Das Erwachen

1

Ylorc

Als der Gipfel des Gurgus explodierte, fraßen sich die Schwingungen bis in die Grundfeste der Erde. Auf der Oberfläche erstreckten sich die Schuttfelder meilenweit; die Trümmer reichten von felsblockgroßen Stücken am Fuß des Berges bis zu feinem Sandstaub, der in weiter Ferne die Steppe überzog. Dazwischen lagen, gleich einem zerbrochenen Regenbogen, Scherben aus farbigem Glas, das in den ausgehöhlten Gipfel des Berges eingelassen worden war; sie glitzerten in der Sonne, die sich immer wieder hinter Schleiern aus glimmerndem Staub verbarg.

Im Innern der Erde spürte eine kleine Gruppe von Firbolg-Soldaten die Erschütterungen unter den Füßen, obwohl sie sich einige Meilen östlich des Gurgus befanden. Augenblicke der Stille zogen vorüber, während sich Staub auf den Tunnelboden legte. Als Kram schließlich den angehaltenen Atem ausstieß, schüttelte der Rest der Patrouille die Betäubung ab und nahm seine Pflichten wieder auf. Der Sergeant-Major würde sie bei lebendigem Leibe häuten, wenn sie es zuließen, dass eine kleine Erschütterung sie von ihrem Rundgang abhielte. Wenige Tage später krochen die Soldaten zögerlich unter einem wolkenlosen Himmel aus der Erde hervor, denn sie hatten den äußersten Punkt dieses Teils des Tunnelsystems und das Ende ihres Patrouillengangs erreicht. Krarn stand am Rande der kraterähnlichen Ruinen des Großen Gerichthofes, des Versammlungsplatzes aus alter Zeit, der nun von Kohlenstaub geschwärzt war und als Spukort angesehen wurde. Nichts als das Heulen des Windes begrüßte ihn. Niemand lebte in dem felsenreichen Vorgebirge, das sich bis in die Steppe und die Krevensfelder erstreckte.

Die Männer hatten das Gebiet abgesucht und sich hinter ihrem Anführer gesammelt. Gerade als Krarn sie wieder in den Tunnel schicken wollte, richteten sich ihm die Rückenhaare vom Nacken bis zum Gürtel auf.

Es begann als äußerst schwaches Grollen in der Erde. Die Erschütterungen waren so gering, dass sie nicht wirklich spürbar waren, doch Krarn bemerkte ein Erzittern der Pflanzen und winzigste Veränderungen in dem trockenen Land – kaum mehr, als eine starke Brise hervorgerufen hätte. Doch er wusste, dass kein Wind diese Störung verursachte. Sie kam aus der Erde selbst.

Leise befahl er seinen Männern, sich in einer Schützenlinie aufzustellen. Er beobachtete angestrengt die Gegend und suchte nach weiteren Zeichen. Einige Minuten später schwand das seltsame Gefühl, und die Erde wurde wieder still. Nur der Wind seufzte noch in den hohen Gräsern.

»Nachbeben«, murmelte er zu sich selbst.

Mit einem Kopfschütteln führte Krarn seine Männer zurück in den Tunnel.

Damit vergab er die Gelegenheit, vor dem Kommenden zu warnen.

Mit jedem Tag wurden die Beben stärker.

Die Oberfläche des Großen Gerichtshofes, der von der Sommersonne zu einer wasserlosen Hülse gebacken worden war, zeigte dünne Risse, die sich wie das spinnwebartige Muster auf einem Spiegel ausbreiteten, der zerbrochen, aber noch nicht zersplittert ist.

Dann kam der Dampf. Winzige Wölkchen stinkenden Rauchs stiegen Unheil verkündend aus dem Boden unter den dünnen Rissen.

Bei Tage waren sie nicht zu sehen, falls überhaupt jemand da gewesen wäre, der sie hätte sehen können. Doch in der Nacht vermischten sie sich mit dem heißen Dampf, der vom Boden aufstieg, und wurden vom Wind empor getragen, bis sie sich mit den niedrig hängenden Wolken vereinigten.

Schließlich kam der Ausbruch.

Schockwellen rollten durch die Erde, als ob sie ein Meer wäre. Die Wellen wurden immer dichter und stärker. An manchen Stellen bewegten sich die Gesteinsschichten und hoben sich gar.

Dann bekam der Boden einen schrecklichen Sprung und klaffte auseinander.

