Achmeds Misstrauen war ein fester Bestandteil der Kultur, die er in Ylorc eingeführt hatte, und manchmal führte es zu ungewöhnlichen Verhaltensweisen, die an den meisten Höfen des Kontinents undenkbar gewesen wären. Wenn er abreiste, war dies meist ein gut gehütetes Geheimnis. Wann immer der König den Berg verließ, geschah es nicht mit dem Pomp und Zeremoniell, das viele Monarchen bevorzugten, sondern im Schutz der Dunkelheit und mit so wenig Aufsehen wie möglich, damit die Zahl der Leute, die von seiner Abwesenheit wussten, klein gehalten wurde. Achmed wich von dieser Angewohnheit nur ab, wenn seine ihm bekannten oder unbekannten Feinde wissen sollten, dass er fort war.
Der Sergeant-Major nahm an dieser Scharade bereitwillig teil, da sie Achmeds Verfolgungswahn ein wenig linderte. Er machte sich nicht die Mühe, dem Bolg-König zu erklären, dass jedes schlagende Herz in seinem Reich genau merkte, wenn er wegging, denn alle spürten deutlich, wie dann die Spannung nachließ. Nur wenige Stunden nach Achmeds Abreise fühlte praktisch jeder seiner Untertanen in den Tunneln der Berge vor der Verfluchten Heide die Abwesenheit des Herrschers und konnte deshalb ein wenig freier atmen.
Achmed bemerkte allmählich den widersinnigen Umstand, dass das Einzige, was seine Untertanen mehr als seine Abwesenheit fürchteten, seine Anwesenheit war, und wurde daraufhin noch gereizter und besorgter. Insgeheim freute er sich aus anderen Gründen auf Rhapsody, als er Grunthor gegenüber genannt hatte. Ihre natürliche Musik und die Schwingungen, die sie ausstrahlte, beruhigten seine gespannten Nerven und bloßliegenden Adern und besänftigten die angeborene Erregung, in der sich sein seltsamer Körper andauernd befand. Er unternahm diese Reise sowohl, um Leute an ihre Versprechen zu erinnern, als auch zum Eigennutz und fieberte dem Aufbruch entgegen, auf dass er wenigstens ein bisschen körperlichen Frieden fände. Deswegen war er sehr aufgebracht, als er in seinem eigenen Thronsaal aufgehalten wurde. Er hielt eine Tasche in der einen Hand und den Zirkel in der anderen, als Kubila erschien, der Archont des Handels und der Diplomatie, und unruhig am Eingang zur Großen Halle auf die Erlaubnis zum Eintreten wartete.
»Was ist los?«, fragte der König gereizt und bedeutete dem jungen Mann, näher zu kommen.
Der Archont räusperte sich. »Hier ist ein Botschafter, der Euch sprechen möchte, Herr.«
»Ein Botschafter?«, meinte Achmed ungläubig. »Es ist mitten in der Nacht.«
»Ja, Herr«, erwiderte Kubila nervös. Wie die anderen Archonten, so hatte auch er keine besondere Angst vor dem König; dazu behandelte Achmed ihn mit zu großem Respekt. Doch er war sich durchaus der Gefährlichkeit der Lage bewusst, was ihm eine Gänsehaut verschaffte.
»Narr«, murmelte Achmed und ergriff die Tasche mit der anderen Hand. »Schick ihn fort.«
Der Bolg-Diplomat räusperte sich noch einmal. »Herr, dieser Mann kommt von sehr weit her. Es könnte klug sein, seiner Bitte zu entsprechen. Er behauptet, er werde nur einen Augenblick Eurer Zeit in Anspruch nehmen.«
»Selbst wenn er von der untergegangenen Insel Serendair käme, wäre es mir egal«, gab Achmed zurück. Er deutete mit dem Kopf auf die Tür hinter dem Thron. Grunthor nickte und ging darauf zu.
»Herr, dieser Botschafter kommt von den Nain«, sagte Kublia rasch.
Seine Worte verloren sich in dem großen Raum. Achmed erstarrte, drehte sich dann langsam um und sah den zitternden Archonten an. Er holte tief Luft und stieß sie vernehmlich wieder aus. Dann übergab er Grunthor die Tasche.
»Ich treffe dich draußen«, sagte er und händigte ihm auch den Zirkel aus. Der Sergeant nickte.
Achmed wartete, bis der Riese den Raum verlassen hatte, und wandte sich dann wieder Kubila zu.
»Schick ihn herein«, sagte er knapp.
Kubila nickte und kehrte zum Haupteingang zurück. Er zog einen der beiden gewaltigen Türflügel auf, die zu Gwylliams Zeiten geschnitzt und mit reinem Gold belegt worden waren, und trat zur Seite.
Einen Augenblick später schritt ein Mann in den Raum. Hals und Schultern waren breit, die Brust war wie ein Weinfass geformt, und die Beine waren stramm und stark. Er war einen halben Kopf kleiner als Achmed, doch seine Haltung war so gerade und stolz, dass es wirkte, als sei er genauso groß wie der König. Sein Bart, der ihm bis auf die Brust hing, war am Kinn braun, in der Mitte silbern und an den gekräuselten Spitzen weiß. Die Haut war lohfarben und hatte einen blässlichen Unterton; es war das Anzeichen für ein Leben unter den Bergen, fernab der Sonne, aber nahe der gewaltigen Hitze von Schmiedefeuern. Als er den Raum betrat, fiel das Licht der Wandfackeln auf sein Gesicht, und das Blaugelb in den Augen des Mannes glimmerte in der schwach erleuchteten Halle wie bei einem wilden Tier.
»Freut mich, Euch zu sehen, Herr«, grüßte der Mann Achmed stramm. »Ich bin Garson ben Sardonyx, Abgesandter Seiner Majestät Faedryth, des Herrn der Fernen Berge.«
»Ich weiß, wer du bist«, sagte Achmed abfällig. »Ich habe deine Gegenwart und die deiner Genossen während meiner Amtseinsetzung und vor vier Jahren auf dem cymrischen Konzil ertragen müssen. Eure Gesandtschaft hat zehnmal mehr als alle anderen zusammen gegessen und getrunken und einen Abfall hinterlassen, der erst vor kurzem vollständig entfernt werden konnte. Was willst du?«
Der Anstrich der Höflichkeit verschwand aus den Augen des Nain. Er griff unbewusst an seine Bartspitze und rückte sie wütend zurecht.
»Ich sehe, dass Ihr wie immer in einer sehr angenehmen Stimmung seid, Euer Majestät«, sagte er gereizt.
»Genau wie ich. Einen mitternächtlichen Besuch in Ylorc zu empfangen, ist sicherlich nur wenig unangenehmer, als einen machen zu müssen. Doch es galt, Euch zu erwischen, bevor Ihr zum Winterkarneval nach Navarne abreist, zudem Ihr meinen Kenntnissen zufolge eingeladen seid. Ich will es kurz machen.
Ich habe eine Botschaft von Seiner Majestät, König Faedryth.«
»Und wie lautet sie?«, fragte Achmed ungeduldig.
Der Botschafter der Nain hielt Achmeds Blick stand.
»Er weiß, dass Ihr versucht, die Lichtschmiede wiederherzustellen«, sagte er mit bedeutungsschwerer Stimme.
»Er hat mich gebeten, Euch zu sagen, dass Ihr das nicht tun dürft.«
Sehr lange schauten sich der Bolg-König und der Botschafter der Nain schweigend an. Dann verengten sich Achmeds verschiedenfarbige Augen hinter den Schleiern.
»Du bist den ganzen Weg von deinem Land bis hierher gereist, um mir das zu sagen? Du bist ein tapferer Mann und hast zu viel freie Zeit.«
Garson wandte den Blick nicht ab. »Mein König hat es mir befohlen.«
»Nun, das verwirrt mich«, sagte Achmed und setzte sich auf den Stuhl aus altem Marmor, durch den sich blaue und goldene Adern zogen. »Ich weiß von keiner Lichtschmiede. Dennoch hat Faedryth es gewagt, meinen Zorn heraufzubeschwören, der, wie du weißt, beachtlich sein kann, indem er dich hergeschickt hat, damit du mitten in der Nacht in meine Gemächer stürzt und mir einen Befehl erteilst? Selbst ich, der ich weniger von Diplomatie und Etikette halte als jeder andere, finde das beleidigend.«
»Vielleicht habt Ihr einen anderen Namen dafür«, sagte Garson gelassen, ohne die Einwände des Königs zu beachten. »Aber ich vermute, Ihr wisst, wovon ich spreche. Die Lichtschmiede ist ein Gerät, das die Nain vor elf Jahrhunderten für den Visionär Gwylliam gebaut haben. Dabei handelt es sich um eine Maschine aus Metall und farbigem Glas, die in einen Berggipfel eingelassen wird und das Licht zu verschiedenen Zwecken manipuliert. Sie wurde im Großen Krieg zerstört, was richtig war, denn sie zapfte eine Macht an, die unstabil und unvorhersehbar war. Sie stellt nicht nur für Eure Feinde und Verbündeten, sondern auch für Euer eigenes Königreich eine große Gefahr dar. Ihr versucht etwas zu erbauen, was Ihr nicht vollständig versteht. Eure Dummheit wird Euch und wohl auch diejenigen, die sich in Eurer Nähe befinden, in den Untergang führen. Ihr habt es ja schon gesehen. Das verdorbene Glas aus Eurem ersten Versuch liegt immer noch über das ganze Land verstreut. Das ist eine Narretei von unaussprechlicher Unbesonnenheit. König Faedryth befiehlt Euch, zu Eurem eigenen Nutzen und zu dem des Bündnisses sofort damit aufzuhören.«
Der Bolg-König hielt die Hände vor die Lippen und faltete sie nachdenklich. Er schaute den Nain-Diplomaten an, der wie angewurzelt auf dem polierten Marmorboden der Großen Halle stand. Über die untere Hälfte seines verborgenen Gesichts legte sich ein schiefes Lächeln, das sich in seinen Augen widerspiegelte.
»Woher weißt du eigentlich das alles?«, fragte er beiläufig. »Euer verstecktes Königreich liegt so weit entfernt, dass selbst die Postkarawanen es nicht erreichen. Für die Welt sind die Nain unsichtbar. Wir könnten nicht stärker voneinander getrennt sein, wenn ein Ozean zwischen uns läge. Woher wisst ihr etwas über meine Unternehmungen?«
»König Faedryth hat es sich zur Aufgabe gemacht, Ereignisse zu überwachen, die eine schreckliche Auswirkung auf die Welt haben könnten, Herr«, antwortete Garson überheblich. »Die Informationen finden ihren Weg zu ihm, wann immer es von Bedeutung ist.«
Achmeds Belustigung zerstob. Langsam stand er von seinem Thron auf – wie eine Schlange kurz vor dem Zustoßen.
»Lügner«, sagte er verächtlich. »Die Nain haben der Welt vor vier Jahrhunderten den Rücken zugekehrt. Ihr habt kein Interesse am alltäglichen Gang der Welt außerhalb eures Reiches und auch keine Möglichkeit, etwas davon zu erfahren, selbst wenn ihr es wolltet. Und dennoch stehst du hier und berichtest mir die Einzelheiten meines geheimsten Projekts auf Befehl eines Königs, der glaubt, er habe das Recht, mir zu befehlen, was ich zu tun habe.«
Er durchmaß den Raum, blieb unmittelbar vor dem Botschafter der Nain stehen und schaute ihm in die glühenden Augen.
»Ihr habt selbst eins«, sagte Achmed gleichmütig. »Ihr habt euren eigenen Apparat gebaut und benutzt dessen Wahrsagefähigkeiten, um mein Land auszuspionieren. Nur so habt ihr es erfahren können.«
Garson starrte ihn in eisigem Schweigen an.
Achmed wandte dem Botschafter den Rücken zu und kehrte zu seinem Thron zurück. »Verlass sofort mein Reich«, befahl er und gab Kubila ein Zeichen, der im dunklen hinteren Teil der Großen Halle gewartet hatte.
»Kehre zu deinem König zurück und sage ihm von mir, dass ich früher einmal Respekt vor ihm und der Art hatte, wie er sein Reich regiert. Er hat eine genauso geringe Meinung von den Cymrern wie ich und ist ein widerstrebendes Mitglied des Bündnisses – so wie ich. Er bleibt in seinen Bergen wie ich in den meinen. Aber wenn er weiterhin mein Land ausspioniert oder mir Abgesandte schickt, die mir sagen, was ich tun soll, werde ich die Möglichkeiten der von euch so genannten Lichtschmiede ausloten, sobald sie einsatzbereit ist. Ich überlasse es eurer Phantasie, welche das sein könnten.«
»Ich bezweifle, dass ich diese Botschaft Faedryth wirklich überbringen soll«, sagte der Abgesandte.
»Du solltest nicht zweifeln, Garson. Geh jetzt.«
Achmed wartete, bis der Nain-Diplomat aus der Großen Halle geschritten war, und wandte sich dann an Kubila.
»Krinsel soll hier auf mich warten, wenn ich zurückkehre.«
Grunthor legte gerade den Zirkel zurück in das Lederetui, als Achmed auf dem Gipfel des Berges aus Kies und Asche erschien, der als letztes Hindernis vor dem Grab des Erdenkindes diente.
Der Riese sagte nichts, als der Bolg-König auftauchte, doch Achmed sah selbst aus der Ferne die stille Verzweiflung in seinem Blick. Als er schließlich den Katafalk erreicht hatte, auf dem das Kind lag, erkannte er den schattenhaften Umriss dort, wo es früher an diesem dunklen Ort gelegen hatte. Sein Körper war kleiner geworden.
»Es schrumpft immer noch«, sagte er laut. Er sprach die Worte aus, um sie greifbar zu machen; vorher hatten sie schwer und schmerzhaft in der Luft über seinem Kopf gehangen.
Grunthor nickte nur und schloss den Behälter mit dem Messzirkel.
Achmed fuhr mit der behandschuhten Hand sacht über das Haar des Erdenkindes, das nun goldbraun wie der trockene Weizenspreu in der Steppe hinter den Bergen war. Dann folgte er Grunthor durch den Gang zurück zum Kessel.
Krinsel wartete in der Großen Halle, wie er befohlen hatte. Sie wirkte ausgemergelt. Ihr dunkles Gesicht war ausdruckslos. Sie war den größten Teil der Nacht auf den Beinen gewesen und hatte seine Rückkehr erwartet. In der Hand hielt sie die Liste der Opfer, die noch immer von der Krankheit gequält wurden. Ihr jeweiliger Zustand war von den einzelnen Heilfrauen und ihren Gehilfinnen sorgfältig verzeichnet worden.
»Neue Todesfälle?«, fragte Achmed, als er vor ihr stehen blieb.
Die Hebamme schüttelte den Kopf.
Der Bolg-König nickte. »Ich glaube, die Sterbewelle hat ein Ende gefunden«, sagte er nachdenklich. »Alle, die diese Pikrinexplosion bis jetzt überlebt haben, werden es wohl schaffen. Der Gurgus ist von allen Resten gesäubert, genau wie die Berge, auf die der Explosionsstaub niedergegangen ist. Jetzt müssen wir es denjenigen, die auf dem Weg der Besserung sind, so angenehm wie möglich machen und rasch wieder zur Normalität zurückkehren. Einverstanden?« Die Hebamme nickte. »Gut. Dann mache ich mich auf den Weg. Ich reise auf einer Route, die parallel zur Karawanenstraße verläuft. Wenn ihr mich braucht, soll Trug einen Falken losschicken.«
»Sag Ihrer Durchlaucht ’n Gruß von mir«, meinte Grunthor trocken, als Achmed zur Tür ging, die ihn zu den Ausgangstunneln des Kessels führte. Sie führten durch die Brustwehre und auf die offene Steppe dahinter. »Und vergiss nicht meine gezuckerten Mandeln. Wenn wir schon das Reich gefährden, sollten wir wenigstens was Leckeres zu essen haben. Bring außerdem jeden Lirin mit, den du auf dem Karneval triffst. Besonders die Dunkelhaarigen, die schmecken am besten.«
»Ich bin in zwei Wochen zurück«, sagte der Bolg-König. »Bis dahin sollte nichts explodieren, in sich zusammenbrechen oder herunterfallen – es sei denn, es ist der Kopf des Nain-Botschafters.«
Die Reise durch die Erde war gleichzeitig Segen und Fluch, fand die Drachin.
Nun umgab sie eine Kraft, die in der eisigen Wüste ihres Nestes nicht existiert hatte. Es war eine schwingende Wärme, die sie in der Erdkruste spürte. Die Erde hieß sie willkommen, auch wenn es noch ein kühles Willkommen war. Die Rückkehr ihres Namens hatte ihr nur Bruchstücke von Erinnerungen gebracht. All jene, die an das Element gebunden waren, aus dem die Linie ihrer Mutter stammte, waren noch immer verschüttet. Unter der Erde war das Lied, das auf ihren Ruf geantwortet hatte, gedämpft und schwerer zu vernehmen, auch wenn es noch irgendwo in der Ferne ertönte. Die Drachin war sich seiner Richtung nach wie vor nicht sicher, und in ihrer Zielstrebigkeit hatte sie oft den Eindruck, dass es von allen Seiten kam, was sie sehr verwirrte. Ihr Verstand, der früher einmal so scharf wie eine Messerklinge gewesen war, wurde immer noch schnell durcheinander gebracht, und oft musste sie mit einer an Wut grenzenden Verzweiflung feststellen, dass sie im Kreis gegangen, den Weg verloren oder einen Pfad durch die Dunkelheit genommen hatte, der sie in die Irre führte.
Doch das ferne Jammern blieb und leitete sie nach Süden und zurück auf den Pfad, wenn sie vom Weg abgekommen war.
Es wird lange dauern, bis ich dort ankomme, dachte sie nach einem besonders enttäuschenden Irrweg. Aber wenn ich es geschafft habe, wird es die Mühen wert sein.
Der Blutdurst in ihrem Herzen brannte heller in der Dunkelheit der Erde.
Um Mitternacht klopfte Talquist an Lasarys’ Tür. Es dauerte einige Minuten, bis der Hauptpriester von Terreanfor halb angezogen zur Tür des Hauses gelaufen war und sie unter Ausbrüchen heftigsten Klopfens geöffnet hatte. Sobald sich die Klinke bewegte und die Tür einen Spaltbreit offen stand, drängte der zukünftige Kaiser herein.
»M... mein Herr«, keuchte Lasarys und raffte sein Nachtgewand. Die Kerze in seiner alten Hand zitterte so sehr, dass ihm das Wachs auf den Unterarm tropfte. »Was ... was ist los?«
»Ist es erledigt?«, wollte Talquist wissen. »Der Soldat – ist er gefällt?«
Der Priester ließ den Kopf hängen und seufzte. »Ja«, sagte er niedergedrückt. »Und in Leinen eingewickelt, das mit heiligem Wasser getränkt ist. Aber er ist noch nicht zum Altar gebracht worden.«
»Gut. Lass das bleiben und bring ihn stattdessen auf den Marktplatz von Jierna’sid.«
»Jetzt sofort?« Der Priester wirkte entsetzt.
»Ja, jetzt. Hol deine Diener. Weck sie auf.«
»Sie ... sie sind erschöpft, mein Herr. Es war ein sehr ergreifender und schwieriger Tag.«
Das Gesicht des zukünftigen Kaisers verhärtete sich im Kerzenschein. »Es wird auch eine schwierige Nacht werden, aber danach können sie sich ausruhen. Hol sie, Lasarys.«
»Ja, Herr.« Der Hauptpriester verschwand in der Dunkelheit seines Hauses.
Jeder einzelne Diener im Kloster des Tempels war nötig, um den Schlitten mit der riesigen Statue aus Lebendigem Gestein auf den Platz vor dem Palast von Jierna Tal zu ziehen.
Talquist hatte seiner Wache, dem Bergregiment, das Jierna Tal und den Kaiser beschützte, befohlen, den Weg zwischen dem Nachtberg und dem Platz der Waage abzusperren und die Bevölkerung fern zu halten. Unter gewissen Mühen hatten sie den abendlichen Frieden aufrechterhalten können. Am Platz der Waage wohnte niemand außer dem Kaiser; daher war es möglich, mitten in der Nacht einen großen Wagen hierher zu ziehen, ohne dass es jemandem auffiel.
Lasarys war während der ganzen Unternehmung still und blass gewesen und sah zitternd zu, wie die Diener langsam den Wagen entluden. Zwanzig von ihnen trugen die eingewickelte Statue auf schweren Balken, an denen sich je zwei Männer abmühten. Langsam erkletterten sie die Plattform, auf der die Waage stand. Als die Priester die gewaltige Gestalt auf die östliche der beiden Waagschalen legten, wandte Lasarys sich schließlich an Talquist. In seiner Stimme lag Qual.
»Was macht Ihr da bloß, Herr?«, flüsterte er verzweifelt. »Bitte sagt mir, dass diese Entweihung einen Sinn hat, einen höheren Sinn. Ich fühle mich, als hätte ich eine Scheußlichkeit begangen, welche die Mutter Erde mir nie verzeihen wird.«
Talquist drehte sich um und beobachtete den leidenden Priester mit Augen, die kurz zuvor noch vor Erregung geleuchtet hatten, nun aber den sanften Glanz des Mitleids zeigten.
»Nur Mut, Lasarys. Was wir hier tun, hat nichts mit Zerstörung oder Entweihung zu tun. Es ist eine Wiedergeburt.« Er klopfte beruhigend auf den Arm des Priesters. »Erinnerst du dich, als ich vor vielen Jahren dein Hilfspriester war und du mir die Geschichten von der Entstehung Terreanfors erzähltest? Von dem Glauben, dass die alten Völker die Samen der Blumen und Bäume gepflanzt hätten und das Lebendige Gestein, das noch voller Schöpferkraft war, diese wunderbaren Statuen erschaffen habe, die noch immer die Basilika schmücken? Dass die Tiere und Vögel auf gleiche Weise gebildet worden seien, nämlich von der Erde selbst, indem sie einen Teil der jeweiligen Tiere verwendete?« Lasarys nickte schwach. »Wenn das der Fall ist, Lasarys, was glaubst du, woher die Soldatenstatuen stammen?«
Der Hauptpriester erbleichte. »Ich ... ich habe keine Ahnung«, stammelte er.
»Wäre es möglich, Lasarys, dass es begrabene Helden der Vorzeit gibt, die in der Wärme der Lebendigen Erde liegen und zu Statuen geworden sind, damit man sie auf diese Weise als große Krieger ehren kann?«
»Ja, das wäre möglich, Herr, aber was ... was der Mutter Erde in die Arme gegeben wurde, sollte dort verbleiben«, erwiderte Lasarys zögernd. »Es wäre Narrheit, es zurückzuholen und die Toten wieder zum Leben zu erwecken. Das ist gegen die Natur.«
Talquist zog verärgert die Brauen zusammen. »Ich habe nicht vor, die Toten zu erwecken, Lasarys«, sagte er scharf und sah zu, wie die Diener die Balken unter der Statue entfernten, die nun auf der Waagschale lag. »Ich versuche nur, ungenutztes Leben zu erschließen. Ich will es sozusagen übertragen.« Er nickte den Dienern wohlwollend zu, die sich über die Stirn wischten und damit andeuteten, dass ihre Arbeit beendet war. »Gut gemacht. Vielen Dank.« Er wandte sich an den Hauptmann seiner Garde und redete so laut, dass die Diener ihn hören konnten.
»Führt diese heiligen Männer in den Palast, wo eine Erfrischung für sie bereitsteht. Nachdem sie gegessen haben, führt ihr sie zu den Wagen und bringt sie zurück zu ihren Betten im Kloster, damit sie sich niederlegen und nach dieser schwierigen Arbeit ausruhen können – alle bis auf zwei.« Die müden Diener des Hauptpriesters verneigten sich und folgten dem Hauptmann der Wache in den Palast.
Talquist gab den Soldaten ein Zeichen. Sie brachten zwei Männer, Dominikus und Lester, zu Lasarys. Sie standen vor ihm und tauschten fragende Blicke aus, rührten sich aber nicht.
»Bringt den Tank der Kreatur herbei«, befahl der Herrscher.
Langsam wurde ein mit Leinwand umwickelter Handkarren aus den kaiserlichen Ställen gerollt. Die Priester schauten zu, wie der Tank ausgewickelt und zerschmettert wurde. Aus dem Schutt wurde ein bleiches Geschöpf von krankhafter Gestalt gezogen, dessen Fleisch schlaff an den Knochen hing und kaum mehr als Knorpel zu sein schien.
»Grundgütiger All-Gott, was ist das?«, flüsterte Dominikus Lasarys zu, doch der Hauptpriester hob die Hand und gebot ihm zu schweigen.
Die Kreatur im Griff des Soldaten zischte und schlug schwach um sich, doch sie war kein Gegner für die Männer in Rüstung. Sie trugen die kämpfende Masse die Stufen hoch zu der Waage und legten sie auf die leere westliche Schale. Dann streckten sie Farons gebogene Arme aus und drückten sie mit Sandsäcken zu Boden. Als die Kreatur schließlich den Kampf aufgegeben hatte, zogen sich auch die Soldaten zurück und ließen Lasarys, die beiden Diener und Talquist auf dem Platz allein. Ihre Schritte verhallten in der Leere. Einen Moment später hörten sie das ferne Klappern von Karrenrädern, als der Wagen mit den Dienern über das Kopfsteinpflaster der Stadt zum am Berg gelegenen Kloster neben dem Haus des Hauptpriesters fuhr.
Stille kehrte wieder ein auf den Straßen von Jierna’sid.
Der Herrscher von Sorbold stieg langsam die Stufen zu dem uralten Gerät, dem Ort des Wiegens hoch, an dem die goldenen Schalen seit vielen Jahrtausenden in diesem Land und dem davor Entscheidungen über Leben und Tod, Krieg und Frieden, das Überleben von Nationen und den Untergang von Tyrannen getroffen hatten.
»Lasarys«, sagte er sanft, »wickle die Statue aus.«
Einen Augenblick blieb der Hauptpriester wie erstarrt stehen, doch dann nickte er zögerlich den beiden Dienern zu. Gemeinsam entfernten die drei heiligen Männer die feuchten Leinentücher, während Talquist gebannt auf die Waagschalen starrte.
