zu finden.

Er war über und über mit Blut besudelt, sowohl aus seinen eigenen Wunden, als auch aus denen seiner Feinde. Trotzdem lag das Schwert noch sicher in seiner Hand, und er warf sich unermüdlich nach vorn. John Silver spürte längst keinen Schmerz und keine Erschöpfung mehr. Er wurde nur noch von seiner Weigerung getrieben, sich fallen zu lassen und zu sterben.

Und dann, ganz langsam, Schritt um Schritt, zwangen die Rebellen die Imperialen Kräfte zum Rückzug und verweigerten ihnen den Zugang zum Stadtzentrum. Die Invasoren standen einer unbesiegbaren, unnachgiebigen Streitmacht gegenüber und zerbrachen daran. Schlachtrufe von Hunderten verschiedener Welten und aus Hunderten von Kulturen erhoben sich über den Kampflärm und vereinten sich zu einem markerschütternden Gebrüll der Wut, des Mutes und der Entschlossenheit, und die Angreifer hatten dem nichts entgegenzusetzen.

Einige der Marineinfanteristen wandten sich zur Flucht und riskierten, von ihren eigenen Vorgesetzten erschossen zu werden, die verzweifelt durch ihre Kommlinks nach Verstärkungen riefen oder um Erlaubnis zum Rückzug bettelten. Doch der Befehl lautete, die Stellung zu halten. Die Antigravbarken waren auf dem Weg. Alle.

Der taubstumme Dieb namens Katze saß auf einem auskühlenden Leichnam und starrte auf das, was von der Schwarzdorn-Taverne noch übrig war. Die Flammen erstarben allmählich, und durch den Rauch und Nebel war die geschwärzte, schwelende Ruine nur undeutlich zu erkennen. Sonst war nichts mehr übrig von dem einzigen Zuhause, das Katze jemals gekannt hatte. Von Cyder nirgendwo eine Spur. Bald würde Katze aufstehen und die Ruine durchsuchen, um zu sehen, ob eine der Leichen die ihre war; aber er hatte noch nicht den Mut dafür gefunden. Er glaubte nicht, daß er ein Leben ohne Cyder ertragen könnte. Sie war seine Liebe, seine einzige und große Liebe, und sie allein hatte seinem Leben Sinn verliehen. Sie konnte nicht dort drinnen sein. Von allen Leuten besaß allein sie genug Verstand, aus dem Schwarzdorn zu verschwinden, solange noch Zeit dazu war. Doch der Gedanke, eine verkohlte Leiche umzudrehen und Cyders Ringe an den schwarzen Fingern zu entdecken, war für Katze im Augenblick noch unerträglich. Und so saß er hier und starrte auf das, was vom Schwarzdorn übriggeblieben war, sah, wie es schwelte und rauchte, und wartete darauf, daß Investigator Topas wieder zu Bewußtsein kam.

Katze hatte ihren bewußtlosen Körper über die Dächer getragen, weil er wußte, daß man ihn dort weder aufhalten noch herausfordern würde. Niemand kannte die Dächer so gut wie er. Das Kampfgetöse erreichte ihn nicht, und Legions Geheul machte ihm ebenfalls nichts aus, denn er konnte weder das ei-ne, noch das andere hören.

Statt dessen konzentrierte er sich auf die vor ihm liegende Aufgabe und schaffte den Investigator zu einem sicheren Ort.

Für Katze war der einzige sichere Ort stets die SchwarzdornTaverne gewesen. Den ganzen Weg hierher, während das Gewicht von Topas auf seinen Schultern mit jedem Schritt schwerer geworden war, hatte er in dem Gedanken Trost gefunden, daß Cyder schon wissen würde, was wegen Topas und wegen Maries Entführung zu unternehmen war. Doch der Schwarzdorn war nicht mehr, Cyder war nirgends zu sehen, und Katze hatte nicht die leiseste Ahnung, wie es weitergehen sollte .

Er spürte, wie sich Topas an seiner Seite rührte und drehte sich zu ihr um .

Er half ihr, sich auf die Leiche zu setzen – das war immer noch besser als im Dreck und Schneematsch auf der Straße zu hocken. Eine Weile hielt sich Topas den Kopf, und ihr Mund bewegte sich, ohne daß Katze einen Sinn erkennen konnte.

Katze konnte von den Lippenlesen, doch Geräusche wie Ächzen oder Stöhnen waren ihm fremd.

Nach einer Weile drehte sie sich zu ihm um und schaute ihn an. Ihre Augen waren dunkel und entschlossen. Sie fragte ihn, wo sie war, und er erklärte es ihr in seiner Zeichensprache. Sie verstand ihn nicht. Er deutete auf das Straßenschild, und da nickte sie. Er wollte ihr erzählen, daß er Marie zurückgelassen hatte; doch er wußte nicht, wie er das anstellen sollte. Topas mühte sich auf die Beine. Sie schwankte nur für ein paar Augenblicke und nur ganz schwach. Dann nickte sie Katze ihren Dank zu und stapfte durch den Nebel davon. Katze blickte ihr hinterher. Der Leichnam unter ihm wurde langsam kalt und ungemütlich; also stand er ebenfalls auf. Cyder war nicht tot. In dieser Hinsicht hatte er keinerlei Zweifel. Also sollte er sich besser aufmachen und nach ihr suchen. Und wenn er während seiner Suche den angreifenden Streitkräften hin und wieder einen Schlag versetzen konnte, um so besser. Katze drehte sich um und kletterte die Wand hinauf . Bald war er wieder auf den Dächern unterwegs.

