KAPITEL SECHS DER STURM ZIEHT AUF

Das Imperium war in seinem Übergang von der alten zur neuen Ordnung gefährlich geschwächt und fand sich nun von allen Seiten gleichzeitig angegriffen. Und alles ging in Windeseile zum Teufel. Alte Feinde stürmten heulend aus der Dunkelheit hervor und fielen wie die Wölfe über die ungeschützten Kolonien am Abgrund her.

Eine gewaltige Flotte von Shub-Sternenschiffen brach aus dem Verbotenen Sektor hervor, fegte den Quarantäne-Sternenkreuzer zur Seite und verwüstete jeden bewohnten Planeten auf ihrem Weg. Diese Schiffe waren angetrieben vom neuen Hyperraumantrieb, wie ihn die Fremdwesen entwickelt hatten, und praktisch nicht aufzuhalten, außer von den wenigen Sternenkreuzern der E-Klasse, über die die Imperiale Flotte noch verfügte.

Die großen goldenen Schiffe der Hadenmänner tauchten aus dem Nichts auf und fielen grausam über ahnungslose Planeten überall entlang des Abgrunds her – der Zweite Große Kreuzzug der Genetischen Kirche. Rasch wurde deutlich, daß sie aus getarnten Stützpunkten tief unter den Oberflächen unbewohnter Planeten hervorkamen. Die Hadenmänner hatten in jüngster Vergangenheit geheime Nester überall im Imperium angelegt, um nicht noch einmal alle ihre Eier in einen einzelnen, zerbrechlichen Korb zu legen. Die Verwüstung von Brahmin II durch den Todtsteltzer hatte ihnen recht gegeben, und angespornt durch die Vernichtung dessen, was als ihre zweite Heimatwelt geplant gewesen war, öffneten sich alle Nester der Hadenmänner auf einmal. Die riesigen goldenen Schiffe aus gefürchteten Legenden zogen erneut ihre Bahn durch die weite Nacht und brachten Tod und Zerstörung und Schlimmeres als den Tod.

Auch die Insektenschiffe tauchten wieder auf. Lautlos glitten sie aus der Dunkelheit hervor wie riesige, klebrige Kugeln aus kompaktem Netzgewebe, angetrieben von unbekannten Kräften. Mühelos durchbrachen sie planetare Verteidigungsanlagen und luden krabbelnde Armeen von Killerinsekten aus, die ganze Städte lebendig verschlangen und nichts anderes zurückließen als nackte, abgenagte Knochen. Sie äußerten keine Drohungen, stellten keine Forderungen und wichen weder vor Zureden noch vor Warnungen zurück. Sie fielen einfach in lautlosem Grauen vom Himmel und machten sich über alles Lebendige her. Bald waren ganze Planeten draußen am Abgrund bedeckt von umhertrippelnden, durcheinanderwogenden Insekten, die blind durch die Ruinen dessen krabbelten, was einmal Städte der Menschen gewesen waren.

Das Imperium vergeudete bemerkenswert wenig Zeit, ehe es zur eigenen Verteidigung schritt. Das Parlament machte aus Golgatha eine große Kommunikations- und Taktikzentrale, warnte alle Planeten und Kolonien, die in Gefahr waren, und sandte eilig Schiffe, Soldaten und Waffen zu den Welten, die noch nicht gefallen waren oder noch keinem Angriff ausgesetzt. Zum Glück erwies sich, daß Shub, die Hadenmänner und die Insekten zwar allesamt Feinde der Menschheit waren, aber kein Interesse an irgendeiner Form von Bündnis untereinander zeigten. Jeder ging seinen eigenen Weg, suchte sich eigene Ziele und kooperierte nicht mit den übrigen Angreifern, nicht einmal, wenn es eindeutig im eigenen Interesse gewesen wäre.

Sie griffen sich jedoch auch nicht gegenseitig an und hielten sich alle an das jeweils eigene Gebiet. Zunächst jedenfalls.

Den ganzen Abgrund entlang fielen die Kolonien, eine nach der anderen. Die drei Angriffsstreitmächte drangen stetig tiefer ins Imperium vor, in Richtung der dichteren Zentren menschlicher Besiedelung und des verletzlichen imperialen Herzens: Golgatha. Manche Kolonisten versuchten, wider die Wünsche und den Rat des Parlaments, Abkommen mit denen zu schließen, die sie angriffen. Es nützte ihnen nichts.

General Becketts verwüstete Imperiale Flotte gab sich Mühe, aber ihre Fähigkeiten waren von Anfang an begrenzt. Die wenigen noch existierenden Schiffe der E-Klasse mit dem neuen Hyperraumantrieb konnten nicht überall zugleich sein, und fortlaufend kamen Hilferufe von angegriffenen Planeten. Beckett schickte die Reste seiner Flotte kreuz und quer durchs Imperium und warf auch noch das letzte Schiff ins Gefecht, das überhaupt eine Besatzung und funktionsfähige Geschütze hatte, sogar die Einheiten, die die Dunkelwüste patrouillierten. Er hetzte sie von einem Krisenherd zum nächsten, aber allzu oft kamen sie zu spät, um noch etwas zu bewirken. Schließlich versuchte Beckett es damit, die Flotte aufzuspalten und die stärksten Sternenkreuzer zu den Planeten zu schicken, die in der unmittelbarsten Gefahr schwebten. Imperiale Sternenkreuzer jedoch, die der Feind allein antraf, fanden sich rasch mit einer Übermacht und überlegener Feuerkraft konfrontiert, so daß ihnen keine andere Wahl blieb, als um ihr Leben zu flüchten, oft schwer beschädigt. Das Parlament wurde durch den Verlust zu vieler unersetzlicher Schiffe nervös und befahl Beckett, die Flotte umzugruppieren und auf kürzere Linien zurückzuziehen, um die dichter bevölkerten Zentralwelten des Imperiums zu verteidigen. Alle übrigen mußten sehen, wo sie blieben. Die Bevölkerungen ganzer Welten versuchten, ihre Heimat zu verlassen, und drängten sich in die Laderäume jedes Schiffes, das über einen funktionsfähigen Hyperraumantrieb verfügte. Viele erreichten nie ihre Ziele. Viele weitere planetare Bevölkerungen leisteten in ihrer Heimat Widerstand, wollten lieber sterben, als die Welten aufgeben, die sie sich durch Generationen harter Arbeit und Opfer zu eigen gemacht hatten.

Die Invasion war tatsächlich schon abgebremst worden, als Shub eine neue Angriffswelle einleitete. Riesige Flotten neuer Schiffe hatten ihren Auftritt, zwar ohne den neuen Hyperraumantrieb, aber hergestellt aus den abgeernteten Metallwäldern von Unseeli. Aus diesen Schiffen strömten gewaltige Heere aus Geistkriegern und Furien und den tödlichen biomechanischen Fremdwesen hervor, die die abtrünnigen KIs aus den geheimen Gewölben auf Grendel geraubt hatten. Sie waren unaufhaltsam und unerbittlich und lebten nur, um zu töten. Tote Menschen mit Lektronen-Implantaten. Stählerne Maschinen in Menschengestalt. Fremdwesen, von einer vergessenen Spezies biotechnisch als perfekte Mordmaschinen hergestellt. Horrortruppen. Schreckenswaffen. Wie die Insekten überrannten sie die Armeen der Menschheit und ließen nur Blut und Gebeine zurück. Trotzdem leisteten die Menschen weiter Widerstand und vergaßen alte Feindschaften und Gegensätze im Angesicht eines gemeinsamen Feindes. Nicht nur Niederlagen gab es, sondern auch Siege, aber nie genug.

Das Imperium erlebte eine Invasion an drei Fronten durch seine tödlichsten Feinde, und die Kämpfe tobten auf Welten, die bereits durch die langen und bitteren Gefechte der Rebellion gelitten hatten und geschwächt waren. Manche Leute konnten einfach nicht mehr kämpfen. An allem, was man für einen Krieg brauchte, herrschte Knappheit – denn die Schiffe und die Waffen, die die Invasoren hätten stoppen sollen, waren von den Menschen schon gegeneinander eingesetzt und dabei verbraucht worden. Shub und die Hadenmänner und die Insekten hatten einen günstigen Zeitpunkt gewählt. Trotzdem focht die Menschheit weiter und dankte Gott dafür, daß zumindest die fremdartigen Neugeschaffenen bislang nicht aufgetaucht waren. Denn niemand war mehr frei, um die Dunkelwüste zu überwachen.

Die Menschen riefen nach ihren Helden, den großen Kriegern der Rebellion, aber die meisten waren tot oder nirgendwo zu finden. Und die vier größten, die das Labyrinth des Wahnsinns überlebt hatten, waren in die Ferne auf wichtige Einsätze geschickt worden, von denen sie womöglich nicht mehr zurückkehrten.

Die Armee der abtrünnigen KIs von Shub erreichte den Planeten Loki, die Welt der ewigen Stürme, eingeladen von Verrätern unter den Menschen. Geistkrieger marschierten ungerührt durch die heulenden Winde, Seite an Seite mit menschlichen Überläufern. Die äußeren Siedlungen fielen schnell, und die zentrale Stadt Vidar, von wo aus die weitgespannten Bergbaubetriebe geleitet wurden, schickte einen verzweifelten Hilferuf.

Schiffe waren nicht verfügbar, aber der Planet war wertvoll, und so entschied sich das Parlament für die nächstbeste Lösung und schickte Jakob Ohnesorg und Ruby Reise dorthin.

Die Herausforderung fiel über Loki aus dem Hyperraum, blieb gerade eben lange genug, um eine schwer gepanzerte Pinasse auszusetzen, und war schon wieder verschwunden, denn sie wurde dringend andernorts benötigt. Die in das Vierfache der üblichen Panzerung gehüllte Pinasse fiel wie ein Stein durch die heftig durcheinanderwirbelnde Atmosphäre Lokis. Im Innern klammerten sich die beiden lebenden Legenden und ihre Eskorte aus Marineinfanteristen verzweifelt an jeden Haltegriff, den sie nur finden konnten, und wurden dabei in ihren Sicherungsnetzen wie verrückt hin und her geschaukelt. Überall leuchteten Warnlampen, und alles, was nicht buchstäblich festgenagelt war, flog wie Schrapnell durch die beengte Kabine. Ein halbes Dutzend Marineinfanteristen zogen die Köpfe ein und taten ihr Bestes, um die jüngste Mahlzeit in sich zu behalten. Ohnesorg bemühte sich darum, einen stoischen und erfahrenen Eindruck zu verbreiten, während Ruby in ihrem Sicherungsnetz begeistert hin- und herschwenkte und jedesmal einen Jubelschrei ausstieß, wenn das Fahrzeug absackte oder schlingerte.

»Na, das nenne ich einen Flug!« schrie sie durch den Lärm hindurch, den der Sturm und die hart arbeitenden Triebwerke der Pinasse verbreiteten. »Für so eine Fahrt müßte man in den Freizeitparks auf Golgatha kräftig blechen!«

»Könnt Ihr diese Kiste nicht ruhiger steuern?« schrie Ohnesorg dem Piloten zu, der vorn in der Kabine saß. Der Boden sackte erneut unter Ohnesorg weg, und er hielt sich mit beiden Händen grimmig an einer Stütze neben ihm fest. »Ich war schon in abstürzenden Fahrstühlen, in denen es bequemer zuging!«

»Spielverderber!« sagte Ruby laut. »Du wirst alt, Ohnesorg!«

»Haltet verdammt noch mal die Klappe, ich muß mich konzentrieren!« schrie der Pilot völlig ungerührt zurück. »Die Gyros sind in einem solchen Wetter nutzlos; die Bedingungen schwanken zu schnell, als daß die Lektronen damit fertig würden. Das Beste, was wir im Moment tun können, ist fallen wie ein Stein und hoffen, daß die Bedingungen weiter unten besser sind. Ich würde allerdings nicht darauf wetten. Falls Euch nicht gefällt, wie ich fliege, findet Ihr Fallschirme unter den Sitzen.

Natürlich würden die Blitze Euch rösten, sobald Ihr die Außenluke öffnet, aber das ist Euer Problem. Danke, daß Ihr mit uns geflogen seid, und versucht um Gottes willen, wenigstens einen Teil Eurer Freude in die Brechtüte zu bekommen.«

»Soll der Mann doch seinen Job tun«, sagte der wuchtig gebaute Sergeant links neben Ohnesorg – ein dreißig Jahre alter Mann von kräftiger Gestalt und mit einer eindrucksvollen Zahl von Kampfabsprüngen auf dem Buckel. Sein Gesicht war zur Hälfte von einer Tätowierung bedeckt, die Spinnweben darstellte, und goldene Schädel- und Knochenanhänger baumelten an beiden Ohren. Auf dem Namensschild stand MÜLLER. »Er hat diesen Flug schon zweimal absolviert, also zweimal mehr als jeder andere. Er weiß, was er tut.«

»Ich bin froh, daß wir überhaupt jemanden gefunden haben«, sagte Ruby, die in einem Sicherungsnetz rechts neben Ohnesorg hockte. »Ich meine, normalerweise steckt man Leute, die aus freien Stücken den Wunsch äußern, Loki zu besuchen, gleich in eine Gummizelle und setzt sie unter eine Industriedosis Beruhigungsmittel, ehe sie sich selbst weh tun. Loki ist der einzige Planet des Imperiums mit noch schlechterem Wetter als Nebelwelt. Man hat Kolonisten nur angelockt, indem man ihnen enorme Landzuteilungen versprach und mehr Geld, als sie in einem ganzen Leben ausgeben könnten. Falls das Imperium einen Einlauf gebrauchen könnte, würde man diesen Planeten als Eingangsstelle…«

»Wir mußten kommen«, unterbrach sie Ohnesorg. »Wir werden gebraucht.«

»Ich war auf Golgatha vollkommen glücklich«, entgegnete Ruby. »Ich habe dort in einer zivilisierten Stadt gelebt, wo das Wetter tut, was man ihm sagt, und ging möglichen Verbindungen zu Shub nach. Aber nein, der verdammte Jakob Ohnesorg muß ja wieder als Held losziehen und mich mit in die Sache hineinziehen!« »Du weißt, daß wir kommen mußten«, sagte Ohnesorg. Er wandte sich wieder an den Sergeanten. »Seid Ihr sicher, daß sich Jung Jakob Ohnesorg irgendwo dort unten herumtreibt?«

»O ja! Wir haben Holovidaufnahmen, falls Ihr sie sehen möchtet.« Müller verzog den Mund, als hätte er gerade etwas Saures gekostet. »Der Kameramann wurde geröstet, ehe er viel senden konnte, aber wir sind ziemlich sicher, die Furie richtig identifiziert zu haben. Ich dachte, Ihr hättet erzählt, er wäre auf Golgatha umgekommen.«

»Das ist er«, bekräftigte Ohnesorg. »Zeigt uns die Aufnahmen.«

Der Sergeant stellte die Verbindung zum Lektron der Pinasse durch, und das Holovid wurde über Ohnesorgs und Rubys Komm-Implantate abgespielt und direkt durch ihre Sehnerven geleitet. Die Kabine der Pinasse verschwand, und ruckhafte Bilder von einem Dorf in Flammen traten an ihre Stelle. Windböen fachten die Brände immer wieder an, und schwarzer Qualm wogte durch die Straßen, stark durchsetzt mit Rußflocken und Asche. Überall lagen Leichen – Männer, Frauen und Kinder in großen Blutlachen. Nicht alle Leichen waren noch vollständig.

Geistkrieger marschierten steif durch das Inferno, ungerührt durch die gewaltige Hitze – wandelnde Tote, deren graues Fleisch auf den Knochen verfaulte. An ihrer Spitze schritt singend und lachend, ein bluttriefendes Schwert in einer Hand, der junge Jakob Ohnesorg. Groß, muskulös, gutaussehend, jeder Zoll ein legendärer Held. In der anderen Hand hielt er einen abgetrennten Menschenkopf an den blutverklebten Haaren. Er blieb stehen, als er die Kamera spürte, drehte sich um und stellte sich in Pose, wobei sich seine Umrisse vor den blutroten Flammen eines brennenden Hauses abzeichneten. Er lächelte breit und zeigte perfekte weiße Zähne. Von seiner silbernen Rüstung rann das Blut, aber nichts davon war sein eigenes. Er hielt den abgetrennten Kopf mit dem Gesicht zur Kamera, lachte und deutete mit dem blutigen Schwert darauf.

Zwei Geistkrieger näherten sich der Kamera. Die Aufnahme brach plötzlich ab, und die Kabine der Pinasse wurde wieder sichtbar. Ohnesorg und Ruby sahen sich gegenseitig an.

»Nun?« fragte Müller. »Ist er das?«

»O ja«, sagte Ruby. »Das ist Jung Jakob Ohnesorg, mit dem beschäftigt, was er am besten kann.«

»Und wie lautet die wahre Geschichte?« wollte der Sergeant wissen. »Offiziell ist der Mann als Held gestorben, als er die Straßenkämpfe in Parade der Endlosen anführte. Inoffiziell kursieren alle möglichen Gerüchte. Manche behaupten, er wäre von den eigenen Leuten getötet worden, weil er sie verraten hätte. Andere sagen, Ihr und Eure Freunde hättet ihn umgebracht, weil er nicht mit dem Abkommen einverstanden gewesen wäre, das Ihr mit dem Schwarzen Block ausgehandelt habt.

Wieder andere sagen, er wäre nie umgekommen. Er wäre einfach fortgegangen, erfüllt von Abscheu über all die Gemetzel, um erst zurückzukehren, wenn das Imperium in größter Not wäre. Vielen Leuten hat besonders diese Version gefallen. Wie es heißt, hätten sich Leute um ihn geschart wie um einen Erlöser, als er auf Loki erschien. Bis von den wenigen Überlebenden die Nachricht kam, daß er eine Armee von Geistkriegern anführte und nicht daran interessiert war, Gefangene zu machen. Also, erklärt es mir. Falls ich diesem Mann auf dem Boden gegenübertreten muß, habe ich ein Recht, alles zu erfahren.«

»Natürlich habt Ihr das«, sagte Ohnesorg. »Er ist kein Mensch. Er ist eine Maschine. Eine Furie. Ihr versteht sicherlich, warum wir dachten, wir müßten das geheimhalten.«

»Jesus!« sagte Müller. »Aber… er war ein Held! Er hat die Rebellion mit angeführt!«

» Shub hat hier eine langfristige Perspektive verfolgt«, erklärte Ruby. »Für den Fall unseres Sieges wollten sie einen der ihren in einer Position mit Macht und Einfluß haben. Wer Jung Jakob Ohnesorg wirklich war, das haben wir nur durch Zufall herausgefunden. Ein Esper-Kollege hat seinen Körper völlig zerstört. Hat ihn flachgedrückt wie ein metallisches Verkehrsopfer.«

»Wie konnte er dann wieder hier auftauchen und Ärger machen?«

»Sieht so aus, als hätte Shub einen neuen gebaut«, sagte Ohnesorg. »Eine weitere Nachbildung von mir. Ich schätze, ich sollte mich geschmeichelt fühlen. Das ist psychologische Kriegsführung. Ein kleines Extra, um die Moral der Menschen zu untergraben. Oder vielleicht ein Köder, der mich herlocken sollte, aus Gründen, die nur die abtrünnigen KIs kennen. Wenn wir die Furie gefunden haben, werde ich mich nachdrücklich davon überzeugen, was sie über die Sache weiß. Bevor ich sie erneut vernichte.«

»Falls wir sie finden«, gab Ruby zu bedenken. »Furien können verflucht viel einstecken. Julian Skye war ein starker Esper. Wir haben keine Garantie, daß wir jemanden seines Kalibers dort unten antreffen.«

»Julian Skye hat das Original umgebracht?« fragte der Sergeant, und seine Miene hellte sich auf. »Verdammt, ich sehe mir seine Serie regelmäßig an! Er war ein echter Held!«

»Ja«, sagte Ohnesorg. »Einer der wenigen, auf die das zutrifft. Ich wünschte, wir hätten ihn hier dabei.«

»Ist wahrscheinlich zu stark mit Nahaufnahmen beschäftigt«, meinte Ruby. »Während wir die Schmutzarbeit übernehmen, wie immer. Was ist los, Sergeant? Reichen dir zwei lebende Legenden nicht?«

»Sollte keine Beleidigung sein!« antwortete der Sergeant schnell. »Jeder weiß, was Ihr geleistet habt. Und ich bin sicher, den echten Jakob Ohnesorg als Anführer zu erhalten wird wahre Wunder auf die Moral der Zivilisten zeitigen.«

Die Pinasse schlingerte wild hin und her, als sie in eine weitere Turbulenz geriet. Die Sicherungsnetze schwankten heftig und rammten die in ihnen sitzenden Personen aneinander. Die Kabinenbeleuchtung flackerte und drohte auszufallen, hielt aber irgendwie durch. Donner grollte fast unaufhörlich; Blitze krochen am Rumpf entlang, und der Sturm heulte wie mit Stimmen. Die andauernden Flüche des Piloten wurden immer schlimmer, während seine Hände über die Steuerung huschten.

Der Sergeant schwenkte sich aus seinem Sicherungsnetz heraus und hielt sich an zwei getrennten Griffen fest, um sich gegen das Rollen und Schaukeln der Maschine zu sichern.

»Ich sehe lieber mal nach, ob ich dem Piloten helfen kann!

Bin gleich zurück!«

Er stolperte den schmalen Zwischengang entlang, warf sich auf den Platz des Copiloten und schnallte sich dort an. Seine Lippen und die des Piloten bewegten sich, aber Ohnesorg verstand nichts. Die beiden hatten auf einen Privatkanal ihrer Komm-Implantate umgeschaltet, was andeutete, daß wirklich schlechte Nachrichten vorlagen. Ohnesorg wandte den Blick ab und musterte die übrigen Marineinfanteristen in ihren Sicherungsnetzen ihm gegenüber. Sie beachteten ihn nicht; jeder war in seine eigenen Rituale der Beruhigung vertieft.

Einer schob einen Neon-Rosenkranz zwischen den Fingern hindurch, hatte die Augen geschlossen und bewegte die Lippen im lautlosen Gebet. Ein anderer versuchte, seinem Nachbarn, der zu schlafen vorgab, einen endlosen Witz zu erzählen. Die übrigen tauschten eine metallene Feldflasche irgendeines Inhalts miteinander, boten sie aber nicht Ohnesorg oder Ruby an.

Ohnesorg gab seiner Gefährtin einen Wink, sie möge sich näher zu ihm herüberbeugen. Normalerweise wäre jedes Murmeln in diesem Lärm untergegangen, aber Jakob und Ruby verstanden sich immer, egal unter welchen Bedingungen. Wieder eine der Gaben des Labyrinths.

»Ich hatte mich gefragt, warum man uns hierher schicken wollte, wo wir doch soviel Erfolg damit hatten, die Verbindungen von Shub zu enttarnen«, sagte Ohnesorg. »Aber falls das dort unten wirklich der junge Jakob Ohnesorg ist, dann sind wir womöglich die letzte Hoffnung für Loki

»Vielleicht«, sagte Ruby. »Aber warum uns und nicht Owen und Hazel? Sie haben doch heutzutage die Lizenz zum Problemlösen. Da muß ich mich einfach fragen, ob wir bei unseren Ermittlungen zu dicht an etwas oder jemanden geraten sind, das oder der nicht enttarnt werden wollte.«

»Nein«, sagte Ohnesorg. »Ich hätte ohnehin darauf bestanden, diesen Auftrag zu erhalten, und das war ihnen bekannt.

Ich muß das einfach tun. Ich war nicht dabei, als mein metallischer Doppelgänger zerstört wurde. Ich erhielt nie die Chance, ihm gegenüberzutreten, mich gegen ihn zu bewähren. Ich muß einfach sehen, wie er vor mir fällt, Ruby. Ich muß ihn einfach mit bloßen Händen zerreißen für all das, was er tat, während er mein Gesicht trug.«

»Und nicht nur deshalb, weil er eine Zeitlang ein besserer Anführer zu sein schien und ein viel eher glaubhafter Held?«

»Natürlich nicht«, verwahrte sich Ohnesorg. »Wie kannst du nur so etwas von mir denken?«

Sie lächelten einander trocken an, und dann explodierte die Kabinenwand ihnen gegenüber. Ein ganzer Abschnitt des Rumpfs verschwand einfach, wurde vom direkten Treffer einer Disruptorkanone weggepustet. Die Marineinfanteristen wurden durch das klaffende Loch gesaugt; die Sicherungshaken lösten sich innerhalb eines Augenblicks aus dem Stahlboden, und die Männer waren verschwunden, ehe sie auch nur die Zeit fanden zu schreien. Neue Alarmsirenen heulten auf, und rote Warnlampen leuchteten, als die Kabinenatmosphäre durch den Rumpfbruch entwich und die Temperatur in den Keller stürzte.

Die Pinasse rotierte im Sturz und raste in Spiralen zum Planetenboden hinunter. Der Pilot fuhr die Triebwerke hoch und bemühte sich, die gegnerische Zielerfassung auszumanövrieren. Ohnesorg und Ruby rangen nach Luft, als der Kabinendruck fiel, und Atemmasken fielen von oben herab vor ihre Gesichter. Sie wollten nach den Masken greifen, aber ihre Sicherungsnetze wurden zur Rumpföffnung gesaugt, und sie konnten nichts weiter tun, als sich festzuhalten. Ohnesorg atmete schwer und betete darum, daß die Sicherungshaken hielten. Weder er noch Ruby konnten irgendwas tun, bis das Schiff tief genug gesunken war, damit sich wieder ein Druckausgleich herstellte.

Dann blickte Jakob zu Ruby hinüber und stellte fest, daß sie sich bemühte, die Gurte zu lösen. Er schrie sie an, aber sie wollte nicht auf ihn hören. Das Netz öffnete sich schließlich, und Ruby sprang auf den rutschigen Stahlboden und klammerte sich wie mit Schraubstöcken an einen nahen Haltegriff. Dann ließ sie mit einer Hand wieder los und streckte sie nach einem Waffenschrank an der Wand aus. Er war fast so breit wie hoch und mußte mehr als eine halbe Tonne wiegen. Ruby riß ihn aus der Wand, und mit einer Anstrengung, die ihr einen gequälten Schrei entriß, schleuderte sie ihn auf die Rumpföffnung zu. Er wurde dort von der entweichenden Luft festgesaugt und dichtete die Lücke ab.

Der Luftdruck in der Kabine normalisierte sich rasch wieder, und Ohnesorg kämpfte sich aus seinem Sicherungsnetz heraus und rannte hinüber, um den Waffenschrank an Ort und Stelle festzuhalten. Ruby war schnell an seiner Seite. Blut tropfte ihr aus der Nase, aber sie hielt einen Schweißbrenner in der Hand, den sie in einem Werkzeugkasten gefunden hatte. Sie brauchte nur wenige Augenblicke, um den Schrank festzuschweißen.

Dann brachen sie beide förmlich zusammen und lehnten sich ans Schott. Sie atmeten schwer, aber jetzt eher vor Anstrengung als vor Luftmangel.

»Gut geworfen«, sagte Ohnesorg schließlich.

»Danke«, sagte Ruby. »Gut gefangen.«

»Bleib du, wo du bist, und geh es für einen Moment ruhig an.

Ich wechsle mal ein Wort mit dem Piloten.«

Ruby nickte müde und massierte sich behutsam die schmerzende Schulter, während sich Ohnesorg mühsam aufrappelte und zum vorderen Ende der Pinasse stolperte. Weder der Pilot noch der Sergeant drehten sich um, als er zu ihnen trat.

»Das muß eine Disruptorkanone gewesen sein«, sagte er und hielt sich an den beiden Rückenlehnen fest, um die Balance zu wahren. »Begleitet uns irgend jemand hier oben?«

»Ich denke nicht«, antwortete der Sergeant. »Die Sensoren hätten ein anderes Fahrzeug entdeckt, selbst mitten in diesem Mist hier. Muß ein Bodengeschütz gewesen sein.«

»Dann muß Shub es geliefert haben«, fand Ohnesorg. »In den Dateien gibt es keinen Hinweis darauf, daß die menschlichen Verräter über dergleichen verfügten.«

»Na ja, jetzt tun sie es«, sagte der Pilot. »Und wir sind hier oben ein leichtes Ziel. Nur das Wetter und die Turbulenzen hindern sie daran, uns für einen weiteren Schuß ins Visier zu nehmen.«

»Haben wir Energieschirme?« fragte Ohnesorg und beugte sich über die Schulter des Sergeanten, um die Steuerungspaneele in Augenschein zu nehmen. Dort schienen verdammt viele Warnlampen zu brennen.

»Nein. Die Triebwerke brauchen die ganze Energie, um sich gegen den Sturm zu wehren. Und unsere Panzerung war nie für die Abwehr von Strahlenwaffen gedacht. Pilot, könnt Ihr uns nicht schneller hinunterbringen?«

Der Pilot öffnete den Mund für eine schneidende Bemerkung, aber in diesem Augenblick explodierte das Fenster vor ihm zu Schrapnellen, als die Pinasse einen weiteren direkten Treffer einsteckte. Hundert Panzerglasfragmente schlugen innerhalb einer Sekunde im Piloten ein und töteten ihn auf der Stelle. Luft stürzte durch die Öffnung herein. Ohnesorg, der den Trick eben neu gelernt hatte, riß das nächste Schließfach von der Wand und stopfte die Lücke ganz ordentlich, und der Luftdruck stabilisierte sich wieder.

Die Triebwerke heulten, während die Pinasse wie ein Stein vom Himmel fiel. Ohnesorg zerrte den toten Piloten aus dem Weg, schnallte sich selbst auf dem Kommandositz an und betrachtete die Steuerungselemente. Sie waren der Oberfläche schon viel näher, als er erwartet hatte, aber es war trotzdem noch ein verflucht weiter Weg nach unten. Ohne eine Hand am Ruder wechselten sich im Frontfenster Eindrücke von Himmel und Wolken und Bodenflächen rasch ab. Ohnesorg säuberte die Steuerung von Blut, so gut es ging, und achtete sorgfältig darauf, nichts einzuschalten, ehe er nicht wußte, was er damit tat.

Er drehte sich zum Sergeanten auf dem Sitz des Copiloten um und stellte fest, daß der Mann reglos und vornübergesunken dasaß. Ohnesorg streckte die Hand aus und zog ihn zurück auf seinen Platz. Müllers Kopf kippte kraftlos nach hinten und starrte blicklos zur Decke hinauf. Ein großer Splitter Panzerglas steckte in einer blutigen Augenhöhle.

»Mausetot«, stellte Ruby fest, die gerade neben Ohnesorg auftauchte. »Es läuft mal wieder alles erwartungsgemäß.«

»Zieh ihn herunter und setz dich auf seinen Platz«, wies Ohnesorg sie an. »Ich brauche deine Hilfe, um die Mühle zu landen.«

Ruby tat wie geheißen, setzte sich auf den Platz des Copiloten und blickte zu Ohnesorg herüber. »Du hast doch schon mal sowas geflogen, oder, Jakob?«

»Möchtest du die schlechten Nachrichten hören oder die wirklich schlechten Nachrichten?«

»O Scheiße!«

»Eine gelungene Zusammenfassung. Die beiden Disruptortreffer haben die Steuerung schwer beschädigt. Und falls ich die Anzeigen richtig deute, hat es noch weitere Systeme erwischt.

Die Triebwerksleistung sinkt, einer der Hauptlufttanks hat Risse, und die für die Landung zuständigen Lektronen sind zum Teufel. Abgesehen davon müßte es sich als Zuckerschlecken erweisen, eine unvertraute Maschine in einem niemals endenden Sturm in unbekanntem Gebiet zu landen. Noch Fragen?«

»Nur eine. Wo, hat dieser Sergeant gesagt, finden wir die Fallschirme?«

»Vergiß sie. Hier oben blitzt es genug, um dich in Asche zu verwandeln, ehe du auch nur die Reißleine ziehen könntest.«

»Fluchtkapseln? Gravschlitten?«

»In einem Schiff dieser Größe? Heh, warte mal eine Minute… O Scheiße! « Ruby sah ihn scharf an. »Mir hat der Tonfall wirklich nicht gefallen, in dem du das gesagt hast. Was ist los?«

»Die Hälfte der Lenksysteme haben sich gerade abgeschaltet.

Splitter des Fensters haben die Hauptlektronen durchsiebt. Wir fliegen jetzt gänzlich mit Reservesystemen. Sollte ich versuchen, die Handsteuerung einzuschalten, stürzt dieser Haufen Scheiße wie ein Stein ab. Nur die wenigen automatischen Systeme, die noch laufen, halten die Triebwerke in Gang.«

»O Scheiße!«

»Genau. Wir stürzen zur Zeit mit einem zerstörten Schiff, das wir nicht lenken können, auf die Oberfläche eines unbekannten Planeten, und das mit den Gleitflugeigenschaften eines Backsteins, aus dem noch ein Nagel ragt. Tue dir keinen Zwang an und melde dich, falls du irgendwelche cleveren Ideen hast, die keinen himmlischen Eingriff voraussetzen.«

»Also was unternehmen wir? Komm schon, Ohnesorg, du bist doch der Experte fürs Strategische. Überleg dir einen Ausweg aus diesem Schlamassel.«

»Strategien setzen Wahlmöglichkeiten voraus, und die haben wir anscheinend nicht mehr. Wir müssen uns einfach darauf verlassen, daß die verbliebenen Bordlektronen einen möglichst sanften Aufprall herbeiführen.«

»Wir können doch nicht so hilflos sein! Wir sind Überlebende des Labyrinths, verdammt noch mal! Übermenschen!«

»Leider nützt uns keine unserer Fähigkeiten etwas in dieser Lage. Wir müßten jedoch in der Lage sein, einen Absturz zu überleben, der jeden anderen umbringen würde. Verdammt, als ich auf Golgatha die Pastelltürme angegriffen habe, haben sie meinen Gravschlitten vom Himmel geschossen und mich dann in Brand gesetzt, und ich habe es trotzdem überstanden.«

Ruby starrte die nutzlose Steuerung an. »Es muß einfach etwas geben, was wir tun können. Etwas, was unsere Chancen erhöht.«

»Gibt es auch«, sagte Ohnesorg plötzlich. »Hilf mir mal.«

Er drückte heftig auf den Gurtknopf und sprang vom Sitz auf, und sein Gesicht leuchtete förmlich vor Inspiration. Er stolperte den schrägstehenden Zwischengang des zitternden Schiffs hinauf und machte sich daran, alle verbliebenen Sitze und Schließfächer loszureißen. Ruby beeilte sich, ihm zu folgen, von frischer Hoffnung bewegt.

»Was ist? Was hast du dir überlegt, Jakob?«

»Einen Kokon. Wir errichten eine Barrikade rings um uns, mehrere Schichten aus Stahl und Polsterung, und hoffen, daß sie den größten Teil des Aufpralls abfedert. Hilf mir mal. Wir haben nur noch ein paar Minuten.«

Ruby packte mit an und riß Halterungen los. Alles, was nicht direkter Bestandteil von Deck oder Rumpf war, endete als Teil der vielschichtigen Barrikade, die sie am vorderen Ende der Kabine auftürmten. Schließlich gingen ihnen Schrott und Zeit aus, und sie verkrochen sich in dem Kokon. Sie hatte gerade genug Platz gelassen, um sich hineinzuzwängen, und hockten dort nun und umklammerten einander. Sie waren so fest eingekeilt, daß sie kaum Luft bekamen. Das Geheul diverser Alarmsirenen lief inzwischen zu einem einzigen hysterischen Ton ineinander, und die rote Notbeleuchtung überzog alles mit der Farbe des Blutes. Der Sturm tobte nach wie vor draußen und prügelte das Boot hin und her.

»Ich hätte nie gedacht, daß ich mal so sterben würde«, bekannte Ruby Reise. »Einfach nur hilflos dasitzen und auf das Ende warten. Ich habe den Tod einer Kriegerin verdient. Eine Chance, im Kampf zu sterben, auf den Beinen, und dabei ein paar Feinde mitzunehmen.«

»Noch sind wir nicht tot«, wandte Jakob Ohnesorg ein. »Gib nie die Hoffnung auf, Ruby. Sie ist alles, was uns aufrecht hält.«

»Ich habe dich immer geliebt, Jakob. Werde ich auch immer.

Ich bin vielleicht nicht sehr gut darin, es zu zeigen, aber…«

»Ist schon in Ordnung. Ich weiß. Ich liebe dich auch, Ruby.

Falls wir das lebend überstehen, sollen wir es dann noch mal mit Zusammenleben probieren?«

»Verdammt, nein! So sehr liebe ich dich nun auch wieder nicht.«

Beide lachten leise.

»Wenigstens haben sie aufgehört zu schießen«, sagte Ohnesorg. »Entweder hat uns der Sturm über ihre Reichweite hinausgetrieben, oder sie halten uns schon alle für tot.«

»Seien wir dankbar für kleine Gunstbeweise«, schlug Ruby vor. »Weißt du, dieser Angriff ist nicht zufällig geschehen.

Jemand da unten wußte, daß wir kamen.«

»Ja. Was das angeht, müssen wir später noch ein paar gezielte Fragen stellen. Und sei es auch vor einem Ausschuß von Geistern.«

»Ich werde nicht sterben«, sagte Ruby. »Dafür bin ich noch nicht bereit. Ich habe immer noch so viel vor.«

»Ich schätze, daß es jedem so geht. Ich bin… mehr oder weniger zufrieden. Ich habe mehr erreicht, als ich jemals erwartet hatte. Und schließlich bin ich dir begegnet. Damit gebe ich mich zufrieden.«

»Du hast dich schon immer mit zu wenig zufriedengegeben, Jakob.«

Sie lachten erneut, und dann wurde ihnen die Luft aus den Leibern gerammt, als sich die Lande-Lektronen einschalteten und die Triebwerksleistung regulierten, im Bemühen, die letzte Etappe des Absturzes in eine Landung zu verwandeln. Die Geschwindigkeit der Pinasse sank drastisch. Der Rumpf ächzte und bog sich durch, und Lampen gingen flackernd an und aus.

Das Heulen der überforderten Triebwerke überschrie sogar den Sturm draußen. Ohnesorg und Ruby klammerten sich aneinander, den Kopf jeweils an der Schulter des anderen vergraben.

Und dann schrammte die Pinasse an einem schwarzen Berg entlang, und die gesamte rechte Bordwand wurde nach innen gedrückt. Das Boot rammte im Niedergehen ein Hindernis nach dem anderen. Der schwer gepanzerte Rumpf absorbierte die meisten Schläge, aber trotzdem wurden auch Ohnesorg und Ruby kräftig durchgeschüttelt. Feuer brach im Heck aus. Rauch trieb durch die Kabine, dick und schwarz und erstickend. Und dann schlug das Fahrzeug schließlich am Boden auf.

Der Aufprall schien kein Ende mehr zu nehmen. Die Pinasse rutschte über eine unnachgiebige Fläche, umwogt von Funken und Flammen, und verlor nur langsam an Geschwindigkeit, bis sie mit der Nase schließlich in eine dunkle Klippe krachte und zum Halten kam. Die Triebwerke schalteten automatisch ab, und für eine ganze Weile hörte man nur das Brüllen von Sturmwinden, die die Brände ausbliesen und das aufgebrochene Wrack der Pinasse hin und her wiegten.

Das erste, was Jakob Ohnesorg spürte, war ein angenehmes Hin- und Herschaukeln, wie es ein Säugling in seiner Wiege erlebte. Es fühlte sich wundervoll an, behaglich, und er wünschte sich nichts weiter, als dazuliegen und es zu genießen.

In einem tiefen Winkel wußte er jedoch, daß das nicht ging.

Widerstrebend öffnete er die Augen und wurde vom höllenroten Schein der Notbeleuchtung begrüßt. Wenigstens waren die verdammten Alarmsirenen endlich verstummt. Er wußte nicht, wie lange er bewußtlos gewesen war, aber er hörte, wie Brände am Heck der Pinasse fraßen. Kein gutes Zeichen. Er schmeckte Blut. Er versuchte die Arme zu bewegen und bekam heftige Seitenschmerzen. Mehrere vorsichtige Bewegungen später hatte er sich darüber vergewissert, daß die meisten seiner Rippen gebrochen waren, und genügend Blut sammelte sich im Mund, um es fortwährend ausspucken zu müssen. Definitiv kein gutes Zeichen. Er knirschte vor Schmerzen mit den Zähnen und wollte aufstehen, aber beim Absturz war die Barrikade ringsherum zusammengedrückt worden, so daß kein Spielraum mehr blieb.

Rubys Augen waren immer noch geschlossen, und sie atmete schwer durch den Mund.

»Ruby! Wach auf, verdammt! Ich schaffe das nicht allein!«

»Hör auf zu schreien«, nuschelte Ruby, ohne die Augen zu öffnen. »Ich habe Kopfschmerzen.«

Sie hob langsam den Kopf, und Ohnesorg zuckte zusammen, als Licht auf ihr Gesicht fiel. Sie hatte eine tiefe, häßliche Stirnwunde, und Blut floß seitlich herunter. Als sie jedoch die Augen öffnete, wirkte ihr Blick klar und vernünftig.

»Glückwunsch«, sagte Ohnesorg. »Wir haben die Landung überlebt. Leider steht das Schiff in Flammen. Wir müssen hinaus, und zwar schnell.«

»Und was hält uns auf?« wollte Ruby wissen.

»Wir stecken in unserem Kokon fest, und ich kann nicht genug Hebelwirkung einsetzen, um uns zu befreien. Irgendwelche Vorschläge?«

»Wir haben die Füße noch auf dem Deck. Falls wir uns nicht nach hinten stemmen können, dann immer noch aufwärts.«

Also gaben sie sich gegenseitig Halt, weigerten sich, über die Schmerzen aus den diversen Verletzungen zu schreien, und zwangen sich auf die Beine. Danach war es eine einfache, wenn auch schmerzhafte Aufgabe, sich aus dem Kokon zu befreien, der ihnen das Leben gerettet hatte. Sie stützten sich schwer aufeinander und humpelten zu der einzelnen Luftschleuse hinüber. Sie fühlten sich beide nicht besonders sicher auf den Beinen. Jack konnte nicht so gut sehen, wie er es gern gehabt hätte, und der Kopf tat ihm scheußlich weh. Er hoffte nur, daß er keine Gehirnerschütterung hatte. Ruby schonte ein Bein, und eines ihrer Augen war rot von geplatzten Adern.

Wirklich kein gutes Zeichen. Jakob beschloß, später über all das nachzudenken. Zunächst mal mußten sie aus der verdammten Pinasse herauskommen. Er schlug auf die Steuertasten der Luftschleuse, und nichts passierte. Er hieb erneut darauf, so heftig er in der geschwächten Verfassung nur konnte, aber die Innentür der Luftschleuse blieb hartnäckig geschlossen.

»Was dauert denn da so lange?« nörgelte Ruby. »Ich möchte mich hinlegen. Etwas schlafen.«

»Gleich«, sagte Ohnesorg. »Zunächst solltest du mal dieser Tür gut zureden. Sie will nicht auf mich hören.«

»Die Luftschleuse hängt an der Hauptsteuerung. Und die wurde bei der Landung zerstört.«

»Können wir sie reparieren?«

»Vielleicht«, antwortete Ruby und runzelte die Stirn, während sie sich zu konzentrieren versuchte. »Falls du gut in Puzzlespielen bist. Außerdem solltest du es nicht so eilig mit dem Aussteigen haben. Soweit ich mich an die Dateien erinnere, sind die Außenbedingungen hier grauenhaft – kalt, eine starke Hintergrundstrahlung, und der Wind hört nie auf. Setzen wir uns doch einfach hin und warten auf Rettung. Ich bin müde.«

»Ich fürchte, das können wir nicht machen, Ruby. Wir haben Feuer im Laderaum, und es breitet sich in unsere Richtung aus.

Und die Triebwerke…«

»Könnten jederzeit hochgehen. Na klar. Verdammt! Du bist wirklich voller guter Nachrichten, was? In Ordnung. Die Tür müßte eine Handsteuerung haben, die darüber und darunter zu finden ist. Knobeln wir aus, wer sich bücken muß.«

Letztlich wurde Jakob beinahe ohnmächtig vor lauter Schmerzen, als er sich zu bücken versuchte, also mußte Ruby es an seiner Stelle übernehmen, wobei sie die ganze Zeit fluchte und sich beschwerte. Sie öffneten die Innentür der Luftschleuse zentimeterweise, stolperten in die Schleusenkammer und zündeten die Explosivriegel, mit denen man die Außentür absprengen konnte. Ohnesorg steckte vorsichtig den Kopf hinaus und zuckte zusammen, als ihm der bitterkalte Nachtwind ins Gesicht blies. Es fühlte sich an, als würde er mit Messern geschnitten. Rasch zog er den Kopf wieder ein.

»Scheußlich.«

»Habe ich dir ja gesagt«, stellte Ruby fest. »Die Einheimischen tragen Schutzanzüge, wenn sie ins Freie gehen müssen, was sie so selten tun, wie es die Umstände nur erlauben.«

»Wir haben nicht die Zeit, um Schutzanzüge zu improvisieren. Wir müssen etwas Distanz und Schutz zwischen uns und dieses Schiff bringen, für den Fall, daß es in die Luft geht. Ich bin mir ziemlich sicher, daß ich in Marschentfernung von hier eine Felswand gesehen habe, die den Eindruck erweckte, daß sie Höhlen enthält.«

»Damit solltest du lieber recht behalten, Ohnesorg! Okay, du führst, ich folge.«

Sie torkelten in die eisige Dunkelheit hinaus, und der Wind blies sie für einen Moment seitlich aus der Bahn, ehe sie sicheren Stand fanden. Die Kälte schnitt wie mit Messern in sie hinein, und der Wind hatte etwas an sich, was regelrecht scheuerte und die freiliegende Haut wundrieb. Sie drückten sich aneinander und stolperten los, weg von dem abgestürzten Schiff, in Richtung auf die dunkle Klippe in der Ferne.

Sie kamen nur so langsam voran, daß es sie schier zum Wahnsinn trieb. Mit gebrochenen Knochen und hemmenden Schmerzen konnte man durch Kraftaufwand und Entschlossenheit auch nur noch begrenzte Erfolge erzielen. Sie stolperten weiter und stützten einander. Es war noch nicht ganz dunkel, aber nur ein kleiner Mond stand am Himmel und warf ein kränklich blaues Licht über die Alptraumlandschaft. Sie befanden sich in einem Tal, auf allen Seiten umstanden von hohen, unheimlichen Formen, die unerwartet aus der Düsternis aufragten. Nirgendwo erblickten sie eine Spur von etwas Lebendigem. Der Wind heulte wie eine sterbende Kreatur. Die Felswand schien einfach nicht näherzukommen.

»Wie stehen unsere Chancen auf Rettung?« fragte Ruby nach einer Weile.

»Schlecht«, antwortete Ohnesorg. »Der Sturm und der Angriff haben uns weit aus dem Kurs geworfen. Als ich zuletzt unsere Position feststellen konnte, waren wir etwa drei Kilometer von der Hauptstadt Vidar entfernt. Keine weiteren Siedlungen in Marschentfernung. Und nach so einem Absturz macht sich vielleicht niemand mehr die Mühe mit einem Rettungseinsatz. Sie würden nicht so weit herauskommen, nur um ein paar Leichen zu identifizieren. Selbst wenn es zwei recht berühmte Leichen wären.«

»Also«, sagte Ruby, »gehen wir erst mal zur Felswand. Dann klettern wir daran hinauf, bis wir eine Höhle finden. Dort setzen wir uns hin, bis wir geheilt sind. Und dann müssen wir drei Kilometer durch diese Scheiße wandern, um wieder die Zivilisation zu erreichen. Wundervoll! Sollten wir all das überleben, dann werde ich feststellen, wessen Idee es war, uns hierzuschicken, reiße ihm seine Milz heraus und zwinge ihn, sie Bissen für Bissen zu verspeisen.«

»Du mußt dich schon besser fühlen, wenn du so viel reden kannst. Legen wir mal einen Zahn zu.«

»Du bist ein Mistkerl, Jakob. Habe ich dir das in letzter Zeit schon mal gesagt?«

»Halt die Klappe und geh weiter.«

»Warum zum Teufel war ich nur bereit herzukommen?« fragte Ruby.

»Du hast dich nun mal freiwillig gemeldet. Wolltest mal wieder ein bißchen Nervenkitzel.«

»Sowas habe ich mir dabei eindeutig nicht vorgestellt.«

»Ah, du möchtest nie irgendwohin, wo man Spaß hat.«

Sie klammerten sich aneinander, während der Wind sie hin-und herpeitschte, wie ein Tyrann auf irgendeinem Spielplatz.

Sie kniffen die Augen vor den Böen zusammen, bis sie kaum noch etwas sehen konnten, und Staub wurde ihnen in Nasen und Münder geweht und reizte ihre Kehlen. Der Boden unter ihren Füßen stieg und fiel ohne erkennbaren Grund und erwies sich dabei doch als hart und unnachgiebig, so daß mit jedem Schritt schmerzhafte Schwingungen durch die erschöpften Leiber liefen.

Ohnesorg versuchte, sich einen Eindruck von der Umgebung zu verschaffen. Die Formen, an denen sie vorübergingen, schienen aus einer Art schwarzem Basalt zu bestehen, aber die seltsamen und rätselhaften Gebilde wirkten auf unterschwellige Weise beunruhigend. Sie erweckten den Eindruck, beinahe organisch zu sein, auf seltsame Art vertraut, wie Gestalten, die man im Traum erblickt und die voller Bedeutung sind. Ohnesorg schüttelte den Kopf und bemühte sich, die beunruhigenden Gedanken zu verbannen. Nur die Vorstellungskraft gaukelte ihm vor, die Felsen ähnelten Kreaturen, die jeden Augenblick erwachen, sich umdrehen und ihn mit der böswilligen Geduld verfolgen konnten, wie sie den Kreaturen in Alpträumen eigen war. Er blickte zur Pinasse zurück. Sie war im schwindenden Licht der Dämmerung kaum noch zu erkennen, aber er sah sie noch gut genug, um darüber erstaunt zu sein, daß er und Ruby überhaupt überlebt hatten. Das Boot war an mehreren Stellen aufgebrochen, und die dicken Panzerplatten waren verbogen, zerrissen wie Papier. Mehr als ausreichend, um jeden menschlichen Fahrgast zu töten. Jeden nur menschlichen Fahrgast.

Wenigstens waren die Triebwerke noch nicht explodiert.

Ohnesorg wandte sich ab und konzentrierte sich auf die Felswand vor ihm. Sie war definitiv nähergekommen. Was nur gut war, denn er fühlte sich entsetzlich. Jeder Schritt erschütterte die gebrochenen Rippen, und er war sich ziemlich sicher, daß er auch ernste innere Verletzungen erlitten hatte. Er hatte jetzt fortlaufend Blut im Mund, egal wie oft er es ausspuckte. Ruby lehnte sich immer schwerer auf ihn und beschwerte sich inzwischen nicht mehr, was stets ein schlechtes Zeichen war. Sie mußten bald einen Unterschlupf finden, wo sie sich ausruhen und hoffentlich gesunden konnten.

Selbst wer über der menschlichen Natur stand, hatte Grenzen.

Als sie endlich an den Fuß der Klippe stolperten, kam es ihnen wie ein Wunder vor. Ohnesorg entdeckte eine Höhlenöffnung und deutete darauf, begleitet von einem heiseren Krächzen – dem äußersten, was seine Stimme noch hervorbrachte.

Sie zerrten sich mit einem letzten Kraftaufwand die schartige Felswand hinauf, angelockt von einem möglichen Ende ihrer Mühen. Die Höhlenmündung durchmaß gute drei Meter, und hinter ihr lauerte undurchdringliche Finsternis. Ohnesorg zog eine Minitaschenlampe aus dem Ärmel und richtete den dünnen gelben Strahl durch die Öffnung. Die Höhle war tiefer, als das Licht reichte. Ohnesorg und Ruby stolperten hinein und stützten sich dabei weiter.

Es ging ein gutes Stück hinein, und sie folgten dem Tunnel, bis sie das abgeschlossene Ende erreichten. Dort brachen sie auf dem harten Felsboden zusammen und lehnten sich an die tröstliche Stütze der Abschlußwand.

Die Luft war hier still und vielleicht sogar eine Spur wärmer, obwohl der niemals endende Sturm immer noch draußen heulte, als wäre er erbost darüber, um seine Opfer betrogen worden zu sein. Ohnesorg und Ruby saßen Schulter an Schulter nebeneinander, und beider Atmung und Herzschlag kehrten allmählich zu normalen Werten zurück. Die verschiedenen Schmerzen, unter denen sie litten, schienen sich für den Moment auf behagliche Distanz zurückgezogen zu haben, aber keiner von beiden hatte noch die Kraft, sich auch nur einen Zentimeter weit fortzubewegen. Ohnesorg schaltete die Taschenlampe aus.

Er brauchte die Energie vielleicht noch, und außerdem gab es im Moment eigentlich nichts zu sehen, was sich gelohnt hatte.

Er war todmüde. Seit er das Labyrinth des Wahnsinns durchschritten hatte, war er daran gewöhnt, daß seine gelegentlichen Verletzungen rasch heilten, aber es lag jetzt schon lange zurück, daß er zuletzt so übel zugerichtet worden war. Er fragte sich, ob es letztlich doch eine Grenze für die Wunden gab, die sein Körper wieder heilen konnte. Falls ja, dann war das wirklich ein beschissener Augenblick, um es herauszufinden. Er hörte Ruby neben sich, die ruckhaft durch den Mund atmete.

Sie klang wirklich nicht gut.

»Ruby, bist du noch bei mir?«

»Leider ja.« Ihre Stimme klang angespannt und rauh. »Ich fühle mich beschissen. Wie geht es dir?«

»Bin auf dem Weg dorthin.« Ohnesorg knirschte mit den Zähnen, als plötzlich Schmerzen von den gebrochenen Rippen hochstiegen, und mußte dann husten, was noch mehr weh tat.

Ein dicker Klumpen Blut und noch etwas anderes stiegen ihm in den Mund, und er spuckte es aus. »Verdammt! Ich habe das scheußliche Gefühl, daß ein Stück Lunge dabei war.«

»Du versuchst nur, mich aufzuheitern. Ich wußte immer, daß ich in der Hölle enden würde, aber ich hätte nie gedacht, daß ich dorthin komme, während ich noch lebe. Vielleicht ist das auch gar nicht passiert. Vielleicht sind wir beide beim Absturz umgekommen…«

»Nein«, widersprach Ohnesorg. »Falls das die Hölle wäre, wären alle meine Freunde hier. Bleib ruhig sitzen und ruhe dich aus. Sammle wieder Kraft. Wenn es Morgen wird, haben wir einen Drei-Kilometer-Marsch vor uns.«

»Oh, halt die Klappe. Ich gehe nirgendwohin. Irgendeine Chance, über die Komm-Implantate mit jemandem Verbindung aufzunehmen?«

»Ich fürchte, nein. Die ständigen Stürme erzeugen ein übersättigtes elektrisches und magnetisches Feld. Es spielt jeder Art von Kommtechnik übel mit. Wir können niemanden darüber informieren, daß wir noch leben. Wir können nicht mal ein Leuchtspurgeschoß hochjagen. Wir stehen ganz allein da.«

»Irgendwie wußte ich, daß du das sagen würdest. Und wie sollen wir in einem solchen Wetter den Weg nach Vidar finden?«

»Ich spüre, wo es liegt«, antwortete Ohnesorg. »So viele Menschen – ich fühle ihre Gegenwart. Suche mal mit deinem Bewußtsein. Prüfe mal, ob du sie auch spürst.«

»Verdammt!« sagte Ruby einen Augenblick später. »Du hast recht. Es ist, als hätte ich einen Kompaß im Kopf. Ich wußte gar nicht, daß wir sowas können.«

»Im Gegensatz zu dir habe ich meine Fähigkeiten nicht einfach als selbstverständlich hingenommen«, sagte Ohnesorg.

»Ich habe geprüft, wozu ich fähig bin, und versucht, meine Grenzen zu erweitern.«

»Ich schätze, du warst in der Schule ein Lehrerliebling. Wie schade, daß du nicht herausgefunden hast, wie man unsere Heilungskräfte auf Trab bringen könnte.«

»Hab Geduld. Sie haben eine Menge Arbeit zu leisten. Mit der Zeit werden wir schon heilen.«

»Hoffentlich hast du recht, Ohnesorg. Noch nie im Leben habe ich mich so mies gefühlt. Sogar das Atmen tut weh. Falls ich es nicht besser wüßte… würde ich schwören, daß ich im Sterben liege…«

Ihre Worte verklangen. Ohnesorg hörte nicht mal mehr ihre Atemzüge. »Ruby? Ruby? Hörst du mich?«

»Brülle nicht herum! Der Kopf tut mir schon genug weh, auch ohne daß du mir ins Ohr schreist. Laß mich schlafen.

Vielleicht ist alles wieder in Ordnung, wenn ich aufwache.«

»Nein! Ich denke nicht, daß wir unseren Körpern soviel Arbeit allein zutrauen können. Wir müssen es selbst schaffen. Wende dich nach innen, konzentriere dich und lenke den Heilungsvorgang. Andernfalls wachen wir vielleicht nie wieder auf.«

»Du bist wirklich voller tröstender Worte, was? In Ordnung, ich habe zuviel Schmerzen, um mich zu zanken. Wie möchtest du vorgehen?«

»Versuche, deine Heilungsfähigkeit zu finden, genauso, wie du den Kompaß gefunden hast. Und sobald du sie hast, wirf sie mit äußerster Kraft in die Waagschale.«

Ruby nickte und schloß die Augen. Ohnesorg folgte ihrem Beispiel und richtete seine Gedanken nach innen, suchte nach etwas, das er sofort erkennen würde, sobald er es fand. Er verbannte die schmerzenden, gebrochenen Rippen aus den Gedanken. Er schaltete alle Sinne ab und versank immer tiefer im eigenen Bewußtsein. Er weigerte sich, hier zu sterben, während noch so viel zu tun war. Und er wollte verdammt sein, wenn er zuließ, einen solch nutzlosen, sinnlosen, dummen Tod zu sterben. Der Zorn brannte heftig in ihm, und etwas regte sich in einem verborgenen Winkel, im Unterbewußtsein, dem geheimen Teil seiner selbst, den er nicht sehen konnte, wo jedoch seine Kraft ruhte. Und ein neues Feuer entsprang dort, breitete sich durch seine ganze Persönlichkeit aus, verzehrte alle Schmerzen und Schwächen mit seinen reinigenden Flammen.

Er wurde neu geschaffen und wiedergeboren, und er heulte auf vor schierem Hochgefühl, so lebendig zu sein.

Die Augenlider flogen auf, als er zurückstürzte und dabei schon jenen verborgenen Winkel seiner selbst vergaß, den er kurz berührt hatte. Er hob die Hände und beugte sie, und sie waren in bester Verfassung. Er sprang auf und grinste wie ein Idiot. Alle Verletzungen waren geheilt, alle Schmerzen verschwunden, und er konnte nicht mal mehr eine Narbe vorweisen. Er bemerkte, daß Ruby neben ihm stand und mit dem Fuß aufstampfte, um sich zu beweisen, daß das Bein nicht mehr gebrochen war. Sie sah ihn an und lachte ungläubig, und dann umarmten sie einander heftig.

