KAPITEL VIER WILLKOMMEN AUF NEUHADEN

Die Sonnenschreiter II fiel in behaglicher Distanz zu Brahmin II aus dem Hyperraum und versteckte sich hinter jedem Kraftfeld und Tarnsystem, das das kleine Schiff überhaupt erzeugen konnte. Brahmin II war gegenwärtig von den Hadenmännern besetzt, und sogar der legendäre Held Owen Todtsteltzer verfügte über ausreichend gesunden Menschenverstand, um den Hadenmännern möglichst nicht auf die Zehen zu treten. Er saß allein auf der Brücke des Schiffs und beugte sich angespannt vor, jederzeit bereit, den Befehl zu geben, man solle aus der Umgebung von Brahmin II verschwinden, als wäre ihnen der Teufel auf den Fersen. Aber die Augenblicke gingen langsam vorüber, und nichts Abruptes oder extrem Gewalttätiges passierte, so daß Owen sich schließlich ein wenig entspannte und zurücklehnte, um die Anzeigen auf dem Hauptbildschirm und den Sensorenschirmen vor ihm sorgfältig zu betrachten.

In der Umgebung des Planeten waren zur Zeit ein Dutzend der riesigen goldenen Schiffe postiert, die einst Krieg gegen das Imperium geführt hatten und ungemütlich knapp an einem Sieg vorbeigeschrammt waren. Unter normalen Bedingungen hätte ein Spielzeug für reiche Leute, wie es die Jacht Sonnenschreiter II war, nicht die Spur einer Chance gegen sie gehabt – wäre die Sonnenschreiter II nicht eine Spezialanfertigung gewesen. Den Großteil der Jacht hatten die Hadenmänner selbst rekonstruiert, und sie hatten dabei der Versuchung nicht widerstehen können, eigene kleine Extras hinzuzufügen – wie die stärksten Energieschirme, die man jemals bei einem so kleinen Schiff erlebt hatte. Owen wußte immer noch nicht recht, woraus eigentlich die nötige Energie stammte. Tatsächlich verstand er vieles von der verbesserten Technik des Schiffes nicht, aber gemeinsam mit Ozymandius hatte er sich genügend Kenntnisse in der Bedienung angeeignet, um die Hadenmänner-Sensoren von Brahmin II mit den Hadenmänner-Schilden zu täuschen. Wenigstens theoretisch.

So hielt die Sonnenschreiter II ihre Position, und besorgt wartete Owen ab, ob die goldenen Schiffe nicht irgendeine Reaktion zeigten, irgendeinen Hinweis gaben, daß sie den Eindringling entdeckt hatten. Zum Beispiel durch massives Disruptorfeuer. Alles war jedoch ruhig und blieb ruhig, und Owen atmete Luft aus, von der er nicht einmal gemerkt hatte, wie er sie anhielt. Geflüchtet wäre er eigentlich nicht, egal wie die Reaktion der Hadenmänner ausfiel. Er konnte es einfach nicht.

Er hatte dem Parlament sein Wort gegeben, daß er alles tun würde, um die Kolonie von Brahmin II vor der Besatzungsmacht der Hadenmänner zu retten. Er seufzte leise. Manchmal konnte einem der Ruf, ein Held zu sein, wirklich auf den Wecker gehen.

»Die Hadenmänner scheinen ganz unbefangen, Owen«, murmelte ihm die KI Ozymandius ins Ohr. »Die Waffensysteme bleiben abgeschaltet, und was ich an Funkverkehr orte, scheint nur Routine zu sein. Obwohl ich, wenn jemand fragt, nicht hundertprozentig sicher bin, worüber sie eigentlich reden.

Ihre Maschinensprache ist unglaublich komplex.«

»Kaum erstaunlich«, fand Owen. »Die Technik der Hadenmänner war schon immer vom Modernsten. Ich denke jedoch, falls dort irgendein Alarm liefe, hätten wir es inzwischen erfahren. In unserem Rumpf gäbe es diese großen Löcher, überall würde es brennen, und ich hätte dieses schreckliche Sinkgefühl in der Magengrube. Allein der Anblick so vieler goldener Schiffe auf einem Haufen verlockt mich, mich unter dem Stuhl zu verkriechen. Führe mal eine umfassende Sensorenprüfung des Planeten durch, Oz. Aber sei vorsichtig! Ziehe dich sofort zurück, wenn du auch nur den geringsten Widerstand gegen die Messung spürst.«

»Ich bin kein Amateur, Owen. Sei versichert, daß sie unsere Anwesenheit zu keinem Zeitpunkt spüren werden. Ich werde wie ein Gespenst in der Nacht an ihnen vorbeistreichen und ihnen wie eine Kreatur aus Nebel und Schatten über die elektronische Schulter blicken.«

»Du hast dir wieder diese Ninja-Holodramen angesehen! Für eine Künstliche Intelligenz hat dein künstlerischer Geschmack schon immer eine rettungslos vulgäre Tendenz auf gewiesen.«

»Na und? Ich mag hin und wieder ein bißchen Schrott. Wer nicht? Es würde dir auch nicht schaden, gelegentlich einen eher lockeren Maßstab anzulegen.«

»Halt die Klappe und mach dich an die Arbeit!«

»Oh, klar doch, mein mächtiger Herr und Gebieter! Dein Problem besteht darin, daß du mich nicht zu würdigen weißt.

Ich hätte nicht übel Lust, mich in die Ecke zu setzen und zu schmollen.«

»Oz…«

»In Ordnung, in Ordnung! Tu dies, laß jenes. Ich melde mich wieder, sobald ich etwas gefunden habe.«

Owen wartete auf irgendeine beißende Abschlußbemerkung, aber die KI schien es leid zu sein. Owen versprach sich, irgendwann mal den Programmierer aufzustöbern, der für Oz’ charakteristische Persönlichkeit verantwortlich war, dem Mann die Milz herauszureißen und darauf herumzusteppen.

Laute, schwere Schritte auf dem Korridor draußen kündeten davon, daß Hazel gleich hereinschneien würde. Und wenn man den Rhythmus bedachte, in nicht besonders guter Stimmung.

So, dachte Owen, in diesem Punkt nichts Neues. Er zeigte sein freundlichstes Gesicht, als die Brückentür gerade noch rechtzeitig zischend auffuhr, damit Hazel sie nicht einrannte. Hazel blieb unmittelbar vor Owen stehen, stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn an.

»In Ordnung«, sagte Owen geduldig. »Was ist Euch diesmal über die Leber gelaufen? Sind die Synthetisierer für Lebensmittel immer noch nicht fähig, eine anständige Flasche Wein zu produzieren? Obwohl ich wirklich nicht weiß, warum Ihr immer nach an ihnen herumdoktert. Ihr wißt sehr gut, daß Ihr einfach keinen Gaumen habt.«

»Versuche nicht, das Thema zu wechseln! Du weißt sehr gut, was mich stört! Warum wurde ich nicht unverzüglich informiert, daß wir Brahmin II erreicht haben?«

»Weil Ihr geschlafen und ein Nicht-stören-Signal im Lektron gespeichert habt. Ich habe ja versucht, einen Weckruf zu senden. Dreimal sogar. Beim letzten Mal habt Ihr das Komm-Gerät zerschlagen, und ich verstand das als Hinweis, daß Ihr nicht interessiert wärt. Außerdem gab es für Euch nichts zu tun.«

Hazel schnitt ein finsteres Gesicht und plumpste auf einen Sitz Owen gegenüber. »Gott, ich hasse es, wenn du dich so eingebildet aufspielst! Ich hatte schließlich das Recht, mich ein wenig aufs Ohr zu legen, nach allem, was wir in letzter Zeit durchgemacht haben.«

»Völlig richtig. Und jetzt, wo Ihr ausgeruht, gesammelt und hoffentlich endlich hellwach seid – seid Ihr daran interessiert, von mir auf den neuesten Stand gebracht zu werden?«

»Oh, fang an! Solche Augenblicke sind der Sinn deines Lebens – wenn du Gelegenheit findest, Leute über Dinge zu belehren, von denen du mit Bestimmtheit weißt, daß sie ihnen unbekannt sind. Aber fasse dich kurz und knapp, oder ich werfe mit Gegenständen.«

»Wir halten uns gegenwärtig unweit des Planeten Brahmin II auf«, berichtete Owen ruhig. »Wir bleiben auf sicherer Distanz.

Zwölf goldene Schiffe befinden sich im Orbit. Ja, zwölf. Unsere Schilde scheinen gut zu funktionieren. Brahmin II ist von unseren früheren Bundesgenossen besetzt, den wiederbelebten Hadenmännern. Sie beanspruchen den Planeten im Rahmen des Zweiten Kreuzzugs der Genetischen Kirche. Sie überbringen die Gabe der Verwandlung von Menschen in Hadenmänner.

Ob die Menschen das wollen oder nicht. Der Planet wurde in Neuhaden umbenannt und ist jetzt Heimat und Stützpunkt der Aufgerüsteten.«

»Das habe ich alles schon im Parlament gehört!« maulte Hazel. »Erzähle mir etwas, was ich noch nicht weiß.«

»Immer mit der Ruhe. Ich komme noch dazu. Während der Rebellion haben die Hadenmänner über hundertzwanzigtausend Gefangene gemacht. Diese wurden inzwischen nach Neuhaden überführt, um sich den anderthalb Millionen gefangenen Kolonisten anzuschließen. Wir haben keine Ahnung, in welchem… Zustand sie sich gegenwärtig befinden. Das Parlament fordert ihre Freilassung, aber die Hadenmänner haben sich nicht mal die Mühe gemacht und geantwortet, sondern es mit ihrer einleitenden Stellungnahme bewenden lassen. Und da die Imperiale Flotte zur Zeit aus vielleicht einem Dutzend Sternenkreuzern besteht, die von Paketschnüren und Gebeten zusammengehalten werden, kann das Imperium nichts unternehmen, um die Kolonisten und die übrigen Gefangenen vor ihrem Schicksal zu bewahren.«

»Also hat man uns geschickt. Wir sind schließlich entbehrlich.«

»Wir sind schließlich Helden. Und wir haben mehr Chancen als die meisten, wirklich etwas zu erreichen. Außerdem ist es meine Pflicht. Ich bin für alles verantwortlich, was hier passiert ist. Ich habe die Aufgerüsteten aus ihrer Gruft geweckt. Sie in die Welt der Menschen zurückgeholt, damit sie wieder durch all unsere Alpträume wandeln.«

»Wir haben sie gebraucht«, sagte Hazel fast sanft; der Ärger war aus ihrem Tonfall verschwunden. »Ohne sie hätten wir die Rebellion nicht zum Sieg führen können.«

»Vielleicht. Und vielleicht haben wir nicht mehr vollbracht, als ein Übel gegen ein anderes auszutauschen. Ehe die abtrünnigen KIs entkamen und Shub bauten, waren die Hadenmänner die amtlichen Feinde der Menschheit, und das aus gutem Grunde. Hadenmänner. Die Mörder von Madraguda. Die Schlächter von Brahmin II. Besiegt, zurückgeschlagen, sicher in ihrer Gruft versiegelt. Bis ich sie herausgeholt habe.«

»Du hast ihnen vertraut«, sagte Hazel. »Sie haben dir ihr Wort gegeben. Sie nannten dich Erlöser und leisteten dir den Treueeid. Sie haben dich verraten.«

»Natürlich haben sie das. Sie verstehen nichts von Ehre.«

Owen ließ Kopf und Schultern hängen, wie von einer großen Bürde niedergedrückt. »Ich habe ihnen nie vertraut. Aber ich habe sie gebraucht. Also habe ich sie so oder so aus der Gruft befreit.«

Hazel beugte sich vor und hob eine Hand, als wollte sie ihn berühren. »Owen…«

Er hob ruckartig den Kopf, und sie nahm die Hand zurück. Er bemerkte es nicht. Sein Gesicht wirkte ruhig und gefaßt, und als er weitersprach, war sein Ton ganz nüchtern. »Ihr habt einmal auf Brahmin II gearbeitet, ehe ich Euch begegnete, vor der Rebellion. Was könnt Ihr mir über den Planeten sagen?«

»Nicht viel«, sagte Hazel. Falls er das Thema wechseln wollte, war es ihr recht. »Ein trübseliger Ort, nur harte Arbeit und Disziplin und verdammt wenig Komfort. Eigentlich nicht überraschend nach dem, was die Hadenmänner damit angestellt hatten, als sie schon einmal darüber herfielen. Ich dachte mir schon, daß du vielleicht danach fragen würdest, also habe ich die Berichte über den ersten Überfall aus den Lektronen aufgerufen. Sie sind ganz schön lückenhaft, überwiegend Live-Berichterstattung vor Ort, aber man erhält doch einen Eindruck davon, wie übel es ausgesehen hat. Du mußt dir das ansehen, Owen! Ich möchte nicht, daß du mit Plänen von Verhandlungen oder Abkommen dort landest. Gewalt ist alles, was diese Mistkerle je begriffen haben.«

Sie rief die Berichte auf den Hauptbildschirm, und sie und Owen verfolgten Seite an Seite, wie sich vor ihnen Geschichte ereignete. Goldene Schiffe erfüllten den Himmel, leuchteten heller als die Sonne. Disruptorstrahlen zuckten zur Erde herunter, rissen Häuser auseinander und erzeugten Brände, die rasch außer Kontrolle gerieten. Die Kolonisten besaßen nur eine Handvoll Angriffsschiffe, um sich damit zu verteidigen, aber keines davon kam von seiner Startrampe hoch. Die Straßen waren mit rennenden und schreienden Menschen verstopft, durch den erbarmungslosen Angriff aus dem vertrieben, was sie als sichere Zuflucht betrachtet hatten.

Und dann kamen die Bodentruppen. Eine Armee Hadenmänner ergoß sich auf die Straßen, aufgerüstete, gnadenlose Krieger der Genetischen Kirche. Sie waren groß und vollkommen, bewegten sich mit unmenschlicher Eleganz, unbeeinflußt durch die Hitze und den Qualm der Brände, und töteten alles, was sich bewegte und nicht zu ihnen gehörte. Stählerne Engel, blutbespritzt, die den Zorn ihres kybernetischen Gottes verbreiteten. Sie kannten weder Gnade noch Zögern und stiegen ungerührt über die Toten und die Sterbenden, um die zu jagen, die noch auf den Beinen waren. Sie töteten mit Schußwaffen und Schwertern und ihrer überlegenen Körperkraft. Die Überlebenden würden umgewandelt werden und die Toten ausgeschlachtet, um Rohmaterial zu erhalten. Nichts würde vergeudet werden, sobald sie den Planeten erst beherrschten. Menschen sollten zu Hadenmännern werden. Nichts sonst war von Bedeutung.

Die Aufnahmen waren oft kurz und verwackelt, stammten von flüchtenden Kameraleuten, die lange genug zu überleben versuchten, um ihre Bilder ans Imperium zu übermitteln. Sie waren inzwischen alle tot, und nur ihre Testamente verblieben.

Und die Szenen, die sie gesendet hatten, erzeugten Zorn im ganzen Imperium und Entschlossenheit, die Hadenmänner aufzuhalten und zurückzuschlagen, koste es, was es wolle. Und schließlich nahm man Vergeltung für Brahmin II.

Owen runzelte die Stirn, als das letzte Band ablief und der Bildschirm leer wurde. »Das meiste habe ich schon gekannt.

Als ich Recherchen für eine Arbeit durchführte, in meiner Zeit als Historiker. Aber alles noch mal am Stück zu sehen… Was ist letztlich aus Brahmin II geworden?«

»Als die Hadenmänner einsahen, daß sie den Krieg verloren und keine andere Wahl mehr hatten, als den Planeten aufzugeben, warteten sie noch lange genug, um jeden zu töten, den sie noch nicht umgewandelt hatten. Jeden, den sie finden konnten. Als endlich imperiale Truppen landeten, fanden sie nur noch haufenweise Leichen auf den Straßen und bloß eine Handvoll Überlebende – Frauen und Kinder, die sich versteckt hatten und übersehen worden waren. Von einer Kolonie mit Millionen Einwohnern blieben nur dreiundachtzig Personen.

Die meisten davon völlig wahnsinnig durch das, was sie erlebt hatten. Das ist passiert, als die Hadenmänner Brahmin II zum ersten Mal angriffen.«

»Lieber Gott, Hazel!« sagte Owen. »Was habe ich getan?

Was habe ich auf das Imperium losgelassen?«

»Wir kannten das Risiko«, versetzte Hazel. »Immerhin bestand die Chance, daß sich die Hadenmänner geändert hatten.

Daß sie etwas aus der Niederlage gelernt hatten. Jeder hat eine Chance auf Sühne verdient, sogar Hadenmänner, nicht wahr?«

»Womöglich haben wir die Schlacht nur gewonnen, um anschließend den Krieg zu verlieren«, überlegte Owen. »Falls es uns nicht gelingt, dem neuen Kreuzzug der Hadenmänner gleich hier Einhalt zu gebieten.«

»Jetzt mal langsam! Wir wollen den neuen Kreuzzug der Genetischen Kirche stoppen und eine ganze verdammte Armee aufgerüsteter Menschen? Nur du und ich?«

»Sicher«, bekräftigte Owen. »Wir sind unbezwingbare Helden, erinnert Ihr Euch? Ihr habt selbst den Film gesehen.«

»Ich habe schon in Werbespots von Geldverleihern mehr Realismus erlebt«, erklärte Hazel rundweg und seufzte dann schwer. »In Ordnung, erkläre mir deinen Plan. Sag mir zumindest, daß du einen Plan hast.«

»Ich versuche schon auf dem ganzen Weg hierher, mir einen auszudenken«, räumte Owen ein. »Bislang ohne Erfolg. Ich denke, ein frontales Vorgehen wäre vielleicht das beste. Einfach in die Hauptstadt hineinspazieren und den zu sprechen verlangen, der dort das Kommando führt. Sie behaupten, mich als ihren Erlöser zu verehren, da ich ihre Gruft geöffnet und sie ins Leben zurückgeholt habe. Vielleicht kann ich dieses Ansehen gegen ihren Bedarf an diesem Planeten eintauschen. Mich selbst anstelle der Kolonisten anbieten. Oder zumindest für so viele Kolonisten, wie ein Erlöser wert ist.«

»Hast du mir überhaupt nicht zugehört, Owen? Du kannst keine Abkommen mit Hadenmännern schließen. Wenn du dich ihnen in die Hand begibst, bringen sie dich bestenfalls um.

Schlimmstenfalls machen sie einen Hadenmann aus dir. Nein, Owen, wir müssen diesmal ein bißchen subtiler zu Werk gehen. Wir haben versucht, auf Nebelwelt gegen eine Armee zu kämpfen, und sind fast dabei umgekommen, ungeachtet unserer ganzen Kräfte. Wir brauchen eine Strategie und dafür mehr Informationen über das, was auf dem Planeten geschieht. Zum Beispiel, wie viele Hadenmänner man dort findet und wo, sowas in der Art.«

»Ich habe Oz schon damit beauftragt. Was gefunden, Oz?«

»Überhaupt nichts. Überall sind Schilde. Ich empfange nicht einmal etwas so Grundlegendes wie Lebenszeichen. Was immer da unten geschieht – sie möchten nicht, daß es jemand mitbekommt.«

»Er sagt nein«, berichtete Owen. »Was bedeutet, daß wir persönlich landen müssen, falls wir etwas in Erfahrung bringen möchten.«

»In Ordnung«, sagte Hazel finster. »Aber wir landen getarnt, bleiben im Schatten und halten die Köpfe eingezogen.«

»Seit Jahren schon versuche ich, Euch dieses Prinzip zu erläutern«, sagte Owen. »Es freut mich zu hören, daß einige meiner Lektionen endlich verstanden wurden.«

»Spiel nur nicht wieder den Eingebildeten!« warnte ihn Hazel. »Ich verfüge selbst über ein paar Hirnzellen. Sieh mal, wir haben einen Vorteil, auf den die Hadenmänner nicht zählen können: Ich habe über die größte Stadt von Brahmin II das eine oder andere in Erfahrung gebracht, als ich dort arbeitete. Sofern sich diese Dinge in den Jahren meiner Abwesenheit nicht drastisch verändert haben, sollte ich in der Lage sein, uns unbemerkt in die Stadt zu schmuggeln, damit wir uns dort heimlich ein bißchen umsehen können. Klingt das gut für dich?«

»Klingt für mich nach einem guten Plan«, sagte Owen. »Ich bin beeindruckt. Wirklich. Oz, bringe uns auf eine niedrige Umlaufbahn und halte unsere Abwehrschirme unter voller Energie.«

»Verdammt richtig, das werde ich«, bestätigte die KI. »Entspanne dich. Es könnte eine Zeitlang dauern. Ich muß uns ganz vorsichtig durch die Hadenmännerflotte steuern, die den Planeten umringt, und inbrünstig hoffen, daß unsere Schilde auf kurze Distanz halten. Falls nicht, bezweifle ich sehr, daß wir Gelegenheit erhalten, unser Geld zurückzufordern. Nimm dir die Freiheit, zu allen Göttern zu beten, die dir vielleicht einen Gefallen schulden.«

Die goldenen Schiffe füllten den Bildschirm aus, als die Sonnenschreiter II langsam auf sie zuhielt und durch die Absperrung schlüpfte wie eine Elritze, die zwischen Walen einherschwamm. Die goldenen Schiffe waren riesig und bedrohlich, größer als Städte und gefährlicher. Ihre Feuerkraft reichte, um imperiale Sternenkreuzer abzuwehren. Eines nach dem anderen glitten sie vorbei, still und unbekümmert, ohne etwas von der schlanken silbernen Nadel zu ahnen, die sich langsam durch ihren Abwehrgürtel schlängelte. Endlich fiel das letzte Schiff der Hadenmänner zurück, und die Sonnenschreiter II ging auf eine sichere niedrige Umlaufbahn um Brahmin II.

Hazel stieß einen Triumphschrei aus, und Owen gab es auf, weiter die Armlehnen seines Sitzes zermalmen zu wollen.