An Bord der Herausforderung hatte man Hazel und Owen in Ketten gelegt. Sie waren in den Raum gebracht worden, in dem Legion in seinem Tank schwamm. Investigator Razor war ebenfalls dort, zusammen mit der Typhus-Marie, um sicherzustellen, daß Owen und Hazel sich anständig benahmen. Kapitän Bartek war gekommen , um die Gesichter der beiden Gefangenen zu sehen, wenn sie erst erkannten, daß sie gegen ein Wesen wie Legion nicht den Hauch einer Chance hatten. Der große gläserne Tank, übersät mit Kabeln, Drähten und fremdartiger , unvertrauter Technik, war noch immer der einzige Gegenstand in der Halle. Legion schwebte friedlich in der dicken gelblichen Flüssigkeit – eine gewaltige fleischiggraue Masse ohne feste Gestalt oder erkennbaren Sinn. Die Gehirne Tausender toter Esper, mit Hilfe von fremdrassiger Technologie ineinander verwoben und kontrolliert – oder besser gesagt: beherrscht – von dem Kollektivbewußtsein, das die Würmer des Wurmwächters bildeten. Es stank entsetzlich in der Halle, und Owen verzog angewidert das Gesicht, während er aus zusammengekniffenen Augen auf das Ding im Tank spähte. Er wollte sich ein paar Schritte nähern, um einen genaueren Blick auf das Wesen zu werfen, doch Razor packte ihn am Arm und zog ihn zurück. Owen drohte, unter dem Gewicht seiner Ketten zu stürzen und stieß heftige Verwünschungen gegen Razor aus.

Der Investigator schlug ihm leidenschaftslos in die Nieren, und Owen wäre um ein Haar erneut in die Knie gegangen; doch irgendwie gelang es ihm, auf den Beinen zu bleiben.

Das Imperium hatte sein Versprechen gehalten. Man hatte Hazel in die Regenerationsmaschine gelegt, und sie war gesund und mit verheilten Wunden wieder herausgestiegen. Aber die Maschine hatte nichts an Hazels fast ätherischer Erschöpfung ändern können, die sie mit dem Todtsteltzer teilte, seit der Ausbruch mentaler Energie ihrer beider Leben gerettet hatte.

Physisch waren sie so schwach und hilflos wie neugeborene Katzen. Das hatte Bartek jedoch nicht daran hindern können, ihnen sämtliche Waffen wegzunehmen und sie in so viele Ketten legen zu lassen, bis sie kaum noch stehen konnten. Sie hatten sogar Owens goldene Hadenmann-Hand entfernen wollen; doch sie hatten keinen Weg gefunden, wie das zu bewerkstelligen war. Sie hatten darüber gesprochen, ihm die Hand einfach abzuschneiden – nur für den Fall –, doch Bartek war begierig gewesen, den illustren Gefangenen seine Geheimwaffe zu zeigen. Außerdem konnten sie dem Todtsteltzer später immer noch die Hand abschneiden.

Die Typhus-Marie trug keine Ketten. Die Kontrollworte in ihrem Gehirn hielten sie sicherer fest, als es jede Fessel vermocht hätte. Sie hatte noch kein Dutzend Worte von sich gegeben, seit sie an Bord der Herausforderung gekommen war.

Sowohl Owen als auch Hazel hatten versucht, ein Gespräch mit ihr zu beginnen; doch Marie reagierte nur auf Imperiale Befehle und auf sonst gar nichts. Sie starrte mit leerem Blick auf das Ding im Tank und schien weder von seiner Erscheinung noch von dem widerlichen Gestank beeindruckt .

»Also schön«, begann Kapitän Bartek und wandte sich an Owen und Hazel. »Was haltet Ihr von unserer wunderbaren Schöpfung?«

Owen rümpfte die Nase. »Sieht aus wie eins der eher enttäu-schenden Erzeugnisse aus Gottes Enddarm. Riecht auch genauso, wenn Ihr mich fragt. Habt Ihr noch nie etwas von Luftreini-gern gehört?«

Razor schlug zu, und Owen wäre fast gestürzt. Hazel trat den Investigator gegen das Knie – mehr erlaubten ihre Ketten einfach nicht. Razor schlug ihr ins Gesicht, so daß Hazel aus Mund und Nase blutete. Sie lehnte sich gegen Owen, und Owen lehnte sich gegen sie, und gemeinsam funkelten sie den Investigator machtlos an. Er lächelte nicht. Das war auch gar nicht nötig. Marie beobachtete die Szene ungerührt und mit leerem Gesichtsausdruck. Die Kontrollworte summten unablässig in ihrem Unterbewußtsein wie ein Schwarm wütender Bie-nen, und trotzdem war ein Teil von ihr noch in der Lage, klare Gedanken zu fassen. Sie behielt es für sich, versteckte es so tief in ihrem Innern, daß nicht einmal ein anderer Esper es erkennen konnte. Sie hatte sich selbst wie aus großer Entfernung dabei beobachtet, wie sie Investigator Topas niedergeschlagen hatte. Sie war hilflos in ihrem eigenen Körper gefangen gewesen. Sie ging davon aus, daß Topas tot war, sonst hätte man sie ebenfalls hergeschafft. Marie, die geschworen hatte, nie wieder einen Menschen zu töten, hatte ihre beste Freundin umgebracht. Das Entsetzen und die Gewissensqual bei dem Gedanken daran drohten sie zu überwältigen; doch auch das behielt sie für sich.

Bartek packte ihren Arm und führte sie zum Tank. Sie folgte ihm ohne jeden Widerstand.

»Hallo, Legion«, sagte Bartek. »Ich habe jemanden mitgebracht, den du sicher kennenlernen möchtest. Das hier ist die Typhus-Marie. Sie ist eine Sirene, und obendrein einer der mächtigsten Esper im gesamten Imperium.«

Willkommen, Marie, sagte Legion mit seinen vielen Stimmen. Owen grunzte erschrocken, als der widernatürliche Chor in seinem Kopf ertönte. Das Geräusch war schwer und erstik-kend wie der Gestank von faulendem Obst. Hazel schüttelte den Kopf, als könne sie so die Stimmen vertreiben. Marie zeigte überhaupt keine Reaktion. Legion sprach mit vielen Stimmen zugleich, eine entsetzliche Harmonie aus männlichen und weiblichen Kehlen, aus jungen und alten, lebenden und toten.