»Verdammt!« sagte Ruby, als sie einander endlich wieder freigaben. »Ich fühle mich gut! Ich habe das Gefühl, als könnte ich es mit einer ganzen verfluchten Armee aufnehmen!«

»Nirgendwo mehr Schmerzen?« fragte Ohnesorg. »Keine Schwachpunkte?«

»Verdammt, nein! Und bei dir?«

»Ich fühle mich wieder wie zwanzig. Ich fühle mich, als könnte ich es mit einem Grendel Mann gegen Mann aufnehmen und das Biest mit bloßen Händen auseinandernehmen.« Er brach ab und musterte Ruby nachdenklich. »Und vor gerade ein paar Augenblicken noch haben wir beide an die Tür des Todes geklopft. Ich bin verblüfft, daß wir auch nur den Absturz überlebt haben, geschweige denn es schafften, uns hierher zu schleppen. Allein der Schock so vieler starker Wunden hätte uns gleich umbringen müssen.«

Ruby zuckte die Achseln. »Nicht zum ersten Mal hätte uns etwas umbringen müssen, und wir haben trotzdem überlebt.

Das gehört mit zu dem, wer und was wir sind.«

»Aber wir haben gerade in wenigen Sekunden geschafft, wozu eine Regenerationsmaschine Wochen gebraucht hätte! Und ich habe keine Ahnung, wie das möglich war.«

»Ohnesorg, wirst du wohl wenigstens einmal im Leben das Positive sehen? Wir liegen nicht mehr im Sterben, wir sind wieder in Form, und die Pinasse ist schließlich doch nicht explodiert. Zähle mal die verdammten Segnungen zusammen!

Schlafen wir jetzt lieber etwas, damit wir beim ersten Tageslicht Richtung Vidar marschieren können.«

»Ja«, sagte Ohnesorg. »Schlafen hört sich wirklich gut an.

Aber wir müssen uns später mal über diese Erfahrung unterhalten, Ruby. Wir wissen nicht annähernd genug über die eigenen Fähigkeiten. Darüber, was wir alles schaffen können, wenn wir es uns nur vornehmen.«

»Wir kommen gut klar«, fand Ruby. »Das Labyrinth des Wahnsinns hat uns schließlich kein Handbuch geliefert. Also lernen wir durch die Praxis.«

»Trotzdem stellt sich die Frage, wie wir diese Dinge vollbringen. Woher stammt die Energie dafür? Was haben wir gerade eben angezapft, um uns zu heilen, um uns vom Abgrund des Todes zurückzuholen? Ich vergesse das meiste schon wieder, aber woran ich mich noch erinnere, das macht mir richtig Angst. Es war, als hätte ich Gott angezapft…«

»Ich denke, du leidest allmählich an Größenwahn«, entgegnete Ruby streng, »Sei jetzt still, leg dich hin und schlafe. Wir haben morgen früh einen langen Weg vor uns.«

Sie wandte sich von ihm ab, legte sich auf den Höhlenboden und schloß die Augen, um zu zeigen, daß das Gespräch beendet war, soweit es sie anging. Ohnesorg betrachtete sie eine Zeitlang und legte sich dann neben sie. Er wußte, daß sich Fragen nicht in Luft auflösten, nur weil man sich weigerte, über sie zu reden, aber es hatte keinen Sinn, die Sache jetzt zu forcieren.

Trotzdem – nach Abschluß des laufenden Einsatzes war es überfällig, daß sich die überlebenden Veteranen des Labyrinths zusammensetzten und versuchten, ein paar Antworten auf die Frage zu finden, welcher Art ihre einzigartige Verfassung war.

Ohnesorg hatte im Grunde keinen Einwand dagegen, sich über das rein Menschliche hinauszuentwickeln; er wollte nur eine Vorstellung davon haben, wohin der Weg letztlich führte.

Nach Anbruch des Morgens standen sie gemeinsam an der Höhlenmündung und blickten ins Licht des neuen Tages hinaus. Der Sturm schien tatsächlich ein wenig nachgelassen zu haben, war aber trotzdem noch kräftig. Die Sonne Lokis war meist hinter brodelnden Wolken verborgen, aber ihr bleiches Licht wurde verstärkt durch die ständigen Blitze, die über den Himmel zuckten und die Landschaft darunter in grelles bläuliches Licht tauchten. Ohnesorg und Ruby nahmen den ersten richtigen Eindruck von der Landschaft, die sie in der Nacht durchquert hatten, schweigend in sich auf.

Das Tal war voller unheimlicher, grotesker Formen aus schwarzem Fels, die kein erkennbares Muster bildeten, aber an wachsame Posten erinnerten. Dahinter lag die Pinasse immer noch an der Absturzstelle vor einer dunklen Felswand. Sie sah aus wie ein zerbrochenes Spielzeug, zu zerbrechlich für groben Umgang. Am gegenüberliegenden Talausgang erblickte Ohnesorg mit Mühe noch eine freie Ebene, die mit weiteren dunklen, bedrohlichen Formen gesprenkelt war. Nirgendwo machte sich eine Spur von Leben bemerkbar: Keine Vegetation, keine Insekten, kein offenes Wasser. Nur die vom Wind geformte Landschaft, rauh und öde und absolut fremdartig.

»Ich schätze, das Leben hat hier nie einen Ansatzpunkt gefunden«, sagte Ruby. »Ist im Grunde auch gut so. Das letzte, was wir gebrauchen könnten, wären weitere Komplikationen auf unserer kleinen Wanderung nach Vidar.«

»Das ist eine schrecklich selbstbezogene Sicht, Ruby«, fand Ohnesorg.

»Na und? Worauf möchtest du hinaus?«

»Ich weiß gar nicht, warum ich mich an diesen Gesprächen überhaupt noch beteilige. In Ordnung, geh voraus. Und halte die Augen offen! Jung Jakob Ohnesorg und seine verdammten Geistkrieger sollten sich eigentlich nicht in der Nähe herumtreiben, aber man weiß ja nie.«

»Guter Punkt«, fand Ruby. »Sollen sie nur alle kommen! Ich könnte ein bißchen Aktivität gebrauchen.«

Ohnesorg seufzte und folgte ihr aus der Höhle. Die Felswand hinabzuklettern erwies sich als viel einfacher als die umgekehrte Richtung, und wenig später schritten sie durch das Tal zur freien Ebene hinüber. Der Sturmwind blies nach wie vor heftig, aber Ohnesorg und Ruby verfügten jetzt wieder über ihre volle Kraft, so daß es ihnen nicht mehr annähernd soviel ausmachte wie tags zuvor. Selbst der scheuernde Staub, der in alle Ritzen drang, war nur noch ein minderes Ärgernis. Die Stelle, wo Vidar lag, brannte in ihren Gedanken wie ein Leuchtfeuer, und sie nahmen den nächsten Weg dorthin, den sie nur finden konnten.

Die Zeit verblaßte allmählich im Hintergrund. Ohne eindeutige Landschaftsmerkmale fiel es ihnen schwer festzustellen, wie weit sie gekommen waren. Von Bedeutung waren nur der Sturm und der harte, unnachgiebige Boden und die Stadt, die irgendwo vor ihnen lag. Und so hielten Ohnesorg und Ruby die Köpfe gesenkt, kniffen die Augen zusammen, um sie vor dem Staub zu schützen, und setzten ihren Weg fort.

Die Welt zog langsam an ihnen vorbei und sah überall nahezu gleich aus. Manchmal glaubte Ohnesorg, am Rand seines Blickfelds eine Bewegung zu sehen. Die Bewegung von etwas, das dunkel und langsam und unmöglich groß war. Aber immer, wenn er stehengeblieben war und genau hinsah, war es wieder im Sturm verschwunden. Er konnte sich gar nicht sicher sein, daß er tatsächlich etwas entdeckt hatte. Womöglich spielten ihm nur die Augen Streiche und riefen die Illusion einer Bewegung hervor, in einer Landschaft, wo sich nichts rührte. Also marschierte Ohnesorg weiter und hielt den Blick entschlossen nach vorn gerichtet. Was für eine Art Leben sollte schließlich unter solchen Bedingungen existieren? Nicht mal die Menschen wären hier, gäbe es nicht die Kobaltminen.

Er war so gut wie sicher, daß Ruby nichts gesehen hatte.

Falls doch, hätte sie zweifellos darauf geschossen.

Die dunklen Felsgebilde zogen langsam vorbei. Keine Form glich der anderen, und sie erinnerten Ohnesorg an antike Statuen vergessener Götter. Teils waren es schlichte Monolithen von Menschengröße, während am anderen Ende des Formenspektrums ganze Berge voller vom Wind geschnittener Spalten aufragten, die tief genug waren, um ein Sternenschiff darin zu verstecken. Ohnesorg hätte gern an etwas anderes gedacht, aber es gab einfach nichts anderes. Vielleicht handelte es sich bei den Steinen um die Überreste vulkanischer Aktivität, die einmal als geschmolzenes Gestein durch Risse im Boden heraufgedrückt worden waren, nur um sich dann in der kalten Luft zu verfestigen. Diese Erklärung war so gut wie jede andere.

O Gott, dachte Ohnesorg müde. Ich langweile mich wirklich sehr!

Und schließlich erreichten sie den Kamm eines langen Anstiegs und blickten hinunter, und da breitete sich Vidar, die Hauptstadt Lokis, vor ihnen über die Ebene aus. Sie bestand aus weit gestreuten, gedrungenen schwarzen Häusern, hier und dort durchsetzt mit dunklen Türmen eine Schattenfestung mit roten und gelben Augen wie Hochöfen, die an einen Bergbaubetrieb der Hölle gemahnte. Eine hohe Metallmauer umgab die Stadt, vom Scheuerstaub zu einem dunkelpupurfarbenen Schimmer blankgescheuert, durchbrochen von zwei massiven Metalltoren auf der Vorderseite. Der schwache Schimmer eines starken Kraftfelds schloß die Stadt über den Mauern ab. Man mußte feststellen, daß Vidar nicht im mindesten freundlich wirkte, aber Ohnesorg und Ruby waren es gewöhnt, an Orten zu erscheinen, wo sie nicht willkommen waren. Solange sie dort unten nur Schutz vor dem Sturm, saubere Betten und ein heißes Bad fanden, in dem sie sich vollsaugen lassen konnten, war Ohnesorg absolut bereit, innerhalb der Tore auf die Knie zu sinken und den Boden zu küssen. Ohne einander anzusehen, gingen Ohnesorg und Ruby den langen grauen Hang hinunter auf die dunkle Stadt zu.

Eine Streife der örtlichen Wache fing sie ab, als sie sich dem Haupttor näherten; sie bestand aus sechs Mann in voller Gefechtspanzerung mit improvisierten Masken und Kapuzen. Sie stapften entschlossen auf die beiden Neuankömmlinge zu, blieben dann aber in respektvollem Abstand stehen. Jeder der Wachleute hielt ein Strahlengewehr in den behandschuhten Händen und zielte sorgfältig damit. Ohnesorg und Ruby blieben ebenfalls stehen, nur um höflich zu sein. Einer der Wachleute trat vor.

»Wer zum Teufel seid Ihr?« brüllte er und konnte sich durch den Wind trotzdem kaum bemerkbar machen. »Unsere Sensoren bestätigen, daß Ihr weder Furien noch Geistkrieger seid, aber kein Mensch ist dumm genug, um draußen ohne Panzerung herumzulaufen!«

»Wir sind Jakob Ohnesorg und Ruby Reise«, antwortete Ohnesorg so höflich, wie man sein konnte, wenn man schrie. »Ich glaube, Ihr erwartet uns. Tut mir leid, daß wir uns etwas verspätet haben.«

»Aber… wir haben Euer Schiff gestern abstürzen gesehen, und das über drei Kilometer weit entfernt!«

»Wir haben den Absturz überlebt, im Gegensatz zu unserer Besatzung. Also haben wir den Tagesanbruch in einer Höhle abgewartet und sind hierhergewandert.«

»Ihr seid z u Fuß gegangen? Jesus Christus, vielleicht seid Ihr ja wirklich so gut, wie man sich erzählt! Folgt mir, ich führe Euch in die Stadt. Ich fürchte allerdings, daß unsere Waffen auf Euch gerichtet bleiben werden, bis wir Eure Identität bestätigen konnten. Shub hat schon alle möglichen Tricks probiert, um in die Stadt zu gelangen. Wir gehen keinerlei Risiko mehr ein.«

»Verstanden. Wärt Ihr vielleicht damit einverstanden, daß wir jetzt aufbrechen? Ich habe für mein Leben genug von diesem Sturm und dem Staub.«

»Willkommen auf Loki«, sagte der Anführer der Wachleute, drehte sich um und ging auf das Haupttor zu. Ohnesorg und Ruby folgten ihm, und die übrigen Wachleute drehten sich langsam um und behielten sie so im Visier. Das Haupttor erwies sich als Konstruktion aus zwei riesigen Stahlplatten. Sieben Meter hoch, passend zur Mauerhöhe, und über zweieinhalb Meter breit waren sie und erweckten ganz den Eindruck, sie könnten sogar einen brünstigen Grendel abwehren. Langsam öffneten sie sich, als der leitende Wachoffizier ein Signal gab.

Er führte Ohnesorg und Ruby hindurch. Die übrigen Gardisten folgten ihnen rasch und hielten sie umzingelt. Die Tore knallten wieder zu und sperrten den Sturm aus.

Plötzlich war es ganz ruhig. Das Brüllen des Sturms war wie abgeschnitten, als hätte jemand hoch droben einen Schalter gedrückt. Ohnesorg richtete den schmerzenden Rücken langsam auf und rieb sich Staub aus den Augen. Neben ihm hustete Ruby kräftig, um den Staub aus Hals und Mund zu entfernen.

Sie befanden sich in einer riesigen Luftschleuse, groß genug für fünfzig Personen, falls ihnen ein bißchen Gedränge nichts ausmachte. Die Luft war behaglich warm und wunderbar rein.

Ohnesorg holte mehrmals tief Luft, ehe er sich an den leitenden Wachoffizier wandte, der gerade damit beschäftigt war, die Einzelteile seiner Rüstung müde in Wandfächern zu verstauen.

Er war jung, kaum in den Zwanzigern, und hatte ein langes, ernstes Gesicht unter einem dicken Schopf langer gelber Haare.

Verantwortung und Härte des Lebens hatten schon tiefe Furchen um Mund und Augen gegraben. Plötzlich lächelte er Ohnesorg an, und es war ein gewinnendes, fast schüchternes Lächeln.

»Unseren Sensoren und den Lektronendaten zufolge seid Ihr tatsächlich, wer und was Ihr vorgebt. Mann, sind wir froh, Euch zu sehen!« Er gab den übrigen Gardisten einen Wink, und sie steckten sofort ihre Waffen weg und begannen damit, Masken und Panzer abzulegen. Sie alle wirkten jung und ernst und durchaus fähig, sich im Gefecht zu bewähren. Ohnesorg vermutete, daß Schwächere auf Loki nicht lange durchhielten.

Der Anführer hielt ihm die Hand hin, und Ohnesorg schüttelte sie mechanisch. Der Anführer wandte sich auch an Ruby, aber sie bedachte ihn nur mit einem harten Blick, so daß er die Hand senkte und sich wieder zu Ohnesorg umdrehte.

»Ich bin Peter Wild, leitender Wachoffizier. Ich wollte eine Suchgruppe losschicken, die nach Euch Ausschau hält, aber der Stadtrat war fest überzeugt, daß niemand einen solchen Absturz hätte überleben können. Ich habe es ihnen ja gesagt! Ich wußte, daß mehr als ein Absturz nötig ist, um Jakob Ohnesorg zu erledigen!«

Von den übrigen Wachleuten kam lautes, zustimmendes Gebrumm, und Ohnesorg sah sich um und stellte fest, daß sie ihn mit großen Augen und breitem Lächeln ansahen und ihm respektvoll zunickten. Ohnesorg deutete auf Ruby, die plötzlich damit aufhörte, zu husten und auf den Boden zu spucken.

»Ich denke, Ihr kennt meine Begleiterin?«

»O ja!« antwortete Wild, und sein Lächeln verschwand. »Wir wissen alles über Ruby Reise. Bitte laßt nicht zu, daß sie wichtige Leute umbringt oder irgendwas in Brand steckt!«

»Deine Reputation ist dir vorausgeeilt«, sagte Ohnesorg trocken zu Ruby.

»Trotzdem«, fuhr Wild fröhlich fort, »sind wir sehr froh, Euch hier zu empfangen, Sir Ohnesorg. Vielleicht könnt Ihr diesem verdammten Krieg eine Wende geben.«

»Unsere Instruktionen waren sehr allgemeiner Natur«, sagte Ohnesorg. »Bringt uns über die Einzelheiten auf den neuesten Stand.«

Wild zögerte. »Man erwartet von mir, Euch direkt zum Stadtrat zu führen, damit man Euch dort über die aktuelle Lage informiert.«

»Ihr könnt unterwegs schon damit anfangen. Erzählt mir von Vidar! Wie gut ist die Stadt geschützt?«

»Wände und Türen aus massivem Stahl, über dreißig Zentimeter dick«, berichtete Wild und führte sie durch das Innentor der Luftschleuse. »Das Kraftfeld über den Mauern schützt uns vor dem Wetter. Wir brauchen Stadtmauer und Tore, weil wir das Kraftfeld nicht mal für eine Sekunde senken könnten, ohne daß der Sturm die Stadt verwüstet. Es liegt nicht nur an der Windstärke; der Staub sickert einfach überall hinein. Die Technik versagt dabei fortlaufend.«

»Hört der Sturm nie auf?« fragte Ruby.

»Nein, gnä’ Frau. Er hat nur zuzeiten Schwächeperioden.

Hier entlang.«

Auf die Luftschleuse folgte ein schlichtes Muster aus schmalen Straßen zwischen niedrigen, kompakten, funktionell wirkenden Häusern. Farben und Dekorationen waren Mangelware.

Vidar diente dem Bergbau und bot keinen Platz für Zierrat und Phantasien. Menschen eilten vorbei, als Wild seine Gäste in die Stadt führte, schenkten den Neuankömmlingen jedoch wenig oder gar keine Beachtung. Alle trugen Schwerter und Strahlenwaffen, sogar in der angeblichen Sicherheit der Festung.

Ohnesorg hielt das für bedeutsam.

»Die Truppen der Aufständischen haben sich mit Shub verbündet«, sagte Wild. Er sprach das Wort Shub wie einen Fluch aus. »Sie verfügen über eine Armee aus Geistkriegern und ein paar Furien sowie über ein ganzes Arsenal an hochtechnologischen Waffen, die mehr Ausfälle zu verzeichnen haben, als daß sie funktionieren würden. So ist nun mal Loki. Nicht mal Shub findet Schutz vor dem Staub. Als Folge davon findet ein Großteil der Kämpfe ohne Waffen statt. Fleisch und Blut gegen wandelnde Leichen und Metallgestalten. Nicht direkt ein ausgeglichenes Szenario, aber so ist nun mal Shub. Jedenfalls scheinen die Aufständischen keine Einwände zu haben. Ihre Anführer interessieren sich für nichts anderes mehr als den Sieg. Die Disruptorkanone, die Euch abgeschossen hat, war für uns ebenso überraschend wie für Euch. Sie müssen echt Angst vor Euch haben, wenn sie das Risiko eingehen, eine so starke Waffe zu enttarnen. Betrachtet es als zweifelhaftes Kompliment.«

»Oh, das tun wir!« versicherte ihm Ohnesorg, ohne die Miene zu verziehen. »Und wir haben vor, das Kompliment so schnell wie möglich zu erwidern.«

Wild grinste. »Ich muß schon sagen, ich freue mich wirklich darauf, mit Euch zusammenzuarbeiten, Sir Ohnesorg! Ihr wart immer schon mein Held. Ich habe mir alle Eure Holofilme angesehen.«

Der junge Wachmann sprudelte förmlich über vor Aufrichtigkeit, die von einer Art war, wie Ohnesorg sie seit den Tagen seines Ruhms nicht mehr erlebt hatte damals, als er noch die einzige Hoffnung gewesen war, die Löwensteins Imperium entgegenstand. Viel hatte sich seitdem verändert. Wenn eine solche Heldenverehrung überhaupt noch Eindruck auf ihn machte, dann fühlte er sich dabei alt. Er wußte nicht recht, ob er noch der Mann war, an den sich Wild erinnerte. Er war ein wenig verlegen, und Rubys eindeutige Erheiterung half ihm nicht im mindesten. Er beeilte sich, das Thema zu wechseln.

»Wo stecken alle? Ich hatte erwartet, in einer Stadt dieser Größe viel mehr Leute anzutreffen.«

»Da die Hälfte der äußeren Siedlungen von Truppen der Aufständischen überrannt wurde, steuern wir den Großteil der Bergbauanlagen heute von Vidar aus, was bedeutet, daß die meisten Menschen Überstunden machen, um die Anlagen in Betrieb zu halten. Und… viele Leute hier wissen nicht recht, wie sie zu Euch stehen sollen, Sir Ohnesorg. Da draußen führt jemand, der Euer Gesicht zeigt, die Streitkräfte von Shub und zieht dabei eine Spur des Blutes, des Todes und der Greueltaten. Euer Name ist zum Fluch geworden. Deshalb wurde Euch eine bewaffnete Wache zugeteilt. Nur für den Fall, daß es zu…

Schwierigkeiten kommt.«

»Sollen sie nur irgendwas anfangen«, sagte Ruby gelassen.

»Soll nur irgend jemand was anfangen.«

»Jedenfalls«, fuhr Wild eilig fort, »sind die Aufständischen mit Unterstützung von Shub systematisch dabei, die äußeren Siedlungen zu vernichten, die Bergbauanlagen zu zerstören und alles Lebendige zu töten, ehe sie zum nächsten Ziel weiterziehen. Sie haben uns umzingelt und rücken allmählich auf Vidar vor. Denn wer diese Stadt beherrscht, hat zugleich den einzigen Raumhafen des Planeten in der Hand und den ganzen Bergbau.

Falls wir fallen, fällt die ganze Kolonie. Wir haben keine nennenswerte Armee, nur Sicherheitsleute und einen ganzen Haufen Freiwillige, meist Flüchtlinge aus schon gefallenen Siedlungen. Wir können nicht mal alle bewaffnen. Wir haben noch nie eine Armee benötigt. Das Wetter hat uns immer zu sehr auf Trab gehalten, als daß wir noch gegeneinander hätten kämpfen können.«

»Wie hat sich Eure Armee im Feld geschlagen?« erkundigte sich Ohnesorg. »Wenn ich es richtig verstanden habe, gab es einige direkte Zusammenstöße, Armee gegen Armee.«

»Einige«, bestätigte Wild. »Wir machen Ausfälle, wenn ruhigere Wetterphasen eintreten. Menschen sterben, aber geregelt wird nichts. Wir haben die Übermacht und die Ausbildung, aber der Gegner hat Shub. Bislang war alles… ergebnislos.«

»Warum hat Golgatha keine Verstärkungen geschickt?« fragte Ohnesorg stirnrunzelnd.

»Wir haben darum gebeten«, antwortete Wild, »und man hat Euch beide geschickt. Anscheinend genießen wir keine sehr hohe Priorität. Zur Zeit schreit alles nach Verstärkungen, und wir sind nur irgendein Bergbauplanet mit relativ kleiner Bevölkerung.«

»Nur wir beide gegen eine Armee von Geistkriegern«, sagte Ruby. »Genau die Chancenverteilung, wie sie mir gefällt.«

»Das Problem dabei ist: Sie meint das ernst«, sagte Ohnesorg. »Ignoriert sie. Ich tue es, soweit möglich. Wie weit noch bis zum Ratssaal?«

»Wir sind fast da, Sir Ohnesorg.«

»Noch irgendwas, was ich wissen sollte?«

Wild zögerte und senkte die Stimme. »Seid vorsichtig! Der Stadtrat tut sei eh und je immer das, was er für das beste hält… für sein Bestes.«

Die nächsten paar Blocks legten sie schweigend zurück, wobei jeder den eigenen Gedanken nachhing. Endlich blieb Wild vor einem häßlichen, gedrungenen Haus stehen, das sich äußerlich nicht von den übrigen unterschied, und führte sie durch eine Reihe überraschend strenger Sicherheitsvorkehrungen.

Ohnesorg war beeindruckt. Trotzdem weigerte er sich, auf Aufforderung Schwert und Pistole herzugeben, und Ruby tat es ihm gleich. Niemand war dumm genug, um stur zu bleiben.

Wild klopfte zurückhaltend an eine Tür, vor der zwei bewaffnete Wachtposten standen, und eine Stimme von innen forderte sie auf einzutreten. Wild öffnete die Tür und trat zurück, damit Ohnesorg und Ruby zuerst hineingehen konnten. Ohnesorg marschierte mit einer Haltung hinein, als gehörte ihm hier alles. Schon vor langer Zeit hatte er gelernt, sich örtlichen Politikern gegenüber niemals höflich oder eingeschüchtert zu geben.

Das hätten sie nur ausgenutzt. Ruby ging in gleicher Haltung an seiner Seite, aber in ihrem Fall war es nur natürliche Arroganz.

Sie fanden sich in einem einigermaßen großen Saal wieder, gestaltet von jemandem, der über ein umfangreiches Budget und absolut keinen Geschmack verfügte. Ruby fühlte sich gleich ganz wie zu Hause. Ohnesorg war an der Umgebung nicht interessiert. Er warf nur einen Blick auf die fünf Männer, die am hinteren Ende des Zimmers ziemlich pompös hinter dem langen Tisch aus Hartholz saßen, und blieb abrupt stehen.

Ruby blieb sofort ebenfalls stehen und senkte mechanisch die Hand auf die Pistole. Ohnesorg funkelte den Mann in der Mitte der Gruppe an, und als er sprach, war seine Stimme so kalt wie der Tod.

»Andre de Lisle! Was zum Teufel tut Ihr denn hier, Ihr Mistkerl? Als ich zuletzt von Euch hörte, verfaultet Ihr in einer Gefängniszelle!«

»Ich finde es auch schön, Euch zu sehen, Ohnesorg«, sagte de Lisle ruhig. »Es ist eine Weile her seit Eisfels, nicht wahr?«

Ein tiefes, wütendes Knurren entfuhr Ohnesorg, und plötzlich stürmte er vor, auf den Mann zu. Die Wachleute, die ihm gefolgt waren, griffen nach den Waffen, aber Ruby hatte sich schon zu ihnen umgedreht und hielt die Pistole in der Hand.

Die Gardisten hielten inne. De Lisle fand kaum Zeit, auf seinem Stuhl zurückzuschrecken, da hatte Ohnesorg den Raum bereits durchquert, zerrte ihn vom Stuhl hoch und hielt den großen, muskulösen Mann vor sich in die Luft. De Lisle strampelte hilflos mit den Beinen. Die übrigen Ratsherren gaben erschrockene Laute von sich, mischten sich jedoch nicht ein.

Sie waren nicht dumm. Ruby wies die Wachleute an, ihre Waffen hinzulegen und sich entlang einer Wand aufzureihen, während Ohnesorg de Lisle mühelos hochhielt und kalt sein allmählich rot anlaufendes Gesucht musterte.

»Also«, sagte Ruby trocken und warf einen kurzen Blick über die Schulter. »Ihr kennt euch also, wenn ich es richtig verstehe.«

»O ja!« sagte Ohnesorg kalt und gelassen und sehr gefährlich. »Dieses Stück Abschaum hatte einmal die Bergbauanteile auf einem Planeten namens Eisfels in der Tasche. Hat seine Leute wie Scheiße behandelt. Zahlte die niedrigsten Löhne im Sektor und reagierte auf jeden Protest nur mit Auspeitschung, mit Brandzeichen und gelegentlichen Massenhinrichtungen. Er führte ein schönes Leben, während Kinder hungerten. Als ich meine Rebellion nach Eisfels brachte, bezahlte er die Armee, die sich mir entgegenstellte. Kaum erstaunlich. Er war in jeder Beziehung, außer der Form nach, Herrscher von Eisfels. Nachdem man mich verraten und gefangengenommen hatte und meine Rebellion zusammenbrach, sorgte er dafür, daß meine Zelle ein Holovid erhielt, damit ich zusehen konnte, wie er jeden hinrichten ließ, der meine Partei ergriffen hatte, und darüber hinaus aufs Geratewohl jeden zehnten, als Strafe für seine Leute, die es gewagt hatten, gegen ihn aufzumucken. Männer, Frauen und Kinder starben auf seinen Befehl hin. Manchmal ist er hingegangen und hat zugeschaut. Und gelacht.

Der Haftbefehl gegen ihn gehörte zu den ersten, die ich unterzeichnete, nachdem wir Löwenstein und ihre Leute gestürzt hatten. Ich sorgte dafür, daß er dieselbe Zelle erhielt, in der ich gesessen hatte – der alten Zeiten wegen. Ich wollte, daß man auch ihn hängte, aber er hatte einen richtig guten Anwalt und eine Menge Verbindungen. Das haben solche Leute immer.

Trotzdem konnte ich sicherstellen, daß er lebenslänglich Einzelhaft erhielt. Keine Bewährung, keinerlei Luxusgüter, keinen Strafnachlaß aufgrund guter Führung. Aber jetzt finde ich ihn hier, wieder an den Schalthebeln der Macht auf einem Planeten. Und ich möchte erfahren, warum.«

»Bitte setzt den Ratsherrn wieder ab, Sir Ohnesorg«, forderte ihn Wild zaghaft auf. »Bewaffnete Gardisten sind unterwegs, und ich möchte ihnen wirklich nicht den Befehl geben, Euch niederzustrecken.«

»Das ist gut«, fand Ruby. »Das möchtest du wirklich nicht.

Es wäre unklug.«

Wild dachte darüber nach. »Dann möchte ich wenigstens darauf hinweisen, daß Ratsherr de Lisle keine Fragen beantworten kann, solange man ihn würgt.«

Ohnesorg nickte widerstrebend und setzte de Lisle auf dem Tisch ab. Wild stieß einen hörbaren Seufzer der Erleichterung aus. De Lisle lag auf dem Rücken, massierte sich den gequetschten Hals und schnappte nach Luft. Ohnesorg sprang vom Tisch herunter und wandte sich den übrigen Ratsherren zu.

»Ich kenne Euch nicht, aber ich könnte Euch trotzdem gut alle umbringen, weil Ihr Euch mit de Lisle an einen Tisch gesetzt habt. Also bleibt ruhig. Oder ich bitte Ruby, Euch gut zuzureden.«

»Jawohl«, bekräftigte diese. »Ich kann sehr vernünftig sein, wenn ich es mir vornehme.«

De Lisle setzte sich wieder auf seinen Stuhl am Tisch. Keiner der übrigen Ratsherren traf Anstalten, ihm zu helfen. De Lisle war ausgesprochen bleich im Gesicht, als er sich bemühte, die Reste seiner Würde zusammenzuklauben.

»Also«, sagte Ohnesorg fast ruhig. »Erklärt es mir, de Lisle.

Erzählt mir alles. Wie es möglich ist, daß Ihr hier wieder eine Machtposition bekleidet. Wobei Ihr eins nicht vergessen solltet: Falls Eure Antwort nicht äußerst überzeugend ausfällt, hänge ich Euch an der Stadtmauer auf. In Einzelteilen.«

Niemand im Raum glaubte, daß er gescherzt hatte. De Lisle räusperte sich schmerzlich.

»Ich wurde begnadigt«, erklärte er rundweg. »Das Imperium brauchte jemanden mit Erfahrung im Bergbau, der die Leitung dieses Höllenlochs übernahm, und Kandidaten waren begreiflicherweise etwas schwer zu finden. Ich erhielt die Stellung mit der Auflage, den Planeten nie wieder zu verlassen. Ich habe akzeptiert. Ich hätte es besser wissen müssen. Dieser Planet ist ein einziges großes Gefängnis.«

»Mir blutet das Herz«, sagte Ohnesorg. »Ich kann nicht glauben, daß ein Mistkerl wie Ihr begnadigt wurde.«

»Als Gegenleistung für lebenslangen Dienst hier«, entgegnete de Lisle. »Was ist nur los, Sir Ohnesorg? Glaubt der große Rebellenheld nicht an Wiedergutmachung durch Sühne?«

»Nicht in Eurem Fall. Aber so sehr mir das Eingeständnis zuwider ist, ich benötige Euren ortskundigen Rat. Ihr werdet also als mein Stellvertreter agieren und alles arrangieren, was ich brauche. Ich nehme unseren Peter Wild hier als Verbindungsmann, sei es auch nur deshalb, weil es mir zweifellos den Magen umdrehen würde, Euch regelmäßig gegenüberzutreten.

Und legt Euch nicht mit mir an, de Lisle! Ich dulde nicht, daß man mich erneut verrät!« De Lisle nickte ruckhaft. Ohnesorg musterte die übrigen Ratsherren. »Jemand sollte mir jetzt die politische Lage hier erklären. Wer genau sind die Aufständischen, wogegen stehen sie auf und was in Gottes Namen hat sie nur bewogen, sich mit Shub zu verbünden?«

»Ich heiße Bentley«, meldete sich einer der Ratsherren zu Wort, nachdem jeder von ihnen eine Zeitlang gewartet hatte, ob nicht ein anderer sprechen wollte. Bentley war ein großer, schlanker Mann mit rasiertem Schädel und Augen, so blaßblau, daß sie beinahe farblos wirkten. »Ich bin für den Sicherheitsdienst zuständig. Unsere Lage hier ist im Grunde ganz einfach zu erklären. Die Anführer der Aufständischen sind der frühere planetare Intendant Matthew Tallon und der ehemalige Bürgermeister dieser Stadt, Terrence Jacks. Sie führten schon damals die hiesige Rebellion gegen Löwensteins Ordnung, waren Eure Kameraden in der großen Rebellion, Sir Ohnesorg. Nachdem sie Löwensteins Leute vertrieben oder hingerichtet hatten, übernahmen sie selbst das Kommando.

Allerdings hatten sie keine echte Erfahrung damit, eine planetare Wirtschaft zu leiten, und hatten sich bald in eine Sackgasse manövriert, obwohl sie nicht bereit waren, das zuzugeben. Sie gaben den Menschen auf Loki das Wahlrecht, und nach einer Serie von Patzern und Fehlentscheidungen, die beinahe zum wirtschaftlichen Bankrott führten, wählte man sie ab.

Tal-Ion und Jacks nahmen uns das übel und gaben versteckten Elementen der alten Ordnung die Schuld. Sie zogen sich in die Außensiedlungen zurück und sammelten eine aufständische Truppe um sich, meist Leute, die darüber enttäuscht waren, daß die neue Ordnung sie nicht auf der Stelle reich und mächtig gemacht hatte. Es war keine nennenswerte Truppe, und sie stellte kein nennenswertes Problem dar. Bis die Streitkräfte von Shub eintrafen, um sie zu unterstützen. Anscheinend hatten Tallon und Jacks in den letzten Tagen ihrer Macht insgeheim ein Bündnis mit den Feinden der Menschheit geschlossen. Und jetzt führt der junge Jakob Ohnesorg die Aufständischen. Tallon und Jacks halten sich heutzutage weitgehend im Hintergrund.«

»So«, sagte Ohnesorg. »Man hat mich also hergeschickt, um die etablierte Ordnung gegen alte Rebellenkameraden zu verteidigen.«

»Kurz und präzise«, fand de Lisle, obwohl er Verstand genug zeigte, wenigstens nicht zu lächeln, als er das sagte. »Komisch, wie sich die Dinge entwickeln, nicht wahr?«

»Strapaziert meine Geduld nicht!« warnte ihn Ohnesorg.

»Zumindest weiß ich jetzt, warum das Parlament mich geschickt hat. Man denkt dort, die Berichterstattung, wie ich gegen Rebellenkräfte kämpfe, würde mich stärker ans Parlament binden und mich auf Distanz zu Gruppierungen bringen, die sich vielleicht seiner Autorität widersetzen. Na ja, wir werden sehen. Im Moment benötigen Ruby und ich erst mal Ruhe.

Zweifellos ist Eure Unterkunft die bequemste, de Lisle, so daß wir sie nehmen. Ihr werdet Eure eigenen Arrangements treffen müssen. Solltet Ihr irgendwelche Probleme haben, wendet Euch dieserhalb an meinen Verbindungsmann Wild, der sie in meinem Namen offiziell ignorieren wird. Wild, wir gehen.«

»Ja, Sir Ohnesorg. Bitte folgt mir.«

Ohnesorg ruckte den Ratsherren zu, Ruby nickte den Wachleuten zu, die sie mit der Pistole in Schach hielt, und beide stolzierten hinter Wild hinaus. Und noch lange danach sagte niemand im Ratssaal irgend etwas.

Einige Zeit später lag alle Welt, abgesehen von der Nachtschicht, im Bett, während Wild, Ohnesorg und Ruby leise durch die schmalen Straßen gingen, in Tarnmänteln versteckt.

Wild hatte bereits Vorkehrung getroffen, daß die Wachleute, die in der Lektronenzentrale Dienst taten, Freunde von ihm waren, und sie wandten sich betont ab, als er Ohnesorg und Ruby durch den Haupteingang hineinführte und dabei die Sicherheitssysteme mit seiner neuen Einstufung überwand. Als sie erst mal drinnen waren, suchte Wild das richtige Terminal heraus und begann damit, alle Arten von Dateien aufzurufen, von denen er eigentlich nichts wissen sollte. Falls es ihn nervös machte, daß ihm Ohnesorg über die Schulter blickte, so tat er sein Bestes, es nicht zu zeigen. Ruby bewachte mit gezogener Pistole die Tür, nur für alle Fälle.

Ohnesorg war erstaunt darüber, wie leicht es gegangen war.

Als er Wild ursprünglich darüber informierte, daß er Informationen haben wollte, die wahrscheinlich nur in den Hauptlektronen der Stadt zu finden waren, hatte er mit allerlei Problemen gerechnet. Statt dessen arrangierte Wild alles mit ein paar schnellen Anrufen bei alten Freunden.

»Ruft mal die Namen und Biographien aller Ratsherren auf«, sagte Ohnesorg. »Was hat sie hergeführt, und wer hat sie an die Macht gebracht?«

»Offiziell die Wähler«, antwortete Wild und bahnte sich mit der Leichtigkeit langer Übung seinen Weg vorbei an Sicherheitsblocks. »Aber da die Demokratie hier für uns alle ganz neu ist, werden Wahlen meist von denen gewonnen, die das meiste Geld für den Wahlkampf ausgeben können. Was die Biographien angeht… Es sind allesamt begnadigte Kriegsverbrecher. Wie gefällt Euch das? Alle fünf wurden wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhaftet und angeklagt, verurteilt und inhaftiert, nur um dann später eine Begnadigung angeboten zu erhalten, falls sie herkommen und die Leitung übernehmen.«

»Und das gilt auch für Bentley, den Sicherheitschef?«

»Jawohl. Er war der erste. Hat seine Stellung unter Tallon und Jacks angetreten. Soweit ich weiß, hat er immer gute Arbeit geleistet.«

»Wer hat die Begnadigungen genehmigt?« fragte Ohnesorg stirnrunzelnd. »Und wer hatte die Idee, diese Leute hierher zu schicken?«

»Diese Information ist hier nicht enthalten, Sir Ohnesorg.

Oder falls doch, dann ist sie so tief vergraben, daß ich nicht an sie herankomme. Aber nur jemand, der im Parlament eine recht hohe Stellung bekleidet, verfügt über die nötige Autorität, etwas Derartiges zu bewerkstelligen und gleichzeitig Stillschweigen darüber zu wahren. Ich kann Euch sagen, daß keiner der hiesigen Kolonisten etwas davon weiß. Viele von uns haben an der ursprünglichen Rebellion teilgenommen, und wir hätten diese Maßnahme auf keinen Fall akzeptiert. Verdammt, vielleicht kann man Tallon und Jacks letztlich doch in gewisser Weise rechtfertigen!«

»Es gibt keine Rechtfertigung für ein Bündnis mit Shub«, hielt ihm Ohnesorg entgegen. »Sehen wir mal nach, was wir sonst noch über die Ratsherren herausfinden können. Öffnet mal ihre Bankkonten. Ich möchte erfahren, was sie für ihre Arbeit hier einstreichen.«

Wild mußte zahlreiche Paßwörter benutzen, die er eigentlich nicht hätte kennen dürfen, aber schließlich erhielt er die Antworten, nach denen er suchte. Selbst die besten Systeme kapitulieren letztlich vor einem erfahrenen Hacker, und wie Wild bescheiden feststellte, gab es in Vidar sonst nicht viel zu tun, wenn man jung und unruhig war. Weshalb Loki unter allen Planeten des Imperiums den höchsten Anteil an Kyberratten in der Bevölkerung aufwies. Ohnesorg mußte darüber lächeln, aber das verging ihm gleich wieder, als er die Zahlen sah, die Wild für ihn ausgegraben hatte. Die Ratsherren erhielten Anteile an Loki s Bruttoproduktion. Nicht einfach einen Teil der Gewinne; vielmehr sahnten sie gleich an der Quelle kräftig ab. Sie steckten auch einen großen Anteil aller Steuern ein sowie von allen anderen öffentlichen Geldern, die ihnen unter die Finger kamen. Sie deponierten ihre Einnahmen auf Banken von Golgatha. Falls das so weiterging, würde die Wirtschaft auf Loki schließlich zusammenbrechen, obwohl die Ratsherren zweifellos schon ihre Flucht für einen Zeitpunkt arrangiert hatten, an dem jede Enttarnung noch in weiter Ferne lag.

Wild durchlief in wenigen Sekunden eine ganze Palette von Emotionen, von Erschrecken über Wut bis hin zu kaltem Zorn.

»Falls die Kolonisten davon wüßten, würden sie die Ratsherren aus den Betten zerren und auf der Stelle lynchen. Aber die Ratsherren können dieses Arrangement auf keinen Fall allein getroffen haben, Sir Ohnesorg! Jemand viel weiter oben muß sie decken. Jemand auf Golgatha

»Verdammt!« sagte Ohnesorg. »Vielleicht kämpfe ich wirklich auf der falschen Seite. Falls Tallon und Jacks darüber Bescheid wissen… Sagt mal, haben wir eine Möglichkeit, mit den Aufständischen in Verbindung zu treten? Geheim? Falls wir sie überreden könnten, ihre Klagen innerhalb des Systems vorzubringen, mit meiner Unterstützung…«

»Ihr versteht einfach nicht«, fand Wild, schaltete das Terminal aus und wandte sich Ohnesorg zu. »Ihr habt ja nicht gesehen, was die tun! Die Aufständischen kämpfen Seite an Seite mit den Geistkriegern. Sie haben die äußeren Siedlungen vernichtet – ganze Städte und Dörfer, hingeschlachtet bis zum letzten Mann, der letzten Frau, dem letzten Kind. Danach helfen die Aufständischen den Geistkriegern, die noch intaktesten erwachsenen Leichen einzusammeln, damit sie in Geistkrieger umgewandelt werden können. Die übrigen Leichen… Nicht nur die Truppen von Shub verüben Greueltaten. Ich rufe gleich mal einige Videoaufnahmen ab, die wir von ihrem letzten Angriff gemacht haben.«

Er schaltete einen Monitor ein, und Ohnesorg und Ruby verfolgten, wie Einheiten von Shub und den Aufständischen eine Stadt mit Feuer und Stahl und Grauen vernichteten. Wild betrachtete mehr die Gesichter seiner Gäste als die Ereignisse auf dem Bildschirm. Er kannte die Aufnahmen schon und wußte, daß er sie nie wieder vergessen konnte.

Geistkrieger stolzierten durch die Straßen und brachten alles um, was sich bewegte, von den eigenen Leuten mal abgesehen.

Sie waren Leichen mit grauer und blauer Haut, mit Metallaugen und grinsenden Zähnen, freigelegt hinter rissigen und verfaulten Lippen. Manche waren so übel zugerichtet, daß Knochen durch Risse im Fleisch zu erkennen waren oder Schleifen zerfetzter Eingeweide aus aufgeschlitzten Bäuchen hingen.

Lektronen-Implantate steuerten die Servomechanismen toter Gliedmaßen. Männer und Frauen, die nobel in der Schlacht gefallen waren, waren gegen ihren Willen aus der Ruhe gestört worden, um für Shub zu streiten. Schreckenswaffen waren sie und Schreckenstruppen; man konnte sie weder verletzen noch mit ihnen reden noch sie aufhalten. Solange die gepanzerten Lektronen-Implantate intakt blieben, solange blieb auch in Bewegung, was sonst vom Körper übrig war, und gehorchte ihren gnadenlosen Befehlen.

Sie pirschten sich mit unmenschlicher Geduld an ihre menschliche Beute heran. Häuser gingen ringsherum in Flammen auf, und der endlose Wind fächerte die Brände an. Die Lebenden fochten Schwert gegen Schwert mit den Toten, um ihre Heime zu retten oder vielleicht auch nur, um Zeit zu gewinnen, damit ihre Lieben entkommen konnten. Letztlich starben doch alle. Die Geistkrieger hielten nicht inne, bis alles, was gelebt hatte, reglos vor ihnen lag, tot wie sie selbst. Dazu hatte man sie programmiert. Sie zerrten die letzten Frauen und Kinder aus ihren Verstecken und inszenierten eine Show für die Kameras, indem sie ihre Opfer mit übermenschlicher Kraft zerrissen. Danach errichteten die Geistkrieger seltsame Konstruktionen aus Menschenteilen, mehrere Meter hoch, wobei Menschenknochen als Stützen dienten und augenlose Kindergesichter als Ornamente.

Die Szenerie verblaßte, und der Bildschirm schaltete sich selbst ab. Ohnesorg ließ Luft hervor, die er angehalten hatte, ohne es überhaupt zu bemerken. Er hatte im Verlauf der Jahre seinen Anteil an Tod und Gemetzel und Greueln gesehen, aber dieses unerbittliche, mechanische Morden gefror seine Seele.

Er sah Wild an.

»Ich habe Menschen mitmachen gesehen, Leute, die keine Geistkrieger waren. Sie haben auch gemordet und geplündert.

Aufständische?«

»Ja«, antwortete Wild. »Sie beteiligen sich an allem, was passiert. Dieses Dorf hieß Trawl und hatte vielleicht fünfhundert Einwohner. Ich hatte Verwandte dort. Sie sind alle tot.

Trawl war nicht mal von strategischer Bedeutung, aber die Rebellen haben es trotzdem zerstört. Einfach, weil es da war. Und sie haben alle umgebracht, um uns eine Botschaft zu übermitteln: Daß es nichts gibt, wozu sie nicht bereit sind, und daß wir nichts tun können, um sie daran zu hindern. Ich habe alle meine Familienangehörigen in Trawl verloren. Niemand ist mehr da. Ich bin der letzte meiner Linie, und unser Name stirbt mit mir.«

»Ja«, sagte Ruby. »Sowas passiert zur Zeit häufig. Ich kann aber nicht glauben, daß Menschen aus freiem Willen Seite an Seite mit Geistkriegern kämpfen.«

Wild zuckte die Achseln. »Sie sind verzweifelt. Viele von ihnen haben alte Rechnungen zu begleichen. Und vielleicht… haben sie einfach Geschmack am Töten gefunden. Ich weiß es nicht. Manchmal denke ich, daß das ganze Imperium verrückt geworden ist. Die alte Ordnung war übel, aber was wir heute haben, ist schlimmer.«

»Es ist nur ein Übergang«, meinte Ohnesorg. »Es treten zwangsläufig… Schwierigkeiten auf, wenn ein System durch ein anderes ersetzt wird. Mit der Zeit wird sich die Lage bessern.«

»Ich bin sicher, daß das alle trösten wird, die im Zuge Eures Übergangs ums Leben kommen«, sagte Wild. »Oder diejenigen, die miterleben müssen, wie sie sterben. Was ist passiert, Sir Ohnesorg? Ich habe immer an Euch geglaubt. Habe Euren Kampf gegen Löwenstein auf Schwarzmarkt-Videos verfolgt.

Habe darum gebetet, daß Ihr eines Tages irgendwie den Sieg davontragen möget. Jetzt weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll.«

»Habt Vertrauen«, sagte Ohnesorg. »Nicht zu mir, sondern zu den Menschen. Sie werden das Imperium wieder aufbauen und stärker machen, als es vorher war. Alles, was jetzt geschieht, wird vorübergehen.«

»Falls du jetzt wieder von Geburtswehen sprichst«, warf Ruby ein, »muß ich womöglich kotzen.«

»Nichts, was von Wert ist, wird jemals ohne Schmerzen und Opfer erreicht«, beharrte Ohnesorg und konzentrierte sich auf Wild. »Wir schulden denen, die umgekommen sind, daß wir weiterkämpfen für die Ziele, an die wir glauben und an die sie geglaubt haben.«

»Ich möchte es ja glauben«, sagte Wild. »Ich wünsche mir ja, daß all dieses Sterben und Leiden einen Sinn hat. Aber was haben wir erreicht, wenn Leute wie de Lisle wieder an die Macht kommen können?«

»Vertraut mir«, sagte Ohnesorg. »Ich kümmere mich schon um ihn, sobald ich wieder auf Golgatha bin.«

»Könnt Ihr die Aufständischen stoppen?« fragte Wild.

»Könnt Ihr die Geistkrieger aufhalten?«

»Natürlich können wir das«, sagte Ruby. »Wir sind schließlich die Guten, nicht wahr, Ohnesorg?«

»Na ja, ich schon«, antwortete dieser. »Ich bin mir nicht so sicher, was dich angeht.« Er sah Wild an. »Wir tun alles, was wir können, um diesen Planeten vor seinen Feinden zu retten.

Das schwöre ich bei meinem Blut und meiner Ehre. Jetzt brauche ich eine Karte, die ich Euch auszuarbeiten bitte. Sie soll zeigen, wieviel Territorium die Aufständischen beherrschen und in welche Richtung sie marschieren. Ich brauche eine Vorstellung davon, was sie als nächstes angreifen.«

Wild nickte und wandte sich wieder dem Terminal zu. Ohnesorg gab Ruby einen verstohlenen Wink, und sie entfernten sich ein Stück weit, um sich unter vier Augen zu besprechen.

»Ursprünglich habe ich geglaubt, man hätte uns hierher geschickt, um uns von unseren Nachforschungen bezüglich der Verbindungen Shubs auf Golgatha abzulenken«, sagte Ohnesorg. »Aber das hier ist eindeutig wichtiger. Shub muß hier aufgehalten werden, und zwar gründlich, oder sie ziehen von einem Planeten zum nächsten und wiederholen die gleiche Taktik.«

»Aber was sollen wir gegen eine Armee von Geistkriegern ausrichten?« wollte Ruby wissen. »Du hast diesem Jungen eine echt nette Ansprache gehalten, aber ich kann nicht erkennen, wie wir deine Versprechungen realisieren sollen. Selbst ausgebildete Soldaten haben an Geistkriegern richtig zu knacken, und die Armee dieser Stadt besteht eindeutig aus Amateuren.

Shub wird sie durchkauen und wieder ausspucken.«

»Ich habe jedoch einige Erfahrung damit, Strategien gegen überlegene feindliche Kräfte zu entwickeln«, entgegnete Ohnesorg. »Ich habe durchaus einen ansehnlichen Anteil meiner Feldzüge gewonnen, wie du weißt.«

»Du hast genauso viele verloren.«

»Das war früher, und jetzt ist heute. Falls Wilds Karte zeigt, was ich erwarte, dann habe ich eine Idee, wie wir diesen Krieg mit einem Schlag gewinnen können.«

»Ein letzter verzweifelter Zug, volles Risiko, gegen überwältigende Chancen, wobei alles von uns abhängt. Sowas?«

»Ja«, antwortete Ohnesorg. »Sowas.«

»Ah«, sagte Ruby kopfschüttelnd, »das Übliche halt. Sieh mal, warum tun wir nicht ein einziges Mal was Vernünftiges, rufen ein halbes Dutzend Sternenkreuzer und bitten sie, die Positionen der Aufständischen vom Orbit aus wegzupusten?«

»Erstens sind kein halbes Dutzend Sternenkreuzer verfügbar.

Zweitens würden ihre Sensoren durch die endlosen Stürme hindurch keine präzisen Informationen liefern. Drittens wird Shub den Krieg eskalieren, wenn wir es auch tun. Wir müssen sie mit dem schlagen, was wir hier vorfinden, damit sie es sich zweimal überlegen, ehe sie die gleiche Nummer woanders wiederholen.«

»Ich hasse es, wenn du mir so vernünftig zuredest«, stellte Ruby fest. »In Ordnung, auf ein Neues. Wird Zeit, mal wieder in letzter Sekunde den Sieg zu erringen.«

Wild lenkte höflich ihre Aufmerksamkeit auf sich, und sie drängten sich vor seinem Monitor, um die Karte zu studieren.

»Bislang konzentrieren sich die Aufständischen auf eine Taktik der blitzschnellen Überfälle mit anschließendem Rückzug«, erklärte Wild. »Sie greifen an, wenn das Wetter mal etwas ruhiger ist, vernichten das Ziel und verschwinden, ehe wir zum Gegenschlag ausholen können. Jede Fortbewegung läuft zu Fuß; das gilt für den Gegner wie für uns. Flugzeuge funktionieren auf Loki nicht; die Stürme sind zuviel für sie. In gewisser Hinsicht ist das unsere Rettung. Es begrenzt den Schaden, den die von Shub anrichten können.«

»Was ist mit Kraftfeldern?« erkundigte sich Ruby. »Ein guter Schirm wird mit jedem Wetter fertig, das dieser Planet gegen ihn schleudert.«

» Loki zeichnet sich durch sehr ungewöhnliche elektromagnetische Felder aus. Ihr glaubt ja nicht, wieviel Energie nötig ist, um den Schirm über Vidar aufrechtzuerhalten. Nichts unterhalb eines Sternenkreuzers kann genug Energie erzeugen, um für längere Zeit ein Kraftfeld aufrechtzuerhalten, das sich durch Lokis Atmosphäre bewegt.«

»Das wurde alles bei der Besprechung vor dem Start erwähnt, Ruby«, sagte Ohnesorg. »Ich wünschte wirklich, du würdest mal aufpassen.«

»Du bist der Denker in unserer Truppe, Ohnesorg. Aber sogar ich kann diese Karte auswerten. Die Aufständischen sind dabei, Vidar zu umzingeln und gegen jede Hilfe von außen abzuriegeln. Das muß ihr nächstes Ziel sein: Vidar selbst.«

»Richtig«, sagte Ohnesorg. »Sie sind zum letzten, tödlichen Schlag bereit.«

»Dann müssen wir etwas unternehmen«, sagte Wild, drehte sich um und funkelte Ohnesorg und Ruby an. »Ihr müßt etwas unternehmen! Ihr seid die großen Helden!«

»Sachte, Junge«, mahnte ihn Ruby. »Wir können nicht einfach losstürmen und die aufständischen Truppen ganz allein angreifen. Nicht mal ich bin so verrückt.«

»Was tun wir also? Warten wir, bis sie uns erreichen?«

»Beinahe«, sagte Ohnesorg. »Allerdings locken wir sie zu uns, auf einen Schauplatz unserer Wahl. Wir können nicht riskieren, daß sie Vidar belagern. Die Stadt wurde nicht gebaut, um Angriffen von Geistkriegern standzuhalten. Wir müssen dem Gegner im Feld gegenübertreten. Nach den Informationen, die wir erhalten haben, können Eure Lektronen Sturmflauten vorhersagen. Trifft das zu?«

»Nun, ja. Wir erreichen dabei eine Trefferquote von achtzig Prozent. Aber solche Flauten dauern nie lange.«

»Das muß diese besondere auch nicht. Wir suchen uns also einen ruhigen Flecken, besetzen ihn so, wie es für uns am vorteilhaftesten ist, und erwarten dort den Angriff der Rebellen.

Und dann treten wir ihnen in den Arsch. Die Aufständischen verfügen vielleicht über Geistkrieger, aber Ihr habt uns. Und wir haben bislang noch nie eine Schlacht verloren.«

»War teilweise aber verdammt knapp«, brummte Ruby.

»Halt die Klappe, Ruby. Wir schaffen das schon, Peter. Wir müssen Vidar dazu praktisch schutzlos zurücklassen, aber das ist ein notwendiger Trick. Unsere besonderen Kräfte werden sich entscheidend auswirken. Eine letzte Schlacht, um dem Krieg ein Ende zu bereiten.«

»Jetzt mal langsam!« verlangte Ruby. »Das hängt alles davon ab, daß die Aufständischen und Shub ihre kompletten Kräfte gegen uns werfen, auf einem Gelände, von dem sie wissen müssen, daß wir es ausgesucht und vorbereitet haben. Warum sollten sie das tun?«

»Sie werden es tun, weil wir etwas haben, was sie möchten.

Etwas, das sie unbedingt haben möchten.«

»Zum Beispiel?« fragte Ruby.

»Uns«, antwortete Ohnesorg. »Dich und mich. Die Geheimnisse und Kräfte aus dem Labyrinth des Wahnsinns. Shub wird alles für die Chance riskieren, unserer Personen habhaft zu werden, und du kannst darauf wetten, daß Rebellenspione in der Stadt längst die Nachricht nach draußen übermittelt haben.«

»Oh, phantastisch!« fand Ruby. »Einfach wundervoll! Wir spielen also den Köder in der Falle, in einer Sturmflaute, die vielleicht bis zum Ende der Schlacht anhält, vielleicht aber auch nicht, mit einer ganzen Armee von Geistkriegern, die uns unter allen Umständen kriegen möchten. Habe ich irgendwas ausgelassen?«

»Im Grunde nicht«, sagte Ohnesorg. »Wie sieht es aus, Wild?

Was wissen Eure Lektronen über bevorstehende Sturmflauten?«

»Bin Euch weit voraus«, sagte der über das Terminal gebeugte Wild. »Und es sieht danach aus, als hätten wir endlich mal Glück. In den nächsten paar Tagen ist eine längere Flaute zu erwarten; sie sollte mehrere Stunden lang anhalten und sich über ein Gebiet von etwa einer halben Quadratmeile erstrecken, rings um ein Tal, das nicht allzu weit von Vidar entfernt liegt.

Diese besondere Flaute tritt regelmäßig ein, so daß man sich ziemlich gut darauf verlassen kann. Genau das, was der Arzt verordnet hat.«

»Wird aber auch Zeit, daß mal etwas zu unseren Gunsten läuft«, fand Ruby.

»Dann reden wir jetzt mit den Leuten, die hier das Sagen zu haben glauben«, schlug Ohnesorg vor. »Wir müssen eine Armee aufstellen und haben dafür nicht viel Zeit.«

In einem Bunker aus Stahl und Stein, tief unter der Oberfläche von Loki, planten die Aufständischen ihre nächsten Aktionen.

Oder zumindest war das menschliche Element damit befaßt.