Plötzlich gewann das Grollen unter der Oberfläche an Heftigkeit. Es nahm seinen Ausgang vor Ylorc, setzte sich aber rasch nach Norden fort.

Unfehlbar, entschlossen raste es auf das eisige Land des Hintervold zu.

Am östlichen Rand des Gebirges und dann westwärts in der Steppe war eine Bewegung in der Erde zu verspüren, ein so starkes Heben und Senken, das Nachbeben im ganzen Land verursachte, Bäume entwurzelte und Spalten in die Berghänge grub. Noch Meilen entfernt wachten in der Nacht die Kinder auf und zitterten vor Angst.

Ihre Mütter drückten sie eng an sich und beruhigten sie. »Es ist nichts, mein Kleines«, sagten sie in all den Sprachen, die ihre eigenen waren. »Manchmal bebt die Erde, aber sie wird sich wieder beruhigen. Siehst du? Es ist schon vorbei. Du brauchst keine Angst zu haben.«

Tatsächlich war es schon vorbei.

Die Kinder drückten die Köpfe gegen die Schultern ihrer Mütter; ihre Augen leuchteten in der Dunkelheit, und tief in ihrem Innern wussten sie, dass dies mehr gewesen war als nur eine kräuselnde Bewegung in der Kruste der Welt. Jemand, der genau hinhörte, mochte vielleicht hinter dem Beben eine Antwort aus tieferen Schichten des Bodens heraushören.

Aus viel tieferen Schichten.

Es war, als lausche die Erde selbst.

Tief in ihrer Höhle aus verkohlter Erde hatte die Drachin die Nachbeben gespürt, welche von der Sprengung des Berggipfels ausgegangen waren.

Ihr Bewusstsein hatte jahrhundertelang geschlummert, doch nun summte es leicht vor Erregung. Es reichte aus, um jene Empfindungen zu wecken, die seit ihrer Beisetzung im Grab aus geschmolzenem Stein und Feuerasche unter dem alten Großen Gerichtshof Winterschlaf gehalten hatten.

Zuerst war ihr dieses Gefühl unangenehm. Benommen bekämpfte sie es und versuchte, in das friedliche Vergessen des todesähnlichen Schlafes zurückzusinken. Doch als das Vergessen sich weigerte zurückzukehren, bekam sie Angst, denn sie fühlte sich in diesem Körper, an den sie sich nicht mehr erinnerte, höchst unwohl.

Kurz darauf wurde die Angst zu Entsetzen und vertiefte sich schließlich zu einem furchtbaren Grauen. Als die Unruhe über ihre Haut lief, erschütterte sie den Boden ihres Grabes und schickte leichte Schockwellen durch die Erde über ihr und um sie herum. Fern erspürte sie die Gegenwart einiger Firbolg-Wachen aus Ylorc, dem Bergreich, das an ihr Grab grenzte. Sie waren gekommen, um die Ursache des Bebens zu erforschen, doch die Drachin war so verwirrt, dass sie nicht genau wusste, wo sich die Soldaten befanden.

Schließlich verschwanden sie wieder und hinterließen bei ihr nur noch größere Verwirrung.

Die Drachin regte sich in ihrem Grab aus verbrannter Erde und drehte sich ganz leicht von einer Seite auf die andere. Sie beherrschte ihren Geist noch nicht genug, um sich mehr zu bewegen, und ihr Atem, den sie für lange Zeit nur in winzigen Wellen ausgestoßen hatte, war zu flach, um ihr größeren Raum zu verschaffen.

Die Erde, das Element, aus dem sie geboren war, drückte sie nieder und presste die Luft aus ihr. In ihrem verschwommenen Verstand drangen schreckliche Bilder des Erstickens empor.

Doch schließlich, nach scheinbar endloser Zeit in den Fängen des Grauens, schien durch das Chaos ihrer Gedanken und verwirrten Gefühle ein Leuchtfeuer – das klare, reine Licht ihres angeborenen Drachensinnes. Tief verborgen in den Strömen ihres alten Blutes, erhob sich ihr innerstes Bewusstsein, das in ihrem vergessenen Leben Waffe und Fluch zugleich gewesen war. Es klärte alle Rätsel, stillte die Panik, Zelle für Zelle, Nerv für Nerv, brachte in winzigen Augenblicken Klarheit, wie Steinchen eines Mosaiks, die plötzlich ein Ganzes ergeben, oder wie ein Bild, das allmählich schärfer wird.