Und im Hintergrund hörten sie alle ganz, ganz schwach die Schreie von Tausenden von hilflosen Geistern, die dazu verdammt waren, in einer von Menschenhand erschaffenen, lebenden Hölle dahinzuvegetieren.

I c h bin ja so froh, daß du kommen konntest, Marie, sagte Legion. Sie werden dein Gehirn aus deinem Schädel reißen und es zu einem Teil von mir machen. All deine Macht und deine Lieder werden mir gehören. Ich werde dafür sorgen, daß sie unten in den Straßen von Nebelhafen gehört werden, glaube mir. Schon jetzt jammern und zittern sie beim Klang meiner Stimme, aber mit deinen Liedern werde ich durch ihre Köpfe trampeln und mit meinen schmutzigen Fingern in ihren Seelen rühren. Sie werden alle nach meiner Melodie tanzen, oder sie werden einen schrecklichen Tod sterben.

»Nun?« erkundigte sich Bartek nach einer Weile. »Sprich mit Legion, Marie

»Wer ist das, den ich da höre?« fragte Marie, »Die Gehirne oder die Würmer darin?«

Das wirst du bald selbst herausfinden.

»Warum verletzt und tötest du deine Esperkameraden? Sie sind von deiner Art.«

Weil es Spaß macht. Und weil ich es kann. Ich bin nicht wie sie. Oder wie du. So etwas wie mich hat es noch nie gegeben.

Es gibt keine Grenzen für mein Wachstum, und es gibt keine Grenzen für meine Macht. Nenn mich Legion. Ich bin groß, und ich bin viele. Eines Tages werden alle Esper ein Teil von mir sein. Dieser Tank wird mich nicht für immer festhalten.

Und die Menschheit sollte auf der Hut sein vor dem Tag, an dem ich mich befreie. Alles Leben sollte auf der Hut sein.

Die Typhus-Marie sah ihre Zukunft vor ihrem geistigen Auge und die Zukunft der Menschheit. Wut und Verzweiflung koch-ten in ihr hoch. Die Konditionierung des Imperiums wurde beiseite gefegt, als hätte sie niemals existiert . Neue Macht erstrahlte in ihr, eine wilde, potente Macht, und mit einemmal war in der Halle etwas Wunderbares, hell und strahlend und vollkommen, und Marie war sein Fokus. Die Mater Mundi, Unsere Mutter Aller Seelen. Maries Gesicht war ein einziger Ausdruck der Verzückung, und ihre Augen leuchteten wie die Sonne.

Investigator Razor erkannte augenblicklich die drohende Gefahr. Er riß das Schwert mit unglaublicher Geschwindigkeit hoch; doch eine unsichtbare Macht packte ihn und schleuderte ihn lässig zur Seite wie ein lästiges Insekt. Legion jagte in seinem Tank vor und zurück. Die gewaltige Macht, die sich in der Halle aufbaute, versetzte es in Angst und Schrecken. Die Mater Mundi streckte ihre geistigen Fühler aus, und alle überlebenden Esper Nebelhafens wurden auf einen Schlag zum Werkzeug ihres Willens . In diesem Augenblick kamen Tausende von Be-wußtseinen zusammen und waren eins, geführt von der Mater Mundi, fokussiert durch die Typhus-Marie. Marie richtete ihren gnadenlosen Blick auf Legion, und Legion fühlte nichts als Furcht.

Psionische Energie knisterte in der Luft und raste durch sämtliche Korridore und Abteile der Herausforderung. Maschinen überluden und explodierten; Arbeitsstationen versagten ihren Dienst und schalteten sich ab, und im gesamten Schiff sanken Besatzungsmitglieder auf die Knie und packten sich an die Köpfe, als unvertraute Gedanken durch ihre Bewußtseine rasten. Ein heilloses Chaos brach aus. Kapitän Bartek in Legions Halle erkannte, was geschah, und schrie auf.

Unten auf dem Planeten und in den Straßen Nebelhafens kam alles zum Erliegen. Psionische Energie hämmerte durch die Luft wie die Rache Gottes, und die angreifenden Truppen brachen bewußtlos zusammen und fielen an Ort und Stelle zu Boden. Ihr Geist schaltete sich lieber ab, als ins Angesicht der Mater Mundi zu blicken. Die Esper Nebelhafens standen wie versteinert da und sahen nichts von alledem. Sie waren ganz in dem kollektiven Wesen aufgegangen, das die Mater Mundi beschworen hatte. Ihre gesamte Macht und ihr gesamter Wille waren in einer einzigen Person fokussiert, die sich gegen das Ding namens Legion aufbäumte. Doch all die tausend Rebelle-nesper der Nebelwelt reichten nicht. Legion und die Mater Mundi standen sich gegenüber, ein jeder konzentriert auf die Zerstörung des anderen, und weder Legion noch die Mater Mundi waren imstande, die Oberhand zu gewinnen. Sie waren sich ebenbürtig.

Patt.

Owen und Hazel waren in dem Zusammenprall unheimlicher Energien völlig in Vergessenheit geraten. Plötzlich spürten sie, wie in ihnen eine neue Vitalität erwachte. Irgend etwas in ihnen zog Kraft aus den psionischen Energiestürmen, die durch das Schiff rasten. Sie fühlten sich mit einem Mal wieder stark und gesund. Ihre Ketten rissen und fielen von ihnen ab. Owen drehte sich nach Razor um; doch der Investigator hatte die Halle bereits verlassen.

Hazel schaute zu Kapitän Bartek. Der Kapitän der Herausforderung stand hilflos da, still und regungslos wie eine Statue .

Irgend etwas wollte nicht, daß er sich in die Dinge einmisch-te .

Owens und Hazels Bewußtseine griffen nach draußen. Sie wurden von irgendeiner Art Instinkt auf eine andere Ebene der Realität gezogen, und dort wurden sie Zeugen des Kampfes zwischen der Mater Mundi und Legion. Zwei gewaltige Armeen aus massiertem Willen standen sich gegenüber, verwikkelt in eine Schlacht, die nur einer überleben konnte.