Unter der Leinenabdeckung war die Statue noch warm vom Herzschlag der Erde im Lebendigen Gestein. Das weiche Lehmfleisch pulste unter einem statischen Summen. Die äußersten Enden, die Biegungen der Schuhe, das grob behauene Schwert in der rechten Hand und die Spitzen des Rüstungshandschuhs an der leeren Linken wurden allmählich hart und leblos, doch ansonsten war es noch feucht, war noch vielfarbener Lehm, der zu einem großen Mann mit schwerem, steinernem Gesicht und irislosen Augen geformt war, die blind in den Nachthimmel starrten.
Sobald die Statue entblößt war, stellte sich Talquist still vor die Priester und schaute hinab auf das gewaltige Stück Lebendigen Gesteins. Er fuhr sanft und beinahe liebevoll mit der Hand über die massigen Schultern. Sein Gesicht zeigte eine Erregung, die schon beinahe an heilige Entrückung grenzte.
»Stell dir vor, Lasarys«, flüsterte er, »stell dir vor, was alles hier erreicht werden kann. Ich plane dies schon seit der Zeit vor meiner Thronbesteigung. Als ich die Soldaten zum ersten Mal sah, wusste ich, dass in jedem von ihnen die Macht eines ganzen Heeres steckt. Ich bin der Bewahrer der Schuppe des Neubeginns. Verstehst du nicht, Lasarys, dass diese Dinge zusammengefügt werden müssen? Das ist der Schlüssel zu allen Plänen, die ich je geschmiedet habe, seit ich die Macht der violetten Schuppe entdeckte. Was ist, wenn die Waage die Lebensessenz einer nutzlosen Missgeburt, eines kaum lebendigen Stücks Fleisch zu nehmen und sie in diesen Steinsoldaten zu überführen vermag? Könnte er lebendig vor meinem Palast Wache stehen, reglos, aber beseelt, wäre er ein wunderbarer Wächter und eine furchtbare Abschreckung für jeden, der versuchen sollte, mit bösen Absichten in den Palast einzudringen. Und wenn er sich bewegen könnte – wenn er sich bloß bewegen könnte! Er wäre die vollkommene Waffe – ein Steinblock, der völlig unter meinem Befehl steht und vielleicht dieselben einfachen Kommandos begreift wie das Wesen, dessen Leben geopfert wurde, um ihn zu beleben? Stell dir ein ganzes Heer vor – jede Statue von Terreanfor abgeerntet und zum Leben erweckt? Nicht nur die zwanzig in der Kathedrale, sondern die hundert, vielleicht tausend unten in der Stadt der Toten. Stell dir einmal vor ...«
»Das ist Ketzerei, Herr«, erwiderte Lasarys flüsternd. »Ich sage Euch, Ihr wisst nicht, was Ihr tut. Die Eigenschaften des Lebendigen Gesteins sind uns fast völlig unbekannt. Er ist ein Geschenk des Schöpfers, ein uranfängliches Element, ein seltener Schatz ...«
»Geh mir aus dem Weg, Lasarys«, sagte Talquist ungeduldig, drückte den Hauptpriester beiseite und lief hinüber zu der anderen Waagschale, auf welcher die bleiche, schlaffe Gestalt der Missgeburt ausgestreckt lag, die er heute Abend gekauft hatte.
»Guten Abend, Faron«, sagte er freundlich und bemerkte, wie sich Erkennen in den Blick der Kreatur stahl.
»Kannst du mich verstehen?«
Die von Adern durchzogenen Lider des Fischjungen schlössen sich über den trüben Augäpfeln. Es war, als ob er blinzle, aber eine andere Antwort gab er nicht.
Wie ich vermutet habe, dachte Talquist. Nur tierische Intelligenz. Es reagiert wie ein Hund auf seinen Namen und beherrscht vielleicht auch einfache Kommandos. Gut.
Er untersuchte die schweren Hautschichten, die sich um den Bauch des Geschöpfes in Falten gelegt hatten. In ihnen steckten drei Spitzen aus hartem, vielfarbigem Material, an dem getrocknetes Blut klebte.
»Das muss sehr wehtun«, sagte er besänftigend zu der Missgeburt auf der Waagschale vor ihm, während er sacht mit dem Finger über die Falten fuhr. »Erlaube mir, sie für dich zu entfernen.«
Er hob vorsichtig eine Hautfalte und zog die erste Spitze heraus. Wie er erwartet hatte, handelte es sich um eine Schuppe ähnlich seiner eigenen. Sie hatte dieselbe graue Färbung, blitzte aber gelblich auf, als sie aus dem Bauch des Geschöpfs glitt. Faron jammerte gequält, doch Talquist ließ sich nicht ablenken. Er entfernte auch die beiden anderen Schuppen, die alle denselben Ursprung hatten, und schenkte dem Zittern der Kreatur, aus der sie gekommen waren, keine Beachtung. Er hielt sie gegen das Licht der Fackeln auf dem Platz.
Die ausgefransten Ovale hatten dieselbe Mischung aus Grau und Farbe wie seine eigene hoch geschätzte Schuppe und waren mit winzigen geometrischen Mustern durchsetzt, sodass sie wie die Haut eines Reptils wirkten. Wenn sie den Feuerschein einfingen, brachen sie das Licht wie ein Prisma; es schien, als wären alle Farben des Spektrums in ihnen enthalten, doch jede hatte eine Hauptfärbung. Die eine war gelb, die andere rot und die dritte blau wie ein Veilchen. Jede trug eine grobe Einritzung; es waren Runen eines Alphabets wie auf seiner eigenen Schuppe, und auch diese konnte er nicht lesen.
Vor vielen Jahren hatte er die Schrift auf der violetten Schuppe übersetzt, nachdem er einen Schlüssel zu dieser Sprache, dem Altserenischen, im staubigen Museum von Haguefort gefunden hatte, dem Stammhaus Stephen Navarnes, des cymrischen Historikers. Auch hatte er eine Zeichnung seiner eigenen Schuppe entdeckt, und zwar in dem Fragment eines alten Buches, das den Titel Das Buch allen menschlichen Wissens getragen hatte und aus dem Meer gerettet worden war. Den größten Teil hatte das Salzwasser zerstört, doch in den wenigen übrig gebliebenen Seiten hatte er von einer Art Kartenspiel gelesen, das einer serenischen Seherin namens Sharra gehört hatte. Damals war er zu der Überzeugung gelangt, dass seine Schuppe, wie er sie nannte, Teil dieses Spiels war. Es hieß, dass es in der Hand eines Erstgeborenen, die unmittelbar von den uranfänglichen Elementen abstammten, die Macht hatte, Dinge zu zeigen, die das Auge nicht sehen konnte, Wunden zu heilen, die ansonsten unheilbar waren, und Dinge zu ändern, die ansonsten unwandelbar waren.
Unvorstellbare Macht.
Das ist das Spiel, dachte er. Seine Hände schwitzten vor Erregung. Diese Schuppen müssen ein Teil von Sharras Spiel sein.
Das Geschöpf auf der Waagschale zischte ihn wütend an.
»Woher hast du sie, Faron?«, fragte Talquist; es klang, als rede er mit sich selbst. Er griff zwischen die Falten seiner Robe, holte die violette Schuppe hervor und hielt sie mit den anderen gegen das flackernde Licht. Die milchigen Augen der Kreatur weiteten sich.
Alle Schuppen passten zusammen.
Talquists Hände wurden warm. Zuerst hielt er es für eine Auswirkung seiner Erregung, des Schweißes und des wilden Herzschlags. Doch dann erkannte er, dass diese Hitze aus den Schuppen selbst hervorging, als zapften sie gemeinsam eine verborgene Quelle von Hitze und Feuer an.
Sie erkennen einander.
»Lasarys«, sagte Talquist leise, »gib mir deinen Zeremonialdolch.«
»Aber Herr ...«
Der Herrscher streckte gebieterisch den Arm aus und hielt die offene Handfläche nach oben.
Lasarys seufzte, zog seinen Dolch aus poliertem Obsidian hervor und legte ihn mit Bedauern in Talquists Hand.
»Du kannst jetzt gehen«, sagte der zukünftige Kaiser. Sein Ton ließ keine Widerrede zu. »Geh essen und kehre mit deinen Geistlichen in das Kloster zurück. Du hast mir gut gedient.«
Lasarys und die priesterlichen Diener wechselten einen raschen Blick und eilten fort vom Platz des Wiegens. Dominikus und Lester liefen auf die Tür zu, durch welche die übrigen Geistlichen geführt worden waren, doch Lasarys hob die Hand und hielt sie schweigend auf. Er warf einen Blick über die Schulter. Als er bemerkte, dass sie unbeobachtet waren, führte er sie zu einem verborgenen Ort neben der Palastmauer, von wo aus sie den Fortgang der Scheußlichkeiten überblicken konnten.
Der Herrscher legte die drei Schuppen auf den Bauch des Geschöpfs und steckte seine eigene zurück zwischen die Falten seiner Robe. Er ergriff das Messer und hielt es hoch, dann senkte er es über Farons Herz. Im Schatten schauten der Hauptpriester und seine Diener entsetzt zu, wie Talquist vorsichtig die Haut der Missgeburt mit der scharfen Klinge ritzte und sie dann in die Linie aus schwarzem Blut tauchte. Sodann ging er zurück zu der Waagschale, auf welcher der Steinsoldat lag, und stellte sich mit dem Messer in der Hand über ihn. Er ließ einen schwarzen Tropfen nach dem anderen auf die Schale fallen und schenkte dem Jammern aus dem grotesken Mund der Kreatur auf der anderen Schale keinerlei Beachtung.
Jeder Tropfen fiel mit einem klingelnden Laut herab.
In der Dunkelheit leuchteten die Waagschalen auf; die Ketten am Arm des Geräts nahmen das Licht ebenfalls an. Langsam hob sich die Schale mit der schweren Steinstatue und tarierte sich gegen die Schale mit der hilflosen Kreatur aus.
Durch Tränenschleier beobachteten die Priester bleich und schweißnass vor Ekel, wie der Soldat aus Lebendigem Gestein und der verdrehte Körper des Geschöpfes schmerzlich hell erglühten. Das Licht wurde mit jeder Sekunde heller und strahlender, bis es unerträglich geworden war. Lasarys, Lester und Dominikus beschirmten sich die Augen, als die missgestaltete Kreatur auf der einen Schale in dunkle Flammen aufging, in ein schwarzes Feuer, das schrecklich stank und schließlich zu Asche verbrannte.
Die Schalen tarierten sich weiter aus.
Dann schlug die östliche Schale auf den Boden. Die westliche flog nach oben, und die Überreste der Kreatur schössen in einem plötzlichen Blitz in die Luft, wurden vom Nachtwind erfasst und trieben davon.
Das Licht verschwand, und der Platz von Jierna’sid wurde wieder in das nur von Fackeln erhellte Dunkel getaucht.
Zuerst gab es kein Anzeichen von Leben.
Talquist stand wie angewurzelt am Fuß der Waage. Sein Blick glitt von der reglosen Statue auf der östlichen Schale zu der leeren westlichen, in der nun nicht einmal mehr Asche lag.
Nach einem Augenblick aber erzitterte der riesige Soldat heftig und stieß den Atem aus.
Die pulsierenden Farbstreifen wurden dunkler, als die Statue ihren ersten Atemzug tat, und das Purpur und Zinnoberrot, das Grün und Rostrot nahmen den Glanz des Lebens und Atmens an.
Die Augen, die keine Lider hatten, um die steinernen Pupillen zu schließen, blinzelten.
»Ehre sei der Erdenmutter«, flüsterte Talquist.
Die Glieder der Statue dehnten sich unbeholfen. Langsam bewegte sich der schwertlose Arm; der Soldat hob die leere Hand vor das grob behauene Gesicht. Die Finger drehten sich nach innen und streckten sich dann mühsam.
»Steh auf«, befahl Talquist.
Die Statue wandte langsam den Kopf dem Herrscher zu.
»Ich sagte, steh auf«, wiederholte Talquist mit harscherer Stimme. Ihm kam ein Gedanke, und obwohl er sich dabei dumm vorkam, sprach er den Namen des Geschöpfs aus, dessen Leben der Statue geopfert worden war.
»Faron.«
Der Soldat drehte ruckartig den Kopf in Talquists Richtung.
Der Herrscher seufzte enttäuscht. Da er die Macht der Waage und des Lebendigen Gesteins nicht richtig verstand, hatte er gehofft, das Blut des Geschöpfs werde die steinerne Inkarnation des Kriegers aus dem Volk der Eingeborenen des alten Kontinents erwecken. Stattdessen schien es so zu sein, dass das steinerne Wesen eine Verkörperung der Missgeburt selbst war, die er dem Zirkus abgekauft hatte und die so hirnlos wie ein Fisch war. Doch seine Enttäuschung schwand rasch, als er sah, wie die Statue erneut die Arme reckte. Beim nächsten Mal werde ich einen Menschen mit einem guten und fähigen Hirn opfern, dachte er. Der Anblick des zehn Fuß hohen, aus Lehm geformten, atmenden und sich bewegenden Soldaten erfreute ihn dennoch.
Die Statue rollte plötzlich zur Seite und fiel schwer von der Waagschale auf die Planken des Gerüstes, auf dem die Waage stand. Sie rollte sich wie ein Kind im Mutterleib zusammen und schabte mit der Schwerthand über die Bohlen, als wolle sie die steinerne Waffe loswerden.
Talquist trat vor, blieb aber sofort stehen, als der gewaltige Soldat mit der rechten Hand heftig gegen die Bretter schlug. Er kratzte mit einer Eindringlichkeit an dem Steinschwert, die Talquist die Kehle zuschnürte.
»Nein, Faron, das ist ein Schwert. Es ist in Ordnung. Versuch nicht, dich zu entwaffnen ...«
Die gigantische Gestalt schälte mit der rechten Hand das Schwert aus der linken.
»Faron ...«
Mit einem brutalen Griff riss sich die Statue das Steinschwert aus der Hand und warf es Talquist quer über die Plattform entgegen. Der Herrscher sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite. Dann kam der Soldat aus Lebendigem Gestein langsam auf die Knie.
Talquist sah mit wachsender Besorgnis zu, wie der Riese aufzustehen versuchte. Er schien zu glauben, dass seine Glieder weich und biegsam wären. Er erinnert sich an seine alte Gestalt, dachte er, als sich die Statue auf die Beine zog. Sie griff nach unten und versuchte unbeholfen die Schalen zu fassen. Mehrfach fielen sie ihr aus der Hand.
»Faron, ich befehle dir, damit aufzuhören!«, rief Talquist.
Die lebendige Statue hielt kurz inne und starrte mit lidlosen Augen auf die Schuppen in ihrer Hand. Dann taumelte sie schwerfällig auf die Treppe zu. Die drei Schuppen hielt sie fest umschlossen.
Talquist hob die Hände und wollte Faron aufhalten, doch als er erkannte, dass der Titan ohne ein Zeichen des Abbremsens auf ihn zuhielt, schoss er gerade noch rechtzeitig aus dem Weg, damit er nicht unter Farons Füßen zertreten wurde. Der Titan taumelte die Treppe hinunter und trampelte über das Kopfsteinpflaster, bis er stolperte und schwer zu Boden ging. Wieder rollte er sich zusammen, als sei er sich seiner Beine unsicher, doch dann stand er langsam auf und warf einen gewaltigen Schatten im schwachen Licht der Fackeln.
»Faron!«, rief Talquist erneut, aber nicht mehr so laut. Seit er die Steinmuskulatur gesehen hatte, wurde seine Stimme von Angst erstickt.
Aus einer der Seitenstraßen des Platzes drang das Geräusch von Stiefeln auf Stein. Eine Einheit aus vier Soldaten rannte herbei; jeder rief dem anderen etwas zu. Vor dem Schatten der hoch aufragenden Statue blieben sie wie erstarrt stehen.
»Nein!«, rief Talquist, doch Faron setzte sich bereits in Bewegung und rannte auf die Soldaten zu. »Geht ihm aus dem Weg!«, kreischte er.
Zwei der Soldaten gehorchten blind und hasteten auf die Palastmauern zu. Ein anderer zögerte kurz und warf sich dann hinter einen Wagen. Der vierte stand wie angewurzelt da. Er hob seine Hellebarde mit zitterndem Arm. Der Titan aus Lebendigem Gestein drückte ihn gegen die Mauer des Palastes, als wäre er nichts als ein Haufen Lumpen. Ein schreckliches Knirschen hallte durch die Straßen, als der Körper auf die Wand traf und die Knochen brachen.
Die belebte Statue hielt nicht an; sie wurde immer schneller; ihre weiten Schritte gingen in einen raschen Lauf über. Sie eilte durch die Straßen und der Stadtmauer entgegen, verschmolz mit der Dunkelheit und rannte auf die Berge zu, welche die Stadt umgaben.
Benommen stand Talquist auf und starrte in die Schatten. Er versuchte ein Anzeichen des Titanen auszumachen, sah aber nichts als Nacht und Fackeln, die bereits stark heruntergebrannt waren. Er stierte in die Ferne, bis sich der Anführer der Einheit vor ihn kniete. Hinter ihm trugen die beiden Überlebenden den zerschmetterten Leichnam des vierten Soldaten.
»Herr?«
»Ja?«, fragte Talquist kühl.
»Was war das?«
»Eine schlechte Idee«, murmelte der zukünftige Kaiser und fuhr mit der Stiefelspitze an dem großen irdenen Schwert entlang, das sich die Statue aus der Hand gerissen hatte. Der Lehmrand brach ab und rieselte wie Sand auf das Straßenpflaster.
Er starrte weiterhin die leere Straße hinab. »Und eine schreckliche Verschwendung. Die Ernte des Lebendigen Gesteins zerbröckelt nutzlos zu Staub.« Schließlich drehte er sich heftig um, als wolle er Schlaf abschütteln, und schaute auf den Leichnam zu seinen Füßen.
Zu den beiden Soldaten, die ihren toten Gefährten trugen, sagte er: »Bringt ihn ins Kloster von Terreanfor. Legt ihn dort auf die Treppe.« Er schaute den Anführer unmittelbar an. »Sind alle heiligen Männer zurück in Kloster und Sakristei?«
»Ja, Herr.«
»Gut. Sobald ihr den Leichnam abgeladen habt, kehrt ihr in die Kaserne zurück. Die Diener werden sich um die Beerdigung kümmern. Sprich mit niemandem über das, was du gesehen hast; ansonsten wirst du hingerichtet. Sag das auch den anderen. Wenn mir die Sache zu Ohren kommt, weiß ich, woher.«
»Ja, Herr.« Der Soldat verneigte sich und beeilte sich, zu den beiden anderen aufzuschließen.
Sobald die Soldaten außer Sichtweite waren, ging Talquist zum Tor von Jierna Tal und rief den Hauptmann seiner Leibwache herbei.
»Sind Kloster und Sakristei mit Öl und Magnesium vorbereitet worden?«
Der Hauptmann nickte schweigend.
»Gut. Es sind jetzt drei Soldaten mit dem Leichnam eines vierten dorthin unterwegs. Sobald die Soldaten den Körper auf die Stufen des Klosters gelegt haben, entzündet ihr das Öl.«
Der Hauptmann schluckte, zeigte ansonsten aber keine Reaktion. »Was ist, wenn sie irgendwie in die Explosion geraten?«
»Treibt sie mit Pfeilfeuer zurück.«
Der Hauptmann, der an solche Befehle gewöhnt war, nickte bloß. »Auch die heiligen Männer? Das heißt, falls sie das Feuer überleben sollten.«
Talquist schüttelte den Kopf. »Sie sind schon tot. Das Gift aus dem Essen müsste inzwischen wirken. Ich will, dass es keine Zeugen und keine Spuren gibt. Es wird sie nicht geben, denn Magnesium brennt heißer als die Flammen der Unterwelt. Ein tragisches Feuer. Der Seligpreiser wird sicherlich in großer Trauer sein. Vielleicht wird er dafür sorgen, dass seine Gefolgsleute hiernach sicherere Unterkünfte erhalten.«
Der Hauptmann der Wache verneigte sich und zog sich zurück.
Talquist blieb noch bis zum Morgen auf dem Platz von Jierna’sid stehen. Er suchte mit dem Blick die Berggipfel nach einem Anzeichen des Titanen ab, sah aber nichts als die rosafarbenen Strahlen der Dämmerung, die ihr Licht über die gewaltige Wüste ergossen, und hörte nichts als den Herbstwind, in dessen Jaulen sich keinerlei Worte verbargen.
Als der Platz des Wiegens endlich ganz leer war, als das Licht im Herrscherturm von Jierna Tal gelöscht wurde und nur das schwächste Glühen der bis zum Ende des Dochts heruntergebrannten Straßenlaternen übrig geblieben war, krochen der Hauptpriester von Terreanfor und seine beiden überlebenden Hilfspriester aus den Schatten. Sie zitterten noch genauso wie in den letzten Stunden.
Sie standen schweigend da und beobachteten, wie die Flammen die fernen Hänge des Nachtberges erleuchteten. Ihr Heim brannte. Schließlich berührte Lester mit bebender Hand den Arm des Hauptpriesters.
»Was sollen wir jetzt tun, Vater?«, flüsterte er. Seine Stimme klang viel jünger, als er war.
Lasarys starrte auf den Widerschein der Flammen und war in Gedanken verloren. Schließlich traf sein Blick den des jungen Priesters.
»Wir müssen nach Sepulvarta in die heilige Stadt gehen«, sagte er leise und vergewisserte sich, dass niemand sie sah. »Dort ist der Seligpreiser. Wir müssen Nielash Mousa finden und ihm berichten, welch schreckliche Dinge wir mit angesehen haben. Aber wir müssen vorsichtig sein. Talquists Spione sind überall.«
»Sepulvarta ist einen Wochenritt entfernt«, sagte Dominikus mit tiefer Stimme. »Wie sollen wir es bis dahin schaffen? Wie sollen wir die Wüste ohne Vorräte und Hilfe durchqueren? Wir werden sicherlich sterben oder, schlimmer noch, entdeckt werden.«
»Nicht, wenn wir besonnen und vorsichtig sind«, antwortete Lasarys. »Talquist glaubt, wir seien tot. In den Augen der Welt müssen wir es sein – wenigstens bis wir mit dem Segner von Sorbold gesprochen und ihn in Kenntnis darüber gesetzt haben, was in dieser schrecklichen Nacht passiert ist.«
Er zog die Kapuze seiner Robe gegen den bitteren Sandwind hoch. Sofort folgten die anderen beiden seinem Beispiel. Dann führte er sie in die dunklen Gassen von Jierna’sid und in die gewaltige Wüste hinter der Stadt.
In jüngeren Jahren hatte Gwydion Navarne den Winterkarneval geliebt.
Das Fest war eine Tradition, die sein Großvater begründet und sein Vater fortgesetzt hatte und die einen doppelten Zweck verfolgte. Zum einen wollten die Herrscher einen Festtag mit der Bevölkerung der Provinz begehen, und zum anderen war es ein Tag, an dem sich die Führer der beiden Religionen – der filidischen Naturreligion von Gwynwald und der patriarchalischen von Sepulvarta – trafen, um gemeinsame Riten zur Wintersonnenwende durchzuführen. Der Umstand, dass dieses Fest um Gwydions Geburtstag herum stattfand, hatte es für ihn zu etwas Besonderem gemacht, zumindest in seiner Kindheit. Nach dem Mord an seiner Mutter, als er acht Jahre alt gewesen war, hatte er rasch begriffen, dass selbst ein fröhliches und ausgelassenes Fest eher eine Verpflichtung als eine Freude darstellte, wenigstens was den Gastgeber anging.
Stephen Navarne, sein Vater, hatte den Karneval sogar noch mehr geliebt als sein Sohn. Es lag etwas in dem Fallen des ersten Schnees, das Stephens fröhliche Natur noch freudiger gemacht hatte. Gwydion erinnerte sich gern an den Klang der Trompetensalven am Morgen nach den ersten Schneeflocken, die den Beginn des Winters anzeigten. Stephens Aufregung war ansteckend gewesen, selbst für üblicherweise brummige Hausdiener, die ein wenig mehr Schlaf den Hörnerstößen des Hausherrn vorgezogen hätten, welche überdies noch wegen etwas geschmettert wurden, das man sowieso nicht verhindern konnte. Am Morgen des ersten Schnees sah man jedoch jedermann freundlich und mit neuer Kraft herumeilen und sogar bei der Arbeit lachen. Zu Stephens Zeiten war der Winterkarneval das fröhlichste Ereignis im Jahr gewesen, an dem religiöse Zwiste, Grundstücksstreitigkeiten und anderer Zank und Hader zum Wohle von Harmonie, friedlichem Wettstreit und Spaß beiseite gelegt wurden. Am Tag des ersten Schnees wurde der offizielle Wettkampf des Jahres bekannt gegeben. Manchmal war es eine Schatzsuche, manchmal ein Wettbewerb in Eishauerei, ein Dichterstreit oder ein Hindernisrennen. Dazu kamen traditionelle Sportarten, Glücksspiele, Sangeswettstreite, über die Stephen persönlich zu Gericht saß, Komödienaufführungen und Ausdruckstanz sowie Volkstänze, Schlittenrennen, Schneebildnerei und Zauberdarbietungen, und alles wurde gekrönt von einem großen Feuerwerk. Es war ein gewaltiges Vorhaben, ein teures Fest, eine Freude ohnegleichen und eine Quelle der Kraft für die Bevölkerung des Kontinents gewesen.
Bis zum Jahr des Blutvergießens.
Gwydion stand auf dem Balkon der Bibliothek und schaute über das Land seiner Väter. Er atmete die Luft, die nun winzige Tropfen aus gefrorener Feuchtigkeit barg. Der erste Schnee war in diesem Jahr spät gekommen, einen Tag vor Beginn des Winterkarnevals. Erleichtert sah er zu, wie der Schnee allmählich den Boden mit einem weißen Tuch überzog. Die großen, federigen Flocken wehten im heftigen Wind. Die Karnevalspiele waren eigentlich besser, wenn sich schon einige Wochen lang Schnee angehäuft hatte, der umso geeigneter war, je trockener er war, doch Gwydion befand sich nicht in der Stimmung, diesen Schnee zu bemäkeln.