Jung Jakob Ohnesorg und seine Geistkrieger erhielten ihre Befehle von den abtrünnigen KIs auf Shub, und meist weihten sie ihre menschlichen Bundesgenossen nicht ein; diese erfuhren nur, was sie unbedingt wissen mußten. Die Anführer der aufständischen Menschen, der ehemalige planetare Intendant Matthew Tallon und der ehemalige Bürgermeister von Vidar, Terrence Jacks, saßen sich an einem schlichten Metalltisch in einem beengten Raum mit kahlen Wänden und einer niedrigen Decke gegenüber, der vielen Zwecken diente – wozu man ihn jeweils brauchte. Tallon und Jacks hatten das Zimmer im Augenblick für sich, da sie die Anführer waren. Sie stocherten verbittert in der Hauptmahlzeit des Tages herum: Proteinwürfel und destilliertes Wasser, von Shub-Maschinen hergestellt. Alles, was man zum Leben brauchte, aber nichts sonst.

»Gott, ich hasse dieses Zeug!« sagte Jacks und schob die kleinen Proteinbrocken auf dem Teller hin und her. »Es schmeckt nach nichts, muß endlos gekaut werden und hat nicht mal gefällige Farben.«

»Ich weiß«, stieß Tallon ins gleiche Horn. »Ich würde einen Mord begehen für ein kräftiges Steak und einen anständigen Wein, um es damit hinunterzuspülen.«

»Wir haben schon für geringere Ziele gemordet«, sagte Jacks, und sie blickten sich gegenseitig in die Augen.

»Es hat wieder Plünderungen gegeben, nicht wahr?« fragte Tallon. »Obwohl ich es verboten hatte.«

»Ihr könnt den Leuten keinen Vorwurf machen. Ich meine, die Toten brauchen nichts mehr zu essen, oder?«

»Aber es reicht nie. Immer nur, damit ein paar Glückliche etwas Geschmack genießen können. Genug, um sie daran zu erinnern, wie übel dieses Zeug hier wirklich ist. Und so streiten sich die Leute um die Beute, wenn sie doch lieber die Kräfte für den bevorstehenden Kampf schonen sollten. Wir können uns einfach nicht leisten, noch mehr Leute zu verlieren, verdammt! Ich weiß, daß unser Leben hart ist, aber wir haben es frei gewählt. Wir sind lieber Aufständische geworden, als uns einer Tyrannei zu beugen.«

»Und es hat uns verdammt viel geholfen«, höhnte Jacks.

»Verbündet mit den Feinden der Menschheit!«

»Wir hatten keine Wahl! Das Imperium wollte uns nicht schützen, und die Machtstruktur, die es uns aufgezwungen hat, ist hoffnungslos korrupt. Unsere einzige Chance auf ein anständiges Leben lag darin, Shub um Hilfe zu rufen.«

»Ihr nennt das hier ein anständiges Leben? Sich in einem Loch in der Erde zu verstecken und nur daraus hervorzukommen, um die eigenen Leute umzubringen?«

»Es wird besser werden. Ihr werdet schon sehen. Das ist nur eine Übergangszeit.«

»Wie weit ist es mit uns gekommen, Matt?« fragte Jacks.

»Wir hausen wie Ratten in unseren Löchern und stehen daneben, während die Geistkrieger Frauen und Kinder töten.

Einige unserer Leute mischen dabei inzwischen sogar mit, lassen ihre Wut und Frustration an Hilflosen aus. Sind wir einem Sieg in diesem verdammten Krieg näher gekommen? Ich kann es nicht erkennen. Ich erkenne nur, daß wir allmählich so unmenschlich werden wie die Bundesgenossen, für die wir uns entschieden haben.«

»Wir tun, was nötig ist.« Tallon hielt Jacks’ Blick stand.

»Wir haben während der Rebellion gegen Löwenstein einen Eid geschworen, erinnert Ihr Euch? Bei unserem Blut und unserer Ehre. Was immer nötig ist. Daran hat sich nichts geändert. Wir kämpfen immer noch gegen denselben Feind.«

»Tun wir das? Jakob Ohnesorg und Ruby Reise sind gekommen, um gegen uns zu kämpfen! Zwei der größten Helden der Rebellion, die Menschen, die uns damals zum Kampf inspiriert haben, sind speziell aus dem Grund hier erscheinen, um gegen uns vorzugehen! Wie zum Teufel sind wir nur auf der anderen Seite gelandet, soweit es sie anbetrifft? Wir können nicht gegen sie kämpfen!«

»Doch, können wir. Es sind nur die beiden. Was können sie schon gegen eine Armee von Geistkriegern ausrichten?«

»Macht Ihr Witze? Sie haben Golgatha eingenommen, haben Löwenstein vom Eisernen Thron gestürzt und das Imperium neu aufgebaut! Sie sind Legende!«

»Sie sind Monster. Das Labyrinth des Wahnsinns hat sie in etwas verwandelt, was nicht mehr menschlich ist.«

»Und was sind wir?« wollte Jacks wissen, und Tallon wußte keine Antwort.

»Aber, aber«, meldete sich der junge Jakob Ohnesorg von der Tür her. »Liegt hier vielleicht Mutlosigkeit in der Luft? Dar macht Euch doch wohl keine Sorgen wegen Ohnesorgs und Reises. Es sind vielleicht Legenden oder Monster, aber das bin ich schließlich auch.«

Die beiden Menschen drehten sich scharf um und betrachteten mit finsterem Blick die Maschine, die gelassen an der Tür stand, groß und gutaussehend, in silberner Rüstung, jeder Zoll ein Held. Eine Mordmaschine mit dem Gesicht eines Helden, ohne Gnade oder Mitgefühl oder Ehre. Sie lächelte Tallon und Jacks charmant an.

»Tut mir leid, Euch bei der Mahlzeit zu stören, meine Herren, aber ich dachte, Ihr solltet erfahren, daß die Pläne geändert wurden und wir bald abmarschieren. Ihr solltet lieber Eure Leute zusammentrommeln und richtig motivieren. Keine heimtückischen Angriffe mehr – wir treten in offener Schlacht gegen die Kolonisten an. Unsere Armee gegen ihre, und der Sieger erhält alles.«

»Was hat denn zu diesem plötzlichen Entschluß geführt?« fragte Tallon und stand auf. »Von solch offener Taktik haben wir nichts zu gewinnen, wohl aber alles zu verlieren. Was hat sich verändert?«

»Jakob Ohnesorg und Ruby Reise befehligen die Truppen der Stadt. Und Shub möchte dieser beiden unbedingt habhaft werden, tot oder lebendig.«

Auch Jacks stand auf. »Ihr wollt sie so sehr, daß Ihr bereit seid, unser aller Leben und unsere Sache zu riskieren für die bloße Chance, die beiden in die Hand zu bekommen?«

»Kurz und präzise«, antwortete Jung Jakob Ohnesorg.

»Nein«, sagte Tallon. »Ich kann das nicht akzeptieren. Meine Leute sind noch vom letzten Überfall erschöpft. Ihr könnt sie nicht auffordern, wieder loszumarschieren.«

»Ich fordere sie nicht auf«, versetzte Jung Jakob Ohnesorg lächelnd. »Jeder, der nicht mit uns marschiert, stirbt gleich hier.«

»Ihr braucht uns!« warnte Jacks.

»Was hat Euch nur auf diese Idee gebracht?« fragte die Furie. »Ihr seid nützlich, nichts weiter. Betet darum, daß diese Nützlichkeit nicht Geschichte wird!«

»Wir können nicht gegen Ohnesorg und Reise kämpfen!« beschwerte sich Tallon. »Es sind Monster! Sie haben Kräfte, über die niemand verfügen sollte.«

»Keine Sorge«, sagte der immer noch lächelnde junge Jakob Ohnesorg. »Wir haben immer damit gerechnet, daß Überlebende des Labyrinths mal hier auftauchen. Deshalb haben wir etwas speziell für sie mitgebracht, so daß Ihr sie mühelos dingfest machen könnt.«

»Nein«, sagte Tallon, »so funktioniert das nicht. Diese beiden haben unsere Sache pervertiert und korrumpiert, haben ein Abkommen mit den Familien getroffen, statt sie auszulöschen.

Dieselben Bastarde sind immer noch an der Macht. Zur Hölle mit Jakob Ohnesorg und diesem irren Miststück Reise!«

»Wir sind verraten worden«, meinte Jacks. »Nach allem, was wir für Loki getan haben, nach allem Blut und Leid, nach den guten Leuten, die wir verloren haben – es war alles für nichts.«

Die beiden Menschen sahen sich gegenseitig an und entdeckten wieder die Wunden der Vergangenheit. Nur, indem sie das immer wieder taten, konnten sie die Scheußlichkeiten rechtfertigen, die sie im Bündnis mit Shub miterlebt und vollbracht hatten.

»Wir konnten nur wieder rebellieren«, sagte Jacks. »Und diesmal sicherstellen, daß wir genug Macht auf unserer Seite hatten. Deshalb wandten wir uns an Shub, und dort hat man Euch geschickt, Jung Jakob Ohnesorg. Euch und Eure Mordmaschinen.«

»Und haben wir nicht ausgezeichnete Arbeit geleistet?« fragte die Furie. »Unsere Streitkräfte haben noch nie einen einzigen Feldzug verloren.«

»Feldzug? Ihr nennt das Abschlachten schutzloser Dorfbewohner einen Feldzug?« Tallon funkelte Jung Jakob Ohnesorg an. »Das muß aufhören! Ich nehme das nicht mehr hin! Hört sofort mit den Massakern auf, solange wir noch einen Rest öffentlicher Unterstützung genießen!«

»Wir tun nur, was nötig ist«, sagte Jung Jakob Ohnesorg ruhig. »Wir müssen die Moral des Feindes zerstören, damit er, wenn wir schließlich vor Vidar stehen, lieber kapituliert, als ausgerottet zu werden. So wird eine langwierige Belagerung mit großen Verlusten auf beiden Seiten vermieden. Ihr habt in diese Taktik eingewilligt, ehe wir starteten.«

»Ja«, sagte Jacks, »wir haben eingewilligt. Wir haben jedoch nie erwartet, daß sich alles so lange hinzieht – daß uns soviel Blut an den Händen kleben würde.«

»Besser, wenn einige Hunderte in ein paar Dörfern sterben, als Tausende in der Stadt«, sagte Tallon. »So habt ihr es uns verkauft. Aber Vidar läßt nach wie vor nicht erkennen, daß man dort an Kapitulation denkt, und jetzt verfügen sie dort über den echten Jakob Ohnesorg und Ruby Reise. Sie haben Monster auf ihrer Seite.«

»Kein Grund zur Sorge«, fand Jung Jakob Ohnesorg. »Ihr habt mich.« Und er lächelte sie beide an, drehte sich um und ging.

Tallon und Jacks nahmen wieder Platz, aber jeder wich dem Blick des anderen aus. Tallon hatte die Hände auf dem Tisch zu Fäusten geballt. Jacks schien schlecht zu sein.

»Monster«, sagte Tallon leise. »Wohin ich blicke, sehe ich Monster.«

»Was haben wir getan, Matt?« fragte Jacks. »Wir haben etwas entfesselt, das zu beherrschen wir nie die Chance hatten.«

»Wir müssen weitermachen«, fand Tallon. »Wir müssen nach Vidar ziehen und diesen Krieg gewinnen, oder all die Menschen sind umsonst gestorben.«

»Aber… mal vorausgesetzt, wir siegen. Mal vorausgesetzt, wir übernehmen die Macht in Vidar und auf ganz Loki. Denkt ihr, Shub wird dann seine Streitkräfte abziehen und uns in Ruhe regieren lassen? Was sollte es daran hindern, uns alle zu massakrieren und aus Loki ein zweites Shub zu machen?«

»Wir sind Verbündete«, sagte Tallon.

»Tatsächlich? Es ist verdammt sicher, daß wir keine gleichrangigen Partner sind. Welche Entscheidung Shub auch fällt, wir haben keine andere Wahl, als mitzumachen. Wir sind verdammt, Matt, was auch immer passiert.«

»Dann sind wir halt verdammt!« schimpfte Tallon. »Und es ist mir egal. Solange nur unsere Feinde zuerst dran glauben.

Wenn ich nur lange genug lebe, um sie alle sterben zu sehen, bin ich glücklich.«

Jakob Ohnesorg und Ruby Reise schritten durch die dicht bevölkerten Korridore des Rathauses, und die Leute beeilten sich, ihnen den Weg freizugeben. Schlechte Nachrichten lagen in der Luft. Jeder konnte es riechen, aber noch wußte niemand, worum es ging oder wo das Unheil womöglich einschlug. Also zogen alle die Köpfe ein und hofften, unbemerkt zu bleiben. Es war noch kaum Morgen, als Ohnesorg und Ruby einen Anruf vom Stadtrat erhalten hatten, mit der Aufforderung, sich unverzüglich einzufinden. Normalerweise hätte Ohnesorg ihnen gesagt, was sie mit einer solchen Forderung tun konnten, aber die kaum beherrschte Panik in der Stimme des Funkvermittlers überzeugte ihn, daß er und Ruby sich selbst über die Lage ins Bild setzen sollten.

Vier Bewaffnete standen vor der Tür zum Ratssaal, aber sie wichen rasch aus, als Ohnesorg und Ruby erschienen. Einer öffnete sogar die Tür für sie. Dahinter standen de Lisle und seine Kollegen zusammen und starrten unglücklich auf zwei Holzkisten, die vor ihnen auf dem Boden standen. Die Kisten machten einen ganz normalen Eindruck, aber die Ratsherren bedachten sie mit Blicken, als erwarteten sie, jeden Augenblick könne ein Grendel daraus hervorspringen. Daß sie Ohnesorg und Ruby mit erkennbarer Erleichterung empfinden, das war schon ein gutes Maß für ihre Nervosität. De Lisle tupfte sich die schwitzende Stirn mit einem Taschentuch ab und deutete auf die Kisten, wobei seine Hand nicht ganz so ruhig war, wie sie hätte sein können.

»Die haben schon auf uns gewartet, als wir heute morgen zur Arbeit kamen. Eine höfliche kleine Notiz war beigelegt, die sie als Kleines Geschenk von Shub auswies. Nichts weiter. Wir haben keine Ahnung, wie sie hereingebracht worden sein könnten. Ich kann mir nur denken, daß es unter meinen Leuten Verräter gibt, Sympathisanten der Aufständischen. Wir haben uns nicht getraut, die Kisten zu öffnen. Sie geben bedrohliche Geräusche von sich, wenn man sie anfaßt. Sie machen gleichermaßen bedrohliche Geräusche, wenn wir Anstalten treffen, uns zu entfernen. Wir sind jetzt seit fast einer Stunde mit ihnen hier in der Falle.«

»Typische Terrortaktik von Shub«, meinte Ruby und musterte die Kisten interessiert. »Habt ihr versucht, den Inhalt mit Sensoren abzutasten?«

»Ja. Die Kisten sind anscheinend mit einem Stoff ausgelegt, den die Sensoren nicht durchdringen.«

»Womöglich Bomben«, überlegte Ruby, hockte sich vor die nächststehende Kiste und nahm den Deckel mit professionellem Blick in Augenschein. »Kein Schloß, keine Klammern, keine erkennbaren elektronischen Abwehreinrichtungen. Vielleicht sowas wie eine Warnung. Ich schlage vor, sie zu öffnen und mal zu sehen, was passiert.«

»Klingt für mich nach einem guten Plan«, sagte Ohnesorg.

»Ruby und ich überleben eine Bombe wahrscheinlich sowieso.

Aber für alle Fälle schlage ich vor, daß Ihr Ratsherren Euch an die Wand gegenüber zurückzieht.«

Die Ratsherren folgten diesem Vorschlag eilig und machten sich nicht die Mühe, ihre Würde mitzunehmen. Ohnesorg hockte sich neben Ruby.

»Ich denke nicht, daß wir es hier mit einer Sprengfalle zu tun haben«, sagte er nachdenklich. »Ansonsten hätte sich der Absender nicht die Mühe mit zwei Kisten gemacht. Eine hätte gereicht für eine Bombe oder eine andere Terrorwaffe.«

»Vielleicht stecken eine Art von Furien darin«, überlegte Ruby stirnrunzelnd. »Die Kisten sind groß genug für kleinere Versionen davon. Aber wieso die Mühe mit Mordmaschinen, wenn eine Bombe genauso effektiv wäre?« Sie sah Ohnesorg an und lächelte. »Sollen wir ausknobeln, wer von uns die erste Kiste öffnet?«

»Ich öffne die erste Kiste«, sagte Ohnesorg. »Du mogelst immer.«

Er packte den Deckel der ersten Kiste mit festem Griff und riß ihn auf. Ein Schwall eiskalter Luft stieg auf, und Ohnesorg und Ruby wichen rasch zurück. Die Kiste rührte sich jedoch nicht weiter. Vorsichtig traten sie heran und blickten hinein.

Ein totes, ganz weißes Gesicht, mit Frost gesprenkelt, blickte zu ihnen herauf. Auch die offenen Augen waren von Reif überzogen. Ohnesorg und Ruby musterten einander und wandten sich wieder dem Inhalt der Kiste zu. Es war eine Menschenleiche, hineingerollt wie eine Schlange. Sie war vom Hals bis zu den Lenden aufgeschnitten, und Brust und Unterleib wirkten merkwürdig… flach. Ruby zog eine Braue hoch.

»Was immer ich erwartet habe, das jedenfalls nicht. Jemand, den du kennst?«

»Ich denke, nein. Warum sollte Shub uns einen Toten schicken? Und noch dazu einen sorgfältig konservierten?«

»Aber warum in dieser Weise arrangiert? Wieso haben sie nicht einfach eine größere Kiste benutzt?« Ruby griff hinein und packte eine Handvoll Haare des Toten. Sie versuchte, ihn herauszuziehen, aber die Leiche gab kaum nach, war teilweise an den Innenseiten festgefroren. Die froststarren Gewebe dehnten sich unter dem Zug mit lauten, knackenden Geräuschen.

Der lange Unterleibsschnitt öffnete sich langsam wie ein Mund, und erst jetzt entdeckten Ohnesorg und Ruby, daß die Leiche vollständig ausgeweidet war. Aus Brust und Bauch war alles entfernt.

»Der Schnitt ist präzise, wie mit dem Skalpell gezogen«, sagte Ohnesorg nachdenklich, und Ruby ließ das Haar los. Der Kopf fiel mit einem lauten, dumpfen Aufprall in die Kiste zurück. Ruby nahm die eigene Hand in Augenschein. Sie war fast ganz mit Reif überzogen. Ruby rümpfte die Nase, blieb aber von der Kälte unbeeindruckt und blickte wieder auf den hohlen Mann hinunter.

»Sie haben ihn wirklich ausgeräumt, Jakob. Sie haben nicht nur die Eingeweide herausgenommen, sondern auch die Knochen. Kein Brustkorb, kein Brustbein, selbst die Schlüsselbeine sind verschwunden. Aber warum schicken sie uns eine ausgenommene Leiche? Soll uns das vielleicht erschrecken?«

»Vielleicht ist es eine Warnung vor dem, was sie mit uns allen vorhaben«, überlegte Ohnesorg zweifelnd. »Uns toten, uns ausweiden und in Geistkrieger umwandeln. Werfen wir mal einen Blick in die andere Kiste. Vielleicht enthält sie die Antwort.«

Ruby öffnete die zweite Kiste und wedelte ungeduldig die kalte Luft mit den Händen weg, die dampfend daraus aufstieg.

Sie wollte schnellstmöglich den Inhalt sehen. Und dann rümpfte sie die Nase und warf Ohnesorg einen Blick zu. »Das ist wirklich widerwärtig.«

Ohnesorg beugte sich über die zweite Kiste. Ein Satz menschlicher Organe war ordentlich darin verpackt, blaßrosa und grau und mit schimmerndem Reif bedeckt. Sie waren sorgfältig mit menschlichen Knochen ausgelegt, um sie zu trennen.

Das Herz war in ein hübsches rosa Band mit Schleifchen gewickelt.

»Einen solchen Anblick hatte ich zuletzt als Klonpascherin«, stellte Ruby fest und starrte fasziniert die menschlichen Überreste an.

»Da ist ein weiterer Brief«, sagte Ohnesorg. »Unter dem Herzen.« Er streckte die Hand aus und zog das Papier vorsichtig unter dem massiven Organ hervor. Er studierte sorgfältig den Umschlag.

»Interessant. Er ist an uns adressiert. Shub weiß, daß wir hier sind.«

»Mach das verdammte Ding auf!« verlangte Ruby ungeduldig.

Der Umschlag enthielt einen einzelnen Bogen Papier mit einem Satz gedruckter Anweisungen. Ohnesorg faltete es vorsichtig auseinander, wollte das brüchige Papier nicht zerbrechen. Er studierte die Nachricht einige Augenblicke lang schweigend. Ruby schob sich neben ihn.

»Nun? Was steht da?«

»Es scheinen Anweisungen zu sein, wie man einen Menschen als Bausatz montiert. Ihnen zufolge müßte die Leiche wieder funktionieren, wenn man die Knochen und Organe in korrekter Reihenfolge zusammensetzt, sie schließt und auftaut.«

»Na, das ist einfach zu krank«, fand Ruby. »Sogar für mich.«

»Und merkwürdig«, sagte Ohnesorg. »Ich habe noch nie erlebt, daß Shub einen Sinn für Humor zeigte.«

Ruby schüttelte den Kopf. »Es ergibt einfach keinen Sinn.

Dachten sie, sie würden uns damit Angst einjagen?«

Ohnesorg zuckte die Achseln. »Sehen wir mal, was die Ratsherren zu sagen haben.«

Er winkte sie herüber, und sie kehrten zurück, etwas ermutigt durch die Tatsache, daß die Kisten nun doch nicht explodiert waren. Dann blickten sie hinein. Einer schaffte es noch bis zur Tür, ehe ihm schlecht wurde. Zwei weitere verschwand wieder gen Rückwand und weigerten sich zurückzukommen. Bentley und de Lisle blieben, wenn auch sichtlich erschüttert.

»Ich kenne diesen Mann«, sagte Bentley schließlich. »Er hat sich freiwillig gemeldet, um allein und unbewaffnet die Führer der Rebellen aufzusuchen und ein Abkommen auszuhandeln.

Er war früher ein Freund und Kollege von Terrence Jacks, dem ehemaligen Bürgermeister. Er dachte, die Freundschaft würde sein Leben garantieren. Er hätte es besser wissen müssen. Ich habe ihn gewarnt, aber er glaubte, daß mit gutem Willen auf beiden Seiten immer noch ein Abkommen möglich war.«

»Die Aufständischen haben das getan?« fragte Ruby. »Warum zum Teufel?«

»Um uns eine Nachricht zu schicken«, sagte de Lisle, »daß sie nicht an Verhandlungen interessiert sind. Da seht Ihr, was für einem Feind wir gegenüberstehen. Shub ist schon schlimm genug, aber die Aufständischen hier sind Tiere. Wir müssen diesen Vorfall geheimhalten. Er darf außerhalb dieses Zimmers nicht bekannt werden. Seid Ihr damit einverstanden, Sir Ohnesorg?«

»Ja. Die Leute brauchen davon nichts zu erfahren. Wir sagen einfach, die Kisten enthielten abgehackte Köpfe aus den äußeren Siedlungen. Das ist übel genug, um sie zu motivieren, ohne sie zu sehr zu erschüttern. Schafft das hier insgeheim weg.

Verbrennt es.«

»Ich habe da eine Idee«, sagte Ruby und lächelte boshaft.

»Was, wenn wir die Anweisungen ausführen und den Mann wieder zusammensetzen? Denkst du, es würde funktionieren?

Ich meine, Shub weiß vieles. Vielleicht steht er einfach auf und läuft wieder herum.«

Der Ratsherr an der Tür gab auch noch den Rest seines Frühstücks her. Seine Kollegen musterten Ruby mit offenem Ekel.

Ohnesorg schüttelte den Kopf.

»Ich denke nicht, daß wir einen solchen Weg einschlagen sollten. Wohin er uns auch führte, wir wären dann keine Menschen mehr. Verbrennt die Leiche, de Lisle, komplett. Und dann verstreut die Asche, nur für alle Fälle.«

Danach ging es relativ ruhig zu. Die Aufständischen marschierten gen Vidar und boten dafür eine einzige große Streitmacht auf, Menschen und Shub-Maschinen, die unterwegs alle Siedlungen vernichteten. Der Sturm blies weiter, aber alle wußten, daß eine Flaute bevorstand. Ohnesorg und Ruby verwandten die Zeit, die sie noch hatten, auf den Versuch, aus Vidars Freiwilligen so etwas wie eine Armee zu machen. An Freiwilligen herrschte kein Mangel, aber die meisten hatten noch nie eine Schußwaffe im Zorn abgefeuert. Sie waren ziemlich hart und tapfer, aber es kostete nun einmal Zeit, selbst aus dem willigsten Rekruten einen Soldaten zu formen, und alle wußten, daß ihnen die Zeit allmählich ausging.

Und so kam es doch für alle etwas überraschend, als sich Ohnesorg am zweiten Nachmittag von der Ausbildung verabschiedete, sie an Ruby übertrug und auf einen persönlichen Einsatz ging. Er hüllte sich in einen langen Umhang, zog die Kapuze herunter, um das Gesicht zu verstecken, und ging durch immer schmalere und schmutzigere Straßen in den wirklich heruntergekommenen Teil von Vidar. Jede Stadt weist einen Bezirk auf, den die respektablen Bürger nur heimlich aufsuchen, auf der Suche nach Vergnügungen, die vielleicht keinen Namen, wohl aber einen Preis haben. Ein paar Einheimische kamen auf die Idee, Ohnesorg abzufangen und ihn von Wertsachen zu erleichtern, mit denen er sich womöglich belastet hatte, aber ein kurzer Blick auf seine Strahlenpistole reichte gewöhnlich, damit sie es sich noch einmal überlegten. Ohnesorg mußte einen Mann erschießen, aber er schien nicht von einer Art gewesen zu sein, die irgend jemand vermissen würde.

Am späten Nachmittag erreichte Ohnesorg schließlich sein Ziel – einen heruntergekommenen Sauf schuppen, der wahrscheinlich schon vom Tage der Eröffnung an schäbig und verrufen gewirkt hatte. Ohnesorg blieb eine Zeitlang auf der Straßenseite gegenüber im Schatten stehen und stellte sicher, daß ihm niemand gefolgt war. Er glaubte zwar nicht, daß sich noch irgend jemand an ihn heranschleichen konnte, aber alte Gewohnheiten haben nun mal ein zähes Leben. Niemand hob den Blick, als er schließlich die schummerige Kneipe betrat. Es war ein Etablissement der Art, wo jeder sorgsam darauf achtete, sich nur um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern.

Der Raum hatte keine Fenster, und die Beleuchtung war niedrig eingestellt, um Vertraulichkeit zu unterstützen. Es herrschte eine Atmosphäre von illegalem Rauch, billigem Parfüm und allgemeinem Verfolgungswahn. Die Kunden saßen zu zweit oder dritt an billigen Tischen, konferierten in gedämpftem Ton und schoben dabei anonyme Päckchen hin und her oder saßen einfach nur da und starrten in Drinks, die sie nicht anrührten, während sie auf ihre Kontaktleute warteten. Kein Sägemehl bedeckte den Boden; vermutlich hatte es jemand gestohlen. Ohnesorg hatte früher schon viel Zeit an solchen Orten verbracht und dort Leute getroffen, auf der Suche nach Antworten von einer Art, wie man sie nur in derartiger Gesellschaft erhielt. Er entdeckte seinen Verbindungsmann, der ein gutes Stück im Schatten saß, und ging zu ihm hinüber.

»Es sollte lieber einen verdammt guten Grund geben, mich herzurufen«, sagte er, während er die Sitzfläche des Stuhls mit einem Taschentuch abwischte, ehe er sich setzte. »Ich war meinerzeit schon in diversen Kaschemmen, und diese gehört definitiv in die gleiche Kategorie. Gott allein weiß, was sie hier für einen Sprit ausschenken.«

»Tatsächlich ist er ganz ordentlich«, versetzte Peter Wild.

»Verglichen mit dem Preis. Und wir treffen uns hier, weil das einer der wenigen Plätze ist, wohin mir de Lisles Informanten nicht zu folgen wagen. Ich habe noch am Lektron gesessen und mich tiefer in diese Dateien vergraben.«

»In Ordnung. Was habt Ihr herausgefunden?«

»Es sieht schlimmer aus, als wir dachten. De Lisle und seine Kumpane wurden mit dem klaren Ziel hierhergeschickt, um Lokis Wirtschaft zu ruinieren. Sobald sie ihre Arbeit getan hätten, wären ihre Bosse von Golgatha aufgetaucht und hätten alles für Schrottpreise aufgekauft. Einschließlich der Kolonisten selbst. Um ihre Schulden abzutragen, hätten diese sich lebenslänglich in Abhängigkeit begeben müssen. In jeder Hinsicht Sklaven, außer dem Namen nach.«

»Ist das denn möglich?« fragte Ohnesorg. »Ich habe einen ganzen Stapel Gesetze durchs Parlament gebracht, um genau solche Dinge zu verhindern.«

»Das Gesetz hilft auch nicht mehr viel, wenn es mit vollendeten Fakten konfrontiert wird. Niemand hatte irgendeinen Verdacht. Diese Typen wären damit durchgekommen, hätten die Aufständischen kein Abkommen mit Shub geschlossen und dadurch alles ins Chaos gestürzt.«

»Tallon muß es herausgefunden haben. Deshalb war er verzweifelt genug, um Shubs Truppen zu rufen.«

»Sieht so aus. Tallon und Jacks waren große Namen bei der ursprünglichen Rebellion. Entschiedene Idealisten. Helden. Es muß ihnen das Herz gebrochen haben, als sie entdeckten, daß alles vergebens gewesen war.«

»Sie hätten sich nicht an Shub wenden müssen«, fand Ohnesorg. »Sie hätten auch das Parlament informieren können. Sie hätten sich an mich wenden können. Ich hätte etwas unternommen, wäre ich nur informiert gewesen.«

»Ihr wart sehr beschäftigt«, gab Wild zu bedenken. »Wie viele Menschen wollten täglich mit Euch reden und wurden nur deshalb abgewiesen, weil die Zeit einfach nicht reichte? Ihr wart darauf angewiesen, daß Eure Mitarbeiter die Verrückten und die Zeitvergeuder aussortierten. Und auf eins könnt Ihr wetten: De Lisles Vorgesetzte haben auf die eine oder andere Art dafür gesorgt, daß Ihr nicht informiert wurdet.«

Ohnesorg saß eine Zeitlang schweigend da. Wild nippte an seinem Wein und sah zu, wie Ohnesorg vor sich hinbrütete.

Selbst wenn er so still dasaß, wirkte der alte Rebell aufgeweckt und gefährlich. Falls irgend jemand Loki noch zu retten vermochte, dann wohl er. Das Murmeln gedämpfter Unterhaltungen kreiste durch die Kneipe und stieg und fiel wie eine ferne Flut. Ohnesorg seufzte und schüttelte den Kopf.

»Ich habe die Rebellion gewonnen. Habe die Eiserne Hexe gestürzt. Und nichts hat sich verändert. Ich glaubte, nach dem Krieg würde ich endlich die Möglichkeit finden, meine Bürde niederzulegen und endlich ein eigenes Leben zu fuhren. Ich hätte es besser wissen müssen. Egal wie viele Kriege man ausfragt, es kommt trotzdem der nächste. Ich habe versucht, das Schwert des Kriegers abzulegen und Politiker zu werden, ein Mann des Friedens. Dabei glaube ich gar nicht an Politik. Habe ich nie. Ich glaube an richtig und falsch, nicht an Absprachen und Kompromisse.«

»Und doch habt Ihr in das Abkommen mit dem Schwarzen Block eingewilligt«, sagte Wild vorsichtig. »Weil andernfalls Millionen umgekommen wären.«

»Ja, ich habe Menschenleben gerettet, aber nur, weil ich Kompromisse in allen Punkten geschlossen habe, an die ich jemals glaubte. Ich hätte standhaft bleiben sollen. Hätte nein sagen und einen Dreck auf die Folgen geben sollen. Menschen wären gestorben, vielleicht ganze Planeten, aber letztlich wären wir Leute wie de Lisle für immer losgeworden. Womöglich ein fairer Preis. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich morgen eine Armee ins Feld führen muß, um gegen Rebellen zu kämpfen, die glatt das Recht auf ihrer Seite haben könnten – nur damit ich die Interessen von Abschaum wie de Lisle schütze.

Wo bleibt da das Recht? Wo die Ehre? Früher war ich ein Mann der Ehre. Ich war berühmt dafür. Ich frage mich, wann ich meine Ehre verloren habe.«

»Die Aufständischen waren vielleicht anfänglich im Recht«, wandte Wild ein, »aber sie verloren jeden moralischen Anspruch, als sie sich an Shub wandten. Was nützt es, die Welt zu retten, wenn man dabei seine Seele aufgibt? Sie sind nicht zu entschuldigen. Jeder weiß, wie Absprachen mit dem Teufel enden. Ich habe zu keinem Zeitpunkt die ersten Aufnahmen vergessen, die ich von Jung Jakob Ohnesorg und seinen Geistkriegern in Aktion gesehen habe. Endlose Reihen von Männern, Frauen und Kindern, die man an Metallgerüsten gekreuzigt hatte. Ich weiß, wo ich stehe, Sir Ohnesorg, und das gilt für jeden anderen in Vidar ebenfalls. Selbst diese Mistkerle, die rings um uns ein paar letzte verzweifelte Geschäfte unter Dach und Fach bringen, stehen uns morgen zur Seite, Schwert und Schußwaffe in der Hand, um den Krieg Mensch gegen Maschine auszutragen. Sogar sie.«

»Ich wette, daß de Lisle und seine Spießgesellen nicht auftauchen.«

»Es ist nicht ihr Planet. Niemand hat damals, als wir uns hier ansiedelten, damit gerechnet, daß wir überleben würden – geschweige denn damit, daß wir Loki zu einer lebensfähigen Kolonie entwickeln würden, aber wir haben es geschafft. Weil wir so hart waren, haben sich die Stürme dieser Welt nur an uns gebrochen. Wenn uns schon ein ganzer Planet nicht besiegen konnte, werden es auch ein paar Zinnsoldaten und wandelnde Leichen nicht schaffen. Selbst wenn sie der junge Jakob Ohnesorg anführt.«

»Macht Euch seinetwegen keine Sorgen«, sagte Ohnesorg.

»Ich befasse mich mit ihm. Und dann komme ich zurück und befasse mich mit de Lisle. Darauf habt Ihr mein Wort.«

»Und Jakob Ohnesorgs Wort reicht mir«, sagte Peter Wild.

Ohnesorg lächelte zum ersten Mal, streckte die Hand nach Wilds Glas aus und probierte den Wein. Ihn schauderte, und er setzte es mit Nachdruck wieder ab. »Gott, Ihr müßt härter sein, als Ihr ausseht, wenn Ihr dieses Zeug freiwillig trinkt!« Das Lächeln hielt jedoch nicht lange, und sein Gesicht nahm wieder einen nachdenklichen Ausdruck an. »Ich war schon einmal hier, wißt Ihr? Und auf ähnlichen Welten. Eisfels. Nebelwelt.

Aber woran Loki mich am meisten erinnert, das ist Virimonde.

Das war früher Owen Todtsteltzers Planet.«

»Die Welt, die Valentin Wolf für Shub vernichtet hat«, nickte Wild. »Ich habe die Holodokumentation gesehen. Das haben wir alle. Hier wird sowas jedoch nicht geschehen. Wir haben eine Armee.«

»Ja. Ich bin nur froh, daß Owen nicht hier ist. Es würde ihm das Herz brechen, einen weiteren Planeten zu erleben, der mit solcher Verwüstung bedroht ist.«

Wild beugte sich mit glänzenden Augen vor. »Wie ist er denn wirklich, der Todtsteltzer? Hat er tatsächlich all das vollbracht, was man ihm nachsagt?«

»Das meiste schon. Ihr wärt erstaunt. Falls aus der Rebellion ein einzelner echter Held hervorgegangen ist, dann er, nicht ich. Er ist nie einen Kompromiß eingegangen, hat nie geschwankt, was die Dinge angeht, an die er glaubt. Ein Krieger der besten Sorte… Jemand, der nie ein Krieger zu sein wünschte, aber trotzdem zu den Waffen gegriffen hat, weil er daran glaubte, der gerechten Sache zu dienen. Ich hatte aufgegeben. Das Imperium hatte mich gebrochen. Der Todtsteltzer hat mich jedoch zurückgeholt. Was er wirklich ist? Ein guter Mann in schlechten Zeiten. Der einzige wirklich ehrenhafte Mann, dem ich je begegnet bin.«

»Würde er uns zur Hilfe kommen, wenn wir ihn bäten?«

»Wahrscheinlich. Ich habe jedoch keine Ahnung, wo er sich zur Zeit aufhält. Früher mal… hätte ich es sofort gewußt, sobald ich nur daran dachte. So nahe standen wir uns. Seitdem haben wir uns allerdings auseinanderentwickelt, da ich zu einem anderen Menschen geworden bin, nur weil es von mir erwartet wurde. Ihr habt keine Ahnung, wovon ich hier schwatze, nicht wahr, Wild? Ihr seid jedoch zu höflich, um mich zu unterbrechen. Ist auch egal. Morgen ziehen wir hinaus und stellen uns der Armee der Hölle, und darin liegt die Entscheidung über alle Probleme.«

»Ich kann es kaum erwarten«, sagte Wild und hob das Weinglas zu einem Trinkspruch auf Ohnesorg. »Es ist mir eine Ehre und ein Privileg, Seite an Seite mit dem legendären Berufsrebellen zu kämpfen!«

Ohnesorg sah ihn traurig an und schwieg.

Die Armee der Menschen, Lokis letzte Hoffnung, versammelte sich lautstark auf dem großen Platz vor dem in die riesige Außenmauer eingelassenen Haupttor der Stadt. Jeder führte ein Schwert mit und einige auch Schußwaffen. Männer und Frauen trugen ihre Waffen mit grimmiger Entschlossenheit und warfen sich für die schwebenden Holokameras kühn in Positur. Die Kameras sollten sie in die Schlacht begleiten. Der Krieg wurde live gesendet, ein Programm für die Unglücklichen, die zurückblieben, die zu jung oder zu alt waren, die krank oder lahm waren oder für die Sicherheit der Stadt benötigt wurden. Wie de Lisle und seine Leute, die nicht auftauchten. Weder Flugschweber noch Bodenfahrzeuge waren verfügbar; zwar nahte eine Flaute im Sturm, aber in der oberen Atmosphäre blieb der Wind stark genug, um Gravschlitten wie Spielzeug herumzuschleudern, und der nach wie vor in der Luft schwebende Staub hätte die Motoren aller Bodenfahrzeuge kurzgeschlossen. Vidars Armee würde zu Fuß zum Sieg oder in den Untergang marschieren.

Jakob Ohnesorg und Ruby Reise standen mit dem Rücken zur großen Luftschleuse und betrachteten das aufgeregte Durcheinander, wohl wissend, daß Enthusiasmus nicht ausreichte, um die Schlacht zu gewinnen. Sobald Vidars Armee erst auf Shub und die Rebellen stieß, würden einige unausweichlich die Nerven verlieren und die Flucht ergreifen, einfach deshalb, weil nicht jeder einen Killer in sich trug. Und niemand weiß das mit Sicherheit, solange er nicht auf die Probe gestellt wird. Die meisten würden jedoch standhalten und kämpfen und tapfer sterben, weil sie wußten, daß sie für etwas stritten, das größer war als sie selbst.

Peter Wild lief hin und her, bemüht, überall zugleich zu sein.

Er zwang oder beschwatzte die verschiedenen Gruppen, eine Art Ordnung anzunehmen, war verzweifelt darauf erpicht, daß seine Truppe vor seinem Helden Jakob Ohnesorg eine gute Figur machte. Die Menge ließ ihn gutmütig gewähren.

Schnapsflaschen wanderten freizügig von Hand zu Hand, und Wild entschied, daß er seine Armee möglichst schnell in Marsch setzen sollte. Noch wartete ein sechsstündiger Marsch bis zum gewählten Schlachtfeld auf sie, und dabei war reichlich Gelegenheit, den Schnaps wieder auszuschwitzen. Also duldete er, daß sie vor dem Aufbruch ein wenig tranken. Ungeachtet aller Begeisterung und Verpflichtung waren diese Leute einander im Grunde fremd, waren zusammengeführt durch Not und Pflicht und Verzweiflung. Sie mußten die Schlacht gewinnen, um nicht alles zu verlieren. Sie konnten nicht zurückweichen, falls es schlecht lief, hatten keine zweite Chance. Falls sie zurückfielen, würden die Geistkrieger ihnen unermüdlich nachsetzen, bis zur Mauer von Vidar und darüber hinaus.

Wild näherte sich Ohnesorg, der beifällig nickte. »Ihr leistet gute Arbeit, Wild. Sie sehen langsam tatsächlich nach einer Armee aus.«

»Gut«, sagte Wild. »Weil ich gerade Nachrichten erhalten habe, und nur schlechte. Das Imperium macht sich inzwischen größere Sorgen und schickt zwei Sternenkreuzer, aber nur welche der D-Klasse, so daß sie frühestens in einer Woche eintreffen. Ihre Befehle lauten, in Verhandlungen einzutreten mit jedem, der die Bergbaubetriebe kontrolliert – den Kolonisten, de Lisle und seinen Leuten oder den… Aufständischen.«

»Können sie das tun?« fragte Ruby. »Ein Abkommen mit Verbündeten Shubs schließen?«

»Sicher können sie«, antwortete Ohnesorg. »Politiker denken praktisch, wenn überhaupt. Sie benötigen das Kobalt, das auf diesem Planeten gefördert wird, und sie werden mit jedem Geschäfte machen, der es ihnen liefern kann. Harte Zeiten erfordern harte Entscheidungen; zumindest werden sie es der Öffentlichkeit so verkaufen. Sollten die Aufständischen gewinnen und den Anschein erwecken, auf Distanz zu Shub zu halten, wird das Parlament mit ihnen Geschäfte machen. Ist auch egal. Nur ein weiterer Grund, warum wir diese Schlacht gewinnen müssen.

Gebt die Nachricht weiter, Wild. Es wird Zeit zum Aufbruch.

Die Flaute erreicht das gewählte Schlachtfeld in wenig über sechs Stunden, und wir möchten doch nicht zu spät kommen.«

Wild nickte, lief zur Menge hinüber und brüllte Befehle.

Männer und Frauen sammelten sich zu Kompanien und stellten sich in Reihen auf, wie man es ihnen beigebracht hatte. Ohnesorg wandte sich an Ruby.

»Und los geht es, um die unseren erneut zu retten. Weißt du, Ruby, ich habe das vermißt. Auf dem Schlachtfeld ist alles so viel einfacher.«

»Genau dorthin gehören wir, Jakob. Mitten ins Getümmel und bis zum Hals ins Blut. Der Frieden war nur ein Traum.

Man kann sich nicht gegen das Schicksal wehren.«

»Vielleicht«, sagte Ohnesorg. »Vielleicht.«

Das große Tor öffnete sich, und die letzte Armee von Vidar marschierte Reihe auf Reihe durch die gewaltige Luftschleuse, hinaus ins Wüten des Sturms. Vor lauter Erwartung der bevorstehenden Schlacht achteten sie des stürmischen Wetters nicht.

Sie kamen gut voran durch die dunkle, zerklüftete Landschaft, und fünf Stunden später zogen sie durch ein schmales Tal, um die offene Ebene zu erreichen, wo mit der Sturmflaute gerechnet wurde. Sie bauten ein Lager mit verstärkten Zelten auf und warteten ungeduldig darauf, daß der Sturm vorüberging. Als die Flaute schließlich einsetzte, erschien es ihnen wie Zauberei.

Die Stimme des Windes verklang wie die Schlußnote eines Oratoriums, und plötzlich war es völlig still. Die Luft war unbewegt, wie im Auge eines Wirbelsturms, und der Staub sank langsam zu Boden. Es war wie das Ende der Welt, die letzte Pause vor dem Jüngsten Gericht. Die Armee trat aus den Zelten hervor und sah sich um, musterte die Heimatwelt mit neuen Augen. Die meisten kannten nichts anderes als endlosen Sturm.

Die Leute lachten und scherzten und jubelten und schlugen sich gegenseitig auf die Schultern, als wäre die Flaute schon das sichere Zeichen des Sieges. Wild wies sie an, den größten Teil ihrer Schutzpanzerungen abzulegen, damit sie im Kampf mehr Bewegungsfreiheit hatten. Und als das geschehen war, blieben alle einfach an Ort und Stelle stehen und blickten erwartungsvoll auf die Ebene hinaus. Die Welt war ganz still, als hielte sie den Atem an und wartete. Und dann übermittelten die Holokameras draußen auf der Ebene die ersten Bilder von den Streitkräften Shubs und der Aufständischen. Sie rückten an.

Ohnesorg, Ruby und Wild hockten vor einem kleinen Monitor und nickten zufrieden. Der Feind hatte den Köder geschluckt und warf alle seine Kräfte ins Feld.

Die Armee von Vidar flutete auf die Ebene hinaus, und der Feind stellte sich ihr entgegen. Beide Seiten hatten weder Zeit für raffinierte Taktik noch Bedarf daran. Die gegnerischen Kräfte prallten aufeinander. Gnade wurde weder erbeten noch gewährt, und Blut strömte auf den staubigen Erdboden.

Menschliche Kämpfer warfen sich gegen wandelnde Leichen, und beide dachten nicht im Traum an Kapitulation.

Innerhalb einer Stunde waren die meisten Lebenden beider Seiten tot.

Die Schlacht verlief chaotisch. Gruppen von Kämpfenden wogten hierhin und dorthin, jede davon nur mit ihrem eigenen Anteil am Gefecht bedacht. Schwerter stiegen und fielen, hackten nach lebendem und totem Fleisch. Und überall flammten und brüllten zuzeiten Disruptorwaffen auf. Männer und Frauen fielen und erhoben sich nicht mehr. Auch Geistkrieger fielen, auseinandergerissen von Energiestrahlen oder in Stücke gehackt von heulenden Kämpfern. Und zwischen den Lebenden bewegten sich die wandelnden Toten, angetrieben von kaltem, gefühllosem Denken, das in einem fort töten konnte und nichts dabei empfand. Die Leichen häuften sich auf beiden Seiten, und immer noch tobte die Schlacht weiter.

Peter Wild fiel unbemerkt.

Er hatte sich dicht an Ohnesorg und Ruby gehalten, ihnen den Rücken freigehalten und ihnen dabei voller Ehrfurcht und Staunen zugesehen. Er sah Menschen und Geistkrieger unter ihren Schwertern niedersinken, fast beiläufig zur Seite gefegt von überlegener Kraft und Schnelligkeit, und Peter Wild ging das Herz über, weil er in solcher Gesellschaft streiten konnte.

Er hielt die beiden für unverwundbar, geschützt vom Schicksal, und sich selbst ebenfalls, weil er an ihrer Seite focht. Er sah die Klinge nicht, die aus dem Nirgendwo hervorstieß, in seinen Brustkorb fuhr und wieder herausgezogen wurde. Hinter dem Stoß steckten Muskeln, die unterstützt waren von Servomechanismen, so daß Wild zu Boden geschleudert wurde, und gleichgültige Füße stampften rings um ihn herum.

Zunächst dachte er, daß ihm nur die Luft aus den Lungen gepreßt worden war, und versuchte, wieder aufzustehen. Aber die Beine gehorchten ihm nicht, und als er sich an die Seite faßte, tropfte ihm anschließend Blut von der Hand. Schmerzen überwältigten ihn, und er schrie auf. Er war niemand, der leicht aufgab. Er bemühte sich weiter, wieder auf die Beine zu kommen, selbst während das Leben schon aus ihm herausrann. Sein Platz war an Ohnesorgs Seite. Der Körper gehorchte ihm jedoch nicht. Dort starb er, ungesehen und unbemerkt. Peter Wild war ein tapferer Mann gewesen, aber nie mehr als ein normaler Mensch.

Jakob Ohnesorg und Ruby Reise, die so viel mehr waren als normale Menschen, kämpften heftig und unermüdlich, teilten mit jedem Schlag schreckliche Verletzungen und den plötzlichen Tod aus. Die kleinen Wunden, die sie selbst einsteckten, heilten fast sofort. Sie sahen Peter Wild nicht fallen und vermißten ihn auch erst sehr viel später. Zu sehr waren sie mit dem beschäftigt, worin sie am besten waren – trotz überwältigend schlechter Chancen zu überleben und jeden Gegner in Reichweite zu töten. Die Toten häuften sich ringsherum, die blutigen Leichen gefallener Rebellen neben dem grauen Fleisch niedergestreckter Geistkrieger. Und zu keinem Zeitpunkt bemerkten die beiden, daß sie allmählich, Schritt für Schritt, vom Hauptgetümmel der Schlacht getrennt wurden.

Die Menschen auf beiden Seiten brauchten nur wenig über eine Stunde, um sich gegenseitig weitgehend auszurotten. Sie registrierten überhaupt nicht, daß sich die Streitkräfte von Shub zurückgezogen hatten. So sehr waren die Menschen in ihre eigenen Nöte vertieft, daß sie nicht mitbekamen, wie die eigentliche Schlacht um Lokis Zukunft woanders ausgetragen wurde.

Das lange schmale Tal zwischen der freien Ebene und der Stadt Vidar hatte nicht viel hergemacht, als die Armee der Stadt hindurchmarschierte, aber Ohnesorg hatte seine strategische Bedeutung erkannt. Es war der einzige Weg nach Vidar, der einen tagelangen Umweg einsparte. Falls die Geistkrieger die Stadt erreichen wollten, solange die Flaute noch anhielt, mußten sie durch das Tal. Als Ohnesorg und Ruby schließlich bemerkten, wie weit sie vom Rest ihrer Truppen getrennt worden waren, vergeudeten sie keine Zeit, hackten sich einen Weg durch die sie umzingelnden Geistkrieger und rannten wie die Teufel Richtung Tal. Ihnen blieb jetzt nur noch, die einzige strategische Stellung zu verteidigen, die wirklich von Bedeutung war.

Sie ließen ihre Verfolger rasch zurück und bezogen am Taleingang Abwehrposition. Das Tal war über anderthalb Kilometer lang, aber kaum sieben Meter breit und verschmälerte sich am Ausgang bis auf drei Meter. Was bedeutete, daß zwei Leute hier eine Armee aufhalten konnten. Eine Zeitlang. Ohnesorg und Ruby stützten sich müde aufeinander, während sie wieder zu Atem kamen. Sie hatten eine ordentliche Strecke aus Leibeskräften rennen müssen, und selbst übermenschliche Lungen und Beine hatten Grenzen. Der Kampf selbst war ebenfalls lang und hart gewesen, und beide hatten dabei Kraft und Schnelligkeit bis an die Grenze strapazieren müssen. Nach einer Weile gingen die Atemzüge wieder langsamer und hämmerten die Herzen nicht mehr ganz so heftig, und jeder konnte von neuem aus eigener Kraft stehen. Sie blickten hinaus zur Armee aus wandelnden Leichen, die sich auf der Ebene sammelte, und fluchten unisono. Es waren fast eintausend Geistkrieger mit Schwertern und Schußwaffen und der absoluten Bereitschaft, sich vernichten zu lassen, falls das nötig war, um den Gegner niederzuringen.

»Kann nicht behaupten, daß mir die Chancen gefallen«, stellte Jakob Ohnesorg fest. »Tausend gegen zwei ist doch ein klein wenig besorgniserregend.«

»Wir hatten schon schlechtere Chancen«, hielt ihm Ruby Reise entgegen.

Ohnesorg musterte sie. »Falls das stimmt, muß es mir entgangen sein. Im Angesicht von eintausend Geistkriegern kämen selbst Owen Todtsteltzer Zweifel. Allerdings müssen sie uns von vorne angreifen, also jeweils nur eine Handvoll. Wenn wir unsere Kräfte einteilen, könnten wir gerade eben länger durchhalten als diese Bastarde.«

»Es sei denn, sie tüfteln eine Methode aus, wie sie uns auch im Rücken angreifen können. Oder an den Flanken des Tals herunter.«

Ohnesorg blickte hinter sich ins Tal und runzelte nachdenklich die Stirn. »Unwahrscheinlich. Sie brauchten zwei Tage, um den Taleingang gegenüber zu erreichen, und so lange werden wir nicht hier sein, aus dem einen oder anderen Grund.

Und die Bergflanken fallen fast senkrecht ab. Nein, Ruby, sie müssen uns frontal angreifen.«

»Ist auch am besten so«, sagte Ruby lebhaft. »Wir brauchen also nur die Geistkrieger abzuwehren, bis unsere Seite gewonnen hat und zu unserer Unterstützung kommt, nicht wahr?«

»Nein«, antwortete Ohnesorg langsam. »Soweit ich die Schlacht überblicken konnte, denke ich nicht, daß wir mit Hilfe rechnen dürfen. Wir müssen davon ausgehen, daß nur noch wir zwischen Shub und Vidar stehen. Falls wir sie abwehren, bis die Flaute vorüber ist und der Sturm zurückkehrt, dann haben wir gewonnen und ist die Stadt in Sicherheit.«

»Und was ist mit uns?« wollte Ruby wissen.

»Wir haben uns schon einmal durch den Sturm bis zur Stadt durchgeschlagen. Wir schaffen es auch erneut.«

»Und die Schlacht?«

»Gott weiß«, sagte Ohnesorg. »Soweit ich zuletzt überblicken konnte, hatte die Armee der Stadt die Aufständischen in die Seile getrieben, aber die eigentliche Gefahr ging immer von Shub aus. Und ich denke nicht, daß wir denen viel Beulen verpaßt haben. Und noch etwas anderes macht mir Sorgen.«

»Dir macht immer irgendwas Sorgen«, sagte Ruby resigniert.

»Was ist es diesmal?«

»Ich habe bislang keine Spur von Jung Jakob Ohnesorg gesehen. Er hat sich nirgendwo in der Schlacht blicken lassen.

Das hätte ich bemerkt. Wo also steckt er, und was führt er im Schilde?«

»Verdammt, du hast recht! Das ist besorgniserregend.«

»Wenn dir das schon gefällt, wirst du hiervon begeistert sein: Wieso greifen uns die Geistkrieger nicht an?«

»In Ordnung, ich komme nicht drauf. Wieso?«

»Weil sie auf jemanden warten. Höchstwahrscheinlich auf Jung Jakob Ohnesorg. Mit Verstärkungen, die er bislang noch nicht ins Feld geworfen hat.«

Auf der Ebene ertönte ein Geräusch, und sie blickten hinüber. Das Geräusch löste sich schnell zum rhythmischen Stampfen marschierender Füße auf, und eine zweite Totenarmee rückte aus der Ferne an, locker tausend Mann stark, mit der glänzend silbernen, gepanzerten Gestalt des lächelnden Jung Jakob Ohnesorg an der Spitze. Sie gesellten sich zur lautlos abwartenden ersten Streitmacht, standen dann reglos in Reihen aufmarschiert und blickten mit starren Augen zur schmalen Öffnung des Tals hinüber – zu den beiden Legenden aus Fleisch und Blut, die sie bewachten.

Sie ignorierten die beiden Streitkräfte aus Menschen, die sich in einiger Entfernung hartnäckig weiter bekämpften. Shub wußte, wo die wirkliche Gefahr lag.

»Bist du es nicht langsam leid, immer recht zu behalten?« fragte Ruby fast wütend. »Das sind keine guten Chancen, Jakob! Wir könnten hier wirklich in Schwierigkeiten geraten.«

»Falls wir die Wahl haben, lebend oder tot gefaßt zu werden, hielte ich es für klug, wenn wir uns für tot entschieden«, sagte Ohnesorg. »Vivisektion macht dem Opfer vermutlich keinen Spaß.«

»Ich bin froh, daß du bei mir bist, um mich auf die heiteren Aspekte hinzuweisen«, sagte Ruby. »Ich vermute, es käme nicht in Frage, wie der Teufel abzuhauen?«

»Leider richtig. Wir müssen standhalten, um Zeit zu schinden. Zeit für Vidars Armee, um die Aufständischen zu besiegen. Zeit bis zur Rückkehr des Sturms. Oder, falls alles andere scheitert, um die Zahl der Geistkrieger soweit zu senken, daß die Stadt eine Chance hat. So oder so, alles hängt von uns ab.«

»Natürlich«, sagte Ruby. »Das tut es immer, nicht wahr?«

»Wir haben noch acht, vielleicht neun Stunden, bis die Wetterflaute vorüber ist«, sagte Ohnesorg gelassen. »So lange könnten wir durchhalten. Danach dürfte es richtig interessant werden. Vergiß, was ich vorher gesagt habe. Sie beschließen vielleicht, uns auf jeden Fall zu schnappen, sei es auch bei Sturm. Sie sind schließlich schon tot. Sie spüren weder den Wind noch die Kälte oder den beißenden Staub. Und Shub ist wirklich ausgesprochen scharf auf uns. Ich frage mich, ob sie deshalb den jungen Jakob Ohnesorg geschickt haben – um als Köder in der uns gestellten Falle zu dienen. Egal. Nein, Ruby, ich denke, wir müssen akzeptieren, daß wir bis zum Ende hier sind. Bis die eine oder die andere Seite nichts mehr zu gewinnen hat.«

»Jetzt mal langsam!« sagte Ruby. »Ich denke, der Vorhang hat sich gerade gehoben.«

Die gesamte Armee aus Geistkriegern strömte über die Ebene in ihre Richtung, während Jung Jakob Ohnesorg auf die Seite getreten war und sie mit aufmunternden Rufen seiner fröhlichen menschlichen Stimme anspornte. Die Toten schwiegen.

Das einzige Geräusch war das Trommeln ihrer toten Füße auf dem harten, unnachgiebigen Boden. Ohnesorg und Ruby packten die Schwerter und hielten sich am Taleingang bereit.

»Falls wir hier fallen…« begann Ohnesorg.

»Ja?« fragte Ruby.

»Zumindest wird es ein guter Tod. Der Tod von Kriegern.«

»Stimmt. Wir wurden nie für die Zivilisation geschaffen, Jakob.«

»Aber falls wir durch irgendein Wunder überleben…«

»Ja?«

»Dann habe ich vor, in Zukunft manches anders anzugehen.

Keine Politik mehr. Keine Kompromisse mehr. Ich folge meinem Herzen und meinem Gewissen, und Gott helfe jedem, der mir dabei in die Quere kommt.«

»Klingt für mich nach einem guten Plan«, sagte Ruby.

Und dann prallten die ersten Geistkrieger auf sie. Ohnesorg und Ruby standen zusammen und schwangen ihre Schwerter mit übermenschlicher Kraft und Schnelligkeit, schnitten die Geistkrieger in Stücke und zerlegten die belebten Leichname buchstäblich in ihre Einzelteile, die dann hilflos zu Boden fielen. Rasch wurden die Reste weggezerrt, damit neue Geistkrieger an ihre Stelle treten konnten. Nur fünf oder sechs konnten jeweils ins Tal eindringen, und Ohnesorg und Ruby nahmen es mühelos mit ihnen auf. Zunächst.