Mit der Klarheit kam wachsame Ruhe.

Die Drachin fasste den Willen, leichter zu atmen, und ihr Wille allein ließ es geschehen.

Sie begriff ihre Gestalt nicht. In ihrer schlaftrunkenen Vorstellung war sie noch immer eine Frau von menschlichem Fleisch und Blut, kein Wurm, kein Tier, keine Schlange. Daher war sie verblüfft von ihrem Umfang, ihrer Schwere und den unbrauchbaren Armen und Beinen, mit denen sie sich nicht wie früher vom Boden abdrücken konnte. Ihre Verwirrung wurde von der fehlenden Verbindung zwischen Geist, Körper und Erinnerung verursacht – eine dunkle Bühne, auf der noch keine Schauspieler erschienen waren. In ihrem beschränkten Bewusstsein erinnerte sie sich nur an einen endlosen Sturz durch ein Feuer, das sie von oben getroffen hatte und zusammen mit ihr gefallen war.

Heiß, dachte sie benommen. Brennen. Ich verbrenne.

Natürlich verbrannte sie nicht. Der Feuerblitz, der sie vom Himmel geholt hatte, war schon seit mehr als drei Jahren erloschen und zu rauchiger Asche geworden, die das dicke Kohlenbett ihrer Gruft bedeckte und es hart und trocken gebacken hatte.

Die Drachin kämpfte gegen ihre Verwirrung an und wartete, bis sich ihr innerster Sinn einen Weg durch das Chaos zu bahnen vermochte. Mit jedem Atemzug sog sie die Luft tiefer in sich hinein, doch sie blieb reglos und ließ die Tage verstreichen. Die Zeit maß sie nur an der Hitze, die sie durch die Oberfläche spürte, wenn die Sonne hoch über ihrem Grab stand, und an der kühlen Nacht, die kurz währte, bis die Wärme zurückkehrte.

Es muss das Ende des Sommers sein, dachte sie. Dies war der einzige klare Gedanke, den sie zu fassen vermochte.

Bis ein anderes Bild den Weg auf die dunkle Bühne fand.

Es war ein Ort aus grellem Weiß, ein erfrorenes Land der zerklüfteten Gipfel und des endlosen Winters. Innerhalb der Enge des Grabes kehrte die Erinnerung an Weite zurück; sie entsann sich, wie sie in der menschlichen Gestalt, die sie einmal besessen hatte und in ihren Gedanken immer noch besaß, hoch zum Nachthimmel gestarrt hatte, der mit kalten Sternen überzogen gewesen war. Inmitten der gewaltigen, schneebedeckten Berge hatte sie sich winzig und unbedeutend gefühlt.

Ein einzelnes Wort bildete sich in ihrem Verstand.

Heimat.

Mit diesem Wort kehrte der Wille zurück.

Das Bild verfestigte sich und wurde klarer, und ihre Drachsinne fanden auch unter der Erde die Orientierung wieder. Mit jedem neuen Atemzug drehte sich die Drachin ein wenig, bis sie nach schier unendlich langer Zeit feststellte, dass sie nun Richtung Nord-Nordwest lag. Über all die Meilen hinweg hörte sie es rufen. Es war ihr Nest, ihre Festung, auch wenn die Einzelheiten noch undeutlich waren.

Das war gleichgültig.

Sobald sie die richtige Richtung gefunden hatte, machte sie sich auf den Weg. In dem Glauben, noch immer ein Mensch zu sein, kroch sie durch die Erde, zog ihren Körper, der sich nicht so verhielt, wie sie es erwartete, mit eisernem Willen voran, gewann langsam an Geschwindigkeit und Kraft, bis der Boden um sie herum allmählich kühler wurde und ihr anzeigte, dass ihre Heimat nahe war. Mit einem Ausbruch frisch gewonnener Entschlossenheit durchbrach sie die Erde und den ewigen Frost und schoss in einem Regen aus Eis und Schnee an die Oberfläche. Schwer fiel sie auf die weiße Decke, welche die Erde wie gefrorener Schorf bedeckte, und atmete flach und schnell. Den Stachel der Kälte beachtete sie nicht.

Lange lag sie reglos unter dem endlosen, von Sternen überzogenen Nachthimmel, während Wissen und Vernunft in Verbindung mit diesem Land zurückkehrten – mit diesem Ort, aus dem sie verbannt worden war und in dem sie sich ihr Nest geschaffen hatte. Die Drachin atmete den frostigen Wind ein, der langsam ihre geschwärzten Lungen säuberte, während der Drachensinn in ihrem Blut den Verstand reinigte.