Denn bis er gefallen war, hatte Gwydion überlegt, ob sein Ausbleiben ein Zeichen dafür sein könnte, dass es wieder eine Tragödie gäbe.
Seit dem letzten Winterkarneval waren drei Jahre vergangen. Es war das erste Fest innerhalb der hohen Mauer gewesen, welche sein Vater um die Ländereien in der Nähe der Festung errichtet hatte; mit ihnen hatte er seine Untertanen vor der schrecklichen und wahllosen Gewalt schützen wollen, die eine Geißel des ganzen Kontinents geworden war. Die Mauer war eine Gnade für das Volk gewesen, als eine Kohorte berittener Soldaten unter dem dämonischen Bann eines F’dor-Geistes den Karneval und die Feiernden angegriffen hatten, die soeben das letzte Ereignis des Festes gesehen hatten: ein Schlittenrennen, das hinter der Mauer auf dem offenen Feld stattgefunden hatte. Die Abschlachterei, die dem gefolgt war, war entsetzlich gewesen. Bevor Stephen und sein Vetter Tristan Steward, der Herrscher von Roland, die verängstigten Gäste zurück hinter die Mauern hatten treiben können, waren bereits mehr als fünfhundert Menschen gestorben. Gwydion würde niemals den Ausdruck des beherrschten Entsetzens auf dem Gesicht seines Vaters vergessen können, als er Gwydion und Melisande über die Mauer in die Obhut der Verteidiger gegeben hatte, und die Erleichterung in seinen Augen, als sie in Sicherheit gewesen waren, worauf er sich wieder in die Schlacht gestürzt hatte.
Warum tun wir das wieder?, fragte sich Gwydion. Diese Frage stellte er sich bereits seit dem Tag vor zwei Monaten, als Rhapsody und Ashe ihm ihr Vorhaben eröffnet hatten, den Karneval wieder zu feiern. Seine Magie ist zerbrochen. Wie kann es einen Winterkarneval ohne meinen Vater geben? Sein Geist war der Winterkarneval. Ashes Hand legte sich auf seine Schulter. Gwydion schaute hoch zu seinem Paten, der nur noch eine Handbreit größer war als er selbst. Die himmelblauen Augen des Herrschers, die als Zeichen von königlichem cymrischen Geblüt galten, waren auf das Spielfeld gerichtet, auf dem Dutzende Handwerker nun Bühnen, Zelte und Tribünen errichteten und Gruben für das Feuerwerk aushoben. Die senkrechten Pupillen in Ashes Augen verengten sich in der Helligkeit der aufgehenden Sonne.
»Sieht so aus, als wäre uns das Wetter doch noch wohl gesonnen«, sagte er. »Ich hatte schon befürchtet, wir müssten den Fürbitter Gavin dazu bringen, Schnee herbeizurufen, falls das warme Winterwetter anhält.«
Gwydion nickte, sagte aber nichts. Ashes Vater Llauron war der vorige Fürbitter gewesen, der Anführer des filidischen Ordens der Naturpriester, die sich um den heiligen Gwynwald kümmerten. Bei jenem letzten, schrecklichen Karneval hatte Llauron das vom Dämon besessene Heer aufgelöst, indem er Winterwölfe aus dem Schnee erschaffen hatte, welche die Pferde der sorboldischen Kavallerie erschreckt und dadurch der fliehenden Bevölkerung Zeit verschafft hatten, hinter die Tore zu flüchten. Llauron hatte seinen menschlichen Körper gegen die Elementargestalt des Drachen eingetauscht, dessen Blut er von seiner Mutter Anwyn geerbt hatte, der Tochter der Drachin Elynsynos. Nun hielt er Zwiesprache mit den Elementen und schwebte immer in der Nähe, war aber unsichtbar. Ashe sprach selten über seinen Vater. Gwydion hatte seinem Paten einmal gesagt, er verstehe dessen Verlust, doch der Herr der Cymrer hatte weggeschaut und nur geantwortet, dass seine Lage nicht mit der von Gwydion vergleichbar sei.
»Seit gestern treffen die Gäste ein«, sagte Gwydion, als der Schnee dichter fiel. »Bisher gibt es keine Schwierigkeiten.«
Ashe drehte sich zu ihm um und nahm ihn bei den Schultern. »Es wird keine Schwierigkeiten geben, Gwydion. Ich habe alles unternommen, um sie zu verhindern.« Er drückte tröstend den Arm des jungen Mannes. »Ich weiß, dass du dir Sorgen machst, aber sie sollten diese wichtigen Tage nicht überschatten. Es ist ein besonderer Augenblick für dich und für Navarne. Es gibt gute Gründe, fröhlich zu sein und zu feiern. Mit deiner Amtseinführung ist die Zukunft gesichert.« Er lächelte beruhigend; die Winkel seiner Drachenaugen verzogen sich vor Liebe. »Anstatt dir Sorgen zu machen, solltest du deine Kräfte für das Tauziehen aufsparen. Meine Mannschaft wird die deine gnadenlos durch den Schlamm ziehen, und davon gibt es in diesem Jahr eine Menge. Du solltest darum beten, dass der Boden rasch gefriert.«
Endlich legte sich ein Lächeln um die Mundwinkel des jungen Mannes.
Ashe bemerkte den Wandel und klopfte seinem Mündel auf die Schulter. »Das ist schon viel besser.
Jetzt verstehe ich, warum Gerald Owen es auf sich genommen hat, die Köche zu einer Extraportion Schneezucker nur für dich, Melly und mich zu überreden, sobald genug Schnee gefallen ist, um den kochenden Sirup zu kühlen.«
Gwydion lachte halbherzig, drehte sich um und wollte den Balkon verlassen. Bevor er die Tür erreichte, hörte er, wie sein Pate noch einmal leise seinen Namen nannte.
»Gwydion?«
»Ja?«
Ashe wandte sich nicht um, sondern schaute weiterhin über die nun weißen Felder von Navarne, während der Karneval unter ihm langsam zum Leben erwachte.
»Ich vermisse ihn auch.«
Faron begriff überhaupt nicht, was mit ihm geschehen war.
Als er auf der Waagschale erwacht war, hatte er mit seinen eingeschränkten Verstandesfähigkeiten zuerst geglaubt, er sei tot. Das blendende Licht und die gewaltige Hitze hatten sein geschrumpftes Fleisch mit qualvoller Reinheit übergössen. Faron waren Schmerzen nicht fremd, doch diese Pein war so überwältigend gewesen, dass er geglaubt hatte, es könne nur der Tod sein, nach dem er sich so gesehnt hatte. Als daher das Licht verschwand und der Himmel über ihm aufklarte, war er verzweifelt.
Der Vater, mit dem er sich hatte vereinigen wollen, war nicht da.
Er erinnerte sich nicht daran, wie er fortgelaufen war, und begriff nicht die Hindernisse, die sich ihm in den Weg gestellt hatten. Sie hatten seine Flucht nicht aufhalten können. Er war einfach so schnell wie möglich gelaufen, sobald ihm der Gedanke des Laufens gekommen war – weg von den Schmerzen und hinein in die Wärme der Wüste, die er vom Platz des Wiegens aus spürte.
Nun durchwanderte er allein die Wüste, schritt über Sand und trockenes Gebüsch hinweg und manchmal durch es hindurch, als sei es Luft. Der Körper aus Lebendigem Gestein, das seinen Geist umschloss, war aus der Erde geboren und wog nichts für ihn, wenn er in Berührung mit dem Boden blieb. Jeder Schritt und jeder Augenblick, in dem er den von der Sonne ausgedörrten Boden unter seinen Füßen spürte, verhalfen ihm zu neuer Stärke. Auch betrachtete er sich nicht mehr unwillkürlich als geschlechtslos. Etwas im Geist des Steinkriegers sagte ihm, dass er männlich war, auch wenn er es nur unbewusst erkannte. Außerdem hatte er Erinnerungen bekommen, Bruchstücke von Bildern, die jenseits seines Begreifens lagen. Da waren Schlachtszenen, endlose Märsche, die mit der Geschwindigkeit halb geformter Gedanken kamen und gingen und ihn verwirrt zurückließen. Auch andere Bilder drangen auf ihn ein, menschliche Erinnerungen und solche Szenen, die eindeutig nicht aus dem Geist eines Menschen stammten, sondern von der Erde selbst. Instinktive Gedanken flüsterten ihm auf der elementarsten Ebene zu. Der Winter kommt, sagten sie. Zeit der Brache. Zeit des Schlafes.
Doch jetzt stand die Sonne hoch am Himmel. Die Erde war warm unter seinen Steinfüßen.
Und gab ihm Kraft.
In der Ferne spürte er die Schuppen so deutlich, wie er sie in seinem schimmernden Teich aus grünem Wasser gespürt hatte. Jede rief ihn mit einer Schwingung, die einzigartig auf der Welt war. Diese Schwingungen waren vor dem Aufwachen ein untrennbarer Teil von ihm gewesen. Er konnte sie noch nicht sehen, doch er spürte die Richtung, aus der sie ihn riefen. Der Gedanke an sie besänftigte seinen gequälten Geist und regte ihn gleichzeitig auf, denn die fehlenden Schwingungen nagten an seinem Bewusstsein.
Und da war noch etwas, etwas noch Ferneres. In den Abgründen seines Bewusstseins lag bruchstückhaft und gehüllt in die Dunkelheit der Doppeldeutigkeit die Erinnerung an Feuer.
An dunkles Feuer.
»Das ist demütigend«, sagte Rhapsody. Ashe seufzte. »Das hast du in der letzten Stunde schon dreimal gesagt«, meinte er nachsichtig und beobachtete, wie seine Frau mit einem dicken Umhang unter einer noch dickeren Decke kämpfte. Sie saß mitten auf der Tribüne in einem großen, ausgepolsterten Sessel mit hoher Lehne; die Füße ruhten auf einem weichen Kissen, und der vorgestreckte Bauch war so groß geworden, dass sie kaum über ihn hinwegsehen konnte. Ashe beugte sich zu ihr, küsste sanft ihre Wange, die rot vom Wind war, und strich ihr eine Strähne des goldenen Haars aus den Augen.
»Ich kann stehen«, beharrte sie.
»Na, immerhin einer von uns«, fiel Anborn fröhlich ein. Er saß links von ihr und beobachtete die Parade der Festbesucher ebenfalls von der Tribüne aus. »Jetzt weißt du, wie ich mich fühle.«
»Sie kann auch nicht stehen«, gab Ashe zurück. »Wenn sie steht, muss sie sich entweder erbrechen, oder ihr wird schwindlig.«
»Das passiert mitunter auch, wenn ich sitze«, meinte Rhapsody launenhaft. »Wenn ich mich übergeben muss, wäre es wenigstens schön, zu sehen, auf wen ich mich übergebe.«
»O Herrin, bitte zielt keinesfalls auf die Bauern«, sagte Anborn neckisch. »Dreht Euer hübsches Haupt im Uhrzeigersinn auf Euren Gemahl zu. Er ist schließlich verantwortlich für Euer Leid – oder wenigstens glaubt er das.«
Rhapsody warf Anborn einen wilden Blick zu, lehnte sich unter der Decke zurück und bemühte sich, ein freundliches und gleichzeitig formelles Gesicht zu machen. Die Menge der Feiernden nahm sie nur verschwommen wahr; es war ein Meer aus wogenden Gesichtern und Kleidern, das unter den Wachen, der Tribüne und den flatternden Bannern aus farbiger Seide hindurchfloss, welche von den Türmen Hagueforts herabhingen.
Melisande saß neben ihnen. Ihr Gesicht leuchtete vor Aufregung. Es wurde von einer Pelzkappe eingerahmt, die zum Muff passte, in dem ihre Hände steckten. Die schwarzen Augen schimmerten vom Wind, der Nase und Wangen gerötet hatte.
»Sieh dir nur die Puppen an!«, rief sie freudig zu Rhapsody, als eine Gruppe riesiger, fein modellierter Harlekine an der Tribüne vorbeizog. Die Glieder wurden mit langen Stäben von den Spielern bewegt, die hinter ihnen herschritten und neben den Puppen wie Zwerge wirkten.
Rhapsody gab ihr Lächeln zurück. »Machst du in diesem Jahr bei dem Schneeschlangenwettbewerb mit?«, fragte sie das junge Mädchen.
»Ja, auf alle Fälle«, antwortete Melisande und warf Gwydion einen wissenden Blick zu. »Ich muss schließlich die Familienehre verteidigen, denn beim letzten Mal hat Gwydion in der Endrunde verloren.«
»Das stimmt«, murmelte Gwydion zu sich selbst. Er hatte diesen Teil des Karnevals vergessen. Der Gedanke daran öffnete Schleusentore in seinem Kopf, und die Erinnerungen flössen zurück: der fröhliche Wettbewerb, die komischen Wettrennen, in denen Melisande und die anderen kleinen Kinder mit einem um die Hüfte gebundenen Schlitten gegeneinander antraten, auf dem je ein fettes Schaf saß, die Aufregung bei den Schlittenrennen und das fröhliche Abwerfen der siegreichen Mannschaft durch die Verlierer. All diese guten Erinnerungen waren durch das überschattet, was sich später ereignet hatte. Und über allem hörte er Stephens fröhliches Lachen. Ich muss es festhalten, dachte er. Das war der letzte Karneval meines Vaters. Ich muss ihn auf diese Weise im Gedächtnis behalten.
Er wandte sich an Anborn, neben dem er saß, und deutete auf einen großen, dunklen und dünnen Mann mit Schnurrbart in der Menge. Er wurde von einem kleinen Gefolge begleitet und bahnte sich einen Weg von der Wagenreihe vor den Mauern Hagueforts zum zentralen Festplatz.
»Ist das nicht Trevalt, der Schwertmeister?«, fragte Gwydion.
Anborn kräuselte verächtlich die Lippen. »Ich würde ihn nie mit einem solch hochtrabenden Titel anreden, aber es ist in der Tat Trevalt.«
Gwydion lehnte sich auf seinem Sitz vor und sprach seinen Paten an.
»Cymrer der dritten Generation?«
»Der vierten«, berichtigte Ashe ihn.
»Aber ein Dämel der ersten Generation«, schnaubte Anborn. »Ein Schwachkopf, der sich in das Gewand eines Gelehrten kleidet, ein Schauspieler, der sich mit den Orden eines Soldaten schmückt, weil er einen Krieg überlebt hat, in dem sogar Kinder und blinde Bettler gekämpft haben.«
Gwydion zuckte unter dem beißenden Spott seines Lehrers zusammen und sah Ashe fragend an. Sein Pate gab ihm ein Zeichen; Gwydion stand auf und ging hinüber zu ihm. Ashe beugte sich vor, damit niemand ihn belauschen konnte.
»Anborn hasst Trevalt, weil dieser einmal behauptet hat, er sei ein Blutsverwandter, nur um persönlichen Nutzen daraus zu ziehen«, erklärte er leise. Mehr musste er nicht sagen. Das Entsetzen in Gwydions Blick zeigte deutlich an, dass er die Schwere dieser Untat verstand. Blutsverwandte wie Anborn waren Mitglieder einer geheimen Bruderschaft von Kriegern und Meister in der Kunst des Kampfes, die ihr Leben dem Soldatentum verschworen hatten. Aus zwei Gründen wurde man in diese Bruderschaft aufgenommen: unglaubliches soldatisches Geschick, das man sich während eines ganzen Lebens erworben hatte, oder eine selbstlose Tat, zum Beispiel die Rettung eines Unschuldigen unter Einsatz des eigenen Lebens. Ein Blutsverwandter zu sein bedeutete, eine ungeheure Vertrauensstellung zu haben; es war die höchste Ehre, verbunden mit der höchsten Selbstlosigkeit, und die Mitgliedschaft beinhaltete die unausgesprochene Verpflichtung der Geheimhaltung. Jeder, der vorgab, einer zu sein, war daher eindeutig ein Lügner. Außerdem wurde eine solche Behauptung als schier unerträgliche Beleidigung angesehen.
Er schaute wieder Anborn an, dessen Gesicht noch immer rot vor Zorn war. Trotz seiner Statur saß er kraftlos in seiner Sänfte; die Beine hingen reglos herab. Gwydion empfand Mitleid mit ihm, doch einen Augenblick später bemerkte er, wie Anborn Rhapsody anschaute, die selbst eine Blutsverwandte war, und der Ärger aus seinem Gesicht wich, als sie ihn anlächelte. Sie seufzten beide und beobachteten wieder die Menschenmenge und die Lustbarkeiten.
»An diese Folter musst du dich gewöhnen, Gwydion«, sagte Anborn, als die Reihe der Würdenträger an der Tribüne vorbeimarschierte. »Diese Art von nutzlosem Unsinn stiehlt einem die Zeit, wenn man die Bürde eines Titels trägt.«
Rhapsody schlug den Marschall neckisch. »Hör auf damit. Dein Titel hat dich nie davon abgehalten, dich den höfischen Verpflichtungen zu entziehen.«
»Du vergisst, dass meine Titel nur militärische sind«, erwiderte Anborn. »Ich war das jüngste von drei Geschwistern. Wie ich mit Erleichterung sagen darf, hatte niemand je die Illusion, in mir einen Titelerben zu sehen.«
»Außer der Dritten Flotte, die dich für meinen Titel vorgeschlagen hatte, wie du dich erinnern wirst«, scherzte Ashe. »Wenn du ihn nicht abgelehnt hättest, müsstest du heute noch viel mehr >nutzlosen Unsinn< über dich ergehen lassen.«
Anborn schnaubte verächtlich und wandte sich wieder seinem Becher mit heißem Würzmet zu. Trevalt und sein Gefolge hielten vor der Tribüne an, wie es das Protokoll verlangte, und verneigten sich geziert und tief vor dem Herrn und der Herrin der Cymrer. Rhapsodys Hand schoss hervor und legte sich über Anborns Mund, damit er nicht seinen Trunk auf den Schwertmeister spuckte. Sie lächelte Trevalt freundlich an. Er blinzelte verwirrt, gab ein schwaches Lächeln zurück und ging weiter.
»Also bitte, Onkel, das ist Gwydions letzter Tag vor seiner Amtseinsetzung«, sagte Ashe und versuchte seine Belustigung im Zaum zu halten. »Wir sollten seinen Aufstieg zum Herzog nicht mit einer Rauferei beginnen, oder?«
»Du hast Glück, wenn das alles wäre«, murmelte Anborn in seinen Becher.
Rhapsody, Ashe und Gwydion tauschten einen ernsten Blick und richteten ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Eröffnung des Festes.
»Ich glaube, ich sehe Tristan Steward ankommen«, sagte Gwydion.
»Welche Freude«, meinten Rhapsody und Anborn gleichzeitig im Flüsterton.
Gwydion seufzte und kehrte zu seinem Sitz zurück. Es versprach ein langer Tag zu werden.
Nachdem die Festlichkeiten des Versammlungstages zu einem Ende gekommen waren und das erste Nachtmahl begann, musste er sich eingestehen, dass er den Karneval trotz allem genoss.
Ashe hatte klugerweise die Teilnehmer auf die Einwohner von Navarne und einige eingeladene Würdenträger aus dem cymrischen Bündnis beschränkt, anstatt die Veranstaltung für die ganze Bevölkerung des westlichen Kontinents zu öffnen, wie Stephen es immer getan hatte. Da die Zelte für die geringere Zahl von Zuschauern und Teilnehmern rascher aufgestellt waren, brauchte es statt des ganzen Versammlungstages nur wenige Stunden dazu. Ashe hatte dies vorhergesehen und auf den Nachmittag einige mit Spannung erwartete Darbietungen sowie eine Aufführung des orlandischen Orchesters gelegt, dessen Förderin Rhapsody war. Das Ergebnis war eine fröhliche Bevölkerung in Vorfreude auf die Wettkämpfe und die Musik und ein großer Appetit beim Nachtmahl. Wein und Bier flössen dank Cedric Canderre, dem Herzog der Provinz gleichen Namens, in Strömen. Gwydion war still erstaunt, dass der alte Mann sein Kommen angesagt und eine so großzügige Spende seiner hoch geschätzten Getränke gemacht hatte. Sein einziger, geliebter Sohn Andrew war in der Schlacht beim letzten Winterkarneval als Held gefallen.
Als Gwydion mit Ashe sprach, während die gebratenen Ochsen zerteilt und das Bier gereicht wurden, gesellte sich Tristan Steward zu ihnen, der Herr von Roland und sein Vetter, und grüßte sie beide freundlich. Tristans kastanienbraunes Haar glänzte im Licht des offenen Feuers.
»Ein wunderbarer Beginn, junger Navarne«, sagte er und prostete ihm mit seinem Glas zu. »Als ich die Einladung Eures Paten zum Karneval erhielt, muss ich gestehen, dass ich das als bestenfalls schlechten Geschmack und schlimmstenfalls närrisch ansah. Aber bisher scheint es sich gut anzulassen.«
Gwydion spürte, wie die Luft um ihn herum trocken wurde. Zweifellos wurde der Drache in Ashes Blut angesichts dieser Beleidigung zornig, doch der Herr der Cymrer nahm nur einen weiteren Schluck aus seinem Humpen und sagte nichts.
»Und wo ist Rhapsody an diesem Abend?«, fragte der Herr von Roland, der Ashes Verärgerung nicht bemerkte.
»Zu Bett gegangen«, erwiderte Ashe. »Die Lustbarkeiten des Tages haben sie ermüdet, wie uns alle. Ich werde mich bald zu ihr gesellen.«
Tristans Wangen glühten im Licht der Feuer rot auf. »Schön, das zu hören. Ich habe so etwas wie ein Geschenk für Euch – auch wenn es nur geliehen ist.« Er gab seinem Gefolge ein Zeichen, und drei Frauen traten vor. Sie trugen die Tracht der Hausdienerinnen von Bethania, Tristans Herrschersitz als Regent von Roland. Eine der Frauen war alt, die zweite in mittleren Jahren und die dritte jung, vielleicht zwanzig.
Ashe zog die Brauen zusammen. »Ich verstehe nicht.«
Tristan lächelte und streckte die Hand nach der ältesten Frau aus, die sofort an seine Seite trat.
»Renella war das Kindermädchen meiner Frau und ein sehr geschätztes Mitglied des Haushaltes ihres Vaters Cedric Canderre. Madeleine hat nach ihr geschickt, als unser Sohn Malcolm erwartet wurde, und sie hat auch ihm als Kindermädchen gut gedient. Sie ist eine Gouvernante ohnegleichen und kann wunderbar mit Kindern umgehen. Ich habe sie Euch mitgebracht, damit Ihr ihre Fähigkeiten nutzen könnt, wenn Rhapsody Euer Kind zur Welt bringt.« Er deutete auf die jüngere Frau. »Amitia ist eine Amme, und wie Ihr gesehen habt, ist Malcolm durch ihre Hilfe groß und stark geworden.« Er warf einen Blick über die Schulter auf die jüngste der drei Frauen.
»Und Portia ist Stubenmädchen.«
Ashe sah die drei Frauen misstrauisch an. »Bitte, meine Damen, esst zu Abend. Der Ochse ist angeschnitten und ihr seid heute lange gereist«, sagte er und entließ sie in das Fest. Sobald sie außer Hörweite waren, wandte er sich wieder an den Herrn von Roland. »Ich danke Euch, Tristan, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass wir ihre Dienste in Anspruch nehmen werden. Rhapsody will das Kind selbst nähren, vor allem im Hinblick auf die Besonderheit seiner Abstammung. Wir wissen nicht, was wir von einem Drachenkind zu erwarten haben, das von einer lirinischen und menschlichen Mutter geboren wird. Wenn sie Hilfe bei der Pflege braucht, wird sie sicherlich selbst ein Kindermädchen aussuchen wollen. Und wir haben auf Haguefort genug Stubenmädchen.«
»Zweifellos«, meinte Tristan träge und sah einem Magier zu, der farbenfrohe Pulver in das gewaltige Feuer schüttete, worauf zur Freude der Menge grelle Explosionen Bilder in die Nachtluft bliesen. »Aber Ihr zieht bald nach Hochanger. Vielleicht war es dumm von mir zu glauben, dass Ihr erfahrene Diener bei dem gewaltigen Umzug von Rhapsodys Hausstand brauchen könntet. Mein Fehler.«
Ashe hielt seinen Krug einem der Diener entgegen, der ihn wieder füllte.
»Das ist sehr freundlich von Euch«, sagte er unbeholfen. »Ich entschuldige mich, falls ich undankbar gewirkt habe. Ich werde morgen früh mit Rhapsody reden und in Erfahrung bringen, wie sie darüber denkt.«
»Kann ich sie nicht in Eurem Haushalt lassen, bis das Kind da ist?«, schlug Tristan vor. »Jetzt ist noch nicht abzusehen, wie anstrengend und anspruchsvoll ein Kind – auch ein königliches Kind – sein kann. Wartet ab, ob Ihr eine oder alle drei brauchen könnt. Wenn nicht, schickt sie mit der bewachten Karawane zurück nach Bethania. Ansonsten könnt Ihr sie so lange behalten, wie es Euch beliebt.«
»Vielen Dank«, sagte Ashe, leerte seinen Krug und stellte ihn auf das Tablett des Dieners. »Ich weiß Eure Freundlichkeit zu schätzen. Nun wünsche ich Euch eine gute Nacht. Genießt das Fest.«
»Allerdings«, bemerkte Tristan, als der Herr der Cymrer von der Feier fort- und hin zur Bettkammer seiner Frau eilte. »Auch du genießt das Fest.«
Entgegen Ashes Vermutung schlief Rhapsody noch nicht. Sie teilte die Bettkammer mit einem anderen Mann. Der junge Herr Cedric Andrew Montmorcery Canderre, in seiner Familie als Bobo bekannt, der dreijährige Enkel Cedric Canderres, stürmte freudig durch ihre Räume, spielte im Ankleidezimmer, zog die Kissen von den Stühlen, versteckte sich zwischen den Bettvorhängen und jagte eifrig die getigerte Katze, wodurch er seine verwitwete junge Mutter Jecelyn Canderre in höchste Verlegenheit und die Herrin der Cymrer zum Lachen brachte.