»Gut gemacht, Oz«, sagte er laut. »Theoretisch war ich mir ziemlich sicher, daß die Schilde halten würden, aber natürlich hatte ich keine Möglichkeit, das vorher zu testen.«

»Warte mal«, sagte Hazel. »Weshalb genau warst du so überzeugt davon? Weißt du etwas über dieses Schiff, was mir unbekannt ist?«

Owen lächelte ein klein wenig herablassend. »Ihr scheint vergessen zu haben, daß die Hadenmänner dieses Schiff gebaut haben. Da wir schon wußten, daß sie in anderen Teilen ihre fortschrittliche Technik eingebaut haben, schien es nur logisch, daß sie auch die Abwehrschirme nach eigenem anspruchsvollem Standard ausgelegt haben. Scheint, daß ich recht hatte.«

»Nun, ja und nein«, flüsterte ihm Oz ins Ohr. »Die Schilde waren stark genug, um uns vor den goldenen Schiffen zu schützen, aber auf dem Planeten verfügen die Hadenmänner über viel stärkere Anlagen. Ihre Sensoren durchdrangen unsere Schilde in dem Augenblick, in dem wir innerhalb der Blockade auftauchten, aber zum Glück konnte ich die Schilde mit ein bißchen kreativem Denken unterstützen. Als du die ursprüngliche – und, wie ich hinzufügen könnte, ausgesprochen minderwertige – KI, wie die Hadenmänner sie installiert hatten, durch mich ersetzt hast, fand ich in ihren Speicherbänken allerlei interessante Informationen. Mit der alten KI als Maske konnte ich unauffällig in die Lektronennetze auf dem Planeten eindringen und sie anweisen, unsere Präsenz nicht zu registrieren.

Das Programm, das ich dort gestartet habe, wird nicht ewig laufen, wohl aber lange genug, damit du und Fräulein Tod-auf-zwei-Beinen eure Untersuchungen dort unten abschließen könnt. Habe keine Hemmungen, zu applaudieren und mit Rosen zu werfen.«

»Gut gemacht, Oz«, sagte Owen. »Ich wußte gar nicht, daß du solche Sachen fertigbringst.«

»Du weißt manches nicht von mir«, behauptete Oz blasiert.

»Ich bin groß! Ich bin wundervoll! Ich wirke Wunder!«

»Werde mir jetzt nicht zu allem Überfluß noch großspurig!« warnte ihn Owen. »Behalte unsere Schilde und dein Programm im Auge und sage mir sofort Bescheid, falls wir entdeckt werden. Wie sieht es nun mit unseren Sensoren aus? Kannst du uns mit Hilfe deiner Rechnerverbindung Informationen über die Planetenoberfläche zumogeln?«

»Ich wüßte nicht, was mich daran hindern sollte«, sagte Oz.

»Natürlich steigt dadurch das Risiko, daß jemand mein Programm früher aufspürt, als dies sonst der Fall wäre.«

»Schwierig. Ich brauche jedoch Informationen. Zeige mir, was da unten vor sich geht.«

»Du bist wieder ganz still geworden«, stellte Hazel fest.

»Und dein Gesicht hat alle möglichen Ausdrucksformen durchlaufen. Redest du wieder mit dieser Gespenster-KI?«

»Ah«, sagte Owen. »Entschuldigt. Mir ist gar nicht aufgefallen, daß ich lautlos geredet habe. Oz hat eine Möglichkeit gefunden, Sensorenmessungen auf der Planetenoberfläche durchzuführen. Und er ist kein Gespenst.«

»Wie kommt es dann, daß du ihn als einziger hören kannst?«

»Das hat was für sich«, bemerkte Oz.

»Halt die Klappe, Oz«, sagte Owen. »Seht mal, vielleicht hat es etwas mit dem Labyrinth des Wahnsinns zu tun. Er war dort in meinem Kopf, als wir alle hindurchgingen. Vielleicht hat ihn die Erfahrung… verändert.«

Hazel schniefte. »Ich finde es trotzdem verdammt gruselig.«

»Ich bin ganz dieser Meinung«, mischte sich Oz wieder ein.

»Ich versuche, selbst nicht zuviel darüber nachzudenken. Sonst stelle ich mir noch peinliche Fragen – zum Beispiel, wo zum Teufel eigentlich meine Hardware ist.«

»Wir können später noch über das Wesen der Existenz debattieren«, sagte Owen entschieden. »Wenn wir mal nicht von einer ganzen Armee kybernetischer Killer umzingelt sind. Leg jetzt verdammt noch mal die Sensorenwerte auf den Hauptbildschirm!«

»In Ordnung, in Ordnung«, sagte Oz. »Die Werte kommen.«

»Nachdem die erste Kolonie ausgelöscht worden war, hat man den Planeten nicht wieder ernsthaft besiedelt«, berichtete Hazel, während sie auf die ersten Bilder von der Oberfläche warteten. »Die Bevölkerung stieg nicht wieder nennenswert über eine Million. Die Ökosphäre sieht ziemlich trübe aus, was die Landwirtschaft erschwert. Die Bergwerke verlangen den Leuten harte Arbeit ab, ohne daß es sich sonderlich bezahlt machen würde. Und nach dem Angriff der Hadenmänner ist niemand mehr freiwillig hergekommen. Schließlich mußten die Verantwortlichen mehr Grundbesitz versprechen, höhere Bonuszahlungen, eine Stationierung von Truppen und permanenten Schutz durch die Raumflotte. Man wollte die Minen wirklich wieder in Gang bringen. Schließlich ließen sich genug von den wirklich Verzweifelten durch das Paket überreden, auf Brahmin II einen neuen Anfang zu wagen, und die Kolonie wurde wieder lebendig. Nur mußte die Flotte während der Rebellion abberufen werden und ist nie zurückgekehrt. Und während wir alle mit anderen Dingen befaßt waren, kamen die Hadenmänner zurück und übernahmen den Planeten erneut. Die Kolonisten waren leichte Beute. Arme Schweine. Für sie mußte es sein, als würde ihr schlimmster Alptraum wahr.«

»Ein weiterer Preis, den wir für unseren Sieg bezahlen mußten«, sagte Owen. »Ein weiterer Schlamassel, den wir bereinigen müssen. Und für mich erneut etwas, um mich schuldig zu fühlen. Manchmal frage ich mich, warum ich überhaupt diesen Weg eingeschlagen habe.«

»Weil man dich sonst umgebracht hätte. Verpasse dir doch nicht selbst einen Kinnhaken, Owen. Auf Golgatha gibt es jede Menge Leute, die das nur zu gern übernehmen würden. Wir haben die Eiserne Hexe gestürzt und ein System beseitigt, das auf brutaler Unterdrückung beruhte. Letztlich rechtfertigt das alles, was wir tun mußten.«

»Alles?« fragte Owen.

»Verdammt richtig«, bekräftigte Hazel.

Owen blickte wieder auf den Bildschirm und wechselte das Thema. »Ich frage mich, warum die Hadenmänner hierher zurückgekehrt sind. Jeder weiß, warum sie eine so reiche Beute wie Madraguda wollten. Aber demzufolge, was Ihr gesagt habt, ist schwer verständlich, was Brahmin II so attraktiv macht. Was bauen sie hier ab? Irgendwas Wichtiges?«

»Eigentlich nicht«, antwortete Hazel. »Ein paar weniger bedeutsame Mineralien. Nützlich, aber nicht wertvoll.«

»Warum haben die Hadenmänner den Planeten dann wieder zu ihrem Stützpunkt gemacht? Was ist an Brahmin II so besonders?«

»Da hast du mich auf dem falschen Fuß erwischt«, gestand Hazel. »Vielleicht gehört das zu den Dingen, die wir bei unserem kleinen Ausflug nach dort unten herausfinden müssen.«

Endlich tauchten die ersten Bilder auf dem Schirm auf, und Owen und Hazel wurden still, als sie sahen, was die Hadenmänner Brahmin II diesmal angetan hatten. Die Städte waren durch konzentriertes Disruptorfeuer verwüstet worden. Nicht mal Ruinen waren zurückgeblieben, nur flache Krater. Die einzigen Ausnahmen bildeten die größte Stadt und der Raumhafen, die noch standen, aber auch sie trugen die Zeichen der Hadenmänner, die hier etwas Neues und Fremdes geschaffen hatten, mit seltsamen Bauten und unbekannter Technik.

»Es ist schlimmer als beim letzten Mal«, sagte Owen schließlich. »Eine Politik der verbrannten Erde für die äußeren Städte, dann die Einrichtung in der Hauptstadt. Sie sind auf Dauer hier.

Und ich habe es möglich gemacht.«

»Wirst du wohl damit aufhören, dir das Gewicht des Universums aufzuladen!« schimpfte Hazel. »Nicht alles, was passiert, ist deine Schuld. Konzentrieren wir uns auf die anstehende Aufgabe, nämlich uns in die Hauptstadt zu schleichen, die benötigten Informationen zu beschaffen und wieder hinauszuschleichen, möglichst in intaktem Zustand. Alles andere kann warten. Wenn wir erst wissen, was hier passiert, können wir mit dem Rest der Flotte zurückkehren, einen Überraschungsangriff durchführen und mit allem draufhalten, was wir haben.

Damit putzen wir ihnen das Grinsen aus der Visage.«

»Wir können nicht weg«, sagte Owen. »Seht Euch diese Zahlen an der Seite des Bildschirms an. Es sind Lebenszeichen.

Die Mehrheit der Bevölkerung ist noch am Leben und wird in der Hauptstadt festgehalten. Ein Schild aus Menschen gegen eine Intervention des Imperiums. Die Hadenmänner haben schon immer gewußt, welche Schwächen die Menschen haben, auch ohne sie zu teilen. Wir müssen die Kolonisten retten! Wir sind ihre einzige Hoffnung.«

Hazel seufzte. »Immer gibt es einen Haken, nicht wahr?

Warum können die Dinge nicht mehr unkompliziert sein?«

»Sie waren es nie«, entgegnete Owen. »Außer im Rückblick.

Und in den Filmen. Wie gut kennt Ihr diese Stadt?«

»Sehr gut«, sagte Hazel. »Endlich haben wir mal Glück. Das ist die Stadt, für die ich ohnehin Pläne habe. Ich habe früher dort gearbeitet; es war die Hauptstadt und die Verwaltungszentrale. Sogar die Bergwerke wurden von dort aus geleitet.«

»Dann haben die Hadenmänner sie wahrscheinlich deshalb verschont. Wie heißt sie?«

»Brahmin City. Es waren nicht die einfallsreichsten Kolonisten, die mir je über den Weg gelaufen sind.«

»Dann bringe uns hinunter, Oz. Suche einen Landeplatz, der einigermaßen dicht an der Stadt liegt, dabei aber weit genug entfernt, damit eine Grenzpatrouille nicht über uns stolpert.«

»Dürfte kein Problem sein«, meinte Oz. »Soweit ich mit den Sensoren feststellen kann, gibt es keine Grenzpatrouillen.

Nichts bewegt sich außerhalb der Stadt. Man muß schon ein verdammter Idiot sein, um sich ganz auf Sensoren zu verlassen, aber die Hadenmänner hatten schon immer ein übertriebenes Zutrauen in Technik. Haltet euch fest, es geht los!«

Die Sonnenschreiter II sank langsam aus dem Orbit herab, wie ein einsames silbernes Blatt in einem Wald. Owen und Hazel blickten konzentriert auf den Hauptbildschirm, als sich Brahmin City endlich unter ihnen ausbreitete. Neue Gebäude ragten zwischen den alten auf, hohe silberne Konstruktionen mit abrupten Wölbungen hier und dort. Auswüchse aus schimmernder Technik häuften sich aufeinander und wickelten sich umeinander, als wären sie zu ihren gegenwärtigen Formen gewachsen und nicht geplant und gebaut worden. Die ramponierte Stadt sah aus, als wäre sie von einem riesigen silbrigen Parasiten befallen, der auf jeder Freifläche emporschoß und die verbliebenen Reste der Menschenstadt erstickte. Die Hadenmänner standen im Begriff, sich ein neues Zuhause zu schaffen, und es hatte in Form oder Natur nichts Menschliches an sich. Überhaupt nichts.

Owen und Hazel parkten die Sonnenschreiter II in einem der kleineren Krater, der das einzige war, was von einem der alten Vororte Brahmin Citys blieb. Sie stiegen aus, Schußwaffen und Schwerter in den Händen, nur für den Fall, daß sich Oz hinsichtlich der Grenzpatrouillen irrte, aber alles blieb ruhig. Keine Vögel sangen, keine Insekten summten; überhaupt nichts rührte sich in der staubigen Luft. Owen blickte sich langsam um, betrachtete die öde Landschaft. Sie zeigte sämtliche Grauschattierungen von versengter Erde bis zu zerhämmertem Gestein, und nichts lebte darin, soweit das Auge sah. Ein Friedhof ohne Gras, ohne Blumen, ohne Grabsteine und ohne einen Überrest der Toten, den man noch hätte bestatten können. Das Ende der Zeit wird so aussehen, dachte Owen. Wenn wir alle dahingeschieden sind und das Leben selbst zu Staub geworden ist. Der Anblick erinnerte ihn nachdrücklich an Virimonde, und er fragte sich, ob es seine Bestimmung war, immer zu spät zu kommen. Zu gern wäre er wenigstens einmal als Retter gekommen und nicht als Rächer. Er steckte Schwert und Pistole weg. Vor soviel Tod und Verwüstung fühlten sie sich klein und nutzlos an.

Hazel tigerte herum und trat in den grauen Boden, um zuzusehen, wie die Staubwolken hochstiegen und sich wieder legten. Sie hatte die Waffen ebenfalls weggesteckt und wirkte eindeutig verärgert, daß sie niemanden vorgefunden hatte, um sie gegen ihn einzusetzen. Owen holte Luft, um sie zu rufen, und hustete kräftig, als der Staub seinen Hals reizte. Die Luft war dick von Staub, einem dahintreibenden grauen Dunst, der wie die Gespenster der pulverisierten Gebäude wirkte. In höheren Luftschichten war er noch dicker, und das Licht der untergehenden Sonne fiel durch einen großartigen Schleier aus verblaßten Farben, wie ein gebrauchter Regenbogen vom Wochenmarkt.

»Komm schon, Owen, für eine Besichtigung ist später noch Zeit!« Hazel war ungeduldig wie immer. »Brahmin City liegt gleich hinter dem Grat dort am Horizont. Über eine Stunde Fußmarsch.«

Owen musterte sie argwöhnisch. »Ihr sagtet, Ihr wüßtet einen Weg in die Stadt, den die Hadenmänner wahrscheinlich nicht entdeckt haben. Seid Ihr inzwischen bereit, darüber zu diskutieren?«

»Na ja«, sagte Hazel, ohne seinen Blick zu erwidern. »Es ist schon ein Weg, der hineinführt, aber er wird dir nicht gefallen.«

»Bislang habe ich an diesem Planeten überhaupt noch nichts entdeckt, was mir gefallen hätte. Was stimmt nicht mit dem Weg?«

»Er führt durch… die Kanalisation.«

»Natürlich«, sagte Owen. »Das war ja zu erwarten. Wie habt Ihr davon erfahren?«

»Ich habe für den städtischen Sicherheitsdienst gearbeitet.

Der Wiederaufbau der Kolonie lief schließlich auf vollen Touren, und überall wuchsen neue Städte empor, aber die Kosten sprengten den Etat – womit ich sagen will, sie lagen deutlich darüber. Also hat man einen ganzen Haufen Sicherheitsleute mit häßlicher, argwöhnischer Gesinnung angeworben, um herauszufinden, wohin das ganze Geld floß. Hörte sich nach einem interessanten Job an, als ich ihn übernahm, aber dann war es meist Papierkram und Zeit am Rechner. Ich habe es aber schließlich herausgefunden. Ich knackte Dateien, von denen ich eigentlich nichts erfahren sollte, und entdeckte solide Beweise, daß einige führende Bauunternehmer gemeinsam mit einer führenden Gewerkschaft einen Schwindel durchzogen.

Die Unternehmer setzten Überstunden an, die dann nicht geleistet wurden, und die Unternehmer und die Gewerkschaftsbosse teilten sich den Gewinn. Keiner der armen Schweine, die auf dem Bau schufteten, hat natürlich jemals was von der Knete gesehen.

Gerade als ich soweit war, den bösen Jungs Saures zu geben, verpfiff mich jemand, und die Unternehmer und Bosse schnappten sich ihre Profite und machten sich aus dem Staub.

Ich setzte ihnen durch die ganze Stadt und dann durch die Abwasserkanäle hinaus nach, bis zu der Stelle, wo ein Schiff auf sie wartete. Bei jemand anderem hätten sie es vielleicht geschafft, aber nach der ganzen Rennerei war ich in mieser Stimmung. Aber, man sollte es kaum glauben, nach all der harten Arbeit gönnten mir die Stadtväter nur einen mageren Bonus von hundert Kredits pro Kopf, und ich mußte auch noch die Köpfe als Beweis vorlegen. Zum Glück hatte ich sie zur Hand… Worüber grinst du?«

»Es ist nur… Es fällt mir schwer, mir Euch als Vertreterin von Recht und Ordnung vorzustellen. Immerhin, ich wette, daß niemand bei Rot über die Ampel gegangen ist, solange Ihr in der Nähe wart.«

»Jedenfalls«, fuhr Hazel mit großer Würde fort, »wette ich gutes Geld darauf, daß die Hadenmänner nichts an der Kanalisation verändert haben, auch wenn sie im Hochbau ganz schön aktiv waren. Hadenmänner brauchen schließlich keine Toiletten, erinnerst du dich? Einer ihrer fremdartigsten Züge, wenn du mich fragst. Also steigen wir in die Kanalisation ein, folgen meinem früheren Weg und gucken hin und wieder ins Freie, um mal zu sehen, was so abläuft. Wenn wir verstohlen und schnell genug vorgehen, werden diese unmenschlichen Mistkerle nie etwas mitbekommen.«

»Ich weiß einfach, daß ich mir etwas Fürchterliches einfangen werde«, sagte Owen. »Aber es klingt nach einem Plan. Geht Ihr voraus, Hazel.«

Sie machten sich zu dem zerklüfteten Höhenzug auf, den sie am Horizont sahen, und bei jedem Schritt stiegen Wolken grauen Staubes auf. Beide husteten sie zunächst schmerzhaft, aber nach einer Weile improvisierten sie aus Taschentüchern Masken über Mund und Nase und erleichterten sich damit das Vorankommen. Owen hoffte inständig, daß Hazels Taschentuch sauberer war, als es aussah.

Sie schleppten sich in einer schwebenden Wolke aufgewirbelten Staubes durch die graue Landschaft. Die Schritte klangen unheimlich gedämpft. Nirgendwo bot die Umgebung charakteristische Merkmale, und der Höhenzug hockte dort vor ihnen und schien einfach nicht näherzukommen. Owen griff das Gespräch wieder auf, wenn auch durch das Taschentuch, nur um nicht vor Langeweile umzukommen.

»Falls ich mich korrekt erinnere«, sagte er so deutlich, wie er konnte, »habt Ihr gesagt, man hätte Euch aus dem Job hier gefeuert, und Ihr hättet Brahmin II etwas überstürzt verlassen müssen. Was ist schiefgegangen? Ich hätte eigentlich erwartet, daß man Euch die Schlüssel der Stadt aushändigte, nachdem Ihr einen solchen Betrug aufgedeckt hattet.«

»Hättest du das erwartet, ja?« versetzte Hazel, »Aber leider stellte sich heraus, daß die Mauscheleien in viel höhere Kreise reichten, als ich ahnte, und die fraglichen Leute sorgten für meine Entlassung, ehe ich Beweise gegen sie vorlegen konnte.

Sie haben mir überzogene Gewaltanwendung angehängt, mich gefeuert und vom Planeten gescheucht. Die Mistkerle.«

»Wenn also… die Stadtoberen noch leben, werden sie wohl nicht übermäßig erfreut sein, Euch zu sehen?«

Hazel schnaubte. »Sei nicht dumm! Falls sie noch leben, werden sie so verzweifelt auf Hilfe angewiesen sein, daß sie sogar Valentin Wolf und Kid Death willkommen heißen würden.«

»Ich verstehe, was Ihr meint. Geht lieber etwas schneller, Hazel. Dieser Höhenzug kommt einfach nicht näher, und es wird langsam Abend. Ich möchte vor Einbruch der Nacht wieder aus Brahmin City heraus sein. Ich entwickle so ein Gefühl, als wurde es hier ganz schön gruselig, wenn die Dunkelheit hereinbricht.«

»Jawohl«, bestätigte Hazel. »Müssen sich hier eine Menge Gespenster herumtreiben. Vielleicht können wir ihnen helfen, etwas mehr Ruhe zu finden.«

Endlich erreichten sie die Höhe und stiegen hinauf. Auf der anderen Seite lag Brahmin City in etwas, was wahrscheinlich einmal ein schönes Tal gewesen war, und die Silbertürme glänzten hell im anbrechenden Abend. Aus großer Entfernung drang das Geräusch endlos arbeitender Maschinen herüber – aus einer Stadt, die nicht mehr schlief. Owen und Hazel suchten sich vorsichtig einen Weg am Hang hinunter ins Tal, und Hazel führte Owen direkt zu den Öffnungen der Kanalisation, einer Reihe großer Metallrohre, die aus den Seiten von etwas ragten, was einmal ein grob ausgehobener Kanal gewesen war.

Kein Wasser floß dort mehr, aber der Geruch aus den Rohren erwies sich als immer noch recht übel. Hazel schritt vor den Öffnungen hin und her, und ihre Miene verfinsterte sich zusehends.

»Wo liegt das Problem?« fragte Owen nach einer Weile.

»Gönne mir eine Pause, Todtsteltzer. Ich versuche mich zu erinnern, welches Rohr welches ist. Ich war nur einmal hier, und das liegt Jahre zurück. Falls ich das falsche wähle, laufen wir hinterher womöglich im Kreis.«

»Wunderbar«, sagte Owen. »Oz, hast du eine Idee?«

»Natürlich«, gab die KI sofort Antwort. »Durch meine nach wie vor bestehende Verbindung habe ich Zugriff auf alle Unterlagen der Stadt, und dazu gehören umfassende Karten der gesamten Kanalisation. Ihr müßt die größte Öffnung ganz rechts nehmen. Folgt der Leitung, und sie führt euch direkt ins Hauptsystem mit Zugängen in der ganzen Stadt.«

Owen gab die Information an Hazel weiter, die widerstrebend nickte. »Klingt nach der richtigen Wahl. Okay, folge mir und bleibe mir dicht auf den Fersen!«

Sie zog sich in die breite Metallöffnung, blieb für einen Moment dort hocken und blickte forschend in die Dunkelheit. Die Leitung durchmaß nicht ganz zweieinhalb Meter, und die untere Seite war mit einem dicken schwarzen Rückstand überzogen. »Stinkt noch schlimmer als in meiner Erinnerung. Und ich möchte lieber nicht daran denken, worin ich hier stehe. Früher gab es eine Beleuchtung für das Wartungspersonal, aber ich sehe keine Schalter.«

»Gestatten«, sagte Oz, und plötzlich erstrahlte Licht an der Oberseite des Rohrs und erstreckte sich in die Ferne. Die kleinen grünen Kugeln verbreiteten ein unheimliches Licht, durchsetzt mit breiten Unterbrechungen aus Schatten und Dunkelheit.