Mit Geist und Verstand kehrte noch etwas anderes zurück, das heiß und vage, wenn auch unmissverständlich am Rande ihrer Erinnerung mit einer Eindringlichkeit brannte, die mit jedem Augenblick wuchs.

Es war die Raserei der Rache.

2

Der König des Bergreiches war fort, als der Gipfel explodierte.

Ein Mann, geboren als zufälliges Ergebnis von Verderbtheit und Verzweiflung, aus verschiedenerlei Blut, das von Erde und Wind kam, mit einer beinahe magisch empfindsamen Haut, einem Netz offen liegender Nerven und Adern. Daher spürte er im Wind die Schwingungen, welche die anderen Leben nannten, und vermochte es oftmals zu erfühlen, wenn etwas nicht so war, wie es sein sollte, und die natürliche Ordnung der Erde störte, zumal diese sein eigener Herrschaftsbereich war.

Wenn er in seinem Königreich gewesen wäre, als die Drachin erwachte, hätte er es gewusst. Aber Achmed die Schlange, der König der Firbolg und Herrscher von Ylorc, befand sich einen halben Kontinent entfernt und reiste gerade über Land nach Hause, als es geschah.

Daher verpasste er, genau wie seine Untertanen und die Wachen, die am Rande des Grabes gewandelt waren, die Gelegenheit, das Kommende aufzuhalten.

Aufgrund der Cwellan, einer Waffe, die er selbst erfunden hatte und die die Haut eines Drachen zu durchdringen vermochte, wäre er allein in der Lage gewesen, etwas zu unternehmen, als der weibliche Wurm noch ausgestreckt und orientierungslos in seinem Grab gelegen hatte. Seine Waffe hatte schon einmal von ihrem Blut getrunken.

Als er endlich nach Hause kam, war die Bestie schon lange verschwunden.

Sobald seine Mission im Westen abgeschlossen war, hatte er sich entschieden, allein in sein östliches Bergreich zurückzukehren und dieselbe Route zu nehmen wie die bewachten Postkarawanen. Doch er wollte nicht zusammen mit ihnen in der Sicherheit der Menge reisen. Zusätzlich zu seiner Neigung zur Einsamkeit, seinem Abscheu vor der Mehrheit der menschlichen Rasse und seinem Verlangen, durch das gemeinsame Reisen nicht aufgehalten zu werden, brauchte Achmed Zeit zum Nachdenken.

Die Hitze des Spätsommers nahm allmählich ab bei seinem Ritt über die transorlandische Straße, die während der gedeihlichsten Tage des vergangenen Reiches erbaut worden war. Diese Straße teilte das Land Roland von der Küste bis zum Fuß der Manteiden, die auch als Zahnfelsen bekannt waren. Sie waren Achmeds Herrschaftsgebiet. Die zunehmende Kühle der Jahreszeit und der frische Wind verschafften ihm einen klaren Kopf und erlaubten ihm, all seine Erlebnisse zu überdenken.

Die Westküste, die er hinter sich gelassen hatte, brannte noch, obwohl die Feuer zurzeit seiner Abreise nach und nach gelöscht wurden. Die Asche aus den geschwärzten Wäldern war auf dem Wind ebenfalls nach Osten gezogen, und daher waren während der ersten Reisetage Nase und Adern wund gewesen. Doch als er Bethania, den Mittelpunkt des Reiches von Roland, erreicht hatte, war der Wind klarer geworden, genau wie sein Kopf. Es gelang ihm wieder, seine Gedanken, die vom Verschwinden eines seiner beiden Freunde auf dieser Welt abgelenkt gewesen waren, auf das zu richten, was ihm in den letzten Monaten am wichtigsten gewesen war. Nun, da sich dieser Freund – genauer gesagt: diese Freundin – in Sicherheit befand, nahm die Fertigstellung seines Turms wieder sein ganzes Denken ein. Viele der Gründe, aus denen er wie besessen die Instrumente nachbauen ließ, die der Gipfel des Gurgus früher einmal beherbergt hatte, lagen in der Vergangenheit. Aber der wichtigste lag in der Zukunft.