»Es tut mir furchtbar Leid, Herrin«, sagte Jecelyn und versuchte das kleine Kraftbündel zu erwischen. Endlich hatte sie ihn mitten im Lauf eingefangen und warf ihn sich über die Schulter, worauf er ein wütendes Protestgeheul anstimmte. »Er hat den ganzen Weg von Canderre bis hierher im Wagen geschlafen und ist nun so ausgeruht, dass er bis nach Hause laufen könnte. Er wird noch all Eure Gäste in ihren Quartieren aufwecken.«
»Ich freue mich, ihn zu sehen«, sagte Rhapsody und streckte die Hand nach dem kämpfenden Bengel aus. »Ich habe ihn furchtbar vermisst. Falls schon viele Gäste schlafen sollten, haben wir ihnen keinen guten Karneval geboten.« Sie griff in eine Schachtel auf dem Nachttisch, als Jecelyn das Kind neben sie auf das Bett legte, holte ein Ingwerplätzchen heraus und hielt es hoch, um zuerst die Einwilligung der Mutter zu erhalten. Jecelyn nickte, und Bobo sprang auf ihren Schoß, griff sich das Plätzchen und verspeiste es schnell, wobei er die Krümel über die Laken verstreute. Rhapsody fuhr mit der Hand über seine schwarzen, glänzenden Locken; er hatte das gleiche Haar wie sein Vater Andrew. Dann sang sie leise ein Beruhigungslied. Er setzte sich auf ihren Schoß und aß ruhiger. Sie klopfte auf das Bett neben ihr und bedeutete Jecelyn, sie möge sich dorthin setzen. Die müde junge Mutter seufzte und sank erleichtert auf die Matratze.
»Morgen kannst du viel Spaßiges unternehmen«, sagte Rhapsody zu Bobo. Er nickte und reckte sich nach der Plätzchenschachtel. Die beiden Frauen lachten, und Rhapsody gab sie ihm, während sie ihn festhielt, damit er nicht kopfüber aus dem Bett fiel. »Sie sind wirklich wunderbar«, sagte sie, stibitzte zwei Plätzchen und gab eines Jecelyn. »Sie werden in Tyrian hergestellt. Ingwer ist ein Gewürz gegen Übelkeit. Ich kann morgens nichts anderes essen.«
»Ich erinnere mich an diese Zeit«, sagte Jecelyn wehmütig. Ihre Augen verdunkelten sich, und Rhapsody ergriff ihre Hand. Ihr Gemahl Andrew war vor der Geburt seines Sohnes gestorben. Kurz darauf stand Jecelyn auf und ging zum Turmfenster, von wo aus man das gleißende Fackellicht von den beiden Glockentürmen sehen konnte, die vor Hagueforts Vordertor standen. Sie erhellten die dunkle Nacht und den silbrigen Schnee, der nun in sanften Schleiern vor dem Wind hertrieb. »Sind das die Türme, bei denen er gestorben ist?«
»Ja«, sagte Rhapsody und fuhr mit den Fingern durch Bobos Haar. »Man hat sie wiedererrichtet.«
Jecelyn drehte sich zu ihr um. »Welcher war es?«
»Der rechte, glaube ich«, meinte die cymrische Herrin sanft. »Ich bin mir nicht sicher. Ich war während des letzten Karnevals nicht hier.«
»Ja, es war der rechte«, sagte Ashe, der soeben den Raum betreten hatte. Er ging zum Bett, beugte sich hinunter und küsste seine Frau auf die Wange. Dann nahm er den schmatzenden Jungen von ihrem Schoß und hob ihn hoch in die Luft. Er hielt ihn mit dem Kopf nach unten, was Freudenschreie bei dem Jungen und besorgte Blicke bei den Frauen hervorrief. Als Nächstes hielt er Bobo bei den Füßen und schwang ihn zwischen die eigenen Beine. Die Locken des Kindes fegten über den Seidenteppich. Dann zog er ihn wieder zurück und ging mit ihm zu Jecelyn.
»Ich war damals auch nicht hier, aber ich habe die Berichte sorgfältig gelesen. Er und Dunstin Baldasarre sahen den Angriff kommen – sie waren hinter dem Tor – und liefen jeder auf einen Turm zu, denn wenn sie die Glocken läuten konnten, wären Stephen und die anderen auf dem Feld gewarnt. Dunstin nahm den linken Turm, Andrew den rechten. Dunstins Turm wurde durch Katapultfeuer zum Einsturz gebracht, gerade als er ihn erreicht hatte, doch Andrew war schneller und konnte Alarm schellen, bevor ... bevor auch dieser Turm in sich zusammenfiel.«
Ashe ergriff Jecelyns Hand und sah ihr in die Augen. Er verstand, warum sie eine Antwort auf diese und andere Fragen haben musste. Es waren Teile eines Mosaiks, die erst zusammen ein Ganzes ergaben.
Jecelyn nickte und nahm ihren Sohn in die Arme. »Vielen Dank«, sagte sie. »Es hilft mir, es ein wenig zu verstehen. Nun haben wir Euren Abend genug gestört. Vielen Dank, Rhapsody, für die Plätzchen und die Geduld. Wir sehen uns morgen früh.«
»Gute Nacht, Jecelyn. Gute Nacht, Bobo«, rief Rhapsody, als sie im Korridor verschwanden. Bobos Protestjammern hallte von den rosigen Steinwänden Hagueforts wider.
Als das Gekreisch in der Ferne erstarb, brachen die beiden Herrscher in Gelächter aus.
»Siehst du, was uns erwartet?«, meinte Rhapsody, als Ashe kichernd sein Hemd öffnete.
»Ein freudiger Lärm«, erwiderte er, schlüpfte aus seinen Kleidern und in das Bett neben Rhapsody. »Es ist gut, heute einen solchen Krach hier zu haben. Dieser Ort ist erfüllt von der Art von Musik, die Stephen gemocht hat: Lachen, Freudengeheul und fröhliche Auseinandersetzungen. Ich weiß, dass er uns beobachtet, wo immer er jetzt sein mag. Ich hoffe, die Zeremonie morgen erfüllt ihn mit Stolz.«
»Er war immer stolz auf Gwydion und Melisande, Sam«, sagte Rhapsody, öffnete die Arme und hieß ihn in der Wärme der Laken willkommen. Sie fuhr mit den Händen über seine Schulter und entspannte so die Muskeln.
»Ich hoffe, morgen wird auch Gwydion stolz auf sich sein.«
»Er sollte es. Die Zeremonie wird würdig, bescheiden und vor allem kurz sein, was gut für ihn und auch für uns ist. Und dann werden wir uns wieder in die Feierlichkeiten stürzen.« Ashe löschte die Kerze und zog die Laken um sich und Rhapsody. Er machte es sich in der Dunkelheit bequem und atmete tief ein, als er seine Frau in die Arme nahm. Für eine Weile gab es nur noch das Geräusch raschelnder Laken in der Finsternis. Dann erfolgte ein Zittern und
Seufzen, das sogar durch den Wind und den Festlärm von unten hörbar war.
»Was ist?«, fragte Rhapsody.
Aus den Tiefen der Laken drang ein einziges Wort.
»Plätzchenkrümel.«
Das Feuer im Kamin des Gästezimmers knisterte und flackerte im Einklang mit dem Jaulen des Winterwindes vor den großen Fenstern, die den Festplatz überblickten, auf dem die Feiern dem Schlaf gewichen waren. Nur die Hartnäckigsten feierten noch leise weiter.
Tristan Steward hörte, wie die Tür behutsam geöffnet wurde. Er lächelte und nahm noch einen Schluck aus dem schweren Kristallglas voll ausgezeichnetem canderianischem Branntwein.
»Es wurde Zeit, dass du kommst«, sagte er, ohne hinter sich zu schauen. »Ich habe mich schon gefragt, wie lange du dein sittsames Benehmen aufrechterhalten kannst.«
»Ich glaube, ich weiß nicht, was du meinst.« In der Stimme der Frau hinter ihm lag ein kehliges Kichern. Wenn Tristan dieses Kichern hörte, durchfuhr ihn immer wieder eine Welle der Wärme. Er stellte das Glas auf den Tisch vor ihm, drehte sich langsam um und ließ sich vom Feuer den Rücken wärmen.
Die Gestalt der Frau wurde von hinten durch das Fackellicht im Korridor erhellt und warf daher einen langen Schatten in seine Richtung. Sie drehte sich um und schloss die Tür des Gästezimmers, dann schlenderte sie zu dem Herrn von Roland und blieb vor ihm stehen. Sie lächelte ihn anmaßend an.
»Gefallen dir die Festlichkeiten, Portia?«, fragte Tristan und streichelte die Porzellanwange des Stubenmädchens.
Die junge Frau zuckte die Schultern. »Es ist ganz anders, als ich erwartet hatte.«
»Ach? Wieso?«
Die dunkelbraunen Augen der jungen Frau funkelten böse. »Deiner Beschreibung nach hatte ich Trunkenheit und öffentliche Ausschweifungen erwartet. Es ist aber viel zahmer, als ich gehofft hatte.«
»Es ist noch früh«, sagte Tristan, zog ihr das weiße Stubenmädchentuch vom Kopf und warf es auf den Boden.
»Das ist erst die erste Nacht. Früher war sie dazu da, sich hier häuslich einzurichten. Die wahren Feiern beginnen morgen. Aber du hast Recht. Über diesem Fest liegt ein Schatten, wohl wegen des Grauens, das sich hier beim letzten Mal vor ein paar Jahren ereignet hat. Der Herr der Cymrer hat den Umfang des Festes zurückgeschraubt. Ich fürchte, wir müssen die Ausschweifungen im Privaten feiern.«
Portias liebliches Gesicht verzog sich zu einer spöttischen Schnute. »Wo bleibt denn da der Spaß?«, fragte sie heiter. »Wenn das alles ist, hätten wir auch in Bethania bleiben können.«
»Nein, das weißt du«, sagte Tristan und zog die Schlaufen ihres Mieders sowie ihrer Schürze auf. »Es gibt viel für dich zu tun, wenn ich abgereist bin, und es ist sehr wichtig für mich, dass du deine Arbeit gut machst.«
Portia drückte seine Hände von ihren Brüsten weg. »Mache ich das nicht immer?«, fragte sie mit blitzender Belustigung in den Augen. »Mein Herr und Gebieter?«
Tristan holte tief Luft. Was er an Portia am meisten mochte, waren ihre Unverschämtheit und die Fähigkeit, in der Öffentlichkeit so sittsam und schicklich wie jedes bäuerliche Stubenmädchen in seinem Haushalt zu wirken, während sie hinter verschlossenen Türen herrschsüchtig und frech wurde. Zweifellos hätte ein Mann von geringerer Geburt ihre feurige Natur nicht schätzen können, doch Tristan hatte eine Schwäche für starke Frauen.
Ihre groben Neckereien und ihr Hang zur sexuellen Dominanz erinnerten ihn an eine alte, schon seit langem tote Freundin, die er zu ihren Lebzeiten mehr geliebt hatte, als ihm klar gewesen war. Prudentia und er waren am selben Tag im Abstand von nur wenigen Minuten im selben Schloss geboren worden. Er war der älteste Sohn von Malcolm Steward und sie die Tochter der Favoritin und Dienerin seines Vaters. Sie waren unzertrennliche Freunde gewesen; sie war seine erste Geliebte und unermüdliche Vertraute geworden, die ihm oft sein schlechtes Benehmen und seine Fehler vorgehalten, ihn aber blind geliebt hatte. Ihr Tod hatte ihn vernichtet, doch er hatte weiter gelebt und sich durch eine lieblose Ehe mit Madeleine, dem Biest von Canderre, und zahllose Liebschaften mit Dienerinnen gekämpft.
Und durch eine unerwiderte Leidenschaft zur Frau seines Kindheitsfreundes Gwydion von Manosse, dem Herrn der Cymrer.
Schon seit einer Weile war Portia seine bevorzugte Bettgenossin. Ihr wilder Geist und ihre Bereitschaft, zu jeder Zeit mit ihm zu schlafen, sogar an öffentlichen Orten, wo die Gefahr, entdeckt zu werden, ihrer Leidenschaft zusätzliche Nahrung gab, hatte die Leere der letzten Jahre in ihm ein wenig zurückgedrängt. Es war jedoch bestenfalls erregende und zugleich gefühllose geschlechtliche Befriedigung. Schlechtestenfalls war es besser als nichts.
Und alles war besser als Madeleines kalte und formelle Erfüllung ihrer ehelichen Pflichten.
»Beweg dich nicht«, befahl er und drehte sie herum. Portias Brauen hoben sich in Verwunderung, doch sie erlaubte es dem Herrscher von Roland, sie wieder an sich zu ziehen.
»Nun sage mir, wie du die Aufgabe, die ich dir gegeben habe, erfüllen willst«, meinte er und löste die Bänder am Rücken ihres Kleids. Er zog sie ungeduldig ab, und in seinen Augen lag ein Glühen, das vorher noch nicht da gewesen war.
Portia zuckte, als seine Hände wieder über ihre Brüste fuhren, die nun nicht mehr verdeckt waren, und sie von den letzten Resten ihrer Kleidung befreiten.
»Genauso, wie ich es gemacht habe, als du der Preis warst«, sagte sie überheblich, auch wenn das unerwartete Feuer in der Stimme ihres Herrn sie allmählich erregte. »Man muss zuerst einen unaufdringlichen und besonders nützlichen Diener finden, damit man nicht die Aufmerksamkeit oder gar den Zorn der Hausherrin auf sich zieht. Danach ist es nur noch eine Frage der Zeit. Und wenn die Frau einen dicken Kindbauch hat, ist es noch einfacher.«
»Du hast seine Frau noch nicht gesehen«, sagte Tristan Steward. Seine Hände fuhren tiefer. »Sogar an ihren schlechtesten Tagen ist sie hundertmal hübscher, als du an deinen besten Tagen je sein könntest. Um sie webt eine unbeschreibliche Magie. Ich frage mich, wie du dich mit ihr messen willst.«
Portia drehte sich plötzlich um. In ihren Augen blitzte es.
»Wonach riecht sie?«, fragte sie rau. Sie hatte versucht, ihren Zorn aus der Stimme herauszuhalten, und war gescheitert.
Tristan dachte nach. Er sah die schimmernde nackte Frau vor ihm nicht mehr.
»Nach Vanille und Gewürzseife«, sagte er schließlich. »Ein ganz sanfter Geruch von Blumen. Und der scharfe Duft von Sandelholzrauch.«
Portia lächelte. Sie schmiegte sich an den Herrn von Roland, drückte ihre Lippen auf seine und schlang die Arme um seinen Nacken. Plötzlich war seine Nase erfüllt vom Duft von Vanille und reinen, süßen Gewürzen mit einer Unterströmung von Feuer. Es war zwar nicht genau Rhapsodys Geruch, doch er war ihm so ähnlich, dass Tristans Hände erzitterten. Er drückte Portia überrascht weg.
»Wie ... wie hast du das gemacht?«
Die schwarzen Augen tanzten vor Freude.
»Es gibt einiges, was du nicht über mich weißt, mein Herr«, sagte sie. In ihrer seidigen Stimme lag ein bedrohlicher Unterton. »Ich habe sie noch nicht gesehen. Denk an meine Worte: Ich werde dich nicht enttäuschen.« Sie drückte ihn zurück und öffnete seine Hose, während er reglos dastand. »Habe ich das je getan?«
Benommen schüttelte Tristan den Kopf. Unvermittelt hatte Portia etwas Entsetzliches an sich, etwas Grausames und Dunkles und Abgründigeres, das er noch nie an ihr wahrgenommen hatte. Zuerst erkannte er es nicht, weil er so erregt war, doch später, als er allein in seinem Bett lag, begriff er, dass es Angst gewesen war, was er in der Gegenwart dieser Frau und Dienerin gespürt hatte, die ihm unzählige Male zu Willen gewesen war.
Sie warf ihn zu Boden, bedeckte zuerst seinen Mund, dann seinen ganzen Körper mit ihrem. Er war völlig angezogen, sie völlig nackt. Sie nahm ihn in sich auf und ritt ihn erbarmungslos. Er erbebte und fragte sich, was er da in Gang gesetzt hatte.
Und als die großen Fenster den schaukelnden Tanz ihrer Körper widerspiegelten, die ineinander verschlungen auf dem Boden des Gästezimmers lagen, erkannte er, dass er es nicht mehr aufhalten konnte, obwohl er der Herr und sie die Dienerin war.
Die Drachin wurde ungeduldig.
Die Erde in ihrer Umgebung kühlte sich ab, fiel in Winterschlaf, ruhte kalt unter einem Laken aus Schnee, den die Drachin selbst im Süden, durch den sie reiste, über sich spürte. Als die Welt in Schlummer fiel, wurde der Boden fester und war schwerer zu durchqueren. Er erstickte den Klang ihres Namens, dem sie folgte.
Lass mich durch, dachte sie wütend und kämpfte sich durch die Erdkruste. Halt mich nicht auf.
Der Herzschlag der Erde verlangsamte sich. Er flackerte unter ihrem Zorn wieder auf, fiel dann abermals ab. Sie spürte die Antwort in ihren Gedanken oder glaubte es zumindest.
Dieser Zyklus ist älter als du, schien die Erde zu sagen. Lass dir Zeit; es ist endlos.
Nein, beharrte die Drachin und schlug mit dem Schweif gegen Lehm und Felsbrocken. Hilf mir.
Doch die Erde schwieg wieder, wurde noch fester und undurchdringlicher.
In der Dunkelheit der Erdenkruste verengten sich die glimmernden blauen Augen der Drachin und leuchteten wie Laternen in der Schwärze.
Man kann mich bremsen, dachte sie mit langsam wachsender Wut, aber man kann mich nicht aufhalten. Und wenn ich schließlich mein Ziel erreiche, wird selbst die Erde leiden.
Als Rhapsody im grauen Licht der Dämmerung den Garten von Haguefort betrat, um sich auf ihre Aubade vorzubreiten, glaubte sie am Rande ihres Gesichtsfelds einen dünnen Schatten zu sehen. Sie wirbelte so rasch herum, wie es ihr möglich war, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, sah aber nichts außer dem grauen Nebel, der allmählich unter der aufgehenden Sonne zerschmolz.
Dann spürte sie es erneut. Es war eine Schwingung, die sie kannte, und sie lächelte breit.
»Achmed! Wo bist du?«
»Hier«, sagte eine Stimme hinter ihr, die ihr näher war als ihr eigener Schatten. »Wie ich es dir prophezeit habe.«
Sie drehte sich um, schlang die Arme um den Bolg-König und lachte vor Freude.
»Ich bin so glücklich, dass du hier bist«, sagte sie und umarmte ihren ältesten Freund aufgeregt. »Wo bist du gewesen?«
»Ich bin heute Morgen angekommen«, erklärte Achmed, nachdem er sich durch eine schnelle Drehung aus ihrer Umarmung befreit hatte. Er drückte sie sanft von sich und achtete dabei besonders auf ihren gewölbten Bauch.
»Du hast doch nicht wirklich erwartet, dass ich zur Ersten Nacht komme und all den Unsinn und die Protzerei ertrage, die damit einhergeht, oder?«
»Wohl kaum«, lachte Rhapsody. Sie ergriff seinen Arm und spazierte mit ihm durch die Gärten. »Aber ich habe so lange auf dich gewartet, dass ich einfach gehofft hatte, du würdest früher eintreffen. Egal, jetzt bist du hier. Wie geht es dir? Wie geht es Grunthor und allen anderen im Bolgland?«
»Grunthor geht es gut, aber das Bolgland muss leiden«, sagte der König offen heraus. »Wenn du wirklich Mitleid mit uns hast, kannst du uns eine große Hilfe erweisen.«
»Selbstverständlich«, meinte Rhapsody zögernd. Ihre gute Laune wich wie Wasser in einer Gosse, und die Übelkeit kehrte zurück. »Was ist los? Warum leidet das Bolgland?«
»Darüber werden wir später ausführlich reden«, entgegnete Achmed hastig und beobachtete den Farbwechsel am Horizont. »Ich glaube, du hast dein Morgenlied noch nicht gesungen.«
»Stimmt«, gestand Rhapsody. »Ich hatte gerade den Garten betreten, als ich deine Gegenwart gespürt habe.«
»Ich möchte dich nicht stören. Ich muss mit Gwydion sprechen, bevor er zu sehr von den Vorbereitungen zu seiner Amtseinsetzung in Anspruch genommen wird. Welches Fenster ist seines?«
»Das da«, sagte Rhapsody und deutete auf einen Balkon über der Großen Halle. »Spar dir die Kletterei und anschließende Gefangennahme. Ashe geht kein Risiko ein. Überall stehen Wachen, und Soldaten patrouillieren an den Provinzgrenzen.«
»Das habe ich bemerkt«, sagte Achmed trocken.
»Gut für ihn, er hat etwas gelernt. Vielleicht hatte deine Entführung doch einen Sinn.«
»Gwydion befindet sich möglicherweise auf dem Friedhof«, sagte Rhapsody kühl und schenkte der Beleidigung keine Beachtung. »Dort beginnt er für gewöhnlich seinen Tag. Ich vermute, er ist jetzt schon da. Lass ihn bitte kurz allein, bevor du ihn aufsuchst.«
Achmed nickte. »Ich komme danach zu dir zurück; dann können wir reden. Ich brauche deine ungeteilte Aufmerksamkeit. Stell dich also darauf ein, jeden wegzuschicken, der mit dir über Unwesentlichkeiten plaudern will.«
»Gern«, meinte Rhapsody, während er ihr den Arm entzog. Er war soeben aus ihrem verschwommenen Blickfeld verschwunden, als sie jemand anderen spürte. Es war eine andere Schwingung, ein älterer, musikalischerer Klang.
»Guten Morgen, Jal’asee«, sagte sie, ohne sich umzudrehen.
»Guten Morgen, Herrin.« Die wohltönende Stimme trieb ihr leicht wie Äther auf dem warmen Wind entgegen. Einen Augenblick später schien der Meeresmagier aus dem Morgenlicht zu wachsen, doch Rhapsody war sich sicher, dass er die ganze Zeit knapp außerhalb ihres Gesichtsfelds gestanden hatte.
Rhapsody holte tief Luft. Der Meeresmagier und sein Gefolge hatten Haguefort am Morgen nach Ashes Ankündigung, Gwydion zum Herzog zu machen, verlassen und mit Vizekönig Rial das lirinische Königreich Tyrian besucht. Rhapsody hatte gehofft, er werde früher zurückkehren, damit er sie in der Wissenschaft der Magie unterweisen konnte, wie er versprochen hatte, doch seine Abwesenheit hatte ihr klar gemacht, dass die Riten der Insel Gaematria immer noch geheim waren. Sicherlich hatte er einen guten Grund dafür, gerade jetzt wieder aufzutauchen. Er lächelte entwaffnend, beschirmte die Augen und schaute in den Himmel.
»Habt Ihr schon den Tagesstern begrüßt?«
»Noch nicht«, antwortete Rhapsody. Sie wandte sich gen Osten, wo der Stern nun unterging. Eine dünne, rosafarbene Linie hatte das graue Gewölbe des Horizonts durchbrochen und pulsierte im nahenden Licht.
»Es tut mir Leid, dass ich so spät komme. Ich weiß, dass ich Euch eine Unterweisung in jene Geheimnisse versprochen habe, die Ihr noch nicht kennt. Wenn es Euch beliebt, meine Herrin, würde ich Euch gern die Elegie auf den Seren beibringen. Es ist ein Lied, das die Alten komponiert haben, als sie die alte Welt verließen. Dabei handelt es sich um einen Lobgesang an den Schöpfer für das Wunder dieses Sterns. Wir sind der Meinung, dass das Lied uns hilft, miteinander die Verbindung aufrechtzuerhalten, die wir hatten, als wir unsere Hymnen unter seinem Licht in Serendair gesungen haben.«
Rhapsody dachte kurz nach. »Ich fühle mich geehrt«, sagte sie schließlich.
Der große, goldbraune Mann lächelte, nahm ihre Hand in seine und schloss die Augen. Sie folgte seinem Beispiel und spürte einen Augenblick später einen Lufthauch über sich hinwegwispern. Er war im Einklang mit ela, ihrem Namenston, der Schwingung auf der Tonleiter, auf die sie eingestimmt war.
Hinter den geschlossenen Lidern sah oder fühlte sie ein schimmerndes Licht in der Dunkelheit des Universums singen. Der Stern, den sie schon seit so langer Zeit mit ihrer Musik willkommen geheißen hatte, gab das Lob zurück, das Jal’asee ihm sang, doch es war eine andere Antwort, als Rhapsody sie gewohnt war. Sie schien nicht auf der anderen Seite der Welt zu ertönen, sondern geradezu gegenwärtig zu sein. Unabsichtlich öffnete sie die Augen und blinzelte vor Schreck. Ihr Morgensang kam zu einem plötzlichen Ende, während sie Jal’asees Hand fallen ließ.
Ein ätherisches Licht drang unmittelbar aus dem Kopf des Meeresmagiers; es strahlte grell aus seinen Augen. Er beendete das Lied und wandte sich an sie.
»Wer mit ätherischem Licht getauft ist, trägt es in sich, wo immer er ist«, erklärte er. »Es ist für mich nicht nötig, auf den Abend oder den Morgen zu warten, um sein Loblied zu singen, denn sein Licht ist immer in mir.«
»Vielen Dank für die Unterweisung«, sagte Rhapsody und folgte den Vorbereitungen zum Fest mit wachsamem Blick.
»Ist denn der Bolg-König schon eingetroffen?«, fragte Jal’asee höflich. Rhapsody entdeckte einen Anflug von Ungeduld in seinem Blick, doch ansonsten machte der Botschafter eine völlig unbeteiligte Miene.