Legion war deutlich kleiner als die Mater Mundi; doch es be-saß keine Schranken oder körperlichen Fesseln, während die Mater Mundi sich in der Typhus-Marie manifestierte, die einen heiligen Eid geschworen hatte, niemals wieder zu töten. Owen und Hazel konzentrierten sich. Im Hintergrund, von den beiden kämpfenden Wesenheiten unbemerkt, vernahmen sie Stimmen, die nach ihrer Freiheit schrien: Tausende toter Esper, aus denen Legions ›Körper‹ bestand. Sie wurden von den Würmern des Wurmwächters kontrolliert. Owen trat näher heran.

Ihr müßt eure Fesseln abstreifen, sagte er mit einer Stimme, die keine Stimme war. Das Imperium mißbraucht euch, um eure eigenen Artgenossen zu töten.

Das wissen wir, antwortete eine große Ansammlung flüsternder Stimmen. Aber es gibt nichts, das wir dagegen unternehmen könnten. Die Würmer sind in unseren Gehirnen. Legions Technologie gibt ihnen Macht über uns. Befreit uns! Bitte!

Das können wir nicht, antwortete Hazel. Ihr seid bereits tot.

Sie haben eure Gehirne herausgeschnitten und eure toten Körper weggeworfen. Ihr seid nur noch Geister, gefangen in einer Maschine.

Schreie, verzweifeltes Heulen und das Weinen Tausender verlorener Seelen, die keine Augen mehr hatten, mit denen sie weinen konnten. Was können wir tun? Was können wir nur tun?

Es gibt nur noch eins, was ihr tun könnt, antwortete Owen Todtsteltzer. Ihr müßt wirklich sterben. Legion wird euch niemals gehen lassen, und ihr werdet niemals Frieden finden. Ihr habt seine Worte selbst gehört. Legion will alles Leben vernichten oder es zu einem Bestandteil von sich selbst machen.

Denkt an die Millionen gefangener Seelen, die in Legions Griff gefangen sein werden und die dann das gleiche wie ihr ertragen müssen!

Wir wollen aber nicht sterben!

Niemand will sterben, sagte Hazel. Aber manchmal bleibt einem einfach keine andere Wahl, wenn irgend etwas von dem, wofür man gelebt hat, noch eine Bedeutung haben soll.

Nichts kann euch aufhalten, sagte Owen. Aber wollt ihr wirklich bis in alle Ewigkeit als Legions Sklaven leben? Hört endlich auf, unbedingt weiterleben zu wollen. Sterbt endlich. Und nehmt Legion mit euch.

Und vielleicht erinnerten sich die vielen tausend Esper-Gehirne in diesem Augenblick an das, was sie einst gewesen waren, an die Dinge, an die sie geglaubt und für die sie ge-kämpft hatten – an jene Dinge, für die sie jederzeit ihr Leben gegeben hätten, wäre es notwendig gewesen. Vielleicht waren sie ihrer mentalen Versklavung auch einfach nur müde und wollten nun endlich ihre Ruhe. Und vielleicht waren sie in genau diesem Augenblick wieder die Männer und Frauen von einst, fest entschlossen, das Richtige zu hm. Was auch immer der Grund sein mochte, die Gehirne, aus denen Legion bestand, hörten auf, sich an ihr Leben zu klammern und starben. Auf der mentalen Ebene strömte ein grelles Licht aus Legions astralem Leib, als Tausende von Männern und Frauen ausbrachen und sich endlich ihre Freiheit nahmen, indem sie starben. Und hinter ihnen blieb nichts weiter zurück als eine dunkle, wabernde Masse, gebrochen und hilflos: die zitternden, sich windenden Würmer des Wurmwächters. Die Mater Mundi zertrat sie, wie man Würmer zertrat: mit dem Absatz. Und dann war nichts mehr.

Investigator Razor beobachtete von der Brücke aus, wie Legion starb. Jedes der zahlreichen Aufnahmegeräte zeigte, wie die Lebensfunktionen der Kreatur eine nach der anderen auf Null fielen. Die graue Masse in ihrem Tank hatte einfach aufgehört zu leben, ohne daß ein äußerer Grund dafür erkennbar geworden wäre. Der Todtsteltzer. Verdammt soll er sein! Razor wandte sich den restlichen Konsolen zu. Die Hälfte der Instrumente arbeitete nicht, und ständig erreichten ihn neue Hiobs-botschaften. Der größte Teil der Brückenbesatzung war in Katatonie gefallen, und der Rest stand kurz davor. Razor packte den Ersten Offizier an der Schulter und schüttelte ihn, bis der Mann halbwegs wieder zu sich gekommen war.

»Da Kapitän Bartek nicht anwesend ist, übernehme ich hiermit die Befehlsgewalt über dieses Schiff«, sagte Razor langsam und deutlich. »Ich will jeden bewaffneten Mann unten in der Halle, wo Legions Tank steht. Tötet alles, was Ihr dort findet.«

»Das haben wir bereits versucht, Sir«, antwortete der Erste Offizier. »Niemand kommt auch nur in die Nähe der Halle.

Irgend etwas… hindert uns daran.«

Razor dachte fieberhaft nach. Ringsherum regten sich nach und nach die Leute wieder und erwachten aus ihrer Besin-nungslosigkeit. Nach Legions Tod konnte es nicht mehr lange dauern, bis die überlebenden Esper der Nebelwelt herausfanden, daß ihre Kräfte zurückgekehrt waren. Und dann würden sie alle für das bezahlen, was sie angerichtet hatten. Die Esper würden die Bodentruppen auslöschen und ihre Aufmerksamkeit anschließend auf die Herausforderung richten.