Der Kampf ging weiter, aber nach der ersten Stunde wurden Ohnesorg und Ruby langsamer, und ihre Kräfte schwanden.

Keine Pause trat ein, und sie wagten nicht, auch nur einen Schritt weit zurückzuweichen. Allmählich wurde ihre Abwehr immer wieder mal von feindlichen Schwertern durchbrochen, und die Wunden brauchten zunehmend länger, um wieder zu heilen. Es war ein langer und harter Tag gewesen, sogar für zwei lebende Legenden. Sie atmeten ungleichmäßig, und die Luft brannte ihnen in den Lungen. Der Schweiß lief ihnen über die Gesichter, brannte ihnen in den Augen und schmeckte auf den Lippen salzig. Der Boden wurde rutschig von ihrem eigenen Blut. Und immer noch stürmten die Geistkrieger heran, so daß Ohnesorg sich selbst endlich eingestehen mußte, was er von Anfang an gewußt hatte daß zwei Krieger eine Armee zwar eine Zeitlang aufhalten konnten, nicht jedoch endlos.

Also tat er das einzige, was ihm blieb. Er tastete mit den Gedanken zu Ruby hinaus, und ihrer beider Gedanken verschmolzen miteinander. In einem Augenblick außerhalb jeder Zeit drangen sie tief ins eigene Innere vor, und Energie flammte aus dem Unterbewußtsein hervor, stieg in ihren veränderten Verstand hinauf und sprang hinaus in die wirkliche Welt, wo sich die Energie in eine Wand aus sengenden, verzehrenden Flammen verwandelte. Sie bahnte sich ihren Weg von Ohnesorg und Ruby weg und verzehrte alles, was ihr in die Quere kam. Geistkrieger verkohlten und verschrumpelten, als wäre ein Stück der Sonne vom Himmel gesunken und hätte die Erde berührt. Totes Fleisch wurde verschlungen und gab endlich Frieden. Shubtech schmolz und zerlief in Pfützen aus rauchender Metallschlacke. Über hundert Geistkrieger fielen den Flammen allein in den ersten Sekunden zum Opfer. Die Hitzewand setzte brüllend ihren Weg fort und verschlang weiterhin alles. Die Armee aus Geistkriegern wandte sich zur Flucht, aber die Feuerwand war schneller und setzte ihnen über die Ebene nach.

Als der Brand schließlich erlosch, war mehr als die halbe Shub- Armee zu geschwärzten Schalen reduziert worden, in dunklen, gleichförmigen Haufen über die Ebene verstreut. Die Überlebenden hatten sich vor Jung Jakob Ohnesorg aufgebaut, der inzwischen nicht mehr lächelte. Am Talausgang waren Ohnesorg und Ruby auf die Knie gesunken und ließen erschöpft die Köpfe hängen. Sie hatten die letzten Kraftreserven in den Feuerangriff gesteckt und waren wie ausgebrannt. Die selbsterzeugten Flammen hatten sie nicht verletzt, aber jetzt war die von den versengten Talwänden ausgestrahlte Hitze fast überwältigend.

»Das war aber eine tolle Nummer!« krächzte Ruby tonlos.

»Denkst du, wir würden das noch mal hinkriegen?«

»Keine Chance«, antwortete Ohnesorg. »Hoffen wir lieber, daß Jung Jakob Ohnesorg das nicht weiß. Gott, fühle ich mich schlecht!«

»Gilt auch für mich. Und wir haben nicht mal die Mehrheit von ihnen erwischt. Ich hege den fürchterlichen Verdacht, daß wir vielleicht zu früh zum äußersten gegriffen haben.«

»Uns blieb keine Wahl. Sie hätten uns überwältigt.«

»Das können die Überlebenden immer noch.« Ruby hob schmerzhaft den Kopf und blickte in die Ebene hinaus. »Scheiße. Wir haben etwa die Hälfte erwischt. Und dieser eingebildete Metallbastard ist immer noch da draußen. Ich frage mich, worauf er noch wartet.«

»Wahrscheinlich will er erst mal sehen, wie stark wir geschwächt sind. Auf die Beine, Ruby. Vielleicht können wir sie bluffen.«

Aber sie konnten sich nicht erheben, ohne daß sich der eine schwer auf den anderen lehnte, und selbst als sie endlich auf den zitternden Beinen standen, hingen ihnen die Schwerter schlaff in den Händen.

»Ich weiß nicht, ob es dir schon aufgefallen ist«, sagte Ruby, »aber unsere Wunden heilen nicht mehr.«

»Ich habe es bemerkt. Ich denke, diese Feuerwand hat uns alles gekostet, was wir hatten. Solange wir nicht Gelegenheit finden, uns zu erholen, sind wir am Ende. Wir sind… einfach wieder Menschen. Haben nichts mehr außer den Pistolen und Schwertern und gesunden rechten Armen.«

»Gut«, fand Ruby. »Ich war schon immer der Meinung, daß das eine viel ehrenvollere Art zu kämpfen ist.«

»Wir haben immer noch… eine weitere Möglichkeit«, erinnerte sich Ohnesorg.

»Bei Gott, wirklich?« fragte Ruby. »Ich würde sie nur zu gern hören.«

»Sieh zu, daß du wie der Teufel von hier verschwindest.

Kehre nach Vidar zurück, während ich sie hier aufhalte, so lange ich kann. Vielleicht verschaffe ich dir genug Zeit, damit du in der Stadt eine Abwehr organisieren kannst.«

»Netter Gedanke«, sagte Ruby. »Aber nein.«

»Falls du bleibst, kostet es uns beide das Leben. Welchen Sinn hätte das? Durch meinen Vorschlag bliebe wenigstens einer von uns am Leben. Sei logisch, Ruby.«

»Das bin ich. In Vidar gibt es nichts mehr, woraus man eine Abwehr organisieren könnte. Und du müßtest eigentlich wissen, daß ich noch nie vor einem guten Kampf weggelaufen bin.« Sie machte eine Pause. »Jeder muß irgendwo sterben.

Und ich habe nie damit gerechnet, mal im Bett zu sterben.

Wollte es auch nie. Das hier ist eine so gute Art abzutreten wie jede andere.«

»Ich habe mir immer gewünscht, im Bett zu sterben«, versetzte Ohnesorg lächelnd. »Vorzugsweise mit dem Bauch voller gutem Brandy und einer schönen Frau im Arm. Aber falls ich im Kampf abtreten muß… Dann fällt mir niemand ein, in dessen Gesellschaft ich es lieber täte.«

»O Jakob, du sagst wirklich die nettesten Sachen!«

Sie küßten sich einmal und ohne Hast und wandten sich dann ein letztes Mal den feindlichen Streitkräften zu. Und sahen, wie Jung Jakob Ohnesorg sich ihnen näherte, ganz allein und ohne Waffen. Die übriggebliebenen Geistkrieger standen reglos und lautlos da und sahen zu. Ohnesorg und Ruby blickten sich gegenseitig an.

»Was zum Teufel glaubt er eigentlich, was er da tut?« fragte Ohnesorg. »Er erwartet doch sicher nicht, daß wir uns ergeben.«

»Vielleicht möchte er sich ergeben«, überlegte Ruby hoffnungsvoll.

Die Stahlmaschine in ihrer menschlichen Umhüllung kam mit langen Schritten über die Ebene, zeigte ihr endloses Lächeln und blieb schließlich in respektvoller Distanz zu den beiden Menschen stehen, die den Talausgang schützten. Er war zwar in Disruptorreichweite, aber Ohnesorg war sich ziemlich sicher, daß sein Shub-Doppelgänger einem Energiestrahl ausweichen konnte, wenn es sein mußte.

»Nun, nun«, sagte Jung Jakob Ohnesorg freundlich. »Da sind wir ja ein weiteres Mal alle versammelt. Komisch, wie wir uns immer wieder gegenseitig über den Weg laufen, nicht wahr?

Muß wohl Schicksal sein. Wie fühlt Ihr beide Euch?«

»Stark genug, um dir in den Metallhintern zu treten«, knurrte Ruby.

»Was möchtet Ihr?« fragte Ohnesorg.

»Meinen Einsatz abschließen«, antwortete Jung Jakob Ohnesorg, der in seiner silbernen Rüstung groß und heroisch dastand. »Jeden lebenden Menschen auf diesem Planeten vernichten und hier eine Basis von Shub begründen.«

»Ich vermute, daß Eure rebellischen Bundesgenossen das nicht wissen«, sagte Ohnesorg.

»Oh, ich denke, tief im Herzen tun sie es, möchten es sich aber nicht eingestehen. Die Begabung der Menschen, sich selbst etwas vorzumachen, erstaunt mich immer wieder. Aber ihre klägliche Armee ist nicht mehr von Bedeutung. Während sie Eure Truppen beschäftigt hält, führe ich meine Armee nach Vidar und zerstöre es.«

»Da mußt du erst mal an uns vorbei«, sagte Ruby. »Und du hast schon gesehen, wozu wir fähig sind, wenn wir uns entschlossen haben.«

»Ja, und es war wirklich eindrucksvoll«, räumte Jung Jakob Ohnesorg ein. »Aber nicht völlig unerwartet. Wir haben wirklich sehr umfangreiche Dateien über Euch, haben jeden Einsatz Eurer bemerkenswerten Fähigkeiten studiert. Und als die großen Denker, die wir nun mal sind, haben wir eine Antwort gefunden.

Seht Ihr, Ihr redet wahrhaftig mit den abtrünnigen KIs von Shub.

Wir lenken alle unsere Truppen auf diesem jämmerlichen Planeten vermittels des Fokus, mit dem Ihr sprecht. Deshalb konntet Ihr uns auf Golgatha auch nicht töten. Nur ein Körper ist dort umgekommen, und wir verfügen über so viele Körper! Und dieser hier ist etwas ganz Besonderes. Wir haben etwas sehr Machtvolles eingebaut, wohl wissend, daß Eure menschlichen Egos fordern werden, Euch damit zu konfrontieren.«

»Warte mal eine Minute«, verlangte Ruby. »Du meinst, du hast all das inszeniert und all diese Menschen umgebracht, nur um uns zu erwischen?«

»Nun, ist das nicht wieder typisch für das Ego des Menschen?« fragte Jung Jakob Ohnesorg. »Nein, meine Liebe, so wichtig seid Ihr nicht. Loki ist ein entscheidender Schauplatz für unsere Expansion in den Raum der Menschen. Aber wir haben auch alles so arrangiert, daß Ihr hergeschickt wurdet. Ihr Überlebenden des Labyrinths seid ein Quell der Faszination für uns. Und wir sind entschlossen, Euch in unsere Labors zu holen, damit wir lernen können, es Euch gleichzutun. Zu diesem Zweck wurde ein ganz besonderes Gerät in mir installiert. Der machtvollste ESP-Blocker aller Zeiten.« Sein Lächeln wurde breiter. »Und ja, er läuft schon die ganze Zeit, die wir hier stehen. Ihr seid völlig hilflos. Ich rate Euch zu kapitulieren. Falls nicht, sehe ich mich gezwungen, Euch weh zu tun.«

Ohnesorg und Ruby sahen sich gegenseitig an und brachen in Gelächter aus.

Jung Jakob Ohnesorg blickte vom einen zum anderen. »Ich kann wirklich nicht erkennen, welchen Nutzen Hysterie in dieser Lage…«

»Ihr Idiot!« sagte Ohnesorg. »Was immer wir womöglich sind, auf keinen Fall sind wir Esper. Das haben wir schon vor langer Zeit festgestellt.«

Und er griff in sich hinein und weckte die letzten Funken seiner Kraft. Dann sprang er mit unmöglicher Geschwindigkeit über die Distanz hinweg, die ihn von der Furie trennte. Er hob das Schwert und hieb heftig nach ihrem Kopf. Flammen umloderten die stählerne Klinge. Jung Jakob Ohnesorg hob eine Hand, als wollte er den Schlag abblocken. Das flammende Schwert durchtrennte Fleisch und Metall der Hand, grub sich in den Metallschädel und setzte seinen Weg in einem Funkenregen fort, durchschnitt Stahl und Fleisch des ganzen Körpers bis zu den Lenden, wo es wieder austrat. Die beiden Hälften der Furie kippten langsam seitlich weg und lagen dann funkensprühend und prasselnd am Boden. Ohnesorg ragte über ihnen auf, nur ein wenig außer Atem.

»Das… ist unmöglich«, behauptete eine kalte, metallische Stimme aus einer der beiden Kopfhälften.

»Nur, wenn man daran glaubt«, sagte Ohnesorg. »Haltet jetzt verdammt noch mal die Klappe und sterbt!«

Er stampfte auf der linken Kopfhälfte herum und drückte sie unter den Stiefeln flach. Ruby trat dazu und tat das gleiche mit der anderen Hälfte. Dann richteten beide die Disruptoren auf die Rumpfhälften und pusteten sie auseinander. Und draußen auf der Ebene brachen alle überlebenden Geistkrieger auf einmal zusammen und lagen reglos, wie Marionetten, deren Fäden man durchgeschnitten hatte.

»Natürlich«, sagte Ruby. »Er sagte, er hätte Shub als Fokus gedient. In Anbetracht der widrigen Bedingungen, die Loki der Kommunikation bietet, brauchten sie einen Verstärker, der die Steuerung ihrer Truppen aufrechterhielt, und das war er. Ohne ihn sind sie nur noch Metallschrott. Weißt du was, Jakob? Ich denke, wir haben gerade den Krieg gewonnen.«

»Selbstverständlich«, sagte Ohnesorg. »Ich habe dir ja gesagt, daß alles gut ausgeht. Du solltest mehr auf mich hören.«

Ruby lachte und umarmte ihn. »Wir sind Helden! Wir sind unsterblich! Wir werden ewig leben!«

Sie hielten einander lange in den Armen, ließen dann los, standen freundschaftlich beisammen und freuten sich, am Leben zu sein.

»Ich verstehe unser Überleben als Zeichen«, sagte Ohnesorg.

»Keine Leisetreterei mehr. Von jetzt an tue ich, was nötig ist, und Gott helfe den Schuldigen.«

»Klingt gut, was mich angeht«, stellte Ruby fest. »Schwebt dir etwas Besonderes vor?«

»Zuerst suchen wir die beiden menschlichen Armeen oder das, was von ihnen übrig ist, und überzeugen sie davon, daß der Krieg ein Ende hat.«

»Und dann?«

»Dann kehren wir nach Vidar zurück und halten Hausputz.«

In der Stadt zeigte sich die Bevölkerung verrückt vor Freude über die beiden legendären Helden, die ihre Stadt und ihren Planeten gerettet hatten. Als Jakob Ohnesorg die Menschen dann bat, etwas für ihn zu tun, zögerten sie nicht. Bald war die ganze Bevölkerung Vidars auf dem Platz vor dem Haupttor versammelt und verfolgte atemlos mit, wie die überlebenden Wachleute eine Reihe Stricke mit Schlingen an der Innenseite der Stadtmauer aufhängten. Auf einer Seite knieten Matthew Tallon, ehemaliger planetarer Intendant, und Terrence Jacks, ehemaliger Bürgermeister von Vidar, sowie die paar Dutzend Aufständischen, die die letzte Schlacht überlebt hatten. Allen waren die Hände auf den Rücken gefesselt. Sie hielten in den Gesichtern der Menge nach Gnade Ausschau und wurden nicht fündig. Auf der anderen Seite von Ohnesorg und Ruby knieten de Lisle und Bentley und alle ihre Leute, bis hinunter zum kleinsten Bürokraten, ebenfalls sicher gefesselt.

»Das könnt Ihr nicht tun!« heulte de Lisle. »Ich wurde amnestiert! Wir alle wurden es! Das Parlament hat uns hier die Verantwortung übertragen! Ihr könnt Euch nicht gegen die Autorität des Parlaments stellen!«

»Da achtet mal drauf«, antwortete Ohnesorg. »Ihr und Eure Leute habt geplant, diese Kolonie auszuplündern und dann weiterzuziehen. Ich nenne das Verrat!«

»Wir hatten Unterstützung!« rief de Lisle. »Mächtige Unterstützung! Ich könnte Euch die Namen nennen…«

»Die stecken auch irgendwo in den Lektronen. Wir finden sie dort. Ich möchte jetzt nur eins erfahren: Dieser Mann, der ermordet und ausgeweidet und in zwei Kisten gestopft wurde.

Das war Eure Idee, nicht wahr?«

»Es war Bentleys Idee«, antwortete de Lisle rasch. »Wir brauchten etwas, was Euch motivierte und zum sicheren Gegner der Aufständischen machte.«

»Wer war der Mann?« fragte Ohnesorg.

De Lisle zuckte die Achseln und sah Bentley an, der nichts sagte. Ruby trat dem Sicherheitschef in die Rippen.

»Niemand besonderes«, sagte Bentley. »Einfach jemand, den wir benutzt haben. Er war nicht wichtig.«

»Jeder ist wichtig«, hielt ihm Ohnesorg entgegen. »Das unterscheidet uns von Shub.« De Lisle traf Anstalten, irgendeine Ausrede hervorzusprudeln, aber Ohnesorg sah ihn nur an, und de Lisle wurde still.

»Sie haben den Tod verdient«, meinte Tallon. »Wir hatten jedoch immer nur die Interessen Lokis im Blick. Wir haben rebelliert, weil wir legitime Vorwürfe hatten. Unter allen Menschen solltet Ihr dafür Verständnis haben.«

»Ich habe dafür Verständnis«, sagte Ohnesorg. »Aber Ihr habt Euch mit Shub verbündet, den Feinden der Menschheit.

Das Ziel rechtfertigt nicht immer die Mittel.«

»Jakob«, sagte Ruby leise, »ich weiß wirklich nicht recht, ob das eine gute Idee ist. Ein paar aufhängen, um etwas zu verdeutlichen, aber das… De Lisle hat recht. Das Parlament wird nie damit einverstanden sein.«

»Dann zur Hölle mit dem Parlament«, sagte Jakob Ohnesorg.

Er gab den Wachleuten einen Wink, Überlebenden der Armee, die er geführt hatte. Sie sahen ihn an, Verehrung in den Augen.

Ohnesorg deutete auf die Stricke. »Hängt sie. Hängt sie alle.«

Die Wachleute zerrten die Gefangenen zur Mauer. Die meisten fugten sich ihnen ruhig. De Lisle kreischte und strampelte und schluchzte, bis sie ihm die Schlinge um den Hals legten und für immer die Luft abschnitten. Tallon blickte zu Ohnesorg und Ruby zurück, mit dem Blick eines Propheten, und hob die Stimme, damit die Menge ihn auch auf jeden Fall verstand.

»Es sind Monster! Ihr könnt ihnen nicht trauen! Sie werden sich letztlich gegen euch wenden, weil ihr nur Menschen seid und sie nicht! Es sind Monster! Monster!«

Die Schlinge stoppte seinen Redefluß. Politiker und Aufständische hingen Seite an Seite an der Innenseite der Stadtmauer von Vidar, und die Einwohner der Stadt jubelten und hörten gar nicht mehr auf damit.

Ruby sah Ohnesorg an.

»Hängt sie alle«, sagte Ohnesorg. »Es sind Politiker. Alle schmutzig. Hängt sie.«

Es regnete. Heftig. Der Regen hatte auf dem Planeten Lachrymae Christi etliche Millionen Jahre zuvor eingesetzt und gab nicht zu erkennen, daß er irgendwann aufhören würde. Gespeist aus den riesigen Ozeanen, die drei Viertel des Planeten bedeckten, fiel er aus dem ewig bewölkten Himmel auf den Dschungel, der den einzigen Kontinent dieser Welt von Küste zu Küste bedeckte. Er fiel auf weise und verschlagene Menschen zugleich, auf einfache und berühmte, auf glückliche und unglückliche, Tag auf Tag. Lachrymae Christi kannte weder Sommer noch Winter, weder Sonnenschein noch Schnee, und noch nie hatte ein Regenbogen den grauen Himmel geschmückt.

Der Regen fiel auch auf die unglücklichen Kolonisten dieses Planeten, obwohl Kolonisten vielleicht nicht das richtige Wort war. Sie hatten sich nicht aus freien Stücken hier angesiedelt.

Behandschuhte und behelmte Gestalten hatten sie abgeholt und mit Stromstößen und der Drohung gezogener Schußwaffen in die Laderäume von Frachtschiffen getrieben. Unter schwierigen Bedingungen und voller Verzweiflung reisten sie durch den Weltraum und wurden schließlich in ihrer neuen Heimat abgesetzt, um sich hier ein Leben aufzubauen, so gut sie konnten. Versorgungsschiffe brachten hin und wieder das Allernötigste, aber darin erschöpfte sich auch schon das Mitgefühl des Imperiums. Niemand gab einen Dreck darauf, ob die unfreiwilligen Kolonisten überlebten oder starben, solange sie dort blieben, wohin man sie deportiert hatte. Die Raumfahrt war ihnen verboten, die Zivilisation war ihnen verboten – auf Geheiß einer Menschheit, die ihnen den Rücken zugekehrt hatte. Aber wider alle Erwartungen hatten die Kolonisten überlebt und es sogar auf ihre Art zu etwas gebracht. Sei es auch nur denen zum Trotz, die sie im Stich gelassen hatten. Lachrymae Christi war eine Leprakolonie.

Die Sonnenschreiter II fiel aus dem Hyperraum und sank in eine hohe Umlaufbahn über der Welt der ewigen Tränen. Owen Todtsteltzer saß unbehaglich vor dem Hauptsichtschirm auf der Brücke seiner Jacht und musterte das Bild des schweigenden Planeten, der versteckt unter der unaufhörlich wirbelnden Wolkendecke lag. Owen wußte nicht viel über Lachrymae Christi.

Da ging es ihm wie den meisten anderen. Es war kein respektables Thema, über das man sich unterhielt, als könnte man schon durch Gebrauch des gefürchteten Begriffs die Krankheit auf sich aufmerksam machen. Jahrhundertelang hatte das Imperium geprahlt, seine Wissenschaftler hätten alle Krankheiten besiegt, und mit Hilfe der Regenerationsmaschinen und der Klontanks könnte jede Person, die über ansehnliche Mittel verfügte, ein langes und gesundes Leben erwarten. Für die Armen sah das natürlich anders aus, aber so war es schließlich in allen Dingen. Und dann war vor siebzig Jahren die Lepra zurückgekehrt – ein fast vergessenes Schrecknis aus der fernen Vergangenheit der Menschen –, und die Wissenschaftler zeigten sich hilflos. Die Krankheit breitete sich rasch von einem Planeten zum nächsten aus, infizierte Reiche und Arme gleichermaßen, und bald war sie überall gegenwärtig. Niemand wußte, was sie verursachte und wie sie sich ausbreitete, und so fanden die Opfer weder Hoffnung noch Trost. Nur die Isolation, gemieden von Freunden und Nachbarn. Und damit man die Opfer nicht in der Nähe hatte, eine stete Erinnerung an das Versagen der Wissenschaft, beschloß man, daß alle als befallen diagnostizierten Personen einen Fahrschein ohne Rückfahrt zum Abgrund erhalten sollten, auf einen Planeten, den niemand haben wollte, wo sie unter sich bleiben konnten und der Menschheit Gelegenheit boten, sie behaglich zu vergessen.

Nur daß manche Menschen nicht vergessen konnten, nicht vergessen wollten.

Hazel D’Ark kam auf die Brücke gelatscht und fiel kraftlos auf einen Stuhl neben Owen. Sie finsterte das Bild auf dem Monitor an und schniefte geräuschvoll. »Ich kann nicht glauben, daß du in diesen Einsatz eingewilligt hast, Owen. Ich schwöre dir: Sollte ich mit weniger Fingern, als ich normalerweise habe, wieder von hier abreisen, befördere ich dich persönlich mit einem Dropkick aus der nächsten Luftschleuse.«

»Es besteht wirklich kein Grund zur Besorgnis«, fand Owen und bemühte sich dabei angestrengt um einen beruhigenden Tonfall. »Die aktuellen medizinischen Informationen besagen, daß man sich die Lepra nicht durch üblichen Kontakt zuziehen kann. Ich habe nachgesehen.«

»Das weiß man doch gar nicht! Man weiß überhaupt nichts mit Sicherheit. Man hat noch nicht mal herausgefunden, woher zum Teufel sie stammt.«

»Was genau ist diese Lepra?« erkundigte sich Mitternachtsblau von einer Stelle hinter ihnen. Die große, dunkelhäutige Kriegerin lehnte am Türrahmen und trank einen Vitaminextrakt direkt aus der Flasche. »Woher ich komme, kennen wir nichts dergleichen.«

»Gilt auch für mich«, sagte Bonnie Chaos, schob sich an Mitternacht vorbei und besetzte den einzigen noch freien Sitz auf der Brücke. Ihre diversen Piercing-Schmuckgegenstände klimperten laut, als sie sich setzte. »Hausen da unten wirklich Leute, denen die Einzelteile herunterfallen?«

»Nur in den schlimmsten Fällen«, erläuterte Owen. »Es ist eine neurologische Krankheit. Die Opfer verlieren jedes Tastgefühl. Selbst kleine Verletzungen heilen nicht mehr und infizieren sich. Das Fleisch verfault. Es ist eine langsame und sehr üble Todesart. Ein paar Medikamente helfen, aber nicht sehr.«

»Ist es zu spät, dieses Schiff noch zu wenden?« fragte Bonnie.

»Ich dachte, du hieltest Entstellungen für eine Demonstration von Modebewußtsein«, warf Mitternacht ein.

»Alles hat Grenzen«, fand Bonnie. »Auch wenn ich nicht erwartet hätte, das mal von mir selbst zu hören.« Sie beugte sich zu Owen hinüber, und er gab sich Mühe, nicht zurückzuschrecken. »Weißt du, Owen, diese Krankheit hört sich zu übel an, um wahr zu sein. Handelt es sich nicht vielleicht um eine Biowaffe, die aus dem Labor entwichen ist?«

»Du bist nicht die erste Person, die eine solche Vermutung äußert«, sagte Hazel. »Um die Wahrheit zu sagen: Niemand weiß es. Sie scheint mit keiner anderen heute bekannten Krankheit verwandt zu sein. Vielleicht haben wir es mit der Vorstellung eines verdammten Spinners von einer allerletzten Terrorwaffe zu tun. Das würde erklären, wie sie einfach aus dem Nichts heraus entstehen konnte.«

»Natürlich ist auch möglich, daß diese Überlegung nur Ausdruck eines allgemeinen Verfolgungswahns ist«, gab Owen zu bedenken. »Unter Löwensteins Regiment kursierte reichlich davon.«

»Jawohl«, sagte Hazel. »Vor allem, weil wirklich immer jemand hinter einem her war.«

»Stimmt. Gott sei Dank hat sich das inzwischen geändert.«

Jede Alarmsirene auf der Brücke heulte in diesem Augenblick gleichzeitig los, laut genug, um Tote zu erwecken, und begleitet von Leuchtsignalen. Owen starrte die Steuerungspaneele vor sich ungläubig an.

»Ich glaube es einfach nicht!«

»Was? Was?« fragte Hazel.

»Ein Schiff der Hadenmänner ist gerade neben uns aus dem Hyperraum gekommen! Woher zum Teufel haben sie erfahren, daß wir hierher wollten?«

»Ich sage dir was«, antwortete Hazel und tastete verzweifelt auf der Steuerung herum. »Frage du sie danach, während ich versuche, uns wie der Teufel hier wegzubringen.«

»Ich dachte, sie würden Owen als ihren Erlöser betrachten«, sagte Bonnie.

»Na ja«, versetzte Owen, der damit beschäftigt war, alle Abwehrschirme der Sonnenschreiter II einzuschalten. »Nach den Ereignissen auf Brahmin II können wir wohl beruhigt davon ausgehen, daß dieser spezielle Titel veraltet ist.« Er drückte den Interkom-Schalter. »Mond, bewegt sofort Euren Siliziumarsch auf die Brücke!«

»Ich bin schon da«, ließ sich die kratzende Stimme des aufgerüsteten Mannes vernehmen. Tobias Mond trat neben Owen und betrachtete mit seinen leuchtenden Goldaugen das riesige goldene Schiff auf dem Bildschirm. »Mein Volk hat uns wiedergefunden.«

»Wundervoll«, sagte Owen. »An manchen Tagen würde es nicht mal dann laufen, wenn man dafür bezahlte. Die Kraftfelder stehen, und die Waffenlektronen sind online. Hazel?«

»Ich habe einen Sturzflug eingeleitet, um unter den Wolken in Deckung zu gehen. Vielleicht können wir die Hadenmänner abschütteln.«

»Unwahrscheinlich«, sagte Mond gelassen. »Sensoren der Hadenmänner sind allem, was man im Imperium vorfindet, weit überlegen. Außerdem verfügt dieses goldene Schiff über genügend Feuerkraft, um einen kleinen Mond zu verdampfen.

Oder auch einen großen, wenn sie nur genug Geduld mitbringen. Ich schlage vor, daß wir uns auf Schnelligkeit konzentrieren. Der verbesserte Hyperraumantrieb aus der ursprünglichen Sonnenschreiter ist nach wie vor allem, was die Hadenmänner haben, deutlich überlegen.«

»Man muß dem Herrgott für kleine Gunstbeweise danken«, sagte Hazel. »Haltet euer Frühstück unten, Leute. Es geht jetzt steil runter.«

Die Sonnenschreiter II durchstieß die durcheinanderwirbelnde Wolkendecke, das riesige goldene Schiff der Hadenmänner direkt auf den Fersen, einem Wal ähnlich, der einer Elritze nachsetzte. Beide Schiffe tauchten mit gefährlich hohem Tempo durch die Atmosphäre von Lachrymae Christi und scherten sich nicht um das ungestüme Wetter, das ringsherum wogte und prasselte. Das goldene Schiff feuerte, und die Abwehrschirme der Sonnenschreiter II flammten kurz auf und absorbierten soviel von den entsetzlichen, zerstörerischen Energien, wie sie nur konnten.

An Bord der Jacht heulten alle Alarmsysteme durcheinander.

Die Beleuchtung der Brücke fiel aus, und nach einer Herzschlagpause breitete sich der mattrote Schein der Notbeleuchtung aus. Owens Augen huschten über die Steuerpaneele, suchten nach guten Nachrichten und fanden keine. Immer mehr Systeme wurden abgeschaltet, als die Hauptlektronen die Energie in die Abwehrschirme umleiteten. Hazel schaffte es, ein paar Schüsse auf das nachsetzende Hadenmännerschiff abzugeben, aber sie machten auf dessen gewaltige Schirme keinen Eindruck. Owen behielt mit je einem Auge die eigene Geschwindigkeit und Flughöhe im Auge und wußte nicht recht, welche ihm mehr Sorgen bereitete. Falls er den Hadenmännern nicht bald entkam, würde es der Sonnenschreiter II schwerfallen, noch rechtzeitig für eine sichere Landung Tempo wegzunehmen.

»Könnte jemand bitte die verdammten Sirenen abschalten?« fragte er rauh. »Ich kann mir hier nicht mehr beim Nachdenken zuhören!«

Hazel schlug mit der Faust auf einen Abschnitt der Steuerpaneele, und plötzlich breitete sich erfreuliche Stille auf der Brücke aus. »Besser?«

»Viel.«

»Können wir irgendwie helfen?« fragte Bonnie.

»Beten wäre inzwischen wahrscheinlich eine gute Idee«, schlug Hazel vor. »Gibt es bei euch irgendwelche wohlmeinenden Gottheiten?«

»Wie sieht unsere Lage nun genau aus?« erkundigte sich Mittemacht.

»Schlimm und im Begriff, sich weiter zu verschlechtern«, antwortete Owen. »Wir sind mit einem stärker bewaffneten und viel größeren Schiff konfrontiert, dessen Besatzung verdammt scharf auf uns ist. Und falls wir nicht sehr bald eine Möglichkeit finden, wie wir langsamer werden, dann kriegt noch irgendein beklagenswertes Gebiet dieses Planeten bald einen Krater, der groß genug ist, um einen kleinen Mond hineinzuwerfen. Sagt Euch der Begriff tief in der Scheiße irgendwas? Oz, irgendwelche Vorschläge?«

»Du hast immer die Möglichkeit zu kapitulieren«, meldete sich die KI in seinem Ohr. »Natürlich würden sie euch wahrscheinlich langsam töten und dann in Hadenmänner verwandeln… Immerhin ist das eine Option, über die du noch nicht nachgedacht hast.«

»Vielen Dank«, sagte Owen.

»Können wir uns nicht wehren?« fragte Bonnie.

»Wir sind nicht stark genug, um ihnen weh zu tun«, sagte Hazel. »Außerdem sind unsere Zielerfassungssysteme gerade ausgefallen. Wir benötigen die zusätzliche Energie für die Abwehrschirme. Die in diesem Augenblick kurz vor dem Zusammenbruch stehen.«

»Wir müssen doch irgendwas tun können!« schimpfte Mitternacht.

»Ich bin für Vorschläge offen!« versetzte Owen. »Mond, das sind Eure Leute. Könntet Ihr… mit ihnen reden oder etwas in der Art?«

»Die aufgerüsteten Menschen betrachten mich zweifellos als Verräter«, antwortete Mond völlig ungerührt mit schwerer, stimmender Stimme. »Von uns allen möchten sie mich am ehesten tot sehen. Unsere Lage scheint wirklich hoffnungslos. Ich schätze, daß die Schilde in den nächsten dreißig Sekunden zusammenbrechen.«

Am Heck der Jacht explodierte etwas, und das ganze Fahrzeug erzitterte. Die Alarmsirenen heulten für wenige Sekunden wieder auf, ehe Hazel sie abschaltete. Ihre Finger flogen über die Steuerung.

»Ein Rumpfbruch, Owen! Wir verlieren Luft und müssen erst noch verdammt viel tiefer in die Atmosphäre sinken, ehe sich der Luftdruck wieder ausgleicht. Ein kleines Feuer ist ausgebrochen, aber die automatischen Systeme scheinen damit fertig zu werden. Die Heckschirme sind ausgefallen, und die Schirme mittschiffs… halten stand. Zunächst. Zwanzig Prozent Systemausfälle überall an Bord. Wir verkraften keinen weiteren Treffer dieses Kalibers!«

»Haben wir Fluchtkapseln?« fragte Bonnie. »Gravschlitten?

Irgendeine Möglichkeit, dieses Wrack zu verlassen?«

»Ich glaube das einfach nicht!« beschwerte sich Owen. »Man hat mir schon mal ein Schiff unterm Hintern weggeschossen, so daß ich eine Bruchlandung in einem Dschungel hinlegen mußte. Warum passiert mir das nur wieder? Mond, denkt Euch etwas aus!«

Eine weitere Explosion erfolgte im Heck. Die Triebwerke kreischten entsetzlich. Warnlampen leuchteten überall auf den Steuerpaneelen, und dann fiel alles aus. Owen betrachtete die tote Konsole vor sich und hatte keinen Schimmer, was er unternehmen sollte.

»O Scheiße«, ließ sich Hazel vernehmen. »Die Hauptlektronen sind gerade ausgefallen, die Abwehrschirme ebenfalls.

Alle Waffensysteme sind offline. Die Lebenserhaltung versagt.

Die Triebwerke sind außer Kontrolle. Das ist kein Schiff mehr, sondern ein Geschoß. Owen, ohne all die Lektronen haben wir keine Chance zu landen.«

Alle musterten sich gegenseitig. Owen dachte angestrengt nach. Er mußte die Ruhe bewahren. Sich alles genauüberlegen.

»Wir sind alle Überlebende des Labyrinths«, sagte er zögernd.

»Was, wenn wir einfach abspringen und hoffen, eine ausreichend tiefe Stelle im Meer zu erwischen…«

»Nein«, erwiderte Hazel. »Nicht bei dieser Geschwindigkeit.

Wir sind hart im Nehmen, aber wiederum nicht so hart.«

»Oz?« fragte Owen. »Es muß etwas geben, worauf wir noch nicht gekommen sind.«

»Tut mir leid, Owen. Ich kann nichts unternehmen. Erinnert dich das nicht an unsere Ankunft auf Shandrakor? Ich werde dabei fast nostalgisch.«

»Das ist es!« sagte Owen und wandte sich rasch an Mond.

»Als die imperialen Sternenkreuzer die erste Sonnenschreiter in Stücke gepustet hatten, habt Ihr Euch direkt mit den Schiffslektronen verbunden und uns sicher hinuntergeführt. Könnt Ihr es nicht erneut tun?«

»Ich habe schon eine Verbindung mit den verblieben Lektronen hergestellt«, antwortete Mond ein klein wenig distanziert.

»Ich habe da eine Idee. Sie ist vielleicht ein bißchen extrem, hat jedoch eine Erfolgschance von dreiundsiebzig Prozent. Alle Alternativen bieten deutlich geringere Überlebenschancen.«

»Ach verdammt, nur zu!« sagte Owen. »Aber falls Ihr mein Schiff wieder zertrümmert, schweiße ich Euch daran fest, bis Ihr es repariert habt!«

»Oh, Ihr Kleingläubiger!« entgegnete Mond gelassen und schaltete die Triebwerke ab. Die wenigen verbliebenen Kontrollen fielen aus, und selbst die Notbeleuchtung gab den Geist auf. Es war sehr dunkel und sehr still auf der Brücke.

»Mond«, meldete sich Hazel in gefährlich ruhigem Ton.

»Was hast du angestellt?«

»Ich habe alles abgeschaltet«, erklärte der aufgerüstete Mann, dessen goldene Augen hell in der Dunkelheit leuchteten.

»Ich hoffe, die Hadenmänner auf dem Schiff hinter uns davon zu überzeugen, daß wir erledigt sind. Sie müßten dann die Verfolgung abbrechen und sich aus dem Einzugsbereich der planetaren Schwerkraft befreien, solange es noch möglich ist. Sobald ich berechnet habe, daß genug Zeit vergangen ist, um sie sicher außer Reichweite zu bringen, starte ich die Systeme neu und versuche eine Landung. Natürlich weiß ich ohne aktive Sensoren nicht, ob sie uns verlassen haben oder nicht. Und wir werden der Oberfläche des Planeten bereits sehr nahe sein, sobald ich die Maschinen neu starte. Immerhin sind es diese kleinen dramatischen Augenblicke, die das Leben lebenswert machen, nicht wahr?«

In der völligen Dunkelheit der Brücke trat eine lange Gesprächspause ein. »Ich erschieße ihn«, sagte Hazel schließlich.

»Mond, sage etwas, damit ich weiß, wohin ich zielen muß.

Verdammt, du bist ja völlig verrückt geworden!«

»Völlig richtig«, bestätigte Mond. »Deshalb wird es die Hadenmänner ja auch täuschen. Sie begreifen solche Sprünge des Einfallsreichtums nicht. Zum Glück bin ich nicht mehr auf rein logisches Denken beschränkt.«

»Oh, phantastisch!« brummte Owen. »Ein Hadenmann, der Geschmack an russischem Roulette gefunden hat. Mir wird schlecht. Wie lange müssen wir noch im freien Fall bleiben, bis Ihr die Triebwerke wieder starten könnt?«

»Ah«, sagte Mond, »das ist der kritische Teil.«

»Was?« fragte Bonnie. »Was hat er gerade gesagt? Und wieso habe ich nur dieses komische Gefühl in der Magengrube, daß mir die Antwort nicht gefallen wird?«

»Nun«, erklärte Mond, »um absolut sicher zu sein, daß das goldene Schiff außer Reichweite ist, muß ich bis zum letzten möglichen Augenblick warten und dann hoffen, daß wir an Bord noch über ausreichend funktionsfähige Systeme verfügen, um die Triebwerke neu zu starten und zu steuern. Leider bleibt dann keinerlei Spielraum mehr für Fehler.«

»Richtig«, sagte Mitternacht. »Das war es. Zeit, daß wir hier verschwinden, Bonnie. Eine gute Kriegerin weiß immer, wann sie ihre Verluste abschreiben und Kurs auf den Horizont nehmen muß. Hazel, war nett, dich kennenzulernen, aber ich denke, jetzt wäre ein echt guter Zeitpunkt, um Bonnie und mich in unsere Dimensionen zurückzuschicken. Nicht, daß ich gar kein Vertrauen in deinen verrückten Freund habe, aber ich denke wirklich nicht, daß ich abwarten möchte, wie das alles letztlich ausgeht.«

»Jawohl«, bekräftigte Bonnie. »Ganz meine Meinung.«

»Schwierig«, meinte Hazel. »Ich bin mir nicht ganz sicher, wie ich solche Sachen eigentlich vollbringe, aber ich bin mir ziemlich sicher, daß ihr euch weiterhin mit der gleichen Geschwindigkeit bewegen würdet, falls ich euch jetzt zurückschickte. Ihr würdet wahrscheinlich an der gleichen Stelle wieder auftauchen, von der ich euch geholt habe, nur euch diesmal mit weit mehr als Schallgeschwindigkeit bewegen. Wenn ihr dann schließlich auf festen Widerstand trefft, müßt ihr eure Überreste mit einem Palettenmesser zusammenkratzen. Natürlich, falls ihr es trotzdem probieren möchtet…«

»Ach verdammt«, winkte Bonnie ab. »Wir würden doch nie auf die Idee kommen, unsere Freunde in der Stunde der Not im Stich zu lassen, nicht wahr, Mitternacht?«

»Natürlich nicht!« bekräftigte Mitternacht. »Vergiß das Ganze. Ich denke, mir ist schlecht.«

»Mond«, sagte Owen. »Ich bin wirklich fest überzeugt, daß das goldene Schiff inzwischen verschwunden ist. Starte die verdammten Triebwerke!«

»Tatsächlich«, sagte Mond, »probiere ich schon seit zweiundzwanzig Sekunden, die Triebwerke wieder zu starten, aber vergebens. Ich kann mir nur denken, daß die Lektronen stärker beschädigt wurden, als ich vermutet hatte.«

Hazel erzeugte einen Laut im Dunkeln. »Denk dir was aus, Owen!«

»Ich überlege mir vor allem, Mond zu erwürgen«, sagte Owen.

»Ich habe mir einen neuen Plan ausgedacht«, meldete sich Mond. »Euer Hyperraumantrieb wurde aus der Technik von Fremdwesen entwickelt und verfügt demzufolge über eigenständige Systeme. Sie scheinen intakt. Ich denke, ich könnte lange genug eine Verbindung herstellen, um den Standardtriebwerken mit Hilfe des Fremdwesentriebwerks einen Kickstart zu verpassen.«

»Jetzt mal langsam!« warf Bonnie ein. »Du möchtest so tief im Schwerefeld eines Planeten einen Hyperraumantrieb zünden? Dabei könnte das gesamte Planetensystem kollabieren! So schlimm die Lage auch sein mag, ich habe nicht den Wunsch, die Innenseite eines Schwarzen Lochs zu bestaunen!«

»Vertraut mir«, sagte Mond. »Ich bin mir fast sicher, daß ich weiß, was ich tue.«

Ein Augenblick trat ein, der ewig zu dauern schien. Der Weltraum kehrte sich von innen nach außen, streckte sich und zerriß beinahe. Ein strahlendes Licht leuchtete von irgendwoher, aber sie sahen es nicht mit den Augen. Engel sangen einen einzelnen, anhaltenden Akkord, eine Harmonie, die fast zu perfekt war, um sie zu ertragen. Und dann wurde alles mit einem Schlag wieder normal. Das Licht war von neuem nur die Brückenbeleuchtung, und aus dem Gesang wurde das Tosen der Triebwerke, während Mond darum kämpfte, den Sturzflug der Sonnenschreiter II zu bremsen. Owen sah sich benommen um und stellte fest, daß einige der Steuerungspaneele wieder aktiv waren.

»Wir haben Sensoren!« sagte Owen. »Keine Spur von dem Schiff der Hadenmänner, aber der Planet kommt uns furchtbar schnell entgegen! Haltet Euch fest, Leute. Das wird weh tun!«

Die Sonnenschreiter II stürzte heulend aus der Wolkendecke hervor und schnitt durch den strömenden Regen so schnell hindurch, daß das Wasser schon verdampfte, ehe es überhaupt den Schiffsrumpf erreichte. Und dann streckte der Dschungel seine Finger nach der ramponierten Jacht aus, und sie zog eine zerklüftete Schneise durch die Bäume und wurde allmählich langsamer, bis sie schließlich in einer Wolke aus Dampf und hochgerissenen Vegetationsfetzen mit einem Ruck stoppte. Die Triebwerke schalteten sich ab, und eine Zeitlang war alles still, abgesehen vom sachten, anhaltenden Zischen des Regens, der auf den superheißen Rumpf fiel.

An Bord saßen die Passagiere in ihren Sicherungsnetzen und warteten ab, daß Herzschlag und Atem langsam wieder in den Normalzustand zurückkehrten – alle außer Mond, der schon die Gurte abgeworfen hatte, sich über die Steuerungspaneele beugte und die Sensoren ablas. Owen seufzte schwer.

»Na, damit ist eine weitere verdammte Jacht futsch. Beten wir lieber alle, daß die Schäden reparabel sind, andernfalls steht uns ein ausgedehnter Urlaub in diesem bezaubernden kleinen Paradies bevor. Das nächste Versorgungsschiff wird noch auf Monate hinaus nicht erwartet. Mond, irgendwelche Lebensformen dort draußen zu erkennen?«

»Nur der Dschungel«, antwortete Mond. »Pflanzenleben in verschiedenen Formen. Keine Tiere, keine Insekten. Und keine Menschen in Reichweite der Sensoren. Wir sind allein.«

»Endlich mal Neuigkeiten von Mond, mit denen ich leben kann«, stellte Hazel fest. »Wie weit entfernt sind wir von Sankt Beas Mission?«

»Die Hauptlektronen sind nach wie vor nicht funktionsfähig«, sagte Mond. »Ich habe zur Zeit keinen Zugriff auf diese Information.«

»Oz?« fragte Owen.

»Falls das Schiff der Flugbahn gefolgt ist, die ich berechnet hatte, sind wir nicht allzu weit von unserem geplanten Ziel entfernt«, murmelte ihm die KI ins Ohr. »Die Mission müßte etwas über fünfzehn Kilometer nordnordöstlich von hier zu finden sein. Obwohl das natürlich nur eine Schätzung ist. Die Lage sah letzten Endes ein wenig brenzlig aus. Berücksichtigt man den Fehlerspielraum, dann reden wir womöglich über eine Wanderung von über dreißig Kilometern. Aber was sind schon ein paar Kilometer durch undurchdringlichen Dschungel? Die Übung wird dir guttun.«

Owen schüttelte müde den Kopf. »Es ist wieder genau wie auf Shandrakor. Das weiß ich einfach.«

»Nicht unbedingt«, hielt ihm Mond entgegen. »Zumindest lauern diesmal draußen keine hungrigen Killerfremdwesen.

Auf dem ganzen Planeten findet man kein tierisches Leben, von den Kolonisten mal abgesehen. Obwohl die Dateien einige recht beunruhigende Meldungen von Begegnungen mit großen und beweglichen Pflanzen enthalten, die eine eindeutig feindselige Haltung an den Tag legten.«

»Killerpflanzen!« sagte Bonnie. »Wundervoll! Würde mir bitte mal jemand erklären, was genau wir hier eigentlich tun?

Ich war völlig glücklich und hatte gerade die erste Hälfte einer viertägigen Sauftour hinter mir, als mich eure Botschaft erreichte. Sie klang diesmal ganz vernünftig.«

»In dem Zustand, in dem du warst, hättest du dich sogar freiwillig für einen Einsatz auf Shub gemeldet«, fand Mitternacht. »Wie kannst du deinen Körper nur so mißbrauchen?«

»Übung, Schatz, Übung.« Bonnie blinzelte der schwarzen Kriegerin zu, aber diese wandte sich nur verärgert ab. Bonnie lachte. »Kommt schon, jemand sollte mich ins Bild setzen.

Bekomme ich diesmal jemanden zu töten? Am besten eine ganze Menge Jemande.«

»Wir sind in wohltätiger Mission hier«, erklärte ihr Owen geduldig. »Die Oberste Mutter Beatrice Cristiana, besser bekannt als die Heilige von Technos III, hat die Leitung der reformierten Kirche niedergelegt, um hier eine Missionsstation für die Leprakranken einzurichten. Und so, wie sie nun mal ist, hat sie aus der Missionsstation sehr schnell einen gesellschaftlichen Treffpunkt und eine Kommunikationszentrale für den ganzen Planeten gemacht und die verstreuten Siedlungen schließlich zu einem Volk zusammengeschmiedet. Sie standen tatsächlich im Begriff, sich zu einer lebensfähigen Kolonie zu entwickeln, als die Hadenmänner angriffen. Vermutlich niemand anderes als dieses verdammte goldene Schiff. Jedenfalls befindet sich jetzt eine Streitmacht von Hadenmännern dort unten und konzentriert ihre Angriffe auf die Missionsstation der Heiligen Bea. Wir sind hier, um die Mission und ihre Leute zu verteidigen.«

»Warum wir?« fragte Bonnie. »Warum ist keine reguläre Armee gekommen und verdient sich hier ihren Sold?«

»Weil die reguläre Armee einen Dreck auf eine Kolonie von Leprakranken gibt. Jeder, an den Sankt Bea herangetreten ist, hatte auf einmal anderswo zu tun. Schließlich wandte sie sich direkt an mich, und…« Er lächelte reuevoll. »… es fällt mir irgendwie schwer, einer Heiligen etwas abzuschlagen.«

»Frage nächstens mich«, sagte Bonnie. »Ich zeige dir, wie es geht. Wo ich herkomme, Todtsteltzer, gibt es keine Heiligen.

Wir fressen sie auf.«

»Richtig«, warf Mitternacht ein. »Nachdem wir das Imperium gestürzt hatten, gehörte zu den ersten Dingen, die wir in Angriff nahmen, die Auflösung der etablierten Kirche, um sie durch den Mystischen Orden des Stahls zu ersetzen. Wir sind Krieger und folgen dem Weg des Kriegers.«

»Manchmal frage ich mich, ob unsere Welten irgendwas miteinander gemeinsam haben, abgesehen vom Labyrinth des Wahnsinns«, sagte Owen.

»Na ja, auf jeden Fall dich«, sagte Mitternacht und lächelte ein wenig zu warmherzig für seinen Geschmack. »Wo immer es eine Variante von mir gibt, findet man auch eine von dir.

Das Schicksal hat uns überall zusammengeführt.«

»Richtig«, bekräftigte Bonnie und zupfte sich dabei müßig einen goldenen Ring, der durch etwas geführt war, das sich Owen lieber nicht ansah. »Wir…«

»Na, das finde ich aber interessant«, meldete sich Mond, der immer noch über die Steuerungspaneele gebeugt war. Alle wandten sich rasch zu ihm um.

»Ich hasse es wirklich, wenn er das sagt«, gab Hazel von sich. »Es bedeutet fast immer, daß etwas ganz Furchtbares im Gang ist.«

»Nein, das ist wirklich interessant«, entgegnete Mond. »Ich weiß nicht, was es bedeutet, aber es ist definitiv interessant.«

Owen gesellte sich zu ihm und musterte die Sensorenbildschirme. »Das ergibt überhaupt keinen Sinn«, fand er schließlich. »Es sieht so aus, als würde etwas langsam… die Sonnenschreiter einhüllen. Eine Art organisches Material.«

»Jetzt mal langsam«, meldete sich Bonnie. »Willst du damit sagen, daß etwas auf diesem gottverlassenen Planeten groß genug ist, um ein Sternenschiff zu verschlucken

»Nicht direkt«, erwiderte Mond. »Hier gibt es nur pflanzliches Leben, erinnert Ihr Euch?«

»Wir müssen aussteigen und es uns ansehen«, sagte Hazel.

»Mal sehen, was auf diesem verdammten Einsatz noch alles schiefgehen kann.«

»Ihr solltet lieber auf das achten, was Ihr sagt, sobald Ihr Sankt Bea gegenübersteht«, lächelte Owen. »Sie erlegt Euch sonst noch eine Buße auf.«

»Ist längst passiert«, knurrte Hazel. »Als ich dir zum ersten Mal begegnet bin.«

Eine Zeitlang weigerte sich die Außentür der Luftschleuse rundweg, sich zu öffnen. Alle Systeme funktionierten, aber die Tür gab nicht nach. Sie versuchten es mit der Handbedienung, aber damit erreichten sie auch nicht mehr, als daß sich Hazel zwei Fingernägel abbrach. Sie verlor völlig die Geduld und zerschoß das Schloß mit dem Disruptor. Owen und Mond bekamen die Tür halb auf, und einer nach dem anderen drückten sie sich hindurch und sprangen zum Erdboden hinunter, Schwert und Schußwaffe einsatzbereit.

Der Dschungel draußen war ein Gemisch grellster Rotschattierungen. Die schwarzen Bäume hatten scharlachrote Blätter, das Gebüsch war purpurrot, und die dicken, gekräuselten Reben prangten in einem beunruhigenden Rosa. Die örtliche Vegetation bekam nie die Sonne zu Gesicht, so daß die Fotosynthese nie richtig in Schwung gekommen war. Rot stand im Dschungel von Lachrymae Christi auf dem Programm, und verdammt viel davon wickelte sich entschlossen um die Sonnenschreiter II.

Owen und seine Gefährten hackten sich von der Luftschleuse aus einen Weg frei, wurden im strömenden Regen sofort naß bis auf die Haut und drehten sich schließlich um und nahmen das Schiff in Augenschein. Ein Netz aus schockierend rosafarbenen Reben hatte sich bereits von Bug bis Heck um den Rumpf geschlungen, und weitere Reben krochen entschlossen heran, rückten hartnäckig vor wie belebte Eingeweide. Dicke Blätter, die an scharlachrote Handflächen erinnerten, hefteten sich von allen Seiten an den Schiffsrumpf und fügten ständig neue Schichten hinzu, als versuchte der Dschungel, jede Spur von dem Eindringling unter sich zu begraben.

Als Owen all das schließlich in sich aufgenommen hatte, war die Öffnung der Luftschleuse schon unter einer Matte blutroter Rebengewächse verschwunden. Er kämpfte sich durch das klebrige Laub hinüber und versuchte, die Reben mit dem Schwert herunterzuschneiden, aber die Klinge klebte an den Gewächsen fest, und er mußte heftig zerren, um sie wieder freizubekommen. Er hob den Disruptor und zielte. Der Energiestrahl brannte ein Loch durch die Reben und setzte seinen Weg fort, um innerhalb der Luftschleuse unbekannte weitere Schäden anzurichten. Die geschwärzten Reben versuchten in Flammen aufzugehen, aber der Regen bereitete dem ein schnelles Ende. Owen sah benommen zu, wie die Reben langsam, aber gezielt den Schaden reparierten und das von ihm erzeugte Loch wieder schlossen.

»Ah«, sagte Mond. »Nun, das ist aber Pech.«

Owen drehte jetzt völlig durch. Ein Schrei, geboren aus schierer Wut und Enttäuschung, brach aus ihm hervor, während er im Kreis herumstampfte und mit dem Schwert nach jeder Pflanze hackte, die ihm in die Quere geriet. »Das reicht! Das reicht, verdammt noch mal! Jetzt habe ich nicht nur meine zweite Jacht durch eine Bruchlandung verloren, sind wir nicht nur von allen unseren Vorräten und zusätzlichen Waffen abgeschnitten, ist es nicht nur mindestens dreißig Kilometer von hier bis zur Missionsstation, sondern es regnet auch in Strömen, und ich habe den Regenmantel nicht dabei! Ich bin klatschnaß! Ich hasse es, so naß zu sein! Ich hasse es, hasse es, hasse es!«

Er trat wütend nach einer Rebenmatte, blieb mit dem Fuß darin hängen und fiel hin. Niemand war dumm genug, um zu lachen. Er sprang wieder auf, das Gesicht so dunkelrot wie die umgebende Vegetation. Mond blickte Hazel an.

»Hat sich Owen in meiner Abwesenheit verändert? Er hat sich früher nie so verhalten.«

»Nein«, sagte Hazel, »hat er nicht. Alle bleiben, wo sie sind, während ich mal ruhig mit ihm rede.«

»Mein Owen hat sich nie so aufgeführt«, warf Mitternacht ein. »Er hatte viel zu feine Manieren.«

»Mein Owen hat alle möglichen Sachen angestellt«, bemerkte Bonnie und zupfte nachdenklich an ihrem Piercing-Schmuck.

»Da wette ich«, sagte Mitternacht.

Hazel ließ Mond zurück, der mit dem Versuch befaßt war, die Untertöne dieser letzten Bemerkungen zu deuten, und näherte sich vorsichtig Owen. Dieser lehnte mit dem Kopf an der kohlschwarzen Rinde eines Baums. Sein Atem ging inzwischen etwas langsamer, aber er hielt immer noch das Schwert in der Hand. Hazel hatte den Ausbruch von eben überhaupt nicht komisch gefunden. In all der Zeit, die sie ihn jetzt kannte, hatte er noch nie dermaßen die Beherrschung verloren. Wenn man an seine Fähigkeiten dachte und sich vorstellte, daß er entsprechend wütend wurde, dann machte Hazel dieser Verlust der Selbstbeherrschung Sorgen. Sie blieb in respektvoller Entfernung stehen und räusperte sich höflich. Owen drehte sich nicht um.

»Geht weg, Hazel.«

»Was ist los, Owen?« fragte sie leise. »Alles in allem war es gar keine so schlechte Landung. Ich meine, wir sind noch am Leben.«

»Es ist nicht die Landung«, sagte Owen und starrte in den Scharlachdschungel. Der Regen lief ihm übers Gesicht und tropfte von Nase und Kinn. »Es ist… einfach alles. Ich bin es einfach so verdammt satt, daß alles schiefgeht. Es sollte ein leichter Einsatz werden: Sich zeigen, seine Kräfte demonstrieren, ein paar Hadenmännern in den Hintern treten und zu wichtigeren Dingen übergehen. Jetzt seht uns mal an. Gestrandet in der Wildnis eines Höllenplaneten, den Leprakranke kolonisiert haben, und derweil ist im Imperium der Teufel los. Ich dürfte gar nicht hier sein. Ich sollte irgendwo dort draußen sein und gegen die Fremdwesen oder die Hadenmänner kämpfen oder gegen irgendwen, den uns Shub in der laufenden Woche auf den Hals hetzt. Ich habe eine Pflicht – die Pflicht, meine Kräfte in den Dienst der Menschheit zu stellen. Aber nein, ich stecke hier im Nirgendwo fest, während ich woanders gebraucht werde.«

»Du wirst auch hier gebraucht«, gab Hazel zu bedenken.