»Das ist er in der Tat«, sagte Rhapsody und beobachtete besorgt, wie ein Schwärm Köche durch den Schnee stapfte; jeder trug ein Tablett mit Süßigkeiten, Winterfrüchten und Kuchen. »Er sollte jeden Augenblick zurück sein. Ich hatte bisher nicht die Gelegenheit, ihm zu sagen, dass Ihr ihn sprechen wollt.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte Jal’asee sanft. »Ich überlasse Euch Euren Vorbereitungen und mache einen Spaziergang im Schnee. Gaematria liegt in den Tropen; daher haben wir keinen Schnee, es sei denn, wir machen ihn selbst.«
Die Herrin der Cymrer schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, dass ich eines fernen Tages eine Einladung auf Eure Insel erhalte, Jal’asee«, sagte sie und legte sich die Hand auf den Bauch, als das Kind wild ausschlug und ihr starke Übelkeit verursachte. »Sie scheint ein bemerkenswerter Ort zu sein.«
»Ihr müsst sie besuchen, wenn Ihr die Wissenschaft der Magie erlernen wollt, Herrin«, sagte Jal’asee milde. »Sie gleicht der Lehre des Benennens, verlangt aber weitere Fachkenntnisse und hat einen Schwerpunkt auf allem, was das Meer betrifft. Als Wissenschaftler bin ich der festen Überzeugung, dass man den besten Lehrer, Arzt oder Mentor, den man bekommen kann, suchen und sich ganz in seine Hand begeben soll. Diese Leute kennen wenigstens die Irrwege und alles, was auf ihrem Fachgebiet schief gehen kann, denn vermutlich haben sie bereits ihre eigenen schlechten Erfahrungen gemacht.«
Rhapsody lächelte. »Ich hatte einen ganz ähnlichen Gedanken, Jal’asee. Wenn bloß mein Mann zustimmen würde!«
Achmed war zwar Herzog Stephen Navarne freundschaftlich zugetan gewesen, hatte aber noch nie an dessen Grab gestanden. Solche Besuche lagen nicht in seiner Natur. Er hatte in seiner Laufbahn als Mörder und König so oft den Tod gebracht, dass er dessen Endgültigkeit begriff und um die Trennung der Seele von der irdischen Substanz wusste. Deshalb kümmerte er sich nicht um Jahrestage oder die Pflege von Gräbern. Wenn er die Notwendigkeit der Erinnerung spürte, durchkämmte er den Wind und seine eigene Erinnerung, anstatt Blumen auf einem Grab zu pflanzen. Er brauchte nur wenige Augenblicke, bis er Gwydion Navarne in dem stillen, von Immergrün und Schmiedeeisen eingefassten Garten hinter Haguefort gefunden hatte.
Er hatte vermutet, dass eines der größeren Monumente, die in unterschiedlichen Schattierungen alten Marmors erstrahlten, den Ruheplatz von Hagueforts geliebtem Herrn und Verwalter markierte, denn niemand hatte sich mehr um die Renovierung und Erhaltung der rosig-braunen Festung verdient gemacht als Stephen; er hatte auch innerhalb der Festungsmauern das cymrische Museum errichtet. Dabei handelte es sich um ein flaches Marmorgebäude, das die Überreste des aufgeklärten Zeitalters beherbergte, welches begonnen, seinen Höhepunkt gehabt und sein Ende gefunden hatte, während Achmed, Grunthor und Rhapsody durch die Erde gereist waren. Wenn jemand einen der närrisch geschmückten Grabsteine verdiente, die an diesem Ort in den Winterhimmel ragten, dann war es Stephen.
Zu Achmeds Freude war Stephen jedoch nicht in einem Mausoleum mit einem steinernen Obelisken beigesetzt worden, sondern ruhte in der schneebedeckten Erde unter zwei schlanken Bäumen gemeinsam mit seiner Gemahlin Lydia. Eine einfache Bank und eine kleine Marmortafel mit einer Inschrift waren alles, was diesen Ort hervorhob. Achmed hätte ihn nicht bemerkt, wenn da nicht Stephens Sohn gewesen wäre, der still und nachdenklich auf der Bank saß. Er trug eine silberblaue höfische Robe und machte ein ernstes Gesicht.
»Deine Großmutter hatte denselben Gesichtsausdruck in der Nacht, bevor die Lirin sie als Königin eingesetzt haben«, sagte Achmed.
Der junge Mann drehte sich um und lächelte schwach. »Na, dann bin ich ja in guter Gesellschaft.« Er stand auf und streckte die Hand aus. »Willkommen, Majestät. Ich habe Euch gestern nicht gesehen. Seid Ihr gerade erst angekommen?«
»Ja«, antwortete der Bolg-König und schüttelte Gwydions Hand mit seiner behandschuhten Rechten, was er nur sehr selten tat. »Ich habe dir etwas mitgebracht.«
»Ach?«
Achmed holte unter seiner Robe einen in Öltuch gewickelten Gegenstand hervor und übergab ihn Gwydion. Der zukünftige Herzog nahm ihn mit fragendem Blick entgegen, und als Achmed nichts dazu sagte, löste er langsam die Bänder und wickelte das Öltuch aus. Als er die letzte Schicht entfernte, fuhr ihm plötzlich eine heftige Brise durch das Haar und zauste es. Sie war kalt und stechend und schien aus dem Päckchen selbst zu kommen. Inmitten des Tuchs lag ein Schwertgriff aus poliertem schwarzem Metall, wie er es noch nie gesehen hatte. Es war mit verschlungenen Schriftzeichen geschmückt und das Querstück in entgegengesetzte Richtungen gebogen. Eine Klinge gab es nicht.
»Das ist eine uralte Waffe – das Elementarschwert der Luft, das unter dem Namen Tysterisk bekannt ist«, erklärte Achmed ruhig. »Auch wenn du den Schaft und die Klinge nicht erkennen kannst, solltest du dir doch darüber im Klaren sein, dass beides da ist. Sie besteht aus reinem und unnachgiebigem Wind. Sie ist so scharf wie eine aus Stahl geschmiedete Klinge, aber weitaus tödlicher. Ihre Kraft strömt durch den Besitzer des Schwertes. Bis vor kurzem befand es sich in den Händen einer Kreatur, die Rhapsody entführt hatte. Sie war teils Mensch, teils Dämon und ist jetzt tot. Zumindest scheint es so. Das Schwert war vom schwarzen Feuer der F’dor befleckt, doch es wurde in dem Wind gereinigt, der den Griwen umtost, den höchsten Berg der Zahnfelsen. Ich habe es nach dem Kampf, der seinen früheren Besitzer das Leben gekostet hat, für mich beansprucht, doch nur, weil ich es dir übergeben wollte. Ashe und ich sind der Ansicht, du solltest es haben. Wenn man es recht bedenkt, ist das vermutlich das einzige Mal, dass wir einer Meinung waren.«
Gwydion starrte den Schwertgriff an. Er entdeckte in den Wirbeln der Gravuren Bewegungen, doch sie waren allzu flüchtig. Er blinzelte und versuchte ihnen zu folgen, verlor sie aber aus dem Blick. Ein Zittern der Erregung, gemischt mit Ehrfurcht und Schrecken, stieg in ihm auf. Der Schwertgriff war schwer und summte vor Macht.
»Ich ... ich weiß nicht, ob ich für ein solch gewichtiges Geschenk schon bereit bin«, sagte er zögernd. Seine Hände erbebten sowohl unter den Schwingungen als auch unter seiner eigenen Erregung. »Ich habe nichts vorzuweisen, das mich einer solchen Waffe würdig macht.«
Achmed schnaubte. »Das ist ein Trugschluss, der von selbstverliebten Narren verbreitet wurde«, sagte er verächtlich. »Man kann sich einer Waffe erst als >würdig< erweisen, wenn man sie benutzt. Nur darin zeigt sich, ob du sie zu Recht führst. Das ist ein Elementarschwert, und niemand ist seiner wirklich würdig.«
»Wollt ... wollt Ihr es nicht haben?«, fragte Gwydion nervös. In seinen Augen schimmerte es.
Achmed schüttelte den Kopf. »Nein. Abgesehen von dem, was ich vorhin über die Würdigkeit gesagt habe, wählen sich Waffen von solch alter Macht in Wahrheit ihre Träger selbst. Ich ziehe es jedoch vor, mir meine Waffen selbst auszusuchen.«
»Wie Eure Cwellan?«
Der Bolg-König nickte. »Sie ist meine eigene Erfindung«, sagte er und zuckte leicht die Achseln, um das wie eine asymmetrische Armbrust geformte, mit einem gebogenen Lauf versehene Gerät hinter seinem Rücken hervorschauen zu lassen. »Ich habe sie erfunden, um meine Kraft noch zu verstärken und meine Schwächen auszugleichen, doch in der Hauptsache ist sie an die Art von Beute angepasst, die ich früher gejagt habe.« Er deutete auf eine Haspel, an der hauchdünne Scheiben hingen. »Sie schießt drei gleichzeitig ab, wobei jede die vorangehende tiefer ins Fleisch treibt. Und ich kann sie meinen Bedürfnissen anpassen. Diese hier habe ich entwickelt, um die Haut eines Drachen zu durchdringen.« Er warf einen Blick über die Schulter auf die Tribüne.
»Zweifellos ist Ashe in der Nähe. Vielleicht kann ich sie bald einsetzen.«
Gwydion kicherte. »Wie habt Ihr sie für die Drachenjagd ausgelegt?«
»Sie hat einen besonders schweren Rückstoß«, erklärte Achmed. »Drachenhaut ist so dick wie Stein. Auch die Scheiben sind anders. Sie bestehen aus Rysin-Stahl, das in erhitztem Zustand besonders gut formbar ist und sich beim Abkühlen zusammenzieht.
Sobald sie im Körper stecken und seiner Wärme ausgesetzt sind, dehnen sie sich stark aus und vergrößern die Wunde noch einmal um ein Vielfaches.« Er drehte die Cwellan liebevoll in der Hand. »Viele meiner Ideen stammen von einer Waffe, an der Gwylliam vor seinem Tod arbeitete. Ich vermute, er hatte einige Schwierigkeiten mit der Drachin, die seine Ehefrau war. Die Eigenschaften von Feuer und Erde führen dazu, dass sich die Scheiben ausdehnen, und daraus bestehen Drachen in der Hauptsache – trotz aller anderen elementaren Eigenschaften, die sie besitzen.«
»Ihr wisst, dass es bei Ashe nicht funktioniert«, meinte Gwydion scherzhaft und versuchte, den summenden Schwertgriff in seiner Hand nicht zu beachten, was ihm jedoch nicht gelang. »Er besteht hauptsächlich aus Wasser.«
Achmed schaute die Waffe in seinen Händen an.
»Hmm«, machte er schließlich. »Zurück zum Zeichenbrett.«
Gwydion lachte. »Ihr braucht es sowieso nicht für Ashe«, sagte er. »Auch wenn Ihr es vielleicht anders seht, so seid Ihr doch Verbündete. Aber ich habe Eure Waffe im Einsatz gesehen. Es war diese Cewllan, die Anwyn in der Schlacht am Gerichtshof aus der Luft geholt hat, nicht wahr?«
Achmed schulterte die Cwellan wieder. »Ich habe sie getroffen und ihr eine oder zwei Klauen abgeschossen, aber der Ruhm, sie getötet zu haben, gebührt allein Rhapsody«, sagte er und sicherte die Waffe unter seiner Robe. »Sie befand sich im Griff der Drachin und konnte sich mithilfe der Tagessternfanfare befreien. Sobald sie frei war, hat sie das Sternenfeuer auf Anwyn herabgerufen und sie dann in ihrem Grab eingesperrt. Man könnte vielleicht sagen, dass ich ihr beigestanden habe – wie Anborn, den es den Gebrauch seiner Beine gekostet hat.« Er schaute über die Schulter, als die Trompeten plötzlich und laut in der Ferne schmetterten. Der Bolg-König zuckte zusammen. »Ich vermute, das ist die unaufdringliche Art deines Paten, dir mitzuteilen, dass deine Anwesenheit vonnöten ist.«
Gwydion nickte. »Was soll ich damit machen?«, fragte er und deutete auf Tysterisk.
Achmed zuckte die Schultern. »Es liegt nun an dir, es zu gebrauchen, zu tragen und mit ihm zu leben«, sagte er gleichgültig. »Es sollte bei deiner Amtseinsetzung dabei sein, vorausgesetzt du willst es haben. Wenn du die Verantwortung annimmst, ein solches Schwert zu besitzen, musst du es gebrauchen, wenn es nötig ist, auch wenn es dich dein Herzogtum kosten sollte. Aber irgendwie bezweifle ich, dass du damit Schwierigkeiten bekommen wirst. Wende dich an Anborn, damit er dich im Gebrauch von Tysterisk unterweist.« Er drehte sich um und wollte gehen, hielt jedoch inne und warf einen Blick zurück auf den nervösen jungen Mann. »Es ist gut, bereit zu sein. Ich bin hergekommen, um dir das zu sagen. Deswegen wollte ich dir das Schwert eigenhändig übergeben. Die Welt, in der du nun deinen Platz beanspruchen wirst, ist ein unsicherer Ort, doch eines lässt sich ohne jeden Zweifel vorhersagen: Früher oder später wirst du kämpfen müssen. Und dann solltest du die bestmögliche Klinge in der Hand haben. Bedenke, dass du die Waffe führst. Lass nicht zu, dass sie dich führt.«
Gwydion nickte und schaute noch einmal hinunter auf den Schwertgriff. Er glaubte die blauschwarzen Umrisse der Klinge vor dem braunen Öltuch zu erkennen; sie glomm matt, und kleine Windböen wirbelten ziellos in ihr umher. Er betrachtete sie gebannt, bis die Trompeten wieder erschallten. Dann schüttelte er die Träumerei ab und schaute auf.
»Vielen Dank ...«, sagte er, doch Achmed war schon weg.
Während Faron westwärts ging, holte ihn der Winter ein.
Tag für Tag gewöhnten sich Körper und Geist mehr aneinander. Hände und Füße, die anfangs völlig fremd und unbiegsam gewesen waren, dienten ihm nun so wie jedem anderen Menschen. Sein Verstand war noch umwölkt und schwamm in einem Meer verworrener Gedanken und Erinnerungen an einen alten Soldaten, einen noch älteren dämonischen Vater und das geschlechtslose Wesen, das er selbst einmal gewesen war.
Die unwirtliche Wüste war inzwischen Steppe und trockenem Grasland gewichen, durch das gelegentlich Nomaden und Karawanen zogen. Faron hatte sich versteckt, wann immer er den einen oder anderen begegnete. Seine Augen waren die Sonne nicht gewöhnt, wurden aber allmählich stärker, und inzwischen konnte er mit ihnen den Horizont nach allem Beweglichen absuchen. Während er dem Lauf der Sonne folgte, stellte er fest, dass der Winter die Gegend, in die er nun kam, bereits im Griff hatte. Er erinnerte sich vage an seine Zeit als Soldat des Schnees, der in seine erdgeformten Beine stach, doch ansonsten störte er Faron nicht. Der Schnee behinderte ihn nur wenig, allerdings machte er es ihm schwieriger, sich zu verstecken.
Er zog über die frostgebleichten Ebenen des oberen Sorbold bis in die südliche Provinz Navarne, immer tiefer in das Reich des Winters hinein.
Sein gebrochener Verstand kochte und verlangte nach Zerstörung.
Winterkarneval
Als Achmed von dem Gespräch mit Gwydion Navarne zurückkehrte, begab er sich sofort in den Garten, wo er Rhapsody allein zurückgelassen hatte. Wie der Zufall es wollte, befand sie sich jedoch bereits in der Speisekammer und bereitete sich auf das Fest vor. Also war er allein, als der Botschafter der Meeresmagier auf ihn zukam.
Er blieb stehen und starrte JaFasee über den Rand seiner Schleier an. Seine verschiedenfarbigen Augen nahmen den Mann ins Visier, als ziele er mit seiner Cwellan auf ihn.
»Ihr lebt«, sagte er anklagend.
JaFasee seufzte und steckte die Hände in seinen Umhang.
»Ja«, erwiderte er. »Es tut mir Leid.«
Achmed sah sich im Garten nach Rhapsody um. »Wenigstens sind wir einmal einer Meinung, JaFasee«, sagte er knapp. Er drehte sich um und wollte fortgehen, hielt jedoch inne, als der Meeresmagier die Hand hob.
»Ich warte schon beinahe drei Monate auf Euch, Euer Majestät«, sagte er mit seiner bemerkenswerten Stimme.
»Ich bitte Euch, mir für einige Augenblicke die Ehre Eurer Aufmerksamkeit zu erweisen; dann werde ich mich zurückziehen und Euch den Freuden des Festes überlassen.«
Achmed schnaubte. »Kommt zur Sache.«
JaFasees Gesicht verlor den Ausdruck der Heiterkeit. »Glaubt mir, Euer Majestät, was ich Euch zu sagen habe, ist sehr ernst.«
»Dann fangt an. Ich habe noch viel Wichtiges zu erledigen. Zum Beispiel muss ich Rhapsody sagen, dass ich ihr beinahe fertig gestelltes Haus niederbrennen werde, falls sie uns noch einmal zum selben Fest einlädt.«
»Habe ich da etwa gehört, wie mein Name ohne die rechte Ehrerbietung ausgesprochen wurde?«, fragte die Herrin der Cymrer scherzhaft, als sie wieder in den Garten kam. »Offenbar ist Achmed zurückgekehrt.«
»Wenn ich gewusst hätte, dass du mich mit diesem Wissenschaftler überraschen wolltest, wäre ich nach meinem Gespräch mit Gwydion Navarne sofort nach Hause abgereist«, sagte Achmed mit unmissverständlicher Feindseligkeit in der Stimme. »Es gibt drei Arten von Leuten, die ich verachte, Rhapsody: Cymrer, Priester und Wissenschaftler. Das solltest du inzwischen wissen.«
»Ich sehe keinen Grund, grob zu dem Botschafter eines freien Landes zu sein, der gleichzeitig mein Gast ist«, sagte die cymrische Herrscherin scharf. »Vielleicht kannst du den Herrn wenigstens anhören, Achmed.«
»Ihr habt es nicht nötig, meine Ehre zu verteidigen, Herrin«, warf JaFasee mit einem Augenzwinkern ein. »Ich ertrage die Beleidigungen des Bolg-Königs schon seit einem Jahrtausend.« Er trat ein paar Schritte näher, steckte die Hände in die Ärmel und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir haben erfahren, dass Ihr den Apparat im Gipfel des Gurgus wiederherzustellen versucht«, sagte er ernst.
Achmed seufzte. »Vielleicht hätte ich eine königliche Verlautbarung in jedem Hafen, jedem Gerichtsgebäude und jedem Bordell von hier bis Argaut anbringen lassen sollen«, sagte er wütend. »Tut Euch den Gefallen, eine weise Wahl zu treffen, Jal’asee. Ich habe Euch darüber nicht in Kenntnis gesetzt, weil ich Eure Gedanken dazu nicht hören wollte. Tut mir also bitte den Gefallen, sie nicht mit mir zu teilen.«
»In dieser Angelegenheit bleibt mir nichts anderes übrig, Euer Majestät«, gab Jal’asee zurück. »Genau das ist der Grund, warum ich von Gaematria hierher geschickt wurde. Der Oberste Rat der Regierung bittet Euch mit allem Respekt, Eure Arbeiten an diesem Projekt einzustellen, bis ...«
»Natürlich werde ich das auf alle Fälle tun«, höhnte der Bolg-König. »Ihre Meinung ist für mich erbaulicher als Eure.«
Plötzlich schien Jal’asee die Geduld zu verlieren.
»Ihr müsst diesen Rat befolgen, Euer Majestät.«
»Warum?«
Der Botschafter schaute sich kurz im Garten um.
»Soll ich gehen?«, fragte Rhapsody und deutete auf das Tor. »Es macht mir wirklich nichts aus.«
Beide Männer schüttelten gleichzeitig den Kopf.
»Ich bin wirklich nicht befugt, Einzelheiten zu erläutern, Euer Majestät, aber ich glaube, Ihr kennt den Grund, oder wenigstens solltet Ihr in der Lage sein, ihn zu erraten.«
Achmed trat auf den Botschafter zu und schaute ihm in die goldenen Augen.
»Sagt mir, warum, oder verschwindet.«
Jal’asee schaute ernst auf ihn herab.
»Denkt an die größten Gaben, die die Erde bereithält, Herr.«
Schweigen zog in den Garten ein. Dann drehte sich Achmed um und ging an Rhapsody vorbei.
»Wenn Ihr Zeit habt, mich unter vier Augen zu sprechen, kommt zu mir«, sagte er und lief auf das Gartentor zu. Jal’asee hüstelte höflich. »Es ist wirklich eine Schande, dass Ihr das Studium der Heilkunst gegen eine andere Betätigung eingetauscht habt. Euer Lehrer hatte großes Vertrauen in Eure Fähigkeiten. Ihr wäret eine Zierde für die Stille Festung gewesen, vielleicht einer ihrer besten Schüler.«
Achmed drehte sich wütend auf dem Absatz um.
»Dann wäre ich jetzt genauso tot wie all die anderen Unschuldigen, die ihr an diesen Ort gelockt habt«, sagte er harsch. »Euer Verständnis von Schande deckt sich nicht mit meinem.«
Er stapfte aus dem Garten und warf Rhapsody einen letzten Blick zu.
Sie sah ihm nach, als das Tor zufiel.
»Könnt Ihr mir sagen, worum es ging?«, fragte sie Jal’asee ungläubig. Seit sie Achmed kannte, hatte sie ihn noch nie so erregt in einem Gespräch erlebt, das angeblich für ihn von keinerlei Bedeutung war. Achmed war gut darin, Menschen, Gespräche und Dinge zu übersehen, die ihn nicht interessierten.
Der Meeresmagier seufzte. »Vor vielen Jahren, als er noch ein recht junger Mann war, ereignete sich eine schreckliche Tragödie in der Stillen Festung, dem Hort des Wissens, den ich Euch gegenüber schon vor einigen Monaten erwähnt habe und an dem ich als Lehrer beschäftigt war«, sagte er ernst. »Jemand, für den er viel übrig hatte – vielleicht waren es auch mehrere Personen –, hat das Unglück nicht überlebt. Anscheinend hat er mir das nie vergeben.« »Offenbar«, sagte Rhapsody. »Das tut mir Leid.« »Nicht nötig, Herrin«, erwiderte JaFasee. »Wenn jemand grob und unvernünftig ist, heißt das noch lange nicht, dass er im Unrecht ist.«
Gerald Owen rührte den kochenden Sirup in dem großen, schwarzen Eisenkessel um und beachtete nicht den Lärm der Kinder und einiger aufgeregter Erwachsener, die gierig auf die nächste Portion Schneekonfekt warteten. Er war schon seit vielen Jahren taub gegen solchen Lärm. Stephen Navarnes Vater hatte den Brauch eingeführt, heißen Flüssigzucker auf reinen Schnee zu träufeln, der auf großen Tabletts gesammelt worden war, und so den Karamellsirup zu knusprigen, harten Brocken abzukühlen, die zum Wahrzeichen des Winterkarnevals geworden waren. Stephen hatte die zusätzliche Sünde eingeführt, das harte Konfekt in Schokoladen- und Mandelcreme zu tauchen. Gerald Owen war der traditionelle Zuckerbäcker des Festes und überdies der Wächter über die Geheimrezepte.
Der alte Kammerherr von Haguefort gab schließlich das Zeichen, dass der Sirup ausgegossen werden konnte. Er trat aus dem Weg und ermöglichte es so den Hilfsköchen, den Topf genau auszurichten, während die Schneebretter herbeigebracht wurden. Er wischte sich die zuckrigen Hände an der schweren Leinenschürze ab, verschränkte die Arme und erlaubte sich ein kleines, befriedigtes Grinsen.
Das Fest der Sonnenwende schien sich trotz der bösen Vorahnungen gut anzulassen. Owen diente der Familie schon seit zwei Generationen, und es bereitete ihm große Genugtuung zu sehen, wie die Traditionen, die Stephen so geliebt hatte, von seinem Sohn weitergeführt wurden, um den sich Owen seit dessen Geburt gekümmert hatte. Insgeheim war er froh, dass Gwydion nun seinen rechtmäßigen Titel annehmen würde. Die Gegenwart des cymrischen Herrscherpaares war nach dem Verlust des Herzogs sehr beruhigend und tröstlich gewesen, doch allmählich stellte sie sich in der kleinen Festung Haguefort als unbequem dar. Die Häupter des Bündnisses gehörten in ein angemesseneres Haus. Soweit er gehört hatte, war Hochanger wenigstens zentral gelegen, wenn auch nicht sehr prunkvoll. Doch Haguefort war ursprünglich als Festung für die Familien erbaut worden, die zu Beginn des cymrischen Zeitalters in der Wildnis Navarnes gesiedelt hatten. Es war nie ein Palast oder auch nur eine Burg, sondern immer nur eine bescheidene Festung gewesen. Wenn es anstelle der Heimstatt des Herrscherpaares bald nur noch der Sitz eines Herzogs war, würde das Leben hier wieder zur Normalität zurückkehren.
Er setzte sich müde und erschöpft auf ein mit Laken bedecktes Fass und beobachtete die wilde Balgerei der Kinder, die um die zerbrechlichen Süßigkeiten wetteiferten. Gerald Owen war wie der Herzog, dem er diente, von cymrischem Geblüt, auch wenn es recht verwässert war, und war längst viel älter als die menschlichen Freunde, mit denen er aufgewachsen und zur Schule gegangen war. Er hatte viele der Eltern und Großeltern der Kinder, die sich nun um die Süßigkeiten balgten, das Gleiche bei lange zurückliegenden Festen tun sehen. Über allem lag eine zyklische Harmonie. Das Gefühl, dass das Leben für die anderen schneller ablief als für ihn, machte ihn gelegentlich melancholisch.
Ein Griff an seiner Schulter riss ihn aus seinen Gedanken. Er schaute auf, blinzelte im Sonnenlicht und sah das lächelnde Gesicht von Hagueforts zukünftigem Herrn.
»Ist es bald so weit, Gerald?«, fragte Gwydion Navarne.
Owen erhob sich rasch; in seine Bewegungen war der Schwung zurückgekehrt.