»Fahrt sämtliche Systeme hoch«, befahl Razor tonlos. »Bereitet Euch darauf vor, den Planeten zu sengen.«

»Sir?« fragte der Erste Offizier ungläubig nach. »Unsere Leute sind noch immer dort unten, Sir.«

»Nach Legions Tod haben sie kaum noch eine Chance. Sie sind schon so gut wie tot. Unsere Befehle lauten, die Nebelwelt für das Imperium einzunehmen. Wenn ich ein riesiges Toten-feuer anzünden muß, um diesem Befehl nachzukommen, dann werde ich das tun. Fahrt sämtliche Disruptorkanonen hoch. Auf meinen Befehl fangt Ihr an zu feuern. Und hört nicht auf damit, solange auf diesem elenden Planeten auch nur noch ein lebender Fleck zu sehen ist.«

Das war der Augenblick, in dem an Bord sämtliche Lichter ausgingen. Einige lange Sekunden lang herrschte tiefste Finsternis, bis die Notaggregate ans Netz gegangen waren und die Brücke in dunkelrotes Licht tauchten.

Der Erste Offizier überprüfte seine Instrumente . Als er sich wieder Razor zuwandte, stand in seinen Augen nackte Angst .

»Sämtliche Hauptsysteme sind ausgefallen, Sir. Praktisch alles bis auf die Lebenserhaltungssysteme. Irgendeine… unbekannte Macht hat alle Maschinen einfach abgeschaltet. Wir sind hilflos, Sir.«

Investigator Razor ließ sich schwer in den Kommandantensitz fallen und überlegte, wie er diese Geschichte nur seiner Imperatorin erklären sollte.

Alles war ruhig und still in der Halle, in der Legions Tank stand. Sowohl Legion als auch die Mater Mundi waren verschwunden. Legions grauer fleischiger Körper war reglos an den Boden des Tanks gesunken. Owen und Hazel standen beisammen und gewöhnten sich allmählich daran, wieder in ihren eigenen Köpfen zu sein. Und die Typhus-Marie, die ebenfalls endlich wieder sie selbst war, beugte sich zu Kapitän Bartek hinunter, der auf dem Boden saß und mit leeren Augen ins Nichts starrte.

»Keine Sorge«, sagte Owen zu ihr. »Ich habe bereits nachge-sehen. Da drin ist niemand mehr zu Hause. Was auch immer er gesehen haben mag, sein Verstand konnte nicht damit umgehen.«

»Verdammt!« fluchte Hazel. »Ich hatte mich schon so darauf gefreut, den Mistkerl umzubringen.«

»Das Töten ist vorüber«, sagte die Typhus-Marie und richtete sich wieder auf. »Laßt uns nach Hause gehen.«

»Klingt wie ein verdammt guter Vorschlag«, stimmte ihr Owen zu. »Wollen doch mal sehen, ob wir nicht eine Rettungskapsel requirieren können. Ich bezweifle, daß irgend jemand an Bord in der Stimmung ist, uns diese Bitte abzuschla-gen.«

Sie verließen die Halle. Kapitän Bartek saß reglos auf dem Boden und starrte auf den toten grauen Klumpen in dem gläsernen Tank.

Hinterher: Die Überlebenden von Nebelhafen feierten. Die wenigen Imperialen Marineinfanteristen, die nicht schnell genug zu ihren Pinassen fliehen konnten, wurden gejagt und getötet. Niemand war in der Stimmung, Gefangene zu machen. Die Toten wurden irgendwo aufgestapelt. Man würde sich später darum kümmern. Rettungsmannschaften wurden gebildet, die in den eingestürzten Häusern nach Überlebenden suchten. Nebelhafen hatte es wieder einmal geschafft. Sicher, sie mußten eine ganze Menge Häuser neu aufbauen oder restaurieren; doch der größte Teil der Stadt war unbeschädigt geblieben. Es war schon verdammt schwer, einen Nebelweltler umzubringen.

Weil jeder, der die ersten Tage in Nebelhafen überlebt hatte, mit so ziemlich allem fertig wurde, was der Rest des Universums gegen ihn aufbieten konnte.

Die verbliebenen Ratsmitglieder hatten sich in der Gildenhalle eingefunden und koordinierten die Rettungsarbeiten.

Außerdem sorgten sie dafür, daß der psionische Schild an Ort und Stelle blieb, bis die Herausforderung aus dem Sonnensy-stem verschwunden war. Niemand verspürte Lust, noch ein Risiko einzugehen. Und die anderen in der Halle: sie feierten, als gäbe es kein Morgen mehr. Wahrscheinlich auch deswegen, weil die meisten von ihnen nicht damit gerechnet hatten, es könne noch ein Morgen für sie geben. Espergeschnatter erfüllte die große Halle, und es war beinahe laut genug, um auch von Nicht-Espern gehört zu werden. Ein paar Prahlhänse tanzten an der Decke, doch keiner der Nicht-Esper fühlte sich verletzt oder bedroht. Für den Augenblick wenigstens hatte der Sieg alle geeint.

Jung Jakob Ohnesorg war der Mann der Stunde. Jeder wollte neben ihm stehen oder in seiner Nähe sein, wollte ihm auf den Rücken klopfen oder ihm den nächsten Drink spendieren. Er war nur allzu gern bereit, über seinen Anteil bei der Verteidigung der Stadt zu berichten , und seine Zuhörer ließen keine Bescheidenheit zu. Jeder hatte die eine oder andere Geschichte oder Anekdote über die Heldentaten und wagemutigen Kabi-nett-Stückchen des legendären Rebellen beizutragen.

Owen Todtsteltzer und Hazel d’Ark saßen in einer Ecke der Halle und tranken einen halbwegs schmackhaften echten Wein, während sie mißtrauisch die Partyhäppchen musterten, die man auf einem improvisierten Büfett zusammengetragen hatte. Ihre ungeahnten Fähigkeiten waren zusammen mit der Mater Mundi wieder verschwunden, und sie fühlten sich im großen und ganzen wie völlig normale Menschen. Ihre Wunden waren verheilt, und die bleierne Erschöpfung war ebenfalls gewichen; aber sie hatten das Gefühl, als brauchten sie beide noch eine ganze Weile, um mit den übernatürlichen Wundern zurechtzu-kommen, die sie vollbracht hatten . Ihre Heldentaten bei den Straßenkämpfen waren nicht unbeobachtet geblieben, und einige Leute machten sich tatsächlich die Mühe, die beiden zu suchen und ihnen zu danken und zu gratulieren, wenn auch insgesamt betrachtet die meisten es vorzogen, den überlebensgroßen Jakob Ohnesorg zu ihrem Idol zu erheben.