»Sankt Bea hätte nicht um unser Erscheinen gebeten, wenn die Lage hier nicht verzweifelt wäre.«

»Es sind Leprakranke«, entgegnete Owen brutal. »Sie sterben ohnehin. Das Imperium braucht uns mehr.«

»Jeder Planet und jedes Volk ist so wichtig wie alle anderen«, sagte Hazel. »Hast du von deiner Zeit als Gesetzloser nichts gelernt? Es kommt nicht nur auf die großen, wichtigen Planeten wie Golgatha an. Es kommt auf alle an. Ich weiß, worum es bei dir geht. Es ist verletzter Stolz. Du dachtest, du könntest hier einfach kurz hereinschneien, für Sankt Bea den Helden spielen und dann zu etwas weiterziehen, was dir mehr Ansehen einbringt. Statt dessen hast du es verpfuscht. Du, der Todtsteltzer, die lebende Legende. Du denkst, du bist der einzige, der das Imperium vor seinen Feinden retten kann. Na, da irrst du dich. Das Imperium ist vollkommen in der Lage, sich auch ohne dich zu verteidigen. Nicht einmal der mächtige Todtsteltzer kann überall zugleich sein. Die Menschheit hat perfekt allein überleben können, auch ehe wir Überlebenden aus dem Labyrinth des Wahnsinns daherkamen, und sie wird es wieder so gut schaffen, wenn es uns nicht mehr gibt. Das Labyrinth hat uns vielleicht zu Übermenschen gemacht, aber nicht zu Göttern. Hör jetzt auf mit dem Mist und reiß dich zusammen, oder ich haue dir ordentlich eine runter!«

Owen drehte schließlich den Kopf und sah sie an, und etwas war in seinen kalten Augen, wobei sich Hazel die Frage stellte, ob sie nicht zu weit gegangen war. Aber sie blieb standhaft, und einen Augenblick später entspannte er sich ein wenig und probierte ein Lächeln.

»Ihr würdet mich doch nicht wirklich schlagen, oder?«

»Doch, würde ich.«

»Okay, ich gebe auf. Keine Anfälle mehr. Gehen wir und sehen wir mal nach, in was für Probleme sich Sankt Bea hineingeritten hat.«

Hazel zögerte. »Bist du… wieder in Ordnung, Owen?«

»Nein, aber ich habe mich wieder unter Kontrolle. Ich bin einfach… müde. Bin es müde, daß es für mich nie richtig läuft. Nur einmal möchte ich gern auf einem Schiff fahren, das nicht abstürzt oder angegriffen wird, oder möchte mal landen, ohne gleich in Schwierigkeiten zu stecken. Ihr habt es selbst gesagt: Ich bin angeblich der große Held, der Retter der Menschheit, und komme nicht mal mit dem eigenen Leben richtig klar.«

Hazel mußte lachen. »Owen, alle Menschen haben diese Probleme. Gehen wir jetzt lieber zu den anderen zurück und überlegen uns, was wir jetzt tun, ehe wir alle in diesem verdammten Regen ertrinken. Läßt er denn nie nach?«

»Nicht in den letzten paar Millionen Jahren. Vielleicht könnten wir uns aus einheimischen Pflanzen Schirme fertigen.«

»Ich denke nicht, daß es ihnen gefallen würde«, sagte Hazel und sah sich in der Vegetation um, die sich ständig langsam fortzubewegen schien. »Dieses Zeug ist mir wirklich unheimlich. Pflanzen sollten eigentlich wissen, wohin sie gehören.«

Sie kehrten zu den anderen zurück. Bonnie und Mitternacht sprachen ostentativ nicht miteinander. Mond hatte es aufgegeben, aus der Situation schlau zu werden, und tat so, als hätte er Interesse an einem zitternden Purpurbusch vom Format eines kleinen Hauses. Owen warf einen letzten Blick auf sein abgestürztes Schiff. Es lag schon so tief unter dunkelroter Vegetation vergraben, daß man glatt den Eindruck hatte, es wäre nie vorhanden gewesen.

»In Ordnung«, sagte er laut. »Schluß mit dem Geschwätz. Es sind mindestens fünfzehn Kilometer bis zu Sankt Beas Mission. Je früher wir aufbrechen, desto schneller sind wir dort und können uns vor dem Regen schützen. Oz, gib mir die Richtung zur Station.«

»Natürlich, Owen. Verlaßt die Lichtung in Richtung auf diese drei Bäume, die sich aneinanderlehnen, und ich übernehme von dort aus die Führung. Ich habe auch das Gefühl, daß ich dich über einen Teil der eindrucksvolleren Pflanzen hier informieren sollte. Sie können ziemlich gefährlich sein.«

»Du meinst, sie sind giftig?«

»Treffender wäre mörderisch. Für tierisches Leben wurde hier nie der Grundstein gelegt, also fallen die Pflanzen übereinander her, damit sie im Rennen um Raum, Licht, Wasser, Platz für Wurzeln usw. die Nase vorn behalten. Im Verlauf der Jahrtausende haben sie ein paar sehr scheußliche Taktiken entwickelt, dazu jede Menge Möglichkeiten, ihr Mißfallen auszudrücken, wenn ihre Absichten vereitelt werden. Ich schlage vor, daß ihr alle dicht beisammen bleibt und euch zur Abwehr bereithaltet.«

Owen gab die Informationen weiter, und die anderen nahmen sie mit unterschiedlichen Graden des Widerwillens auf.

»Als wäre dieser Planet nicht schon unerfreulich genug«, meinte Bonnie. »Schlimm genug, daß mein Piercing-Schmuck in diesem Regen wahrscheinlich anfängt zu rosten, aber jetzt müssen wir uns auch noch den Weg kilometerweit durch Killerpflanzen freihacken. Ich spüre schon, daß eine meiner Krisen im Anzug ist.«

»Betrachte es als echte Aufgabe«, schlug Mitternacht vor.

»Ein Krieger fürchtet sich nie vor Widerständen.«

»Betrachte du es als echte Aufgabe«, erwiderte Bonnie, »und ich halte mich im Hintergrund und sehe dir dabei zu.«

»Beruhigt euch«, mischte sich Hazel ein. »Ich meine, wie gefährlich sollen ein paar herumlaufende Büsche schon sein?«

»Ich habe das schreckliche Gefühl, daß wir es herausfinden werden«, sagte Owen. »Mond, versteht das richtig: Habt keine Hemmungen und schießt oder schneidet alles nieder, was euch nicht gefällt. Und versuchen wir mal, ein ordentliches Tempo vorzulegen, Leute. Mir gefällt die Vorstellung nicht, wie es hier im Dunkeln zugehen könnte. Und nur für den Fall, daß Ihr Euch fragt: Ja, alle Lampen sind im Schiff zurückgeblieben.«

»Irgendwie überrascht mich das nicht«, sagte Hazel. »Gott, ich hasse Regen!«

Sie folgten Oz’ gemurmelten Richtungsangaben in den regennassen Purpurwald hinein und wehrten sich dabei gegen den Impuls, zu dem Vegetationshaufen zurückzublicken, der ihr Schiff enthielt. Die Sonnenschreiter II war ihre letzte Verbindung zum zivilisierten, technisierten Imperium gewesen. Von jetzt an waren sie auf sich allein gestellt. Schutz war nur wenig zu finden, denn der Regen tropfte gnadenlos von jeder verfügbaren Oberfläche. Alle waren sie bald naß bis auf die Haut, und das Wasser quatschte mit jedem Schritt in ihren Stiefeln. Das Haar klebte allen im Gesicht, und sie mußten immer wieder blinzeln, um den Regen aus den Augen zu bekommen. Der Boden war überwiegend aus Schlamm, zwar an manchen Stellen flachgedrückt und komprimiert, daß er beinahe wie Fels wirkte, aber dann konnte er sich wieder ohne Vorwarnung in zentimetertiefen Brei verwandeln, in dem die Gruppe ausrutschte, wenn sie schon nicht über freiliegende Wurzeln oder diverse Arten kriechender Reben- oder Efeugewächse stolperte.

Es war ein ständiger Kampf, mehr Tempo vorzulegen als das eines langsamen Marsches, und der gnadenlose Regen prügelte auf sie ein wie ein schwacher, aber hartnäckiger Schläger.

Nach einer Weile zog Owen die Jacke aus und formte daraus eine improvisierte Kapuze. Das bedeutete, daß er nun nicht mehr nur naß war, sondern auch noch fror, aber es brachte doch eine Erleichterung mit sich, die es lohnend erscheinen ließ. Die übrigen folgten bald seinem Beispiel, von Mond abgesehen, dem der Regen überhaupt nichts ausmachte und der nicht verstehen konnte, warum die anderen verdrossen reagierten, wenn er das aussprach.

Der Dschungel breitete sich in allen Richtungen aus, soweit sie im peitschenden Regen sehen konnten. Dunkle Baumstämme ragten hunderte Fuß weit auf, und die Zweige waren schwer von gekräuselten Blättern, die die Farbe von Blut aufwiesen. Owen griff nach oben und berührte eines der Blätter, nur um laut zu fluchen, als die gezackte Kante seine Fingerkuppe aufschnitt wie mit einem Messer. Er packte das Blatt mit Nachdruck und stellte überrascht fest, daß es dick und breiig war und sich unangenehm warm anfühlte. Er ließ es los und saugte nachdenklich am verletzten Finger, wobei er Hazels beißende Bemerkungen mit der Leichtigkeit langer Übung ignorierte.

Owen war zunehmend überzeugt, daß der Dschungel ein gewisses Maß an Bewußtsein besaß, falls er nicht regelrecht intelligent war, und genau wußte, daß ihn Eindringlinge durchquerten. Blätter raschelten, wenn die Gruppe sich näherte, und wurden wieder still, wenn sie vorbeigegangen war. Reben schlängelten sich langsam um die Baumstämme wie träumende Schlangen, und hohe Stengel wandten sich der Gruppe zu, wenn sie vorbeiging, und zitterten erregt, bis wieder sichere Distanz bestand. Owen konnte auch nicht umhin festzustellen, daß mindestens die Hälfte der Vegetation den übrigen Teil langsam, aber entschlossen zu jagen schien.

Der erste Angriff kam für alle überraschend. Lange Ranken mit zentimeterlangen Dornen peitschten plötzlich von allen Seiten gleichzeitig heran, und das mit unerwarteter Kraft und Schnelligkeit. Die Dornen schlugen die Gestrandeten blutig, und die Ranken bemühten sich mit elastischer Beharrlichkeit, sich um ihre Beute zu wickeln. Scharfe Schwertschneiden teilten sie jedoch mühelos, und die tropfenden Reste zuckten wieder zurück. Weitere Ranken attackierten von oben, aber die Gruppe hielt stand und hackte um sich, bis sich die zerfetzten Überreste der Pflanzen zurückziehen mußten. Owen zog den Disruptor und pustete eine der Stellen weg, aus der die Ranken anscheinend gekommen waren. Die anderen folgten seinem Beispiel, und wenig später brannten ein halbes Dutzend kleine Feuer ringsherum. Ein Beben und Rascheln lief durch das Laubwerk der Umgebung, aber das, was von den Ranken übrig war, gab keine weitere Angriffslust zu erkennen.

Owen steckte die Waffe weg und betrachtete seine Gefährten. »Jemand schlimm verletzt?«

»Nur Kratzer«, antwortete Hazel. »Verdammt, waren diese Dinger schnell!«

»Sollten wir etwas gegen die Brände unternehmen?« fragte Mond. »Vielleicht breiten sie sich aus…«

»Sollen Sie«, sagte Mitternacht und wischte sich Blut von einem Schnitt im Gesicht, der einem Auge gefährlich nahe gekommen war. »Verfluchte verräterische Dinger! Sollen sie ruhig brennen.«

»Der Regen müßte sich um die Feuer kümmern«, sagte Owen. »Und das Laub ringsherum scheint zu naß, um Feuer zu fangen. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß es Siedlungen der Kolonisten in nicht allzu großer Entfernung geben könnte.

Falls Ihr also die Schußwaffen benutzen müßt, dann zielt sorgfältig.«

»Jawohl, Anführer«, sagte Bonnie. »Ich bin sicher, das wäre keinem von uns eingefallen. Wie sind wir nur je zurechtgekommen, ehe wir dir begegneten?«

Owen kümmerte sich nicht darum und gab Mond einen Wink, daß er weiter vorausgehen sollte.

Der langsame Marsch nahm seinen Fortgang, und sie schleppten sich durch immer tieferen Matsch, bis ihnen vor lauter Anstrengung die Beine weh taten. Mond behandelte alles weiterhin als kleinen Ausflug, blieb immer wieder stehen, hob irgendeine unbekannte Pflanze an, verglich sie mit dem Inhalt seiner Datenbänke und verkündete glücklich, da sie noch nicht offiziell identifiziert sei, sei er berechtigt, ihr einen Namen zu geben. Leider hatte das meist mit ausgewalzten lateinischen Wendungen zu tun, die niemand außer Mond zu verstehen oder zu würdigen vermochte, so daß er nach einigen gezielten Morddrohungen durch gewisse Mitglieder der Gruppe seine Begeisterung für sich behielt und schweigend alles studierte, was nicht schnell genug davonschrumpfte.

In Anbetracht der allgemeinen Dichte des Dschungels und der Art, wie alle Pflanzen hier um jeden Quadratzoll Licht und Regen kämpften, hatte Owen damit gerechnet, sich den ganzen weiteren Weg mit dem Schwert freihacken zu müssen. Seit dem Zwischenfall mit den Dornenranken schien sich der Wald jedoch richtig Mühe zu geben, um vor ihnen langsam einen Weg freizugeben. Owen dachte erneut darüber nach, welchen Grad an Bewußtsein der Dschungel womöglich hatte. Er diskutierte das Thema mit Oz, der mit einem anhaltenden Vortrag darüber reagierte, was über das pflanzliche Leben von Lachrymae Christi bekannt war. Das meiste war monumental langweilig, und Owen blendete es weitgehend aus, bis etwas Merkwürdiges seine Aufmerksamkeit weckte.

»Warte mal, Oz, spule ein Stück zurück. Hier gibt es überhaupt keine Insekten? Bist du sicher?«

»Völlig sicher. Wie sonstiges tierisches Leben fanden sie hier nie einen Anfang. Die Pflanzen sind auf allen Ebenen so aggressiv, daß keine anderen Lebensformen je eine ökologische Nische fanden.«

»Aber falls es keine Insekten gibt, und soweit ich sehe, auch keine Blumen… wie sind dann Befruchtung und Fortpflanzung möglich?«

»Nun, jedenfalls hat sie nichts mit den Blumen und den Bienen zu tun. Sieh mal nach rechts, etwa vier Uhr.«

Owen sah hin und entdeckte zwei große Massen Laub, die sich gemeinsam hin und her wiegten. »Warte mal! Tun sie das, was ich denke, daß sie tun?«

»Ich fürchte, ja. Du solltest dich glücklich schätzen, daß du nicht in der Brunftzeit eingetroffen bist. Möchtest du wissen, wie es die Bäume tun?«

»Nein!«

»Paßt zu dir. Du hast in gewisser Hinsicht ein wirklich behütetes Leben gehabt, Owen.«

Die KI fuhr mit Erläuterungen fort, wie der Regen durch den Boden sickerte und schließlich in riesigen unterirdischen Seen landete, die das gewaltige Wurzelwerk des Dschungels speisten. Owen fuhr damit fort, nicht richtig hinzuhören.

Sie schleppten sich circa eine weitere Stunde lang dahin, wurden immer nasser und fühlten sich immer elender, ehe der Dschungel sich wieder gegen sie wandte. Sie waren in eine richtige Zockelroutine verfallen und folgten dabei dem Weg, der sich ständig vor ihnen öffnete, bis Oz darauf hinwies, daß sie dieser Weg langsam, aber sicher vom Kurs abbrachte.

Owen schrie, daß sie stehenbleiben sollten, und alle fuhren aus der Benommenheit hoch und hielten die Disruptoren schußbereit. Owen beruhigte sie und erläuterte die Lage. Er übernahm die Führung, damit er den Direktiven, die er von Oz erhielt, möglichst präzise folgen konnte. Als er jedoch versuchte, vom Weg abzuweichen, verklumpte sich das rote Laub hartnäckig vor ihm und bildete eine dicke, zerfranste Wand. Owen zog das Schwert und hieb mit aller Kraft in diese Wand, aber wie zuvor blieb die Klinge an den Blättern kleben und begrenzte damit den Schaden, den er anrichten konnte. Er riß das Schwert heraus, trat zurück und eröffnete das Feuer mit dem Disruptor. Der Energiestrahl brannte einen schmalen Tunnel durch die Pflanzenwand, der gesäumt war von geschwärzten und brennenden Rändern. Aber sobald Owen wieder vortrat, schlossen sich die versengten Seiten wieder wie eine bedächtig zuschnappende Fußangel.

»Hartnäckig, was?« fragte Hazel. »Der Dschungel möchte wirklich nicht, daß wir von dem Weg abweichen, den er für uns öffnet.«

»Vielleicht verbirgt er etwas«, überlegte Mitternacht. »Irgendeine Stelle, wo er verwundbar ist.«

»Kleine Babydschungelwesen?« fragte Bonnie. »Sind wir vielleicht unerlaubt in ein Kinderheim eingedrungen?«

»Wie lange brauchten wir, um es zu umgehen, was immer es ist?« fragte Mond und sah Owen an.

Owen konsultierte Oz und schüttelte den Kopf. »Das hängt davon ab, eine wie große Fläche der Dschungel schützt. Testen wir mal aus, wo die Umgrenzung verläuft. Falls wir das Gefühl haben, daß es zu lange dauert, dann sehen wir mal, wie weit wir mit Sprengstoffen kommen. Ihr habt doch welche dabei, nicht wahr, Hazel?«

»Ich gehe nie ohne welche aus dem Haus«, erklärte Hazel munter.

Owen führte die Gruppe vorsichtig um die blockierte Zone, die Schußwaffe in der Hand, und hielt sorgfältig nach Fallen oder Hinterhalten Ausschau. Jetzt mußte er wirklich über die Möglichkeit nachdenken, daß Teile des Dschungels nicht nur Bewußtsein besaßen, sondern richtig intelligent waren. Er versuchte sich vorzustellen, was für schläfrige, träge Gedanken eine Pflanze wohl haben mochte, und war nicht erstaunt, als er feststellte, daß seine Phantasie hier versagte.

Eine gute halbe Stunde ging es so weiter, bis ihm klar wurde, daß etwas nicht stimmte. Von dem Laub abgesehen, das vor ihm zurückwich und einen Weg freigab, bewegte sich nichts im Dschungel. Keine Rebe, kein Zweig, kein Blatt. Er blickte angestrengt in das endlose Dämmerlicht, bemüht, den dichten Wald und den unaufhörlichen Regen zu durchdringen, aber alles blieb reglos und lautlos. Die einzigen Geräusch erzeugten die Mitglieder der Gruppe, wenn sie mit den Stiefeln durch den Matsch liefen, sowie der stetig prasselnde Regen. Owen packte den Disruptor fester. Seine Instinkte brüllten, er würde in eine Falle tappen, aber er sah einfach nichts Gefährliches oder gar Bedrohliches. Falls überhaupt etwas, dann schien der Weg vor ihm breiter als sonst. Trotzdem setzte ihm ein Gefühl unmittelbar bevorstehenden Unheils zu. Hazel trat neben ihn.

»Du spürst es auch, nicht wahr?« fragte sie leise.

Er nickte. »Der Dschungel behält uns im Auge. Er plant etwas.«

»Intelligente Pflanzen«, sagte Hazel. »Unheimlich. Würde es helfen, wenn ich mich für all die Salate entschuldigte, die ich im Leben verspeist habe?«

Owen lächelte kurz. »Ich bezweifle es. Seht Ihr irgendwas?«

»Überhaupt nichts. Was tun wir jetzt?«

»Wir gehen weiter und halten uns bereit zu reagieren, wann immer und womit auch immer er losschlägt. Wir haben gegen Hadenmänner und Grendels gekämpft. Ich glaube nicht, daß ein Haufen Pflanzen etwas auf uns schleudern kann, womit wir nicht fertig würden.«

»Du wirst wieder großspurig, Todtsteltzer«, fand Hazel.

Während sie noch redeten, gab der Boden unter ihnen nach.

Owen stieg der Magen hoch, als er im Schlamm versackte und dabei keinen, Grund mehr fand. Er tastete nach irgendwas, woran er sich festhalten konnte, aber die umgebende Vegetation hatte sich außer Reichweite zurückgezogen. Da war nur noch der Schlamm, dick und beengend, der ihn nach unten saugte. Seine Gefährten schrien ringsherum, und soweit er erkennen konnte, waren sie so schlimm dran wie er. Der Matsch setzte sich in Bewegung, rotierte wie ein in Zeitlupe tätiger Strudel. Owen steckte bereits bis zur Taille darin und sank weiter. Er kämpfte darum, aufrecht zu bleiben, und versuchte sich zu erinnern, wie man sich in Treibsand verhalten mußte. Angeblich konnte man darin schwimmen, wenn man die Nerven behielt, aber als Owen die Beine bewegen wollte, reagierten sie kaum. Der Schlamm erstickte seine Bewegungen mühelos, war dickflüssig und zäh und bitterkalt.

Die Geschwindigkeit des Schlammwirbels nahm fortlaufend zu – ein Strudel aus Schlamm und Gras und loser Vegetation von fast sieben Metern Durchmesser, der gnadenlos gegen den Uhrzeigersinn rotierte und alles in der Umgebung mit hereinzog, wie ein langsamer, entschlossener Fleischwolf. Owen versuchte sich zu orientieren, was den Gefährten widerfuhr, aber der Schlamm hielt ihn fest, kroch jetzt den Bauch hinauf zur Brust. Er streckte die Arme hoch, fand aber nichts, woran er sich hätte festhalten können. Ein großer, saugender Abfluß öffnete sich jetzt im Zentrum des Wirbels und zog alle heran.

Owen hörte die anderen rufen, aber die Worte ergaben für ihn keinen Sinn. Sein ständiger Kampf um die aufrechte Haltung und darum, das Gesicht über dem Matsch zu halten, erschöpfte ihn allmählich und erwies sich als völlig zwecklos. Das Herz klopfte heftig, und Panik drohte ihn zu überwältigen. Im Schlamm zu versinken galt als wirklich grausige Todesart.

Er spürte beinahe schon die dicke, weiche Masse, wie sie sich in seine Lunge vorarbeitete, als er nach Luft schnappte, ohne welche zu bekommen…

Er holte tief Luft und zwang sich, wieder ruhiger zu werden.

Er mußte alle Möglichkeiten durchgehen, auf einen Ausweg kommen, oder er war ein toter Mann. Er reckte den Hals und sah, wie Hazel mit aller Kraft gegen den Matsch ankämpfte. Er war ihr schon über die Brust gestiegen. Mond hatte aufgehört, sich zu wehren, und sein Gesicht war ruhig. Owen konnte Bonnie und Mitternacht nicht sehen. Er hoffte, daß sie nicht schon verschluckt worden waren. Entscheidend war, daß keiner der anderen ihm helfen konnte. Er mußte es selbst tun. Der Schlamm wurde ständig kälter und entzog ihm die Körperwärme. Inzwischen klapperte Owen mit den Zähnen. Er wurde unerbittlich weiter zum Abfluß gesaugt, und Schlamm und Gräser wirbelten immer schneller. Owen wußte nicht, wo der Schlamm landete, sobald er durch den Abfluß gesaugt war, aber er glaubte nicht, daß es ihm viel Freude bereiten würde, es aus erster Hand zu erfahren.

Er versuchte, seine Labyrinthkräfte wachzurufen, konnte aber die Gedanken nicht ausreichend beruhigen. Er versuchte, nach dem umgebenden Laubwerk zu packen, hielt Ausschau nach etwas, wonach er greifen konnte, aber alles war ein gutes Stück außer Reichweite. Denk nach, denk nach! Falls er das Laub nicht erreichte, schaffte er es jedoch vielleicht, es heranzuholen… Er hatte immer noch den Disruptor in der Hand und hielt ihn hoch, um ihn vor dem Schlamm zu schützen. Er zielte sorgfältig und schoß einem nahestehenden Baum ganz unten mitten in den Stamm.

Der Energiestrahl durchschlug den Stamm glatt, und der Baum kippte langsam über den Strudel, da die Reste des zersplitterten Stamms und die Wurzeln den Sturz bremsten. Der rotierende Matsch führte Owen im Kreis herum, so daß er heftig an den Baum krachte. Der Aufprall preßte ihm die Luft aus den Lungen, aber er klammerte sich mit beiden Händen an den Stamm und hielt sich so an Ort und Stelle fest, sogar gegen den stetigen Zug und Druck des Schlamms. Die Gefährten wurden ebenfalls an den Baum herangetrieben und hielten sich daran und aneinander fest. Danach war es nur noch eine Frage der Kraft und Entschlossenheit, sich am Stamm entlang auf festeren Boden zu schleppen. Sie krochen bis auf sichere Distanz zum Strudel, warfen sich auf den Rücken und überließen es dem Regen, den Schlamm von ihnen zu spülen. Eine Zeitlang blieben sie liegen, um wieder zu Atem zu kommen. Schließlich überwand sich Owen und stand auf. Er schlug sich Schlammreste von Beinen und Taille herunter und bedachte den langsamer werdenden Strudel mit finsterem Blick.

»Das war kein Zufall«, behauptete er kategorisch. »Man hat uns hierhiergeführt. Der Dschungel wollte uns loswerden. Er muß eine Art Bewußtsein haben, das die Pflanzen koordiniert gegen alles einsetzen kann, was es als bedrohlich einstuft.«

Hazel setzte sich langsam auf. »Und wie sollen wir Sankt Beas Missionsstation erreichen, wenn der ganze verdammte Dschungel entschlossen ist, uns aufzuhalten?«

»Wir müssen einfach noch entschlossener sein als er«, erklärte Owen. Er besprach sich mit Oz, überzeugte sich von der korrekten Himmelsrichtung und schoß mit dem Disruptor einen Weg ins Laub. Er wartete, bis die Purpurvegetation den Weg wieder zugewuchert hatte, borgte sich Hazels Disruptor und schoß erneut an dieselbe Stelle. »Von jetzt an schießen wir uns abwechselnd den Weg frei, so daß sich die Disruptoren nacheinander immer wieder aufladen können, und helfen notfalls noch mit Sprengstoff nach, bis der Dschungel uns zu respektieren gelernt hat und uns gestattet, unser Ziel selbst zu bestimmen.«

Letztlich erwies es sich als genau so einfach. Der Dschungel hatte es schließlich satt, immer wieder angezündet zu werden, und ging von neuem dazu über, einen Weg für die Gruppe freizugeben – in die gewünschte Richtung. Die scharlachrote und purpurrote Vegetation zitterte eine Zeitlang wütend, wenn die Gefährten vorbeikamen, zeigte aber kein bedrohliches Verhalten mehr, Owen ging weiter vorn, die Waffen einsatzbereit, und überprüfte den Weg auf Fallen. Es regnete weiter, und alle zitterten vor Kälte. Jeder normale Menschen hätte inzwischen ernste Schwierigkeiten gehabt, wäre durch die sinkende Körpertemperatur vom Schock bedroht gewesen, aber alle fünf hatten das Labyrinth des Wahnsinns durchschritten. Mond war obendrein Hadenmann.

Unterwegs informierte Owen, nicht zuletzt zur eigenen Ablenkung, Bonnie und Mitternacht über die Geschichte Sankt Beas und ihrer Mission. Als die Rebellen schließlich den Krieg auf Technos III gewonnen und den Kämpfen ein Ende bereitet hatten, fand die Oberste Mutter Beatrice, daß sie dort nicht mehr gebraucht wurde. Sie kehrte nach Golgatha zurück und machte sich daran, die etablierte Kirche neu aufzubauen, indem sie alle politischen und korrupten Elemente hinauswarf. Es war keine leichte Aufgabe, die quasimilitärische Organisation der Kirche von Christus dem Krieger in die pazifistische Kirche von Christus dem Erlöser zu verwandeln, aber der Heiligen von Technos III half dabei, daß sie eine Unmenge Anhänger in der Öffentlichkeit hatte, nicht zuletzt aufgrund der Dokusendungen, die Toby Shreck von ihrer Arbeit im Schlachthaus-Feldhospital von Technos III angefertigt hatte. Außerdem wünschte die Mehrheit in der Kirche den Wechsel. Die meisten, die gern Einwände erhoben hätten, waren bei der Rebellion umgekommen oder standen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht.

Nachdem Mutter Beatrice dieses Wunder vollbracht hatte, mußte sie feststellen, daß sie von aller Welt als Heilige gefeiert wurde, besonders von den Medien, was sie sehr verstörte. Sobald die neue Kirche auf festem Fundament stand, legte sie daher die Leitung nieder und ging nach Lachrymae Christi, um die Leprakranken zu betreuen, die sie mehr brauchten als irgend jemand sonst… und vielleicht auch, weil es möglicherweise der einzige Ort war, wohin ihr die Medien nicht folgen würden.

Vor ihrem Engagement hatte man die Leprakranken einfach dort abgesetzt, wo das Schiff jeweils landete, und sie ihrem Schicksal überlassen. Versorgungsschiffe kamen nur selten.

Sankt Bea veränderte das alles. Sie nutzte ihren Einfluß und ihre Verbindungen, um auf regelmäßiger Basis Lebensmittel und Technik und Medikamente zu erhalten, und entwickelte ihre Missionsstation zu einem geistigen und gesellschaftlichen Zentrum für die gesamte Bevölkerung aus Leprakranken. Und alles ging gut. Bis die Hadenmänner kamen. Aufgerüstete Schlangen im Paradies.

»Ich will verdammt sein, wenn ich das hier als Paradies bezeichnen würde«, warf Hazel ein. »Warum hat sie sich an dich gewandt, Owen, und nicht an mich? Oder an Jakob und Ruby?«

»Anscheinend sind Jakob und Ruby irgendwo auf einem eigenen Einsatz. Und sie dachte wahrscheinlich, ich wäre leichter… ansprechbar.«

»Doch sicher eher eine weiche Stelle.«

Owen lächelte und zuckte die Achseln. »Mein Leben ist schon hart genug, ohne auch noch Gott gegen mich aufzubringen.«

»Ich hatte dich nie wirklich als religiös betrachtet«, sagte Hazel. »Du hast deinerzeit gegen ausreichend Gebote verstoßen.«

»Ich bin das, was das Imperium aus mir gemacht hat«, erklärte Owen. »Ich wurde dazu erzogen, zuvörderst an die Familien zu glauben, als zweites an den Eisernen Thron, und falls ich mal Zeit fand, auch an Gott. Von all dem ist mir allerdings nur der Glaube an Gott geblieben. Ich denke mir gern, daß Jemand dort draußen über alles wacht und sich um alles sorgt.« Er blickte Hazel an. »Wie ist es bei Euch?«

»Ich glaube an hartes Geld und eine geladene Schußwaffe«, antwortete Hazel forsch, und Bonnie und Mitternacht nickten mehr oder weniger einträchtig. Hazel hätte es gern dabei belassen, aber sie bemerkte, daß Owen mehr hören wollte. »Ich führe mein Leben nach eigenen Regeln und hatte immer Probleme mit Gestalten, die für Autorität stehen. Falls etwas auf dieses Leben folgt, dann setze ich mich damit auseinander, wenn es soweit ist. Was Sankt Bea angeht – in Ordnung, sie hat viel Gutes getan. Das haben wir jedoch auch. Sie hat Menschenleben in ihrem Krankenhaus gerettet, und wir haben ganze Planeten gerettet, indem wir die richtigen Leute umgebracht haben.

Wer hat letztlich mehr bewirkt?«

»Sankt Bea ist eine echte Heldin«, erklärte Owen entschieden. »Sie tut das alles freiwillig. Eine Aristo, die auf alles verzichtet hat, um für die Bedürftigen zu sorgen. Wir hingegen wurden in die Rebellion hineingezogen, und das mit äußerstem Widerwillen. Als sie mich dann um Hilfe bat, konnte ich einfach nicht nein sagen. Und wie lohnt es mir Gott? Indem mein Schiff abstürzt und ich in einer Leprakolonie gestrandet bin.

Vielen Dank auch, Großer.«

Hazel musterte Bonnie und Mitternacht. »Habt ihr in euren Universen auch jemanden wie Sankt Bea?«

»Nee«, antwortete Bonnie. »Die Kirche ist nach der Rebellion auseinandergefallen, und im Grunde hat sich nichts anderes an ihre Stelle setzen können. Wir leben in den Tag hinein und überlassen es der Ewigkeit, für sich selbst zu sorgen.«

Mitternacht rümpfte abschätzig die Nase. »In meinem Imperium hat die Kirche nach der Rebellion eine neue Rolle gefunden. Jeder ist heute Mitglied in der Kirche von Christus dem Krieger, aber es ist mehr ein mystischer Orden als eine Religion. Jeder wird von Kindesbeinen an zum Krieger erzogen. Die Menschen werden nie wieder schwach sein. Wir haben keinen Platz für Heilige, für Schwächlinge oder Duckmäuser – für alle, die nicht genug Glauben haben, um für das Richtige zu kämpfen.«

»Ich sehe schon, daß Ihr und die Oberste Mutter eine Menge zu besprechen haben werdet«, sagte Owen, und Hazel nickte ernst. »Wie steht Ihr zu all dem, Mond?«

»Die Hadenmänner glauben an die Kirche des Genetischen Kreuzzugs. An die Möglichkeit, den Menschen zu vervollkommnen. Daran, daß der Mensch schließlich zum Gott wird.

Ich weiß nicht mehr recht, was ich persönlich noch glaube. So viel hat sich verändert, seit ich das Labyrinth des Wahnsinns durchschritten habe. Ich bin dort mit etwas in Berührung gekommen, das viel größer war als ich, aber ob es das Labyrinth selbst war oder etwas, womit mich das Labyrinth in Verbindung brachte… Und danach bin ich gestorben und wurde ins Leben zurückgerufen. Meine Gedanken, meine Erinnerungen, mein… Selbst hätten für immer verloren sein müssen, aber hier bin ich! Ich kann mich nicht an den Zustand des Todes erinnern. Owen, Ihr sagtet, ich hätte mit Euch gesprochen, sogar nachdem mich der Grendel getötet hatte.«

»Das habt Ihr«, beharrte Owen. »Ich hörte Eure Stimme, tief in den Höhlen der Wolflingswelt. Ihr nanntet mir die korrekte Öffnungssequenz, um die Gruft der Hadenmänner zu öffnen.

Ohne das… wäre alles anders verlaufen.«

»Dann habe auch ich etwas mit der Obersten Mutter Beatrice zu besprechen«, sagte Mond. »Selbst wenn es nur die wahre Natur der Schuld ist. Ich interessiere mich für ihre Antworten.«

»Jetzt mal langsam«, warf Bonnie ein. »Bitte ein Stück zurückspulen. Ich denke, ich habe da irgendwas nicht mitbekommen. Warum zum Teufel möchten die Hadenmänner diesen verdammten Planeten überhaupt erobern? Ich meine, hier gibt es keine Tech, keine Mineralvorkommen, nur Pflanzen mit bedenklicher Einstellung und Kolonisten, die ihre Finger nachzählen müssen, wenn sie jemandem die Hand geschüttelt haben. Warum sollten die Hadenmänner hier Truppen und Ressourcen vergeuden? Mond, hat dieser Planet irgendeine strategische Bedeutung für die Hadenmänner?«

»Nicht, daß ich wüßte«, antwortete Mond. »Die Kolonisten sind nicht als Material für neue Hadenmänner geeignet, und der Planet kommt weder für eine Basis noch für ein Nest in Frage.

Ich kann nur vermuten, daß es hier etwas Einzigartiges gibt, hinter dem sie her sind, was wir aber bislang nicht kennen.«

»Nun, falls wir hier über Einheiten der Invasionstruppen stolpern, versucht, wenigstens einen am Leben zu lassen«, sagte Owen. »Ich halte ihn dann fest, und Hazel kann ihm Fragen stellen.«

»Ich habe auch eine Frage an Sankt Bea«, sagte Hazel.

»Nämlich, was zum Teufel wir fünf gegen eine ganze Invasionsarmee ausrichten sollen, und das auch noch ohne Schiff, ohne Waffen, ohne Unterstützung.«

»Vielleicht hofft sie auf ein Wunder«, sagte Owen.

Letztlich kostete es sie einen Tag und eine Nacht und den größten Teil des nächsten Tages, Sankt Beas Missionsstation zu erreichen – eine Zeit, die sie damit zubrachten, sich durch den Dschungel und den Matsch und den Regen zu kämpfen. Sie tranken Wasser von stehenden Teichen, auf die sie zuzeiten trafen. Es schmeckte brackig, und alle bekamen davon einen leichten Anflug von Renneritis, aber wenigstens konnten sie es unten behalten. Beim Herumprobieren, welche Pflanzen im Dschungel gefahrlos eßbar waren, hatten sie weniger Glück.

Das meiste kam ihnen gleich wieder hoch und schmeckte dabei doppelt so schlecht wie eben noch. Richtigen Schutz vor dem Regen gab es nicht, und so verbrachten sie die Nacht, indem sie elend um einen Baum herumsaßen und zu schlafen versuchten. Als sie endlich die Mission erreichten, waren sie müde, durchgefroren, hungrig und sehr naß.

Eine Vorwarnung erfolgte nicht. Eben noch zwängten sie sich durch eine weitere Folge dichtstehender Bäume, und im nächsten Augenblick fanden sie sich auf einer ausgedehnten Lichtung wieder, die Missionsstation in der Mitte. Auf etwa sieben Meter freien Geländes folgte eine hohe Holzwand, die die Außengrenze der Station markierte. Die Palisade mußte aus enggepackten schwarzen Baumstämmen bestehen und wirkte beruhigend solide. Die eigentliche Missionsstation hatte die

Ausmaße eines kleinen Dorfs. Lange, schräge Holzdächer bedeckten alles in der Siedlung. Ein einzelnes Tor begrüßte die Gefährten, etwa vier Meter hoch und drei breit, flankiert von hölzernen Wachttürmen. Eindeutig eine Welt mit geringem technischem Entwicklungsstand, dachte Owen. Es wäre mir zuwider, wenn ich miterleben müßte, was eine Disruptorkanone mit dieser Wand anstellt. Es wäre mir zuwider, wenn ich nachsehen müßte, was sie hierfür sanitäre Anlagen haben.

Owen trat auf die Lichtung hinaus, und die Posten auf den Wachttürmen entdeckten ihn sofort und gaben Alarm. Er führte seine Gefährten langsam über die offene Fläche. Bewaffnete erschienen auf einem Steg, der sich an der Oberseite der Palisade entlangzog. Es waren Gestalten in Mantel und Kapuze, einige mit Energiewaffen ausgerüstet, die meisten mit Pfeil und Bogen. Owen empfand keinerlei Verachtung für die Bögen.

Ein Pfeil konnte einen Menschen ebensogut umbringen wie alles andere, wenn er die richtige Stelle traf. Owen brummte seinen Gefährten zu, sie sollten die Hände deutlich auf Distanz zu den eigenen Waffen halten, und behielt die Wachleute auf den Türmen selbst im Auge. Einer richtete etwas auf die Neuankömmlinge, was ein Fernrohr zu sein schien. Hoffentlich beruhigten sich die Bewaffneten auf der Palisade, sobald der Späher die Fremden als Menschen identifiziert hatte, nicht als Hadenmänner, aber Owen hielt sich trotzdem für alles bereit.

So müde er war, er blieb doch überzeugt, daß er einem Pfeil ausweichen konnte. Verdammt, er konnte wahrscheinlich dem Bogenschützen den Kopf von den Schultern schießen, ehe er die Sehne richtig gespannt hatte, aber Owen fand, daß er darauf doch lieber verzichten sollte. Es wäre eindeutig nicht die beste Möglichkeit gewesen, bei Sankt Bea einen guten ersten Eindruck zu machen. Mutter Beatrice, nahm er sich entschlossen vor. Sie mag es überhaupt nicht, wenn man sie Sankt Bea nennt. Seine Gruppe erreichte das Haupttor, ohne daß auf beiden Seiten ein Fall von nervösem Finger aufgetreten wäre, und Owen blickte zum linken Wachtturm hinauf und blinzelte durch den Regen.

»Owen Todtsteltzer und seine Gruppe sind hier auf Ersuchen der Obersten Mutter Beatrice Cristiana erschienen. Wie wäre es, wenn Ihr uns einlaßt, ehe wir hier draußen alle ertrinken?«

»Bleibt, wo Ihr seid«, meldete sich eine heisere Stimme vom Wachtturm. »Wir haben einen Boten zur Obersten Mutter geschickt. Sie wird Euch erst identifizieren müssen.«

»Sei nicht so ein Esel, Sohn«, war eine andere Stimme vom Wachtturm zu vernehmen. »Das ist wirklich der Todtsteltzer.

Habe sein Gesicht in einem Dutzend Holodokumentationen gesehen, ehe ich hierherkam. Er war ein Held der Rebellion.

Und das neben ihm ist Hazel D’Ark.«

»Das ist Hazel D’Ark?« fragte die erste Stimme. »O verdammt! Ist es nicht schon schlimm genug, leprakrank zu sein, auch ohne sie hier zu haben?«

Owen sah Hazel an. »Eure Reputation spricht sich herum.«

»Gut«, sagte sie. »Jetzt sag ihm, sie sollen endlich Tempo machen, oder ich trete ihr Tor ein und füttere sie mit den Angeln.«

»Ich habe das verstanden«, sagte die zweite Stimme. »Bitte laßt unser Tor in Ruhe. Es ist unser einziges. Wartet eine Minute, bis wir die Riegel zurückgezogen haben, dann lassen wir Euch ein. Die Oberste Mutter ist gleich hier, und es gibt warme Mahlzeiten und trockene Kleider für Euch alle.«

»Und eine Leine für Hazel D’Ark«, sagte die erste Stimme.

»Ich habe das verstanden!« rief Hazel.

Eine Pause trat ein. »Wißt Ihr, wer ich bin?« fragte die erste Stimme.

»Nein.«

»Dann, denke ich, belassen wir es dabei.«

Das Tor öffnete sich knarrend, während sich Hazel noch den Kopf nach einer passend verheerenden Antwort zerbrach. Alle Feindschaft war jedoch vergessen, als Owen und seine Gruppe in die Siedlung eilten, froh darüber, endlich aus dem Regen zu kommen. Hinter dem Tor lag ein weiträumiger Platz, der bereits halb mit Gestalten in Mantel und Kapuze gefüllt war, und weitere trafen ständig ein. Alle hatten die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, was sie einander unheimlich ähnlich und zu einer anonymen Masse machte. Sie erinnerten an eine Zusammenkunft etwas zerlumpter, grauer Gespenster. Owen stand tropfend vor ihnen und lauschte dem sehr erfreulichen und beruhigenden Klang des Regens, wie er aufs Dach trommelte. Er blickte sich langsam um, versuchte abzuschätzen, was ihn hier für ein Empfang erwartete, und dann hob die Menge die Stimme zu einem heiseren Jubel. Owen hörte ihn sich eine Zeitlang an. Er hatte durchaus das Gefühl, ihn verdient zu haben.

Schließlich hob er die Hand, und der Jubel brach so plötzlich ab, wie er eingesetzt hatte. Alle Kapuzen wandten sich ihm mit unheimlicher Vorfreude zu. Verdammt! dachte er. Sie möchten eine Ansprache hören!

»Es ist schön, endlich hier zu sein«, sagte er ganz ernst. »Die gute Nachricht lautet, daß Mutter Beatrice’ Hilferuf im Imperium gehört wurde. Die schlechte Nachricht lautet: Wir sind alles, was an Hilfe kommt. Das Imperium kämpft an einem halben Dutzend Fronten gleichzeitig ums Überleben und kann nicht mehr Kräfte erübrigen. Aber es ist ja schon bekannt geworden, daß Hazel und ich selbst die schwierigsten Probleme gelöst haben, und sobald wir mit Mutter Beatrice reden und uns wieder erholen konnten…«

»Ich bin hier«, sagte eine warme und doch unterschwellig gebieterische Stimme, und die Menge teilte sich, um der Obersten Mutter den Weg freizugeben. Die Menschen senkten tief die Häupter, wenn sie an ihnen vorüberging. Mutter Beatrice trug eine schlichte Nonnenkluft mit Schleier, nicht die viel eindrucksvolleren Roben, die sie mit ihrem Rang hätte tragen dürfen. Ein einfaches silbernes Kruzifix hing um ihren Hals und ein hölzerner Rosenkranz an einer Hüfte, wie eine Waffe im Halfter. Die Oberste Mutter war bleich und abgespannt, aber die dunklen Augen wirkten ruhig, und sie hatte einen entschlossenen Zug um den Mund. »Dank dem lieben Gott, daß Ihr endlich eingetroffen seid, Sir Todtsteltzer. Wir erwarten Euch schon seit einiger Zeit.«

»Jemand hat warmes Essen und trockene Kleider erwähnt«, sagte Owen.

»Natürlich«, sagte Mutter Beatrice. »Bitte folgt mir.«

Sie führte sie durch die Menge, die vor Owen und seiner Gruppe erneut die Köpfe senkte, aber nicht annähernd so tief wie zuvor für Sankt Bea. Auf die Freifläche folgte eine Reihe niedriger Häuser mit schmalen Gassen dazwischen. Im Zentrum erhob sich ein morsches Gebäude von den Ausmaßen einer Scheune, wie alles andere hier aus den einheimischen schwarzen Bäumen errichtet. Die Innenräume entpuppten sich als erstaunlich zivilisiert, mit allem üblichen Komfort, wenn auch nur wenig Luxus. Owen und Mond zogen ihre klatschnassen Sachen in einem Zimmer aus, während die Frauen in ein anderes geleitet wurden. Dicke, heiße Handtücher wurden gereicht, und Owen rubbelte sich forsch ab und stand dabei so dicht an dem offenen Feuer, wie es nur ging. Langsam strömte wieder Wärme durch ihn, und er streckte sich behaglich, in sich versunken wie eine Katze. Er hatte nicht geahnt, daß ein solches Wohlgefühl daraus resultieren konnte, einfach nur trocken zu sein und es warm zu haben.

Mond absolvierte seine Toilette mit stiller Gründlichkeit, ohne ein erkennbares Zeichen, daß er sie genießen würde. Die Tür ging auf, gerade weit genug, damit ein Arm zwei Garnituren schlichter, aber zweckmäßiger Kleidung hineinwerfen konnte, alles in Grau, gefolgt von den allgegenwärtigen Kapuzenmänteln. Der Arm zog sich zurück, und die Tür wurde wieder geschlossen. Owen suchte sich eine Garnitur zusammen.

Die Sachen erschienen ihm ausreichend robust, verrieten jedoch starken Gebrauch und häufiges Waschen. Mehr als ein Leprakranker hatte sie vor mir an, dachte Owen unbehaglich und bemühte sich, nicht zu überlegen, wie viele Menschen womöglich in diesen Kleidern gestorben waren. Er zuckte in Gedanken die Achseln und zog die Sachen an. Es war ja nicht so, daß er eine Wahl gehabt hätte.

Er blickte zu Mond hinüber, der noch dabei war, sich abzureiben. Metallimplantate waren überall auf seiner bleichen Haut deutlich zu sehen, aber das war es nicht, was Owens Aufmerksamkeit weckte. »Ah, Mond…«

»Ja, Owen?«

»Soweit ich gehört habe, sind alle Hadenmänner… geschlechtslos.«

»Ja«, bestätigte Mond. »Alle Geschlechtsteile werden entfernt, wenn ein Mensch zum Hadenmann wird.«

»Aber Ihr scheint einen vollen Satz von… na ja, allem zu haben.«

»Richtig«, sagte Mond. »Sie sind nachgewachsen. Ständig laufen in meinem Körper auch andere Veränderungen ab. Ich glaube, daß das Labyrinth des Wahnsinns dafür verantwortlich ist. Auf jeden Fall sind bestimmte Techimplantate verschwunden, vom Körper absorbiert. Ich scheine sie nicht mehr zu brauchen. Ich konnte nicht feststellen, daß meine allgemeine Effizienz darunter geritten hätte. Aber ich entwickle mich… zum Menschen hin.«

Und ich habe mir Sorgen gemacht, das Labyrinth könnte mich weniger menschlich machen, dachte Owen.

Owen und Mond gingen in den Gemeinschaftsraum hinüber, in dem sich die drei Frauen schon an einem tosenden Holzfeuer wärmten. Sie trugen ebenfalls die einfachen grauen Sachen, komplett mit Umhang und Kapuze, allerdings hatte Hazel ihren Rock hinten angehoben, um das Hinterteil besser am Feuer wärmen zu können. Sie grinste Owen unbekümmert an.

»Wie ich sehe, trägst du auch die Grundausstattung. Grau scheint dieses Jahr angesagt.«

»Ich hasse das Zeug«, verkündete Bonnie. »Welchen Sinn haben Tätowierungen und Piercing, wenn man sie dann nicht aller Welt zeigt?«

»Ich finde, es ist eine ungeheure Steigerung«, sagte Mitternacht. »Du hast mit deinem Körper Sachen angestellt, für die mir ein toter Hund zu schade wäre.«

»Du bist prüde!«

»Du bist pervers!«

»Na und?«

Owen bedachte Hazel mit hartem Blick. »Von allen Varianten, die Ihr hättet rufen können, mußtet Ihr Euch für diese beiden entscheiden…«

»Komm mir nicht in diesem Ton, Owen Todtsteltzer!

Schließlich hast du eine von ihnen geheiratet.«

Zum Glück ging in diesem Augenblick die Tür auf, und Mutter Beatrice trat ein. Sofort hielten alle den Mund und brachten so etwas wie ein höfliches Lächeln zustande. Mutter Beatrice lachte.

»Es geht doch nichts über eine Nonne, die ins Zimmer kommt, um ein Gespräch so richtig abzuwürgen. Macht Euch keine Sorgen; wenn man Beichtmutter einer Leprasiedlung ist, gibt es nicht mehr viel, was man noch schockierend findet. Ich fürchte, diese Sachen sind alles, was wir Euch an Kleidung anbieten können. Mehr liefert uns das Imperium nicht. Immerhin sind die Mäntel und die Kapuzen nützlich, um die Verwüstungen zu verbergen, die die Krankheit in den späten Stadien bewirkt. Die meisten Kolonisten bleiben äußerlich weitgehend unbeeinträchtigt, aber sie tragen die Kapuzenmäntel als Zeichen der Solidarität. Ein paar stellen ihre Deformierung zur Schau, aber das ist nur ein Flehen um Aufmerksamkeit. Laßt Euch davon nicht erschüttern.« Sie musterte Mond ausgiebig und wandte sich dann Owen zu. »Ihr hättet mir sagen sollen, daß Ihr einen Hadenmann mitbringt. Ich habe keine Einwände gegen ihn, aber meine Leute haben sehr unter den Aufgerüsteten gelitten. Ich kann nicht für seine Sicherheit garantieren.«

»Ist schon in Ordnung«, sagte Hazel. »Wir garantieren für seine Sicherheit, indem wir jedem in den Hintern treten, der ihn auch nur komisch ansieht.«

»Das ist Tobias Mond«, stellte Owen ihn vor. »Er hat sich gegen sein Volk gewandt und auf die Seite der Menschheit geschlagen.«

»Ihr meint, daß er ein Verräter ist.«

»Nein, ich meine, daß er ein Freund ist. Wir haben gemeinsam viel durchgemacht. Wir alle bürgen für ihn. Das sollte reichen.«

»Es ist mehr als genug«, sagte Mutter Beatrice. Sie hielt Mond die Hand hin, und er schüttelte sie ernst. »Verzeiht, falls ich etwas kühl wirkte, Sir Mond. Ich bin einem Hadenmann noch nie gesellschaftlich begegnet.«

»Ist schon in Ordnung«, sagte Mond großzügig. »Ich bin noch nie einer Heiligen begegnet.«

Mutter Beatrice lachte kurz und schüttelte den Kopf. »Das seid Ihr immer noch nicht. Noch niemand hat einen Heiligen zu dessen Lebzeiten kennengelernt. Der Titel ist eher eine posthume Auszeichnung, verliehen von Menschen, die der tatsächlichen Person nie begegnet sind.« Sie musterte Hazel. »Wo wir von Reputation sprechen – ich habe viel über Euch gehört, Hazel D’Ark.«

»Man sollte nicht alles glauben, was man in den Holos sieht«, sagte Hazel unbehaglich.

»Oh, das tue ich auch nicht«, entgegnete Mutter Beatrice.

»Ihr solltet mal einige Dinge hören, die über mich gesagt wurden. Zuletzt vernahm ich, ich würde die gesamte Kolonie mit fünf Proteinwürfeln und fünf halben Litern destilliertem Wasser speisen. Schön wäre es! Ich bin keine Heilige, nur eine Nonne, die dorthin geht, wo man sie braucht. Vielleicht seid Ihr jetzt so freundlich und stellt mir Eure beiden Freundinnen vor, die mir, wie ich gestehen muß, nicht bekannt sind.«

»Oh, sicher«, sagte Hazel. »Die große Steroidsüchtige mit dem Metzgerbeil an der Hüfte ist Mitternachtsblau. Der SM-Freak ist Bonnie Chaos. Es sind… Kusinen von mir. Gute Kämpferinnen. Vielleicht bist du jetzt so freundlich und bringst uns über die aktuelle Lage auf den neuesten Stand. Man hat mir gesagt, sie wäre verzweifelt, aber wir sind kilometerweit durch den Dschungel gelaufen und haben keinen einzigen Hadenmann zu Gesicht bekommen.«

»Sie kommen und gehen«, berichtete Mutter Beatrice. »Die Gründe kennen wir nicht. Sie begannen mit Angriffen auf die äußeren Siedlungen, konzentrierten sich dann aber rasch auf diese Station. Wir sind die Kommunikationszentrale, der einzige Raumhafen und die Hauptverteilungsstelle. Wer immer die Missionsstation in der Hand hat, diktiert das Schicksal der Kolonie.

Dschungel und Wetter gestalten jedoch Angriffe aus der Luft und Verkehr am Boden schwierig, so daß die Hadenmänner zu Fuß anrücken müssen. Und obwohl zu jedem Angriff mehr von ihnen aufmarschieren, konnten wir sie bislang abwehren. Hochtechnologische Waffen halten hier nicht lange durch; der Regen sickert einfach überall hinein. Somit werden die meisten Kämpfe Hand gegen Hand, Stahl gegen Stahl ausgetragen.«

»Aber selbst unter diesen Bedingungen«, warf Owen ein, »stellt sich die Frage, wie eine einfache Palisadenfestung wie diese einer Armee von Hadenmännern standhalten konnte.«

»Mit wachsender Schwierigkeit. Der Dschungel schützt uns.

Die Hadenmänner müssen ihn durchqueren, wenn sie an uns heranmöchten, und das pflanzliche Leben hier war zwar schon immer ein wenig aggressiv, aber auf die Aufgerüsteten empfindet es einen regelrechten Haß. Jedesmal, wenn sie hier eintreffen, wurden sie erschöpft und zahlenmäßig ausgedünnt durch das, was der Dschungel ihnen in den Weg geworfen hat.

Und wir haben hier eine Anzahl richtiger Kämpfer. Einige gehörten der Marineinfanterie an, bis man bei ihnen Lepra diagnostizierte. Sie haben sich als gute Ausbilder erwiesen. Und zu uns gehören zwei Ruhmreiche Schwestern

»Verdammt!« sagte Hazel tief beeindruckt. »Ich würde auf zwei Ruhmreiche Schwestern wetten, selbst wenn sie einer Armee von Hadenmännern gegenüberstehen. Wie kommt es, daß sie hier sind?«

»Was denkt Ihr?« fragte Mutter Beatrice, und Hazel hatte immerhin den Anstand, ein wenig verlegen zu wirken.

Owen sah, wie Mond verdutzt die Stirn runzelte. »Sie sind eine neue Erscheinung aus der Zeit, in der Ihr tot wart. Die Ruhmreichen Schwestern sind Nonnen, die der Bruderschaft des Stahls der alten Kirche angehörten – ein halbmystischer Orden innerhalb eines Ordens, in allen Kampfkünsten ausgebildet. Die alte Kirche benutzte ihn als interne Polizei, als Geldeintreiber und um den Gottlosen eine höllische Furcht einzuflößen. Nachdem Mutter Beatrice die Kirche reformiert hatte, sahen sich die meisten Mitglieder der Bruderschaft mit Anklagen wegen Greueltaten, Massenmordes und massiver politischer Unkorrektheit konfrontiert. Und so formte die Oberste Mutter aus den wenigen Überlebenden die Ruhmreichen Schwestern und erteilte ihnen einen neuen Auftrag: Den Kämpfen ein Ende zu bereiten. Die Schwachen und die Bedürftigen zu schützen. Im Kampf zu sterben, damit andere leben können.

Die letzten Krieger einer pazifistischen Kirche, und als solche zieht der Orden… extremere Charaktere an.«

»Sehr diplomatisch ausgedrückt«, fand Mutter Beatrice.

»Tatsächlich handelt es sich meist um mörderische Bekloppte mit starken selbstmörderischen Tendenzen, und ich habe einen Ort gesucht, wo ich sie alle unterbringen und im Auge behalten kann. Zu meiner Überraschung erwiesen sie sich alle als sehr gut in dem, was sie tun. Ein bißchen zu sehr darauf erpicht, ihrer Sache als Märtyrer zu dienen, aber ich schätze, das bringt ihre Berufung nun mal mit sich. Ihr lernt sie ohnehin später noch kennen.«

»Oh, toll«, sagte Owen. »Zwei weitere Killerfrauen in meinem Leben. Genau das, was mir noch gefehlt hat.«

»Was war das?« fragte Mutter Beatrice. »Ihr solltet nicht nuscheln, Sir Todtsteltzer; das ist eine sehr ärgerliche Angewohnheit. Also, wir scheinen im Moment eine ruhige Phase zu erleben; warum macht Ihr alle dann nicht einen Spaziergang durch unsere kleine Gemeinde? Das wird die Moral der Leute fördern, und Ihr erhaltet einen Eindruck von den Menschen, die an Eurer Seite kämpfen werden. Und seid nicht zu nervös in ihrer Gesellschaft. Sie verlieren keine Teile, nur weil Ihr zu laut sprecht, und Ihr könnt Euch nicht anstecken, nur indem Ihr ihnen die Hände schüttelt. Es sind einfach nur Menschen. Ich schlage vor, Ihr trennt Euch und geht einzeln oder in Zweiergruppen; so wirkt Ihr weniger… einschüchternd. Es passiert nicht jeden Tag, daß lebende Legenden unter uns wandeln.

Seid in einer Stunde zurück, dann erwartet Euch hier eine warme Mahlzeit. Geht jetzt; ich muß meine Runde durch die Krankenstation drehen.«

Sanft, aber bestimmt scheuchte sie sie aus dem Gemeinschaftsraum und schloß die Tür hinter ihnen. Owen schüttelte langsam den Kopf.

»Das ist also Sankt Bea. Ich hatte eine von diesen Nonnen erwartet, wie sie mich in meiner Kindheit unterrichtet haben.

Ganz laute Stimme und steifer Hals und eine Teufelin mit dem stählernen Lineal.«

»Aus denen sind wahrscheinlich inzwischen Ruhmreiche Schwestern geworden«, meinte Hazel.

»Würde mich überhaupt nicht überraschen. Jetzt paßt mal auf, Leute: Vergeßt, was sie gesagt hat. Niemand zieht auf eigene Faust los. Wir wissen nicht genug über die hiesige Lage.