Das Klappern der Pferdehufe unter ihm war ein Lärm, der alle unwesentlichen Gedanken vertrieb. Die Panjeri-Glaskünstlerin, die ich in Sorbold angeheuert habe, hatte viel Zeit, um mit dem Lichtfänger voranzukommen. Inzwischen muss die Decke des Thrmes fertig sein, dachte der König und versuchte sich vorzustellen, wie der Gurgus bei seiner Vollendung aussehen würde. Ein Kreis aus farbigen Glasscheiben, sieben insgesamt, alle in den reinsten Farben des Regenbogens gebrannt, würde dem Gipfel bald eine Macht verschaffen, die Achmed bei seiner Lebensmission unterstützen sollte.

Es ging darum, das Schlafende Kind vor den F’dor zu beschützen, jenen Feuerdämonen, die unablässig nach ihm suchten.

Seit er mit der Errichtung des Turms begonnen hatte, war der Firbolg-König noch seltener als sonst zur Ruhe gekommen. Seine Besessenheit war mit Ungewissheit gepaart; von der Ausbildung und seiner früheren Tätigkeit her war er ein geschickter Mörder und Totschläger, der seit Jahrhunderten allein gearbeitet und nur die Aufträge angenommen hatte, die ihn gefesselt hatten oder seiner Aufmerksamkeit wert gewesen waren. Die Lebensumstände hatten ihn aus dem alten Land seiner Heimat fortgeführt, das nun unter den Wellen des Meeres begraben lag, und an diesen neuen und unsicheren Ort geleitet, wo er guten Nutzen aus seinem Geschick ziehen konnte. So hatte er die Herrschaft über die nur lose verbundenen, kriegerischen Stämme der Bergbewohner erlangt, indem er aus diesen Halbmenschen ein Königreich geschmiedet hatte. Unter seiner Hand und mithilfe seiner beiden Freunde hatte er aus ihnen eine standhafte Nation gemacht und ein Reich voller Stärke und entschlossener Unabhängigkeit geschaffen. Nun war er ein König. Und er war immer noch ein geschickter Mörder.

Ein Mechaniker hingegen war er nicht.

Als er die Pläne für den Lichtfänger tief in der Gruft des Königreiches entdeckt hatte, über welches er nun herrschte und das einst eine große, durch eigene Dummheit untergegangene Zivilisation gewesen war, war er in kalten Schweiß ausgebrochen. Er konnte die Schrift auf dem alten Pergament nicht lesen; es war in einer Sprache beschrieben, die schon in der Jugend seiner lange untergegangenen Heimat alt gewesen war. Daher war er sich der Angaben, welche die Zeichnungen und Anweisungen zum Bau der Instrumente betrafen, ebenso wenig sicher wie der Fähigkeiten des Gerätes. Er wusste nur, dass er in den Einzelheiten etwas wieder erkannt hatte, was in der alten Welt ein Apparat von unübertreffbarer Macht gewesen war; unfehlbar hatte er damals eine gesamte Bergkette vor jenen Dämonen geschützt, die nun nach dem Erdenkind suchten, welches er beschützte. Offenbar war dieses Instrument vor langer Zeit hier ebenfalls in Gebrauch gewesen.

Seit seiner Entdeckung hatte er die Herausforderung verspürt, es nachzubauen. Zum ersten Mal in seinem Leben musste er sich auf Hilfe von außen und auf andere Gutachten als seine eigenen verlassen, um etwas herzustellen, das zum Teil Waffe, zum Teil Wahrsagevorrichtung und zum Teil Heilmaschine war. Und es musste im Geheimen erbaut werden, in der Hoffnung, dass er weder in die Irre geführt noch hintergangen wurde. Achmed hatte nur wenig Hoffnung und litt daher heftig. Zweifel und Sorgen plagten ihn und verbanden sich mit dem brennenden Glauben, dass allein dieser Apparat in der Lage sein würde, sein Königreich unverwundbar zu machen und nachhaltig vor den Angreifern zu schützen, die eines Tages zu seiner Vernichtung ausströmen würden. Noch viel wichtiger aber war, dass die Maschine ihm helfen würde, das Schlafende Kind vor den unsichtbaren Ungeheuern zu bewahren, die andauernd nach ihm suchten.