»Ja, Herr, falls Ihr auch so weit seid.«
»Das bin ich, sobald du einen Blick auf mich geworfen und sichergestellt hast, dass ich nichts vergessen habe. Sobald du mich gemustert hast, fühle ich mich bereit.«
Gerald Owen nahm den jungen Herzog am Arm und führte ihn zurück in die Große Halle, in der ein Tisch mit den nötigen Werkzeugen für die letzten Vorbereitungen stand.
»Keine Sorge, junger Herr«, sagte er mit großer Zuneigung. »Wir werden Euch auf eine Art und Weise ausstatten, die Euch und alle, die Euch lieben, mit Stolz erfüllen wird.«
Ashe hielt Wort. Die Zeremonie, mit der Gwydion in seine Rechte eingeführt wurde, war kurz und elegant. Rhapsody sah zu, wie sich der Junge, den sie vor vier Jahren als ihren ersten Enkel ehrenhalber angenommen hatte, vor ihren Füßen verneigte und den Blick hob, in dem sich neue Weisheit spiegelte. Es war die Weisheit eines jungen Mannes, der nun den Mantel seines rechtmäßigen Erbes fest auf den Schultern trug. Das Herz ging ihr auf bei dem Anblick seiner ruhigen Miene und den klugen und ehrerbietigen Worten, mit denen er sein Amt annahm. Nachdem Ashe ihm die Schlüssel zu Haguefort und Stephens wertvollen Siegelring mit dem Wappen des Herzogtums Navarne übergeben hatte, drehte sich Gwydion um und dankte den Versammelten, dann bat er sie, zum Fest zurückzukehren, wobei er besonders das Schlittenrennen erwähnte, das bald begann. Als die Menge zu den Zelten und dem Turnierplatz zurückkehrte, verspürte Rhapsody plötzlich eine feste, knochige Hand an ihrem Ellbogen.
»Hast du jetzt Zeit?«, fragte Achmeds sandige Stimme leise an ihrem Ohr. »Wir müssen etwas Wichtiges besprechen.«
Ohne sich umzudrehen, nickte Rhapsody und gestattete Achmed, sie aus der Menge erregter Festteilnehmer heraus und in einen stillen Bereich innerhalb der Festung zu führen.
»Worum geht es?«, fragte sie angespannt, sobald sie außer Hörweite der Dienerschaft waren. »Sag mir, warum du dich unbedingt einem unserer vornehmsten Gäste gegenüber so sagenhaft schlecht benehmen musstest.«
»Es war nötig, weil ich nicht anders kann«, gab Achmed gereizt zurück. »Das solltet ihr alle doch inzwischen wissen. Er ist ein Mistkerl, und mit Mistkerlen habe ich nur sehr wenig Geduld. Jetzt geht es darum, wie du dem Bolgland helfen kannst und was ich von dir haben will. Erinnerst du dich an das hier?«
Er überreichte ihr ein kleines, geschlossenes Stahlkästchen, das mit Bienenwachs versiegelt war.
Rhapsody zog die Brauen zusammen. »Ja. Befinden sich darin nicht die alten Pläne Gwylliams?«
»Richtig. Ich brauche eine vollständige und genaue Übersetzung davon.«
»Ich glaube, ich habe schon einmal eine für dich angefertigt«, meinte Rhapsody mit wachsendem Groll. Sie öffnete das Kästchen, entfernte das oberste Dokument, das in Altcymrisch abgefasst war, von den darunter liegenden, noch älteren Papieren, die sorgfältig in Musikschrift verfasst waren. »O ja, ich erinnere mich wieder an dieses Gedicht:
Sieben Gaben des Schöpfers,
Sieben Farben des Lichts,
Sieben Meere auf der weiten Welt,
Sieben Tage in einer Woche,
Sieben Monate Brache,
Sieben Kontinente durchwandert, webe
Sieben Zeitalter der Geschichte
Im Auge Gottes.«
Achmed nickte ungeduldig.
»Ich verstehe das Gedicht«, sagte er. »Ich brauche eine sorgfältige Übersetzung der Pläne und aller dazugehörenden Dokumente.«
»Bis wann?«
Der Bolg-König dachte nach. »Was machst du bis zum Abendessen?«
»Eigentlich hatte ich vor, mir die Schlittenrennen anzusehen«, erwiderte Rhapsody schelmisch. »Und danach würde ich gern am Rest der Feier teilnehmen. Was glaubst du wohl, wie lange so etwas braucht, Achmed? Ich kann dir versichern, dass es eine Arbeit von Tagen, wenn nicht gar von Wochen ist. Es ist nicht nur eine Musikschrift. Man muss die Komposition auch spielen und mit späteren Teilen des Stücks vergleichen. Das ist nicht etwas, das ich einfach so nach dem Mittagessen tun kann.«
»Na gut, ich bin bereit, bis zum Tee zu warten«, meinte Achmed trocken.
»Du musst bist zum Tee im nächsten Jahr warten«, antwortete Rhapsody. »Habe ich dir außerdem nicht beim letzten Mal gesagt, dass ich mir Sorgen wegen deiner unbesonnenen Versuche mit altem Wissen mache?«
»Das hast du, und aus diesem Grund habe ich mich entschieden, keine Experimente anzustellen, sondern vorher eine genaue und sorgfältige Übersetzung zu bekommen, damit ich danach entscheiden kann, was ich mit den Informationen anfange. Dagegen hast du doch wohl nichts, oder?«
Sie dachte kurz nach. »Ich glaube nicht.«
»Gut. Vielleicht kannst du deine ganze Aufmerksamkeit auf diese Papiere richten, wenn der Mummenschanz endlich vorbei ist. Wie ich schon gesagt habe, könnte es genau das sein, was wir zur Verteidigung der Bolg-Lande und daher auch des Bündnisses brauchen, wenn es so funktioniert, wie ich es in der alten Welt gesehen habe. Das sind dir dein Mündel, das Schlafende Kind, deine Bolg-Enkel und das ganze Volk von Ylorc doch wert, oder?«
»Natürlich«, antwortete Rhapsody unsicher.
»Falls du noch immer der Meinung sein solltest, ich sei schlecht beraten, will ich dir etwas sagen: Während ich deinen hübschen Hintern aus einer Meeresgrotte gezogen habe, wurde mein Königreich von der Meisterin der yarimesischen Mördergilde unterwandert. Sie stammt aus demselben Volk, dem ich und meine Bolg nach deiner Anweisung helfen mussten, eine neue Quelle für die Entudenin zu bohren, wofür wir übrigens noch immer keine vollständige Bezahlung erhalten haben. Besagte Gildenmeisterin hat nicht nur den Gipfel des Gurgus zerstört, sondern auch einen großen Teil des Königreiches mit Pikrinsäure vergiftet.«
»O Götter!«, rief Rhapsody entsetzt aus.
Achmed dachte nach. »Nein, diese hat sie nicht erwischt, was aber möglicherweise ein reiner Zufall war. Es reicht schon, dass mindestens tausend Bolg gestorben oder sehr krank geworden sind. Sie haben Ruhr, bluten aus den Augen, verbluten innerlich ...«
»Gut, es reicht«, sagte Rhapsody. Sie kämpfte gegen die Übelkeit an und verlor. Sie rannte zur nächsten Topfpflanze und übergab sich in den Kübel.
Achmed wartete selbstgefällig, bis sie zurückkehrte.
»Ich gehe davon aus, dass ich auf deine Hilfe in dieser Angelegenheit zählen kann?«
Rhapsody seufzte. Sie war noch immer blass und fühlte sich benommen.
»Ich werde mein Möglichstes tun, Achmed, aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich dir die Informationen beschaffen kann, die du brauchst«, sagte sie und lehnte sich gegen die Mauer. »Wenn es dich beruhigt, kann ich dir sagen, dass ich vermutlich schon sehr bald daran arbeiten werde.«
»Ach?«
»Ja. Ich muss zuerst mit Ashe sprechen, ob er damit einverstanden ist, aber ich hoffe, bald einige Zeit bei Elynsynos zu verbringen.«
Achmeds Augen weiteten sich. »Du willst in schwangerem Zustand in ein Drachennest gehen?«
»In der Tat. Sie ist die Einzige, die wirklich weiß, wie es ist, ein Drachenkind auszutragen. Ich mache dir ein Angebot. Wenn Ashe zustimmt, nehme ich die Manuskripte mit und arbeite daran, so weit es meine Übelkeit erlaubt. Ich werde tun, was ich kann, aber es ist mir wieder einmal nicht möglich, dir eine Garantie zu geben. Dafür bringst du zur Tauwetterzeit Krinsel zu mir, damit sie bei der Geburt meines Kindes bei mir ist.«
Sie wusste, dass der Bolg-König hinter seinen Schleiern lächelte.
»Du würdest dich einer Bolg-Hebamme anvertrauen, obwohl es so viele prahlerische Heiler in Roland gibt?«
»Sofort. Abgemacht?«
»Ja«, antwortete Achmed. »Wenn du deinen Teil der Abmachung einhältst.«
Faron schaute schweigend auf die Feierlichkeiten unter ihm.
Sein Verstand wusste nicht, was ein Feiertag war. Da er fast sein ganzes Leben im dunklen Keller des Gerichtsgebäudes von Argaut verbracht hatte, brachte ihn der Lärm des Festes durcheinander, das am Fuß des Hügels stattfand, auf dem er stand.
»Frohe Sonnenwend, Bächlin.« Der stämmige Fischer grinste so breit, dass seine Zahnlücken sichtbar wurden, hörte aber nicht mit dem Netzknüpfen auf.
»Freut mich, dass es dir besser geht, Kail. Auch dir frohe Sonnenwend«, sagte er und sah dem Schnee zu, den der Wind peitschte, der auch das Wasser bei den Docks aufwühlte. Die Wärme des Ozeans hielt hier an der Spitze des Landungsstegs südlich des Ortes die Luft rein. Bächlin verknotete die letzten Seile miteinander und zog sich dann den Hut bis über die roten Ohren. »Willst du mir und Stark beim Einholen der Fallen helfen?«
Kail wischte sich mit dem Ärmel seines Kammgarnhemdes den Rotz von der roten Nasenspitze und trocknete dann seine gleichermaßen roten Augen.
»Die Hummer können noch einen Tag warten«, murmelte er mürrisch, als Stark, ein weiterer Hafengenosse, herbeikam und die Fangkörbe hinter sich herzog. »Braut sich ’n Sturm zusammen; man kann am Himmel erkennen, dass es ein echter Kracher wird.«
Stark spuckte ins Meer und schüttelte den Kopf.
»Ist schon zwei Tage seit dem Auslegen her«, sagte er mit einer Stimme, die von Wind und mangelndem Gebrauch kratzig war. Stark redete selten. Wenn Bächlin mit ihm und Kail draußen auf dem Meer war, vergaß er manchmal, dass Stark bei ihnen im Boot saß. »Und ’n ganzes Dorf wartet heut Abend darauf, sie zu verspeisen.«
»Er hat Recht«, sagte Bächlin zu Kail »Geh nach Hause und mach dir ’nen Grog. Wir holen die Körbe ein.«
»Ihr seid verrückt, wenn ihr jetzt rausfahrt; die Sonne ist schon fast untergegangen.« Kail steckte die Hände in die Ärmel, als wären sie ein Damenmuff. »Will die Feiertage nicht damit verbringen, eure Witwen zu trösten.«
Stark runzelte die Stirn und kletterte in das Boot.
»Geh wieder ins Bett«, sagte er. »Komm, Bächlin. Mein Abendessen wartet.«
Bächlin sah von Kail zu Stark und dann wieder zu Kail.
»Er hat Recht«, sagte er schließlich. »Ruh dich etwas aus. Stark und ich werden den Fang mit dir teilen. Du hast ja schließlich die Köder mit ausgelegt. Wir feiern morgen, dann können wir am nächsten Tag wieder ’nen schönen Fang einholen. Ich bring dir auf dem Heimweg ein paar Hummer für deinen Kessel vorbei.« Kail nickte düster. Bächlin entzündete die Laterne, die den Bug erhellte, und fuhr mit Stark hinaus.
Lange stand Kail da und beobachtete das tanzende Licht auf den Wellen, während seine Freunde die Fallen mit ihrem Fang leerten. Der Wind peitschte die See und stach in die Haut. Sand und Salz flogen ihm in die Augen. Als schließlich das Boot so weit draußen war, dass er es nicht mehr erkennen konnte, richtete er seine Aufmerksamkeit nach Norden auf die flackernden Kerzen, die in den Fenstern von Jeremias’ Landung brannten, und die Feuer, die den Dorfplatz als Vorzeichen der Sonnenwendfeier erhellten.
Fröhliche Musik drang auf dem eisigen Wind zu ihm. Gemeinsam mit ihr trieben Kails bittere Gedanken über den verlorenen Gewinn davon, und seine Laune besserte sich angesichts der bevorstehenden Feierlichkeiten. Er war noch zu weit entfernt, um den Duft der Kochtöpfe zu riechen, doch wenn er sich beeilte, konnte er früh genug dort sein, um jedes Gericht im Dorfwettbewerb einmal zu probieren. Außerdem gab es wie zu jeder Sonnenwende Brot, Bier und Gesang und das Versprechen weiterer fleischlicher Gelüste später in der Nacht, in warmen Bordellen oder kalten Stallungen. Die Erregung stieg ihm zusammen mit dem kühlen, salzigen Wind in die Nase und vertrieb seine Trübsal. Er nahm seine Laterne, entfernte sich von den Docks und schritt über die salzigen Marschdünen am Rande der Bucht, wo es in der Winternacht pechschwarz war.
Heute Nacht scheinen die Dünen höher zu sein, dachte er. Die schwachen Lichtstrahlen der fernen Kerzen verschwanden, als er in eine Senke trat. Er zog den Hutrand enger über den Kopf, um die Augen vor dem Wind zu schützen, und legte die Hände um seine verbeulte Laterne, damit der Wind sie nicht ausblies.
Vor ihm in der Dunkelheit schien sich der frostbleiche Boden zu heben und bald bis in den Himmel zu ragen. Nachtblind blieb Kail stehen. Seine Lunge war plötzlich voll und schwer, als ob die Erkältung, die er vor einigen Tagen gehabt hatte, zurückgekommen sei und ihm den Atem raube. Zitternd hielt er die Laterne hoch.
Die Düne vor ihm bewegte sich erneut. Sand und Marschgras regneten wie ein Wasserfall von ihr herab. Das schwache Licht seiner Lampe beschien etwas, das wie eine gigantische Statue wirkte. Es war ein primitiv aussehender Mann in einer Rüstung, beinahe doppelt so groß wie er; der Sand fiel in langen, dünnen Rinnsalen von ihm herab. Die blinden Augen schienen auf Kail gerichtet zu sein.
»Verdammt und zugenäht«, flüsterte er. »Was ist das?«
Die Statue im Sand regte sich nicht.
Kail schluckte schwer. Sein Hals brannte und war plötzlich vollkommen trocken. Sein Verstand war benebelt von Entsetzen, Krankheit und der Vorfreude auf die Lüste des Abends. Er konnte sich einfach nicht erklären, wie diese Statue an den Strand gespült worden war, ohne dass man etwas gehört hatte. Jeremias’ Landung war ein kleiner Ort, in dem die Familien seit vielen Generationen vom Meer lebten und ihre Fänge in den Städten der Umgebung verkauften. Alle waren voneinander abhängig. Jedes noch so unwichtige Ereignis wurde sofort von Hütte zu Hütte mitgeteilt. Kail begriff nicht, wie er diese Neuigkeit hatte überhören können.
Er schüttelte den Kopf, wandte sich nach Norden und machte einen Schritt auf das Dorf zu.
Der Kopf der Statue bewegte sich im Einklang mit ihm.
Kail keuchte auf. Die Laterne in seiner Hand zitterte heftig.
Er hielt sie höher in den Wind. Es lag etwas Bösartiges in der Haltung der Statue, als ob der Künstler seinen ganzen brodelnden Zorn in sie hineingearbeitet hätte. Kail wusste nicht, wieso er auf diesen Gedanken kam, doch Anspannung und Wut waren deutlich spürbar. Er beugte sich vor und starrte der Gestalt in die Augen. Und prallte vor Entsetzen zurück, als diese Augen ihn ebenfalls anstarrten. Hinter milchigen Wirbeln glühten sie vor Hass.
Die Laterne fiel ihm aus der Hand, schlug in den Marschsand und erlosch. Schwärze schluckte Kail.
In dieser Schwärze spürte er, dass die titanische Gestalt vor ihm atmete.
Und sich bewegte.
Blind wirbelte Kail herum und schoss nach links. Wie von Dämonen gehetzt, rannte er auf die Lichter des Dorfes zu. Er war ein halbes Dutzend Schritte weit gekommen, als er mit einer Kraft, die ihm den Atem nahm, vom schlüpfrigen Boden in die Luft gehoben wurde.
Ein widerliches Knacken drang in seine Ohren. Benommen bemerkte Kail, dass sein Becken unter dem zerschmetternden Gewicht brach, das ihn zusammendrückte. Er versuchte zu schreien, aber keine Luft kam in seine Lunge. Er konnte nur den Mund schweigend und voller Entsetzen öffnen und schließen, während er weiter hochgehoben wurde, bis er nur noch um Haaresbreite von den schrecklichen Augen entfernt war, die ihn schwarz und mit einem milchigen Überzug aus der Dunkelheit anstarrten.
Kails Verstand, der nie der hellste der Welt gewesen war, löste sich von seinem Körper. Die Unwirklichkeit der Ereignisse war zu viel für ihn. Er kam zu dem Schluss, dass er sich noch im Griff des Fiebers befand, das ihn zusammen mit der Erkältung überfallen hatte.
Ich liege im Bett und habe Albträume, dachte er, als ihn der Titan auf den Rücken drehte und sich die Steinfinger in seinen Bauch gruben und an seinen Eingeweiden zerrten. Dann trafen ihn Schmerzen und Luftmangel gleichzeitig, und er erbebte. Es war die einzige körperliche Regung, zu der er noch fähig war.
Die Statue schlitzte ihm den Bauch auf, wühlte im Gedärm herum, zog dann die blutigen Finger aus dem Fleisch und drückte die Falten von Kails Gewand zur Seite. Sie ergriff die abgewetzte Scheibe, die Kail in seinem Hemd getragen hatte, und ließ den Fischer fallen, während sie die Schuppe gegen den Mond hielt, dessen Licht in Regenbogenfarben von den Rändern tropfte.
Als die Finsternis näher rückte, sah Kail noch einmal das riesige Wesen über ihm. Es hatte einen Ausdruck von beinahe mitleidiger Freude im grob behauenen Gesicht, während es den Fuß hob und ihm auf den Kopf trat. Sein Schädel platzte wie die Schale eines weichen Krebses.
Seine Überreste fanden am nächsten Morgen zuerst die Schneehühner und Möwen und dann Bächlin, der den Sand mit allen Flüssigkeiten befleckte, die sein Körper bei diesem Anblick von sich geben konnte.
Zum ersten Mal, seit sich sein umwölkter Verstand erinnern konnte, empfand Faron Freude.
Er war nicht länger eine formlose Kreatur innerhalb einer Statue, sondern spürte, wie die verschiedenen Teile seines Selbst zueinander fanden. Nun war er ein Mann, ein Titan aus lebendiger Erde und Feuer, der Sohn eines Dämons, gesegnet und geschlagen mit den Erinnerungen an uralte Schlachten und Eroberungszüge, die er nicht begriff.
Die grüne Schuppe summte in seiner Hand. Das Licht des Mondes tropfte von ihren Rändern wie Meerwasser über den Rand der Welt. Ehrerbietig drückte er seinen Schatz gegen das Gesicht und spürte wieder die Schwingung, die er so lange in sich vernommen hatte. Er hatte ihren Verlust betrauert und war immer schwächer geworden, doch nun kam die Geistesstärke zurück und entzündete sich in ihm. Er steckte die Schuppe zu den anderen drei und bildete einen schimmernden Fächer in seiner Steinhand. Die Wärme, die aus ihnen strömte, erfüllte ihn mit etwas wie Glückseligkeit.
Doch noch immer fehlte etwas.
Von fern hörte er das Brüllen des Meeres. Es war ein Geräusch, das große Angst in Faron hervorrief, seit sein Väter ihn aus der stillen Dunkelheit der höhlenartigen Tunnel genommen hatte, in denen er gelegen hatte, und mit ihm durch die Welt bis zu diesem Ort gesegelt war. Sein Vater hatte eine Frau gejagt – eine Frau, deren Haar er aufbewahrt und bei sich getragen hatte; es war durch ein verrottendes Band zusammengehalten gewesen. Faron hatte sie mithilfe der Schuppen gesucht und gefunden. Sie waren zu diesem neuen, erschreckenden Land gekommen. Sein Vater war hier gestorben und ihr Schiff im Ozean versunken.
Er starrte nun auf diesen Ozean und krümmte sich unter dessen Gewalt. Langsam ging er zum Strand, wo die schäumenden Wellen über den Sand stürmten. Mit der glitzernden grünen Schuppe stand er da, bis die Wellen seine bloßen Steinfüße berührten. Das Gefühl bereitete ihm Übelkeit und erfüllte ihn mit Angst.
Er wich zurück zum trockenen Land, wo er wieder die Wärme der Erde spürte.
Nun, da sein Schatz zu ihm zurückgekehrt war, drehte er sich im Dunkel der Nacht langsam um und ging fort von der stampfenden See. Den Lärm, der aus dem Dorf und von der Sonnenwendfeier zu ihm drang, ließ er hinter sich.
Das Abschlussbankett des Winterkarnevals begann fröhlich und endete noch fröhlicher.
Nach den letzten Rennen, der Vergabe der letzten Preise und der Schlussrunde des Choralsingens, das so große Begeisterung ausgelöst hatte, dass die weißen Felder von Navarne von den Liedern widerhallten, hatten sich das cymrische Herrscherpaar, die beiden Navarne-Kinder, Anborn und die Hausbediensteten müde zu einem späten Abendessen niedergesetzt. Sie besprachen die Ereignisse und kamen zu dem Ergebnis, dass das Fest ein Erfolg gewesen war.
»Zwei Betrunkene, die in eine Schlägerei verwickelt waren, aber ansonsten ein sehr friedliches Fest, möchte ich sagen«, meinte Ashe und fuhr mit dem Daumen über die Hand seiner Frau. Rhapsody lächelte und stimmte ihm zu. »Und Navarne hat nun einen neuen Herzog, der für Roland am Konzil teilnehmen kann, was gut für die Provinz ist. Ich glaube, wir dürfen bei aller Vorsicht diesen Karneval als Erfolg bezeichnen.« Gerald Owen, der letzte der Diener, der den Tisch verließ, lächelte müde und nickte. Er sammelte die Teller ein und zog sich aus dem Zimmer zurück, gefolgt von Melisande, die sich auf den Weg ins Bett machte.
Anborn rülpste vernehmlich und erstickte damit alle anderen Geräusche im Raum.
»In der Tat. Jedes Fest, bei dem niemand von Bedeutung umgebracht wird, kann man ein gutes Fest nennen«, sagte er. »Ich möchte der Herrscherin meinen Dank für ihre Gastfreundschaft aussprechen und ankündigen, dass ich bald abreisen werde.« Die Tischgenossen nickten zustimmend. Eine solche Ankündigung kam nie unerwartet, denn Anborn blieb an keinem Ort lange.
»Diesmal möchte ich jedoch eine Einladung an den neuen Herzog von Navarne aussprechen, mich bei meiner Reise zu begleiten.«
»Wohin gehst du?«, fragte Ashe und nahm einen Schluck gewürzten Cidre.
Der Marschall wartete mit der Antwort, bis sich die Tür hinter Gerald Owen geschlossen hatte.
»Nach Sorbold. Ich mache mir Sorgen über einige Dinge, die der Wind mir von dort berichtet hat. Ich nehme an, sie sind eine Untersuchung wert.«
Ashe nickte zustimmend. »Ich bin mir sicher, dass alle Informationen, die du dort erhältst, wertvoll sind, Onkel. Ich mache mir schon seit einiger Zeit Sorgen über die Berichte des dortigen Schiffshandels. Wir beobachten die Handlungen des neuen Herrschers seit seiner Erwählung durch die Waage, doch bisher scheint er angemessen und vernünftig zu regieren. Einige Leute, denen ich vertraue, haben jedoch Zweifel über ihn geäußert, sodass alles, was du herausfindest, für uns wertvoll ist.«
»Nur, wenn du das tust, was ich dir sage, Gwydion«, meinte Anborn dunkel. »Ich warne dich schon seit einiger Zeit, dass ein Krieg bevorsteht. In Anbetracht der Tatsache, dass du einige meiner Vorschläge umgesetzt hast, sähe ich gern, wenn du Infanterie und Marine verstärkst.«
»Ich habe diese Woche ein Dutzend neue Kriegsschiffe in Auftrag gegeben, die in Manosse gebaut und in Gaematria ausgestattet werden, Onkel«, antwortete Ashe milde. »Und neue Pferde für die Kavallerie des Bündnisses sind aus Marincaer eingetroffen; sie werden bald ausgebildet. Ich nehme ernst, was du sagst und was ich gesehen habe, dessen kannst du dir sicher sein.« Er drückte wieder Rhapsodys Hand. Ihre Entführung hatte ihm gezeigt, dass er Anborns Warnungen nicht abtun durfte.
»Also gehen wir spionieren?«, fragte Gwydion, der seine Erregung kaum unterdrücken konnte.
»Gwydion, ein Herzog spioniert keine unabhängige Nation aus«, tadelte Rhapsody ihn.