Ich denke zwar nicht, daß Sankt Bea uns anlügen würde, aber es könnte alle möglichen verdeckten Strömungen geben, von denen sie nichts ahnt. Also, Hazel und Mond, Ihr begleitet mich. Bonnie und Mitternacht, bleibt dich zusammen und achtet auf das, was hinter Eurem Rücken geschieht. Wir treffen uns in einer Stunde hier.«

»Er liebt es einfach, das Kommando zu führen«, erklärte Hazel Bonnie und Mitternacht, und sie nickten wissend.

»Gehen wir lieber, ehe er eine von seinen Ansprachen hält«, sagte Mitternacht, und sie und Bonnie zogen los, um sich mit einigen Leprakranken zu treffen.

Owen bedachte Hazel mit hochmütigem Blick. »Ich habe keine Ahnung, worüber Ihr geredet habt.«

Hazel grinste Mond an. »Das Problem ist, er weiß es wahrscheinlich wirklich nicht. Geht voraus, Sir Todtsteltzer, o Retter der Menschheit!«

Owen schniefte laut und ging los. Hazel folgte ihm lächelnd, und ein ziemlich verwirrter Mond bildete die Nachhut.

Bei Bonnie Chaos flippten die Leprakranken aus. Nur zu gern lüftete sie ihre Kleidung, um die Leute zu blenden, um ihre zahlreichen Piercings und anderen Körpermodifikationen zu zeigen, und rasch sammelte sich eine kleine, aber faszinierte Menge um sie. Nach einer Weile machten sich Bonnie und einige der kühneren Leprösen daran, Verstümmelungen zu vergleichen und sich damit gegenseitig zu übertrumpfen. Es wurde gekreischt und schockiertes Luftholen gemimt, und bald schwatzten alle miteinander, als würden sie sich schon seit Jahren kennen. Die Idee, daß sich jemand freiwillig schnitt und durchbohrte und modifizierte, faszinierte die Kolonisten. Sie fanden es einfach umwerfend, daß Bonnie auch noch stolz auf ihre Abweichungen von der Norm war. Nicht lange, und einige hingebungsvolle Schüler lagen ihr zu Füßen und überlegten sich, wo sie eigene Piercings anbringen sollten. Alles Fleisch ist schön, erklärte Bonnie entschieden. Alles kann man sexy aufmachen. Eine lebhafte Diskussion entbrannte über die Frage, ob man lieber totes Fleisch durchbohren sollte oder solches, in dem man noch Empfindung hatte. Bonnie empfahl nachdrücklich das zweite, um auch die volle Erfahrung zu machen.

Mitternacht stand still hinter Bonnie und bemühte sich angestrengt darum, über den erkennbaren Enthusiasmus der Leprakranken schockiert zu sein. Ihnen war nie zuvor in den Sinn gekommen, daß ihre Entstellungen gar nicht häßlich zu sein brauchten. Die Kranken zeigten sich zunehmend offener, während sie sich in Bonnies Gesellschaft entspannten. Mitternacht war entsetzt über das, was die Krankheit aus einigen ihrer Opfer gemacht hatte, gab sich aber Mühe, es nicht zu verraten.

Fehlende Finger und Zehen waren häufig, und einigen Kranken waren auch Nasen und Ohren abgefallen. Die Gliedmaßen waren immer zuerst an der Reihe. Viele Kranke hatten wunde Stellen und offene Verletzungen, die nicht heilten, teils verbunden, teils nicht. Bestimmte Medikamente halfen, die Entwicklung der Symptome zu bremsen, aber seit einiger Zeit war keine Lieferung mehr eingetroffen. Das Imperium benötigte alle Frachtschiffe für den Krieg, und selbst die Bitten einer Heiligen mußten hinter denen des Militärs zurückstehen.

Die wieder mal im Stich gelassenen Leprakranken weigerten sich aufzugeben. Sie gaben auf sich und aufeinander acht und bemühten sich um ein Leben, das so normal war wie möglich, während sie darum kämpften, zu einer Kolonie zu werden, die sich selbst versorgte. Zum ersten Mal wurden Kinder geboren, die meisten davon bislang frei von der Krankheit. Und zum ersten Mal bestand Hoffnung. Für die Zukunft, wenn schon nicht für den einzelnen.

Die Krankenstation der Mission nahm diejenigen auf, bei denen die Krankheit zu schlimm geworden war. Es war weniger ein Krankenhaus als eine Ruhestätte vor dem Ende für Menschen, die nicht mehr für sich selbst sorgen konnten. Die Oberste Mutter Beatrice leitete die Krankenstation. Die Opfer der Lepra konnten sie gar nicht genug preisen. Sie gab ihnen Hoffnung und Glauben und einen Grund zum Leben, wenn es doch so leicht gefallen wäre, sich einfach hinzulegen und zu sterben.

Die Kranken verehrten sie, sehr zu Beatrice’ Unbehagen. Sie hatten sie zur Schutzheiligen der Leprakranken ernannt.

Schließlich setzte Bonnie ihren Weg fort. Die Nachricht lief ihr voraus, so daß sie überall von Menschen erwartet wurde.

Viele der Kolonisten waren mitleiderregend dankbar, daß jemand gekommen war, um an ihrer Seite zu kämpfen. Man hatte ihnen so lange erklärt, daß sie an letzter Stelle kamen, daß viele von ihnen es inzwischen glaubten. Bonnie blies diese Vorstellung mit einem Ausbruch heiseren Gelächters hinweg. Mitternacht flocht jetzt die eine oder andere trockene Bemerkung ein, nur der Ausgewogenheit halber, und fand ein Publikum, das für ihren geistreichen Witz empfänglich war. Es war lange her, seit die Leprakranken zuletzt Anlaß gehabt hatten, über etwas zu lachen. Bonnie und Mitternacht spazierten durch das kleine Dorf aus niedrigen Häusern, lächelten und plauderten und stellten sich vor, bis sie schließlich darum bitten mußten, etwas Zeit für sich selbst zu erhalten. Die Kranken zogen sich auf respektvolle Distanz zurück, während Bonnie und Mitternacht die Kapuzen zuklappten und die Stimmen dämpften, damit niemand mithören konnte.

»O Jesus!« sagte Mitternacht leise. »Diese armen Schweine!

Wie kannst du nur weiterhin so lächeln? Sie sterben und sie wissen es und haben doch nicht aufgegeben. Ich überlege mir, welchen Mumm man dafür benötigt, und komme mir daneben ganz klein vor.«

»Ich lächle und lache, um sie damit anzustecken, denn das letzte, was sie gebrauchen können, wären Außenstehende, die ihretwegen ganze Eimer vollheulen.«

»Sie brechen mir das Herz. Es ist alles so… unfair! Sie hatten mal ein Leben, eine Zukunft, Träume… Freunde und Familie und Geliebte. Und jetzt haben sie nur noch die Krankheit, die sie umbringt. Und sie glauben noch an Gott. Wäre ich an ihrer Stelle, würde ich täglich Ihren Namen verfluchen. Sie beschämen mich.«

»Solltest du auch nur leise schniefen, haue ich dir kräftig eine runter!« drohte ihr Bonnie heftig. »Wir müssen stark sein – ihnen zuliebe.«

»Stärke durch Piercing«, sagte Mitternacht. »Ein ganz neuer Ansatz in der Psychotherapie.«

»Was auch immer funktioniert. Der Körper beherrscht das Leben dieser Menschen schon so lange, daß es nur fair ist, wenn sie wieder etwas Macht über ihr Fleisch bekommen.«

»Sie sind stark«, fand die Kriegerin. »Sie werden sich gut schlagen, wenn die Hadenmänner zurückkehren.«

»Und ob sie das werden. Aber können wir diesen Ort endlos verteidigen?«

Mitternacht zuckte die Achseln. »Kommt darauf an, wie viele Hadenmänner wir abwehren müssen. Was wiederum davon abhängt, wie scharf sie auf diesen Planeten sind. Die Palisade der Missionsstation ist robust, die Angreifer müssen über offenes Gelände anrücken, und wir brauchen uns anscheinend keine Gedanken über Artillerie zu machen. Und dann sind da noch die Ruhmreichen Schwestern, von denen Hazel so beeindruckt war. Die Lage könnte viel schlimmer sein. Die Frage ist ohnehin überflüssig. Wir werden standhalten, weil wir keine andere Wahl haben. Weil wir keinen Ort kennen, zu dem wir flüchten und an dem wir uns verbergen könnten, und kein Raumschiff, das uns von diesem Planeten bringt.«

»Und keine Verstärkerungen«, ergänzte Bonnie. »Nur uns selbst.«

»Wir haben überhaupt keine Chance, was?« fragte Mitternachtsblau.

»Keine Spur davon«, bekräftigte Bonnie Chaos.

Zunächst mußten Owen und Hazel Mond flankieren und sich bereithalten, die Waffen zu ziehen, denn sobald die Leprakranken den Hadenmann erkannten, flüchteten sie entweder oder versuchten ihn anzugreifen. Die Atmosphäre verschlechterte sich rapide, bis Owen sich vorstellte, und Knall auf Fall änderte sich die Stimmung wieder. Von überallher kamen Menschen herbeigelaufen, um den legendären Todtsteltzer zu sehen, und sobald er sich für den Hadenmann verbürgt hatte, änderte sich die Situation grundlegend. Alle wollten den großen Helden der Rebellion begrüßen, und im Schein der Anerkennung erwärmte sich Owen und zeigte sich bald von der charmantesten und liebenswürdigsten Seite. Hazel lächelte entschlossen in seinem Schatten und gab sich größte Mühe, höflich aufzutreten. Owen wahrte das Lächeln, während er Hände schüttelte, die nicht immer vollständig waren, und hatte für jeden ein freundliches Wort übrig. Allerdings wollte niemand Hazel nahe genug kommen, um ihr die Hand zu geben. Bald drängten sich so viele Menschen ringsherum, daß sich kaum noch jemand bewegen konnte, also führte Owen die Menschen auf den Platz hinter dem Haupttor, und die Menge setzte sich ihm dort in geordneten Reihen gegenüber und füllte den Platz völlig aus.

Owen hatte sich vor großem Publikum noch nie wohl gefühlt, aber die Heldenverehrung setzte ihm noch stärker zu. Dadurch überwand er seinen Hang, Reden zu schwingen, und entschied sich lieber für eine Sitzung mit Fragen und Antworten. Nach ein paar Anstößen fingen die Leute an, sich vorzustellen und Fragen zu stellen, die Owen meist so vertraut waren, daß er sie im Schlaf hätte beantworten können. Bald empfand er die Leprakranken nur noch als ein Publikum unter vielen, das sich sogar etwas besser benahm als die meisten. Er legte los und erzählte von seiner Zeit in der Rebellion, zumindest die Abschnitte, die für die Öffentlichkeit geeignet waren, und Hazel schaltete sich zuzeiten ein und steuerte Dinge bei, die sie selbst aufschlußreich fand. Die Leprakranken begegneten ihnen beidem mit großem Respekt, und Owen und Hazel konnten nicht umhin, sich für sie zu erwärmen. Ihnen war vorher nie in den Sinn gekommen, daß die Kranken ihre Fans sein könnten wie alle anderen auch.

Schließlich ging Owen der Erzählstoff aus, und er übergab das Wort an Mond. Das Publikum hörte schweigend zu, während dieser von seinen Abenteuern mit Owen und Hazel berichtete. Eine Stimme aus der Menge wollte wissen, ob er sich als Verräter an seinem Volk betrachtete, und Mond dachte kurz nach, ehe er das verneinte und äußerte, eher wären die übrigen Hadenmänner Verräter an der Menschheit. Dafür erhielt er sogar leisen Applaus.

Die Zeit verging wie im Fluge, und Owen war erstaunt, als ihm Oz ins Ohr flüsterte, daß die Stunde beinahe vorüber war.

Owen wußte nicht recht, was er von einer Leprakolonie erwartet hatte – vielleicht einherlatschende, totenähnliche Gestalten, die eine Glocke läuteten und riefen: »Unrein! Unrein!« Diese stillen, warmherzigen, freundlichen Menschen waren eine Offenbarung für ihn. Bislang hatte er sein Versprechen, für sie zu kämpfen, als Pflicht aufgefaßt. Jetzt rechnete er es sich zur Ehre an. Sie hatten schon so viel durchgemacht, daß es ihm nicht fair erschien, wenn sie sich auch noch den Hadenmännern entgegenstellen mußten.

Er gab bekannt, daß er aufbrechen mußte, und Protestgeschrei stieg auf. Er erklärte, daß Mutter Beatrice eine Mahlzeit für die Besucher vorbereitet hatte, und der Name der Heiligen reichte, um den Platz zu räumen. Owen sah Hazel an.

»Also, was denkt Ihr?«

»Sie werden kämpfen«, sagte Hazel. »Daran habe ich aber auch nie gezweifelt. Nur hartgesottene Kämpfer konnten ungeachtet aller Widrigkeiten überleben, denen diese Menschen schon vor den Hadenmännern gegenüberstanden. Aber Gott weiß, wie lange sie diese Station gegen eine Armee halten können. Mond?«

Der aufgerüstete Mann runzelte die Stirn. »Ich gestehe, daß ich ohnehin kaum verstehe, was die Hadenmänner hier überhaupt suchen. Die Kolonisten besitzen nichts, was wertvoll genug wäre, um es ihnen zu rauben. Hier muß es noch etwas anderes geben, etwas, das wir bislang übersehen.«

»Denkt weiter darüber nach«, bat ihn Owen. »Falls wir wüßten, was die Hadenmänner wollen, könnten wir es ihnen einfach geben. Oder es vernichten. Vielleicht würden sie dann von hier verschwinden und jemand anderen ärgern.«

»Darauf würde ich keine Wetten abschließen«, warf Hazel ein. »Sollten die Hadenmänner erfahren, daß wir uns hier aufhalten, dann motiviert sie das vielleicht genug, um die ganze Station zu schleifen, nur damit sie uns in die Finger kriegen.

Wir haben schließlich ihre Pläne für Brahmin II vereitelt. Und die Hadenmänner waren nie führend, was das Verzeihen angeht.«

»Stimmt«, sagte Mond.

»Oh, haltet den Mund«, sagte Owen. »Ich habe schon genug Probleme, über die ich nachdenken muß.«

»Ich denke, daß ein weiteres gerade auf uns zukommt«, stellte Hazel leise fest. »Sieh mal, was dort gerade aufgetaucht ist.«

Sie alle betrachteten mit unterschiedlich starkem Unglauben die skelettartig dünne Kreatur, die auf sie zugewankt kam. Der gut über einsneunzig große Neuankömmling, eine Frau, trug lange schwarze Gewänder, die in Fetzen hingen und um eine unmöglich dünne Taille gegürtet waren. Sie trug an einer der knochigen Hüften ein Schwert und an der anderen eine Pistole.

Schnürstiefel, lange grüne Abendhandschuhe, ganz durchlöchert, und ein ramponierter Hexenhut, an dessen Spitze Bänder flatterten, machten den Aufzug komplett. Das Gesicht war mit weißem Makeup bedeckt, gegen das sich zwei hellrote Wangenknochen sowie Lippenstift und Lidschatten in jeweils metallischem Grün kraß abhoben. Die Frau bewegte sich mit ungleichmäßiger, wenn auch entschlossener Gangart, wobei sie die Beine kaum beugte, als funktionierten die Knie nicht richtig. Sie ähnelte stark einer Marionette, die die eigenen Schnüre durchtrennt und mit dem Puppenspieler etwas sehr Übles angestellt hatte, ehe sie in die Welt hinauszog, um dort soviel Schaden wie möglich anzurichten, bis jemand sie schließlich aufhielt.

Owen senkte beiläufig die Hand auf die Schußwaffe an seiner Seite. Die schwarzgekleidete Hexe blieb schwankend vor ihm stehen, wartete einen Augenblick, um sicherzugehen, daß sie auch alle ihre Teile mitgebracht hatte, und funkelte Owen dann mit einem Blick an, den sie eindeutig für freundlich hielt.

»Willkommen in der Hölle, Todtsteltzer. Ich bin Schwester Marion. Beas Stellvertreterin. Ich führe hier das Kommando, wenn sie damit beschäftigt ist, die Heilige zu spielen. Als ich noch jünger war, wollte ich auch eine Heilige werden, aber wie sich herausstellte, brachte ich dafür nicht die richtige Einstellung mit. Also machten sie eine Ruhmreiche Schwester aus mir und schickten mich zum Ärschetreten, auf Einsätze, von denen die Kirche in der Öffentlichkeit lieber nicht redet. Dann fing ich mir die Lepra ein, und sie schickten mich hierher. Die Mistkerle. Trotzdem dient eine Nonne dem Herrn, wohin immer man sie auch schickt, und Gott weiß, daß der Haufen hier alle Hilfe braucht, die er nur kriegen kann. Ihr könnt jetzt hallo sagen.«

»Hallo, Schwester Marion«, sagte Owen und gab sich Mühe, völlig ungerührt zu erscheinen. »Ihr tragt da eine bemerkenswerte Kluft.«

Die Nonne dehnte ihre grünen Lippen zu einem beunruhigenden Lächeln, das viel zu viele Zähne freilegte. »Ich ziehe mich so an, um die Leute zu verwirren. Außerdem helfen das Makeup und die Handschuhe, die wunden Stellen zu verbergen. Wenn Ihr die Leute hier fragt, werden sie mich exzentrisch nennen. Oder verrückt. Hört nicht auf sie. Jeder von uns hat eine eigene Art, mit seinem Zustand umzugehen. Meine fällt nur ein bißchen dramatischer aus als bei den meisten anderen. Bringt jetzt Eure Ärsche in Schwung und folgt mir. Bea wartet mit dem Abendessen, und wir müssen das eine oder andere besprechen.«

Sie drehte sich scharf um, schwankte einen Augenblick lang und marschierte steifbeinig los, ohne sich davon zu überzeugen, ob ihr irgend jemand folgte. Andere Leprakranke hasteten ihr aus dem Weg, während sie einherschritt, unaufhaltsam wie eine Naturgewalt und doppelt so gefährlich.

»Das ist also eine Ruhmreiche Schwester«, sagte Mond.

»Ja«, sagte Hazel. »Ich weiß nicht, wie sie bei den Hadenmännern ankommen wird, aber mir macht sie eine Mordsangst.

Ist euch aufgefallen, daß sie in der ganzen Zeit, die sie mit uns redete, nicht einmal geblinzelt hat? Diese Nonne bedarf dringend einer Psychotherapie. Und möglicherweise eines Lochs im Kopf, wodurch die Dämonen entweichen können.«

»Man wird nicht aufgrund eines ausgeglichenen Wesens aufgefordert, den Ruhmreichen Schwestern beizutreten«, gab Owen zu bedenken. »Mich persönlich hat diese Begegnung mehr ermutigt als alles andere, seit wir hier eingetroffen sind.

Man muß einfach Schwester Marions Sicherungsstift ziehen, sie zum Feind hinüberwerfen und auf sichere Distanz zurückweichen.«

»Ich hoffe nur, wir können sie nachher entschärfen«, sagte Hazel. »Sie ist eine sehr gefährliche Person.«

»Ihr müßt es ja wissen«, sagte Owen.

Ein kleiner Schwarm Kolonisten wollte ihnen ins Hauptgebäude folgen, um nichts zu versäumen. Schwester Marion erklärte ihnen, es handele sich um ein privates Treffen. Ein Kolonist beging den Fehler, zu laut und ein bißchen zu unverschämt zu protestieren, und Schwester Marion rammte ihm den Kopf ins Gesicht. Die übrigen Kolonisten stellten fest, daß andernorts dringende Geschäfte auf sie warteten, und brachten einen Rückzug mit einem Anschein von Würde zustande.

Schwester Marion führte ihre Gäste ins Haus und ließ den bewußtlosen Kolonisten draußen auf der Straße liegen, bis er sich wieder an seine Manieren erinnerte. Oder wenigstens an seinen Namen.

Niemand war überrascht, als sich die Mahlzeit überwiegend als Gemüsegericht entpuppte, angereichert durch Proteinwürfel mit Geschmack und einen bösartig aussehenden blauen Wein aus einem einheimischen Gewächs. Owen erkannte nichts von dem wieder, was er auf seinem Teller vorfand, was ihn in Anbetracht seiner Versuche, im Dschungel etwas Eßbares zu finden, etwas beruhigte. Er bedachte Mutter Beatrice mit höflichen Lauten und mampfte sich dann entschlossen durch eine unerfreuliche Überraschung nach der anderen, um anschließend alles mit viel Wein hinunterzuspülen, der sich als stark, aber erfreulich genießbar entpuppte. Alle außer Mond sprachen ihm reichlich zu. Besonders Mutter Beatrice kippte das Zeug hinunter, als wäre es Wasser. Niemand sagte etwas, besonders nicht mehr nach einigen verstohlenen, finsteren Blicken Schwester Marions. Wahrscheinlich setzte es den Nerven arg zu, wenn man heilig war. Owen verfolgte mit, wie Schwester Marion mit Messer und Gabel auf ihre Mahlzeit losging, als fürchtete sie, sie könnte ihr jeden Augenblick zu entfliehen versuchen. Er säuberte seinen Teller mit dem Gefühl, etwas geschafft zu haben, und hoffte wider alle Hoffnung auf ein anständiges Dessert. Leider hatte er es wohl mit seinen höflich anerkennenden Lauten übertrieben, so daß ihm Mutter Beatrice zu einem Nachschlag verhalf. Owen lächelte tapfer auf seinen gehäuften Teller hinunter und kämpfte sich langsam durch etwas, was ihn sehr an scharlachrotes Seegras erinnerte. Dabei hörte er Mutter Beatrices Ausführungen zur Geschichte des Planeten zu, damit er nicht über das nachdenken mußte, was er verspeiste.

Ursprünglich war die Missionsstation nicht mehr gewesen als ein ganz schlichtes Krankenhaus und ein Friedhof, auf einer Lichtung errichtet, die man mit Strahlenwaffen und Flammenwerfern aus dem Dschungel geschnitten hatte. Die Lichtung mußte täglich neu freigemacht werden, damit der Dschungel sie nicht zurückeroberte. Ein Landeplatz war vorhanden, gerade groß genug für ein Raumschiff. Zu Anfang starben viele Kolonisten. Der Schock der Krankheit, der Diagnose und der Verbannung nach Lachrymae Christi war für zahlreiche Menschen einfach zuviel, und sie legten sich einfach nieder und starben.

Die Leprakranken mußten ihre Toten selbst begraben. Niemand außer ihnen setzte je Fuß auf den Lepraplaneten. Der Friedhof war bald überfüllt, und die Kolonisten überließen ihn wieder dem Dschungel. Die Pflanzen verschlangen die Leichen über Nacht, und so mußte niemand zusehen. Grabsteine mit Namen und Daten gab es nach wie vor. Zum Trost der Lebenden, nicht der Toten. Eine Reihe Grabsteine hinter der anderen, ohne ausreichend Zwischenraum, um hindurchzugehen. Es spielte keine Rolle.

Alle wußten, daß Lachrymae Christi der Ort war, wohin die Leprakranken gebracht wurden, um zu sterben.

Mutter Beatrice veränderte das alles. Der Kompromisse und der Politik überdrüssig geworden, die sich schon ihrer neuen Kirche bemächtigten, hielt sie nach Menschen Ausschau, die Geschmack und Talent für eine solche Tätigkeit hatten, und übergab sie ihnen mit Freude, damit sie sich wieder dem zuwenden konnte, was sie als die richtige Arbeit für eine Nonne bezeichnete. Und sie reiste nach Lachrymae Christi, um den Hoffnungslosen Hoffnung zu geben, denn niemand sonst war bereit, es zu tun.

Ihr kam nie in den Sinn, daß sie etwas sehr Tapferes oder Nobles tat oder auch nur ein persönliches Opfer brachte, indem sie ihr Leben an einem Ort riskierte, aus dem sich niemand etwas machte, für Menschen, von denen sich die Menschheit abgewandt hatte. Sie kam hierher, weil sie glaubte, daß man sie hier brauchte, weil sie glaubte, hier etwas Gutes bewirken zu können.

Weil sie Sankt Bea war.

Die Leprakranken wurden ermutigt durch Beas stille Entschlossenheit, sich nicht von den Umständen unterkriegen zu lassen oder sich der Verzweiflung zu ergeben. Sie gab den Menschen hier den Stolz auf sich selbst zurück und ermutigte sie, aus ihrem Leben so viel zu machen, wie sie nur konnten, solange es ihnen noch möglich war. Und nicht ein einziges Mal drängte sie ihnen ihre Religion auf. Wenn jemand sie fragte, warum Gott zuließ, daß man ihnen so Schreckliches antat, antwortete sie: Gott hat einen Plan für uns alle. Und wenn ihr jemand sagte, daß er nicht an Gott glaubte, lächelte sie nur und sagte: Das ist schon in Ordnung. Er glaubt an dich.

Die Kranken arbeiteten hart, weil Beatrice noch härter arbeitete, und glaubten an sich, weil sie an sie glaubte. So wurde aus ihnen schließlich doch eine richtige Kolonie, die sich mit kleinen Siedlungen immer weiter in den Dschungel ausbreitete. Es war ein einfaches Leben, aber viel besser, als die Menschen bislang hatten erhoffen können. Alles lief so gut. Bis die Hadenmänner nach Lachrymae Christi kamen.

Owen entnahm manches davon Mutter Beatrice’ Worten und anderes Schwester Marions beißenden Bemerkungen. Einen Teil hatte er schon von den Kolonisten erfahren. Es paßte zu dem, was er früher über die Heilige von Technos III gehört hatte. Er musterte sie unauffällig, während er aß, und hielt dabei Ausschau nach einer Art Heiligenschein, einem Gefühl der Rechtschaffenheit, aber Mutter Beatrice wirkte einfach nur beruhigend normal und gelassen. Trotzdem strahlte sie eine besondere Qualität aus, eine Atmosphäre der Konzentration.

Owen fragte sich müßig, ob es das war, was die Leute manchmal in ihm erblickten. In diesem Moment fiel ihm auf, daß Schwester Marion gerade Mutter Beatrice ausschimpfte, und er hörte hin. Die Schwester ließ sich wohl von niemandem etwas gefallen, nicht mal von Sankt Bea.

»Falls Ihr nicht etwas weniger arbeitet, landet Ihr noch in einem Eurer eigenen Krankenhausbetten«, sagte Schwester Marion zornig. Sie hatte den Hexenhut zum Abendessen nicht abgesetzt, und die langen Fahnen daran hüpften heftig, während sie Schwester Mutter Beatrice anfunkelte. »Ihr arbeitet schwerer als irgend jemand sonst und findet nicht annähernd genug Schlaf. Ihr nützt niemandem etwas, wenn Ihr vor Erschöpfung auf den Beinen schwankt. Und Ihr braucht gar nicht zu erwarten, daß ich Euch als Oberschwester ablösen würde.

Ich kann zwar mit Verbänden und Bettpfannen umgehen, aber ich habe keine Begabung dafür, mit den Leuten zu reden oder ihnen das Händchen zu halten oder die Stirn abzuwischen und all diesen Unfug. Das fällt in Eure Zuständigkeit.«

»Seid still, Marion«, sagte Mutter Beatrice voller Zuneigung.

»Nach meiner Zeit auf Technos III ist das hier ein Picknick.

Außerdem habe ich nie viel Schlaf gebraucht.«

Schwester Marion sah sie böse an; sie war nicht überzeugt.

Man konnte erkennen, daß diese Auseinandersetzung schon oft stattgefunden hatte und es wieder dazu kommen würde.

»Wir müssen mehr über die Angriffe der Hadenmänner erfahren«, sagte Owen und schob den Teller von sich. Er war immer noch mehr als halb voll, und Hazel transferierte den Inhalt sofort auf den eigenen Teller. Das erstaunte Owen nicht.

Ha/el aß alles, wenn sie hungrig genug war. Er konzentrierte sich auf Beatrice. »Wieviel Zeit vergeht zwischen zwei Angriffen? Normalerweise?«

»Manchmal Tage, manchmal Stunden«, antwortete Mutter Beatrice. Sie klang auf einmal müde. »Die Hadenmänner sind vor etwas über einem Monat zum ersten Mal aufgetaucht. Eine Warnung ist nicht erfolgt. Kein Ultimatum. Wir wurden völlig überrascht. Als erstes bekamen wir mit, daß einige der äußeren Siedlungen nicht mehr auf unsere Anrufe reagierten. Dann trafen die ersten Flüchtlinge ein und berichteten von Tod und Zerstörung. Die wenigen, die sich ergaben, wurden gnadenlos niedergemacht. Wir verloren viele Menschen, bis ich Befehl erteilte, die Außensiedlungen aufzugeben. Dann kamen die Hadenmänner hierher. Wir bauten unsere Befestigungen aus, und jeder hier erlernte den Umgang mit einer Waffe. Die Ruhmreichen Schwestern erwiesen sich dabei als chen Schwestern erwiesen sich dabei als ausgezeichnete Lehrerinnen. Und dann haben wir noch Oberst Wilhelm Hand und Otto. Ihr werdet sie später kennenlernen.«

»Viel später, falls Ihr noch über Verstand verfügt«, warf Schwester Marion ein.

»Es sind gute Kämpfer«, erwiderte Mutter Beatrice tadelnd.

»Es sind verdammte absolute Psychopathen!«

»Was man nur erkennt, wenn man selbst einer ist, meine Liebe. Und heutzutage ist ihre… Einstellung doch von Vorteil.«

Mutter Beatrice betrachtete finster ihre Hände, die sie auf dem Tisch gefaltet hatte. »Bei jedem Angriff der Hadenmänner verlieren wir mehr Leute. Meine Leute sind tapfer genug und kämpfen gut, aber Leprakranke stoßen als Kämpfer an ihre Grenzen. Selbst die kleinste Verletzung kann sich rasch als tödlich erweisen. Es liegt am Regen und der allgegenwärtigen Feuchtigkeit. Alles verfault. Alles.«

»Wie lange liegt der letzte Angriff zurück?« fragte Mond mit seiner summenden, nichtmenschlichen Stimme.

»Drei Tage«, antwortete Schwester Marion, die sich gerade mit dem Tafelmesser die grünen Fingernägel schnitt. »Sie könnten jederzeit wieder auftauchen.« Sie blickte auf und fixierte Mond mit ihren strahlenden, kalten Augen. »Bereit für ein wenig Beschäftigung, Hadenmann?«

»Nennt mich Mond. Und ja, ich werde kämpfen. Um meine Freunde zu schützen. Ist das nicht für alle der Grund, wenn sie kämpfen?«

Ein Augenblick der Stille trat ein, der vielleicht unbehaglich hätte werden können, aber von einem höflichen Klopfen an der Tür beendet wurde. Schwester Marion ging hinüber, um zu öffnen, kam dann zurück und murmelte Mutter Beatrice etwas zu. Sie stand auf.

»Ihr müßt uns entschuldigen. Wir werden in der Krankenstation gebraucht. Macht es Euch bequem. Wir reden später weiter.«

Das Zimmer schien ganz still, nachdem die Ruhmreiche Schwester und die Heilige gegangen waren. Alle sahen sich gegenseitig an, außer Hazel, die damit beschäftigt war, die letzten Reste an Eßbarem von ihrem Teller aufzuwischen. Alle musterten sie mit unterschiedlichen Graden an Abscheu und Erheiterung. Sie blickte auf und sah aller Augen auf sich gerichtet.

»Was ist?«

»Ich bin beeindruckt«, sagte Owen. »Wirklich, ich bekäme nicht mal dann noch etwas von diesem Zeug herunter, wenn Ihr mich mit vorgehaltener Pistole dazu zwingen wolltet.«

»Ich habe Hunger! Und du gewöhnst dich besser an das Menü; wir bleiben womöglich lange hier.«

»Das Parlament wird ein Schiff schicken, sobald man dort erfährt, daß wir hier gestrandet sind«, behauptete Owen. »Wir sind für die Kriegsanstrengungen zu wichtig, um uns im Stich zu lassen.«

Hazel zuckte die Achseln. »Andererseits haben wir uns genug Feinde gemacht. Feinde, die uns womöglich nur zu gern an der Seitenlinie abstellen. Sieh der Sache ins Gesicht, Owen; wir werden diesen Planeten nicht so schnell wieder verlassen.«

Er schüttelte zornig den Kopf. »Eins nach dem anderen! Befassen wir uns zunächst mit den Hadenmännern. Mond, habt Ihr irgendeine Vorstellung, wie wir unsere Chancen verbessern könnten?«

Mond runzelte die Stirn. »Wir können nicht herausfinden, wo die Truppen der Hadenmänner stehen und wie groß sie sind.

Wir wissen nicht, was sie wollen und wie viele Truppen sie bereit sind, ins Gefecht zu werfen, um dieses Ziel zu erreichen.

Ich werde noch darüber nachdenken. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen wollt, ich benötige etwas Zeit für mich selbst.« Er stand auf.

»Ich denke nicht, daß das eine gute Idee ist, Mond«, gab Owen zu bedenken. »Viele Leute hier haben keinen Grund, die Hadenmänner zu mögen.«

»Ich komme schon klar, Owen. Ich brauche kein Kindermädchen.« Er ging zur Tür, ohne zurückzublicken. »Wartet nicht auf mich.«

»Paßt auf Euch auf!« rief Owen, und dann ging die Tür zu und war der Hadenmann verschwunden.

Bonnie und Mitternacht rappelten sich auf. »Es wird spät«, sagte Bonnie. »Zeit für einen letzten Spaziergang, bevor wir ins Bett gehen. Diese Leprakranken sind faszinierend.«

»Und ich möchte mir mal die Befestigungen ansehen und nach Schwachpunkten suchen«, sagte Mitternacht. »Bis morgen.«

Und sie gingen ebenfalls. »Liegt es an etwas, was ich gesagt habe?« fragte Owen Hazel.

»Dieses eine Mal nicht. Ich denke, sie alle brauchen ein bißchen Zeit für sich, Owen. Trotz Sankt Beas optimistischer Einstellung ist das hier im Kern doch ein grusliger und deprimierender Ort. Menschen kamen hierher, um zu sterben. Und kaum hatten sie trotzdem ein neues Leben aufgebaut, da tauchen auch schon die Hadenmänner auf und trampeln es nieder.

Ich habe ein mieses Gefühl über das hier, Owen. Wir haben den Tod oft betrogen, auf die eine oder andere Art, aber das hier ist der Ort, wo der Tod immer gewinnt. Vielleicht sind wir letztlich doch dort eingetroffen, von wo niemand mehr entkommt. Ich gehe jetzt schlafen, und zwar in einem richtigen Bett mit warmen, trockenen Decken, und werde mich bemühen, nicht zu träumen. Du solltest auch etwas schlafen. Wir werden alle unsere Kräfte brauchen, wenn die Hadenmänner zurückkehren.« Sie stand auf und blickte sich in dem leeren Zimmer um. »Wir hätten nie hierherkommen dürfen, Owen.

Etwas Schlimmes wird passieren.«

Sie verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzudrehen, und machte sich nicht die Mühe, die Tür hinter sich zu schließen. Owen lehnte sich auf dem Stuhl zurück und streckte sich müde. Aber er war noch nicht reif fürs Bett. Nicht, solange er sich noch den Kopf darüber zerbrach, was zum Teufel er eigentlich tun sollte. Nach dem, was er bislang von der Missionsstation gesehen hatte, würde es verdammt schwierig werden, sie zu verteidigen. Holzmauern, Holzgebäude, Holzdächer. Der ständige Regen half dabei, die Brandgefahr zu mildern, aber falls die Hadenmänner über die richtigen Brandbeschleuniger verfügten, dann konnten sie hier Feuer legen, mit denen kein Regen mehr fertig wurde. Vielleicht waren sie ja dabei, genau das zu organisieren.

Die Leprösen schienen kampfwillig, aber sie waren im Grunde trotzdem nur kranke Zivilisten mit begrenzter Ausbildung.

Mann gegen Mann hatten sie keine Chance. Die Aufgerüsteten dagegen waren als effiziente und gnadenlose Killer konstruiert.

Sie verfügten über körpereigene Panzerung, Stahlgewebe unter der Haut, Servomotoren in den Muskeln, übermenschliche Schnelligkeit und eingebaute Disruptoren. Es grenzte an ein Wunder, daß die Mission noch nicht gefallen war. Aber andererseits kämpfte ein Mensch am härtesten, wenn er sein Heim verteidigte. Und wenn er wußte, daß es keine andere Zuflucht gab.

Owen stand auf. Hazel hatte recht. Hier stank es nach Tod. Er ging langsam zur Tür hinüber, immer noch zu unruhig zum Schlafen. Auf einen Impuls hin zog er den Mantel um sich und schlug die Kapuze über den Kopf, um das Gesicht zu verbergen. Vielleicht sprachen die Leprakranken offen mit ihm, wenn er als einer der ihren unter ihnen wandelte, und womöglich erfuhr er daraus mehr über die tatsächliche Lage. Er mußte die Wahrheit herausfinden. Er konnte nicht ins Blaue hinein Pläne schmieden.

Langsam suchte er sich den Weg, folgte den schmalen Straßen und Gassen der Station. Ungeachtet der Dunkelheit und der späten Stunde traf er überall Menschen an. Wie es schien, war Owen nicht der einzige, der nicht schlafen konnte. Er marschierte ohne Hast des Weges, hatte kein bestimmtes Ziel, und achtete so sorgfältig wie alle anderen darauf, mit niemandem zusammenzustoßen. Der niemals endende Regen trommelte laut auf das Dach über ihm. In Innenräumen lernte man, das Geräusch auszublenden, aber jetzt erschien es ihm wie ein endloser Trommelschlag, der die künftigen Geschehnisse erahnen ließ. Owen ertappte sich auf einmal dabei, wie er über den großen Platz der Station hinwegblickte. In regelmäßigen Abständen brannten Fackeln und erzeugten Teiche aus goldenem und bernsteingelbem Licht zwischen umhertreibenden Schatten.

Menschen standen oder saßen in kleinen Gruppen beisammen; sie aßen, tranken, bereiteten Waffen vor oder waren einfach nur in leise Gespräche vertieft. Niemand schenkte einer zusätzlichen Gestalt in Mantel und Kapuze Beachtung, als Owen sich dazugesellte.

Er stellte fest, daß Schwester Marion und eine weitere Ruhmreiche Schwester improvisierten Unterricht über das Thema abhielten, wie man am besten Sprengfallen und Fallgruben anbrachte, für den Fall, daß es den Hadenmännern gelang, die Palisade zu überwinden. Die beiden Schwestern ließen eine Flasche einheimischen Weines hin und her wandern, während sie ihrem aufmerksamen Publikum das Nötige beibrachten.

Schwester Kathleen entsprach in ihrer weiten schwarzen Robe und dem traditionellen Schleier eher Owens Vorstellung von einer Nonne, aber auch sie trug ein Schwert an einer Hüfte und einen Disruptor an der anderen. Sie war eine dralle Frau von mittlerer Größe, hatte aber die großen knochigen Hände eines Mannes. Sie knisterte nahezu vor nervöser Energie und schritt hin und her wie ein Tier im Käfig, und sie stieß die Hand zu ihrem Publikum aus, wenn sie eine Bemerkung unterstreichen wollte. Auf die Fingerknöchel beider Hände hatte sie das Wort LOVE tätowiert. Sie hatte ein langes Pferdegesicht, breite Lippen über vorstehenden Zähnen und die Stimme eines Engels.

Owen hätte ihr stundenlang zuhören können. Schwester Marion stand neben ihr wie eine gräßliche Vogelscheuche und steuerte gelegentlich einen Kommentar bei, wenn sie es für nötig hielt.

»Fußangeln«, sagte Schwester Kathleen fröhlich und hielt zwei ineinander verdrehte Nägel hoch. »Egal wie man sie wirft, sie landen immer mit der Spitze nach oben. Und nicht mal ein Hadenmann läuft noch weit, wenn sich erstmal über sieben Zentimeter Stahl durch seine Fußsohlen gebohrt haben.

Vergeßt nicht, die Spitzen in frischen Kot zu tauchen, ehe ihr sie auswerft; dadurch eitern die Wunden. Jedes bißchen hilft.

So, ihr habt jetzt alle Todesfallen gesehen, die wir angelegt haben. Prägt euch ein, wo sich die Auslöser befinden, damit ihr sie nicht versehentlich betätigt. Das gleiche gilt für die Fallgruben mit Dornen und die Landminen, die wir improvisiert haben. Und merkt euch eins: Schlagt nie nach einem Hadenmann, wenn er gestürzt ist; tretet lieber mit dem Stiefel zu, das ist sicherer. Und falls ihr am Boden liegt, greift seine Kniesehnen an, um den Bastard zu verkrüppeln. Ein Hadenmann hat vielleicht Vorteile, was Kraft und Schnelligkeit angeht, aber noch nie konnte jemand dem Menschen das Wasser reichen, was den schieren Einfallsreichtum für schmutzige Tricks anbetrifft.«

»Vergiß die Schlingen nicht!« mahnte Schwester Marion.

»Ich wollte noch auf die Schlingen zu sprechen kommen!«

»Eine Schlinge, die hinter der Tür in einem dunklen Zimmer baumelt, kann selbst den erfahrensten Krieger ausschalten.«

»Ich hatte sowieso vor, ihnen das zu erklären!«

»Natürlich hattest du das, meine Liebe. Fahre fort. Kümmere dich nicht um mich.«

»Danke.«

»Und falls die Schlinge ihn nicht gleich umbringt, zerrt ihr an den Füßen, bis ihm das Genick bricht.«

»Marion! Möchtest du diesen Unterricht halten?«

»Natürlich nicht, meine Liebe. Du machst das gut.«

Das klang ganz nach einem Gespräch, das noch einige Zeit seinen Fortgang nehmen konnte, also überließ Owen sie dem.

Er ging weiter über den Platz, sah sich alles an und lauschte Gesprächsfetzen, die sich meist um alltägliche Dinge drehten.

Es schien, als wollten die Kolonisten in ihren wenigen glücklichen Erinnerungen schwelgen, solange sie noch konnten, bevor alles im Kampf verlorenging. Niemand schien über dessen abschließendes Resultat besonders optimistisch.

Owen traf Oberst Wilhelm Hand und Otto vor einer Hütte an, wo sie auf einer Bank saßen, ihre Schwerter polierten und leise ein altes Marschlied der Marineinfanterie sangen. Der Oberst trug nach wie vor seine alte Uniform, die inzwischen zwar in Fetzen hing, aber weiterhin peinlich sauber gehalten war. Die Brust zeigte ein eindrucksvolles Arsenal von Ordensbändern, die sorgfältig gepflegt wirkten. Der Oberst machte sich nicht die Mühe mit dem üblichen Kapuzenumhang. Er hatte die Lepra und scherte sich nicht darum, wer es wußte. Die graue Haut war fleckig von abgestorbenen Stellen, und die halbe Nase fehlte. Womöglich hatte er einmal gut ausgesehen; das war schwer zu sagen. Er war in den späten Fünfzigern, ein großer und muskulöser Mann, der jetzt allmählich fett wurde. Das lange, dunkle Haar war fettig und strähnig, und er hielt es mit einem schlichten Lederstirnband aus dem Gesicht.

Sein Gefährte Otto war ein buckliger Zwerg, kaum einszwanzig groß. Der überdimensionierte Kopf war hier und da vom Verfall der Krankheit gezeichnet, und die Haare waren größtenteils ausgefallen. Auch er trug eine Uniform der Marineinfanterie, die jedoch verdreckt war, und er selbst erweckte ganz den Anschein, seit Wochen nicht mehr gebadet zu haben. Für einen buckligen Zwerg mit Lepra wirkte er ziemlich munter.

Der Oberst sah auf und fixierte Owen mit kaltem, ausdruckslosem Blick. »Du mußt neu sein, Junge, sonst würdest du dich nicht in unserer Nähe herumtreiben. Sogar Leprakranke haben noch Parias unter sich. Hast du Zeit, dich eine Zeitlang hinzusetzen und mit uns zu schwatzen?«

»Natürlich«, antwortete Owen. Er setzte sich neben den Oberst auf die Bank. »Darf ich fragen, was Euch hier zum Paria stempelt?«

Der Oberst schnaubte. »Weil ich nicht glaube, daß die Sonne aus Sankt Beas Hintern herausscheint. Ich habe keine Zeit für ihren ganzen Quatsch über Frieden und Liebe. Ich bin ein Killer, mein Junge. Und verdammt gut in meinem Job. Bin zur Marineinfanterie gegangen, kaum daß ich alt genug war, und habe nie einen Blick zurück geworfen. Hab mir nie was anderes gewünscht.«

»Ihr scheint auf eine eindrucksvolle Karriere zurückzublicken, Oberst«, sagte Owen und deutete auf die Ordensbänder.

»Darauf kannst du deinen Arsch verwetten, mein Junge. Ich habe in den letzten dreißig Jahren an jedem erwähnenswerten Feldzug teilgenommen. Habe auf hundert Planeten Menschen und Fremdwesen getötet, war der erste beim Angriff und der letzte beim Rückzug und habe jede einzelne Minute genossen.

Kein Bedauern, keine schlechten Träume, keine Regungen des Gewissens in den Stunden vor dem Morgengrauen. Mutter Beatrice hat dafür kein Verständnis, und für eine Heilige ist sie bemerkenswert unnachgiebig, falls sich jemand nicht an die Parteilinie hält. Sie möchte, daß ich beichte und sage, es täte mir leid, daß ich meinen Frieden mit Gott mache. Nun, es tut mir nicht leid und ich werde nicht das Gegenteil behaupten, und wenn ich schließlich vor Gott stehe, werde ich ihm direkt in die Augen blicken und sagen: Du hast mich zu einem Killer gemacht. Ich habe nur getan, wofür du mich geschaffen hast.

Wo wartet der nächste Feind? «

Er lachte kurz und bohrte mit dem Finger in der verbliebenen Hälfte seiner zerstörten Nase. »Ich war einer der besten, aber sie haben mich trotzdem sofort hergeschickt, als die Diagnose erfolgt war. Ich empfinde keine Bitterkeit darüber. Nicht wirklich. Aber es war doch hart, meine Karriere für dieses Dreckloch aufgeben zu müssen. Eigentlich die reinste Ironie. All die Schlachten, in denen ich gekämpft habe, all die schlechten Chancen, die ich besiegt habe, und letztlich war es weder Schwert noch Energiestrahl, was mich erwischt hat, sondern nur eine dumme geistlose Krankheit, die mich zentimeterweise umbringt. Überhaupt nicht die Art zu sterben, mit der ich gerechnet hatte.«

»Ihr habt nie damit gerechnet zu sterben«, warf Otto ein. »Ihr hieltet Euch für etwas so Besonderes, daß Ihr glaubtet, Ihr würdet ewig leben.«

»Vielleicht«, räumte der Oberst ein. Er sah Owen an. »Ich vermute, du hast nicht zufällig Zigarren mitgebracht? Nein, natürlich nicht. Ist auch gut so, war sowieso eine schmutzige Angewohnheit. Aber sie gehört zu den wenigen Dingen, die ich wirklich vermisse… Ich habe die Rebellion versäumt, weißt du? Der größte verdammte Krieg in der Geschichte des Imperiums, und ich kam nie dazu, darin mitzukämpfen. Eine Schande. Ich hätte meine Fähigkeiten gern gegen den Todtsteltzer und seine Truppe auf die Probe gestellt. Das wären würdige Gegner gewesen. Trotzdem, ob Imperatorin oder Parlament, das macht letztlich keinen Unterschied. Keiner von beiden wird uns erlauben, diesen Planeten zu verlassen.«

»Niemand sorgt sich um uns«, fand Otto. »Sie schämen sich unser. Wir haben keinen Platz in ihrem hellen, neuen, glänzenden Imperium.« Er schniefte feucht und rieb sich die Nase mit dem Handrücken. »Für den Fall, daß du dich fragst: Ich bin von meinen Eltern gentechnisch so gestaltet worden. Sie betrieben einen fahrenden Zirkus, und da bucklige Zwerge in der Natur nicht mehr vorzukommen scheinen, haben sie sich selbst einen gemacht. Ich gehörte zu den Stars der Show. Das Publikum ist gern gekommen, um mich aus der Distanz zu bemitleiden. Aber niemand hat mich je nach meinen Wünschen gefragt.

Nach meinen Träumen. Also bin ich gleich in der ersten Minute meines sechzehnten Geburtstages ins nächste Rekrutierungsbüro marschiert und habe mich verpflichtet. Ich sollte eigentlich als Maskottchen dienen, aber ich demonstrierte rasch eine solche angeborene Begabung dafür, Menschen umzubringen, daß ich innerhalb eines Jahres in den vollen Kampfdienst übernommen wurde. Habe es nie bereut.«

»Wir haben in hundert Schlachten Seite an Seite gekämpft«, ergänzte der Oberst. »Ein scheußlicher kleiner Kerl. Sehr gut im Ausnehmen mit dem Messer. Und als ich herkam, hat er mich begleitet. Damals hatte er noch keine Lepra. Ein guter Freund, aber dumm wie Scheiße.«

»Stimmt«, sagte Otto. »Stimmt wirklich.«

»Gott sei für die Hadenmänner gedankt. Sie geben uns wieder eine Aufgabe. Wenigstens habe ich jetzt einen richtigen Feind, an dem ich meine Wut austoben kann. Und eine Chance, wie ein Krieger zu sterben, statt Tag für Tag mehr zu verfaulen.

Und am besten war: Nach Monaten offener Mißbilligung dessen, was ich früher getan habe, mußte sich Sankt Bea an mich wenden, damit ich ihren Leuten zeigte, wie man kämpft. Muß ihr fast im Hals steckengeblieben sein, aber sie hat es getan. Ist gekommen und hat uns vor allen Leuten darum gebeten.«

»Was haltet Ihr von unseren Chancen gegen die Hadenmänner?« fragte Owen.

Oberst Hand grinste brutal. »Darüber mach dir mal keine Sorgen, Junge! Hadenmänner sterben genauso wie alle anderen, wenn man an der richtigen Stelle mit dem Messer zustößt und es herumdreht. Und außerdem – falls uns eine beschissene Krankheit und ein vergammelter Planet wie dieser hier nicht besiegen konnten, dann schafft es ein Haufen wandelnder Elektrogeräte mit mieser Einstellung auch nicht.«

Owen nickte, verabschiedete sich, stand auf und setzte seinen Weg fort. Er fand, daß er die Gesellschaft des Obersten und Ottos in etwa so lange genossen hatte, wie er verkraftete. Aber bei all dem Gift, das der alte Soldat verspritzt hatte, konnte Owen doch nicht umhin zuzugeben, daß es etwas für sich hatte.

Die Leprakranken waren das düstere, verschwiegene Geheimnis des Imperiums. Keine Heilung, keine Hoffnung, also lud man die armen Teufel einfach außer Sichtweite der übrigen Menschheit ab. Owen hatte vage Vorstellungen von Lachrymae Christi gehabt, aber ihm war nie in den Sinn gekommen, etwas dagegen zu unternehmen. Lepra war etwas, was anderen Leuten widerfuhr. Aber jetzt, wo man ihn mit der Nase förmlich draufgestoßen hatte, schwor er sich, etwas zu tun. Irgendwas.

Mal vorausgesetzt, er und die Kranken überlebten.

Er kam um eine Ecke und sah Mond allein dasitzen. Die Schultern des Hadenmanns zuckten, während ihm Tränen übers Gesicht liefen. Niemand war in seiner Nähe, und keine unmittelbare Ursache für seinen Kummer war zu erkennen. Im Gegenteil taten die wenigen Leprakranken, die überhaupt in der Gegend waren, ihr Bestes, ihn zu ignorieren. Owen lief zu dem Aufgerüsteten hinüber und stand dann verlegen da, wußte nicht, was er tun sollte.

»Mond? Tobias? Was ist los? Hat jemand etwas gesagt oder getan? Verdammt, wenn jemand Euch attackiert hat, puste ich ihm die Lichter aus!«

Der Hadenmann hörte abrupt auf zu weinen und blickte auf.

»O hallo, Owen«, sagte er gelassen. »Es ist alles in Ordnung.

Niemand hat mir etwas getan. Ich habe nur die Emotion ausprobiert, wollte wissen, wie sich das anfühlt. Bitte setzt Euch und redet mit mir.«

Owen runzelte die Stirn, zuckte die Achseln und setzte sich neben seinen Freund. Mond wischte sich ganz unbefangen das Gesicht mit einem Tuch ab. Owen musterte ihn. »Also, Ihr seid wirklich in Ordnung?«

»Ich weiß nicht. Ich gestehe, daß ich in jüngster Zeit sehr verwirrt bin. Das ist mein zweites Leben, Owen, und vieles ist mir immer noch fremd. Immer wieder tauchen Erinnerungen an das erste Leben auf, aber ganz verworren, als betrachtete ich eine andere Person auf einem matten Holoschirm. Ich kann mich erinnern, wie ich das eine oder andere getan habe, aber nicht warum oder wie ich mich dabei fühlte. Den größten Teil des ersten Lebens habe ich unter Menschen verbracht, und ich habe dabei menschliche Wesenszüge entwickelt, die mir jetzt jedoch überwiegend abhanden gekommen sind. Ich habe Gefühle, aber… sie sind seltsam und verwirrend, weil ich keinen Bezugsrahmen für sie habe. Ich bin wie ein Blinder, der zum ersten Mal Farben sieht. Also lache ich und weine ich, koste den unvertrauten Geschmack dieser Empfindungen, versuche zu erkennen, was sie unterscheidet und was sie mit der Welt zu tun haben, in der ich lebe. Ich sehe die Leprakranken hier an, wie sie so tapfer leben und kämpfen und sterben, und ich denke, da sind Tränen die angemessene Reaktion, aber es fällt mir schwer, dessen gewiß zu sein. Es ist sehr schwierig, menschlich zu sein, Owen.

Ich weiß nicht, wie Ihr das so mühelos schafft.«

»Ihr werdet das schon herausfinden«, meinte Owen. »Das erfordert nur Übung. Auf diese Weise lernen alle. Und ja, Tränen sind hier angemessen. Falls ich noch welche übrig hätte, würde ich sie vergießen. Ich habe jedoch so viele Menschen sterben gesehen und an so vielen Schlachten teilgenommen, in denen es um die letzte Chance ging, daß es mir schwerfällt, noch solchen Gefühlen nachzuhängen. Ich muß stark und unerschütterlich sein und anderen auf diese Weise Halt geben. Nur zu gern würde ich den Luxus genießen, wieder schwach zu sein, Mond.

Jemand anderen zu haben, der stark ist und der den Helden spielt, damit ich mich auf ihn stützen kann. Es ist harte Arbeit, eine lebende Legende zu sein.«

»Ja«, sagte Mond, »ich erinnere mich an Euch als Held. Ihr habt Euer Leben riskiert, um die Gruft der Hadenmänner zu öffnen, als ich versagt hatte – nachdem ich Euch im Stich gelassen hatte, es Euch und den anderen überlassen hatte, gegen das Imperium zu kämpfen, während ich auf eigene Faust loszog, überzeugt davon, es wäre meine Bestimmung, mein Volk wiederzuerwecken. Ich war im Irrtum. Ich lasse Euch nicht noch mal im Stich, Owen.«

»Natürlich nicht«, sagte Owen. »Ich habe nie etwas anderes erwartet.«

»Noch mehr Dinge sind mir neu, abgesehen von den Gefühlen«, fuhr Mond fort. »Ich habe kürzlich versucht, eine Diagnose meiner Techimplantate durchzuführen, der inneren Mechanismen, die mich zu einem Aufgerüsteten machten. Zu meiner Verblüffung stellte ich fest, daß die meisten fehlten.

Der Körper hat sie absorbiert. Dabei bin ich weiter so stark und schnell wie zuvor, meine Sinne so klar, meine Gedanken so präzise. Es hat den Anschein, als brauchte ich keine Technik mehr, um übermenschlich zu sein.«

»Es liegt am Labyrinth«, nickte Owen. »Als Ihr mit uns anderen hindurchgegangen seid, hat es Euch geprägt.«

»Inzwischen bin ich weder Mensch noch Hadenmann«, sagte Mond stirnrunzelnd. »Ich entwickle mich zu etwas Neuem.

Etwas, was anders ist. Meine Augen leuchten weiterhin und die Stimme summt weiterhin, aber vielleicht nur, weil ich damit rechne. Ihr seid diesen Weg schon weiter gegangen als ich, Owen. Was wird aus mir?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Owen. »Vielleicht etwas, wozu uns Name und Vorstellung fehlen. Noch.«

»Ich empfinde etwas, wenn ich darüber nachdenke, Owen.

Ich denke… ich habe Angst.«

»Das haben wir alle. Das Unbekannte flößt immer Angst ein.

Zweifellos fürchtet sich auch die Raupe davor, zum Schmetterling zu werden, schon während ihre Instinkte sie zwingen, den Kokon zu spinnen. Wir haben keine Kontrolle über das, was aus uns wird, also… genießt die Reise! Und vergeßt nicht, daß Ihr unter Freunden seid.«

»Ich habe die Leprakranken beobachtet. Wenn sie sich ihrer Veränderung mit solchem Mut zu stellen vermögen, kann ich es auch.« Er warf einen Blick zur Seite, auf Owen. »Ich denke, daß… etwas Neues in mir heranreift. Ich kann… Dinge spüren. Dinge, die niemandem sonst erkennbar sind. Es ist keine Telepathie. Vielleicht eher Empathie. Aber egal was, glaubt mir, wenn ich Euch sage, daß wir hier nicht allein sind. Da draußen im Dschungel ist noch etwas anderes. Etwas, was verborgen und sehr mächtig ist.«

»Die Armee der Hadenmänner?«

»Nein. Mein eigenes Volk würde ich erkennen. Das Wesen, von dem ich spreche, ist lebendig, unterscheidet sich aber von allem, was mir je begegnet ist. Seine Gedanken laufen langsam ab, aber es wird zornig. Und es weiß, wo wir sind.«

»Hat es einen Namen, eine Identität?«

»O ja«, sagte Tobias Mond. »Es ist das Rote Hirn.«

Hazel D’Ark hatte sich ihren beiden Varianten angeschlossen und tauschte mit ihnen Klatsch über die jeweiligen Owens aus, als eine einzelne Leprakranke ihnen müde in den Weg humpelte. Die drei Frauen blieben abrupt stehen, um die Kranke nicht umzurennen, und diese sank vor Hazel auf die Knie.

»Verzeiht meine Unverschämtheit, Gesegnete, aber seid Ihr nicht Hazel D’Ark, die Befreierin von Golgatha

»Nun, ja«, bestätigte Hazel. »Obwohl ich es eigentlich nicht allein vollbracht habe. Möchtest du etwas von mir?«

Die Leprakranke schlug die Kapuze zurück und legte damit ein Gesicht frei, das zur Hälfte verfault war. Flecken kahler Knochen schimmerten zwischen den verbliebenen Haarresten hervor, und dort, wo die linke Wange hätte sein müssen, hatte man freien Blick auf die Zähne. Aus der Nähe war der Geruch entsetzlich, auch wenn sich Hazel und ihre Gefährtinnen bemühten, das nicht zu zeigen. Die Leprakranke schob eine graue Hand unter dem Mantel hervor. Sie war bis auf die Knochen abgemagert und hatte nur noch zwei Finger. Die Kranke hielt sie Hazel in einer bittenden Geste entgegen.