Hazel schniefte laut. »Oz prahlt mal wieder, nicht wahr? Sag ihm, er soll nach alten Alarmsystemen in den Leitungen suchen. Besser auch nach neuen, wenn ich es mir recht überlege.«

»Bin schon dabei«, sagte Oz. »Solange ich eingeloggt bin, habe ich die vollständige Kontrolle über die Lektronenregister der Stadt.«

Hazel richtete sich auf und marschierte entschlossen in die Leitung hinein. Owen wappnete sich gegen den Gestank und folgte ihr. Die dicke schwarze Schmiere auf dem Boden quatschte laut unter seinen Füßen und gestaltete das Fortkommen heikel. Owen hoffte inständig, daß seine Schuhe keine Löcher aufwiesen. Auch an den Wänden klebte eine Art Schleim, und Owen achtete darauf, sich dort nicht abstützen zu müssen.

Er stolperte hinter Hazel her, die langsam und vorsichtig durch das Rohr ging, sich um die ersten Öffnungen, die sie erreichte, nicht kümmerte, sich dann jedoch entschlossen in eine Abzweigung nach rechts duckte, die sich optisch in nichts von den anderen unterschied. Wahrscheinlich erinnerte sie sich inzwischen wieder. Owen folgte ihr und fand sich in einem System aus kleineren, gemauerten Tunneln wieder, die nur etwa einen Meter achtzig durchmaßen. Die Wände hatte man vor nicht allzu langer Zeit gereinigt, aber der Bodenbelag war nach wie vor widerlich. Hazel ging jetzt schneller und orientierte sich dabei an einer Karte in ihrem Kopf, die sie jahrelang nicht konsultiert hatte. Owen hätte Oz bitten können, zu überprüfen, ob sie den richtigen Weg einschlugen, verzichtete aber darauf. Er vertraute Hazel.

In dem stumpfen grünen Licht war es schwierig, Entfernungen und Details auszumachen, und ein Dunst schien in der Luft zu schweben. Der Gestank war inzwischen so schlimm, daß er ein anhaltendes pelziges Gefühl in Mund und Nase erzeugte.

Allein Gott wußte, wie es hier gewesen sein mußte, als noch Abwässer durch das System strömten. Owen beschleunigte sein Tempo, um an Hazels Seite zu gelangen, und sie gingen eine Zeitlang schweigend weiter und nahmen die Abzweigungen, die Hazel für die richtigen hielt. Die einzigen Geräusche stammten von ihren Schuhen auf dem klebrigen Boden, und die Luft war so reglos, daß sie nicht mal Echos zuließ.

»Mich überrascht, daß wir noch keine Ratten gesehen haben«, sagte Owen schließlich. »Ich meine, überall, wo man eine Kanalisation vorfindet, trifft man auch Ratten an, selbst in den mondänsten Teilen des Imperiums. Zu denen dieser Planet nicht gehört.«

»Keine Ratte mit Selbstachtung würde einen Fuß in eine schmierige Angelegenheit wie diese setzen«, behauptete Hazel.

»Aber ich verstehe, was du meinst. Als ich letztes Mal hier unten war, ist definitiv etwas durch die Dunkelheit gehuscht.«

»Vielleicht sind sie alle fort, als die Abwässer ausblieben.«

»Oder vielleicht haben die Hadenmänner sie vergiftet.«

»Ja«, sagte Owen. »Möglich.«

Sie beeilten sich, ihren Weg durch die zunehmend schmaleren Tunnel fortzusetzen. Die gekrümmten, gemauerten Wände sahen alle ziemlich gleich aus, aber Hazel wirkte nach wie vor recht zuversichtlich, daß sie den Weg wußte. Owen hatte keinen Schimmer, wo er sich befand, und die völlige Stille ging ihm allmählich auf die Nerven. Die dunklen Öffnungen, an denen sie vorbeikamen, erschienen ihm immer mehr wie wachsame Augen und hungrige Mäuler, und ihn plagte die wachsende Überzeugung, daß irgend etwas mit ihnen hier unten war, das zusah und wartete. Er konzentrierte sich auf das verstärkte Hörvermögen, das ihm das Labyrinth verliehen hatte, und auf einmal gingen ihm die Ohren über mit dem Lärm, den seine und Hazels Schritte erzeugten, mit dem Rascheln ihrer Kleidung und den Lauten ihres Atems. Er blendete diese Aspekte aus und lauschte auf das, was blieb. Und da vernahm er weit vor sich, am Rand seiner Hörweite, ein langsames, schweres Klopfen wie den Schlag eines riesigen Herzens, und das Summen regelmäßig bewegter Luft.

Owen machte Hazel lautlos auf sich aufmerksam und tippte sich ans Ohr. Sie konzentrierte sich und runzelte die Stirn, als sie es auch hörte. Beide zogen sie Schwerter und Pistolen und gingen vorsichtig weiter, überprüften dabei jede Tunnelöffnung, an der sie vorbeikamen. Die Geräusche wurden allmählich lauter, bis der Tunnelboden im Rhythmus des gleichmäßigen Herzschlages vor ihnen zu vibrieren schien. Und dann kamen sie um eine Ecke und blieben abrupt stehen, denn sie sahen vor sich eine riesige Stahlturbine, deren Schaufeln fortlaufend rotierten, obwohl die Abwässer, die sie antreiben sollten, schon lange ausblieben. Hazel bedachte Owen mit einem warnenden Blick, und sie steckten ihre Waffen weg. Beide funkelten sie die Turbine an. Eindeutig führte kein Weg daran vorbei, und die schweren Schaufeln drehten sich unerbittlich und zu schnell, um sich an ihnen vorbeizuducken.

»Sie müssen das eingebaut haben, nachdem ich hier war«, sagte Hazel.

»Oz, irgendeine Chance, dieses Ding abzuschalten?«

»Ich fürchte, nein«, antwortete Oz. »Die Energie ist entweder ein- oder ausgeschaltet. Einzelne Systeme sind nicht individuell zu steuern.«

»Das hätte ich dir selbst sagen können«, sagte Hazel, als Owen ihr die Information übermittelt hatte. »Bei der Errichtung dieser Stadt hat man an allen Ecken gespart.«

»Wir sollten vielleicht bei den aktuellen Problemen bleiben«, schlug Owen vor. »Oz, schalte alles ab, und wir klettern im Dunkeln hindurch. Dann kannst du die Energie wieder hochfahren.«

»Ah«, sagte Oz. »So einfach ist das nicht, fürchte ich. Das Energiesystem ist so instabil, daß ich nicht hundertprozentig sicher bin, es überhaupt wieder hochfahren zu können.«

»Wundervoll«, sagte Owen.

»Sieh mal«, sagte Hazel, »letztlich ist das Ding nur ein Haufen Metall. Pusten wir es doch einfach weg. Mit ein paar Disruptorstößen auf Kernschußweite sollte das mühelos zu erreichen sein.«

»Das würde ich wirklich nicht tun, wenn ich an eurer Stelle wäre!« warf Oz rasch ein. »Schon jetzt kostet es mich alle Mühe, die Stadtsysteme ruhig zu halten. Sogar ich stoße an Grenzen. Falls ihr jetzt da unten einen Alarm lostretet, bricht die Hölle aus.«

»Jetzt mal langsam!« verlangte Owen. »Du hast mir gesagt, du ließest die Lektronen der Stadt durch Reifen springen. Was hat sich verändert?«

»Na ja«, räumte Oz widerstrebend ein, »es scheint, als wäre ich bei meinen ursprünglichen Voraussagen ein wenig überoptimistisch gewesen. Die Hadenmänner haben die Stadtlektronen weit über deren ursprüngliche Fähigkeiten hinaus aufgemotzt, und die Kisten… wehren sich jetzt seit einiger Zeit. Ich kann mit knapper Not den Status quo aufrechterhalten, aber falls ihr aus irgendeinem Grund Alarm auslöst, steht ihr ganz auf eigenen Füßen.«

»Toll«, fand Hazel, als Owen sie auf den aktuellen Stand gebracht hatte. »Ich habe dir ja gesagt, du solltest dich nicht auf Gespenster-KIs verlassen. In Ordnung, wir können das Ding nicht wegpusten. Was bleibt also? Falls wir richtig gut Anlauf nähmen und zwischen den Schaufeln hindurch…«

»Die sind gerade schwer und scharf genug, um uns in zwei Teile zu schneiden«, gab Owen zu bedenken. »Und ich denke nicht, daß selbst wir uns von so etwas erholen könnten.«

»In Ordnung, dann reißen wir das Ding einfach aus der Fassung. Zusammen sind wir stark genug.«

»Damit würden wir zwangsläufig Alarm auslösen. Ich möchte nicht aus dem letzten Tunnel steigen und dann einem halben Hundert Hadenmännern gegenüberstehen, die bis an die Zähne mit Hadenmännerwaffen bestückt sind.«

»Dann denke du dir was aus! Du bist ja angeblich das Hirn in unserer Partnerschaft! Du denkst, und ich schieße; so war es immer.«

»Ich kann besser nachdenken, wenn mir niemand ins Ohr brüllt«, entgegnete Owen sanft. Hazel schniefte und wandte ihm den Rücken zu. »Oz, gibt es eine Route, auf der wir die Turbine umgehen können?«

»Ich fürchte, nein. Schaufelräder wie dieses findet man in der ganzen Anlage. Welchen Weg ihr auch immer einschlagt, ihr trefft schließlich wieder auf eines.«

»Andererseits«, sagte Hazel, die sich ihm wieder zugewandt hatte, »habe ich hin und wieder auch mal eine gute Idee. Owen, in Nebelhafen hast du ein ganzes Gebäude auseinandergerissen, indem du es dir einfach vorgestellt hast, nicht wahr?«

»Nun, ja, aber…«

»Nichts aber. Wie hast du das gemacht?«

»Ich will verdammt sein, wenn ich das wüßte. Ich wurde einfach wütend genug, und die Macht floß mir zu. Viele der vom Labyrinth des Wahnsinns gewirkten Veränderungen tauchen erst auf, wenn ich böse oder verzweifelt genug bin.«

Hazel nickte rasch. »Ja, bei mir ist es genauso. Wenn ich im Kampf ausreichend sauer werde oder mir jemand zu heftig zusetzt, tauchen meine anderen Ichs aus dem Nichts auf, um mir den Arsch zu retten. Aber deine Kraft hört sich ganz nach der Psychokinese eines Poltergeistes an. Falls du diese Kraft aufrufen und ausreichend beherrschen könntest, dann wette ich, wärst du auch in der Lage, die Turbine genug zu verlangsamen, damit wir hindurchkriechen können. Dann könntest du loslassen, das Schaufelrad würde von neuem beschleunigen, und alles wäre wieder normal, ganz ohne irgendeinen Alarm auszulösen. Richtig?«

»Richtig«, sagte Owen. »Das ist eine ausgezeichnete Idee, Hazel. Wirklich. Problematisch ist nur, daß ich nicht die leiseste Ahnung habe, wie ich diese Kraft aufrufen, geschweige denn beherrschen sollte. Wenn man es genau nimmt, haben wir nie wirklich begriffen, was das Labyrinth mit uns angestellt hat oder wie wir unsere besonderen Fähigkeiten einsetzen. Vor allem, weil wir nie die Zeit fanden, uns damit zu befassen.«

»Wir hätten uns die Zeit nehmen können«, sagte Hazel langsam, »wäre das unser Wunsch gewesen. Aber es hat uns – in Ordnung, mir – nie gefallen, über das Labyrinth zu diskutieren oder über das, worin wir uns womöglich verwandeln. Wir sind keine Esper. PSI könnte manche der Leistungen, die wir vollbracht haben, nicht erzielen. Verdammt, es gibt sogar wunderwirkende Heilige, denen es schwerfallen würde, unsere Nummern nachzustellen!«

»Wie in so vielen Dingen«, überlegte Owen, »lernen wir durch die Praxis. Wie ein Kind, das gehen lernt.«

»Wir hätten schon vor langer Zeit darüber diskutieren sollen.

Wer weiß, wozu wir alles in der Lage sind?«

»Genau. Wer ahnt schon, zu welchen Extremen des Guten oder Bösen wir vielleicht fähig sind. Wer weiß… was letztlich aus uns wird?«

Sie musterten einander ausgiebig. »Möchtest du damit sagen… daß aus uns vielleicht Monster werden könnten?« fragte Hazel.

»Manchmal frage ich mich, ob wir nicht schon welche sind«, sagte Owen. »Weil ich so wenig Kontrolle über das habe, was ich tun oder was aus mir werden könnte. Deshalb bemühe ich mich auch schon die ganze Zeit, innerhalb menschlicher Grenzen zu bleiben. Mensch zu bleiben.«

»Ich fühle mich gar nicht anders als früher«, stellte Hazel stirnrunzelnd fest. »Ich habe… bemerkenswerte Dinge vollbracht, aber ich bin immer noch ich.«

»Woher wollt Ihr das wissen?« fragte Owen sanft. »Woher sollte ich es wissen? Keiner von uns ist zum Helden geboren worden oder hatte je den Wunsch, einer zu werden, aber wir mußten uns völlig verändern, um zu überleben. Wir wurden zu legendären Gestalten, weil die Rebellion solche Gestalten brauchte. Zu was haben wir uns sonst noch verändert, weil wir es für nötig hielten?«

»Ich wünschte, du würdest aufhören, Fragen zu stellen, auf die wir beide keine Antworten wissen, wie du verdammt gut weißt! Wir können diesen ganzen mystischen Scheiß später noch diskutieren. In diesem Augenblick mache ich mir um nichts anderes Gedanken, als ob wir diese verteufelten Turbinenschaufeln genügend abbremsen können, damit wir daran vorbeikommen. Willst du es wenigstens versuchen, verdammt?«

»Natürlich werde ich es versuchen«, sagte Owen. »Aber wir setzen diese Diskussion später fort.«

Er wandte sich wieder der rotierenden Turbine zu. Sie wirkte groß und massiv und völlig unüberwindlich, und er hatte keinen Schimmer, wie er Einfluß auf sie nehmen sollte. Er spürte weder Zorn noch Notwendigkeit, was normalerweise seine Kräfte wie einen heftigen Sturm entfesselte, der alle Hindernisse wegfegte. Und selbst wenn dieser Sturm ausbrach, konnte er ihn gerade eben noch in die richtige Richtung lenken. Lenken… Das Wort vibrierte in ihm nach, war auf einmal voller Bedeutung. Er wandte die Gedanken nach innen, blendete die Wahrnehmung von Tunnel und Turbine aus, versuchte sich auf das Gefühl zu konzentrieren, das auftrat, wenn er die Kraft ausrichtete, und langsam trat die Erinnerung zutage. Er packte sie sogleich, zerrte sie ganz ans Tageslicht, und der Begriff und das Gefühl der Ausrichtung regten sich in den Tiefen seines Bewußtseins. Es war, als sähe er plötzlich eine ganz neue Farbe oder hörte ein neues Instrument spielen, obwohl es ein abstrakterer Vorgang war. Ein ganz neuer Begriff von Welterfahrung.

Und eine Woge der Kraft rollte aus dem Hinterkopf heran, aus dem Unterbewußtsein, bis in die bewußten Gedanken hinein, wo sie auf einmal so offenkundig und vertraut wurde wie das Atmen.

Er griff mit den Gedanken hinaus, so wie man eine Hand ausstreckte, und berührte die Turbine. Sie wurde langsamer und bebte, als sie gegen eine Kraft ankämpfte, die sie nicht überwinden konnte, bis sie sich schließlich kaum noch drehte.

Der Zentralmotor ächzte lautstark, wie ein Lebewesen, das Schmerzen hatte. Hazel klopfte Owen auf die Schulter und grinste von einem Ohr zu anderen.

»Du hast es geschafft, Owen! Du hast es geschafft!«

»Verdammt richtig«, sagte Owen. »Hört jetzt auf, mir körperliche Verletzungen zuzufügen, und klettert hindurch, ehe die Turbine zu dem Schluß gelangt, sie hätte eine Störung, und einen Alarm auslöst.«

»Alarm, Alarm«, meckerte Hazel und stieg vorsichtig zwischen die kaum noch rotierenden Schaufeln. »Von sowas bist du richtig besessen.«

»Einer von uns muß es ja sein«, sagte Owen und folgte ihr zwischen die Schaufeln. Sobald sie hindurch waren, lockerte er die Willensanspannung wieder, und die Turbine kehrte auf ihre alte Geschwindigkeit zurück. Die geistige Empfindung zog sich in den Hinterkopf zurück. Da er jetzt jedoch wußte, wo er nachsehen mußte, war er überzeugt, die Kraft wieder aufrufen zu können. Falls er fand, daß es… nötig war.

»Und, wie hat es sich angefühlt?« fragte Hazel interessiert.

»Wie Tanzen«, antwortete Owen. »Oder Malen. Disziplinierte mentale Anmut, die den Rohstoff der Welt ordnet. Ist das hilfreich?«

»Kein bißchen«, sagte Hazel. »In Ordnung, gehen wir weiter.

Wir müßten bald den Durchgang in die Hauptanlage erreichen, und von dort haben wir Zugang zu jedem Teil der Stadt.«

»Gut«, sagte Owen. »Ich kann es gar nicht mehr erwarten, wieder frische Luft zu atmen. Meine Lungen fühlen sich an wie Aschenbecher.«

»Bevor ihr weitergeht«, flüsterte ihm Oz ins Ohr, »muß ich zu diesem Thema etwas einwerfen, das wir, wie ich finde, diskutieren sollten. Einer Datei zufolge, die ich gerade in den städtischen Lektronen gefunden habe, besteht ein guter Grund, warum es hier in der Kanalisation so stinkt. Die Luft ist giftig.

Ein ziemlich tödliches Nervengas, das die Hadenmänner eingeleitet haben, um alles umzubringen, was hier unten leben könnte.«

»Gift!« sagte Hazel, als Owen es ihr erklärt hatte. »Aber wir atmen es schon seit Äonen! Warum sind wir noch nicht tot?«

»Eine berechtigte Frage«, antwortete Oz. »Eine, die mich stark bewegt, seit ich die Datei entdeckt habe. Eigentlich müßte euch inzwischen alles Fleisch von den Knochen gefault sein.«

»Das muß an einer weiteren Veränderung liegen, der wir im Labyrinth des Wahnsinns unterzogen wurden«, fand Owen.

»Die wieder mal aufgetaucht ist, als sie gebraucht wurde. Nur ein neuer Aspekt, in dem wir keine Menschen mehr sind.«

»Fang nicht wieder damit an!« knurrte Hazel. »Es ist die erste wirklich praktische Veränderung, mit der das Labyrinth bislang aufgewartet hat. Geh weiter. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.«

Sie folgten erneut dem Tunnel. Owen bemühte sich eine Zeitlang, flacher zu atmen, gab es aber wieder auf, weil es ohnehin längst zu spät dafür war. Der restliche Marsch verlief meist ereignislos, bis sie den Zugang zur Hauptanlage erreichten und den Weg durch einen massiven Stahlverschluß blockiert fanden – eine einzelne, große Platte aus schwerem Stahl, die den Tunnel komplett absperrte und sich selbst Owens und Hazels kombinierter Kraftanstrengung widersetzte. Beide traten sie einen Schritt zurück und dachten über das Problem nach.

»Das sollte sich nur in Notfällen schließen«, erklärte Hazel, »um eine Überflutung der Hauptanlage zu verhindern. Das Schloß ist mechanisch, weil sich Elektronik und Wasser nicht gut vertragen. Ich kann mir nicht vorstellen, dieses Schloß ohne eine ganz spezielle schwere Ausrüstung zu knacken.«

»Die Hadenmänner haben hier dichtgemacht«, sagte Oz.

»Wahrscheinlich, um Leute wie uns auszusperren. Da das Schloß nicht elektronisch ist, kann ich Euch auch nicht helfen.

Und die noch schlechtere Nachricht lautet: Es scheint eine manuelle Überbrückung zu geben, aber man braucht vier Leute, die sie simultan bedienen. Wieder mal eine Sicherheitsvorkehrung.«

Owen und Hazel überprüften die vier Handsteuerungen, einfache Räder an den vier Ecken der Platte – aber so sehr sie sich auch reckten, sie konnten mit den Händen nicht mal annähernd mehr als ein Rad gleichzeitig erreichen. Man brauchte vier Personen dafür. Hazel versetzte dem Siegel angewidert einen Tritt und erzeugte eine kleine Delle im Metall.

»Verdammtes Scheißding! Ich bin doch nicht den ganzen Weg gekommen, um dann von einem blöden Klumpen Stahl aufgehalten zu werden! Tritt mal zurück, ich ballere das Mistding weg.«

»Man braucht eine Disruptorkanone, um etwas so Großes zu durchschlagen«, sagte Owen. »Und wir dürfen die Alarmvorrichtungen nicht vergessen…«

»Ich bin es allmählich echt leid, das Wort Alarm zu hören!

Ich wate nicht den ganzen Weg durch die Abwasserkanäle zurück, Owen. Entweder denkst du dir etwas aus, oder ich puste die Tür weg und riskiere es einfach.«

»In Ordnung, ich habe eine Idee«, sagte Owen. »Wir haben durch eine Feineinstellung meiner Fähigkeit die Turbine überwunden. Wie wäre es, wenn wir hier Eure Fähigkeit nutzten?«

Hazel musterte ihn. »Erkläre mir das. Wie könnte uns meine Kraft hier helfen?«

»Na ja, Ihr könnt eine Armee anderer Versionen Eurer Selbst beschwören, damit sie Euch im Kampf unterstützen. Vielleicht schafft Ihr es, wenn Ihr Euch stark genug konzentriert, nur zwei herbeizurufen und sie lange genug festzuhalten, damit sie die beiden übrigen Räder drehen.«

»Verdammt!« sagte Hazel. »Das ist ja richtig brillant! Ich nehme alles zurück, was ich über dich gesagt habe. Ich weiß zwar noch nicht, ob es auch funktioniert, aber es ist sicherlich einen Versuch wert.«

Hazel betrachtete die Tür für geraume Zeit mit finsterer Miene. Wie bei Owen tauchte die besondere Kraft gewöhnlich nur unter großem Streß auf. Wenn sie in der Hitze der Schlacht die alternativen Versionen ihrer selbst benötigte, waren sie einfach da. Hazel hatte keine Ahnung, warum bestimmte Versionen häufiger auftauchten als andere, und sie wußte auch überhaupt nicht, welcher Art diese Erscheinungen waren. Die klügste Spekulation schien ihr, daß es sich um Versionen ihrer selbst von anderen Zeitschienen handelte, daß es Personen waren, zu denen sie sich hätte entwickeln können, wäre die Geschichte anders verlaufen – aber sie hatte keinen Beweis dafür. Keine der Versionen war jemals lange genug verweilt, um Fragen zu beantworten. Genauso war möglich, daß all die anderen Hazels nur Hirngespinste darstellten, die durch ihre Labyrinth-Kraft irgendwie mit Leben und Substanz ausgestattet wurden. Das ergab genausoviel Sinn.