»Nein, wirklich nicht«, pflichtete Anborn ihr bei. »Er macht einen Staatsbesuch, ohne allerdings jemandem davon zu erzählen, und beobachtet von Orten aus, an denen er nicht gesehen werden kann.«
»Vergebt mir«, meinte Gwydion grinsend. »Ist es denn in Ordnung, Ashe? Darf ich Anborn begleiten?«
»Das musst du selbst entscheiden«, meinte Ashe und trank seinen Krug leer. »Du bist voll und ganz in dein Amt eingeführt und musst deine Entscheidungen allein treffen. Es ist vermutlich eine gute Idee, gleich zu Beginn deiner Herrschaft einen offiziellen Staatsbesuch zu machen, aber ich glaube, dazu solltest du Tyrian oder die Neutrale Zone besuchen, die ein sicherer Hafen für dich sind, und Sorbold nur als Durchreiseland ansehen.« Er schenkte Anborns vernichtendem Blick keinerlei Beachtung. »Ich möchte dir auch davon abraten, allzu lange von Navarne wegzubleiben. Als Herzog musst du für deine Provinz sorgen.« Er sah das lange Gesicht des jungen Mannes und beeilte sich, seinen Gedanken zu Ende zu bringen. »Aber du hast ein Elementarschwert geerbt und musst mit ihm reisen und seine Beherrschung erlernen. Es gibt keinen besseren Lehrer als Anborn. Ich glaube, auf diese Weise verbringst du deine ersten Wochen als Herzog sehr sinnvoll – und ich werde mich während deiner Abwesenheit um Navarne kümmern. Wenn du zurückkehrst, kannst du deine Pflichten aufnehmen.« Er wandte sich an seine Frau. »Was sagst du dazu, Liebste?«
Rhapsody faltete die Hände.
»Wenn du das Wagnis eingehen willst, so gibt es Gründe dafür – offizielle und inoffizielle –, und du bist in guter Gesellschaft«, sagte sie. »Da wir gerade darüber sprechen, möchte ich ankündigen, dass auch ich Navarne vorerst verlassen will.«
Die drei Männer am Tisch sahen sie erstaunt an.
»Ich fühle mich schon seit einer ganzen Weile krank und schwach, und das stört mich sehr«, fuhr sie fort. Die starren Blicke der anderen trieben ihr die Röte ins Gesicht. »Etwas, das Jal’asee gesagt hat, bevor Achmed gegangen ist, erscheint mir sehr sinnvoll. Meine Lage ist einzigartig und nicht ganz ungefährlich, weswegen ich einige Zeit bei Elynsynos verbringen will. Vielleicht kann ich von ihr etwas über Drachenschwangerschaften erfahren. Auf alle Fälle möchte ich sie gern besuchen. Es hat etwas Beruhigendes und Einschläferndes, bei ihr in der Höhle zu sein, und ich habe sie lange nicht mehr gesehen.«
»Wie lange soll deine Reise dauern, Aria?«, fragte Ashe und bemühte sich, seine Gefühle nicht zu zeigen. Rhapsody zuckte die Achseln. »Ich weiß es wirklich nicht. Vermutlich hängt es davon ab, wie ich mich fühle. Ich habe keine Ahnung, wie lange meine Schwangerschaft dauern wird. Deine Mutter jedenfalls hat dich fast drei Jahre ausgetragen. Ich glaube, ich werde mindestens bis zum Tauwetter dort bleiben. In Haguefort bin ich zu kaum etwas nütze. Ich kann mich nicht einmal richtig um Melly kümmern, weil ich so oft krank bin. Ich suche nach einer Möglichkeit, mich zu erholen, und glaube, dass der Weg dazu durch die Höhle der Drachin führt.«
Sie wandte sich von den anderen ab und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Ashe.
»Wir haben ja schon darüber gesprochen. Wie lautet deine Entscheidung, Sam? Hast du etwas dagegen?«
Ashe schluckte seinen Ärger hinunter. Nein, flüsterte der Drache in seinem Blut. Mein Schatz. Bleib.
»Wenn du es willst, Aria. Wenn du glaubst, dass du bei Elynsynos in Sicherheit bist oder es dir dort besser geht, werde ich dich gern hinbringen.«
»Vielen Dank«, sagte Rhapsody. Ihre grünen Augen leuchteten. »Du kannst mich ja von Zeit zu Zeit besuchen kommen.« Sie sah Anborn an, dessen Miene seine Ablehnung verriet, und fügte rasch hinzu: »Marschall, wenn dir in Sorbold etwas zustoßen sollte und du meine Hilfe brauchst, so kennst du den Ruf der Blutsverwandten. Ich bin sicher, dass ich ihn auch in der Drachenhöhle hören werde, und werde dir sofort zu Hilfe kommen, falls der Wind bereit ist, mich wie die anderen Blutsverwandten zu tragen.«
Anborn musste unwillkürlich kichern. »Was für eine nette Vorstellung. Von den drei bekannten Blutsverwandten auf dem Kontinent ist der eine lahm, die zweite schwanger und fühlt sich hundeelend, und der dritte – nun ja, der ist ein Bolg.«
»In der Tat«, meinte Gwydion Navarne. »Aber wenn ich je Hilfe brauchte, wäre mir jeder dieser drei Blutsverwandten, wie behindert er auch sein mag, ein großer Trost.«
»Das stimmt«, sagte Ashe, stand vom Tisch auf und half Rhapsody vom Stuhl. »Und so lange ihr drei wirklich nach Hilfe ruft, wenn die Notwendigkeit dazu besteht, so beruhigt mich das bei eurer Abwesenheit doch wenigstens ein bisschen.«
Als am Morgen des zweiten Tages nach dem Fest die letzten Nachzügler Haguefort verlassen, sich auf den Heimweg gemacht hatten und auch die letzten Abfälle fortgeräumt worden waren, sattelten Anborn und Gwydion Navarne ihre Reittiere und brachen zu ihrer gemeinsamen Mission auf.
Während des ganzen Morgens hatte Rhapsody gegen die Tränen gekämpft. Sie hatte Ashe geholfen, Gwydions Reisegepäck zu überprüfen, und hatte mit ihm und Melisande gefrühstückt, die keinen Grund sah, die Tränen zurückzuhalten. Sie rollten ihr über die Porzellanwangen und fielen in ihre Schlagsahne.
»Ich glaube, ich verstehe endlich, was du jedes Mal mitgemacht hast, wenn diejenigen, die du geliebt hast, fortgegangen sind. Sie haben dich allein zu Hause zurückgelassen, um angeblich wichtige Dinge zu erledigen, und dir versprochen zurückzukommen«, sagte sie zu ihrem Adoptivenkel, nachdem Melisande den Tisch verlassen hatte. »Man will unbedingt glauben, dass sie Recht haben, aber aus lauter Angst kann man es nicht. Außerdem darf man seine Sorgen nicht laut aussprechen, damit es nicht heißt, man habe kein Vertrauen oder bringe mit seinen Zweifeln Unglück.
Also setzt man ein tapferes Lächeln auf und sagt seinen Lieben, sie sollen gesund wieder nach Hause kommen, während man den Augenblick fürchtet, wenn sie gehen.«
»Genau so ist es«, sagte Gwydion mitfühlend. »Es tut mir Leid, dass du jetzt diese Erfahrung machen musst.«
»Dazu besteht kein Grund«, erwiderte die Herrscherin der Cymrer. »Tu, was du tun musst, und komm gesund wieder nach Hause. Ich weiß, dass Anborn dich mit seinem Leben beschützen wird.«
»Und ich ihn mit dem meinen.«
Rhapsody widerstand dem Drang zu lächeln. »Das weiß ich ebenfalls«, sagte sie.
Ein knallendes Geräusch schreckte sie auf. Der junge Herzog erhob sich, als sich die Türen öffneten und die Sänftenträger eintraten, die den cymrischen Helden trugen, der soeben Jal’asee anknurrte, während sie gemeinsam durch die Tür kamen.
»Nein, ich habe diese verdammte Höllenmaschine nicht ausprobiert«, sagte Anborn und deutete verächtlich auf den alten Seren. »Wie ich Euch schon so oft gesagt habe, werde ich dieses Ding erst gebrauchen, wenn es Waffen schärfen oder Bier brauen kann. Ich brauche weder das verdammte Mitleid meines Bruders noch seine Freigebigkeit. Ihr könnt ihm mitteilen, dass ich vorhabe, es einem Bordell zu schenken. Vielleicht finden einige Gäste es sehr reizvoll.«
Jal’asee warf einen Blick auf die Antworten und zog eine Karte aus dem Stapel.
»Hmm, Bordell, Bordell, Bordell ... Aha, hier! >Dann wüsste ich wenigstens, dass es irgendwie benutzt wird.<«
»Bist du schon fertig?«, fragte Anborn Gwydion Navarne und warf gleichzeitig Blickpfeile auf den Meeresmagier.
»Nur noch einen Augenblick, Marschall«, sagte der neue Herzog, beugte sich zu Rhapsody hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich muss noch Gerald Owen und Melly Lebewohl sagen, dann bin ich abreisebereit.«
»Beeil dich«, meinte Anborn mürrisch. Gwydion nickte und ging.
Der Marschall gab seinen Trägern ein Zeichen. »Zieht euch an den Rand des Raumes zurück. Ich möchte mit der cymrischen Herrin unter vier Augen sprechen.« Die Diener verneigten sich und gingen weg. »Und Ihr, Jal’asee, könnt meinem scheußlichen Bruder sagen, er soll mir beim nächsten Mal nicht etwas schenken, das ihn platt drücken könnte, wenn er mich besuchen kommt.«
»Ich werde diese Botschaft überbringen«, sagte der Meeresmagier trocken.
»Gut. Geht jetzt.«
Rhapsody und der serenische Botschafter tauschten einen mitfühlenden Blick aus. Jal’asee verneigte sich knapp und zog sich aus dem Zimmer zurück.
»Eigentlich ist es schade, dass du Soldat geworden bist«, sagte Rhapsody. In ihrer Stimme mischten sich Belustigung und Bitterkeit. »Du hättest einen ausgezeichneten Diplomaten abgegeben.«
»Der beste Diplomat ist derjenige, der deutlich ausspricht, was seine Ziele und Beweggründe sind, und der seinen Standpunkt klar macht. Ich glaube, niemand kann mir ernsthaft vorwerfen, ich wäre wankelmütig in meinen Ansichten oder würde meine Aussagen absichtlich verdunkeln.«
»In diesem Punkt kann ich dir gewiss nicht widersprechen.«
In Anborns azurfarbenen Augen blitzte es. »Planst du immer noch deine schlecht durchdachte Reise zu Elynsynos’ Nest?«
»Ja«, antwortete Rhapsody verblüfft. »Warum sollte ich meinen Vorsatz geändert haben?«
Anborn zuckte die Achseln. »Es gibt keinen Grund, warum du plötzlich gesunden Menschenverstand entwickelt haben solltest; du hattest ihn schließlich bisher noch nie. Ich hatte bloß wider besseres Wissen darauf gehofft.«
»Was hast du gegen meine Pläne?«, erwiderte Rhapsody.
»Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum du in einer Höhle bei einer faden Bestie sitzen willst, die dich in Flammen setzen könnte, falls sie plötzlich eine Erkältung bekommt. Ist die Gesellschaft meines verfluchten Neffen etwa noch langweiliger, als ich dachte?«
»Du hast Elynsynos noch nie gesehen«, sagte Rhapsody scharf. Zorn brodelte in ihr. »Ich mag es nicht, wenn du oder Ashe so über sie sprecht.«
Der General kicherte. »Elynsynos ist meine Großmutter.«
»Dann solltest du dir vielleicht die Zeit nehmen, sie kennen zu lernen. Sie ist beeindruckend.«
Anborn zuckte die Schultern. »Vielleicht. Vielleicht besuche ich sie eines Tages, wenn ich nichts Besseres zu tun habe. Mir scheint, dass mir meine Zeit kostbarer ist als dir die deine«, sagte er mit einem scherzhaften Ton in der Stimme, doch mit ernsten Blick. »Bleib hier, Rhapsody, wo Gwydion sich um dich kümmern kann. Diese Schwangerschaft ist unklug.
Mach sie nicht noch gefährlicher, indem du dich in einer Drachenhöhle versteckst, wo niemand dich finden und dir helfen kann, wenn du in Not bist. In Haguefort hast du wenigstens Zugang zu den besten Heilern von Roland.«
Rhapsody schüttelte den Kopf. »Meines Wissens hat keiner dieser Heiler je das Kind einer lirinischen Mutter und eines Drachenvaters zur Welt gebracht«, sagte sie leichtherzig. »Das ist eine besondere Erfahrung. Es gibt nur wenige auf der Welt, die etwas über eine solche Schwangerschaft wissen, und Elynsynos ist eine davon. Sie hat Manwyn, Rhonwyn und deine Mutter geboren, als sie noch menschliche Gestalt hatte, und konnte nicht in ihre Drachengestalt wechseln, bis die Kinder auf der Welt waren. Daher weiß sie, wie es ist, Kinds von verschiedenem Geblüt im Bauch zu tragen und sie zu gebären. Ich hoffe, viel von ihr zu lernen und dadurch eine bessere Niederkunft zu haben.«
»Was kann sie dir schon beibringen? Sie ist eine Schlangenbestie aus einer uralten Rasse, eine Eierlegerin, die die Gestalt einer Seren angenommen, sich mit einem männlichen Seren eingelassen und Drillinge in einem Körper ausgetragen hat, der ihr selbst fremd war. Deine Lage ist eine völlig andere.«
»Ja, das stimmt«, gab Rhapsody zu. »Aber soweit ich weiß, gibt es nur eine einzige andere Person, deren Lage sich eher mit meiner vergleichen lässt, weil sie eine menschliche Gestalt hatte: deine Mutter.« Sie seufzte tief.
»Ich wünschte, die Dinge hätten sich anders entwickelt, und ich wäre in der Lage gewesen, von meiner Schwiegergroßmutter zu lernen. Ich wünschte, sie hätte ihren Enkel sehen können. Wenn ich nicht ihren Zorn erregt hätte ...« Sie verstummte mitten im Satz.
Anborns Gesicht war bleich geworden, und seine azurfarbenen Augen schimmerten eindringlich und wild.
»Sag so etwas nie wieder«, keuchte er mit rauer Stimme. »Du bist eine Benennerin. Möge der All-Gott es verhindern, dass dein Wunsch je in Erfüllung geht, weil du dumm genug warst, deine Macht zu missbrauchen.«
Rhapsody starrte den Marschall verblüfft an. Er war aufgebrachter, als sie es je bei ihm bemerkt hatte. Selbst in der Hitze der Schlacht hatte sie ihn nicht so erregt gesehen.
»Anborn ...«
Seine Hand schoss hervor und bedeckte grob ihren Mund. »Still. Kein einziges Wort mehr.« Er schaute zuerst hinter sich, dann nach oben, als ob er auf etwas im Wind lausche. »Du weißt nicht, was du sagst.« Seine Stimme wurde so leise, dass sie kaum mehr als ein Flüstern war. »Wenn es etwas in deinem Leben gibt, für das du dankbar sein solltest, dann ist es die Tatsache, dass diese Ausgeburt der Hölle tot, in ihrem Aschengrab verrottet und weder dein Kind sehen noch wissen wird, dass du überhaupt eins hast. Sie war das letzte Wesen auf dieser Welt, von dem du mütterlichen Rat hättest empfangen können, glaube mir das.«
Seine Hand zitterte, während sie über ihren Lippen lag.
In Rhapsodys smaragdgrünen Augen blitzte es überrascht auf. Dann wurde ihr Ausdruck ruhiger. Sie legte ihre Hand über seine und drückte sie gegen ihre Lippen, dann zog sie sie sanft aus ihrem Gesicht.
»In Ordnung, Anborn«, sagte sie ruhig. »Ich glaube dir.«
Sie schaute ihn an und versuchte den Grund für seine Besorgnis zu erkennen. Sie wusste, dass Anborn im cymrischen Krieg die Heere seines Vaters gegen die seiner Mutter geführt hatte, was ihm zweifellos die Gelegenheit verschafft hatte, Anwyns Grausamkeiten aus der Nähe zu betrachten. Doch der Krieg lag schon mehr als vierhundert Jahre zurück; der General schien mit den anderen alten Widersachern seinen Frieden geschlossen und alle alten Feindschaften begraben zu haben. Die Heftigkeit seiner Reaktion verwirrte sie.
Auch nachdem sie sich eine Weile angestarrt hatten, war Rhapsody noch nichts Greifbares aufgefallen. Sie lächelte ihn an und hoffte so, seine dunkle Stimmung zu zerstreuen. Die Wildheit in den Augen des Generals schien sich aufzulösen, und er schaute sie mit frischem, klar gewordenem Blick an.
»Ich sollte aufbrechen«, sagte er schließlich, griff nach den Krücken neben seinem Stuhl und legte sie sich in den Schoß. »Bestimmt wartet der junge Gwydion schon und zerrt an den Zügeln.« Er schaute Rhapsody eine Zeit lang an und beugte sich vor.
»Es gibt noch etwas, das ich dir sagen möchte«, meinte er mit fester, aber ruhiger Stimme. »Nur für den Fall, dass ich nicht zurückkehren sollte.«
Rhapsody wurde blass. »Denk nicht einmal daran und sprich es bloß nicht aus«, sagte sie.
Anborn lächelte schwach. »Es ist eine Möglichkeit, die immer existiert, wenn der eine den anderen verlässt. Hast du nicht etwas Ähnliches gesagt?«
»Ja. Aber ich mag die Art nicht, wie es aus deinem Munde klingt. Als ich es gesagt habe, wollte ich den Leuten damit klar machen, wie sehr ich sie mag. So wie du es sagst, kommt es mir wie ein endgültiger Abschied vor.«
»Es ist keines von beiden. Ich möchte nur der einzigen lirinischen Benennerin, die ich kenne, eine geschichtliche Tatsache mitteilen, die ich nie zuvor jemandem verraten habe. Meine beiden Eltern waren selbstsüchtige, in die Irre geleitete Herrscher, die wegen einer unwesentlichen Meinungsverschiedenheit und ihrem eigenen Machthunger einen ganzen Kontinent in den Krieg geschickt und die Zivilisation zerstört haben, die ihr Volk aus dem Nichts errichtet hatte. Darin liegt etwas so Habsüchtiges und Selbstgefälliges, das man nur als zutiefst böse bezeichnen kann – bei beiden.«
Er beugte sich noch weiter vor, sodass seine sanften Worte deutlich zu hören waren.
»Es mag Leute geben, die meine Aussage als voreingenommen oder eigensüchtig bezeichnen, doch ich schwöre dir, Rhapsody, dass mein Vater Gwylliam ein Mann war, den seine Eigensucht böse gemacht hat, meine Mutter aber war von Anfang an durch und durch böse und übel wollend, und zwar auf eine viel tiefer gehende Weise. Falls Llauron aus dem Äther oder einem anderen Element, in dem er inzwischen lebt, hier erscheinen würde, wäre er vielleicht anderer Meinung, weil er immer Partei für sie ergriffen hat. Doch was mein Bruder auch sagen mag, ich kann dir aus persönlicher Anschauung berichten, dass meine Mutter das personifizierte Böse war. Sie war seelenlos; sie war mit der Fähigkeit geschlagen, immer nur in die Vergangenheit zu sehen und andauernd an all das Unrecht, die Hintergehungen und Kränkungen erinnert zu werden, die gute Männer und Frauen irgendwann hinter sich lassen und begraben, damit sie weiterleben und in die Zukunft sehen können. Vielleicht wird jemand, der ein solches Schicksal hat, einfach böse. Aber Anwyn zeigte eine Unbarmherzigkeit, die aus tieferen Ursachen herrührte. Niemand bezweifelt, dass sie es war, die dem Dämon, den du und deine Freunde besiegt haben, zu seiner Stärke verhalf und ihn Jahrhunderte lang vor der Welt verbarg, damit er seine zerstörerischen Pläne schmieden konnte. Aber ich weiß noch mehr – viel mehr. Und ich sage dir, dass meiner Erfahrung nach nichts dem Blick in die Gruft der Unterwelt näher kommt als ein Blick in die Augen meiner Mutter. Möge sie in dieser Gruft auf ewig verwesen.«
Er gab den Sänftenträgern ein Zeichen und wurde aus dem Zimmer getragen. Rhapsody schaute ihm in verblüfftem Schweigen hinterher.
Elynsynos’ Höhle war noch genau so, wie Rhapsody sie in Erinnerung behalten hatte.
Die Reise mit Ashe war viel einfacher als die erste gewesen, die sie gemeinsam zu diesem Ort unternommen hatten. Damals hatten sie einander noch nicht vertraut; das Land war erfüllt gewesen von verborgenem Bösen und hatte sich im Griff eines unsichtbaren F’dor befunden. Selbst Verbündete waren misstrauisch gegeneinander gewesen. Als sie nun verliebt und als zukünftige Eltern zu der verborgenen Höhle zurückkehrten, die bei einem Tal nahe einem kleinen Waldsee lag, erkannten der Herr und die Herrin der Cymrer, dass ihnen alle angenehmen Erinnerungen der ersten Reise im Gedächtnis geblieben waren, während Misstrauen und Bitterkeit verflogen waren.
Der See am Fuß des Berges war zugefroren; das kristallene Eis spiegelte die Bäume am Ufer wider.
Aus den Tiefen der Höhle drang eine Stimme, während sie näher kamen. Es war Sopran, Alt, Tenor und Bass gleichzeitig.
Hallo, meine Schöne. Du hast deinen Mann und dein Kind mitgebracht. Wie nett.
Rhapsody kicherte. »Hallo, Elynsynos. Dürfen wir eintreten?«
Ja, natürlich. Kommt herein.
Gemeinsam folgten Ashe und Rhapsody dem gewundenen Pfad in die Höhle der Drachin.
Die große Drachin, Matriarchin aller auf dem Kontinent lebenden Artgenossen, wartete inmitten ihres Hortes aus glitzernden Münzen, ihren Schatzkisten, Juwelen und Artefakten, welche die eifersüchtige See hergegeben hatte: Dreizacke, Masten, Galionsfiguren von untergegangenen Schiffen, Ruder und Räder, gestaltet zu Kerzenleuchtern mit tausend kerzenlosen Flammen.
Wie immer kämpfte Rhapsody darum, nicht von Elynsynos’ Augen hypnotisiert zu werden. Es waren Prismen aus Farben und verzauberndem Licht, die dieselben senkrechten Pupillen hatten wie Ashes Augen. Sie tanzten im Licht der Erregung.
Die große Bestie hob sich aus dem salzigen Wasser des Sees, der den Boden ihres Hortes bedeckte. Ihre gleißenden Schuppen und der gewaltige, schlangenartige Körper flössen wie ein Windstoß dahin. Elynsynos hatte schon vor langer Zeit ihre körperliche Gestalt aufgegeben und existierte in einem rein elementaren Zustand, wie auch ihr Enkel Llauron, Ashes Vater, ihn aus eigenem Willen angenommen hatte.
Kommst du mich besuchen, wie du versprochen hast, meine Schöne?, fragte die Drachin und ließ sich wieder auf dem Höhlenboden nieder.
»Allerdings«, antwortete Rhapsody. »Ich hoffe, von dir zu erfahren, wie man ein Drachenkind austrägt und sich dabei nicht allzu schlecht fühlt.«
Wie fühlst du dich jetzt?, fragte die große Bestie.
Rhapsody dachte nach. Die Übelkeit war in dem Augenblick verschwunden, als sie die Höhle betreten hatte und vom rhythmischen Plätschern des kleinen Salzsees eingehüllt worden war.
Während die Dunkelheit und Enge des Ortes sie an die Wurzel des Weltenbaumes erinnerten, lag hier Liebe in der Luft, die Rhapsodys Angst, welche sie manchmal an unterirdischen Orten befiel, im Zaum hielt.
Die Meeresschätze waren ein Zeichen für die Liebe der Drachin zu ihrem verstorbenen serenischen Seemann Merithyn dem Eroberer, der diesen Ort vor tausend Jahren entdeckt und unwissentlich eine Dynastie geschaffen hatte, welche den Kontinent gegründet und wieder zerstört hatte.
Und ihn nun wieder neu gründete.
»Besser«, sagte sie. »Beinahe gut.«
Die Drachin betrachtete sie mit einer Mischung aus Besorgnis und Zärtlichkeit.
»Kümmerst du dich an meiner statt eine Weile um meine Frau, Urgroßmutter?«, fragte Ashe und half Rhapsody in einen Liegestuhl, der mit einem in den Stein der Höhle gerammten Dreifuß an der Wand befestigt war.
Natürlich, sagte die Drachin, indem sie den Wind als Stimme benutzte. Habt ihr schon einen Namen für das Kind ausgesucht?
Die werdenden Eltern schauten einander an.
»Wir haben uns einen überlegt, aber wir wollen abwarten, wie das Kind aussieht und sich verhält«, erklärte Rhapsody.
Sehr gut, meinte Elynsynos. Ihr wisst aber sicherlich, dass das Kind einen Namen braucht, um überhaupt geboren werden zu können.
»Äh, nein, das wusste ich nicht«, gestand Rhapsody.
Ein Drache schlüpft in elementarem Zustand aus dem Ei, belehrte Elynsynos sie. Da Drachen hauptsächlich das Erbe der Erde besitzen, aber auch das aller anderen Elemente, bestimmt der Name wesentlich, wie das Kind sein wird. Wählt ihn also weise aus. Viele Drachinnen sind nach dem Eierlegen reizbar, und die Namen, die sie ihren Abkömmlingen geben, wenn sie diese ausbrüten, führen oft zu noch reizbareren Drachen.
»Wird das bei unserem Kind genauso sein?«, fragte Ashe, während er sich neben einen gewaltigen Haufen aus Münzen setzte, die aus einem blauen, aus den Tiefen der Berge stammenden Metall bestanden. »Er oder sie wird kein voll entwickeltes Drachenkind sein. Ich hoffe, dass es wegen des stark verdünnten Blutes sogar wenig drachenhaft ist.«
Die große Bestie zuckte die Schultern; es war eine Geste, die Rhapsody zum Kichern brachte.
Jeder Drache ist anders, sagte Elynsynos. Man kann nie wissen, was die Kombination verschiedener Blutarten hervorbringen wird. Schließlich gibt es nur wenige Drachen auf der Welt, und alle, die ich kenne, sind mit mir verwandt. Meine drei Töchter Manwyn, Rhonwyn und Anwyn sind Drachinnen der ersten Generation, und von ihnen hat sich nur Anwyn fortgepflanzt. Die einzigen anderen lebenden Drachen, die ich kenne, sind Anwyns drei Söhne Edwyn, Llauron und Anborn und natürlich du, Gemahl meiner Schönen. Ihr alle seid unterschiedlich, auch wenn es eine gewisse Familienähnlichkeit gibt. Wer kann da sagen, wie euer Kind sein wird? Der Junge oder das Mädchen wird halt so sein, wie er oder sie ist.