»Ihr seid von Gott berührt worden, meine Dame. Ihr habt Wunder gewirkt. Ich habe es im Holo gesehen. Wirkt ein weiteres Wunder für mich, ich bitte Euch. Heilt mich!«

Hazel wich schockiert einen Schritt zurück. »Ich… kann das nicht! Ich weiß nicht, wie.«

»Ihr habt Eure eigenen furchtbaren Verletzungen geheilt. Ihr wurdet von Gott gesegnet. Legt mir nur die Hand auf, und auch ich werde geheilt werden. Das weiß ich!«

Hazel wandte sich hilfesuchend an Bonnie und Mitternacht, aber auch sie waren benommen. Hazel sah wieder die Kranke vor ihr an und hatte keinen Schimmer, was sie sagen sollte.

Also streckte sie schließlich doch die Hand aus, wobei ihr die Haut kribbelte, und legte sie der Kranken fest aufs Haupt. Beide warteten sie ein paar Augenblicke lang, aber nichts geschah.

Nach einer Weile seufzte die Leprakranke und stand auf.

»Danke, daß Ihr es versucht habt, meine Dame. Mein Glaube war nicht stark genug. Ich werde Euch nicht mehr belästigen.«

Sie schlug wieder die Kapuze über den verwüsteten Kopf und humpelte langsam davon. Hazel blickte ihr nach und betrachtete dann die Hand. Sie rieb sie sich an der Seite ab und hörte wieder auf, beinahe schuldbewußt. Sie stellte fest, daß noch andere Leprakranke sie ansahen.

»Ich hätte ihr geholfen, wenn ich in der Lage gewesen wäre.«

Niemand sagte etwas, und nach einer Weile setzte Hazel ihren Weg fort. Bonnie und Mitternacht folgten ihr ein Stück weit zurück.

Die Hadenmänner griffen an, kaum daß der Morgen heraufdämmerte. Der Regen prasselte hernieder, als tobte er einen Groll aus, aber die Aufgerüsteten schienen ihn nicht mal zu bemerken. Sie strömten von allen Seiten auf die Lichtung, nachdem sie sich mit brutaler Gewalt einen Weg durch die dichtstehenden Bäume gebahnt hatten, wobei das Holz unter der Wucht ihrer Servomotoren splitterte und krachte. Die Wachen auf den Türmen gaben als erste Alarm, und die Leprakranken rannten zur Palisade, um die Missionsstation zu verteidigen. Hunderte Hadenmänner marschierten schweigend durch den Regen und attackierten, ohne eine Herausforderung zu äußern oder Kriegsrufe von sich zu geben. Sie kamen in endlosen Reihen aus dem Dschungel hervor, groß und vollkommen wie lebende Götter, anmutig über alle Maßen. Ihre Augen brannten wie Sonnen, und sie hielten Strahlenwaffen in den Händen.

Ein Hagel von Pfeilen prasselte auf sie ein, aber die meisten davon prallten von der körpereigenen Panzerung ab. Wo die Pfeile doch in Fleisch eindrangen, zogen die Aufgerüsteten sie einfach heraus und warfen sie zu Boden. Sie eröffneten mit den Faustdisruptoren das Feuer, schossen Löcher in die Holzwand und konzentrier ten das Feuer so, daß die Löcher groß genug wurden, um ihnen Einlaß zu verschaffen. Die Palisade flackerte hier und dort kurz auf, aber der schwere Regen löschte sie rasch wieder. Und sobald die Hadenmänner die Palisade erreicht hatten und die ersten auf den Platz dahinter vordrangen, war es ein Kampf Mann gegen Mann.

Die Leprakranken auf dem Laufsteg hielten einen konstanten Pfeilregen aufrecht, und hin und wieder stürzte einer der Aufgerüsteten mit einem Pfeil im Auge zu Boden und erhob sich nicht mehr. Andere Verteidiger gossen kochendes Öl auf Hadenmänner, die gerade durch die Löcher in der Palisade kletterten. Die wenigen Verteidiger, die über Strahlenwaffen verfügten, suchten sich ihre Ziele sorgfältig aus und verfluchten die beiden langen Minuten, die ihre Disruptoren brauchten, um sich zwischen zwei Schüssen wieder aufzuladen. Innerhalb der Palisade warfen sich Kämpfer den Invasoren entgegen und hielten sie mit schierer Masse zurück.

Owen und Hazel kämpften Seite an Seite vor dem größten Loch, und jeder Hadenmann, der in Reichweite ihrer Waffen kam, starb. Und so schnell die aufgerüsteten Menschen auch waren, Owen und Hazel erwiesen sich als schneller. Sie brachten die Invasoren zum Stehen und trieben sie dann Schritt für Schritt wieder auf die Lichtung hinaus, wobei sie die Leichen der Gefallenen mit den Füßen aus dem Weg beförderten, um ihre unmenschlichen Gegner zu erreichen.

Bonnie Chaos und Mitternachtsblau tanzten zwischen den Aufgerüsteten herum und lachten und sangen, während sie töteten. Bonnie stürzte sich ins dichteste Getümmel und streckte jeden nieder, der in ihre Reichweite kam. Sie achtete der Wunden nicht, die sie selbst einsteckte. Sie heilten so schnell, daß Bonnie den Schmerz kaum spürte, und hätte sie es doch getan, wäre es ihr gleich gewesen. Sie verkörperte Tod und Zerstörung, und niemand hielt ihr stand. Mitternacht teleportierte auf dem Platz hin und her, tauchte jeweils gerade lange genug auf, um jemanden niederzustrecken, und war schon wieder verschwunden. Sie schien überall gleichzeitig zu sein, und wo sie war, fiel ein Hadenmann.

Die beiden Ruhmreichen Schwestern erschienen schreiend aus dem Nirgendwo und schwangen ihre Schwerter so schnell, daß niemand ihnen folgen konnte. Brutal attackierten sie die Hadenmänner, schlugen nach den verletzlichen Gelenken und ungeschützten Hälsen. Schwester Marion schritt steifbeinig ins dichteste Getümmel und schwankte hin und her, war irgendwie nie dort, wo der Gegner sie erwartete. Sie holte mit dem Schwert weit aus, durchschnitt direkt die leuchtenden Augen eines Hadenmanns und gab ihrer Beute mit dem Messer den Rest, indem sie die dicken Adern an der Oberseite der Schenkel durchtrennte. Blut spritzte auf ihre unheimliche Hexenkluft und schien dort perfekt zu passen.

Schwester Kathleen führte ihr Schwert beidhändig und bahnte sich mit schierer Entschlossenheit einen Weg durch die Reihen ihrer Feinde. Sie wich deren Angriffen mit raschen Bewegungen aus, war so schwer zu greifen wie Quecksilber, und ließ tote Hadenmänner hinter sich zurück.

Oberst Wilhelm Hand warf sich den Hadenmännern mit grimmiger Entschiedenheit und einiger Befriedigung entgegen, froh darüber, endlich wieder zu tun, was seine Bestimmung war und was er so gut tat. Er brüllte und sang alte Schlachtrufe, während sein Schwert stieg und fiel, ein Akt simpler Metzelei, und war froh im Herzen. Die Aufgerüsteten versuchten, ihm in Überzahl zu begegnen, aber Otto war stets zur Stelle und hielt ihm den Rücken frei, hackte den Hadenmännern die langen Beine ab und brachte sie so zu Fall, damit er die Hälse und Gesichter mit dem Messer angreifen konnte. Er lachte und kicherte beim Töten und ergötzte sich an der Zerstörung solch perfekter Gestalten.

Und überall, sowohl innerhalb der Mission wie außerhalb, kämpften die Leprakranken nach besten Kräften, mit Schußwaffen und Schwertern und geschärften landwirtschaftlichen Geräten, mit allem, was ihnen unter die grauen, verfaulenden Hände geraten war. Jeder, der aufrecht stehen konnte, war zum Kampf gekommen, und alle warfen sich mit der stillen Verzweiflung derjenigen gegen den Feind, die wußten, daß sie ohnehin starben. Und vielleicht auch, weil sie entschlossen waren, das wenige zu behalten, was in ihrem Leben immer noch von Wert und Bedeutung war – die Station, ihre Heime und die Heilige, die gekommen war, um ihnen Hoffnung zu geben, wo sie doch schon gedacht hatten, sie wäre ihnen für immer verlorengegangen.

Sie waren bereit, für die Mission zu kämpfen, aber sie waren auch bereit, für Sankt Bea zu sterben.

Langsam wurden die Hadenmänner aus der Missionsstation hinaus- und auf die Lichtung zurückgetrieben, und auf beiden Seiten starben viele dabei. Der zusätzliche Freiraum begünstigte die Hadenmänner, gab ihnen mehr Platz und Gelegenheit, ihre Kraft und Schnelligkeit auszunutzen, also hielten sich die Verteidiger dicht an die Palisade, bewachten die Löcher darin und lehnten es ab, sich weiterlocken zu lassen. Und immer noch strömten Hadenmänner aus dem umgebenden Dschungel hervor, Hunderte und aber Hunderte, groß und vollkommen und vollkommen tödlich.

Eine Gruppe Hadenmänner fällte mit ihren Strahlenwaffen einen Baum und setzte ihn als Rammbock gegen das Haupttor der Mission ein. Solange das Tor hielt, waren die Leprakranken vor der Hauptmasse des Feindes geschützt, und beide Seiten wußten das. Das schwere Holztor erbebte unter jedem Stoß, und die großen Metallangeln ächzten laut. Die Wachleute auf den Türmen schossen fortlaufend Pfeilsalven auf die sich abmühenden Hadenmänner, aber selbst wenn einer fiel, war sofort ein anderer da und trat an seine Stelle. Das Tor beulte sich allmählich nach innen aus. Die Hadenmänner hatten jedoch durch das ständige Hin und Her den Boden zu dickem Matsch aufgewühlt, und sie rutschten unter dem Gewicht des Stamms in dem tückischen Morast aus. Und dann trafen Owen und Hazel ein und rettete ihre Seite.

Sie rannten durch die verstreuten Gruppen von Kämpfenden und hieben jeden nieder, der ihnen in die Quere kam. Die Aufgerüsteten ließen den Stamm fallen, wandten sich mit summenden Servomotoren dem neuen Gegner zu und empfingen Owen und Hazel mit Schwerthieben, die so schnell ausgeführt wurden, daß man nur verwaschene Bewegungen im Regen sah.

Owen und Hazel hielten dem jedoch mühelos stand und griffen ihrerseits die Hadenmänner an. In dem Gedränge wurden sie schnell getrennt, und alle rutschten im Schlamm aus und mußten sich oft an dem Baumstamm festhalten, während sie um sich schlugen.

Hazel griff einen riesigen Hadenmann im Zweikampf an.

Schläge und Paraden und Gegenschläge folgten mit unmenschlicher Schnelligkeit aufeinander, und bei jedem Zusammenprall flogen Funken von den Schwertern. Der Regen prasselte rings um sie hernieder und lief ihnen über die konzentrierten Gesichter. Letztlich schlug Hazel mit ihrer überlegenen Kraft die Klinge des Hadenmanns zur Seite und rammte ihm ihr Schwert so fest in die Brust, daß es am Rücken wieder austrat. Er fiel auf die Knie, und das goldene Licht seiner Augen erlosch langsam. Hazel riß das Schwert wieder heraus, begleitet von einem letzten Blutschwall, und sah sich nach frischer Beute um.

Owen lief flink zwischen den Hadenmännern umher. Mit seinem leichteren Körperbau konnte er sich unter den matschigen Bedingungen besser bewegen. Sein Schwert blitzte immer wieder auf, stets ein klein wenig zu schnell für die Aufgerüsteten, die ihn einzuschließen versuchten. Er schien stärker und schneller zu werden, je länger er kämpfte, als würde etwas in ihm erwachen – bis er schließlich mehr war als nur ein Kämpfer oder Krieger. Er fühlte sich unbesiegbar, empfand sich mehr als Naturgewalt, vor die Aufgabe gestellt, den Hadenmännern zu demonstrieren, daß sie den falschen Weg beschatten. Er stampfte herum und machte einen Ausfall – und er rutschte im Matsch aus und stürzte.

Er schlug ungeschickt auf, prallte mit dem rechten Ellbogen auf etwas Massives, und das Schwert fiel ihm aus den Fingern, die für einen Moment taub geworden waren. Sofort waren Hadenmänner überall um ihn herum und stachen in einem fort auf ihn ein, und nur ihr unsicherer Stand gab Owen die Möglichkeit, sich wieder aufzurappeln. Er schoß einem Hadenmann aus kürzester Distanz in die Brust, und die anderen wichen zurück.

Owen griff nach dem Messer, das er im Stiefel stecken hatte, und fluchte und lästerte, während er sich verzweifelt nach seinem Schwert umsah.

Und dann blickte er gerade rechtzeitig auf, um das stumpfe Ende des riesigen Rammbocks heranzucken zu sehen. Vier Hadenmänner hatten sich aus dem Getümmel ringsherum entfernt, um den Stamm mit laut summenden Servomotoren aufzuheben, und mit schierer Entschlossenheit stürmten sie mit ihrer Last durch Regen und Matsch vor. Owen fand gerade noch die Zeit, seinen Tod kommen zu sehen, dann erwischte ihn der riesige Baumstamm voll und rammte ihn an das Haupttor.

Für einen Augenblick war es wie im Traum. Das Ende des Stamms sperrte das Licht aus, als wäre speziell für Owen die Nacht hereingebrochen. Dann wurde er von vorne schwer getroffen und einen Augenblick später noch einmal von hinten, und er hatte das Gefühl, die Last der ganzen Welt würde ihn niederdrücken. Er spürte, wie sein ganzer Körper, Knochen und Organe, regelrecht flachgedrückt wurde, schon bevor irgend etwas tatsächlich zerbrach. Dann spürte er den Schmerz, und es war gar nicht mehr wie im Traum.

Die Rippen brachen, gaben unter dem Druck nach, spießten Lungen und Herz auf. Blut spritzte ihm aus Mund und After.

Der Rammbock schwenkte zurück, aber Owen blieb, wo er war, klebte im eigenen Blut fest. Der Schmerz war so schlimm, daß er nicht mal mehr denken konnte, in der Agonie des Augenblicks gefangen wie eine Fliege in Bernstein. Langsam glitt er jetzt hilflos am Tor herunter und hinterließ eine Spur aus dunklem Blut auf dem Holz, das unter der Gewalt des Einschlags gebrochen und zersplittert war.

Owen lag reglos im Schlamm und hörte nicht einmal, wie Hazel vor Entsetzen und Wut schrie, sah nicht, wie sie über die Hadenmänner herfiel und alle umbrachte. Er lag im Matsch, während der Regen langsam das Blut aus seinem verwüsteten Gesicht spülte, und dachte: Was für eine dumme Art zu sterben! So vieles bliebe noch zu tun. Und dann kam ihm der Gedanke: Nein! Ich werde nicht sterben! Ich weigere mich. Nicht hier und nicht jetzt, wo ich noch gebraucht werde.

Er tastete mit den Gedanken nach innen, in den geheimnisvollen Winkel seines Unterbewußtseins, der seine besonderen Kräfte enthielt, und erweckte sie mit schierer Willenskraft. Er zerrte sie aus jenem dunklen Ort hervor und lenkte sie in den zerstörten, sterbenden Körper. Heilende Energie lief knisternd durch ihn hindurch, und er hätte am liebsten geschrien, als neuer Schmerz auftrat von den gebrochenen Knochen, die sich langsam wieder zusammenfügten. Erst als jedoch auch die Lungen wiederhergestellt waren und Luft aufnehmen konnten, brachte er auch nur die Spur eines Wimmerns zustande. Das Herz heilte sich innerhalb eines Augenblicks und schlug von neuem fest und kräftig. Die Knochen wurden stark, die Organe gesund, und all das schmerzte wie im Schlund der Hölle. Und dann zogen sich die Labyrinthkräfte wieder in die Tiefe zurück.

Owen lag dort im Schlamm, durchnäßt vom eigenen Blut und schwach wie ein kleines Kätzchen, aber er war vom Rande des Todes zurückgekehrt, durch nichts weiter als die Weigerung, sich irgend etwas zu beugen, und sei es der Schwäche des eigenen Körpers.

Na ja, dachte er schließlich. Wieder mal eine Fähigkeit, von der ich noch gar nichts geahnt hatte.

Hazel sank neben ihm auf die Knie, die Augen weit aufgerissen vor Entsetzen über die Menge an Blut. »Bleib still liegen, Owen. Ich hole Hilfe.« Ihre Stimme bebte vor mühsam zurückgehaltenen Tränen. »Stirb nicht. Wage ja nicht, mir einfach wegzusterben, Owen! Das dulde ich nicht.«

»Sachte, meine Liebe«, sagte Owen, und es war kaum mehr als ein Flüstern. »Ich bin in Ordnung. Habe mich selbst geheilt.

Helft mir auf.«

Hazel kontrollierte zunächst mit erfahrenen Händen seine Brust und zerrte ihn dann auf die Beine. »Alle Teufel, Owen, als ich sah, wie dich dieser verdammte Baum gerammt hat, dachte ich, diesmal hätte ich dich ganz sicher verloren. Kann uns überhaupt noch etwas umbringen?«

Owen lächelte grimmig. »Oh, ich denke, ein direkter Disruptorschuß in den Kopf würde wahrscheinlich reichen. Oder ein Pflock durchs Herz. Aber wir werden ständig zäher. Helft mir jetzt hinein, denn ich nütze niemandem etwas, ehe ich nicht wieder zu Atem gekommen bin.«

Hazel half ihm, zum nächstgelegenen Loch in der Palisade zu humpeln. Die verbliebenen Hadenmänner wichen ihnen weiträumig aus.

Bonnie Chaos tanzte zwischen den Hadenmännern herum wie der plötzliche Tod auf zwei Beinen. Jeder ihrer Angriffe war tödlich, und sie machte sich nicht die Mühe, selbst Schläge abzuwehren. Wenn sie verletzt wurde, lachte sie nur laut und sonnte sich in der Geschwindigkeit, mit der ihr Fleisch heilte.

Für sie war die Ehre des Zweikampfes nicht geschaffen, und falls sie mal etwas von Fairplay gehört hatte, dann nur, um darüber zu lachen. Sie sprang hierhin und dorthin, und ihr Schwert blitzte aus dem Nichts hervor, um eine ungeschützte Flanke oder einen ihr zugewandten Rücken zu durchbohren.

Bonnie Chaos war eine Kämpferin, keine Kriegerin, und hatte überhaupt keine Zeit für Ehre. Sie wäre ihr nur im Weg gewesen. Sie streckte ihre Gegner mit wilden, herzlosen Angriffen nieder und ignorierte die Hilferufe der Leprakranken, die rings um sie kämpften. Sie war nicht hier, um irgend jemandem als Schild oder als Partnerin zu dienen. Mit ihren Kräften und Fähigkeiten war sie für die Verteidigung der Missionsstation wichtiger als irgendein verdammter, dummer Kolonist, der das Händchen gehalten haben wollte.

Mitternachtsblau schwang ihre Axt beidhändig und hackte mit übermenschlicher Kraft Köpfe und Gliedmaßen ab. Immer wieder spritzte Hadenmännerblut auf sie wie eine kräftigende Dusche, und sie trug es mit Stolz. Sie röhrte die heiligen Gesänge ihres Kriegerordens und schnitt sich einen Weg durchs Schlachtgetümmel frei wie ein Holzfäller, der einen neuen Weg in einen dichten Wald schlug. Die Hadenmänner fielen fast hilflos vor ihrem kalten, konzentrierten Zorn und erhoben sich nicht wieder. Mitternacht steckte heftige Schläge und Verletzungen ein, ohne mit der Wimper zu zucken, ignorierte sie in ihrer Kampfeswut. Die meisten ihrer Wunden schlossen sich sofort wieder, und derer, die ein wenig länger brauchten, achtete sie nicht. Sie focht an der Spitze einer kleinen Gruppe von Leprakranken und hielt ihnen ebenso den Rücken frei wie sich selbst. Sie hätte an jeden anderen Ort der Schlacht teleportieren können, war aber nicht bereit dazu, solange sie an Ort und Stelle gebraucht wurde.

Zuzeiten fiel einer ihrer Leute, ungeachtet all ihres Beistandes, und dann füllte sich ihr Herz mit Wut. Die Kranken kämpften alle so tapfer, aber am Ende waren sie keine Gegner für Hadenmänner. Einer nach dem anderen fiel, bis Mitternacht wieder allein war. Da verschwand sie und tauchte an anderer Stelle auf, wo man sie brauchte, um eine weitere Gruppe von Leprösen zu beschützen, solange sie es vermochte.

Bonnie und Mitternacht begegneten sich im Zentrum der Schlacht, und wo sie Rücken an Rücken ihre Stellung verteidigten, konnte niemand sie vertreiben. Sie blockierten den Weg zum größten Loch in der Palisade, und die Hadenmänner strömten ihnen entgegen wie eine endlose Flut, nur um einer nach dem anderen tot oder sterbend zu fallen, wie Wellen, die sich an einem Felsen brachen. Die Hadenmänner verfügten über Strahlenwaffen, aber im ständigen Hin- und Herwogen der Leiber fiel es selbst ihren aufgerüsteten Lektronenhirnen schwer, irgendein Ziel zu treffen. Und so nahm die Schlacht ihren Lauf, bis die schiere Übermacht der Hadenmänner selbst Bonnie und Mittemacht Schritt für Schritt zurücktrieb, bis sie direkt im Loch standen, von wo sie sich nicht mehr vertreiben ließen. Bis die Hadenmänner einen großen Gegenstand herbeischleppten, eingewickelt in zahlreiche Schichten aus wasserdichtem Schutzmaterial. Die Aufgerüsteten, die gegen Bonnie und Mitternacht stritten, brauchten nur einen Blick darauf zu werfen und wichen gleich hastig aus. Bonnie und Mitternacht senkten die Waffen und musterten zunächst sich gegenseitig und dann den Gegenstand. Die Hadenmänner zogen die Schutzhülle herunter und legten eine tragbare Disruptorkanone frei. Bonnie funkelte Mitternacht an.

»Mach dich vom Acker, Teleporterin! Verschwinde!«

»Ich lasse dich nicht im Stich.«

»Ich regeneriere mich, erinnerst du dich?«

»Nein, nicht davon.«

»Teleportiere, verdammt! Ich würde flüchten, falls ich glaubte, es gäbe eine Zuflucht.«

»Bonnie…«

»Geh! Ich weiß seit jeher, daß ich allein sterben werde.«

Mitternacht stieß einen Schrei der Wut und Qual aus und verschwand. Luft stürzte in den Leerraum, den sie hinterlassen hatte. Mitternacht tauchte hinter der Mannschaft der Disruptorkanone auf und hieb mit der Axt um sich. Aber noch während die Hadenmänner tot oder sterbend niedersanken, hatte einer von ihnen schon gezielt und geschossen. Energien, die Stahl verdampfen und Kraftfelder durchschlagen konnten, überquerten mit Lichtgeschwindigkeit die Distanz zu Bonnie. Als die Kanone den Strahl wieder abschaltete, klaffte ein Loch in der Wand, das gereicht hätte, eine Armee hindurchzuführen, und es gab keine Spur mehr von Bonnie Chaos.

Mitternachtsblau heulte auf unter dem Schmerz des Verlustes

– über den Tod von jemandem, der sie selbst hätte sein können, über den Tod einer guten Waffengefährtin. Und vielleicht ein wenig über das Wissen, daß sie ungeachtet ihrer Kraft und Schnelligkeit nicht jeden retten konnte, nicht einmal, wenn es ihr am meisten darauf ankam. Sie metzelte den Rest der Bedienungsmannschaft nieder und stemmte die Kanone über den Kopf, wobei sich ihre Armmuskeln kräftig wölbten. Noch nie zuvor hatte sie ein solches Gewicht gehoben, aber in diesem Augenblick glaubte sie, daß sie es für immer hochhalten konnte. Sie blickte sich um, suchte sich die dichteste Konzentration von Hadenmännern aus und schleuderte die Kanone mit aller Kraft unter sie. Das Geschütz explodierte beim Aufprall, und ein Blitz intensiven Lichts zuckte durch die Aufgerüsteten hindurch und blies sie davon wie Blätter in einem Feuersturm. Als der Erdboden schließlich wieder zur Ruhe kam, öffnete sich dort ein tiefer Krater, und überall lagen zerstörte Körper. Einige davon Leprakranke. Mitternacht bemühte sich, etwas für sie zu empfinden, schaffte es aber nicht, noch nicht. Nicht, solange dieses taube Loch in ihr klaffte, wo früher Bonnie gewesen war. Sie stolperte zur Palisade zurück, um das riesige Loch zu verteidigen. Und in diesem Augenblick hörte sie das Geräusch aus dem Inneren.

Mitternacht stieg durch das Loch und entdeckte die Überreste von Bonnie Chaos ein Stück weit innerhalb der Mission. Es handelte sich überwiegend um Knochen, versengt und geschwärzt von den entsetzlichen Energien des Disruptorstrahls, aber immer noch von Strängen blutigen Fleisches irgendwie zusammengehalten. Fetzen von Organen pulsierten weiterhin unter den gebrochenen Rippen und dem eingedrückten Brustbein. Es war schrecklich, aber dieses Ding lebte noch und litt.

Mitternacht stolperte vor und kniete neben Bonnie nieder. Der Schädel grinste sie mit zerbrochenen Zähnen an, aber unglaublicherweise war eines der Augen noch intakt. Während Mitternacht hinsah, bildete sich in der zweiten Augenhöhle ein neues Auge. Muskelstränge entstanden aus dem Nichts, krochen wie Würmer über die Knochen und zogen den Unterkiefer wieder an Ort und Stelle zurück. Weiter unten reparierten sich die Organe. Mitternacht richtete den Blick wieder auf den Kopf. Haut bildete sich neu, und Lippen schlossen sich langsam über den Zähnen. Der Mund öffnete sich, und der Atem fuhr zischend ein und aus.

»Hab dir ja gesagt, daß ich das wegstecke«, flüsterte Bonnie Chaos und lächelte schmerzlich. »Wir haben schon einmal den direkten Treffer einer Kanone überlebt, damals auf Nebelwelt, weißt du noch? Natürlich war damals Owen bei uns. Zusammen waren wir immer stärker.«

»Jesus, bist du vielleicht in einem Zustand!« sagte Mitternacht, unschlüssig, ob sie lachen oder weinen sollte. »Ich bringe dich in die Krankenstation.«

»Keine Zeit. Bewache du das Loch in der Palisade, während ich zusehe, daß ich mit der Regeneration fertig werde. Und solltest du sehen, wie sie eine zweite Disruptorkanone aufstellen, heb mich auf und renne wie der Teufel, weil ich einen weiteren Treffer dieser Art auf keinen Fall überleben würde.«

»Klarer Fall«, sagte Mitternacht. »Sollte jemand an mir vorbeikommen, beiße ihm in die Knöchel.«

Sie kehrte zur Lücke zurück und versagte den Hadenmännern jeden Zutritt zur Mission. Sie stand dort, die Axt in Händen, entschlossen, hier standzuhalten, bis die Schlacht vorüber war oder sie fiel oder die Hölle gefror, was auch immer zuerst geschah.

Die beiden Ruhmreichen Schwestern waren scheinbar überall zugleich, führten ihre leprakranken Schützlinge an, taten dies aus der ersten Reihe und sangen Kirchenlieder und Psalmen, während sie sie jeden niederstreckten, der sich ihnen entgegenstellte. Die Kolonisten kämpften mit dem Mut von Kriegern und wehrten die Hadenmänner ab, solange sie konnten. Ungeachtet ihrer Kraft und Schnelligkeit, ihrer implantierten Panzerungen und Stahlgewebe hielten die Aufgerüsteten einem Gegner nicht stand, der sich ins Getümmel warf und nicht darum scherte, ob er überlebte oder starb. Ein Leprakranker klammerte sich jeweils an den Schwertarm eines Hadenmanns, während ein anderer dessen Hals angriff. Andere akzeptierten, daß ihnen ein Schwert in den Bauch gerammt wurde, so daß es feststeckte, während andere den Mörder zu Boden brachten. Die Hadenmänner waren tüchtig, die Leprakranken aber inspiriert. Die Schlacht wogte hin und her, mal zur Missionsstation hin, mal davon weg, und keine Seite konnte ihren Vorteil jeweils lange wahren.

Schwester Kathleen erblickte die Bombe als erste. Kathleen befand sich im Augenblick an einer ruhigen Stelle, blickte sich nach einem neuen Gegner um und entdeckte sechs Hadenmänner, die langsam eine schwere Bombe zum Haupttor der Mission schleppten. Eine Leibwache aus sechs weiteren Hadenmännern schützte den Transport und bahnte ihm mit Disruptoren den Weg. Kathleen erkannte, womit sie es bei diesem Apparat zu tun hatte, denn sie hatte im Bergbau gearbeitet, ehe sie zur Kirche kam. Sie machte Marion auf sich aufmerksam und informierte sie über die neue Gefahr, und gemeinsam bahnten sie sich einen Weg durchs Schlachtgetümmel auf die Bombe zu.

Die beiden Schwestern erreichten die Ehrengarde der Bombe gemeinsam und stürzten sich auf die ahnungslosen Hadenmänner. Da ihre Waffen erschöpft waren, wehrten sich diese mit blankem Stahl und wollten nicht weichen. Die Ruhmreichen Schwestern fochten wild, aber sie hatten schon einen langen Kampf hinter sich und waren schließlich auch sehr krank, da die Lepra an ihrer Kraft und Ausdauer ebenso fraß wie an allem anderen. Die Servomotoren in den Armen der Hadenmänner dagegen ermüdeten nie. Der Bombentransport war unweit des Randes der Lichtung gestoppt, aber die Schwestern konnten den Sprengsatz selbst nicht erreichen.

Sie kämpften weiter, und ihr Glaube trieb sie über den Punkt hinaus, an dem jeder andere aufgegeben hätte oder vor Erschöpfung zusammengebrochen wäre, aber schließlich war es allein Kathleen, die erkannte, worauf es ankam. Sie sprach ein letztes Gebet zu Gott und erzwang sich den Weg zwischen zwei Hadenmänner, indem sie alles in einen Angriff warf, der sie selbst schutzlos zurückließ. Sie brach durch, nahm Kurs auf die Bombe, und zwei Schwerter trafen sie gleichzeitig von hinten, durchbohrten Rücken und Nieren. Sie schrie einmal auf, wobei ihr Blut aus dem Mund spritzte, setzte aber ihren Weg fort und erreichte die Bombe mit dem Impuls, den ihr der letzte heftige Angriff verschafft hatte. Sie schlug wild mit dem Schwert um sich und tötete einen der Hadenmänner, die die Bombe trugen, und der Sprengsatz fiel zu Boden. Und dann war es für Kathleen das einfachste auf der Welt, die Hand auszustrecken und die auf fünf Minuten eingeschaltete Zeitzündung zu aktivieren.

Schwester Marion sah, was ihre Gefährtin getan hatte, und schrie hilflos auf, als Kathleen sich auf die Bombe warf und entschlossen daran festhielt, so daß die Hadenmänner nicht herankamen und die Zündung nicht rückgängig machen konnten. Schwester Marion drehte sich um und lief zur Missionsstation hinüber, schrie dabei den übrigen Leprakranken zu, sie sollten sich zurückziehen. Andere griffen den Ruf auf, vertrauten ihrer Entscheidung, und bald hatten sich alle Verteidiger von Sankt Beas Mission aus der Schlacht gelöst und liefen über die Lichtung zum Haupttor und den großen Löchern in der Palisade. Zuerst setzten die Hadenmänner ihnen nach, aber sie erkannten rasch, daß etwas nicht stimmte. Sie blieben stehen, argwöhnten eine Falle oder irgendeinen Trick.

An der Bombe hackten die Hadenmänner auf Kathleen ein, damit sie endlich losließ, aber sie klammerte sich mit letzter Kraft daran, schrie über die furchtbaren Schmerzen ihrer Wunden, weigerte sich aber, den Griff zu lockern. Sie hatte ihre Position sehr sorgfältig gewählt. Die Hadenmänner mußten sich überlegen, wo sie zuschlugen, um nicht die Bombe zu beschädigen. Schließlich starb Kathleen, obwohl die Aufgerüsteten einige Zeit brauchten, bis sie es bemerkten. Sie lösten die Hände der toten Nonne von dem Sprengsatz, wozu sie die Finger brechen mußten, und warfen die Leiche zur Seite. Erst in diesem Augenblick sahen sie die Schaltuhr und erkannten, was Kathleen mit ihrem trotzigen Tod erkauft hatte. Die Hadenmänner wandten sich zur Flucht, und die Bombe explodierte.

Die Detonation tötete jeden Hadenmann, der noch auf der Lichtung war, riß einige Bäume an der Peripherie um und erschütterte die Palisade der Mission. Die Leprakranken hatten es rechtzeitig geschafft, in die Station zurückzukehren und das Haupttor zu sichern, und obwohl einige Schäden an den kleineren Häusern auftraten, überlebten die Kolonisten und ihre Helden. Nachdem das letzte Beben der Explosion vorüber war und Wände und Boden nicht mehr wackelten, öffnete Schwester Marion das Haupttor und blickte hinaus. Von der angreifenden Armee war nichts weiter geblieben als ein paar verstreute, halbgeschmolzene Metallgestalten. Die Streitmacht der Hadenmänner war verschwunden, als hätte sie nie existiert. Von Schwester Kathleen war keine Spur mehr zu erkennen. Schwester Marion seufzte und zog laut die Nase hoch.

»Das sollte diese Metallmistkerle lehren, nicht mit gefährlichen Sachen zu spielen. Gott segne und erhalte dich, Schwester Kathleen, und verdamme alle Hadenmänner.«

Auf die Schlacht folgte das Aufräumen. Die Löcher in der Schutzwand mußten repariert oder zugenagelt werden. Die Verwundeten kamen auf die Krankenstation, und die Toten wurden in einer der Vorratshütten aufgestapelt. Später war noch Zeit für die Bestattung. Hoffentlich. Zunächst mußte man jeden Toten identifizieren, damit Freunde und Nahestehende Abschied nehmen konnten. Einige Leichen waren so entstellt, daß es schwerfiel, sie zu identifizieren. Diese Unglücklichen wurden in Reihen in einer eigenen Hütte aufgebahrt, und weinende Überlebende schritten langsam durch die schmalen Zwischengänge und hielten Ausschau nach jemandem, der ihnen vertraut erschien. Die Toten einzusammeln und sie entweder zu identifizieren oder aufzubahren war eine beunruhigende, deprimierende Aufgabe, aber sie mußte ausgeführt werden. Die meisten derer, die zum Kampf hinausgezogen waren, waren körperlich oder geistig nicht mehr in der richtigen Verfassung dafür, also fiel diese Pflicht denen zu, die als letzte Abwehrlinie in der Station zurückgeblieben waren, um dort notfalls die zu verteidigen, die zu krank waren für den Kampf. Oberst Wilhelm Hand und Otto war es letzten Endes zugefallen, das Haupttor zu schützen und die taktische Aufsicht zu führen, sehr zu ihrem Widerwillen, und sie nutzten nun ihre militärische Erfahrung für das Einsammeln der Toten. Deren Zahl erhöhte sich ständig, da Männer und Frauen starben, während sie darauf warteten, daß man sie zur Krankenstation brachte.

Die Toten versetzten Hand und Otto nicht in Unruhe. Sie hatten in ihrer Zeit schon genug Leichen gesehen und betrachteten sie nun eher als Objekte und weniger als die Personen, die sie einmal gewesen waren. Tobias Mond half ihnen. Man hatte ihm nicht gestattet, hinauszugehen und zu kämpfen, da man ihn zu leicht mit einem der Gegner hätte verwechseln können. Und so trug er jetzt die Toten in die lange, schmale Hütte und legte sie dort in ordentlichen Reihen aus, und seine aufgerüsteten Arme bewältigten die Last noch lange über den Punkt hinaus, an dem auch die entschlossensten Leprakranken durch schiere Erschöpfung hatten aufgeben müssen. Er war froh über die Chance, helfen zu können. Die Leichen belasteten ihn nicht. Er hatte selbst schon zu ihnen gehört.

Wilhelm Hand schritt langsam die Reihen auf und ab, versah jede Leiche mit einer Nummer und notierte sich Sachen wie persönlichen Schmuck, um die Identifizierung zu unterstützen.

Otto stolperte ein und aus und beförderte dabei in Decken gewickelte Leichenteile. Man wollte sie später zusammenfügen, falls das möglich war. Zunächst stapelte er sie alle in einer Ecke und dankte Gott dafür, daß man auf Lachrymae Christi keine Ratten antraf. Mit einem betonten Grunzen packte er seine letzte Last auf den brusthohen Stapel, drehte sich um und verzog das Gesicht.

»Jesus, hier stinkt es aber, Oberst! Hätte man uns nicht wenigstens eine Hütte mit Fenstern zuteilen können?«

»Verspritze ein bißchen Desinfektionsmittel«, sagte Hand, ohne von seinem Klemmbrett aufzublicken. »Und falls du irgendwas siehst, was klein ist und sich schlängelt, dann haue mit etwas darauf, was schwer ist.«

»Geht nich’«, wandte Otto ein. »Sankt Bea hat alle Desinfektionsmittel für die Krankenstation beschlagnahmt. Sie hat als Reserve sogar allen Schnaps im Lager eingesammelt. Nächstes Mal, Oberst, sollten wir uns nicht vom Kampf abhalten lassen.

Ich würde mich lieber mit dem Buckel voraus einer ganzen Armee von Hadenmännern entgegenstellen, als diese Scheiße noch mal durchzumachen. Das ist zu sehr, als würde man für seinen Lebensunterhalt arbeiten.« Der Zwerg sah sich um und schwieg längere Zeit. »Wir haben da draußen eine Menge gute Leute verloren, Oberst. Fünfzehn, vielleicht zwanzig Prozent.

Und bis morgen werden noch viel mehr tot sein.«

»Die Hadenmänner haben verflucht viel mehr verloren.«

»Jap, aber sehen wir der Sache ins Auge – das war nur ein einleitendes Scharmützel. Ein Voraustrupp, um die Verteidigung auf die Probe zu stellen. Jedenfalls hätte ich es so gemacht. Die eigentliche Armee lauert immer noch irgendwo da draußen im Dschungel und verdaut die Lektionen, die sie erhalten hat. Und sie könnte uns jederzeit angreifen.«

»Weißt du, Otto, es ist dein heiteres Naturell, das mich auf den Beinen hält. Hast du nicht zu arbeiten?«

»Nee. Keine Leichenteile mehr. Für die letzte Fuhre mußte ich Schaufel und Eimer benutzen. Dabei ist mir unerfindlich, wie Ihr Ohren und Zähne und blutige Klumpen zusammensetzen wollt. Weiß gar nicht, was wir mit den Teilen anfangen sollen, die niemand beansprucht. Außer vielleicht Suppe daraus machen.«

Der Oberst blickte vom Klemmbrett auf. »Deine Familie, das waren ja auch Kannibalen, nicht wahr?«

»Nur an religiösen Feiertagen. Und nur, wenn wir jemanden wirklich nicht leiden konnten.«

»Fertig«, sagte Tobias Mond von der Tür her. »Keine weiteren Leichen mehr, auch wenn viele Leute schwer verletzt sind.

Ich denke, Ihr beide solltet Euch jetzt ausruhen. Ich kann die Arbeit fortsetzen. Ich bin überhaupt nicht müde.«

»Dann seid Ihr damit der einzige in der Mission«, sagte der Oberst. Er sah das Klemmbrett an und ließ es dann zu Boden fallen. »Machen wir eine Pause, Otto. Ich denke, wir haben sie uns verdient.«

Die beiden setzten sich auf den Boden, so weit entfernt wie nur möglich von den Leichen und dem Geruch, und lehnten sich müde an die Wand. Otto brachte von irgendwoher unter seinen Kleidern einen ramponierten metallgrauen Flachmann zum Vorschein, blinzelte dem Oberst zu, und beide nahmen je einen tiefen Schluck daraus. Mond stand unsicher unter der Tür. Hand winkte ihn herüber.

»Leistet uns Gesellschaft, Sir Mond. Auch Ihr habt Euch eine Pause verdient, selbst wenn Ihr sie nicht braucht. Setzt Euch doch. Hättet Ihr Geschmack an etwas wirklich Üblem?«

»Danke«, sagte Mond. Alkohol bewirkte bei ihm nichts, aber er nahm die angebotene Flasche trotzdem an. Er wußte, daß das zu geselligem Umgang gehörte. Er setzte sich neben den Oberst, nahm einen bescheidenen Schluck und gab die Flasche zurück. »Es hat ein… ungewöhnliches Aroma.«

Otto lachte. »Das Aroma ist nicht der Grund, warum man es trinkt, mein Freund. Du warst draußen auf dem Torplatz. Wie lauten die neuesten Nachrichten?«

Mond zögerte und leitete die Informationen durch einen Filter, der heraussuchte, was die meisten Leute interessant fanden.

»Die Löcher in der Palisade sind gestopft. Die wenigen Brände haben bemerkenswert wenig Schaden angerichtet.«

»Die Leute, Mond«, sagte Hand geduldig. »Was ist mit Euren Freunden, den lebenden Legenden?«

»Der Todtsteltzer wurde schwer verwundet, hat sich aber wieder erholt. Hazel D’Ark und Mitternachtsblau helfen Mutter Beatrice in der Krankenstation. Bonnie Chaos hat umfangreiche Schäden erlitten, heilt aber mit erhöhtem Tempo und erwartet, in einer oder zwei Stunden wieder voll funktionsfähig zu sein. Die von uns, die das Labyrinth des Wahnsinns durchschritten haben, sind nur schwer umzubringen.«

»Ja«, sagte der Oberst. »Das ist uns aufgefallen. Ihr seid wahrscheinlich sogar immun gegen das, was wir uns eingefangen haben.« Hand musterte Mond ausgiebig. »Was hättet Ihr getan, wenn die Hadenmänner unsere Abwehr durchbrochen hätten und hierhergelangt wären? Hättet Ihr gegen Euer eigenes Volk gekämpft?«

»Ja«, antwortete Mond sofort. »Weil es nicht mehr mein Volk ist. Ich bin weder Mensch noch Hadenmann. Ich schulde keiner Lebensform mehr Treue, nur noch meinen Freunden.«

»Letztlich ist das alles, was wir haben«, meinte Hand und hob die Flasche erneut an die grauen Lippen. »Freundschaft und Ehre. Nichts sonst spielt eine Rolle.«

»Aber was, wenn die Ehre verlangt, sich gegen die eigenen Freunde zu wenden?« fragte Mond.

»Heikle Frage«, fand Hand. »Ich schätze, man muß sich selbst fragen: Wären sie noch Freunde, wenn sie wüßten, daß man die eigene Ehre verraten hat?«

»Es ist schwer, ein Mensch zu sein«, seufzte Mond.

»Du sagst es«, warf Otto ein.

Als sich alles wieder beruhigt hatte, war es schon Nacht. Sie kam früh auf Lachrymae Christi. Sankt Bea und Schwester Marion arbeiteten noch auf der Krankenstation und kämpften mit einer unzulänglichen Ausstattung an Medikamenten und Instrumenten um das Leben von Menschen. Allmählich sah es hier weniger aus wie in einem Krankenhaus und mehr wie in einem Schlachthaus. Hazel D’Ark und Mitternachtsblau halfen nach besten Kräften und legten Pausen ein, die sie draußen verbrachten, wenn sie jeweils die Schreie und das Leid und den Gestank freigelegter Eingeweide nicht mehr verkrafteten. Sie saßen dann gemeinsam auf der Außentreppe, atmeten die frische Luft und rafften den Mut zusammen, wieder hineinzugehen. Es war schwer, so mächtig und so hilflos zugleich zu sein.

Nach einer Weile kam Bonnie Chaos aus den Schatten heranmarschiert und schloß sich ihnen an. Sie trug die graue Standardkleidung und war vollständig geheilt – und zwar so weitgehend, daß sie sie kaum wiedererkannten. Alle Piercings und Tätowierungen und Körpermodifikationen waren verschwunden, weggebrannt von dem Energiestrahl und im Zuge der Heilung nicht wieder neu gebildet. Bonnie schnitt ein sehr finsteres Gesicht, als sie sich neben Hazel setzte und dabei doch etwas unsicher wirkte.

»Ich hasse es, so auszusehen wie alle anderen. Jahre harter Arbeit in einem Augenblick zunichte gemacht! Selbst die alten Ledersachen sind zerstört worden, die ich unter dem Mantel getragen habe. Ich hatte sie seit Jahren. Habe sie aus der Haut eines alten Feindes hergestellt. Und ich fühle mich immer noch schwach von der Regeneration. Mußte dabei noch nie so viel Arbeit leisten. Falls die Hadenmänner jetzt angriffen, könnte ich sie nicht mehr mit einem Papierhandtuch abwehren.«

»Schön, dich zu sehen«, sagte Mitternacht. »Uns geht es gut, danke.«

»Du ähnelst mir jetzt stärker«, fand Hazel.

»O Gott!« rief Bonnie. »So schlimm kann es doch nicht sein, oder?«

»Tut sich irgendwas draußen im Dschungel?« fragte Mitternacht.

»Nur die Pflanzen, die sich gegenseitig fressen und bumsen.

Wie läuft es auf der Krankenstation?«

»Hängt davon ab, wie man es betrachtet«, antwortete Hazel.

»Wir verlieren mehr Menschen, als wir retten, aber unter diesen entsetzlichen Bedingungen ist es ein Wunder, wie viele wir retten. Bea ist wirklich eine Heilige, weißt du? Arbeitet schon den ganzen Tag, und sie macht noch weiter, während wir schon kaputt sind. Ich habe noch nie so viel Blut auf einmal gesehen.

Der Boden ist ganz glitschig davon, egal wieviel Desinfektionsmittel wir verspritzen. Der Schock bringt viele der Verwundeten um, entweder von den Verletzungen selbst oder von der Operation. Ich schätze, die Lepra schwächt das ganze Immunsystem.«

»Es ist nicht fair«, fand Mitternacht. »Sie haben so tapfer gekämpft! Sie haben die Schlacht gewonnen. Sie haben mehr verdient als das bißchen, was wir für sie tun können.«

»Jawohl«, bekräftigte Bonnie. »Es ist eine Sache, wenn wir hinausgehen und kämpfen; wir sind praktisch nicht umzubringen. Man kann uns zwar verletzen, aber nichts ist mehr eine richtige Gefahr für uns.«

»Und am Ende war es Schwester Kathleen, die die Schlacht gewonnen hat«, sagte Mitternacht. »Und nicht eine von uns.

Und sie hat ihr Leben dafür gegeben. Hat nicht eine Sekunde gezögert.«

»Himmel, was für Wunder diese Sterblichen sind!« sagte Bonnie.

»Wir ähneln den Monstern aus den alten Geschichten«, fand Hazel. »Ob man uns schneidet, erschießt oder verbrennt: Wir kehren immer wieder zurück. Es sei denn, man würde uns einen Pflock durchs Herz rammen, uns den Kopf abhacken, ihn verbrennen und die Asche verstreuen. Ich denke, nicht mal du könntest dich davon erholen, Bonnie.«

»Ich würde es verdammt noch mal probieren«, versetzte diese.

»Die Hadenmänner«, sagte Mitternacht, »sie sind die wirklichen Monster. Haben aus Liebe zur Tech ihr Menschsein aufgegeben. Vollkommenheit wird jedoch nicht durch den Körper, sondern durch den Geist erreicht. Welche Ehre bringt es mit sich, eine Station voller Kranker anzugreifen?«

»Sie möchten irgend etwas«, sagte Bonnie. »Und sie akzeptieren niemals, daß ihnen etwas in die Quere kommt, wenn sie nach etwas suchen. Am allerwenigsten Moral. Das kann ich respektieren. Manchmal ist es nötig, etwas von Wert zu opfern, um etwas von Wert zu erreichen. Freunde, Ehre, Moral… Liebe. Ich liebe meinen Owen mit meinem ganzen verrotteten Herzen, aber ich würde ihn opfern, um das Imperium zu retten, und er weiß es. Kannst du behaupten, daß du nicht genauso handeln würdest?«

»Ich habe meinen Owen verloren«, antwortete Mitternacht.

»Ich würde das ganze Imperium und alles darin opfern, wenn ich ihn dadurch wieder in die Arme schließen könnte.«

»Aber wie würde er das finden?« fragte Hazel.

»Oh, er wäre entsetzt«, sagte Mitternacht. »Aber Owen war eben schon immer viel ehrenhafter als ich.«

»Wo steckt dein Owen?« wandte sich Bonnie an Hazel.

»Irgendwo unterwegs«, antwortete sie. »Er hat die Reparaturarbeiten an der Palisade überwacht, aber seitdem habe ich ihn schon lange nicht mehr gesehen. War zu beschäftigt. Heute dachte ich schon, er würde sterben, aber wieder einmal hat er es vom Abgrund des Todes zurückgeschafft. Der Mann hat mehr Leben als ein ganzer Korb voller Katzen. Aber… nur einen Augenblick lang, als er dort in seinem Blut lag, dachte ich: Was täte ich ohne ihn? Wofür sollte ich leben, wenn er nicht mehr wäre? «

»Warum sagst du ihm das nicht?« fragte Mitternacht sanft.

»Falls die Hadenmänner zurückkehren, erhältst du womöglich keine Chance mehr dazu.«

»Später vielleicht«, sagte Hazel. »Wir werden da drin noch gebraucht.«

»Ich kann eine Zeitlang aushelfen«, warf Bonnie ein. »Geh deinen Owen suchen.«

Hazel blickte zu Boden. »Ich wollte mich nie festlegen. An irgendeinen anderen Menschen gebunden sein. Mein ganzes Leben habe ich darum gekämpft, frei zu sein, jeder Art von Autorität zu trotzen, nur um sicher zu sein, daß niemand außer mir selbst über mein Leben bestimmt. Und dann bin ich Owen begegnet, und das Schicksal hat uns miteinander verbunden, egal wie sehr wir uns gewehrt haben. Ich… bewundere ihn sehr. Er ist tapfer und freundlich und ehrenhaft, und er liebt mich. Das wußte ich schon immer. Aber… ich habe mein ganzes Leben lang noch niemanden geliebt. Ich weiß gar nicht, ob es mir gegeben ist, jemanden zu lieben, sei es auch einen so feinen Mann wie Owen. Ich bin keine von denen, die leicht lieben.«

»Ich habe lange Zeit auch so gedacht«, erzählte Mitternacht.

»Die Wahrheit habe ich erst herausgefunden, als mein Owen schon tot war und auf ewig für mich verloren. Mach nicht den gleichen Fehler wie ich, indem du zu lange wartest. Wir Helden haben tendenziell eine tragisch kurze Lebenserwartung.«

»Geh und rede mit dem Mann«, sagte Bonnie. »Ich springe bei Sankt Bea für dich ein. Komm schon, Mitternacht; du hältst die Leute fest, während ich die Nähte anbringe.«

Sie standen auf, strafften die Schultern und kehrten ins Schlachthaus zurück. Hazel saß allein auf der Treppe und starrte in die Dunkelheit.

Owen Todtsteltzer ging über die Freifläche hinterm Tor, war in dem Lepramantel mit der ins Gesicht gezogenen Kapuze wieder eine anonyme Gestalt, und hörte zu, was die Leute redeten.

Sie saßen in kleinen Gruppen um offene Feuer zusammen und reichten die letzten Schnapsflaschen herum. Eigentlich war der ganze Sprit für die Krankenstation bestellt worden, um dort für den Notfall zu dienen, aber die Leprakranken hatten nicht lange für die Entscheidung gebraucht, daß, wenn ihr gegenwärtiger Bedarf kein Notfall war, sie überhaupt nicht wußten, was man als solchen bezeichnen konnte. Also stöberten sie die versteckten Flaschen auf, die sie für trockene Tage verstaut hatten, und kippten das Zeug hinunter, so rasch sie es nur fertigbrachten.

Der Jubel über den Sieg hatte sie nicht blind gemacht für die reale Lage. Sie wußten, daß sie nur auf den nächsten Akt warteten. Und so redeten und lachten und sangen sie, priesen Sankt Bea und die Ruhmreichen Schwestern und unterhielten sich

über die lebenden Legenden, die gekommen waren, um sie zu führen und zu beschützen.

»Es heißt, der Todtsteltzer wäre gestorben und hätte sich selbst wieder zum Leben erweckt«, erzählte ein Leprakranker, dem das halbe Gesicht weggefressen war.

»Nee«, widersprach ein anderer Mann, das Gesicht im Schatten eines breitkrempigen Hutes versteckt. »Wenn man tot ist, ist man tot, wie die selige Schwester Kathleen. Wenn man gegangen ist, kehrt man nicht zurück.«

»Das gilt für Leute wie uns«, meinte der dritte Mann am Feuer, einer von der großen und schlaksigen Sorte, der die knochigen Knie bis an die Brust hochgezogen hatte. »Wir sind Menschen. Er nicht. Nicht mehr.«

»Natürlich ist er ein Mensch«, behauptete der erste. »Er wurde unter uns geboren, um zu mehr zu werden, als wir sind – um uns zum Sieg zu führen. Wie er die Rebellen gegen die Imperatorin geführt hat.«

»Das war Jakob Ohnesorg«, sagte der zweite. »Der Berufsrebell. Obwohl man sich erzählt, er wäre inzwischen ebenfalls unsterblich. Wie Ruby Reise und Hazel D’Ark und dieser verdammte Hadenmann Mond. Jeder Saftsack außer uns, hat es den Anschein.«

»Jawohl«, bekräftigte der dritte. »Aber es sind trotzdem weiter Menschen. Die alte blöde Sally hat Hazel D’Ark gebeten, ihr die Hand aufzulegen und sie zu heilen. Hat nicht geklappt.«

»Vielleicht war Sallys Glauben nicht stark genug«, überlegte der erste.

Owen entschied, daß ihm die Richtung nicht gefiel, die das Gespräch nahm. Er trat vor in den Schein des Feuers. »Darf ich mich dazugesellen, meine Freunde?«

»Sicher«, sagte der erste. »Laß dich nieder. Ich bin Heinrich.

Der mit dem blöden Hut ist Sigurd, und der langweilige Kerl heißt Glum.«

»Ich bin Giles«, stellte sich Owen vor. »Ich bin… neu hier.

Ich habe den Todtsteltzer kennengelernt. Er ist mir gar nicht so besonders vorgekommen. War nur ein Mann, der versucht hat, das Richtige zu tun.«

»Dann mußt du mit geschlossenen Augen herumgelaufen sein«, behauptete Heinrich und stocherte an einem Stück Schorf auf der Gesichtshälfte herum, die ihm noch verblieben war. »Er wurde von Gott berührt. Muß so sein, um all das zu leisten, was er getan hat. Es heißt, Engel hätten in der großen Rebellion an seiner Seite gekämpft und über all den großen Schlachten am Himmel geschwebt.«

»Er ist kein Heiliger«, behauptete Sigurd. »Hier gibt es nur eine Heilige, und sie kramt immer noch bis zu den Ellbogen in den Eingeweiden herum, da drüben auf der Krankenstation.

Und ich habe den Todtsteltzer im Holo gesehen, wie er auf den Straßen von Golgatha gekämpft hat, und man konnte da nirgendwo irgendwelche verdammten Engel sehen. Nur Hazel D’Ark, und die ist kein Engel, das ist mal verflucht sicher. Es sei denn einer von der gefallenen Sorte. Hat allerdings nette Titten.«

»Engel dürfte man auf einem Film auch nicht sehen«, erklärte ihm Heinrich geduldig. »Es sind geistige Wesen.«

»Falls er ein Heiliger wäre, würde er uns heilen«, behauptete Glum, den Blick immer noch auf die Knie gerichtet. »Würde uns alle retten und die Hadenmänner mit einer Handbewegung auslöschen. Aber er hat es nicht getan, weil er es nicht kann.

Nein, er ist mächtig, in Ordnung, aber trotzdem immer noch einer von uns.«

»Manche Leute behaupten, er wäre ein Monster«, sagte Owen ruhig. »Daß niemand solche Fähigkeiten haben dürfte, wie er sie hat. Daß alle Macht verderblich…«

»Blödsinn!« warf Heinrich verärgert ein. »Er ist als Aristo geboren worden und hat all das aufgegeben, um zum Helden der Unterdrückten zu werden! Er hat Reichtum und Stellung aus freien Stücken aufgegeben und sich geweigert, im Luxus zu schwelgen, solange das Volk in Sklaverei lebte! Er ist ein Held. Eine Legende.«

»Das war Jakob Ohnesorg«, hielt ihm Sigurd hartnäckig entgegen.

»Ohnesorg ist gescheitert, solange er auf sich allein gestellt war. Jeder weiß das. Der Todtsteltzer hat für uns gekämpft, als es niemand sonst tat. Hat Jakob Ohnesorg aus dem Gefängnis befreit und ihm neues Leben eingehaucht. Er hätte Imperator werden können, falls das sein Wunsch gewesen wäre, aber er lehnte ab.« Heinrich schüttelte verwundert den Kopf. »Jemanden wie ihn trifft man nur einmal in tausend Jahren an.«

»Er gab den Hadenmännern die Chance zur Wiedergutmachung«, sagte Glum und blickte zum ersten Mal auf. »Wer außer ihm hätte das getan? In Ordnung, sie haben ihn letztlich verraten, aber so sind nun mal die Hadenmänner.«

»Es heißt, er hätte einen Grendel mit bloßen Händen umgebracht«, erzählte Heinrich voller Verehrung. »Einen Grendel, denkt nur! Niemand hätte das geschafft, der nicht von Gott berührt ist.«

»Aber macht Euch manches von dem, was er tun kann, nicht Angst?« fragte Owen.

»Ach verdammt«, antwortete Sigurd. »Natürlich kann er einen ganz schön erschrecken. Das ist bei Helden immer so. Sie sind ganz schön unheimlich, diese Leute, die das Labyrinth des Wahnsinns durchschritten haben. Wenn sie sich dem Bösen verschreiben würden, wer könnte sie aufhalten? Sie könnten uns alle umbringen, ganze Planeten verwüsten, das verdammte Imperium vernichten, falls es ihnen in den Sinn käme. Sie könnten Monster sein. Aber der Punkt ist: Sie sind es nicht.

Der Todtsteltzer ist hergekommen, um uns zu retten, als niemand sonst dazu bereit war. Er könnte hier an unserer Seite sterben, und niemand würde es je erfahren. Trotzdem ist er gekommen, weil es richtig war. Letztlich kommt es nur darauf an.«

»Von Gott berührt«, sagte Glum. »Vom Schicksal getrieben.