Von seinen beiden Freunden war die eine eine lirinische Benennerin, geschult in der Musik der Worte, in uralten Überlieferungen und der toten Sprache der Zeichnungen. Die Tiefe der Magie in jenen Zeichnungen hatte sie beunruhigt, und sie hatte ihn gebeten, sich nicht mit Dingen abzugeben, die er nicht verstand. Doch am Ende waren ihre Treue und Liebe zu ihm stärker gewesen als ihre Vorbehalte, und sie hatte ihm auf seinen drängenden Wunsch hin eine kurze Übersetzung eines der Dokumente angefertigt. Es hatte ein Rätsel in Form eines Gedichts sowie das System des Farbspektrums samt einer Beschreibung der Macht aller Farben enthalten.

Während des Reitens sang er das Gedicht vor sich hin und versuchte es auf diese Weise in sein Gedächtnis einzugraben, doch die Worte wollten nicht dort bleiben. Er war noch nie in der Lage gewesen, sich an Worte in der alten Sprache zu erinnern. Für eine geraume Zeit behielt er die Übersetzung der Farben im Kopf, aber auch nur dann, wenn er sich sehr anstrengte. Selbst dann war er sich ihrer nicht sicher, als ob eine ihnen innewohnende Magie ihm den Zugang absichtlich verwehrte.

Rot – Blutretter, Blutgeber, dachte er und versuchte sich die Worte so vorzustellen, wie Rhapsody, die Benennerin, es ihm beigebracht hatte. An dieses konnte er sich wenigstens gut erinnern. OrangeFeuerleger, Feuerlöscher. Auch bei diesem war er sich recht sicher. GelbLichtbringer, Lichtersticker? Seine Erinnerung ließ nach. Verdammt. Ich weiß es nicht mehr.

Doch bald würde das keine Rolle mehr spielen. Er hatte eine Glaskünstlerin im benachbarten Königreich Sorbold gefunden, eine Panjeri-Meisterin aus einem Stamm, der in der ganzen Welt für seine Fähigkeit bekannt war, den Sand der Wüste und die Asche der Gehölze zum wunderbarsten Glas zu schmelzen und Regenbögen in fester und doch durchscheinender Gestalt einzufangen, mit denen die Fenster von Tempeln und Krypten geschmückt wurden. Er hatte ihr freie Hand gelassen und sie unter die Aufsicht von Omet gestellt, seinem besten Handwerker. Gemeinsam sollten sie die Glaskuppel des Gurgus herstellen, die später einmal, wenn sie fertig und mit der Maschine verbunden war, zum Lichtfänger werden würde. Im Stillen wagte er sogar zu hoffen, dass das Werk bei seiner Rückkehr vollendet wäre.

Plötzlich zügelte er mit unbändiger Wut sein Pferd. Es war nicht nur ein kleiner Schock für ihn, als er die Regenbogenscherben erkannte, die über die Krevensfelder und zwischen dem Vorgebirge seines Reiches verstreut lagen.

Langsam stieg Achmed ab. Seine wohl überlegten Bewegungen glichen denen des Reptils, von dem sein Spitzname stammte. Er ging mit abgemessenen Schritten bis zu einer Stelle, wo die Schicht aus farbigem Glasstaub etwas dicker war, bückte sich und hob einige der winzigen Scherben mit seinen Handschuhen auf, die er immer trug. Das Glas war kaum mehr als Staub, doch es enthielt noch die Farben, die er im Brennofen gesehen hatte, als er vor einigen Wochen sein Reich verlassen hatte.

Achmed seufzte tief.

»Hrekin!«, fluchte er laut.

Er schaute aus der Hocke hoch zu den vielfarbigen Spitzen der Zahnfelsen, wo er über die Firbolg-Horden in dem Reich herrschte, das in ihrer Sprache Ylorc hieß. Gurgus, der Gipfel, in den die Buntglasfenster eingelassen worden waren, lag tiefer im Innern des Massivs hinter dem schützenden Ring des Randgebirges; daher war es unmöglich, von hier aus zu erkennen, was mit seinem Turm geschehen war. Er sah jedoch, dass der Wachtturm auf dem Grivven, einem der westlichsten und höchsten Gipfel, noch stand.

Wenigstens ist nicht das ganze verdammte Reich zu Staub zerfallen, während ich fort war, dachte er wehmütig. Dafür sollte ich wohl dankbar sein.

Er warf den Glasstaub wütend hinter sich, saß wieder auf und trieb sein Pferd zu einem gleichmäßigen Galopp an. Mit jedem Windstoß, der ihm über das Gesicht blies, wurde er zorniger.