An Ohnesorgs Seite stand Donald Royal. Der alte Bursche schien zu neuer Kraft und neuem Leben erwacht zu sein. Die Schlacht hatte ihn revitalisiert, und er fühlte sich wieder wie in jungen Jahren. Damals war er ein großer Held gewesen, und außerdem hatte er sich nie wirklich mit einem friedlichen Leben anfreunden können. Jetzt fühlte er sich endlich wieder wie er selbst, volltrunken bis zum Rand, und er war fast hundertprozentig sicher, daß er am nächsten Tag bitter würde dafür zahlen müssen… aber darüber würde er nachdenken, wenn es soweit war. Die Leute brüllten seinen Namen und den von Jakob Ohnesorg, und sie prosteten ihm zu wie in den alten Zeiten. Ohnesorg legte den Arm um Donalds Schulter, und für den Rest des Abends waren die beiden unzertrennlich. Madeleine Skye hielt sich in Donalds Nähe und redete sich unaufhörlich ein, daß nicht nur ihre Eifersucht daran schuld war, daß sie dem legendären professionellen Rebellen noch immer nicht so recht über den Weg traute.

An der Theke auf der anderen Seite machten Cyder und Katze sich ernsthaft über die Champagnerbestände her.

Sie tranken stets nur das Beste – insbesondere wenn jemand anderes die Rechnung unterschrieb. Und je weiter sich der Pegel in der dritten Flasche dem Boden näherte, desto melancho-lischer wurde Cyder wegen des Verlustes ihrer schönen Taverne.

»Wir bauen einen neuen Schwarzdorn«, versprach sie Katze mit einem schwachen Lallen in der Stimme . »Für eine Weile können wir vom Geld der Versicherung leben, und ich werde ein paar sichere Dinger für dich organisieren. Nach dieser Geschichte muß es jede Menge leichte Beute geben. Die Wachen sind mit anderen Dingen beschäftigt. Die alte Mannschaft reitet wieder. Ach, was zur Hölle. Vielleicht sind wir beide auch gar nicht für ein ehrbares Leben geschaffen.«

John Silver kam herbei, um Hazel und Owen seinen Dank auszusprechen. Er war in so viele Verbände gewickelt, daß er sich kaum bewegen konnte, doch er machte einen fröhlichen Eindruck. Owen beschloß, diplomatisch zu sein, und entschuldigte sich für einen Augenblick, so daß Hazel und Silver sich ungestört unterhalten konnten. Nachdem er gegangen war, standen sich die beiden eine Weile schweigend gegenüber und starrten sich nur fest in die Augen.

»Ich nehme nicht an, daß ich dich überreden kann, in Nebelhafen zu bleiben?« begann Silver schließlich die Unterhaltung.

»Nein. Ich gehe dahin, wo die Rebellion mich braucht, und hier braucht sie mich nicht mehr.«

»Brauchst du vielleicht ein wenig Wampyrblut für unterwegs? Ich könnte dir…«

»Nein danke. Ich brauche es nicht mehr.«

»Das dachte ich mir. Du scheinst mich auch nicht mehr zu brauchen.«

»Es hat gutgetan, dich wiederzusehen, John; aber du bist meine Vergangenheit. Ich habe mich seit damals verändert, und du kannst mir nun nicht mehr folgen. Was wirst du als nächstes tun?«

»Ich helfe beim Wiederaufbau des Raumhafens – wenn er denn wieder aufzubauen ist.«

»Der Untergrund von Golgatha wird euch alles an Technik liefern, was ihr braucht.« Sie nippte an ihrem Wein als Zeichen, daß sie das Thema zu wechseln gedachte. »Du weißt nicht zufällig, was aus Chance und seinen Kindern geworden ist, oder?«

»Oh, denen geht’s soweit ganz gut«, antwortete Silver leichthin. »Kerle wie er fallen immer auf die Füße. Die Espervereinigung kümmert sich um die Kinder. Sie befinden sich irgendwo hier im Haus. Ich schätze, die Verantwortlichen fühlen sich ein wenig schuldig, daß sie die Kinder jemandem wie Chance überlassen haben, und wenn auch nur aus dem Grund, daß sie nicht an die dunkle Seite des ESP erinnert werden wollten.« Er sah sich um. »Owen kommt zurück. Ich verschwinde jetzt besser, glaube ich. Paß auf dich auf, Hazel.«

»Du auch, John. Nach allem, was ich von dir gehört habe, hast du da draußen in den Straßen gekämpft wie ein richtiger Held.«

Silver grinste.

»Ja. Ich weiß überhaupt nicht, was in mich gefahren war.«

Er verbeugte sich vor ihr, winkte und verschwand im Gewühl der Feiernden.

Nicht weit entfernt unterhielten sich Investigator Topas und die Typhus-Marie leise miteinander. Keine von beiden machte sich viel aus Parties – schon aus Prinzip nicht –, doch nach dem Tod so vieler Menschen fühlten beide eine Sehnsucht nach dem Trost in der Menge . Als die Tausenden von Esperbewußtseinen in Legion gestorben waren, hatten sie sich durch die Verbindung zur Mater Mundi hindurch gegenseitig gesehen, und die kalte Hand des Todes war über ihre Seelen gestrichen . Also waren sie zur Halle der Espervereinigung gekommen, um sich ein wenig an der Gegenwart von Freunden zu wärmen.

»Ich weiß trotzdem immer noch nicht, ob ich das Richtige getan habe«, sagte die Typhus-Marie und starrte in ihr Wein-glas.