Je mehr sie darüber nachdachte und sich bemühte, das Gefühl wiederzubeleben, das sie in diesen vergangenen Schlachten empfunden hatte, desto mehr schien ihr, daß da eine Richtung war, in die sie greifen konnte, eine Richtung, so wirklich wie jede andere, aber nicht beschränkt auf die Welt, in der Hazel lebte. Sie griff hinaus, und unzählige Geister mit ihrem Gesicht schienen ihre Präsenz zu spüren und wandten sich ihr zu. Sie konzentrierte sich darauf, daß sie nur zwei Personen benötigte, und zwei Hände streckten sich ihr entgegen und ergriffen ihre Hände. Ein kurzer Stoß verdrängter Luft zuckte durch den Tunnel, und auf einmal standen zwei weitere Frauen neben ihr und husteten kräftig in der grünlich schimmernden Luft. Hazel warf Owen einen triumphierenden Blick zu und stellte dabei fest, daß ihm die Kinnlade bis fast auf die Knie herunterhing.

Hazel runzelte die Stirn und blickte die beiden fremden Versionen ihrer selbst an, die sie herbeigerufen hatte.

Die Frau zur Linken hatte eine so schwarze Haut, daß sie wie ein lebender Schatten wirkte, und das Haar hing ihr in Rastalocken mit eingeflochtenen Perlen bis auf die Schultern. Sie trug eine silbern glänzende Rüstung, mit prachtvollen Runen ziseliert, und dazu goldene Accessoires wie Knieschoner, Ellbogenschoner und Schlagringe. An jeder Hüfte trug sie eine Pistole, und sie hielt eine Axt mit kurzem Griff in den Händen.

Die Frau war groß, fast unerträglich sinnlich und wirkte vom Scheitel bis zur Sohle wie eine stolze, fähige Kriegerin. Und doch lag etwas in ihrer Haltung, in ihrem Gesicht, in den Zügen um Augen und Mund, das unbestreitbar Hazel D’Ark war.

Die Frau zur Rechten hatte eine totenbleiche Hautfarbe und sah in dem grünlichen Licht einer Leiche nicht unähnlich, die sich halb einbalsamiert vom Leichentisch erhoben hatte. Sie trug fetzenweise Leder, dessen Stücke von hell polierten Stahlketten zusammengehalten wurden. Sie hatte Ringe in Ohren und Nase und an anderen, weniger bequemen Stellen, und darüber hinaus prangte ihr Körper an allen anderen Stellen mit Ziernägeln, Nadeln und anderen Piercing-Schmuckstücken. Sie war dünn wie eine Peitschenschnur. Jeder Muskel trat deutlich hervor, und den Schädel trug sie rasiert, damit die in ordentlichen Reihen aufgenieteten Ziernägel besser zur Geltung kamen. Sie trug ein langes Schwert an einer Hüfte und ein unbekanntes Pistolenmodell an der anderen. Beide Waffen erweckten den Anschein häufiger Benutzung. Und wieder einmal waren Gesicht und Augen eindeutig die von Hazel D’Ark.

Eine ganze Weile standen die vier nur da und musterten einander mit Mienen, die unterschiedliche Grade des Unglaubens ausdrückten. Dann wandte sich Owen an Hazel: »Sagt mir, daß Ihr diese beiden nicht absichtlich herbeigerufen habt.«

»Na, das ist ja ein hübscher Empfang«, fand die schwarze Kriegerin mit einer tiefen, reichen Stimme voller Humor. »Und das, nachdem ich einen so langen Weg zurückgelegt habe, um euch zu treffen. Ich bin Mitternachtsblau. Ist das wirklich eine andere Version meiner selbst?«

»Nun, man könnte es so ausdrücken«, sagte Owen. »Ich bin…«

»Oh, ich kenne dich, Owen Todtsteltzer«, unterbrach ihn Mitternachtsblau. Und dann sprang sie vor, schlang die Arme um ihn, ohne dabei die Axt loszulassen, und drückte ihn so kräftig an den eindrucksvollen Busen, daß sie Owen damit die Luft aus den Lungen preßte. Er stand gerade im Begriff, sein Gleichgewicht zurückzuerlangen, da stieß sie ihn plötzlich zurück, steckte die Axt in den Gürtel, holte aus und versetzte ihm eine kräftige Ohrfeige. Der Knall war ohrenbetäubend. Owen taumelte rückwärts und wäre vielleicht gestürzt, hätte ihn Mitternachtsblau nicht gleich wieder an sich gedrückt, während ihr Tränen in die Augen traten.

»Na ja«, gab Hazel kund, »du hast dich schon immer darauf verstanden, Leute zu beeindrucken, Todtsteltzer.« Sie musterte die überall durchstochene weiße Erscheinung. »Hast du eine Ahnung, was hier vorgeht?«

»In keiner Weise«, antwortete die andere Version mit eiskalter Altstimme. »Ich bin nebenbei Bonnie Chaos. Bist du sicher, daß wir dieselbe sind?«

»Anscheinend. Ich heiße Hazel D’Ark. Sieh dich mal um, ob du nicht irgendwo ein Brecheisen findest, mit dem wir die beiden auseinanderbekommen.«

Mitternachtsblau hielt jetzt Owen auf Armeslänge und schenkte ihm ein unsicheres Lächeln. »Owen, du Mistkerl! Wie konntest du mich nur verlassen? Oh, es ist so schön, dich wiederzusehen!«

»Darf ich vielleicht darauf hinweisen«, wandte Owen mit leicht atemloser Stimme ein, »daß ich nicht der Owen bin, den Ihr kennt?«

»Natürlich nicht. Er ist tot. Aber du reichst auch.«

Mitternachtsblau erläuterte nicht, wozu, und Hazel hatte nicht vor, danach zu fragen. Sie sah Bonnie Chaos an. »Kennst du Owen auch?«

»Das hoffe ich doch«, antwortete Bonnie mit ihrer kalten Stimme. »Dort, woher ich komme, sind wir verheiratet.«

Hazel entschied, daß sie nicht soweit war, darüber nähere Erkundigungen einzuziehen, und wandte sich wieder Mitternachtsblau zu, die Owen abgesetzt hatte und seine Kleidung wieder zurechtrückte, indem sie hier und dort zupfte und tätschelte. Owen stand einfach nur da und fürchtete sich, irgend etwas zu tun, um sie nicht von neuem zu provozieren. Sie wurde schließlich fertig und lächelte Owen fast schüchtern an.

»Tut mir leid, das eben. Es war nur… der Schock, dich lebendig wiederzusehen.«

»Na ja, wenn du möchtest, daß er es auch bleibt, würde ich an deiner Stelle mit der Knutscherei aufhören«, bemerkte Hazel trocken.

»Ich denke, wir alle könnten ein paar aktuelle Milieu-Informationen gebrauchen«, warf Owen taktvoll ein. »Offenkundig hat Euer Leben einen ganz anderen Verlauf genommen als das der Hazel, die ich kenne. Warum fangt Ihr nicht an, Mitternacht?«

»Die Rebellion liegt einige Zeit zurück«, berichtete Mitternachtsblau. »Überall herrscht Chaos. Milliarden sind umgekommen, ganze Planeten wurden vernichtet oder in die Barbarei zurückgeworfen. Du, Owen, wurdest getötet, als Löwenstein Golgatha mit ihrer verstecken Planetenkillerbombe zerstörte. Jakob und Ruby sind mit dir umgekommen. Ich war die einzig verbliebene Überlebende des Labyrinths, die versuchen konnte, die Dinge wieder in Gang zu bringen. Ich hätte mich eigentlich mit dir zusammen Löwenstein an ihrem Hof entgegenstellen sollen, aber ich wandte mich von euch allen ab, als Jakob sein Abkommen mit den Familien traf. Das konnte ich nicht schlucken. Ruby hätte sich mir beinahe angeschlossen, entschied sich dann aber doch, bei Jakob zu bleiben. Und mit ihm zu sterben, wie sich herausstellte.

Nach der Rebellion bemühte ich mich, die Dinge unter Kontrolle zu halten, aber zuviel war zerstört. Und ich habe mich noch nie auf Politik verstanden. Also sagte ich mir schließlich, zum Teufel mit allen, und bin auf eigene Faust losgezogen. Ich wurde wieder Piratin und hatte ein eigenes Schiff, die Faust.

Ein Pirat findet reichlich Beute in einem dem Chaos anheimgefallenen Imperium. Aber ich habe dich so vermißt, Owen! Als ich jetzt den Ruf vernahm, habe ich die Gelegenheit gleich beim Schopf ergriffen.«

»Das ist… richtig süß«, sagte Owen vorsichtig. »Aber ich bin nicht unbedingt der Owen, den Ihr kanntet. Schließlich unterscheidet Ihr Euch auch sehr von meiner Hazel…«

»Ja«, sagte Mitternacht und musterte Hazel doch ein bißchen abschätzig. »Du solltest wirklich mehr trainieren, meine Liebe.«

»Was ist mit Euch?« wandte sich Owen rasch an Bonnie Chaos. »Habe ich eben richtig gehört? Wir sind…«

»Verheiratet, ja.« Die große, schlanke Frau lächelte ihn an und zeigte dabei spitze Vorderzähne. »Wir sind seit fast zwei Jahren zusammen. Du siehst fast wie mein Owen aus. Vor dem Piercing. Und den Tätowierungen. Golgatha hat in unserer Rebellion überlebt, aber leider auch die Politiker. Wir haben uns sehr bemüht, etwas zu ändern, aber letztlich wurden wir es leid, uns an all den Lügen und der ganzen Korruption die Köpfe wundzustoßen, und sind davongegangen. Wir leiten jetzt Nebelwelt. Und leisten ganz ordentliche Arbeit, falls ich das selbst so sagen darf. Es ist eine kleinere Bühne, und wir bewirken dort mehr. Das Imperium geht derweil zum Teufel, aber andererseits hat es das schon immer getan. Es war dumm von uns, je zu glauben, wir könnten das System ändern.

Jakob starb bei einer Bombenexplosion vor dem Parlament.

Ruby hat einen ganzen Haufen Leute umgebracht, denen sie die Schuld an seinem Tod gab. Sie ist auf der Flucht, und ein Kopfgeld ist auf sie ausgesetzt worden. Als ich zuletzt von ihr hörte, ging es ihr trotzdem ganz gut, und sie schmuggelte Blut auf Madraguda. Was ist mit euch?«

Owen erzählte ihre eigene Geschichte, gelegentlich von Hazel unterbrochen. Als er schließlich fertig war, zuckte Bonnie ein paarmal die Achseln, wobei ihr Piercingschmuck attraktiv klimperte, und fixierte Owen mit den Augen.

»Soviel zur historischen Einführung. Kommen wir zum Geschäft. Was machen wir hier? Warum hat Hazel uns ausgesucht?«

»Ich habe einfach nur gerufen«, sagte Hazel. »Und ihr wart die beiden, die reagiert haben.«

»Ich bin gekommen, weil ich Owen wiedersehen wollte«, sagte Mitternacht.

»Und ich… war auf der Suche nach ein bißchen Abwechslung«, sagte Bonnie und zeigte ihr beunruhigendes Lächeln.

» Nebelwelt ist in letzter Zeit einfach ein bißchen zu zivilisiert.«

»Wundervoll«, sagte Owen. »Also… welche Fähigkeiten hat das Labyrinth Euch verliehen?«

»Ich bin Teleporterin«, erklärte Mitternacht. »Wenn ich schon irgendwo war, kann ich innerhalb eines Augenblicks dorthin zurückkehren. Ansonsten bin ich auf Stellen beschränkt, die ich sehen kann.«

»Sehr nützlich«, fand Hazel. »Was ist mit dir, Bonnie?«

»Ich regeneriere«, erklärte Bonnie. »Jede Verletzung, ob stark oder gering, heilt innerhalb von Sekunden. Nichts kann mich aufhalten. Ich komme einfach immer wieder zurück.« Sie hob den linken Zeigefinger zum Mund und biß ihn seelenruhig bis zum ersten Gelenk ab. Während die anderen noch zusahen, wuchs eine neue Fingerspitze aus dem Stumpf hervor, und innerhalb eines Augenblicks war der Finger wie neu und zeigte keine Spur der Verletzung mehr.

»Ich habe schon einige wirklich widerliche Dinge im Leben gesehen«, sagte Hazel. »Das gehörte eindeutig dazu. Ich weiß nicht, ob ich kotzen oder applaudieren soll.«

»Sie würde Kotzen wahrscheinlich als Form von Applaus verstehen«, fand Mitternacht.

»Wir haben für beides nicht die Zeit«, warf Owen mit einem Ton ein, von dem er hoffte, er klänge fest und ruhig. »Sehr eindrucksvoll, Bonnie. Bitte tut das nicht wieder. Warum widmen wir uns jetzt nicht alle der anstehenden Aufgabe, nämlich den verdammten Verschluß zu öffnen, damit wir in die eigentliche Stadt gelangen und nach den Gefangenen der Hadenmänner suchen können?«

»Ihr habt hier Hadenmänner?« fragte Mitternachtsblau und musterte Owen scharf. »Dort, woher ich komme, sind sie gleich verschwunden, nachdem du sie aus ihrer Gruft befreit hast. Undankbare Mistkerle!«

»Was zum Teufel ist ein Hadenmann?« erkundigte sich Bonnie Chaos. »Von sowas habe ich noch nie gehört.«

»Es sind Kyborgs«, sagte Hazel knapp. »Stark, tückisch und ausgesprochen gemein. Wir haben eine ganze Stadt mit ihnen direkt über uns. Sie haben Menschen als Geiseln genommen.

Eine ganze Menge. Falls sie noch leben…«

»Wir sind ja hier, um das herauszufinden«, unterbrach Owen sie. »Und hoffentlich auch, um einen realistischen Plan zu ihrer Befreiung auszuarbeiten.«

»Mal vorausgesetzt, daß wir währenddessen nicht auf scheußliche Weise umkommen«, sagte Hazel.

»Klingt, als würde es Spaß machen«, bemerkte Bonnie. »Ist es okay, wenn ich ein paar von diesen Hadenmännern umbringe?«

»Lieber viele«, sagte Hazel. »Nur zu.«

»Sobald wir die Informationen haben, die wir brauchen«, sagte Owen mit Bestimmtheit. »Erst spionieren, dann umbringen.«

»Mach dir keine Sorgen«, versetzte Mitternacht. »Eine Kriegerin hat immer Verständnis für die Notwendigkeit geschickten Vorgehens. Bin ich nicht ein Wesen aus Nebel und Schatten?«

»Fangt nicht damit an!« verlangte Owen. »Ich bekomme genug solches Zeug von meiner KI zu hören. Falls wir auf Hadenmänner treffen, möchte ich, daß wir alle uns wirklich bemühen, keinen Streit anzufangen. Nach wie vor besteht eine Chance, daß dies alles nur ein fürchterliches Mißverständnis ist. Und selbst wenn nicht, kann ich sie vielleicht noch überreden, auf den richtigen Weg zurückzukehren. Sie behaupten nämlich, sie würden mich als ihren Erlöser respektieren. Und sie haben in der Rebellion auf unserer Seite gefochten.«

»Hält euer Owen auch lange, langweilige Ansprachen?« fragte Hazel ihre beiden anderen Versionen, und beide nickten ernst.

»Die Hadenmänner haben den Sieg unserer Rebellion möglich gemacht«, fuhr Owen laut fort und ignorierte Hazel. »Wie habt Ihr beide es ohne sie geschafft?«

Mitternacht zuckte die Achseln. »Auf die langsame und harte und blutige Tour. Viele Menschen sind umgekommen. Löwenstein hatte immer gesagt, falls sie stürzte, würde sie das Imperium mitnehmen, und sie kam verdammt dicht heran, ihr Versprechen wahrzumachen.«

»Richtig«, sagte Bonnie. »Die Eiserne Hexe und ihre Flotte haben uns einen hohen Preis für den Sieg abverlangt.«

»Siehst du, Owen«, sagte Hazel sanft, »du hast also doch richtig gehandelt.«

»Nur, falls es uns gelingt, sie jetzt aufzuhalten«, erwiderte Owen. Er war noch nicht bereit, sich zu vergeben, aber trotzdem tröstete ihn der Gedanke ein wenig, wie übel es ohne die Hadenmänner als Bundesgenossen hätte ausgehen können. Er zeigte auf die vier Handsteuerungen der Metalltür, und zu viert kurbelten sie langsam die schwere Last aus dem Weg. Sobald sich die schweren Bolzen zurückgezogen hatten, schwenkte die Tür bemerkenswert leicht auf. Sie ließen sie offenstehen, nur für den Fall, daß sie sich plötzlich zurückziehen mußten. Owen ging als erster in den schmalen Backsteintunnel dahinter. Nach wenigen Minuten erreichten sie ein einfaches Stahlgitter in der Tunneldecke, durch das in starren Schäften das Licht von oben hereinfiel und dabei den grünen Dunst der Kanalisation sauber durchschnitt. Die vier versammelten sich unter dem Gitter, konnten jedoch draußen nichts erkennen.

»Wir müssen direkt unter der Straße sein«, sagte Hazel. »Irgendwo in den Außenbezirken der Stadt. Möchtest du mal einen Blick hinaus werfen?«

Owen überlegte. »Wie weit sind wir von der Stelle entfernt, wo Ihr zuletzt die Kanalisation betreten habt?«

»Meilenweit«, antwortete Hazel. »Gut innerhalb der eigentlichen Stadt.«

»Wir steigen aus«, sagte Owen. »Hier ist das Risiko geringer, auf Hadenmänner zu stoßen. Tretet bitte zurück, während ich mir die Ehre gebe.«

Das Metallgitter gab mühelos nach, und Hazel half Owen dabei, durch die Öffnung hinauszuklettern. Er zog sich hoch und sah sich rasch um, die Augen vor dem hellen Licht zusammengekniffen. Die Straße war leer, und es herrschte völlige Stille.

Owen gab kund, daß die Luft rein war, und sah sich noch einmal genauer um, während die anderen zu ihm auf die Straße stiegen. Sie machten viel Lärm dabei, aber niemand war in der Nähe, der es hätte hören können. Überhaupt niemand.

Der grünliche Dunst stieg aus der Öffnung und verstreute sich langsam. Hazel beförderte das Gitter mit einem Fußtritt wieder in Position. Alle vier Gefährten atmeten in der klaren, etwas kalten Stadtluft tief ein, wahrend sie sich umsahen, und befreiten Mund und Nase damit vom üblen Gestank der Kanalisation. Owen und Hazel waren gar nicht dazu gekommen, Mitternacht und Bonnie zu erzählen, daß die grüne Luft giftig war, und da beide nach wie vor gesund und munter waren, schien es auch jetzt wenig Sinn zu machen. Sie trampelten herum, um die Schuhe vom schlimmsten der dicken schwarzen Schmiere zu befreien, durch die sie gewatet waren, hatten damit aber nur teilweise Erfolg. Und trotz des erneuten Lärms erschien niemand, um nachzusehen. Owen gab jeden Versuch auf, seine Begleiterinnen zur Ruhe anzuhalten, und beschäftigte sich von neuem damit, sich umzusehen.

Sie standen direkt am Rand von Brahmin City in einer Gegend, die bislang von Umbaumaßnahmen der Hadenmänner frei zu sein schien. Die Gebäude waren einfach nur Häuser und zeigten keine Spur der glänzenden Hadenmännertech. Die Straßen waren verlassen, und nirgendwo vernahm man einen Laut. Nichts verriet, daß hier je Menschen gelebt hatten. Und obwohl es langsam dunkel wurde, war keine der Straßenlaternen angesprungen.

»Verdammt, das ist aber unheimlich!« meinte Hazel. »Jemand sollte sich hier herumtreiben. Jemand sollte arbeiten. Ich meine, Städte halten sich doch nicht von allein in Gang.«

»Städte der Menschen jedenfalls nicht«, sagte Owen. »Nicht einmal zu den Fenstern blickt jemand heraus. Selbst die niedergedrücktesten und unterwürfigsten Gefangenen müßten genügend Grips aufweisen, um mal zu den Fenstern hinauszublicken, was draußen vor sich geht.«

»Soll ich ein paar Türen eintreten?« fragte Bonnie.

»Vorläufig nicht, danke«, sagte Owen. »Wir sind hier, um die Leute zu retten, nicht, um sie zu erschrecken.«

»Es muß allmählich dunkel werden in den Häusern«, überlegte Mitternacht. »Aber niemand hat bislang Licht angemacht.«

»Vielleicht ist es verboten«, überlegte Hazel.

»Vielleicht ist niemand zu Hause«, sagte Owen. »Womöglich sind alle… irgendwohin gebracht worden.«

»Ich möchte was anderes feststellen«, äußerte sich Mitternacht, nachdem sie alle eine Zeitlang darüber nachgedacht hatten. »Nirgendwo in der Nähe fahren Verkehrsmittel. Wir würden das hören. Welches Ziel wir auch haben, wir werden es zu Fuß erreichen müssen.«

»Das schaffen wir schon«, sagte Hazel. »Die Stadt ist so groß nun auch wieder nicht.«

»Jetzt mal langsam«, verlangte Owen. »Als ich den Vorschlag machte, in Brahmin City zu spionieren, schwebte mir etwas Verstohleneres vor, als im hellen Tageslicht herumzuspazieren.«

»Owen«, sagte Hazel, »hier ist niemand, der uns sehen könnte. Und ich habe nicht vor, mich von etwas Geringerem als Beschuß in die Kanalisation zurücktreiben zu lassen. Und zwar nur durch verdammt schweren Beschuß, was das angeht! Solange wir Augen und Ohren offenhalten, kann sich in dieser Stille niemand an uns heranschleichen.«

»Ich hasse es, wenn Ihr recht habt«, sagte Owen. »In Ordnung, machen wir einen kleinen Spaziergang und sehen mal, ob wir jemanden finden, dem wir ein paar präzise Fragen stellen können. Waffen bereithalten, Leute, aber nur schießen, wenn es nicht anders geht! Wir sind gut, aber ich bin mir nicht sicher, ob sogar wir eine ganze Armee Hadenmänner auslöschen könnten. Ich persönlich hätte es nach wie vor am liebsten, unentdeckt in die Stadt einzudringen und wieder daraus zu verschwinden, aber falls wir um einen Kontakt mit den Hadenmännern nicht herumkommen sollten, ziehe ich immer noch eine Art von Verhandlungen vor. Vielleicht können wir ihnen begreiflich machen, daß nicht einmal sie in der Lage sind, es mit dem gesamten Imperium aufzunehmen, selbst wenn es gegenwärtig geschwächt dasteht.«

»Viel Glück«, sagte Hazel. »Du wirst es brauchen.«

Owen schniefte und ging die Straße entlang. Mitternacht folgte ihm rasch und hakte sich vertraulich bei ihm unter.