Sergeant-Major Grunthor, der Kommandant der vereinigten Firbolg-Streitkräfte und Achmeds einziger anderer Freund auf der Welt, überwachte eine ausgedehnte Wiederaufbaumaßnahme, die offensichtlich schon seit einiger Zeit lief, als der König in den Berg zurückkehrte. Während Achmed den inneren Korridor entlangschritt, der zum früheren Eingang des Gurgus’ führte, hörte er den Sergeanten Kommandos an die Arbeiter brüllen. Manchmal gab seine Stimme unter der Anstrengung nach, als er eigenhändig gewaltige Steinbrocken beiseite bewegte.

Der Firbolg-König umrundete die letzte Ecke, blieb stehen und sah Grunthor zu. Auch der Sergeant hatte innegehalten, aber er hatte Achmed noch nicht bemerkt. Er hielt in der einen massigen Hand einen Lastschlitten mit aufgetürmten Basaltbrocken und in der anderen einen Handkarren. Der riesige Soldat holte Luft, und seine Haut, welche die Farbe alter Prellungen hatte, schimmerte vor dem Schweiß der Erschöpfung. Selbst in Ruhestellung war er ein erschreckender Anblick: siebeneinhalb Fuß Muskeln, die sich auf weitere anstrengende Arbeit vorbereiteten und nebenbei eine Brigade von Firbolg-Soldaten leiteten.

Das Ausmaß der Zerstörung stellte Achmeds begrenzte Geduld auf eine harte Probe. Der König stürmte zum Ende des Ganges und blieb kurz vor dem Sergeanten stehen.

»Was im Namen jedes lächerlichen bösen Gottes, der nie existierte, ist hier geschehen?«

Ein hässliches Licht erhellte die bernsteinfarbenen Augen des riesigen Sergeanten.

»’ne Geburtstagsfeier is’n bisschen aus dem Ruder gelaufen«, sagte er mit einer Stimme, die vor Sarkasmus troff.

»Tut mir Leid. Wird nich wieder passiern.« Als Grunthor sah, wie sich die Sehnen am Hals des Königs spannten, warf er den Handkarren beiseite. »Diese Frage solltest du eher der verdammten Glasmacherin stellen, die du wegen der Turmfenster mitgebracht hast. Halt, warte. Das geht nicht.«

Die Augen des Königs verengten sich in einer Wut, die von Panik gefärbt war. »Warum nicht?«

Der Sergeant bückte sich, hob einen weiteren massiven Felsblock hoch und warf ihn wütend auf den Schlitten.

»Weil ich dem Luder den Kopf von den Schultern geschnitten hab«, knurrte er, während der gewaltige Stein dumpf auf die anderen polterte. »Dann hab ich ihn in ’ne Kiste gestopft und zurück zur Mördergilde nach Yarim geschickt, wo sie hergekommen ist.« Er beobachtete ohne Mitgefühl, wie die Wut im Blick seines Herrschers der Erkenntnis wich. »Stimmt, die Handwerkerin, die du in Sorbold angeheuert hast, damit sie deinen verdammten Glasturm baut, hat sich als die Mutter aller Mörder und Herrin der Rabengilde herausgestellt.« Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und deutete auf die Zerstörung um ihn herum. »Das war das kleine Geschenk, das sie nur für dich hier gelassen hat. Wir finden immer noch neue Fallen und ’ne ganze Menge netter Überraschungen ...«

»Was ist mit dem Kind?«, wollte Achmed wissen. Er klang, als werde er gerade gewürgt.

Grunthor atmete tief aus. »Erst mal in Sicherheit«, sagte er ruhiger. Die Wut in seiner Stimme war verschwunden. »Hab jeden Zoll des Tunnels durchgekämmt bis hin zu seiner Kammer. Scheint auch eingestürzt zu sein, aber nur ’n ganz kleiner Teil. Die Mörderin hat es nicht bis da unten hin geschafft, war reines Glück. Aber wenn ich du wäre, würd ich die lächerlichen Götter, die nicht existieren, nicht so beleidigen, denn sie haben offenbar über dich Wacht gehalten.«

»Unangenehmer Gedanke.« Achmed durchquerte den beschädigten Gang und hielt vor dem kleiner werdenden Schutthaufen inne. »Wie?«