»Selbstverständlich hast du das«, entgegnete Topas brüsk.

»Jeder, der an Bord der Herausforderung starb, mußte einfach sterben – gleichgültig, ob es die unschuldigen Esperbewußtseine waren, die Legion in seinem Innern gefangenhielt, oder die Imperialen Schlächter, die gekommen waren, um uns alle umzubringen. Mich persönlich interessiert die Mater Mundi viel mehr. Wie fühlt man sich, wenn sie sich in einem manifestiert?«

Marie runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht so genau. Ich fange schon an, es zu vergessen. Ich glaube, mein Verstand beschützt mich vor Dingen, die zu begreifen ich noch nicht bereit bin. Ich fühlte mich… irgendwie größer, realer . Als wäre mein ganzes bisheriges Leben nichts als ein Traum gewesen, aus dem ich für kurze Zeit erwacht bin . Ein Teil von mir sehnt sich danach zurück, und der Rest hat allein bei dem Gedanken daran Angst… Außerdem macht mir diese Geschichte mit den Kontrollworten Sorgen. Der Kontakt mit der Weltenmutter löschte die Kontrollworte aus, die Razor aktiviert hatte, aber wer weiß schon, was die Imperialen Hirntechs sonst noch alles tief in mir verborgen haben?«

»Mach dir darüber Sorgen, wenn es soweit ist«, erwiderte Topas. »So wie wir dem Imperium heute hier auf der Nebelwelt in den Hintern getreten haben, können wir meiner Meinung nach ruhig davon ausgehen, daß wir eine ganze Weile Ruhe vor Imperialen Agenten haben werden. Außerdem bist du um einiges stärker geworden. Als sich die Mater Mundi in dir manifestierte, hat sie dich zugleich verändert. Deine Macht ist gewachsen. Ich kann es spüren. Wenn ich dich mit meinem ESP ansehe, dann ist es, als würde ich direkt in die Sonne starren.«

»Ich weiß«, antwortete die Typhus-Marie. »Noch etwas, weswegen ich mir Sorgen mache.«

»Zur Hölle! Du wärst wahrscheinlich nicht glücklich , wenn es nichts gäbe , worüber du dich sorgen könntest, wie? Es liegt in deiner Natur!«

»Stimmt«, gestand Marie.

Johana Wahn beobachtete aus sicherer Entfernung, wie die beiden Sirenen sich unterhielten; aber sie spürte eher so etwas wie Taubheit, anstatt Eifersucht. Sie kam noch immer nicht über die Tatsache hinweg, daß die Weltenmutter diesmal durch eine andere Person in Erscheinung getreten war. Johana hatte in den Straßen Nebelhafens um Hilfe gerufen, und die Mater Mundi hatte ihre Schreie ignoriert. Allmählich begann Johana Wahn zu begreifen, daß sie einen neuen Sinn in ihrem Leben finden mußte und daß sie nicht die Erwählte war, für die sie sich die ganze Zeit über gehalten hatte.

Ratsmitglied McVey saß neben Gideon Stahl, der schmollend vor der Punschbowle hockte. Der ehemalige Direktor des Raumhafens ärgerte sich mächtig über die Tatsache, daß es keinen Raumhafen mehr gab, dessen Direktor er sein konnte.

»Nun kommt schon, Stahl«, sagte McVey. »Nachdem Magnus und Barron tot sind und Castle vor Trauer um den Verstand zu kommen droht, und nachdem Donald Royal jedem, der es hören will oder nicht, erzählt, daß sein Schicksal ihn dazu auserkoren hat, an der Seite Jakob Ohnesorgs zu kämpfen, wohin auch immer er von hier aus gehen mag, bleiben nur noch wir beide als Ratsherren von Nebelhafen übrig.

Und wir haben einen ganzen Rattenschwanz von Arbeit vor uns, wenn wir diese Stadt wieder auf Vordermann bringen wollen. Ich kann es jedenfalls nicht allein, Gideon.«

Stahl seufzte traurig. »Vermutlich habt Ihr recht. Aber ich war gerne Raumhafendirektor. Es war der einzige Beruf, in dem ich jemals gut gewesen bin.«

»Es war der einzige Beruf, in dem Ihr einen ganzen Haufen Geld beiseite schaffen konntet.«

Stahl blickte McVey scharf an. »Das habt Ihr gewußt?«

»Selbstverständlich.«

»Und warum habt Ihr dann nie etwas gesagt?«

»Weil Ihr ein guter Raumhafendirektor wart. Es war eine harte Arbeit, und niemand anderes im Rat hat sie gewollt. Also, wie steht es? Werdet Ihr mir beim Wiederaufbau Nebelhafens helfen oder nicht? Denkt nur an all die Arbeitsverträge und die vielen Bauarbeiten , die Ihr leiten würdet. Ein Mann , der seine fünf Sinne beisammen hat, könnte ein Vermögen dabei verdienen.«

»Schon gut, Ihr habt mich überredet«, erwiderte Stahl.

»Wann fangen wir an?«

Wieder zurück auf die andere Seite des Raums war Neeson der Bankier gekommen, um Owen seine Aufwartung zu machen. Neeson sah müde und mitgenommen aus; doch er wirkte überraschend zufrieden.

»Ihr seht aus, als wärt Ihr im Krieg gewesen«, sagte Owen.

»Da habt Ihr verdammt recht«, erwiderte Neeson. »So viel Spaß hatte ich schon seit Jahren nicht mehr. Ihr müßt wissen, daß ich als Söldner angefangen habe. Euer Vater führte mich in die Welt des Geschäftemachens ein. Er meinte, jemand mit meinen Instinkten würde es als Bankier weit bringen. Wenn er gewußt hätte, wie recht er damit behalten sollte! Aber egal. Ich bin gekommen, um Euch zu sagen, daß meine Geschäftspartner und ich uns entschlossen haben, das alte Todtsteltzer-Informationsnetz wieder aufleben zu lassen.«

»Woher dieser plötzliche Sinneswandel?« spottete Hazel.