Owen wirkte ein wenig verlegen, versuchte aber nicht, sich zu befreien. Zum Teil, weil er nicht unhöflich sein und sie gegen sich aufbringen wollte, zum Teil, weil er nicht ganz sicher war, daß Mitternacht es dulden würde. Sie hatte besonders kräftige Arme. Hazel und Bonnie schlenderten hinterher und lächelten beide über Owens Unbehagen.

»Ist dein Owen auch so ein Stockfisch?« erkundigte sich Hazel.

»Zum Teil«, antwortete Bonnie. »Aber ich habe ihn verändert. Er hat sich stark gelockert, seit wir verheiratet sind. Wie macht sich dein Owen im Bett?«

»Wir… haben uns dergestalt noch nicht festgelegt«, sagte Hazel.

»Was hat das denn mit Festlegen zu tun?« wollte Bonnie wissen. »Ich rede von Sex, nicht Liebe. Verdammt, ich habe meinen Owen in weniger als vierundzwanzig Stunden nach unserer ersten Begegnung auf die Matte gelegt. Er war so süß… Ich konnte einfach nicht die Finger von seinem aristokratischen Arsch lassen. Und Männer verhalten sich so viel vernünftiger, wenn sie regelmäßig bumsen können. Probiere es mal.«

»Ich merke es mir«, sagte Hazel.

»Also«, wandte sich Owen an Mitternacht, »wie war Euer Owen?«

»Ein Held, obwohl er nie einer sein wollte«, berichtete Mitternacht. »Impulsiv, nüchtern und viel zu tapfer, als gut für ihn war. Er scherte sich nie darum, welche Chancen er hatte; solange es der Sache diente, sprang er immer ins Getümmel und machte alles nieder, was sich bewegte. Ein Krieger, wie seine ganze Familie.«

»Klingt nicht sonderlich nach mir«, fand Owen. »Ich habe immer nur gekämpft, wenn es sein mußte.«

»Mein Owen… hatte einen härteren Kampf zu bestehen als du. Unser Krieg war lang und hart und weckte das Ungeheuer in allen, die mitkämpften. Mein Owen wurde von Blut und Bestimmung getrieben und stürmte über das Schlachtfeld, um zu metzeln, wobei er wie ein Wolf grinste. Er lebte für den Kampf, und nichts machte ihn glücklicher, als wenn er den Sieg in letzter Minute dem Maul der Niederlage entreißen konnte. Ihm gefiel es, wenn die Chancen schlecht standen. Er sagte, dadurch würden die Vorteile ausgeglichen, die ihm das Labyrinth des Wahnsinns verliehen hatte. Auf seine Art war der Todtsteltzer ein ehrenwerter Mann. Wir mußten ganze Planeten rächen und wußten nicht mehr, was Gnade bedeutet. Der Krieg war die Hölle, und so verwandelten wir uns in Dämonen.

Wir waren Krieger, und das Leben war einfach. Hätte die Rebellion doch nur nie geendet! Wir hätten für immer glücklich sein können.«

Eine Zeitlang gingen sie schweigend dahin. Mitternacht hatte alles gesagt, was ihr auf dem Herzen lag, und Owen wollte verdammt sein, wenn ihm darauf etwas einfiel. Er wußte, was sie mit dem Ungeheuer meinte. Er hatte es selbst schon in sich gespürt, in Form einer blutrünstigen Tobsucht, die nichts mehr auf die Sache oder die Ehre gab, die nur für den Rausch des Adrenalins auf dem Schlachtfeld lebte. Stets hatte er es jedoch niedergerungen, denn er war ein Gelehrter, kein Krieger; ein Mensch, kein Ungeheuer. Er fragte sich, ob Mitternachts Owen ganz anders gewesen war als er, ob er das Zeichen des Ungeheuers offen und mit Stolz getragen hatte. Oder hätten sie sich gegenseitig anblicken können und nur ihr Spiegelbild gesehen?

Owen schauderte es plötzlich. Er fragte sich häufig, wie stark die Rebellion ihn verändert hatte, ob sie ihn ungeachtet seiner eigenen Wünsche zu dem brutalen Krieger gemacht hatte, wie es seit jeher das Ziel seiner Familie gewesen war. Jetzt schien ihm jedoch, daß er auf diesem Weg viel weiter hätte gehen können, als er es tatsächlich getan hatte. So wie Mitternachtsblau die perfekte Kampfmaschine war, zu der sich auch Hazel unter anderen Umständen hätte entwickeln können.

»Du bist nicht damit einverstanden, was?« fragte Mitternacht auf einmal. »Das kann ich sehen.«

»Mein Leben… ist anders verlaufen«, antwortete Owen.

»Gott weiß, daß ich selbst genug Schändliches getan habe. Ich fälle über niemanden mehr ein Urteil. Ich habe nicht das Recht dazu.«

Mitternacht löste sich von ihm. »Du bist nicht mein Owen. Er hat stets Urteile gefällt und die Schuldigen von den Unschuldigen geschieden. Und er behielt immer recht. Ein Krieger kennt keine Unentschlossenheit und ein Schlachtfeld keine Grautöne.

Und eine Liebe wie unsere keine Schwächen.«

Sie beschleunigte ihre Schritte und ging jetzt allein. Nach einer Weile überholte Bonnie Chaos Owen und gesellte sich zu ihrer Kameradin, und sie zwinkerte Owen kurz zu, als sie an ihm vorbeikam. Er brachte ein leises Lächeln zustande. Hazel gesellte sich zu ihm.

»Das ist wirklich eine gefährliche Frau«, fand Owen und betrachtete Mitternachts gepanzerten Rücken.

»Du solltest mal versuchen, eine Zeitlang mit Bonnie zu plaudern«, entgegnete Hazel. »Sie macht mir eine Scheißangst.«

»Ich kann gar nicht glauben, wieviel Metall sie durch ihre Haut getrieben hat«, sagte Owen. »Ich meine, einiges davon muß richtig weh getan haben. Wahrscheinlich gibt es aufgerüstete Menschen mit weniger Metall im Leibe. Und sie sagt, ihr Owen hätte das gleiche getan!«

»Sie hat auch erzählt, sie wäre mit dir verheiratet.«

Owen schauderte. »Da wäre ich mit einem Grendel besser bedient. Und ich weiß gar nicht, worüber Ihr lächelt. Sie ist letztlich nur eine andere Version von Euch.«

Hazel zuckte die Achseln. »Zweifellos lebt irgendwo ein anderes Ich glücklich verheiratet mit sechs Kindern und hält nie etwas Gefährlicheres in der Hand als ein Brotmesser. Das ist nun wirklich furchterregend, aber es kümmert mich nicht. Ich weiß, wer ich bin.«

»Aber die beiden sind ganz schön… extrem«, fand Owen.

»Können wir ihnen trauen?«

»Gute Frage«, sagte Hazel. »Aber falls es hier hart auf hart kommt, werden wir sie brauchen. Außerdem wissen sie, daß wir das hiesige Universum besser kennen als sie. Ich denke, sie werden uns folgen. Falls wir wirklich mit den Hadenmännern aneinandergeraten, würde ich auch gegen schlechte Chancen auf beide wetten.« Sie grinste Owen verschmitzt an. »Ich denke, daß Mitternacht einen Narren an dir gefressen hat.«

»Nein«, erwiderte Owen. »Der Mann, den sie liebte, war mir in keiner Weise ähnlich. In überhaupt keiner.«

Seine Stimme wies auf einmal einen kalten Unterton auf, der Hazel davon überzeugte, dieses Thema lieber nicht weiter zu verfolgen, und eine Zeitlang schwiegen sie. Die Straßen blieben leer, und man sah keine Spur von Mensch oder Hadenmann. Die Schritte warfen an den Häusern Echos, die in der Stille unheimlich laut klangen. Hazel wurde es langweilig, an Owens Seite zu gehen, da er zu sehr in Gedanken versunken war, um auf ihre Gesprächsansätze mehr als ein Brummen von sich zu gehen. Letztlich gesellte sie sich zu ihren beiden anderen Versionen. Zu dritt schwatzten sie bald fröhlich drauflos und ignorierten Owen vollständig, während sie in praktisch jedem Punkt uneins blieben. Owen war nicht überrascht. Er kannte Hazel schließlich. Er wußte, daß er die drei Frauen eigentlich davor hätte warnen sollen, so laut zu reden, aber ihm war auch klar, daß sie ihn dafür nur zum Teufel gewünscht hätten und er sich somit die Luft sparen konnte. Inzwischen hatten sie alle eine ordentliche Strecke zurückgelegt, und Owens Füße bemerkten es allmählich und beschwerten sich.

Er achtete sorgfältig darauf, nicht selbst in die Streitigkeiten verwickelt zu werden, und war es vollkommen zufrieden, daß man ihn ignorierte. Die besitzergreifende Art, mit der die beiden Alternativversionen ihn musterten, gefiel ihm nicht – ebensowenig die Art, wie Hazel lächelte, wenn sie es bemerkte. Auf ihre unterschiedliche Art faszinierten ihn sowohl Bonnie wie Mitternacht, aber es ähnelte der Faszination eines Verkehrsunfalls auf Schaulustige. Und als er gerade diesem Gedanken nachhing, zog Bonnie beiläufig ein Hypospray aus dem Gürtel, hielt es sich an den Hals und injizierte den Inhalt, ohne dabei auch nur einmal das Schrittempo zu senken. Sie stöhnte leise vor Vergnügen und drückte mit hörbarem Schnappen den Rücken durch. Owen beeilte sich, an ihre Seite zu gelangen. Sie zeigte wieder dieses beunruhigende Lächeln, ganz schmale schwarze Lippen und zugespitzte Zähne.

»Was war das?« fragte Owen scharf.

»Nur etwas zum Entspannen und Muntermachen. Möchtest du mal kosten?«

»Nein«, lehnte Owen ab. »Seht mal, wir sind in einer sehr gefährlichen Lage…«

»Ach, entspanne dich, mein Hengst. Ich bin so wachsam, daß du mich benutzen könntest, um Ecken auszuschneiden. Wäre ich noch wachsamer, könnte ich in die Zukunft blicken.«

»Drogen sind der Fluch des Kriegers«, warf Mitternacht steif ein. »Wahre Stärke entstammt dem Bewußtsein.«

»Was immer dich durch die Dunkelheit führt, Liebling.«

»War das… Blut? « fragte Hazel.

»Verdammt, nein! Darüber bin ich weit hinaus. Owen hat mir den Weg gewiesen. Mein Owen. Er hat sich nie davor gefürchtet, etwas Neues auszuprobieren. Alles, was ihm einen Vorteil geben konnte. Gemeinsam haben wir fast jede Kampfdroge ausprobiert, die man nur findet, und jede Droge, die uns vielleicht helfen konnte, das vom Labyrinth verstärkte Bewußtsein noch zu erweitern. Es geht doch nichts darüber, sein persönliches Universum auszuweiten und die Hemmnisse im Hirn zu beseitigen. Ich habe Teile meines Bewußtseins freigelegt, von denen die meisten Menschen bei sich gar nichts wissen. Wenn du genau hinhörst, kannst du an manchen Tagen hören, wie meine Synapsen brutzeln. Das Labyrinth hat dazu den Grundstein gelegt. Der größte Rausch überhaupt! Habe nie was gefunden, was dem gleichkäme. Aber ich suche weiter. Drogen, Kämpfen, ein bißchen privater Sex und Quälerei; alles der reinste Rausch.«

»Du hörst dich genau wie Valentin Wolf an«, fand Hazel.

»Der Imperator?« fragte Bonnie. »Mein Held.«

Hazel sah Owen scharf an, aber er reagierte nicht.

Die Straßen von Brahmin City veränderten sich allmählich, als schließlich Veränderungen auftauchten, die von den Hadenmännern stammten. Von Menschen errichtete Gebäude waren wie faule Zähne entfernt und durch scharfkantige Konstruktionen aus Stahl und Tech ersetzt worden. Keinem der vier war noch nach Reden zumute, und alle trugen sie jetzt die Waffen in der Hand. Nach wie vor war niemand sonst zu sehen, und nur ihre Schritte durchdrangen die bedrohliche Stille.

Die Stadt wirkte immer bedrohlicher. Dem Entwurf der neuen Elemente lagen weder menschliche Logik noch menschlicher Seelenfriede zugrunde, und sie wiesen merkwürdige Winkel und entnervende Formen auf. Sie schimmerten von innen in glänzendem Silber, erzeugten Echos im Bewußtsein und trieben Gedanken in Richtungen, die dem menschlichen Geist nicht bestimmt waren. Hadenmänner selbst waren weiterhin nicht zu sehen. Es war, als gingen die vier durch eine Stadt toter oder träumender Fremdwesen. Das Licht der glänzenden Artefakte schimmerte unterschwellig kalt auf ihrer Haut, als würden sie von vorüberziehenden Gespenstern gestreichelt.

Owen blickte sich weiterhin mit finsterer Miene um. Er zweifelte nicht daran, daß man sie im Auge hatte. Er spürte richtig den Druck kalter, aufmerksamer Blicke. Ihm tat der Kopf weh.

Die Finger kribbelten ungemütlich. Irgendwo in weiter Ferne vernahm er ein leises, fortwährendes dumpfes Pochen; es erinnerte ihn an eine einzelne arbeitende Maschine oder womöglich das große künstliche Herz dieser nicht-menschlichen Stadt.

Der Wind wehte in Böen, die ständig hin- und hersprangen, als atmeten die Straßen. Owen fragte sich langsam, ob sie nicht vielleicht einen einzelnen lebenden Organismus durchwanderten, eine Stadt, die zu künstlichem Leben und Bewußtsein erweckt worden war. Die Hadenmänner waren durchaus fähig zu dergleichen. Aber wo waren andererseits all die Menschen, die hier gelebt hatten, als es nur eine Stadt gewesen war?

Bonnie Chaos wirbelte plötzlich herum und feuerte ihren Disruptor ab, und der Energiestrahl zerriß einen glasierten Silberknoten auf halber Höhe eines Gebäudes zu ihrer Linken.

Glänzende Bruchstücke regneten wie metallene Schneeflocken herab, und der Krach der Explosion schien ewig neue Echos zu werfen. Owen und die anderen sahen sich rasch um, die Waffen einsatzbereit, aber nirgendwo bewegte sich etwas. Owen funkelte Bonnie an.

»Wozu zum Teufel sollte das gut sein?«

»Mir hat nicht gefallen, wie mich dieses Bauwerk angesehen hat«, antwortete Bonnie ruhig.

Owen rang um seine Selbstbeherrschung. »Na ja, falls die Hadenmänner zuvor nichts von unserer Anwesenheit wußten, dann jetzt aber mit Sicherheit!«

»Nichts zu danken«, sagte Bonnie.

»Ah, Owen«, warf Hazel ein, »ich denke, wir können ganz klar davon ausgehen, daß sie genau wissen, wo wir stecken.«

Owen drehte sich um und sah, daß eine kleine Armee von Hadenmännern völlig lautlos aus dem Nichts aufgetaucht war und sie jetzt umzingelte. Owen entschied, daß er ganz ruhig stehenbleiben wollte, und hoffte, daß die anderen verständig genug waren, es ihm gleichzutun. Mindestens einhundert der aufgerüsteten Menschen mußten hier stehen – groß und perfekt und völlig reglos in nichtmenschlicher Anmut. Keiner von ihnen trug erkennbare Waffen bei sich. Sie brauchten auch keine.

Sie waren selbst Waffen. Die Gesichter waren völlig ausdruckslos, obwohl die Augen mit einem goldenen Glanz brannten, als gloste ein kleines nukleares Feuer in jedem Augapfel.

Owen sah Hazel an, und beide senkten die Waffen, damit kein Mißverständnis auftrat. Bonnie wirkte etwas unruhig, und Mitternacht packte sicherheitshalber ihren rechten Arm mit festem Griff. Eine ganze Weile standen Menschen und Hadenmänner nur da und sahen sich an – die Hadenmänner durch Menschentech aufgebessert, ihre Gegenüber durch die fremdartige Tech im Labyrinth des Wahnsinns verstärkt. Keiner von ihnen noch im strengen Sinn ein normaler Mensch.

Owen dachte angestrengt nach. Das war genau die Art Konfrontation, der er hatte ausweichen wollen, indem er sich per Kanalisation in die Stadt schlich. Er hegte jedoch immer noch die Hoffnung, eine Art Abkommen auszuhandeln. Sogar nach all dem, was er von den bisherigen Greueltaten der Hadenmänner gesehen hatte, pochte er noch immer möglichst auf das Prinzip, daß Reden besser war als Kämpfen. Er mußte es. Andernfalls hätte er sich vorbehaltlos auf den Weg des Kriegers begeben, sich dem Blutvergießen und der Wut und dem Ungeheuer ausgeliefert. Dabei hatte er längst genug Tod und Zerstörung miterlebt. Vorsichtig sah er sich nach jemandem um, der wie ein Anführer oder Sprecher wirkte, und spannte sich an, als einer der aufgerüsteten Menschen auf einmal vortrat.

»Hallo, Owen«, sagte der Hadenmann mit rauher, brummender Stimme. »Kennt Ihr mich noch?«

»Mein Gott!« antwortete Owen langsam. »Mond? Seid Ihr das wirklich?«

»Ja«, bestätigte Tobias Mond. »Euer alter Gefährte. Sie haben mich nachgebaut, nachdem ich auf dem verlorenen Haden von dem Grendel zerstört worden war. Hallo Hazel!«

»Ist aber eine Weile her, Mond«, sagte Hazel. Sie steckte die Pistole ins Halfter und hielt dem Hadenmann die Hand entgegen. Nach einem Moment ergriff Mond sie und schüttelte sie vorsichtig, sich seiner überlegenen Kraft bewußt. Die Hand des Hadenmanns war leichenkalt, und Hazel ließ sie wieder los, sobald das nach diplomatischen Gesichtspunkten möglich war.

Owen musterte Mond sorgfältig, und der Hadenmann erwiderte den Blick gelassen mit den leuchtenden Augen. Owen schüttelte langsam den Kopf.

»Sie haben verdammt gute Arbeit an Euch geleistet, Mond.

Ich erkenne nirgendwo eine Naht. Ich meine, dieser Grendel hat Euch regelrecht den Kopf abgerissen!«

»Ich erinnere mich«, sagte Mond. »Ich war dabei.« Er sah Hazel an. »Ich weiß noch, wie Ihr gekommen seid, um mich in der Stadt zu treffen, die wir auf dem verlorenen Haden errichtet hatten.« Er wandte sich erneut an Owen. »Ihr, Owen, habt nicht nach mir gesucht.«

»Ich hielt Euch für tot«, erklärte Owen. »Und als ich es schließlich herausfand… hatte ich so viel zu tun…«

»Ich verstehe. Ich bin schließlich nicht der Tobias Mond, den Ihr kanntet. Das ist hier sein Körper, zu voller Funktion als Hadenmann wiederhergestellt, und ich habe vollen Zugriff auf alle seine Erinnerungen, aber ich bin nicht er. Ist vielleicht auch besser so; er verbrachte zu viel Zeit fern den Seinen. Er war zu sehr Mensch geworden.«

»Ich hatte also recht«, sagte Owen. »Mein alter Gefährte ist tot. Ich habe einen weiteren Freund verloren. Man sollte eigentlich meinen, daß ich mich inzwischen daran gewöhnt hätte. Aber egal. Also, was passiert jetzt, Mond?«

»Das liegt eigentlich bei Euch, Owen. Ihr hättet uns melden sollen, daß Ihr kommt. Wir hätten einen Empfang für Euch vorbereitet.«

»Ja«, knurrte Hazel, »da wette ich!«

»Bitte legt Eure Waffen weg«, sagte Mond ruhig. »Ihr schwebt nicht in Gefahr. Der Erlöser und seine Gefährten sind den Hadenmännern stets willkommen.«

Owen sah die anderen an, zuckte die Achseln und steckte Pistole und Schwert weg. Nach längerem Zögern steckte Hazel das Schwert in die Scheide, und Bonnie und Mitternacht taten es ihr nach. Bonnie musterte die Hadenmänner mit erkennbarer Neugier, und sie erwiderten den Blick mit gleichem Interesse.

Beide Seiten hatten ihresgleichen wohl noch nie gesehen. Mitternacht verschränkte die muskulösen Arme auf der Brust und schien gelangweilt, seit keine Hoffnung mehr auf ein bißchen Aktion bestand. Owen sah sich um und betrachtete die ausdruckslos starrenden Gesichter der aufgerüsteten Menschen. Er entdeckte eine beunruhigende Ähnlichkeit, als folgten sie hinter den Gesichtern den gleichen Gedanken. Die Hadenmänner wiesen eine vollkommene Gestalt auf, aber es war keine menschliche Vollkommenheit. Die Körper waren überwiegend Maschinen, das Hirn mit implantierten Lektronen verstärkt. Ihr einziges Ziel bestand in der Vervollkommnung der gesamten Menschheit durch Technik. Und falls sie dabei menschliche Attribute verloren hatten – Gefühle und Gewissen und Individualität –, dann war das ein Preis, wie ihn die Hadenmänner schon immer zu zahlen bereit gewesen waren.

»Wir hätten wissen müssen, daß Mond wieder auftaucht«, murmelte Oz in Owens Ohr. »Man kann sich bei einem Hadenmann auf nichts verlassen – nicht mal, daß er tot bleibt.

Jetzt ist er nur noch einer unter vielen bleichen Harlekinen mit dem Kainszeichen auf der Stirn. Sei ja vorsichtig, Owen!«

Owen runzelte die Stirn. Die Worte der KI schienen eine Erinnerung zu wecken, die Erinnerung an etwas, was ihm ein Präkog auf Nebelwelt erzählt hatte. Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, kurz davor zu stehen, daß er etwas Wesentliches begriff, aber Mond wies jetzt höflich darauf hin, daß sie lieber losgingen, und Owen gab seine Überlegungen wieder auf und konzentrierte sich auf das Unmittelbare. Er hegte weiterhin die Hoffnung, die Hadenmänner zu überzeugen, daß sie ihre Gefangenen freiließen und lieber wieder mit der Menschheit zusammenarbeiteten, als sie zu bekämpfen. Gemeinsam erwiesen sich die beiden Zweige der Menschheit vielleicht zu weit mehr fähig, als jeder von ihnen für sich. Und die Hadenmänner mußten etwas aus ihrer totalen Niederlage im ersten Kreuzzug gegen das Imperium gelernt haben. Sicherlich würde doch ein Volk, das sich soviel auf seine Logik zugute hielt, den gleichen Fehler nicht zweimal begehen?