Ashe lächelte seine Urgroßmutter an. »Weise Worte. Wir werden unser Kind lieb haben, wie es auch sein mag. Ich hoffe, du hilfst uns dabei, es in den Überlieferungen der Drachen zu unterrichten. Bei mir hat das niemand getan. Ich glaube, es hätte mir geholfen, meine zweite Natur, diese nichtmenschliche Seite, besser zu verstehen.«
Die große Bestie schnaubte.
Die Drachennatur ist geradeheraus, Gemahl meiner Schönen, sagte sie ein wenig beleidigt. Es ist das menschliche Blut, das die Drachennatur widersprüchlich macht.
Die Drachen beschützen ihr Land, weil es ihre Pflicht ist. Wir sind die letzten Wächter der uranfänglichen Erde; sie lebt in uns wie in keiner anderen Kreatur. Wir allein begreifen das Risiko des Todes, die Endgültigkeit des Endes, weil wir im Gegensatz zu anderen Geschöpfen keine Seele haben. Kein Drache würde je einen anderen Drachen töten, wie sehr er ihn auch hassen mag, denn wir wissen, dass unsere Rasse bestehen bleiben muss. Das ist eine Weisheit, die älter ist als ich – die älter als wir alle ist. Ich weiß nicht, ob die Abkömmlinge der Drachen es ebenfalls wissen. Ich vermute, dass es bei Anwyns Söhnen der Fall war. Sie haben nie versucht, einander oder ihre Mutter umzubringen, auch wenn es ihnen möglich war – besonders Llauron. Aber was Anwyn angeht, so weiß ich nicht, ob sie sich an die Drachenart halten würde, wenn es ihren Zielen nicht diente. Die Drachin beäugte Ashe, wobei prismatisch gebrochene Lichtblitze über die Münzen tanzten, die verstreut in der Höhle herumlagen. Über dich sind noch keine Geschichtsbücher geschrieben. Wir müssen abwarten, ob du den Drachengesetzen treu bleibst oder ob dich dein Mischblut auf andere Wege führt.
»Es stimmt, an meinen Händen klebt Blut«, sagte Ashe mit melancholischer Stimme. »Soweit ich weiß, habe ich nie jemanden meiner eigenen Art getötet. Aber ich hatte die Gelegenheit, meine Großmutter aus der Luft zu holen, als sie das cymrische Konzil im Tiefflug angegriffen und meine Frau in die Luft entführt hat, und ich hätte ihr ohne Zögern das Herz herausgerissen. Doch glücklicherweise hat Rhapsody das für mich getan, und ich kann nicht behaupten, über ihren Tod traurig zu sein. Sie war eine verbitterte, blutrünstige, bösartige Frau, und ihr Tod war für alle ein Segen.«
Unzeitiger Tod ist nie ein Segen, sagte die Drachin traurig. Das sagst du, weil du es nicht besser weißt. Ich hatte es auch nicht besser gewusst, bis Merithyn starb.
Vorher hatte ich den Tod nie gespürt, sein böses Brennen nie zwischen den Zähnen gefühlt. Die Geschöpfe, die ich verzehrt habe – Hirsche, Rehe und dergleichen –, haben den Tod in meinen Fängen erlitten, doch mit ihrem Vergehen war das Leben gekommen; daher hatte es nicht denselben bitteren Geschmack. Merithyns Tod hingegen war ein so vollständiges Ende, dass er einen Teil meines Lebens mit in den Abgrund gerissen hat. Auf der Liege streckte Rhapsody die Hand aus und streichelte die gewaltige Schulter der Drachin.
»Merithyn hat sein Leben für die Rettung seines Schiffes und eines großen Teils der Ersten Flotte hingegeben. Auch aus seinem Tod ist Leben erwachsen, Elynsynos. Es war ein großes Opfer, für ihn und für dich, doch es hat einer ganzen Nation das Leben geschenkt. Vielleicht war es eines der größten Opfer in der Geschichte.«
Die Drachin schüttelte heftig das Haupt.
Nein, meine Schöne. Ich will dir sagen, was das größte Opfer war. Es ist wichtig, dass ihr beide es wisst, weil es sich um das Erbe eures Kindes und seines Drachenblutes handelt. Ich will euch vom Ende erzählen.
Ihr kennt die Geschichten aus der Vor-Zeit von den großen Kämpfen zwischen den fünf erstgeborenen Rassen, als die Kinder der Luft, der Erde, des Wassers und des Äthers, die Kith, die Drachen, die Mythlin und die Seren sich zusammenschlössen und die zerstörerische fünfte Rasse, die Feuerdämonen der F’dor, in das Innere der Welt verbannten, wo sie der Erde keinen Schaden mehr zufügen konnten. Und ihr wisst zweifellos auch, dass die Rolle, welche die Drachen dabei spielten, in der Hingabe des Lebendigen Gesteins bestand, damit die Gruft der F’dor damit versiegelt werden konnte, ja?
»Ja«, sagte Ashe.
Aber was du nicht weißt, mein Urenkel und Gemahl meiner Schönen, ist der Umstand, dass die Gruft trotz der großen Menge an Lebendigem Gestein die F’dor nicht vollkommen einkerkern konnte. Der Stammvater aller Drachen, der Erste unserer Rasse, erkannte, dass der Käfig aus Lebendigem Gestein sie auf Dauer nicht zu halten vermochte.
Also machte er das größte Opfer der ganzen Geschichte. Dieses Opfer ist allen Drachen als Das Ende bekannt. Bei der Entscheidung eines Drachens, sein Leben aufzugeben, muss man bedenken, dass wir kein Nachleben haben – zumindest kein bewusstes. Meistens wird diese Entscheidung am Ende eines sehr langen Lebens getroffen. Dann ist der Drache zu müde, um weiterzuleben, er leidet Schmerzen und ist erschöpft und versucht daher nicht länger, am Leben zu bleiben. Also beendet er es. Diese Art des Endes lässt etwas von ihm zurück: Das Blut, das in seinen Adern floss, wird zu Gold. Und etwas von dem, was der Drache zu Lebzeiten war, bleibt darin enthalten: Geiz und Besitzanspruch. Warum sind die Menschen so hungrig nach einem weichen, gelben Metall, das ihnen doch gar nichts nützt? Sie können ihren Hunger nicht damit stillen oder sich damit heilen, wenn sie krank oder verletzt sind. Sie können es nicht einmal zu Waffen schmieden. Dennoch führen sie Kriege darum, begehen dafür alle Arten von Verbrechen und verlieren sogar ihre Seele daran. So würde es auch ein Drache tun.
»Darüber habe ich noch nie nachgedacht«, gestand Rhapsody und machte sich Notizen in ihrem kleinen Buch. Der Stammvater erkannte also, dass die F’dor irgendwann aus der Gruft entkommen würden. Nach all dem Sterben, all der Zerstörung und allem, was im Kampf um ihre Einkerkerung geopfert wurde, begriff er den unermesslichen Preis dafür. In dem Augenblick, da das Schloss der Gruft von innen gesprengt wurde, wand der Stammvater seinen unvorstellbar großen Körper um die Gruft und versiegelte sie auf diese Weise. Er hatte sich im ätherischen Zustand befunden. Sobald er die Gruft mit seinem eigenen Selbst umschlossen hatte, erledigte er sich nach und nach seiner elementaren Eigenschaften – des Äthers, der Erde, des Wassers, der Luft und des Feuers. Sein Körper vertrocknete und verhärtete sich zu einer gewaltigen Hülle, welche die Gruft umgab und die F’dor am Entkommen hinderte. Er führte sein eigenes Ende herbei. Das ist sein Vermächtnis – und es ist gleichzeitig das Vermächtnis eures Kindes. Jeder Drache hat die Macht, das Ende herbeizuführen, aber meines Wissens hat es seitdem niemand mehr getan, denn es ist die vollständigste und endgültigste Form des Todes. Dabei bleibt von einem nicht einmal etwas in Gold und Edelstein zurück, das eines Tages die hohlen Köpfe der Könige oder die Brüste eitler Damen schmücken könnte. Drachen haben eine stärkere Beziehung zur Erde als alle anderen Wesen, weil wir ihr zu ihrem Schutze mehr als alle anderen geopfert haben.
Der Herr und die Herrin der Cymrer sahen einander schweigend an.
Das ist also die Geschichte, schloss Elynsynos mit einem leichteren Ton in ihrer vielfarbigen Stimme. Nun, Gemahl meiner Schönen, solltest du etwas essen, damit du gestärkt für die Heimreise bist, und du darfst uns oft besuchen kommen.
Ein Tablett mit Würstchen und Schalen mit Schinken erschienen auf dem Höhlenboden.
Ashe lachte. »In Ordnung, ich habe den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden. Also gut, Urgroßmutter, ich werde essen und mich auf den Weg machen, damit du den Besuch meiner Frau endlich genießen kannst. Ich weiß, wenn ich unerwünscht bin, und ich habe keine Lust, deinen Atem zu spüren, also werde ich mich fügen.«
Mach dich nicht lächerlich, sagte die Drachin. Ein Drache muss einen guten Grund haben, wenn er jemanden mit seinem Atem versengen will. Ich habe keinen.
Und jetzt nimm etwas Schinken! Dann machst du dich auf den Weg.
Nachdem Ashe gegangen war, schaute Rhapsody die Dokumente durch, die Achmed ihr gegeben hatte, wie sie es ihm versprochen hatte.
»Ich habe vergessen, dir etwas Wichtiges zu sagen, Elynsynos«, meinte sie, während sie vorsichtig die Papiere durchblätterte und den Musik-Code übertrug, in dem das Manuskript abgefasst war. »Zur Tauperiode habe ich meinen Freund Achmed gebeten herzukommen.«
Die Drachin atmete langsam ein.
Hast du ihm gesagt, wo ich zu finden bin?
»Nein«, entgegnete Rhapsody rasch. »So etwas würde ich nie ohne deine Erlaubnis tun. Ich habe ihm gesagt, er soll zum Tarafel gehen, und ich würde ihn von dort aus mit meinem Gesang zu dem Ort leiten, an dem ich ihn treffen möchte. Er kann dem Klang seines Namensliedes überallhin folgen. Ich will dich nur darauf vorbereiten, dass Achmed und ich zuweilen heftig miteinander streiten. Das ist kein Anzeichen dafür, dass er mir etwas zu Leide tun will, sondern ganz normal unter uns. Bitte misch dich nicht ein, falls wir uns streiten sollten. Ich möchte nicht zusehen müssen, wie er an einem Spieß über seinem eigenen Lagerfeuer geröstet wird.«
Also gut, meinte die Drachin, auch wenn sie nicht begeistert klang.
Von nun an genossen sie die Gegenwart des anderen. Die Drachin erfreute sich an ihrer Freundin, und die cymrische Herrscherin übersetzte die Dokumente, bis sie erzitterte, als sie begriff, was sie bedeuteten. Mit bebenden Händen legte sie das Manuskript zurück in die Metallkassette und schloss sie rasch. Ein Brechreiz überkam sie, doch er rührte nicht von ihrer Schwangerschaft her.
»O heiliger All-Gott!«, flüsterte sie.
Als Ashe sich dem gegenüberliegenden Ufer des kristallartigen Sees näherte, hinter dem sich das Nest der Drachin Elynsynos befand, spürte er ein unerwünschtes Prickeln im Rückgrat, das über die Haut bis in die Fingerspitzen ausstrahlte. Einen Herzschlag später war es verschwunden.
Er hielt im verharschten Schnee an und drehte sich wütend um. Er hatte die Schwingungen erkannt und suchte nach ihrer Quelle, doch in dem alten Wald war nichts zu sehen. Die tiefe, üppige Farbe der immergrünen Zweige hob sich scharf gegen die bloßen Stämme und Äste der Laubbäume ab, die silbern und kahl dastanden oder bedeckt waren von toten, roten und rostbraunen Blättern, die im starken Winterwind bald fortgeweht würden. Die Brise, die nun durch die Lichtung blies, war scharf und kalt.
»Wo bist du, Llauron?«, fragte der Herr der Cymrer in die Luft.
Nichts als der Wind und die Kräuselungen an der Oberfläche des Sees antworteten ihm.
Wütend packte Ashe den Griff seines Schwertes und zog es rasch aus der Scheide. Kirsdarke, die Klinge aus elementarem Wasser, wurde in seiner Hand lebendig und war wie die schäumenden Wellen des Meeres; ihr schimmernder, flüssiger Zorn glich dem von Ashe. Er hielt sie gegen die Augen und schaute hindurch.
Die Welt hinter den Kräuselungen erschien matt und stumpf wie ein alter Grabstein, dessen Inschrift mit der Zeit immer blasser geworden war. Wie wenn Wasser auf einen solchen Stein rinnt und die Vertiefungen der Schrift wieder sichtbar macht, so wurde durch die Klinge hinter dem Rand der Lichtung eine elementare Gestalt sichtbar, die dem menschlichen Auge üblicherweise verborgen blieb.
Ein großer Drache glitt durch die Luft über dem Boden; er war grau und silbern wie die Zweige der Ahornbäume.
»Ich sehe dich, Vater«, sagte Ashe verärgert. »Du kannst dich ruhig zeigen.«
Ein Seufzer der Enttäuschung pfiff wie eine Brise durch den Wald. »Mit dir konnte man nie Verstecken spielen«, sagte ein leichter, wohltönender Bariton. »Schon als Kind war dein Drachensinn scharf. Wenn du mehr als ein paar Atemzüge brauchtest, um mich zu finden, wussten wir beide, dass du mir nur schmeicheln wolltest.«
»Ich bin aus dem Spielealter heraus«, sagte Ashe verbittert und steckte Kirsdarke mit einer wilden Bewegung zurück in die Scheide. »Vor drei Jahren habe ich dir gesagt, du sollst dich von mir und meiner Familie fern halten. Obwohl du überall im Äther herumlungern und mit den Elementen reden könntest, was du dem Beisammensein mit deiner Familie vorgezogen hast, bist du hier draußen vor Elynsynos’ Nest. Welch ein Zufall! Was willst du?«
»Nichts Böses, das kann ich dir versichern«, sagte die Stimme mit gereiztem Unterton. »Es ist nicht nötig, so grob zu sein. Ich bin dein Vater, Gwydion, oder wenigstens war ich das zu meinen Lebzeiten als Mensch.«
»Was du freudig für eine hohle Unsterblichkeit geopfert hast«, sagte Ashe und zupfte an seinen Lammfellhandschuhen. »Und zum Nachteil des Seelenfriedens meiner Frau. Sie hat manchmal immer noch Albträume, in denen sie dich auf deinem falschen Scheiterhaufen mit einem Sternenlichtblitz aus ihrem Elementarschwert in Brand gesetzt hat, weil du es so wolltest. Ich habe es dir damals gesagt, und ich sage es dir jetzt wieder: Halte dich von Rhapsody fern. Sie hat für deine elementare Drachenschaft einen hohen Preis bezahlt, und ich will sicherstellen, dass so etwas nie wieder vorkommt.«
»Deine Frau hat mir schon vor langer Zeit vergeben, Gwydion«, sagte die Stimme. Die Luft zwischen den Bäumen bewegte sich, nahm Umriss und Gestalt an und verdichtete sich, bis sie zu einer gewaltigen, dunstigen Schlange mit schimmernden, aschfarbenen Schuppen wurde, auf denen es abwechselnd golden und silbern aufblitzte. Die gewaltigen Schwingen waren gefaltet, und nur der schlangenartige Körper war sichtbar, der von den Nüstern bis zur Schwanzspitze mehr als hundert Fuß maß. »Es ist schade, dass du nicht ihrem Beispiel gefolgt bist.«
»Ich kümmere mich mehr um ihr Wohlergehen als sie selbst«, gab Ashe angespannt zurück und starrte dem gewaltigen ätherischen Drachen in das facettenartige Auge, in dem eine längsgeschlitzte Pupille steckte. Diesen Blick hielten nur wenige Menschen aus, ohne sich dem Willen der Bestie auszuliefern, doch Ashe blinzelte nicht einmal, so stark war sein
Drachenblut. »Und deshalb will ich allen Ärger, jede Belästigung und Beeinflussung von ihr fern halten – all das hast du ihr schon angetan. Scher dich fort. Du hast hier nichts verloren.«
Der Wind rauschte durch die verschneite Lichtung, hob das körnige Tuch aus Schnee und trieb die Kristalle in flatternden, tanzenden und zuckenden Bändern vor sich her; dann fiel er wieder zu Boden und rutschte über die Erde.
Schließlich sprach der Drache mit einer Stimme, die tief wie das Meer war und in der unmissverständliche Traurigkeit schwang:
»Du möchtest mich von meinem eigenen Enkel fern halten?«
Ashe stieß scharf die Luft aus. »Das ist es also, nicht wahr? Du hältst nach dem Kind Ausschau. Warum? Was willst du mit einem Kind anfangen? Du hattest einmal eines, wenn ich mich recht erinnere, und es war kaum mehr für dich als ein Werkzeug, mit dem du deine Ziele erreichen wolltest. Welche Ziele hast du jetzt noch, Llauron? Ich hatte geglaubt, solche Dinge fielen mit der Asche des sterblichen menschlichen Körpers ab, den du im Kohlenbett deines Scheiterhaufens zurückgelassen hast, nachdem du meine Frau überzeugt hattest, dich ohne ihr Wissen in dein elementares Selbst zu verwandeln. Hast du nichts Besseres zu tun, jetzt, da du der Wind, das Feuer, die Erde, das Wasser und der Äther und sicherlich auch die schiere Galle bist?«
»Mir scheint, du glaubst, ich sei immer das Letztere gewesen«, sagte Llauron, entfaltete seine dünnen Schwingen und streckte sie träge. Sie fuhren wie Nebel ohne Widerstand durch die Äste und Farne des Waldes. »Ich fürchte, das kann ich nicht bestreiten.
Aber fällt dir die Vorstellung wirklich so schwer, Gwydion, dass ich in meinem hohen Alter dieselben Freuden erfahren will wie jeder andere werdende Großvater, der sich an seinen Nachkommen ergötzt?«
Der hässliche Laut, der aus Ashes Kehle kam, war sowohl ein Gurgeln als auch ein Husten.
»Ja, das ist es«, sagte er nur. »Du willst Großvater sein?«
»Allerdings.« Die Bestie schlug mit den Luftflügeln und fegte damit viele trockene Blätter von den Zweigen.
»Enkel sind eine zweite Gelegenheit, das Glück zu erfahren, das uns beim ersten Mal möglicherweise entgangen ist, Gwydion. Stelle nicht mein Verlangen infrage, die Abkömmlinge meines Blutes kennen zu lernen. Wenn du etwas über unsere Rasse weißt, dann, dass es – falls überhaupt – nur wenig gibt, was einem Drachen wichtiger ist als Nachkommenschaft.«
»Ja, das ist mir durchaus bewusst«, sagte Ashe. Er ging näher an die ätherische Bestie heran und stellte sich zwischen sie und den Weg zu Elynsynos’ Höhle. »Und da mir meine eigene Nachkommenschaft wichtiger ist als jegliches andere, werde ich alles Nötige tun, damit sie nicht das Vergnügen haben muss, so lange von einem Mitglied der Familie beeinflusst zu werden, bis sie sich nutzlos, sinnlos oder gar verdammt fühlt. Das sind Gefühle, die ich dank meiner zärtlichen Erziehung sehr gut kenne. Ich will nicht, dass mein Sohn oder meine Tochter sie je empfinden muss. Niemals. Und ich weiß, dass Rhapsody derselben Meinung ist. Halt dich also von diesem Ort fern. Ich glaube nicht, dass deine Einwände ehrlich gemeint sind. Ich bin mir sicher, dass auch hier ein anderer Beweggrund die Hauptrolle spielt, ein versteckter Grund, der dir zum Nutzen und allen anderen zum Schaden reicht. Aber da die anderen meine Frau und mein Kind sind, werde ich es nicht erlauben. Gerade weil ich zum Teil ein Drache bin, ist nichts anderes mir wichtig. Geh fort.«
Der Ausdruck der Trauer verschwand in den prismatischen Augen der Bestie und machte etwas Strengerem Platz. Es war ein Ausdruck, den Ashe erkannte, auch wenn er ihn bisher nur in dem menschlichen Gesicht seines Vaters gesehen hatte. Llauron schaltete vom Gefühlvollen und der Zurschaustellung von Schwäche um zum Logischen, worin seine Stärke lag.
»Du willst mich also zum Besten des Kindes von ihm fern halten?«
Der Kopfschmerz hinter Ashes Augen stach heftig zu. Er rieb sich die Augen mit den Knöcheln und versuchte ihn zu bekämpfen.
»Und zu Rhapsodys Bestem«, sagte er und zuckte zusammen.
Der Drache nickte nachdenklich. »Und deiner Ansicht nach ist es besser für dein Kind, wenn es aufwächst, ohne seinen Großvater zu kennen?«
»Traurigerweise ja.«
»Wie kurzsichtig zu bist.« Der große graue Drache streckte die Flügel ein wenig aus und peitschte dadurch die Eiskristalle auf der Oberfläche des Schnees; die leichte Brise trieb sie Ashe in die Augen. »Ist dir schon der Gedanke gekommen, dass dein Kind, das gezeugt wurde, als dein Drachenblut auf dem Höhepunkt seiner Kraft war, noch drachenartiger sein könnte als du? Es wird nur wenige Lehrmeister haben, die wie es selbst sind; Drachen sind schon selten genug. Doch jene, die mit dem Kind eng verbunden sind, sind noch seltener und weit voneinander entfernt...«
»Er oder sie kann von Elynsynos lernen«, sagte Ashe knapp. Es ärgerte ihn, dass das Gespräch noch immer nicht beendet war. »Sie ist seine Ururgroßmutter, eine reine Drachin, kein bloßes Wesen mit Drachenblutanteil wie du und ich. Niemand weiß so gut wie sie, wie es ist, Drache zu sein. Ich bin sicher, dass sie meinem Kind gern die Drachenart und Drachenweisheit beibringen wird. Außerdem hat sie Rhapsody und mich noch nie betrogen. Also vielen Dank für dein großzügiges Angebot, aber ich glaube, die Erziehung des Kindes ist geregelt.«
»Meine Großmutter ist nicht als menschliches Wesen durch die Welt gegangen«, sagte Llauron sanft. Die silbernen Schuppen glitzerten im staubigen Schimmer der Lichtung auf. »Sie hat nur menschliche Gestalt angenommen – oder genauer serenische –, um die Aufmerksamkeit Merithyns auf sich zu lenken. Sie mag die alten Zeiten kennen, wie es bei mir nicht der Fall war, so lange ich eine menschliche Gestalt hatte, doch da ich nun mit den Elementen vereint bin, kenne ich diese Geschichten ebenfalls, Gwydion. Und ich habe viel mitzuteilen. Sicherlich willst du nicht alles verwerfen, was ich dich über die Welt gelehrt habe.«
Ashe sog heftig die Luft ein und füllte die Lungen mit der frierenden Luft des Waldes. Sie wog schwer in ihm. Die Worte seiner Frau, ausgesprochen als Benennerin auf dem Konzil, das sie und Ashe zu Herrschern über das cymrische Volk bestimmt hatte, klangen ihm in den Ohren.
Wenn ich eine Botschaft für euch habe, dann diese: Die Vergangenheit ist vorbei. Lernt aus ihr und lasst sie los. Wir müssen einander vergeben. Wir müssen uns selbst vergeben. Nur dann werden wir wahren Frieden finden. Er betrachtete das Gesicht der ätherischen Bestie, das vor ihm in der Luft hing. Die Augen des Wesens blitzten vor Verständnis, doch es lag noch mehr darin. Ashe wusste nicht, was es war, aber für einen Augenblick wirkte es wie Verlangen oder etwas Ähnliches.
Unwillkürlich dachte er an seine Kindheit zurück, an die früheste Zeit, an die er sich erinnern konnte, bevor ihm ein Stück des Seren in die Brust eingesetzt worden war, bevor seine Drachennatur sich gezeigt hatte, damals, in den Tagen der Unschuld, als er bloß ein Junge war, fast allein auf der Welt, nur mit seinem Vater, der es liebte, mit ihm durch die Wälder zu wandern, und der ihm alle Arten von Bäumen und Pflanzen zeigte, der ihm Seemannslieder und alte Volksweisen vorsang, der ihn Segeln und Schwimmen in jenem Ozean lehrte, welcher später ein Teil von ihm wurde. Zu seinem Entsetzen waren diese guten Erinnerungen noch immer da; sie waren nicht, wie er geglaubt hatte, getilgt worden durch Llaurons spätere Selbstsucht und seine Bereitschaft, seinen Sohn und – schlimmer noch – Rhapsody für seine Ziele einzusetzen, wie hehr auch immer sie gewesen sein mochten.
»Ich glaube, dass du wirklich Teil des Lebens und der Erziehung deines Enkels oder deiner Enkelin sein willst, Vater«, sagte er schließlich und zuckte unter der Hoffnung zusammen, die er in den grau-blauen Augen des Drachen aufkeimen sah. »Deine Geschichtslektionen mögen wertvoll sein, doch anderes, das du zu lehren pflegst, ist viel gefährlicher und schmerzhafter. Ich wünschte, es wäre nicht so. Es tut mir Leid.«
Er drehte sich rasch um, ging in den Wald und ließ Llaurons neblige Gestalt zurück.
Die Bestie schaute ihm nach. Llaurons Drachensinn folgte ihm mehr als fünf Meilen und bemerkte den schnellen Schritt seines Sohnes, den Kloß in seinem Hals und das gerötete Gesicht. Als Ashe schließlich jenseits der Reichweite seiner Sinne war, verschmolz Llauron langsam mit dem Wind und verschwand. Er hinterließ auf den trockenen Blättern des Waldes nur eine feine Spur aus Gold, die man dort entdecken kann, wo die Tränen eines Drachen auf die Erde gefallen sind.