»Nun, zum einen wegen dem Edelmann an Eurer Seite«, antwortete Neeson. »Und zum anderen, weil jeder auf der Nebelwelt jetzt zur großen Rebellion gehört, ob er will oder nicht.

Und letztlich, weil wir alle uns heute seit vielen Jahren zum ersten Mal wieder lebendig fühlen. Geschäfte schön und gut, aber es ist nichts besonders Aufregendes, wißt Ihr? Was für ein armseliges Leben, wenn das einzige Vergnügen im Kündigen von Hypotheken besteht! Nein, als Rebell hat man da viel mehr Spaß. Wir sehen uns später, Todtsteltzer.«

Er nickte Owen und Hazel steif zu und wanderte davon auf der Suche nach Wein, Essen und einem weiteren Opfer, vor dem er mit seiner plötzlichen Gesinnungswandlung prahlen konnte. Kein Mensch ist begeisterungsfähiger als ein Konver-tierter im mittleren Alter. Neeson wurde von Tobias Shreck und seinem Kameramann Flynn ersetzt. Ihre Presseausweise hatten die beiden vor dem allgemeinen Gemetzel an den angreifenden Streitkräften bewahrt; doch jetzt waren sie auf der Nebelwelt gestrandet, bis sie sich eine Passage erbetteln oder durch Bestechung erschleichen konnten.

»Hallo auch«, sagte Tobias. »Macht es Euch etwas aus, wenn wir uns zu Euch gesellen? Wir haben auch unsere eigene Hasche mitgebracht.«

»Da spricht endlich einmal ein zivilisierter Mann«, sagte Owen. »Wenn ich Euch richtig verstanden habe, seid Ihr daran interessiert, uns verzweifelte Rebellen zu begleiten, wenn wir von hier aufbrechen?«

»Da habt Ihr uns verdammt richtig verstanden«, antwortete Tobias. »Wo Ihr seid, sind die guten Storys. Außerdem haben wir schon alle anderen gefragt, und jeder hat nein gesagt.«

»Also schön, meinetwegen«, sagte Owen. »Wenn Ihr nach einer guten Story sucht: Einige meiner Bundesgenossen planen eine Expedition zu einem Planeten namens Hakeldamach. Ich werde Euch mit ihnen in Kontakt bringen. Warum interviewt Ihr in der Zwischenzeit nicht Jakob Ohnesorg? Er ist der offizielle Held der Stunde.«

Tobias und Flynn wechselten einen Blick; dann beugte sich Tobias vor und senkte die Stimme. »Seid Ihr sicher, daß der dort Jakob Ohnesorg ist?«

Owen und Hazel verzogen keine Miene, doch auch sie beugten sich vor und senkten die Stimmen. »Wieso denkt Ihr, daß er es nicht sein könnte?« erkundigte sich Hazel.

»Weil wir gesehen haben, wie er eine Rebellion auf Technos III angeführt hat, und das ist erst ein paar Wochen her«, antwortete Tobias. »Und er sah… ganz anders aus. Viel älter.«

»Ein ganzes Stück älter«, stimmte Flynn zu. »Ich habe alles aufgenommen, und meine Kamera lügt nie.«

»Viele Leute haben im Laufe der letzten Jahre von sich behauptet, Jakob Ohnesorg zu sein« entgegnete Owen vorsichtig.

»Sagen wir einfach, dieser hier wirkt überzeugender als die meisten anderen.«

Tobias blickte über die Schulter zu Ohnesorg, der noch immer von Gratulanten und hingerissenen Anhängern umgeben war. »Macht es Euch denn gar nichts aus, daß er den ganzen Ruhm für sich allein beansprucht? Ihr habt alle beide wenigstens genausoviel zum Sieg beigetragen wie er. Flynn hat das meiste davon auf Band.«

Hazel zuckte die Schultern. »Nichts geht mir mehr auf die Nerven, als wenn ich von Autogrammjägern verfolgt werde.

Soll er doch der Held sein, wenn es ihm soviel Spaß macht. Ich für meinen Teil habe mich nie sonderlich wohl in dieser Rolle gefühlt

»Aufgepaßt«, sagte Owen. »Sieht so aus, als will unser Held eine Rede halten.«

Die Ansprache, die daraufhin folgte, war eine Sensation.

Kurz, knapp, präzise, inspiriert und witzig . Ein professioneller Redenschreiber hätte es nicht besser machen können. Jung Jakob Ohnesorg rührte das Blut der Volksseele auf, indem er ihre Taten bei der Verteidigung der Stadt pries, und er versprach ihnen für die Zukunft weitere Schlachten gegen die Ungerechtigkeiten des Imperiums. »Vorwärts nach Golgatha!« rief er, und alles jubelte und applaudierte. Hazel und Owen schlossen sich dem Applaus an, um nicht kleingeistig zu erscheinen; doch keiner von beiden war von Ohnesorgs Worten sonderlich beeindruckt. Für den Todtsteltzer und die ehemalige Piratin war er einfach zu gut, um echt zu sein.

Doch alles in allem betrachtet, spürte Owen in sich einen wachsenden Optimismus. Zum ersten Mal schien der Lauf der Dinge seinen Vorstellungen zu folgen. Die Imperiale Invasion war abgewehrt; Nebelhafen war gerettet; seine eigene Mission war ganz offensichtlich ein gewaltiger Erfolg, und er hatte seinem eigenen Tod ins Gesicht gesehen und am Ende doch überlebt. Nicht, daß er jemals ernsthaft an die Prophezeiung der Kinder geglaubt hätte, doch es war ein gutes Gefühl, die Angelegenheit hinter sich zu wissen. Es war, als hätte er einen neuen Vertrag mit dem Leben abgeschlossen, und das Leben gefiel ihm im Augenblick ausgesprochen gut.

Owen und Hazel standen beieinander und beobachteten die Menge, die sich heiser jubelte, und insgeheim waren beide hoch zufrieden.

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