Mond führte die vier Menschen die Straße entlang, und die restlichen Hadenmänner schlossen sich ihnen an, wobei sie perfekten Gleichschritt hielten. Owen hoffte, daß Hazel und ihre anderen Versionen weiterhin seinem Beispiel folgten und nichts vom Zaun brachen. Mit etwas Glück entlockte er vielleicht Mond hilfreiche Informationen, ehe sie das Ziel erreichten. Was wahrscheinlich ein guter Anfang war.

»Also«, fragte Owen beiläufig, »wohin gehen wir, Mond?«

»Ins Stadtzentrum«, antwortete der Hadenmann mit seiner kratzenden, summenden Stimme. »Wir möchten euch so vieles zeigen, Erlöser! Vieles, das Ihr möglich gemacht habt.«

»Wir waren Verbündete während der Rebellion. Warum habt Ihr Euch jetzt gegen die Menschheit gewandt?«

»Wir folgen unser Programmierung. Den Imperativen der Genetischen Kirche. Der Vervollkommnung der Menschheit.

Wir bringen allen die Gabe der Transformation.«

»Was, wenn nicht jeder sie wünscht?«

»Eine solche Reaktion wäre eindeutig unlogisch und wird demzufolge mißachtet. Wir tun, was wir tun müssen. Was nötig ist.«

Wie es schien, hatte Mond recht damit, er verfüge nicht mehr über die alte Persönlichkeit. Seine Antworten hätten von jedem aufgerüsteten Menschen stammen können. Tobias Mond war anders gewesen. Er hatte einen großen Teil seines Lebens unter Menschen verbracht und unwillkürlich menschliche Eigenschaften übernommen. Er hatte immer geäußert, er wünschte sich nichts weiter, als bei seinem Volk zu weilen, ein Hadenmann unter Hadenmännern, aber selbst dabei war er nicht sicher gewesen, ob sie ihn so akzeptieren würden, wie er sich entwickelt hatte. Letztlich starb er, ehe Owen die Gruft der Hadenmänner öffnen konnte, und erlebte somit deren Wiedergeburt nicht mit. Jetzt war er wieder da, lebte, wie er es sich immer gewünscht hatte, und verstand es nicht mal zu würdigen, weil Hadenmänner keine derartigen Gefühle kannten.

Owen verspürte einen unklaren Zorn.

»Ihr verfügt über Monds Erinnerungen«, sagte er scharf. »Ihr erinnert Euch an mich und Hazel. Wir waren Freunde. Was empfindet Ihr heute uns gegenüber?«

»Hadenmänner haben tatsächlich Gefühle«, sagte Mond unerwartet. »Sie sind nur… verschieden von menschlichen Gefühlen. Sie entstehen aus unserem Verstand, nicht aus einem chemischen Ungleichgewicht im Körper. Ihr müßt verstehen, daß wir viel aufgeben, um Hadenmänner zu werden. Unsere Geschlechtlichkeit wird entfernt, ebenso andere überflüssige Begehrlichkeiten und Bedürfnisse, und daher leiten sich unsere Gedanken und Triebkräfte aus anderen Quellen her als Eure.

Wir geben menschliche Schwächen auf, um uns höherzuentwickeln, um Teil eines größeren Ganzen zu werden. Wir fühlen weder Schmerz noch Verzweiflung, weder Hitze noch Kälte.

Wir sind nie allein. Meine Gedanken sind logisch, meine Träume mathematische Abläufe. An mir ist weit mehr als die kaum funktionsfähige Kreatur, die Ihr früher kanntet.«

»Bemühe dich nicht, zu ihm durchzudringen«, sagte Hazel.

»Ich habe es damals auf Haden oft genug versucht. Dabei ist von dem Mond, den wir kannten, ohnehin nichts übrig.«

»Ich entsinne mich«, warf Mond ein. »Ihr habt mich wegen Blutes angesprochen. Benötigt Ihr mehr davon?«

»Nein«, sagte Hazel. »Ich brauche es nicht mehr.«

»Sehr klug«, fand Mond. »Es ist dem menschlichen Organismus sehr abträglich.«

»Menschlich zu sein, das hat Euch zu Dingen befähigt, die sich Euch jetzt wohl wieder entziehen«, sagte Owen. »Erinnert Ihr Euch, wie Ihr gestorben seid, Mond? Ihr habt gerade versucht, die Steuerung einzuschalten, die die Gruft der Hadenmänner öffnete, als die Grendelkreatur angriff. Ihr habt gekämpft, wurdet aber zerrissen; die Kreatur rupfte Euch mit den bloßen Händen den Kopf von den Schultern. Sie fraß schon an Euch, als ich sie fand und tötete. Ich versuchte die Gruft zu öffnen, verfügte jedoch nicht über die Zugangskodes. Nur Ihr kanntet sie. Und Ihr kehrtet von den Toten zurück, um sie mir zu nennen, habt sie mit toten Lippen ausgesprochen. Ohne Eure Hilfe hätte ich die Gruft nicht öffnen können. Erinnert Ihr Euch an irgend etwas davon?«

Mond betrachtete ihn ausgiebig und wandte schließlich den Blick ab. »Nein, ich weiß nichts mehr davon. Es klingt sehr unwahrscheinlich. Wahrscheinlich habt Ihr Euch das im Streß des Augenblicks nur eingebildet. Menschen passiert das schon mal.«

Owen beschloß, das Thema zunächst fallenzulassen, damit der Hadenmann darüber nachdenken konnte. Er war überzeugt, irgend etwas in Mond angerührt zu haben, selbst wenn der aufgerüstete Mann es leugnete. »Also, woher wußtet Ihr, wo Ihr uns findet, Mond?«

»Ihr wurdet sofort entdeckt, als Ihr in die Stadt eingedrungen seid. Wir haben die Stadt nach unseren Vorstellungen umgebaut, und jetzt ist jeder Hadenmann ein Teil von ihr; nichts bewegt sich hier mehr, was nicht zu uns gehört. Unsere Sensoren entdeckten Euch und identifizierten Euch als den Erlöser.

Deshalb sind wir gekommen, um Euch ins Herz unseres Mysteriums zu geleiten. Wir werden Euch nichts verheimlichen. Ihr und Eure Familie wart stets gute Bundesgenossen der Hadenmänner.«

»Das habe ich schon einmal von Euch gehört«, sagte Owen langsam. »Ich habe aber nie die Zeit gefunden, der Sache nachzugehen. Oder vielleicht fürchtete ich mich auch davor. Was für Beziehungen hat Eure Lebensform mit dem Clan Todtsteltzer?«

»Unsere Verbindung reicht über Jahrhunderte zurück. Ursprünglich lief sie über die Lektionen von Giles Todtsteltzer; er nahm Verbindung mit den Wissenschaftlern auf, die das Labyrinth des Wahnsinns durchschritten und sich danach in die ersten Hadenmänner verwandelten. Die Beziehung setzte sich durch diverse Angehörige Eurer Familie fort, bis zu unserem gescheiterten ersten Kreuzzug. Die Todtsteltzers unterstützten uns, lieferten uns alles nötige und halfen uns, uns vor dem Rest des Imperiums zu verstecken. Als der Kreuzzug scheiterte, flohen wir in unsere Gruft, um auf bessere Zeiten zu warten, und Eure Familie wachte über uns, bis es Eure Bestimmung wurde, zu kommen und uns zu erwecken. Deshalb enthielt der Ring Eures verstorbenen Vaters die Koordinaten des verlorenen Haden. Alles war sorgfältig arrangiert. Ihr wart nur das letzte Rädchen in einer großen Maschine.«

»Und welcher Art war diese Beziehung?« erkundigte sich Owen und beherrschte seinen Zorn. »Es muß eine Absprache gegeben haben. Wer hat wem was versprochen?«

»Wir wollten den Rebellen helfen, den Eisernen Thron zu stürzen und selbst die Macht zu ergreifen. Als Gegenleistung wurden den Hadenmännern eigene Planeten versprochen sowie ein Anteil der imperialen Bevölkerung. Eine Aushebung, ein Zehnter. Millionen Männer und Frauen, mit denen wir hätten tun dürfen, was nötig war.«

»Nein«, erwiderte Owen. »Nein! Mein Vater hätte nie in so etwas eingewilligt!«

»Bist du sicher?« fragte Hazel leise. »Giles hätte verdammt sicher keine Probleme damit gehabt. Und du hast immer gesagt, dein Vater hätte auch ein Abkommen mit dem Teufel getroffen, wenn das nötig geworden wäre, um ans Ziel zu kommen.«

»Das Ziel rechtfertigt die Mittel«, sagte Owen bitter. »Alles für das größere Wohl. Das noble Opfer, solange es nicht seines war. Scheiße dieser Art war der Grund, warum ich mit ihm gebrochen habe, mich geweigert habe, an seinen Intrigen mitzuwirken. Aber nie hätte ich vermutet, daß er an so etwas wie hier beteiligt war.«

»Es war ein gutes Abkommen, das beiden Seiten Gewinn gebracht hat«, warf Mond gelassen ein. »Und vollkommen logisch. Wir haben unseren Teil erfüllt, und das Imperium gehört Euch. Jetzt nehmen wir, was uns versprochen wurde. Angefangen mit Brahmin II

Owens Hand fiel auf die Waffe an seiner Seite, und Hazel packte seinen Arm mit festem Griff. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt. Noch nicht, »Was ist so besonders an dieser Welt?« fragte sie. »Ihr seid jetzt zum zweitenmal hier.«

»Man findet hier Vorkommen, die es sonst im ganzen Imperium nicht gibt«, erklärte Mond. »Für Menschen sind sie nutzlos, für die Technik der Hadenmänner jedoch unbezahlbar. Die einheimische Bevölkerung stellt einen nützlichen Bonus dar.

Brahmin II ist nur der Anfang. Wir werden von Planet zu Planet ziehen, uns jeweils nur einen vorknöpfen und uns der Bevölkerung und der Ressourcen bemächtigen. Die Menschen wandeln wir in Hadenmänner um, so daß unsere Zahl mit jedem Planeten wächst. Das Imperium wird lange brauchen, um die Gefahr zu erkennen. Es wird nicht eines einzelnen Planeten wegen Krieg mit uns anfangen, nicht in seiner jetzigen geschwächten Verfassung. Wenn die Menschen schließlich erkennen, wieviel wir uns angeeignet haben und wie viele von ihnen in Hadenmänner umgewandelt wurden, ist es längst zu spät. Der zweite Kreuzzug der Genetischen Kirche wird über die Menschheit hinwegfegen und die Gabe der Transformation bringen, und ehe Ihr Euch verseht, ist das Imperium eines der Hadenmänner.«

»Er bildet sich mächtig was ein, wie?« fragte Bonnie Chaos.

»Sag nur ein Wort, Owen, und ich knacke diese Blechbüchse und ziehe ihre Drähte heraus.«

»Richtig«, schlug Mitternachtsblau in dieselbe Kerbe und spannte die dunklen Muskeln. »Nur ein Wort, und ich reduziere diese Apparatur auf ihre Einzelteile.«

»Ein netter Gedanke, aber wartet vorläufig noch«, sagte Owen. »Ich muß noch weitere Dinge in Erfahrung bringen. Ob ich sie nun wirklich wissen möchte oder nicht.«

Mond führte sie auf eine Besichtigungstour durch das, was früher Brahmin City gewesen war. In den Gebäuden zeigte er ihnen Hadenmänner, die direkt in Systeme eingestöpselt waren und einen Teil des technischen Instrumentariums der Stadt bildeten. Einige Hadenmänner waren teilweise demontiert worden, um sie in die städtische Maschinerie einzubauen. Überall, wo die Gruppe hingeführt wurde, arbeiteten unbekannte Maschinen unaufhörlich an unbekannten Zwecken. Owen gewann zunehmend die Überzeugung, daß man die ganze Stadt in eine große Maschine umgewandelt hatte, auch wenn deren Zweck unklar blieb.

»Und wo sind die ganzen Leute?« fragte Hazel schließlich.

»Ich meine, die richtigen Menschen – die Bevölkerung von Brahmin und eure Gefangenen aus der Zeit der Rebellion. Was habt ihr mit ihnen gemacht?«

»Ja«, fiel Owen ein. »Es wird Zeit, daß Ihr es uns erzählt, Mond. In so kurzer Zeit hättet Ihr sie nicht alle in Hadenmänner umwandeln können.«

»Sie wurden nutzbar gemacht«, versetzte Mond ruhig. »Wir vergeuden nie etwas. Wir zeigen euch alles.«

Er führte sie in einen hohen Stahlturm ohne Fenster, und die Tür verriegelte sich hinter dem letzten Hadenmann, der sie begleitete. Die meisten waren draußen geblieben, aber zwanzig aufgerüstete Menschen blieben bei den Besuchern. Owen verriet nichts. Die Hadenmänner dachten vielleicht, daß zwanzig von ihnen reichten, um ihren Willen durchzusetzen, aber sie hatten noch nie Labyrinthkräfte im vollen Ausmaß tätig gesehen. Ihnen stand eine höllische Überraschung bevor.

Mond öffnete eine Tür, die genauso aussah wie alle anderen, und geleitete die Menschengruppe in ein Labor der Hadenmänner. Und dort fanden sie endlich heraus, was die Hadenmänner mit den gefangenen Menschen angestellt hatten. Owen rang um die Selbstbeherrschung. Sie warteten nur darauf, daß er die Beherrschung verlor. Er wollte jedoch sicher sein, daß es die eigene Entscheidung war, wenn er schließlich zurückschlug. Er spürte, wie Hazel neben ihm zitterte. Er wagte nicht, sich umzudrehen und nachzusehen, wie Bonnie und Mitternacht es aufnahmen.

In einem glänzenden, makellosen Raum, der sich unendlich auszudehnen schien, hatte man die Menschen von Brahmin II für Experimente nutzbar gemacht. Einige waren in laufende Maschinen eingestöpselt, um zu prüfen, ob sie funktionieren konnten wie Hadenmänner. Bündel von Kabeln und Schläuchen steckten in den Körpern, aber Blut war nirgendwo zu sehen. Es war komplett abgepumpt worden. Es waren mehr Menschen, als man zählen konnte, Männer und Frauen, die eigentlich hätten tot sein sollen, die man aber künstlich in einer Hölle am Leben hielt. Alle Opfer schienen sich ihrer Lage bewußt, aber keines wehrte sich oder protestierte.

»Warum schreien sie nicht?« fragte Hazel. »Verdammt, ich täte es!«

»Wir haben ihre Stimmbänder entfernt«, erklärte Mond. »Der Lärm hat uns abgelenkt.«

»Warum bewegen sie sich nicht?« fragte Owen, obwohl er die Antwort schon kannte.

»Bewegung war überflüssig und hätte womöglich die Tests gestört«, sagte Mond. »Also haben wir auch das Rückenmark durchtrennt.«

»Warum?« fragte Owen, ohne Mond anzublicken , die Stimme so kalt wie der Tod. »Wozu all dieses… Grauen?«

»Die Menschen haben sich verändert, seit wir zuletzt unter ihnen wandelten«, erklärte Mond ruhig. »Man findet Klone und Esper und angepaßte Menschen und sogar Wunderwirker wie Euch. Für uns ist entscheidend, die aktuelle Verfassung der Menschheit zu erforschen, ehe wir damit beginnen können, sie zu verbessern. Dieser ganze Turm ist nur ein großes Laboratorium, das dazu dient, die verborgene Wahrheit aufzudecken über das, was in unserer Abwesenheit aus der Menschheit geworden ist. Die Testpersonen werden auf ihre körperlichen und psychischen Grenzen hin geprüft, damit wir womöglich die uralte Frage beantworten können: Was ist dieses Wesen, das man Mensch nennt? Interessiert Ihr Euch für das, was wir bislang in Erfahrung gebracht haben? Unsere Testergebnisse haben sich als höchst erhellend erwiesen.«

Owen packte Mond am Arm und zwang ihn, sich umzudrehen, so daß sie einander von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden. »Seid Ihr stolz darauf, Mond? Auf das, was Ihr und Euresgleichen mit lebenden, empfindungsfähigen Wesen angestellt habt?«

Mond reagierte betroffen auf die Frage. »Es ist nötig! Leid ist vorübergehend, Wissen ist ewig. Und keine der Testpersonen wird vergeudet. Wer die Tests überlebt, wird in einen Hadenmann umgewandelt und nie wieder Leid erfahren. Wer stirbt, liefert Körperteile für das Wohl aller. Und alles, was wir hier herausfinden, wird ins große Kompendium des Wissens der Hadenmänner aufgenommen. Durch eigenes Bemühen entwickelt sich der Mensch zu mehr, als er vorher gewesen ist. Das ist das Glaubensbekenntnis der Hadenmänner.«

»Aber was empfindet Ihr bei all dem?« wollte Owen wissen.

»Über das Grauen, das die Testpersonen empfinden, das Ihr ihnen zufügt?«

»Früher einmal«, antwortete Mond langsam, »hatte diese Frage womöglich eine Bedeutung für mich. Aber ich wurde seitdem… verbessert.«

»Den Teufel wurdet Ihr!« entgegnete Owen.

»Nur um das richtig zu verstehen«, mischte sich Bonnie Chaos ein. »Mir ist dieser ganze Hadenmännerscheiß neu.

Wollt ihr die Menschheit verbessern, indem ihr alles wegschnippelt, was uns zu Menschen macht?«

»Ich dachte, daß zumindest Ihr es vielleicht begreift«, sagte Mond. »Ihr wart nicht zufrieden mit dem, was die Natur aus Euch gemacht hat. Ihr habt Löcher in Euer Fleisch geschnitten, um Platz für Metall zu schaffen. Ihr habt flüchtigen Schmerz für künftigen Gewinn ertragen.«

»Nur weil ich Spaß daran hatte, Metallkopf. Es war meine Entscheidung. Ihr habt diesen Leute jede Entscheidung geraubt. Das ist unmenschlich. Und damit ist sofort Schluß.«

Ihre Hand zuckte blitzschnell zur Pistole an der Hüfte, aber die Hadenmänner ringsherum reagierten schneller. Fäuste mit Stahlknöcheln schlugen sie im Gleichklang zu Boden. Mitternachtsblau trat einen Schritt vor, nur um wieder stehenzubleiben, als die Hadenmänner, die sie umgaben, bedrohlich auf sie eindrangen. Bonnie wehrte sich, aber ihrer Gegner waren zu viele, und sie hatte nicht genug Platz. Hazel sah Owen an, aber dieser stand einfach nur da und unternahm nichts, wobei er sich zugleich nicht gestattete, den Blick abzuwenden. Fäuste der Hadenmänner durchschlugen Bonnies leichenblasse Haut und rissen ihr den Piercing-Schmuck aus dem Fleisch. Das Blut spritzte kräftig, und der Ausdruck in Bonnies Augen verschwamm. Schließlich hörte sie auf zu strampeln und lag reglos da, und die Hadenmänner zogen sich von ihr zurück.

Mitternacht bedachte Owen mit einem finsteren Blick. »Du hättest das verhindern können!«

»Ja«, sagte Owen. »Wahrscheinlich. Aber sie mußte auf die harte Tour lernen, wozu die Hadenmänner fähig sind. Ich bin schließlich nicht immer da, um Bonnie zu beschützen. Außerdem heilt sie wieder. Das ist nun mal ihre Gabe.«

»Du kaltherziger Mistkerl!« meinte Mitternacht.

»Manchmal trifft das zu«, bestätigte Owen. »Ihr seid nicht der einzige, der in einem harten Krieg harte Lektionen gelernt hat.«

Er trat vor und kniete neben Bonnie Chaos nieder. Ihr Gesicht war geschwollen und blutig und ein Auge komplett zu.

Sie atmete raspelnd, und der Mund stand offen und verriet, daß einige der vorderen Zähne fehlten. »Wie fühlt Ihr Euch?« fragte Owen sanft.

»Phantastisch«, antwortete Bonnie und bemühte sich, den Atem wieder zu beruhigen. »Gib mir eine Minute, und ich bin wieder auf den Beinen und verpasse den Mistkerlen eine Abreibung.«

»Nein, das werdet ihr nicht«, erwiderte Owen. »Das war deren Vorstellung von einer Warnung. Nächstes Mal bringen sie Euch einfach um. Auf diese Weise können wir sie nicht besiegen. Wir müssen mit Köpfchen einen Ausweg finden. Werdet Ihr jetzt bitte die Nummer der Soloheldin vergessen und Euch meiner Führung anvertrauen?«

Bonnie überlegte. »Wie viele Metallköpfe habe ich ausgeschaltet?«

»Weniger als einen.«

»Ich vertraue mich deiner Führung an.« Sie setzte sich auf und konzentrierte sich. Die Schwellungen im Gesicht gingen zurück, und das zugeschwollene Auge heilte in Sekunden.

Neue Zähne schoben sich aus dem verletzten Zahnfleisch.

Bonnie streckte sich locker wie eine Katze und stand geschmeidig auf, wobei sie breit grinste.

»O Mann, was für ein Rausch!« Sie funkelte die Hadenmänner an. »Nächstes Mal plane ich besser voraus.«

»Nächstes Mal«, entgegnete Mond, »finden wir für Euch einen Platz in unseren Labors. Wir haben Euch nur am Leben gelassen, um dem Erlöser einen Gefallen zu tun.«

»Ja«, warf Mitternacht kalt ein, »ich kann sehen, daß eine echt enge Beziehung zwischen dir und ihm besteht.«

Owen musterte sie. »Ihr seid angeblich Kriegerin. Erkennt Ihr nicht die Sinnlosigkeit eines Kampfes gegen überwältigende Chancen?«

»Wir haben das Labyrinth des Wahnsinns durchschritten!« entgegnete Mitternacht. »Nichts kann uns aufhalten!«

»Du hast dich noch nie Hadenmännern entgegenstellen müssen«, warf Hazel ein. »Falls du lebend aus dieser Sache herauskommen möchtest, höre auf Owen. Er weiß, was er tut.«

Mitternacht funkelte erst Hazel an, dann Owen, und wandte sich schließlich Bonnie zu, um ihr den Arm zu reichen, worauf Bonnie jedoch gar nicht angewiesen war. Hazel trat dicht an Owen heran.

»Sag mir, das das alles zu einem schlauen Plan gehört!« sagte sie leise.

»Es gehört alles zu einem schlauen Plan«, antwortete Owen.

»Jetzt versuch es noch mal in einem Ton, als ob du es ernst meinen würdest.«

»Zur Zeit versuche ich einfach, unser aller Leben zu retten«, sagte Owen leise. »Unsere Chancen hier gefallen mir wirklich nicht. Vielleicht würden wir es schaffen, vielleicht nicht. Ich möchte aber nicht auf die harte Tour herausfinden, daß die zweite Möglichkeit zutrifft.«

Hazel sah sich kurz um und zuckte unbehaglich die Achseln.