Zum Helden erkoren. Armes Schwein.«

»Jawohl«, bekräftigte Heinrich. »Er hätte sich die Krone aufs Haupt setzen können. Ich hätte es getan. Statt dessen ist er hier bei uns. In der Hölle.«

»Ach, ich weiß nicht«, sagte Owen. »Nach dem, was ich gehört habe, geht es im Parlament gefährlicher zu als hier. Hier weiß man wenigstens, wer der Feind ist.« Er stand auf. »Ich muß gehen. Danke für Eure Gesellschaft, Freunde.«

Er ließ sie am Feuer sitzen und ging über den Platz zurück, ohne ein besonders Ziel zu haben. Er hatte gehört, wie sie über Owen Todtsteltzer als einen Helden und eine Legende redeten, und auch als ein armes Schwein, das von Gott berührt worden war, erkannte sich aber in beiden Vorstellungen nicht wieder.

Als Historiker hatte er stets gewußt, daß solche Umdeutungen und Neuerfindungen einer Biographie unvermeidlich waren, aber es setzte ihm doch zu, so mitzuerleben, wie er selbst schon hinter der alten Maske aus Mythen und Heldensagen verschwand. Als nächstes würde man noch behaupten, er wäre in einer Krippe geboren worden und hätte dort den Besuch von drei weisen Herrschern empfangen.

Die Füße führten ihn zur Krankenstation, wo er Hazel antraf.

Wenn er Zweifel hatte, suchte er stets Hazel auf. Sie war vielleicht der einzige Mensch, der ihn von Anfang an kannte, der alle Veränderungen zusammen mit ihm durchgemacht hatte.

Womöglich gar der einzige Mensch, der noch sein wahres Ich kannte. Er sah sie auf der Treppe vor der Krankenstation sitzen, wo sie müde den Kopf hängen ließ. Er nahm neben ihr Platz, und sie nahm es mit einem Brummen zur Kenntnis.

»Ihr solltet etwas schlafen«, schlug er ihr sanft vor. »Es war ein langer Tag.«

»Du bist derjenige, der etwas schlafen sollte«, entgegnete Hazel. »Verdammt, du bist heute fast umgekommen!«

Owen zuckte die Achseln. »Das übliche halt. Arbeitet Sankt Bea immer noch da drin?«

»Ja. Ist allerdings fast fertig. Die im Sterben lagen, sind inzwischen gestorben, und alle übrigen sind versorgt. Sie macht jetzt nur noch sauber. Bereitet alles für morgen vor. Was denkst du, wie viele Leute wir morgen verlieren, Owen?«

»Zu viele. Sie kämpfen gut und sind ziemlich tapfer, aber die meisten gehören eigentlich ins Krankenbett. Und selbst wenn sie gesund wären, stellten sie keinen Gegner dar für eine Armee von Hadenmännern. Ich denke, unter diesen Umständen wäre das niemand. Vielleicht nicht mal wir. Die eigentliche Armee wird morgen angreifen, womöglich schon in der Nacht, und dann stürzt die Palisade dieser Station ein, als bestünde sie aus Streichhölzern, und das eigentliche Gemetzel beginnt. Was zum Teufel suchen die Hadenmänner hier? Mond sagte, es gäbe etwas draußen im Dschungel, etwas, das er spüren, aber nicht beschreiben könne. Nannte es das Rote Hirn. Vielleicht sind die Hadenmänner hinter dem her.«

»Was wir brauchen, ist ein Wunder«, fand Hazel. »Wenn wir Sankt Bea vielleicht ganz nett fragten…«

»Ich denke nicht, daß Gott uns derzeit zuhört«, versetzte Owen müde. »Wir sind auf uns selbst angewiesen.«

»Unfug«, erklärte Mutter Beatrice forsch. Sie war gerade aus der Krankenstation hervorgetreten und trug frisch gestärkte und makellos saubere Sachen. »Gott ist immer bei uns. Er trägt nur nicht unsere Kämpfe an unserer Stelle aus.«

»Ich glaube nicht mehr an Gott«, erklärte Hazel. »Nicht nach allem, was ich gesehen habe. All das Böse, all das Leid, all der Tod.«

»Die Menschen sind für das Böse verantwortlich«, hielt ihr Mutter Beatrice entgegen. »Nicht Gott. Und Ihr habt erlebt, wie vieles von diesem Bösen ein Ende gefunden hat. Gebt Euch damit zufrieden.« Sie setzte sich neben Owen auf die Treppe und rieb sich die Hände mit einem feuchten Tuch ab. Man sah immer noch Flecken getrockneten Blutes um die Fingernägel.

»Warum bist du hergekommen?« wollte Hazel wissen. »Hattest du nach Technos III nicht genug davon, Menschen sterben zu sehen?«

»Ich bin gekommen, weil ich gebraucht wurde«, erklärte Mutter Beatrice ruhig. »Warum begebt Ihr und Owen Euch immer wieder in Gefahr?«

»Aus dem gleichen Grund, denke ich«, antwortete Owen.

»Weil die Menschen uns brauchen, weil niemand sonst die gleichen Fähigkeiten mitbringt. Ich glaube nach wie vor an die alten Tugenden der Pflicht und der Ehre, auch wenn sie heute aus der Mode gekommen scheinen, um Absprachen und Kompromissen zu weichen.«

Mutter Beatrice lächelte. »Und dieser Teil von Euch ist es, der Gottes Stimme vernimmt. Ihr könnt sie auch nicht leichter ignorieren als ich.«

»Ich kämpfe, weil ich gut darin bin«, beharrte Hazel. »Mein Leben dreht sich schon um Gewalt und Töten, soweit ich mich erinnere. Wohin ich auch kam, stets hieß es, töte oder werde getötet. Wo ist darin Gottes Stimme zu hören?«

»Es kommt nicht darauf an, was man tut«, erklärte Mutter Beatrice geduldig. »Es kommt darauf an, warum man es tut.

Die Sache, für die wir kämpfen, definiert, wer wir sind. Gott gab Euch die Gabe, Kriegerin zu sein, Hazel, überließ es jedoch Euch, was Ihr damit anfangt.«

»Ich wollte nie Krieger sein«, sagte Owen. »Die Umstände haben mich dazu gezwungen.«

»Vielleicht zu Anfang«, sagte Mutter Beatrice. »Niemand, der seine sieben Sinne beisammen hat, möchte ein Held sein.

Nur wenige Geschichten von echten Helden finden ein glückliches Ende. Ihr seid jedoch zu dem geworden, der Ihr heute seid, weil es Eurem Wesen entsprach, weil Ihr Euch nicht abwenden und untätig bleiben konntet, während das Böse in Blüte stand. Ihr seid ein Krieger der besten Sorte, Owen – jemand, der nie einer sein wollte. Ich wollte nie eine Heilige sein. Ich zucke immer noch innerlich zusammen, wenn jemand dieses Wort gebraucht. Verdammt, ich bin ursprünglich überhaupt nur zur Kirche gegangen, um mich der Heirat mit Valentin Wolf zu entziehen! Ich habe jedoch meinen Glauben gefunden, oder er hat mich gefunden, und ich kann mich auch nicht leichter von Menschen abwenden, die Hilfe brauchen, als ich aufhören kann zu atmen. Letztlich werden wir alle durch die Ehre definiert.

Denn ohne Ehre hätte unser Leben gar keine Bedeutung.«

Owen hörte ihr zu und wollte ihr so gern glauben, aber er war noch immer nicht ganz überzeugt.

Und dann blickten die drei scharf auf, als rings um die Mission im Dschungel die Hölle ausbrach. Owen und Hazel zogen die Schußwaffen, verbannten ihre Müdigkeit und liefen zur Palisade. Andere liefen neben ihnen her, rieben sich dabei zu knappen Schlaf aus den Augen und schrien Fragen, auf die niemand Antworten wußte. Owen und Hazel sprinteten die Holzstufen zum Laufgang auf der Palisade hinauf und blickten über die Lichtung zum Dschungel hinüber. Die Lichter der Missionsstation reichten nicht weit in die Dunkelheit, und kein Mond stand am Himmel, der den Schauplatz hätte erhellen können. Hazel rief, das mehr Lampen hergebracht werden sollten. Owen lauschte konzentriert dem Tumult, der im Dschungel tobte, vermochte ihn aber einfach nicht zu deuten. Kämpften dort die Hadenmänner gegeneinander? Bald war der Laufsteg voller Menschen, von denen die meisten Fackeln oder Laternen hielten, und zum ersten Mal sah man jetzt Bewegung im Dschungel, dunkle Gestalten, die dort hin- und herliefen. Und jetzt drangen zum ersten Mal Schreie herüber, Schreie im unverkennbaren summenden Tonfall der Hadenmänner, gefolgt von dem vertrauten tödlichen Zischen von Strahlenwaffen.

Owen blickte angestrengt in die Dunkelheit und den Regen.

Die Lichtung war gänzlich verlassen. Was immer geschah, ereignete sich nur im Dschungel. Er hörte Kreischen und Wutschreie und das Geräusch von Leuten, die durch das dichte Laubwerk liefen. Dunkle Gestalten rangen miteinander. Vielleicht Hadenmänner. Aber auch andere Gestalten waren zu sehen, dunkel und undeutlich, die sich zu schnell bewegten, um wirklich ihre Umrisse auszumachen. Und wohin sie sich bewegten, stiegen stets neue Schreie auf.

Mutter Beatrice drängte sich neben Owen. »Was ist dort los, Sir Todtsteltzer?«

»Ich will verdammt sein, wenn ich das wüßte. Aber ich vermute, daß jemand den Hadenmännern in den Hintern tritt. Und dabei verflucht gute Arbeit leistet.«

»Könnte es sich um Verstärkung handeln? Vielleicht die Marineinfanterie?«

»Das denke ich nicht«, sagte Hazel. »Die Angreifer scheinen keine Schußwaffen zu benutzen. Und sie bewegen sich ganz anders als Menschen. Leben auf diesem Planeten noch Kreaturen, von denen wir nichts wissen, Mutter Beatrice?«

»Nein. Überhaupt keine.«

»Ich habe noch nie einen Hadenmann schreien gehört«, stellte Owen fest. »Was könnte so tödlich sein, so schrecklich, daß sogar die Hadenmänner sich davor fürchten?«

»Na ja, du könntest jederzeit hinausgehen und sie dir mal anschauen, aber falls du das tust, dann allein«, sagte Hazel entschieden. »Ich setze keinen Fuß nach draußen, solange nicht genug Licht herrscht, damit ich erkenne, worauf ich ziele.«

»Die Hadenmänner verfügen über Disruptoren«, sagte Mutter Beatrice. »Sie nützen ihnen aber anscheinend nichts, oder?«

Der Tumult im Dschungel brach plötzlich ab, und die letzten Schreie wurden erstickt. Das Krachen und Prügeln hörte auf, und nirgendwo war mehr eine Bewegung zu erkennen. Die Nacht war völlig still geworden, und die Verteidiger der Mission standen schweigend auf dem Laufgang und lauschten, ohne etwas anderes zu hören als das Prasseln der Fackeln, das endlose Trommeln des Regens auf dem Dach und den eigenen kollektiven Atem. Der Dschungel war dunkel und ruhig und wahrte seine Geheimnisse.

»Na ja«, sagte Owen schließlich. »Ich möchte die Vermutung wagen: Was immer dort geschah, ist wohl vorüber. Ich denke, wir sollten für heute nacht lieber doppelte Wachen aufstellen, und das in dreistündigen Schichten. Alle anderen sollten sich etwas schlafen legen. Daß ein paar Hadenmänner offensichtlich ihre gerechte Strafe erhalten haben, heißt noch nicht, daß wir morgen nicht trotzdem einer ganzen Armee dieser Mistkerle da draußen gegenübertreten müssen.«

»Sollten wir nicht jemanden hinausschicken, der nach Leichen sucht?« fragte jemand weiter unten auf dem Laufgang.

»Nach dir«, sagte Hazel und schnaubte unbeeindruckt, als sie keine Antwort erhielt.

»Mögliche Leichen können bis morgen warten«, sagte Mutter Beatrice. »Alles kann bis morgen warten. Der Todtsteltzer hat recht: wir stellen zusätzliche Wachen auf, und alle anderen legen sich schlafen.«

Und da niemand jemals Sankt Bea widersprach, verstreute sich die Menge nach und nach, um sich soviel Schlaf zu holen, wie sie bis zum Morgen nur finden konnte. Owen und Hazel gingen zur nächsten Treppe und stießen dabei auf Bonnie Chaos und Mitternachtsblau, die ihnen entgegenkamen.

»Eine gute Aufführung«, fand Bonnie. »Mir war danach, Beifall zu spenden.«

»Kümmert euch nicht um sie«, sagte Mitternacht. »Nur das übliche bei ihr. Was denkt ihr, ist gerade eben über die Hadenmänner hergefallen?«

»Ich konnte nicht viel erkennen«, antwortete Owen. »Aber was ich gesehen habe, erschien mir beinahe… vertraut.«

»Jeder, der Hadenmänner umbringt, ist mir recht«, sagte Hazel. »Ich meine, was könnte schlimmer sein als eine Armee von Aufgerüsteten?«

»Ich hege den fürchterlichen Verdacht, daß wir es herausfinden werden, wenn der Morgen kommt«, sagte Mitternacht.

»Die Hadenmänner sind wenigstens eine bekannte Größe. Gegen sie konnten wir Pläne schmieden. Jetzt…«

»Richtig«, bekräftigte Bonnie. »Der Feind meines Feindes muß nicht immer mein Freund sein. Besonders dann nicht, wenn er auch ein Feind der Menschheit ist.«

Hazel musterte sie scharf. »Shub? Du denkst, da draußen treiben sich Truppen von Shub herum?«

»Wer sonst könnte eine Armee der Hadenmänner so mühelos ausschalten? Wenn du mich fragst: Ich denke, der Dschungel wimmelt von Geistkriegern und Furien.«

»Ich möchte nach Hause«, sagte Hazel.

»Aber was zum Teufel könnte Shub hier suchen?« fragte Owen ärgerlich. »Hier gibt es doch nichts!«

»Außer dem Roten Hirn«, sagte Mond, der plötzlich aus der Dunkelheit zum Vorschein kam. »Ich spüre seine Anwesenheit immer deutlicher.«

»Rot…« überlegte Bonnie. »Könnte es ein Bestandteil des Dschungels sein? Eine Pflanze, die Intelligenz entwickelt hat?«

»Es ist riesig«, sagte Mond. »Sehr groß und sehr komplex und vollkommen fremdartig. Was ich von seinen langsamen Denkprozessen wahrnehme, das ergibt überhaupt keinen Sinn.

Ich kann nur mit Sicherheit feststellen, daß es sehr gefährlich ist. Und es wird langsam unserer Gegenwart bewußt. Falls ich meiner menschlichen Natur ein wenig sicherer wäre, denke ich, dann… hätte ich Angst.«

»Aber was ist es?« fragte Hazel.

»Es ist das Rote Hirn«, antwortete Mond. »Und falls es so mächtig und gefährlich ist, wie ich denke, dann würden Haden oder Shub richtig liegen, wenn sie hier jede Menge Truppen aufmarschieren lassen, um es zu erbeuten oder zu vernichten.«

»Aber warum… greifen sie dann die Mission an?« wollte Owen wissen.

»Wir stehen ihnen einfach im Weg«, sagte Mond. »Ich denke nicht, daß Haden oder Shub in der Stimmung sind, die Beute zu teilen.«

Er wandte sich ab, schritt davon in die Dunkelheit und war bald verschwunden. Hazel blickte ihm böse nach. »Ich denke, er war mir lieber, als er einfach nur nichtmenschlich war. Da hat er mich weniger geärgert.«

»Er hat sich jedenfalls einen verdammt ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht, um sich rätselhaft zu geben«, stellte Owen fest. »Vielleicht sollten wir ihn zu Sankt Bea schicken und sehen, ob sie etwas Verständliches aus ihm herausbekommt.«

»Das Rote Hirn«, sagte Bonnie. »Klingt wie einer dieser bösen Verbrecherkönige aus den alten Holoserien, die ich mir als Kind angesehen habe. Vielleicht sollten wir den Grimmigen Grauen Rächer rufen, damit er uns zur Hilfe kommt.«

»Sind diese Serien auch auf deinem Planeten gelaufen?« fragte Mitternacht. »Ich war immer ein großer Fan davon!«

»Jawohl!« bestätigte Hazel. »Ich habe alle Bänder davon und auch den speziellen Dekoderring, den man einschicken mußte, um…«

Owen überließ sie ihrem fröhlichen Geschnatter und entfernte sich, um etwas Schlaf zu finden, ehe er einfach umkippte.

Das eigene Leben zu retten hatte ihn viel gekostet. Und er hatte das starke Gefühl, daß ihm gar nicht gefallen würde, was sich ihm im Licht des Morgens vor der Mission zeigte.

Die Morgendämmerung brach auf Lachrymae Christi ganz plötzlich an und genau nach Plan. Jeder, der einen Platz auf dem Lauf gang fand, stand dort bereit, als sich die Sonne auf einmal einen Weg durch die Wolken bahnte, die Düsternis verbannte und die Umgebung der Mission wieder sichtbar machte.

Und dort standen reglos und lautlos im Regen die Grendels, eine Reihe nach der anderen. Sie hatten die Station völlig umzingelt. Owen blickte benommen von der Palisade herunter.

Sein Mund war trocken, und er spürte fast, wie die Verteidiger ihre Zuversicht verloren.

Grendels. Gentechnisch geschaffene Mordmaschinen aus den Gewölben der Schäfer, unbekannt viele Jahrhunderte oder gar Jahrtausende lang in Stasis aufbewahrt und in einem unvorbereiteten Universum wieder erwacht. Lebendige Schrecknisse mit stachelbewehrter dunkelroter Panzerung, die irgendwie ein Teil von ihnen war, und mit stählernen Zähnen und Klauen.

Tödliche, erbarmungslose, unbesiegbare Killer, deren Lebenszweck die Vernichtung war, von ihren unbekannten Schöpfern in all den feinen Künsten des Gemetzels programmiert, Shub hatte Hunderttausende von ihnen aus den Gewölben der Schläfer erbeutet, und niemand hatte sie wiedergesehen. Bis heute.

»Das ist es«, stellte Hazel grimmig fest. »Damit ist es offiziell. Die Lage hat sich einfach nur verschlechtert.«

»Sind sie wirklich viel gefährlicher als die Hadenmänner?« erkundigte sich Mutter Beatrice.

»Gegen die Hadenmänner hatten wir eine Chance«, sagte Owen, und es klang fast bitter. »Ich habe schon jede Menge Aufgerüstete umgebracht, aber nur einmal konnte ich einen Grendel töten, und er hätte mich beinahe erwischt. Er hat mir die Hand gekostet. Heute noch habe ich Alpträume davon. Und jetzt stehen Tausende von ihnen da draußen.«

»Schwerter werden sie nicht aufhalten«, sagte Hazel. »Ein direkter Disruptortreff er bremst sie lediglich, es sei denn, man erwischt eine der ganz wenigen lebenswichtigen Stellen. Sie wurden dazu konstruiert, unaufhaltsam zu sein. Wir sitzen tief in der Scheiße, Leute.«

Mutter Beatrice wandte sich an Schwester Marion, die neben ihr stand. »Sagt allen, daß sie sich bewaffnen sollen. Sogar den Verwundeten. Alle, die stehen können, sollen Abwehrpositionen beziehen. Macht alle Sprengfallen wieder scharf.« Schwester Marion nickte grimmig, daß der hohe schwarze Hut wippte, und eilte davon.

»Sprengsätze?« fragte Owen.

»Das letzte Mittel«, erklärte Mutter Beatrice. »Sie sind zusammengeschaltet und reichen aus, um den gesamten Platz zu vernichten. Eine letzte Geste des Widerstands, falls offenkundig wird, daß wir keine andere Möglichkeit mehr haben.«

»Stell jemanden an den Schalter, der nicht leicht in Panik gerät«, empfahl ihr Hazel. »Denn wir werden unser Bestes tun, damit diese Bastarde für ihr Geld ordentlich schuften müssen, nicht wahr, Owen?«

»Richtig«, sagte er und beugte die Finger der nachgewachsenen Hand. »Aber falls Ihr tatsächlich einen direkten Draht zum lieben Gott habt, Mutter Beatrice, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, um ein Wunder zu erbitten.«

Mutter Beatrice lächelte. »Jede Legende findet ihr Ende, Sir Todtsteltzer, und jeder Held fällt schließlich, aber falls das alles ist, was uns bleibt, dann wollen wir wenigstens gut sterben.

Gott erwartet nichts Geringeres. So, falls Ihr mich jetzt entschuldigen wollt – ich muß auf die Krankenstation zurückkehren. Ich denke, man wird mich dort brauchen.«

Sie ging, völlig aufrecht, und die Leute gaben ihr den Weg frei und verneigten sich respektvoll.

»Sie wäre eine tolle Kriegerin geworden«, meinte Hazel.

»Sicher«, sagte Owen. »Auf ihre eigene Art war sie stets eine Kämpferin. Die sanften Persönlichkeiten überleben gar nicht lange genug, um zu lebenden Heiligen zu werden.«

»Grendels!« sagte Hazel bitter. »Warum nur müssen es Grendelkreaturen sein? Gegen die Hadenmänner hatten wir wenigstens eine Chance.«

»Solange die dicke Frau singt, ist die Oper nicht zu Ende«, gab Owen zu bedenken. »Und falls wir nicht mehr bewirken, dann wollen wir wenigstens möglichst viele von ihnen mitnehmen.«

Erschrockene Schreie stiegen vom Laufgang auf, und Owen und Hazel drehten sich um und sahen, wie sämtliche Grendels heranstürmten, von einem unerkannten Signal letztlich doch in Bewegung gesetzt. Sie kamen von allen Seiten gleichzeitig, drangen völlig lautlos vor und überwanden die ausgedehnte Lichtung in wenigen Sekunden. Sie warfen sich gegen die Palisade und hämmerten daran, bis sie auf ganzer Länge wie eine Riesentrommel dröhnte. Eine Disruptorsalve prasselte auf die Angreifer herab und stanzte Löcher durch dunkelrote Panzerungen, aber die Kreaturen fielen nicht. Mit den Fäusten, besetzt mit schweren Stacheln, rissen sie Brocken aus dem dicken schwarzen Holz, und die Wand erbebte unter der Gewalt. Einige Grendelkreaturen kletterten an der Palisade hinauf, hieben ihre stählernen Klauen tief ins Holz und knirschten gnadenlos mit den Stahlzähnen. Owen beugte sich über die Brüstung und schoß einem Grendel durch den breiten, herzförmigen Kopf.

Die Kreatur zuckte und stürzte hinunter, griff dabei mit Armen und Beinen ins Leere. Sie prallte heftig auf und blieb reglos liegen, und die übrigen Grendels schwärmten einfach über sie hinweg.

Jeder, der über eine Schußwaffe verfügte, war inzwischen auf dem Laufgang, und das Tosen so vieler abgefeuerter Strahlenwaffen war ohrenbetäubend. Der Regen zerkochte zu Dampfwolken, und überall fielen Grendels. Letztlich waren es jedoch einfach zuwenig Disruptoren und viel zu viele Grendels, und als sich der Dampf verzog und die Verteidiger die entladenen Waffen senkten, rannten die Angreifer nach wie vor gegen sie an und kletterten an der Palisade herauf. Die Disruptoren waren nutzlos, bis sich die Energiekristalle wiederaufgeladen hatten, und in zwei Minuten konnte viel passieren. Also waren Bogen und Pfeil der nächste Schritt. Die Bogenschützen traten vor, beugten sich gefährlich weit über die Brüstung und schossen.

Jeder Pfeil traf sein Ziel, wurde aber auch abgelenkt, ohne Schaden anzurichten. Damit blieb nur noch der blanke Stahl.

Die Verteidiger der Mission hoben Schwerter und Äxte und landwirtschaftliches Gerät mit frisch geschärften Schneiden und warteten, daß der Feind sie erreichte.

Die Grendels krabbelten in einer großen, brodelnden Flut über die Palisade hinweg, rot wie Blut, wild wie der Teufel, und stürzten sich auf die Verteidiger. Schwerter blitzten auf und Äxte hackten zu, nur um nutzlos an lebendiger dunkelroter Panzerung abzugleiten. Die Grendels zerfetzten anfälliges menschliches Fleisch und töteten jeden, der in ihre Reichweite kam. Manche sprangen lieber von der Palisade, als sich den Grendels zu stellen. Blut spritzte überall, und die Luft war voller Schreie.

Draußen im Regen zerschmetterten die Angreifer die Barrikaden und die geflickten Palisadenlöcher und strömten in einer unaufhaltsamen Flut durch den Schutzwall. Männer und Frauen ergriffen schreiend die Flucht, aber die Grendels waren schneller.

Owen Todtsteltzer schwang das Schwert beidhändig; manchmal durchdrang die Klinge die blutroten Panzerungen, manchmal nicht. Unter der schieren Wucht der Schläge stolperten die Grendels zurück, aber verletzen konnte Owen sie meist nicht. Hazel D’Ark kämpfte an seiner Seite, nutzte jeden verfügbaren Platz auf dem Laufgang, um auszuweichen, suchte nach Schwachstellen ihrer Gegner, rammte die Schwertspitze in verletzliche Gelenke und verdrehte sie darin, und all das nützte nichts. Wie Owen war auch Hazel stark genug, um die Grendels in Schach zu halten, aber mehr vollbrachte sie nicht.

Owen versuchte die Grendels mit ausholenden Armbewegungen von der Palisade zu fegen, aber selbst der lange Sturz auf den harten Boden darunter schien ihnen nichts auszumachen.

Und Schritt für Schritt wurden Owen und Hazel schließlich doch zurückgetrieben, während ihre nur menschlichen Mitkämpfer ringsherum starben. Beide konnten nichts tun, um sie zu retten. Bald war der Lauf gang mit Toten und Sterbenden übersät und rutschig von Blut. Und immer noch mehr Grendels schwärmten über die Palisade.

»Zieht euch zurück! Zieht euch zurück!« brüllte Oberst Wilhelm Hand unten auf der Freifläche hinterm Tor. »Zurück in die Kasematte, damit die Fallen ihre Arbeit tun können!«

Die Leprakranken auf dem Laufsteg, die noch lebten, drehten sich um und rannten, drängten sich auf die engen Treppen, die nach unten führten, und die Grendels fielen über die hintersten her. Owen und Hazel setzten den langsamen Rückzug fort und bemühten sich, den Leprakranken in ihrer Nähe ein wenig Zeit zu erkaufen. Ein Grendel duckte sich unter Owens Schwerthieb hindurch und ging auf seine Kehle los. Owen schlug instinktiv mit der Faust zu, und sie zerschmetterte die Panzerung der Kreatur und durchbohrte ihren herzförmigen Kopf. Der Grendel zuckte, als Owen ihm das Gehirn herausriß. Die Kreatur rotierte hilflos, bis ihre Gefährten sie niederstießen und über sie hinwegtrampelten.

»Nette Nummer«, fand Hazel, die doch ein klein wenig außer Atem war.

»Ja«, bestätigte Owen. »Ich denke, ich habe mir die verdammte Hand gebrochen.«

»Für den Fall, daß es dir noch nicht aufgefallen ist: Wir sind von der Treppe abgeschnitten.«

»Dann müssen wir springen.«

»Der Sturz bringt uns um!«

»Soviel Glück haben wir nicht. Springt!«

Sie schlugen die nächststehenden Grendels zur Seite, wichen den zuschnappenden Kiefern aus, liefen den Steg entlang und sprangen ins Leere. Es war ein weiter Weg nach unten, und ein paar wundervolle Augenblicke lang hatten sie fast das Gefühl zu fliegen. Und dann prallten sie auf dem Boden auf, daß es ihnen die Luft aus den Lungen rammte. Über ihnen war der Laufgang inzwischen völlig überrannt.

Owen zwang sich durch schiere Willenskraft wieder auf die Beine, packte Hazel an der Schulter und zog sie hoch. Überall liefen Menschen und Grendels durcheinander. Ein stählernes Lächeln ging auf Hazels Kehle los. Sie packte den Grendel mit beiden Händen und schleuderte ihn über ihren Kopf hinweg in die nächststehende Konzentration seiner Artgenossen. Sie gingen in einem Gewirr rudernder Gliedmaßen zu Boden. Owen und Hazel rannten zur Kasematte, der großen Kommunikationshalle, die als einzige Zuflucht zur Verfügung stand, wenn die äußere Abwehr überrannt war.

Leprakranke begleiteten sie auf der Flucht, wichen dabei den versteckten Fallen und Gruben aus oder sprangen darüber hinweg. Grendels rannten ihnen nach. Sie stürzten in die spießbewehrten Gruben, drückten die Spieße flach, standen unverletzt wieder auf und sprangen gleich wieder hinaus. Von Gewichten angetriebene Spieße und Schwertklingen schossen aus ihren Verstecken hervor, nur um harmlos an den Panzerungen abzuprallen. Die improvisierten Landminen detonierten überall auf dem Gelände, spuckten Rauch und Flammen, schleuderten Grendels in die Luft und verletzten sogar einige. Aber immer kamen noch mehr, immer noch neue.

Eine Armee des Todes, dazu geschaffen, unaufhaltsam zu sein.

Die Verteidiger strömten in die Kasematte und füllten sie gänzlich. Stählerne Läden sicherten die Fenster, stählerne Riegel die Türen. Owen und Hazel bezogen vor der großen Halle Position und nahmen es mit den ersten Grendels auf, die sie dort erreichten, versuchten dabei, so viele der Fremdwesen zu beschäftigen, wie sie nur konnten, um den eintreffenden Leprakranken ein paar kostbare Augenblicke mehr zu erkaufen.

Bonnie Chaos und Mitternachtsblau waren ebenfalls zur Stelle. Bonnie lachte in schierem Überschwang, als sich die Grendels um sie drängten, und sonnte sich in einer Schlacht, die sie stärker auf die Probe stellte als jede andere zuvor. Sie schwang das Schwert mit aller Kraft, spaltete Grendelpanzerungen und streckte die Kreaturen nieder. Sie selbst blutete ständig aus Wunden, die nie Zeit fanden, richtig zu verheilen, ehe sie erneut aufgerissen wurden, aber sie verbannte einfach das Gefühl der erlahmenden Kraft in den Armen und schwelgte im niemals endenden Rausch des Schmerzes und der Regeneration.

Mitternachtsblau teleportierte auf einer Kreisbahn um ihre Waffengefährtin hin und her und materialisierte jeweils lange genug, um einen wirkungsvollen Hieb mit der Axt zu landen.

Sie intonierte Schlachtgesänge ihres Ordens im Rhythmus ihrer Axthiebe, aber die Kraft verließ sie allmählich. Das ständige Teleportieren setzte ihr zu, und es fiel ihr zunehmend schwer, sich zu konzentrieren. Sie spürte, wie sie langsamer wurde, und den Grendels gelang es allmählich, ihre Schläge abzuwehren.

Alle Überlebenden des Labyrinths wurden langsamer, während sie die Energie verbrauchten, die sie antrieb. Der menschliche Körper war nicht dazu gebaut, lange unter solchen Extrembedingungen zu funktionieren.

Oberst Wilhelm Hand und Otto bezogen ihre Positionen am Eingang zum Irrgarten der schmalen Gassen zwischen den Hütten. Viele Leprakranke hatten dort Zuflucht gesucht, sich in vertrauter Umgebung verbarrikadiert. Hand gab ihnen keine große Chance, tat aber sein Bestes, ihnen soviel Zeit zu verschaffen, wie es nur ging. Er kämpfte wütend und mobilisierte alte Fertigkeiten, während seine Kraft langsam schwand. Otto schützte wie stets die Flanke des Obersten. Hand hatte den Höhepunkt seiner Form jedoch schon lange überschritten und war geschwächt durch eine fürchterliche Krankheit, und nach wenigen verzweifelten Minuten hieben ihn die Grendels zu Boden und schwärmten über ihn hinweg. Er lag auf dem Rücken, blutete stark aus einem Dutzend bösartiger Wunden und tastete nach dem Schwert, das er verloren hatte. Rotgepanzerte Beine stampften rings um ihn herum. Ein Grendel ragte über ihm auf, und Stahlklauen zuckten herab. Hand schrie unwillkürlich auf, und dann war erneut Otto da, ein letztes Mal, und warf sich über seinen Oberst. Die Stahlklauen gruben sich tief in seinen Rücken und rissen ihm den Buckel und das halbe Rückgrat weg. Otto erschauerte einmal und starb. Der Grendel setzte seinen Weg fort.

Hand wollte den toten Zwerg herunterschieben, schaffte es aber nicht. Er hatte weder Gefühl in den Händen noch Kraft in den Armen. Die Kehle schmerzte, und er hörte, wie sein Atem seltsam pfeifend klang. Er zwang sich, eine Hand an den Hals zu heben, und als er sie wegnahm, war sie naß von Blut. Einer der Grendels hatte ihm einen schlimmen Schnitt versetzt, und er hatte es nicht mal bemerkt. Der Oberst ließ die Hand auf den harten Boden zurückfallen. Er hatte immer gedacht, daß er lieber den Tod eines Kriegers starb, als zu erleben, wie ihn die Lepra zentimeterweise auffraß, aber jetzt war der Zeitpunkt gekommen, und er stellte fest, daß er alles für ein paar weitere Tage gegeben hätte oder sogar nur ein paar weitere Stunden.

Aber Gott schloß keine Verträge.

Er hätte gern Gelegenheit gefunden, seine Sachen in Ordnung zu bringen, ein paar Briefe zu schreiben… Für einen Moment zerliefen seine Gedanken, ehe er sich plötzlich wieder konzentrieren konnte. Er konnte noch nicht sterben! Nicht, solange er noch eine letzte Pflicht erfüllen mußte, einen letzten Befehl ausführen mußte. Er kämpfte darum, die Fernbedienung zu fassen zu kriegen, die ihm Sankt Bea gegeben hatte. Die Oberste Mutter vertraute darauf, daß er den richtigen Zeitpunkt erkannte, um sie zu betätigen, und daß er den Mumm hatte, den Schalter zu drücken, egal was es ihn kostete.

Der Oberst lächelte grimmig, und Blut floß ihm aus dem Mund. »Lebwohl, Otto«, sagte er oder glaubte, es gesagt zu haben. Und er drückte den Schalter.

Die Sprengsätze unter dem Platz gingen alle gleichzeitig hoch, ein gewaltiger Donnerschlag, der den Boden ans Dach rammte und die dichtgedrängten Grendels zerfetzte. Der gesamte Platz verschwand in einer Rauchwolke. Die gerichteten und gezielt plazierten Sprengsätze jagten die Wand nach draußen weg. während die Dorfhütten unversehrt blieben. Die Eingeweide der Fremdwesen und Splitter dunkelroter Panzerungen regneten prasselnd auf den kraterübersäten Boden zurück. Nirgendwo war mehr ein Spur von Oberst Wilhelm Hand und Otto zu sehen.

Owen und Hazel kämpften vor der Kommunikationszentrale unermüdlich weiter, waren müde über jeden Schmerz und jede Hoffnung hinaus, angetrieben nur noch von der Entschlossenheit, nicht zu fallen, solange sie noch gebraucht wurden. Beide bluteten stark aus einem Dutzend übler Wunden, und ihren Schlägen mangelte es zunehmend an Kraft. Owen sah sich um.

Fast alle Leprakranken waren inzwischen in der Zentrale. Jemand schrie ihm zu, sich auch dorthin zurückzuziehen, damit die Türen geschlossen und verriegelt werden konnten. Owen überlegte. Die Zeit schien langsamer zu werden, so daß er alle Zeit der Welt hatte, um seine Entscheidung zu treffen. Er blickte nach links, sah Bonnie und Mitternacht Rücken an Rücken kämpfen, die Gesichter schlaff vor Schmerz und Erschöpfung, umzingelt von Grendels. Sie konnten es unmöglich rechtzeitig in die Halle schaffen. Und diese bot ohnehin nicht viel Schutz.

Die Außenpalisade der Mission war viel robuster gewesen und hatte die Grendels nicht mal abgebremst. Er blickte nach rechts und sah Hazel, die immer noch kämpfte und vom eigenen Blut tropfte. Nein, entschied Owen. Er würde sich nicht umwenden und flüchten. Er seufzte bedauernd. Zeit, die letzte Trumpfkarte auszuspielen und zu hoffen, daß sie stach.

»Schließt die Tür!« schrie er.

Und er wandte sich wieder dem Feind zu. Er tastete mit den Gedanken in sich hinein, tief ins Unterbewußtsein, und zapfte die dort liegende Kraft an. Er warf den Kopf zurück und heulte den alten Schlachtruf seines Clans – Shandrakor! Shandrakor!

–, und all seine Wut und Frustration und die Notwendigkeit, die Leprakranken der Mission zu verteidigen, stiegen brüllend aus ihm auf und platzten in die materielle Welt hinaus, wo sie die Luft aufrührten wie die Schwingen eines riesigen und machtvollen Vogels. Die Grendels spürten, daß sich etwas Neues in der Schlacht ergab, und sahen sich verwirrt um. Die Erde bebte unter ihren Füßen und warf sie aus dem Gleichgewicht. Ein mächtiger Wind fegte über die Reste des Freigeländes und zerstreute die Grendels wie Blätter in einem Wirbelsturm. Owen sah sich um, lächelte kurz, und entfesselte seinen ganzen Zorn auf diese Kreaturen.

Die ihm nächststehenden Grendels explodierten förmlich.

Owen trat schwankend vor, die Augen weit aufgerissen, ohne zu blinzeln, und seine Wut hämmerte im Rhythmus des eigenen Herzens auf die Luft ein. Sein Gesicht war grimmig und unnachgiebig. Er hatte sich der eigenen Macht ausgeliefert wie nie zuvor. Er drehte den Kopf, und wohin er blickte, starben die Grendels. Er trat auf den Boden, und Erdstöße rissen den kraterübersäten Boden des Geländes auf. Der Todtsteltzer hatte seine Wut freigesetzt, und die Grendels vermochten ihr nicht standzuhalten. Sie explodierten oder wurden fortgeweht, und keiner kam Owen nahe genug, um ihn zu berühren. Dabei wußte Owen, daß die eigene Kraft ihn umbrachte. Er spürte, wie in ihm Dinge zerbrachen. Er wußte, daß er die Kraft hätte abschalten sollen, solange er noch dazu fähig war, weil sterbliche Menschen nicht dazu gedacht waren, so hell zu brennen. Aber er brachte es nicht über sich, nicht, solange die Unschuldigen ihn brauchten. Also ging er langsam weiter, tötete Grendels, starb mit jedem Schritt innerlich ein Stück mehr, brachte sich selbst ebenso um wie den Feind.

Der Todtsteltzer.

Aber allzu schnell kam der Zeitpunkt, an dem ihn selbst Notwendigkeit und Entschlossenheit keinen Schritt mehr weiterführten. Seine sterbliche Gestalt war nie dazu gedacht gewesen, soviel Energie für so lange Zeit zu kanalisieren, und schließlich konnte er nichts mehr zusetzen. Owen fiel auf die Knie. Er war sehr müde. Er hatte so viel vollbracht. Vielleicht konnte er jetzt schlafen, und wenn er Glück hatte, träumte er nicht. Er kippte nach vorn und fiel mit dem Gesicht auf den blutgetränkten Boden. Die Winde erstarben und die Erde bebte nicht mehr, und die Wut des Todtsteltzers schlug nicht mehr auf die Luft ein.

Hazel D’Ark erlebte seinen letzten Augenblick des Ruhms mit und sah ihn fallen. Voll Ehrfurcht hatte sie verfolgt, wie sein Zorn die Grendels wegfegte, aber jetzt schrie sie auf und lief zu ihm hinüber. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, aber keine Reaktion erfolgte. Hazel schrie erneut auf, als Schrecken und Entsetzen und der Schmerz eines schließlich doch brechenden Herzens sie überwältigten. Sie hätte gern geweint, aber sie wußte nicht wie. Sie hatte es noch nie getan.

Sie blickte auf und sah, wie sich die letzten Grendels neu formierten. Owen hatte viele von ihnen umgebracht, aber immer noch gab es verdammt viel mehr. Mehr als genug, um die Kommunikationszentrale niederzureißen und jedes lebende Wesen darin hinzumetzeln. Sie rückten langsam vor, entblößten die Stahlzähne, beugten ihre Stahlklauen, und Hazel blickte ihnen entgegen und zeigte ihnen das kälteste Lächeln ihres Lebens. Sie würden für das bezahlen, was sie getan hatten. Sie alle.

Sie hatte sich einzureden versucht, daß ihre besondere Gabe nicht gebraucht wurde. Daß die Mission bereits genügend Verteidiger hatte. Daß sie keine weiteren Varianten ihrer selbst herbeirufen und zusehen mußte, wie sie eine nach der anderen starben. Bonnie und Mitternacht hatten ihr die anderen Versionen ihrer selbst direkter spürbar gemacht als je zuvor. Aber sie brauchte sie jetzt, also rief sie nach ihnen, nicht im eigenen Namen, sondern dem Owens. Rief sie herbei, den Todtsteltzer zu retten.

Und sie kamen.

Auf einmal war das Gelände voller Hazel D’Arks, die vor Wut und Verlust schrien. Und die Grendels, die Owens Angriff überstanden hatten, sahen sich mit einer Armee von Kriegerinnen konfrontiert, die von Gesicht und Gestalt verschieden, aber alle in Schmerz und Gram vereint waren. Ein Augenblick trat ein, in dem beide Seiten einander ansahen und jeweils einen würdigen Gegner entdeckten. Dann liefen die Fronten aufeinander zu und prallten zusammen, und das Sterben begann. Disruptoren tosten und Stahl blitzte auf, und Zahne und Klauen aus Metall rissen menschliches Fleisch auf. Für jede Hazel, die starb, tauchte jedoch eine weitere auf und trat an ihre Stelle.

Hazel D’Ark hatte ein Tor geschaffen, wodurch ein endloser Strom anderer Versionen ihrer Person strömen konnte, so lange sie gebraucht wurden oder solange Hazel D’Ark es verkraftete.

Sie wußte, daß die Anstrengung tödlich für sie war, und gab einen Dreck darauf. Sie wollte die Leprakranken retten, nicht so sehr, weil sie sich etwas aus ihnen gemacht hätte, sondern weil Owen ihr darin Vorbild war. Sie kniete neben ihm, und die Kraft sickerte aus ihr heraus wie Blut aus einer offenen Ader. Hazel legte ihm sachte eine Hand auf die Schulter. Sie hatte einen so weiten Weg mit Owen Todtsteltzer zurückgelegt, und falls sie ihm ins Reich der Toten folgen mußte, dann war sie jetzt dazu bereit.

Jemand rief ihren Namen. Immer wieder, und in einer merkwürdigen summenden Stimme. Langsam wandte sie den Kopf und entdeckte Tobias Mond, der neben ihr kniete.

»So können wir nicht gewinnen!« sagte er eindringlich. »Es sind einfach zu viele. Aber als ich sah, wie Ihr Eure Kraft benutzt habt, wußte ich, wie ich meine einsetzen kann. Ich weiß, was ich tun muß. Vertraut mir! Verbindet Eure Gedanken mit meinen, und wir können diese Schlacht auf andere Art gewinnen!«

»Wie?« fragte Hazel.

»Das Rote Hirn«, erklärte Mond. »Es befindet sich nicht im Dschungel. Es ist der Dschungel.«

Und sein Bewußtsein griff nach Hazels Gedanken aus und stellte den Kontakt her. Und durch sie erreichte Mond all die übrigen Hazels. Bonnie und Mitternacht waren ebenfalls einbezogen, und irgendwie auch Owen. Sie alle verschmolzen miteinander und wurden zu etwas, das mächtiger war als die Summe seiner Teile. Das kombinierte Bewußtsein expandierte weiter und erreichte alle lebenden Gehirne der Mission, vom kränksten Opfer der Lepra bis zu Sankt Bea selbst. Und gemeinsam wandten sie sich nach außen, zusammengeschmiedet zu einer Kraft, einem Gedanken, und faßten das Rote Hirn an – die Bewußtseinsgestalt allen pflanzlichen Lebens auf Lachrymae Christi. Der Dschungel, Millionen Quadratkilometer davon, war ein zusammenhängender Leib, und sein Bewußtsein war das Rote Hirn.

Das war es, was die Hadenmänner hier gesucht hatten und wozu Shub die Grendels geschickt hatte, damit sie es in ihre Gewalt brachten oder beherrschten oder vernichteten – eine ganz neue Form von Bewußtsein, nirgendwo sonst im Imperium bekannt. Ein Bewußtsein von der Größe eines Planeten.

Die Gedanken des Roten Hirns liefen langsam, bewegten sich mit dem Rhythmus von Tag und Nacht und dem Wechsel der Jahreszeiten, unaufhörlich sterbend, unaufhörlich lebend, unermeßlich alt. Allein seit Jahrtausenden, bis es von dem eben neu entstandenen Bewußtsein berührt wurde. Freundschaft war eine neue Erfahrung, ebenso die Freude darüber, nicht mehr allein zu sein, aber gleichzeitig lernte das Rote Hirn, was Bedürfnis und Notwendigkeit waren. Es dehnte seinen gewaltigen und machtvollen Körper, um dem neuen Freund zu helfen.

Im Dschungel entstand rings um die Missionsstation plötzlich Bewegung, mit einer Geschwindigkeit, wie es sie noch nie zuvor gegeben hatte. Bäume entwurzelten sich selbst und kippten über die Palisade. Und über diese Brücken drang der Dschungel vor und fiel über die Grendels her. Stachelpeitschen und kriechende Rebengewächse wickelten sich um die Fremdwesen und zerfetzten sie. Mörderische Pflanzen mit klaffenden Mäulern und fürchterlicher Kraft platzten aus dem verwüsteten Erdboden des Geländes hervor, von der Not des Dschungels aus der Tiefe herbeigerufen. Grendels wurden verschluckt oder in Stücke gerissen, unfähig, sich gegen den Willen des Dschungels zu wehren. Die Fremdwesen wandten sich zur Flucht, aber sobald sie aus der Station heraus waren, tauchten gewaltige, saugende Gruben unter ihren Füßen auf und zerrten sie herab. Und nur wenige Minuten, nachdem alles begonnen hatte, wurde der Dschungel wieder still und waren keine Grendels mehr übrig, die er noch hätte umbringen können.

Das Rote Hirn und das menschliche Massenbewußtsein berührten einander erneut. Tief in seiner unvorstellbar fernen Vergangenheit war das Rote Hirn schon einmal nicht allein gewesen, aber das lag so weit zurück, daß es mehr Instinkt als Erinnerung war. Nach der langen Zeit der Einsamkeit war das Dschungelbewußtsein überglücklich, wieder Gemeinschaft zu erleben, und es bat das Menschenbewußtsein, es nicht wieder zu verlassen. Trotz des enormen Alters war das Rote Hirn nur ein Kind. Der Menschengeist beruhigte es. Unter den Leprakranken fanden sich auch Esper. Jetzt, wo beide Seiten wußten, worauf sie achten mußten, war Kommunikation möglich. Und nachdem das Rote Hirn seine Macht demonstriert hatte, würden es Haden und Shub nie wieder wagen, hier zu erscheinen.

Der Menschengeist sah sich in der Mission um, trauerte um ihre vielen Toten und kehrte in seine zahlreichen Körper zurück. Viel Arbeit war noch zu leisten.

Jetzt blieb vor allem noch, wieder aufzuräumen. Ein großer Teil der Mission mußte neu aufgebaut werden, aber diesmal würde der Dschungel helfen. Erneut mußten Leichen eingesammelt und identifiziert werden, und Sankt Bea arbeitete viele Stunden lang auf der Krankenstation und heilte die Kranken.

Und wenn sie manchmal einfach nur die Hände auf einen hoffnungslosen Fall legte und ein Gebet flüsterte, wer konnte ihr daraus einen Vorwurf machen? Besonders, wo so viele überlebt hatten.

Owen Todtsteltzer erwachte auf der Krankenstation und stellte erstaunt fest, daß er noch lebte. Bonnie und Mitternacht lagen in Betten rechts und links von ihm, und Hazel setzte sich nacheinander zu ihren Gefährten. Die Verbindung mit dem Roten Hirn und dessen enorme geistige Stärke hatten sie gerettet, sie ein weiteres Mal vom Abgrund des Todes zurückgeholt.

Noch waren sie schwach wie halb ertrunkene Kätzchen, aber die Kraft kehrte allmählich zurück. Was nur gut war. Hazel meinte es gut, war jedoch als Krankenschwester verdammt nutzlos. Sie hatte einfach nicht das richtige Temperament dafür. Alle beschwerten sich reichlich und gingen der Umwelt kräftig auf die Nerven, und am Abend erklärte Schwester Marion, es ginge ihnen wieder recht gut, und würden sie ihr bitte den Gefallen tun und wie der Teufel aus ihrer Krankenstation verschwinden, damit die übrigen Patienten ein bißchen Ruhe erhielten?

Der Regen trommelte nach wie vor laut auf das Holzdach.

Owen und Hazel spazierten langsam über das unebene Gelände. Die Leichen waren verschwunden, aber es sah immer noch fürchterlich aus. Owen und Hazel stützten sich abwechselnd, denn ihrer beider innere Kraft hatte einen historischen Tiefpunkt erreichte. Für den Moment waren sie wieder normale Menschen, und sie machten das Beste daraus. Wo sie auch erschienen, verneigten sich die Leprakranken und grüßten sie und riefen ihre Namen wie Gebete oder Kirchenlieder. Owen und Hazel lächelten unbehaglich und stellten fest, daß die Leprakranken trotz aller Hingabe auf vorsichtige Distanz hielten.

Lebende Legenden waren eine Sache, lebende Götter schon eine ganz andere.

Tobias Mond gesellte sich zu ihnen. Seine Augen leuchteten nicht mehr, und in der Stimme klang nur noch ein ansatzweises Summen mit. Er ließ diese Dinge hinter sich, während das Labyrinth des Wahnsinns weiter Veränderungen in ihm herbeiführte. Er strahlte eine neue Gelassenheit aus, einen geistigen Frieden, als wären ihm viele Dinge endlich klar geworden.

»Ich begleite Euch nicht, wenn Ihr geht«, sagte er gelassen.

»Ich bleibe. Die Menschen hier brauchen viel Hilfe, um die Mission und ihr Leben wieder aufzubauen, und ich denke, ich kann ihnen dabei helfen. Bis die Esper lernen, wie sie den Kontakt mit dem Roten Hirn herstellen können, besorge ich das an ihrer Stelle.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Das war die faszinierendste Erfahrung meines Lebens. Das Rote Hirn war so lange allein, genau wie ich, war das einzige seiner Art. Und die Leprakranken… Vielleicht war das ganze Sterben nötig, damit ich die Bedeutung und den Wert des Lebens zu würdigen lernte. Jedenfalls bleibe ich. Um die Leprakranken zu beschützen und dem Dschungel als Stimme zu dienen.«

»Ich hätte Euch mir nie als Gärtner vorgestellt, Mond«, sagte Owen trocken, und Mond lachte höflich. Am Humor arbeitete er noch.

Owen und Hazel gingen weiter. Bonnie und Mitternacht überwachten die Reparaturen am anderen Ende des Geländes, aber sie winkten ihnen grüßend zu. Owen und Hazel winkten zurück. Alles war friedvoll und heiter, wie die Ruhe nach einem Sturm.

»Nun«, sagte Owen schließlich, »wir haben wieder mal gesiegt.«

»Jawohl«, bekräftigte Hazel. »Auch wenn wir verdammt kurz vor einer Niederlage standen. Hätte Mond nicht in letzter Minute seine Einsicht gehabt, dann hätte es für uns tödlich enden können. Ich dachte wirklich schon, ich hätte dich verloren.«

»Eine heilsame Ermahnung, daß auch wir Grenzen haben«, sagte Owen. »Daß wir trotz allem, wozu wir fähig sind, durch menschliche Beschränkungen bestimmt werden. Auf eine seltsame Art finde ich das tröstlich – daß wir trotz all unserer Kräfte und Fähigkeiten immer noch Menschen sind.«

Hazel schniefte laut. »Ich finde es überhaupt nicht tröstlich, beinahe gestorben zu sein, verdammt! Und hoffen wir, daß der Dschungel keine Grendels übersehen hat. In meiner gegenwärtigen Verfassung könnte ich nicht mal einem Baby die Schokolade wegnehmen. Und das war immer einer meiner besten Tricks.«

»Unsere Kraft wird letztlich zurückkehren«, behauptete Owen. »Das ist sie bislang immer.« Er blieb stehen und sah sich um, für einen Moment in Erinnerungen versunken. »So viele sind hier gestorben. Ich wünschte, wir hätten mehr Menschen retten können.«

»Wilhelm Hand und Otto«, sagte Hazel. »Schwester Kathleen. Sie hatten nicht unsere Kräfte und haben doch ebensoviel geleistet, um die Station zu retten. Sie waren hier die wirklichen Helden.«

»Natürlich«, bekräftigte Owen. »Alle waren Helden, die Lebenden und die Gefallenen. So, falls Ihr mich entschuldigen wollt, ich habe eine Verabredung in der Kommunikationszentrale. Dort versuchen sie, ein Schiff herbeizurufen, damit wir den Planeten verlassen können. Lachrymae Christi ist jetzt vielleicht in Sicherheit, aber der Rest des Imperiums steckt nach wie vor in ernsten Schwierigkeiten.«

»Das ist mal wieder typisch für dich, Todtsteltzer«, sagte Hazel. »Du bist kaum darüber hinweg, zweimal fast umgekommen zu sein, da redest du schon wieder darüber, in die Schlacht zu stürmen. Haben wir nicht das Recht auf ein bißchen Urlaub?«

»Doch«, versetzte Owen. »Sobald der Krieg vorüber ist.«

»Die Kriege gehen nie vorüber«, entgegnete Hazel. »Nicht für uns.«

Owen legte ihr die Hände auf die Schultern und küßte sie.

»Ihr würdet Euch innerhalb einer Woche langweilen, und Ihr wißt das.«

»Vielleicht. Ich dachte wirklich, ich hätte dich verloren, Owen. Tu sowas nie wieder!«

»Nie wieder«, sagte er. »Wir sind ein Team. Nichts wird uns jemals trennen.«

»Versprich mir, daß wir immer zusammen sein werden. Für alle Zeit.«

»Für immer und ewig. Selbst der Tod kann uns nicht mehr trennen.«

Er küßte sie erneut und entfernte sich Richtung Kommunikationszentrale. Hazel blickte ihm eine Zeitlang nach, drehte sich dann um und blickte übers Gelände hinweg. Leute waren dabei, die Risse und Krater im Boden langsam wieder aufzufüllen. Die Palisade wurde wieder aufgerichtet, Abschnitt für Abschnitt. Die Schlacht war vorüber, und das Leben ging weiter.

Hazel fühlte sich merkwürdig ausgeschlossen. Vielleicht hatte Owen recht und war alles, worauf sie beide sieh verstanden, der Weg des Kriegers.

Und da rief jemand ihren Namen, mit einer vertrauten, aber heiseren und schmerzerfüllten Stimme. Sie drehte sich um, und da stand Owen, lehnte sich an die Wand einer Hütte. Er sah fürchterlich aus, todmüde, das Gesicht abgezehrt, die Kleider fleckig und blutig. Hazel brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, daß er nicht die grauen Sachen der Leprakranken trug. Es waren dieselben Sachen, die er angehabt hatte, als er auf Virimonde aus dem Nichts heraus erschienen war, um sie zu retten. Er sah sie mit einem Ausdruck des Verlustes und der Sehnsucht an, und er streckte eine Hand nach ihr aus, als versuchte er, sie vor etwas zu warnen. Sie traf Anstalten, auf ihn zuzugehen, und plötzlich erschien ein Ausdruck des Entsetzens in seinem Gesicht. Sie tat einen weiteren Schritt auf ihn zu, und ein silbern schimmerndes Energiefeld bildete sich rings um sie herum und hielt sie an Ort und Stelle fest. Sie schlug mit den Fäusten darauf ein, und es zischte und entlud sich lautstark in den aufgewühlten Erdboden hinein, wurde aber nicht schwächer. Und Hazel hatte nicht die Kraft übrig, es zu durchbrechen. Sie rief nach Owen, bat ihn um Hilfe, aber er war verschwunden.

Owen Todtsteltzer kam aus der Kommunikationszentrale gerannt. Er hatte sogar aus dieser Entfernung gehört, wie Hazel seinen Namen rief. Er sah, wie sie in dem schimmernden Energiefeld gefangen war, und erkannte es sofort. Die Blutläufer aus dem Obeah- System hatten es schon einmal in dem Versuch benutzt, Hazel zu entführen. Sie behaupteten, Hazel schuldete ihnen ihren Körper, damit sie Experimente daran ausführen konnten eine Schuld gegenüber ihrem Kapitän, die sie in ihrer Zeit als Klonpascherin erworben hätte. Owen rettete sie damals, indem er das Energiefeld durchbrach, aber jetzt hatte er nicht die Kraft dafür.

Er lief auf sie zu und zog dabei den Disruptor aus dem Halfter. Hazel kämpfte noch gegen das Feld an, aber ihr Bild wurde schwächer; das Feld verschwamm zusehends und nahm sie mit.

Bonnie Chaos und Mitternachtsblau kamen ebenfalls herbeigelaufen, nahmen Kurs auf den Standort des schimmernden Feldes.

Seltsame Gestalten tauchen rings um die silbernen Energien auf. Groß und gertenschlank, Albinos mit milchweißen Haaren und blutroten Augen. Sie trugen lange Roben von wirbelnden Farben, und ihre Gesichter waren mit scheußlichen Ritualnarben bedeckt. Blutläufer. Sie lachten Owen lautlos aus und verschwanden dann, nahmen das Energiefeld und Hazel mit.

Owen schrie entsetzt auf und blieb schwankend stehen, blickte auf die leere Stelle, wo eben noch Hazel gestanden hatte. Er hörte das trockene Klatschen der Luft, als sie in den Raum stürzte, den eben noch ein Körper eingenommen hatte, und blickte sich um, nur um zu sehen, daß Bonnie und Mitternacht ebenfalls fort waren. Ohne daß Hazel zugegen war, um die Präsenz ihrer Doppelgängerinnen aufrecht zu erhalten, konnten sie nicht bleiben. Nichts verband sie mehr mit diesem Universum.

Owen war benommen und vor Schreck wie gelähmt. Hazel war fort, in der Gewalt von Folterern, und er konnte sie nicht erreichen, hatte keine Ahnung, wohin man sie gebracht hatte. Sie konnte irgendwo im Obeah-System sein. Und er hatte nicht mal ein Schiff, das ihm erlaubte, den hiesigen Planeten zu verlassen. Noch nie hatte er sich so hilflos gefühlt.

Owen Todtsteltzer, der Armeen bezwungen und Imperien umgestürzt hatte; er konnte nicht einmal die retten, die er liebte.

Haltet durch, Hazel! Ich werde Euch suchen! Irgendwie finde ich Euch, was immer es mich auch kostet. Und falls sie Euch verletzt haben, ertränke ich das ganze Obeah-System in Blut!

Загрузка...