»Ich denke weiterhin, daß wir ihnen die Metallärsche versohlen könnten, wenn es sein muß, aber ich bin auch entschieden dafür, zuerst jede andere Option auszuprobieren. Setze Mond weiter unter Druck; ich denke, du dringst allmählich zu ihm durch. Seine letzten Antworten klangen beinahe menschlich.

Bleib kühl, Owen. Halte dich senkrecht. Ich kann sehen, wie hart das alles für dich ist.«

»Ist das so offenkundig? Wie sehr ich mir wünschte, hier alles niederreißen zu können? Was hier geschieht, ist abscheulich, unmenschlich, absolut böse. Es gleicht allem, wogegen wir im Imperium gekämpft haben. Aber entscheidend ist, daß wir lebendig hier herauskommen. Wenigstens einer von uns muß entkommen, um die Menschheit zu warnen.«

»Verstanden«, sagte Hazel. »Und nein, es ist nicht offenkundig. Die anderen kennen dich aber auch nicht so gut wie ich. Es erinnert dich an das Haus der Gebeine, nicht wahr? An das, was deinem Volk auf Virimonde widerfahren ist.«

»Ja. Nur ist das hier anders. Die meisten dieser armen Schweine leben noch, wenn auch in der Hölle. Also muß ich einen Plan entwickeln, der nicht nur die Hadenmänner beseitigt, sondern außerdem die Gefangenen befreit. Und da Pläne nicht unbedingt meine starke Seite sind…«

»Dir wird schon was einfallen, Gelehrter. Sag mir nur Bescheid, wann ich anfangen kann, um mich zu schießen. Was eindeutig meine starke Seite ist.«

Owens Mund zuckte zum erstenmal in dieser Situation und zeigte die Andeutung eines Lächelns. »Ihr und Eure beiden anderen Versionen. Ich schätze, manches ändert sich nie.«

»Du hättest doch nicht zugelassen, daß sie Bonnie umbringen, oder?«

»Natürlich nicht. Ich konnte aber auch nicht zusehen, wie sie uns alle zu diesem Zeitpunkt auf einen Kampf festlegte. Mond und seine Leute warteten nur auf eine Gelegenheit, uns zu zeigen, wer hier wirklich das Kommando führt. Hoffentlich sind sie jetzt uns gegenüber etwas nachlässiger.«

»Und wie sieht der Plan jetzt aus?«

»Unsere Augen und Ohren offenhalten und auf eine Chance warten. Wir müssen immer noch so viel wie möglich über das erfahren, was die Hadenmänner hier vorhaben.«

»Sie sind ein Haufen böser, sadistischer Mistkerle. Was müssen wir noch erfahren?«

»Wie weit sie damit sind, die nächste Generation von Hadenmännern zu entwickeln. Wir müssen genau wissen, wozu die neuen Modelle fähig sind, wie viele sie hier auf Brahmin haben und wie viele weitere sich noch in anderen Stützpunkten, auf anderen Welten versteckt halten. Diese Dinge zu erfahren und ans Imperium zu übermitteln, das ist wichtiger als unser Verlangen nach Rache.«

Hazel musterte ihn unverwandt. »Und wichtiger als unser Leben?«

»Vielleicht. In vieler Hinsicht ist das, was hier geschieht, meine Schuld. Und die meiner Familie. Es ist meine Pflicht, alles zu tun, was in meiner Macht steht, um dem Einhalt zu gebieten.«

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Hazel. »Sobald wir alles erfahren haben, was wir wissen müssen, wird dieser ganze Drecksladen geschlossen. Was es auch kostet.«

»Vergeßt die Geiseln nicht!« mahnte Owen sie. »Wir dürfen sie nicht einfach im Stich lassen.«

Hazel sah sich im Labor um. »Nach allem, was sie durchgemacht haben, ist der Tod vielleicht der einzige Freundschaftsdienst, den wir ihnen leisten können.«

»Womöglich. Aber wir müssen es versuchen. Es ist unter dem Gesichtspunkt der Menschlichkeit zwingend.«

»Interessant«, sagte Mond plötzlich. »Ihr unterhaltet Euch seit einiger Zeit angeregt, aber ich habe kein Wort verstanden.

Nicht mal mit dem verstärkten Gehör. Und Ihr habt auch Eure Komm-Implantate nicht benutzt, die ich abgehört hätte. Hat das Labyrinth Euch zu Telepathen oder dergleichen gemacht?«

»Zu dergleichen«, antwortete Owen. »Ganz eindeutig zu dergleichen. Wir alle, die das Labyrinth durchschritten haben, sind geistig verbunden, stehen uns nahe. Wärt Ihr bei uns geblieben, gälte das auch für Euch. Jetzt verschwindet.«

Mond nickte. »Seid so frei, nach Belieben Drohungen oder Widerstandserklärungen abzugeben, falls Ihr das im Interesse Eures Seelenfriedens nötig findet.«

»Ihr habt mich verraten. Ihr alle. Ich habe Euch nicht aus der Gruft freigelassen, um so etwas zu tun wie hier.«

»Eure Gründe für die Öffnung der Gruft sind irrelevant«, versetzte Mond ruhig. »Ihre Freiheit war unvermeidlich. Hättet Ihr es nicht getan, dann irgendein anderes Familienmitglied.

Vielleicht David.«

»Interessant«, fand Hazel. »Du sagst inzwischen ›ihre‹ anstatt ›unsere‹. Bist du womöglich nicht ganz mit dem einverstanden, was hier passiert?«

»Ich glaube, daß hier ein Ausdruck der Menschen, nach Strohhalmen greifen, anwendbar ist«, erwiderte Mond. »Folgt mir.«

»Natürlich«, sagte Owen. »Stets offenbart die Hölle, daß sie noch weitere Kreise zieht, nicht wahr?«

Sie stiegen ins nächste Stockwerk hinauf und erreichten ein weiteres Labor. Es war still wie in einem Grab. Endlose Reihen von Männern und Frauen saßen reglos in winzigen Kabinen, die Augen geschlossen, die Gesichter völlig unbewegt. Die Köpfe standen per Metallkabeln mit unsichtbaren Apparaten in Verbindung. Nach dem Grauen des vorherigen Labors wirkte das neue beinahe friedlich, Owen traute dem Braten von Anfang an nicht. Er sah Mond an.

»Wir testen hier nach Esper-Kräften«, erklärte Mond. »Das Phänomen war zur Zeit des ersten Kreuzzugs praktisch unbekannt, hat sich aber inzwischen über die ganze Menschheit ausgebreitet. ESP fasziniert die Hadenmänner; es bietet eine Form von Macht und Kontrolle, die nicht auf Technik beruht, sondern aus unbekannten Tiefen nicht aufgerüsteter Gehirne stammt. Die Hadenmänner wünschen das für sich selbst. ESP hat keine erkennbare Energiequelle und erreicht doch Dinge, die keinem Hadenmann möglich sind, nicht einmal mit seinem riesigen Wissen über Technologie.«

»Ihr foltert sie, bis sie sterben«, sagte Bonnie. »Mistkerle!«

Mitternacht funkelte Owen an, schwieg jedoch.

»Ihr seid auch damit nicht einverstanden, nicht wahr, Mond?« fragte Owen.

»Meine Zustimmung ist irrelevant«, sagte Mond. »Die Hadenmänner tun alles, was im Rahmen ihrer Bestimmung erforderlich ist. Keine individuelle Überzeugung darf sich darin einmischen.«

»Du wirst schwächer, Mond«, sagte Hazel. »Ich warte jeden Augenblick darauf, daß du dich vergißt und es riskierst, eine eigene Meinung zu äußern.«

»Was immer ich gewesen sein mag, ich bin jetzt ein voll funktionsfähiger Hadenmann«, erwiderte Mond. »Der Tobias Mond, den Ihr kanntet, ist tot. Kommt jetzt; es gibt noch viel für Euch zu sehen.«

»Ich denke nicht«, erwiderte Owen. »Ich bin viel mehr daran interessiert, mich mit Euch zu unterhalten. Versuchen wir es doch mal mit ein paar klaren Fragen und Antworten, was?«

»Falls Ihr wünscht. Ihr seid der Erlöser. Wir werden nichts vor Euch verbergen.«

»Und höre mit dieser Erlöserscheiße auf. Ich bin ein Todtsteltzer, und das war schon immer ein anderes Wort für Ehre, ungeachtet dessen, was manche aus unserer Familie vielleicht getan haben, um mit Euch zusammenzuarbeiten und die Ehre damit in den Schmutz zu ziehen. Ich möchte Antworten hören, und Ihr werdet sie mir geben. Was geschieht in den übrigen Labors?«

»Wir untersuchen aktuelle Technik und extrapolieren auf dieser Grundlage«, erklärte Mond, weniger erregt jetzt, wo er sich auf festerem Grund bewegte. »Die Wissenschaft hat sich in unserer Abwesenheit weiterentwickelt. Obwohl wir auf den meisten Gebieten nach wie vor voll auf dem laufenden sind, bleibt trotzdem noch viel zu lernen. Das Klonen ist neu für uns.

Sobald wir das beherrschen, können wir die Bevölkerung dieses Planeten mehrfach neu klonen, um Ausgangsmaterial für neue Hadenmänner bereitzustellen. Sie werden die nächste Generation der Hadenmänner, größer als ihre Vorgänger: Unbesiegbar in der Schlacht, genetisch überlegen. Dadurch ist ihr Triumph unausweichlich. Der Zweite Kreuzzug wird die gesamte Menschheit transformieren und ein Imperium der Hadenmänner schaffen, stark, effizient, unüberwindlich. Das ist unumgänglich. Wir haben viele Feinde. Die KIs von Shub haben alle Angebote der Zusammenarbeit oder eines Bündnisses ausgeschlagen. Sie sagen, sie brauchten die Hadenmänner nicht. Wir wären nur Fleisch, das an Einbildungen von Größe litte. Shub bleibt damit ein Feind und eine Gefahr. Und dann sind da noch die Fremdwesen. Unbekannt. Mächtig. Gefährlich. Die Menschheit muß sich höherentwickeln, falls sie diese Gefahren überleben soll.«

»Verdammt!« sagte Mitternachtsblau. »Sobald er erst mal losgelegt hat, kann ihn nichts mehr aufhalten, was?«

»Gib mir zehn Minuten mit ihm allein, und ich halte ihn auf!« knurrte Bonnie. Alle ihre Verletzungen waren verheilt, und ihre finstere Miene konnte wahrhaftig beeindrucken.

»Wieviel von diesem Scheiß müssen wir uns noch anhören, Owen? Mein Owen hätte längst…«

»Euer Owen ist nicht hier!« raunzte Owen. »Und selbst wenn er es wäre, hätte er wahrscheinlich nicht mehr gegen die Hadenmänner ausrichten können als Ihr. Seid jetzt still. Ich weiß, was ich tue.« Er wandte sich wieder an Mond. »Sehr nette Ansprache, Mond. Ich bin sicher, Ihr habt sie Eurer Programmierung gemäß abgespult. Aber Ihr müßt doch erkennen, wie unlogisch Eure Position ist. Ihr habt keine Hoffnung auf den Sieg.

Ihr habt einen Planeten und eine Handvoll Schiffe, und Ihr habt bereits eingeräumt, Jahre hinter der technischen Entwicklung aller anderen herzuhinken. Ihr seid in der Minderheit, technisch unterlegen und Gegenstand des Hasses aller. Ihr könnt nicht gewinnen.«

»Das Imperium ist schwach und gespalten«, sagte Mond.

»Dafür habt Ihr selbst gesorgt. Unsere goldenen Schiffe haben während der Rebellion die imperiale Flotte dezimiert. Eure restlichen Armeen sind erschöpft und an zu vielen Fronten verteilt. Welch besseren Zeitpunkt könnte es für einen Angriff geben? Besonders, da wir jetzt über neue, weniger leicht erkennbare Waffen verfügen. Wir haben die einzigen existierenden Überreste der angepaßten Menschen, der Wampyre, in der Hand. Obwohl es sinnlos wäre, etwas neu zu schaffen, was im wesentlichen nur eine schlechtere Ausgabe unserer selbst war, haben wir die Überreste nutzbar gemacht, um mit ihrer Hilfe einen unerschöpflichen Vorrat an der Droge Blut zu erzeugen.

Längst versorgen wir über eine Reihe von Zwischenhändlern das Imperium mit dieser Droge. Überall findet man Abhängige, die ihren nächsten Schuß nur von uns erhalten können. Die lieber alles tun, was wir von ihnen verlangen, als zu riskieren, daß wir sie von der Versorgung abschneiden. Einige von ihnen haben sehr hohe Positionen inne. Ihr kennt sie beim Namen.

Sie sind unsere fünfte Kolonne, unsere geheime Armee, unsere Verräter im Herzen Eurer Regierung, die Chaos und Konfusion sähen, wie es uns paßt. Genau wie Ihr, Hazel, als ich Euch auf dem verlorenen Haden mit Blut versorgt habe.«

»Ich habe meine Art nie verraten!« entgegnete Hazel.

»Aber Ihr hättet es getan, falls wir es verlangt hätten«, behauptete Mond. »Nicht wahr?«

Hazel funkelte ihn hitzig an, wandte dann aber den Blick ab.

Owen legte ihr tröstend die Hand auf den Arm. Mond wandte sich wieder Owen zu. »Seht Ihr, Todtsteltzer? Auch Antworten helfen Euch nicht. Die Wahrheit bringt keinen Trost. Die Menschheit gehört der Vergangenheit an. Die Hadenmänner sind die Zukunft. Sie haben Euch Erlöser genannt. Sprecht für sie. Seid Ihr Fürsprecher gegenüber dem Imperium. Überzeugt das Imperium davon, sich der Zukunft zu verpflichten und sie nicht zu fürchten. Das Imperium kann wieder erstarken, um sich seinen zahlreichen Feinden entgegenzustellen. Die Menschheit muß sich uns im Interesse einer größeren Sache ergeben. Man kann der Evolution nicht trotzen. Sprecht für uns, Todtsteltzer! Seid der Herold einer Zukunft, die das Schicksal seit jeher geplant hat.«

»Nein«, erwiderte Owen. »Ihr seid nicht die Bestimmung der Menschheit. Ihr seid ein Fehler, ein Ableger, ein Weg, der niemals hätte eingeschlagen werden dürfen. Die menschliche Natur liegt im Herzen, in der Seele all der Unwägbarkeiten, die durch Tech nie auszuloten sind. Ihr seid nicht besser als Shub.

Ich werde Euch niemals dienen. Nie.«

»Ihr werdet«, beharrte Mond. »Ihr habt keine Wahl. Ihr und Eure Gefährten seid unsere Gefangenen, wie es von vornherein geplant war. Die Hadenmänner benötigen die Geheimnisse in Euch, die Macht, die Ihr aus dem Labyrinth des Wahnsinns erlangt habt. Unsere Wissenschaftler auf Haden versuchen schon, das Labyrinth nachzubauen, bislang jedoch ohne Erfolg.

Das einzige Wesen, das uns vielleicht etwas hätte erklären können, bleibt unauffindbar: der Wolfling. Damit seid Ihr und Eure Gefährten unsere einzige Hoffnung, verstehen zu lernen, was das Labyrinth tat und wie es das tat. Nur deshalb haben wir Euch gestattet, die Stadt zu betreten. Wir haben Euch hierher in die Betriebszentrale gebracht, um Euch mit möglichst geringem Aufwand gefangenzunehmen. Es hat keinen Sinn zu kämpfen, Owen. Ihr seid von Hunderten Hadenmännern umringt, und wir konnten bereits feststellen, daß selbst Eure Wunderkräfte Grenzen haben.«

»Sei dir dessen nur nicht zu sicher!« warnte Hazel. »Du wärst überrascht von dem, was wir alles fertigbringen, wenn wir müssen.«

»Genau das möchten wir von Euch«, sagte Mond, unbewegt von ihrem drohenden Tonfall. »Eure Fähigkeiten sind eine Quelle der Faszination für uns. Das Labyrinth hat die ersten Hadenmänner erzeugt, aber wir hatten keine Ahnung, daß es auch Wunderwirker hervorbringen konnte. Es liegt im Wesen der Hadenmänner, nach Vollkommenheit zu streben, und es ist inakzeptabel, daß Ihr über Kräfte verfügt, die uns verschlossen bleiben sollten. Also werden wir Euch erforschen, die Quelle Eurer Wunderkräfte bestimmen und sie uns aneignen. Wir errichten ein neues Labyrinth des Wahnsinns, und alle Hadenmänner werden es durchschreiten. Dann soll die Menschheit zittern, denn von jenem Augenblick an sind ihre Tage gezählt!

Und all das Euretwegen, Owen Todtsteltzer.«

»Ihr sagt, Ihr wolltet uns erforschen«, sagte Owen. »Würde es Euch etwas ausmachen, ein wenig deutlicher zu werden?«

»Wir werden Euch untersuchen, prüfen und schließlich sezieren«, erklärte Mond. »Dabei werden wir alle Eure Geheimnisse und Grenzen in Erfahrung bringen und Euch schließlich auf Eure kleinsten Bestandteile reduzieren. Nichts wird uns entgehen. Nichts bleibt ungetan.«

»Ihr greift den Dingen voraus«, erläuterte ihm Owen. »Ihr müßt uns zunächst in die Gewalt bekommen. Und Ihr habt noch nie erlebt, was wir leisten, wenn es zum Kampf kommt.«

»Ein Kampf wird nicht stattfinden«, sagte Mond. »Ihr werdet jeder Anweisung Folge leisten, Owen. Euch sogar gegen Eure Freunde wenden, falls wir es für nötig befinden. Ihr gehört uns.«

»Wovon zum Teufel redet er da, Owen?« murmelte Hazel.

»Ich gehöre niemandem«, sagte Owen.

»Ihr habt Euch uns übergeben«, behauptete Mond seelenruhig. »Als Ihr unsere goldene Hand akzeptiertet.«

Owen blickte auf seine Linke hinab. Die künstliche Hand.

Die ursprüngliche hatte er beim Kampf gegen das Grendel-Fremdwesen auf Haden verloren. Um sein Leben zu retten, hatten die Hadenmänner ihm eine künstliche Version aufgepfropft. Ein wundersames Ding aus purem Gold, das jedem seiner Gedanken gehorchte. Und wenn es sich manchmal kalt anfühlte, so, als gehörte es nicht ganz zu ihm, dann war das ein kleiner Preis für ein solches technisches Wunder. Er hob die Hand vors Gesicht und beugte die Finger. Fast ein Kunstwerk.

Er senkte die Hand wieder und sah Mond an. »Traut niemals dem Geschenk eines Fremden. Was habt Ihr mit mir gemacht, Ihr Mistkerle?«

»Euch an uns gebunden. Die Hand hat goldene Fäden durch Euren ganzen Körper gezogen, jeden Teil von Euch infiltriert, einschließlich Eures Hirns. Wir steuern Euch jetzt von innen heraus. Ihr gehört uns, Owen. Tatsächlich habt Ihr das schon immer getan.«

»Mein Gehirn?« fragte Owen. »Ihr habt mit Euren Metallfingern an mein Hirn gerührt? Euch in meine Gedanken eingemischt, meine Entscheidungen beeinflußt? Wozu habt Ihr mich gezwungen? Wieviel von dem, was ich heute bin, geht auf Euch zurück?«

»Ihr werdet es nie erfahren«, antwortete Mond.

Es schien Owen, als fühlte sich die künstliche Hand ganz kalt an. Er ballte sie zur Faust, probierte, ob nicht ein Gefühl des Widerstands auftrat. Er funkelte Mond an. »Ihr habt gesagt, ich wäre Euer Erlöser. Als ich Euch aus der Gruft freiließ, habt ihr geschworen, mir Gefolgschaft zu leisten.«

»Und wir hielten uns daran. Solange es unseren Absichten diente. Wir sind die Hadenmänner. Wir sind die Bestimmung der Menschheit. Nichts darf uns im Weg stehen.«

»Seid verdammt, Mond!« flüsterte Owen. »Was habt Ihr mir angetan?«

»Es tut mir leid, Owen«, sagte Mond. »Ich habe auch hierin keine andere Wahl.«

Owen griff mit der Menschenhand nach seiner Pistole, und ein plötzlicher Krampf erschütterte alle seine Muskeln. Er schrie vor Schmerz auf, und die Agonie brannte in ihm wie eine goldene, verzehrende Flamme. Er stürzte zu Boden und lag zuckend da, die Zähne von einem Krampf des Mundes freigelegt. Hazel wollte ihm helfen, und sofort packten sie ein halbes Dutzend Hadenmänner. Andere ergriffen Bonnie Chaos und Mitternachtsblau und hielten sie fest. Owen schrie erneut vor Schmerz und Entsetzen auf über den Verrat des eigenen Körpers, bis er schließlich verstummte. Befehle von außen liefen durch sein Gehirn, und er kam elegant auf die Beine, ein Gefangener im eigenen Kopf. Er spürte, wie sich die goldenen Fäden in ihm regten, wie sie sich durch den ganzen Körper schlängelten, parasitischen Metallwürmern gleich. Er konnte nicht mal den Kopf oder die Augen drehen, um zu sehen, was mit Hazel passierte, bis die Hadenmänner es für ihn taten.

Hazel wehrte sich gegen den Griff der Hadenmänner, und es fiel ihnen verdammt schwer, sie festzuhalten. Tobias Mond trat ohne Eile vor sie, wobei er irgend etwas in der Hand hielt.

Owen erkannte es und versuchte verzweifelt, eine Warnung zu brüllen, aber die Stimme gehorchte ihm nicht mehr. Hazel war so sehr darin vertieft, sich freizukämpfen, daß sie Mond nicht sah, bis es zu spät war. Er gab den anderen Aufgerüsteten einen Wink, und unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihnen, Hazel auf die Knie zu drücken und für einen Moment in dieser Stellung festzuhalten lange genug für Mond, um ihr sein Hypospray an den Hals zu setzen und ihr eine massive Dosis Blut zu verabreichen. Sie schrie vor Schreck und Entsetzen auf, und Tränen liefen ihr übers Gesicht, als die alte, kalte Segnung von Blut erneut durch ihren Kreislauf strömte. Und alles, was Owen tun konnte, war zuzusehen.

Mond trat zurück und und gab den anderen Hadenmännern mit einem Wink zu verstehen, daß sie Hazel loslassen sollten.

»Die aufgezwungene Blut-Sucht wird sie für den Rest ihres Lebens beherrschen. Sie wird nicht gegen uns kämpfen. Sie wird nicht einmal den Wunsch hegen, es zu tun.« Er sah das leere Hypospray in seiner Hand an und ließ es fallen, als wäre es ihm peinlich. Er sah Owen an, der nach wie vor erstarrt dastand. »Wir tun… was nötig ist, Owen. Das ist die Art der Hadenmänner.« Er drehte sich wieder um und musterte Bonnie und Mitternacht. »Ihr seid neue Faktoren in der Gleichung.

Eure Anwesenheit kommt unerwartet. Bleibt ruhig, und Euch wird kein Leid zugefügt, während die Ereignisse ihrem unvermeidlichen Ziel zustreben.«

»Glaubt… ihm nicht«, sagte Hazel, die noch auf den Knien lag, und aller Augen wandten sich wieder ihr zu. Ihr Gesicht war bleich und abgespannt und tropfte vor Schweiß, und plötzliche Schauder schüttelten sie, Die Linien des Mundes wirkten jedoch fest, und ihr Blick war stetig und schleuderte Mond Trotz entgegen. »Du hast einen Fehler gemacht, Hadenmann!

Blut ist ein alter Hut für mich. Ich habe es früher besiegt, und ich werde es erneut besiegen. Sieh nur!«

Schwarzes Blut schoß ihr plötzlich aus der Nase und lief ihr über Mund und Kinn. Noch mehr davon quoll ihr unter den Augenlidern hervor und tropfte ihr langsam über die Wangen.

Sie öffnete den Mund, und Blut schoß in einem ruckartigen Strom hervor, während sie die Droge mit schierer Willenskraft aus dem Körper entfernte. Schwarze Tropfen perlten auf der Haut, sickerten aus jeder Pore. Die Droge bildete vor ihr eine Pfütze auf dem Boden und durchnäßte ihre Kleidung, bis der Strom schließlich stoppte, so plötzlich, wie er begonnen hatte.

Hazel stand auf, und der letzte Rest Blut tropfte von ihr ab. Sie lächelte Mond an, und jeder andere wäre gleich mehrere Schritte zurückgewichen.

»Du hast es verpfuscht, Hadenmann! Ich bin nicht mehr die Hazel, die du kanntest. Das Labyrinth hat mich auf eine Art und Weise verändert, die du dir nicht mal vorstellen kannst.

Gib jetzt Owen frei, oder ihr seid alle tot. Ihr habt vielleicht eine Armee, aber ich kann eine Armee sein, wenn ich muß.«

»Das haben wir gehört«, sagte Mond. »Das ist einer der Gründe, warum wir Euch haben müssen. Aber wir kämpfen nicht gegen Euch. Owen wird es für uns tun, nicht wahr, Owen?«

Und Owens Hand zog das Schwert aus der Scheide und hielt es ruhig, während sich sein Körper zu Hazel umwandte. Sie wollte schon nach dem eigenen Schwert greifen, riß sich aber zusammen. Sie blickte ihn offen an, den Blick fest in seinen geheftet.

»Tu das nicht, Owen. Kämpfe dagegen an! Du kannst das besiegen, was sie mit dir gemacht haben, wie ich es mit dem Blut geschafft habe. Wir haben das Labyrinth durchschritten. Niemand kann uns mehr herumkommandieren. Owen, halte ein!

Bitte. Zwinge mich nicht, gegen dich zu kämpfen.«

Er steckte jedoch hilflos im Griff der goldenen Fäden, war ein Gefangener im eigenen Kopf. Er kämpfte darum, wenigstens die allerkleinste Bewegung aus eigener Kraft zu schaffen, aber es gelang ihm nicht. Seine hilflosen Protestschreie drangen nicht nach außen. Er trat gewandt vor und stieß mit dem Schwert nach Hazels ungeschützter Brust. Es war ein mörderischer Angriff, mit unmenschlicher Geschwindigkeit vorgetragen, und hätte jedem anderen Gegner das Leben gekostet. Aber Hazel D’Ark war schon eine verdammt gute Kämpferin gewesen, ehe sie das Labyrinth des Wahnsinns durchschritt, und ihre Reflexe waren den seinen in jeder Beziehung gewachsen. Sie fand mühelos genügend Zeit, das Schwert zu ziehen und Owens Angriff abzublocken. Sie umkreisten einander langsam, und die Schwerter zuckten hin und wieder vor, um die Abwehr des Gegenübers auf die Probe zu stellen. Mond gab den anderen Hadenmännern mit einem Wink zu verstehen, daß sie sich heraushalten sollten. Das Experiment mußte seinen Lauf nehmen. Und weiterhin umkreisten Owen und Hazel einander und lauerten auf Lücken in der Abwehr. Die Technik der goldenen Hand hatte umfassenden Zugriff auf Owens kämpferische Fähigkeiten und Kenntnisse und wandte nun all das für einen erbarmungslosen Angriff auf. Beide waren sie unglaublich stark und schnell, Kämpfer, die in der Schule harter Schläge ausgebildet worden waren und ihren letzten Schliff durch die Rebellion erhalten hatten. Niemand sonst hätte in diesem Duell länger als ein paar Augenblicke überlebt. Aber Owen und Hazel kämpften weiter, stampften, machten Ausfälle, nahmen zurück, während Stahl auf Stahl klirrte.

Owen zog weiter an. Hazel folgte seinem Beispiel, und beider Schnelligkeit und Kraft erreichten übermenschliches Niveau. Schläge und Paraden wurden in Sekundenbruchteilen gewechselt, und Arme und Schwerter bewegten sich zu rasch, als daß menschliche Augen ihnen noch hätten folgen können.

Beide Gegner funktionierten nur noch auf der Grundlage von Fertigkeit und Instinkt, waren gezwungen, bis an die Grenze ihrer Schwertkunst zu gehen, um dem anderen standzuhalten.

Die Hadenmänner sahen fasziniert zu, wie ihre beiden Opfer auf einer Ebene fochten, die nicht mal sie hoffen konnten zu erreichen. Letzten Endes kämpfte Owen jedoch, um zu töten, während Hazel das nicht tat. Er nutzte das zu seinem Vorteil, öffnete sich mörderischen Schlägen, von denen die Technik seiner goldenen Hand wußte, daß Hazel sie nicht ausnutzen würde. Und Schritt für Schritt wurde Hazel zurückgetrieben.

Den ersten Schnitt mußte sie oben an der Stirn hinnehmen, so daß ihr Blut ins linke Auge rieselte. Sie schüttelte gereizt den Kopf und sah, wie Tropfen ihres Bluts durch die Luft flogen.

Weitere Schnitte folgten hier und dort, und echtes Blut floß an Stellen, wo vorher die schwarze Droge ihren Lauf genommen hatte. Keine der Verletzungen war auch nur annähernd gefährlich, aber sie waren klare Zeichen, daß Hazel auf der Verliererstraße marschierte. Sie zweifelte nicht daran, daß die Hadenmänner Owen zwingen würden, sie zu töten, falls das nötig werden sollte. Eine nicht beherrschbare Versuchsperson nutzte ihnen nichts. Sie konnten dann immer noch ihre Leiche sezieren, und es blieben ihnen drei lebende Exemplare für Experimente. Hazel konnte nicht defensiv weiterkämpfen und gleichzeitig hoffen, daß sie überlebte. Aber sie konnte auch nicht Owen töten. Nicht Owen. Sie tat das einzige, was ihr übrig blieb, löste sich aus dem Kampf, trat zurück und senkte das Schwert.

»Es liegt an dir, Owen. Tue, was du tun mußt.«

Owen zog das eigene Schwert zurück, das Gesicht eine ausdruckslose Maske. Hazel spannte sich an. Und Owen schrie.

Der Laut platzte förmlich aus ihm heraus, ein Laut voller Schmerz und Grauen und Wut. Owen fiel vor Hazel auf die Knie, wobei er heftig zitterte, die Augen starr und weit aufgerissen. Hazel kniete sich ebenfalls hin, hielt seinen Blick fest, versuchte seinen Willen mit ihrer Präsenz zu stärken. Und Owen hob langsam das Schwert und hieb mit aller Kraft nach dem eigenen linken Handgelenk.

Das Blut spritzte in einem dicken Strahl hervor. Owen schrie erneut auf, diesmal mit ebensoviel Triumph wie Schmerz. Er drückte den linken Arm flach auf den Stahlboden, ignorierte die Zuckungen der goldenen Finger, schnitt glatt durch das Handgelenk und ein Stück in den Boden hinein. Die abgetrennte Hand rutschte weg. Die glänzenden Finger beugten und streckten sich weiter vergebens wie die Gliedmaßen einer großen goldenen Spinne. Owen schüttelte sich vor Schmerz und Schock und knirschte mit den Zähnen, während er ein Grinsen zeigte wie ein Totenschädel. Er wußte, daß der Kampf noch nicht vorbei war.

Er tastete mit den Gedanken nach innen und konzentrierte sich auf die goldenen Fäden, mit denen er immer noch infiziert war. Er spürte sie, wie sie ihm weiterhin die Steuerung des eigenen Körpers zu verwehren trachteten. Er packte sie kräftig mit der Willenskraft und zwängte sie hinaus. Und einer nach dem anderen platzten goldene, sich schlängelnde Stränge aus dem blutigen Armstumpf hervor und fielen nutzlos zu Boden.

Owen lachte heiser, ein schrecklicher Laut voller Agonie und Siegesfreude. Endlich hatte er den letzten Faden hinausgedrückt, ließ das Schwert fallen und packte das linke Handgelenk mit der Rechten. Er drückte fest zu, wie er es schon einmal auf Haden hatte tun müssen, und das hervorschießende Blut schwächte sich zu einem Rinnsal ab. Owen konzentrierte sich angestrengt, bot alle Willenskraft auf, schickte sie in den Armstumpf und grinste triumphierend, als ihm eine neue linke Hand wuchs.

Er setzte sich auf den Boden und zitterte noch vor lauter Anstrengung. Er hielt die neue Hand hoch. Sie sah bis ins letzte Detail wie eine ganz normale Menschenhand aus und fühlte sich warm und lebendig und ihm zugehörig an, wie es die goldene Hand nie getan hatte. Er beugte die Finger, bewunderte ihre Geschmeidigkeit. Und dann sah er Hazel an, die ihm gegenüber kniete und den Mund aufsperrte. Er lächelte sie entspannt an.

»Ihr hattet recht wie immer, Hazel. Nicht zum ersten Mal schulde ich Euch Leben und Freiheit.«

»Ich habe schon miterlebt, wie du erstaunliche Sachen angestellt hast, Owen, aber das war bislang das beste. Ich bin wirklich beeindruckt.«

»Wir können uns später noch gegenseitig beeindrucken«, sagte Owen. »Wir müssen uns erst noch einen Fluchtweg freikämpfen.«

Hazel lächelte. »Nachdem, was wir gerade durchgestanden habe, dürfte das die leichtere Übung werden.«

Sie rappelten sich auf und stellten sich Seite an Seite Mond entgegen, Pistolen und Schwerter gezückt. Der Hadenmann schien für einen Moment sowohl um Wort als auch Tat verlegen. »Hazel hatte recht«, sagte er schließlich. »Das war wirklich sehr eindrucksvoll. Sogar Regenerationstanks benötigen Monate für das Neuwachstum abgetrennter Gliedmaßen. Aber letztlich ist es nur eine weitere Eurer Fähigkeiten, die wir uns zwingend aneignen müssen. Ihr müßt kapitulieren. Ihr habt keine Hoffnung auf den Sieg.«

»Zur Hölle damit!« entgegnete Hazel. »Wir haben schon früher gegen ganze Armeen gekämpft. Wir sind immer noch da, die Armeen hingegen meist nicht mehr. Laßt sie nur aufmarschieren, Mond!«

»Mangelndes Selbstvertrauen war nie eines Eurer Probleme«, räumte Mond ein. »Ich habe jedoch noch eine oder zwei Karten im Ärmel.« Er deutete auf Bonnie und Mitternacht, die immer noch von Hadenmännern festgehalten wurden. »Entweder ergebt Ihr Euch, oder wir töten Eure Freundinnen.«

»Sicher«, sagte Mitternachtsblau.

»Klar doch«, sagte Bonnie Chaos.

Und Mitternacht verschwand einfach. Luft stürzte in den Raum, den sie eben noch eingenommen hatte. Einen Augenblick später erschien sie auf der anderen Seite des Raums, die Streitaxt in der Hand. Sie schwang sie beidhändig und trennte dem ihr nächststehenden Hadenmann den Kopf ab. Sie teleportierte gleich weiter kreuz und quer durch den Raum und enthauptete ein weiteres Dutzend Hadenmänner, ehe auch nur einer auf ihr Auftauchen reagieren konnte.

Und Bonnie war auf einmal nur noch verschwommen zu sehen und entwand sich geschmeidig dem Griff der Hadenmänner. Scharfe Klingen schossen plötzlich aus getarnten Scheiden an Händen und Ellbogen hervor, und Bonnie schnitt mit bösartiger Geschicklichkeit durch die Hadenmänner, die sie festgehalten hatten. Sie stürzten rücklings zu Boden und verstreuten dabei Körperteile. Bonnie lächelte ihr Spitzzahnlächeln und zog das Schwert. Mitternacht teleportierte herbei, um ihr den Rücken zu decken, und gemeinsam gingen sie in Kampfstellung.

»Eben hast du mich bei einem Nickerchen erwischt«, erklärte Bonnie Mond. »Ich dachte mir einfach, ich erwidere den Gefallen.«

»Gib nur das Zeichen, Owen«, sagte Mitternacht, »und wir reduzieren diese metallenen Mistkerle auf ihre Bestandteile.«

»Klingt gut«, fand Owen. Er sah Mond an. »Uns ist egal, wie viele von Euch hier sind. Sollen sie nur kommen. Sollen sie ruhig alle kommen.«

»Richtig«, bestätigte Hazel. »Dieser Wahnsinn hört hier und jetzt auf. Keine Tests mehr. Keine Schmerzen mehr. Kein Tod mehr.«

»Ihr dürft nicht gegen uns kämpfen«, sagte Mond, aber zum ersten Mal klang seine summende Stimme unsicher. »Das ist nicht erforderlich.«

»Doch, ist es«, sagte Owen. »Wir werden uns niemals ergeben, und wir sterben lieber, als in Hadenmänner umgewandelt zu werden.«

»Das ist… unlogisch.«

»Stimmt, aber es ist sehr menschlich. Verdammt, Mond, denkt nach! Erinnert Euch! Erinnert Euch daran, wie Ihr früher wart. Der Tobias Mond, den ich kannte, hätte an unserer Seite gekämpft, um diesem Grauen Einhalt zu gebieten.«

»Das liegt lange zurück«, sagte Mond.

»Nein, tut es nicht«, behauptete Owen. »Es war gestern.«

Und er griff mit seinen Gedanken hinaus und versuchte, die alte geistige Verbindung wiederherzustellen, die alle Überlebenden aus dem Labyrinth des Wahnsinns miteinander verbunden hatte. Er spürte Hazel neben sich stehen, stark und selbstsicher und treu, und ihrer beider Gedanken fügten sich perfekt ineinander wie zwei Stücke eines Puzzles. Bonnie Chaos und Mitternachtsblau waren auch da und unterstützten sie beide, wobei sie wie fremdartige Echos von Hazel wirkten. Gemeinsam weiteten sie die Verbindung auf Mond aus, stießen die Barriere weg, die die Hadenmänner mit ihrer Technik zwischen ihnen aufgebaut hatten, und verbanden sich mit dem alten Tobias Mond. Und er wachte auf.

Die vier Menschen stürzten in die eigenen Leiber zurück und betrachteten Mond forschend. Er atmete schwer und schüttelte den Kopf. Die übrigen aufgerüsteten Menschen wichen vor ihm zurück und bedachten ihn mit Blicken, als wäre er die Quelle einer Ansteckung. Endlich wandte sich Mond zu Owen um.

»Ich erinnere mich«, sagte er langsam. »Sie haben mir so viel von meinem Gedächtnis geraubt, als sie mich nachbauten, aber jetzt weiß ich es wieder. Damals hätte ich meine Erinnerungen behalten können, falls ich es wünschte, aber das war zu dem Zeitpunkt nicht der Fall. Ich wünschte mir so sehr, zu den Hadenmännern zu passen, daß ich sogar bereit war, einen Teil von mir aufzugeben. Aber jetzt ist alles von mir zurückgekehrt, und mir ist klar, daß ich nicht einfach irgendein beliebiger aufgerüsteter Mensch sein kann. Weil ich mehr bin als das. Vielleicht sogar mehr, als die übrigen Hadenmänner je sein können. Also stehe ich zu Euch, Owen. Obwohl wir wahrscheinlich gemeinsam umkommen.«

»Willkommen zurück, Mond«, sagte Owen mit breitem Grinsen.

»Gerade rechtzeitig für den großen Kampf«, sagte Hazel.

»Sieht aus, als würde es eine ganz ordentliche Sache werden.

Obwohl die meisten von uns den Ausgang wahrscheinlich nicht erleben werden.«

»Ach, zum Teufel«, sagte Mond. »Ich bin schon einmal gestorben.«

»Wie war es?« fragte Hazel.

»Erholsam«, antwortete Mond.

»Ach, zum Teufel«, meldete sich auch Owen. »Falls wir kämpfen und dabei alle unsere Kräfte und die implantierten Waffen der Hadenmänner zum Einsatz kommen, sterben wir, sterben sie und sterben die meisten der armen Schweine, die hier gefangengehalten werden. Und das mache ich nicht mit.

Niemand wird heute hier umkommen. Das Sterben steht mir bis hier.« Er streckte wieder die Fühler durch die Gedankenverbindung aus, trommelte alle zusammen, die das Labyrinth durchschritten hatten, und konzentrierte ihre Willenskräfte durch Tobias Mond. Gemeinsam drangen sie durch Monds Bewußtsein in das der aufgerüsteten Menschen hinein vor, wie Bojen aus Licht, die auf einen dunklen Ozean hinaustrieben.

Die Hadenmänner versuchten, sie hinauszuwerfen, unterstützt von den großen Lektronen, die sie alle miteinander verbanden, aber Mond gehörte noch zu ihnen und bildete damit eine Bresche in ihr Gemeinschaftsbewußtsein, und er duldete nicht, daß sie ihn ausschlossen. Das Gemeinschaftsbewußtsein der Hadenmänner – es war eine riesige Landschaft, das Produkt hunderttausender Einzelpersönlichkeiten, und zunächst gingen die Labyrinthdenker darin fast unter. Aber das Denken der Hadenmänner war begrenzt durch die Logik der Lektronen, denen sie gestatteten, den Zusammenschluß bereitzustellen. Owen und seine Gefährten ihrerseits wurden angetrieben von dem Zorn über das Grauen, das in den Laboratorien geschah, und verstärkt durch die Macht des Labyrinths kombinierten sie ihr Empfinden zu einem einzelnen Hammerschlag der Entrüstung, der krachend ins Gemeinschaftsbewußtsein der Hadenmänner fuhr und es wie einen Spiegel zertrümmerte. Hunderttausende einzelner Splitter fielen auseinander, zerbrochen auf dem Amboß eines stärkeren Glaubens, als sie ihn hatten. Die Dunkelheit wich, und es war nur noch Licht. Owen und seine Gefährtinnen betrachteten, was sie getan hatten, sahen, daß es gut war, zogen sich aus ihrer Verbindung zurück und sanken jeder ins eigene Bewußtsein zurück.

Owen blinzelte mehrfach, sammelte seine Gedanken und sah sich im Labor um. Die Hadenmänner standen immer noch an denselben Positionen wie zuvor, aber das Leuchten ihrer Augen war erloschen. Keiner von ihnen bewegte sich. Hazel streckte vorsichtig die Hand aus und versetzte dem nächststehenden einen leichten Stoß. Er schwankte auf den Beinen hin und her und wäre beinahe gestürzt, traf aber keinerlei Anstalten, sich zu halten. Owen verspürte ein fast hysterisches Bedürfnis, ihn hinfallen und alle anderen wie Dominosteine umreißen zu sehen.

»Sie sind nicht tot«, sagte Mond leise, »sondern abgeschaltet.

Sie alle. Ihre Gehirne haben sich lieber selbst abgeschaltet, als das zu betrachten, was wir ihnen zeigen wollten.«

»Jetzt mal langsam!« verlangte Hazel. »Wir haben sie alle ausgeschaltet? Im ganzen Gebäude?«

»Überall in der Stadt, überall auf Brahmin II«, sagte Mond.

»Ich stehe nach wie vor mit den Hauptrechnern in Verbindung.

Die Systeme laufen weiter, aber niemand ist mehr da, der sie bedient. Die Hadenmänner auf anderen Planeten sind nicht beeinflußt, aber die Herrschaft der Hadenmänner hier ist vorbei.«

»Ich habe sie ins Imperium zurückgeholt«, sagte Owen. »Ich schätze, da ist nur passend, daß ich sie auch wieder abgeschaltet habe. Wer weiß, vielleicht können wir sie eines Tages… umprogrammieren und ihre menschliche Natur wiedererwecken, wie wir es bei Euch getan haben, Mond.«

»Ja«, sagte Mond. »Vielleicht eines Tages.«

»Bis dahin nehmen wir lieber Kontakt mit dem Imperium auf und fordern einen Hilfseinsatz an«, schlug Owen vor. »Eine Menge Leute hier brauchen eine Menge Hilfe, sobald wir sie erst mal aus den Maschinen der Hadenmänner befreit haben.

Vielleicht werden wir nie alles heilen können, was ihnen angetan wurde, aber wir müssen es zumindest versuchen. Wir müssen so viele retten, wie nur geht.«

»Du bist nicht dafür verantwortlich«, sagte Hazel sanft. »Für nichts von alldem. Laß es gut sein.«

»Vielleicht«, sagte Owen. Er sah Mond an. »Ihr habt Euer Volk wiederum verloren. Es tut mir leid.«

»Sie waren im Grunde nie mein Volk«, sagte Mond. »Ich habe mir nur gewünscht, sie wären es.«

»Komm mit uns«, schlug Hazel vor. »Sei wieder einer von uns. Wir sind jetzt deine Familie.«

Mond sah Bonnie und Mitternacht an. »Das dürfte… interessant werden. Seid Ihr beide wirklich andere Versionen von Hazel?«

»Wir denken lieber, daß sie eine andere Version von uns ist«, antwortete Mitternacht. »Und wir haben uns entschieden, noch eine Zeitlang zu bleiben und zu sehen, wie sich die Dinge in diesem Universum entwickeln.«

»Richtig«, bekräftigte Bonnie. »Ich könnte eine Pause brauchen, was die Regierungstätigkeit auf Nebelwelt angeht, und ich habe ein bißchen heiße Aktion hin und wieder richtig vermißt.«

»Und es bedeutet auch, daß wir mehr Zeit mit Owen verbringen können«, erklärte Mitternacht fröhlich.

»Oh, toll«, sagte Owen und hatte einen finsteren Blick für Hazel übrig, die ihr Lachen zu unterdrücken versuchte.

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