»Pikrinsäure. Hat sie sich anscheinend von der Gilde schicken lassen, während du fort warst. In flüssiger Form ist se ungefährlich, aber wennse trocken wird, explodiert se. Sie hat das Zeugs in das Glas der Kuppel eingeschmolzen und ’ne hölzerne Decke darüber gespannt, um die Sonne fern zu halten. Aber Shaene und Rhur die sind beide tot – haben die Abdeckung fortgezogen. Die Sonne hat’s voll getroffen, und die Hitze hat’s getrocknet. Na ja, den Rest kannste hier besichtigen.« Der Sergeant fuhr mit der Spitze seines gewaltigen Stiefels durch das Geröll auf dem Boden. »Außer der Krankheit. Die Ruhr, ’ne Menge Bolg bluten aus den Augen. Scheint ’ne Nebenwirkung zu sein.«

Ohne ein weiteres Wort drehte sich der Firbolg-König um und verließ den Ort der Zerstörung.

»Ach, übrigens«, rief Grunthor, während Achmed um die Ecke verschwand, »willkommen daheim.«

Der Eingang des Tunnels zur Kammer des Schlafenden Kindes befand sich in Achmeds Schlafgemach, und zwar in einer Truhe am Fußende seines Bettes. Er benötigte nur einen Augenblick, um festzustellen, dass alle Schutzvorrichtungen – tödliche Fallen, die er selbst aufgestellt hatte – mit einer Kunstfertigkeit außer Kraft gesetzt worden waren, die er seit seiner eigenen Ausbildung zum Mörder durch einen unangefochtenen Meister des Fachs nicht mehr gesehen hatte.

»Hrekin«, fluchte er erneut.

Grunthor seufzte. »Ja, wenigstens war sie ’ne Meisterin. Ich erinner mich an das alte Land, als die Diebesgilde dir ihre Lehrlinge auf den Hals geschickt hat. Was für ’ne sinnlose Abschlachterei. Nicht mal sinnvoll für dich als Übungsziele.«

Achmed erwiderte nichts darauf, sondern erhob sich von der Truhe, ging in seinen Gemächern umher und suchte nach den beinahe unsichtbaren Zeichen einer Störung.

Sie waren überall.

Staub, der nur ganz geringfügig aufgewirbelt worden war, die gelegentliche Umstellung eines Gegenstandes, der sich so nahe an seinem ursprünglichen Standort befand, dass es nur jemand bemerken konnte, der ein so geübtes Auge wie Achmed hatte. Auch gab es raffinierte Fallen: ein dünner Ring von Gift auf seinem Essbesteck, seinem Kamm, der Türklinke, so fein verteilt, dass man es kaum bemerken konnte, was bedeutete, dass ein Meistermörder am Werk gewesen war. Bei diesem Gedanken prickelte Achmeds empfindliche Haut vor kaltem Schweiß, denn diese Frau hatte nur wenige Augenblicke in diesem Zimmer verbracht, bevor sie entdeckt worden war.

»Wenn du je wieder bemerken solltest, dass ich den Kopf verloren habe, Grunthor, dann beug mich vornüber und such in meinem Hintern danach«, sagte er düster und entfernte eine winzige Springnadel aus dem Vorderteil eines seiner Ersatzstiefel. »Er muss dann ganz tief da drin stecken.«

»In Ordnung, na klar«, antwortete Grunthor mit übertriebener Unterwürfigkeit. »Ich hab ’nen Haken, mit dem du den Kopf wieder rausbekommen könntest, aber vielleicht ist er nicht lang genug.«

Achmed öffnete vorsichtig die Tür zu seinen Gemächern und entging so dem haardünnen, mit Quecksilber überzogenen Draht, der unsichtbar entlang des Türpfostens angebracht war.

»Hol mir einen Metallzirkel«, befahl er einem der Soldaten, die in der Halle Wache standen. »Leg ihn vor der Tür laut genug ab, damit ich es hören kann, und geh dann fort. Fass die Klinke nicht an.« Der Bolg-Soldat nickte und lief den Korridor entlang.

»Lebt Omet noch?«, fragte Achmed Grunthor, während er die Tür wieder schloss.

Der Bolg-Sergeant nickte. »Sie hat ihn vergiftet und zum Sterben liegen gelassen, aber Rhur und Shaene haben ihn gefunden und in den Turm gebracht.«

Bei diesen Worten verdunkelten sich die verschiedenfarbigen Augen des Bolg-Königs in seinem pockennarbigen Gesicht.

»Haben sie den Schutz über der Turmkuppel deswegen entfernt? Sie haben versucht, den Lichtfänger zu benutzen? Um Omet zu heilen?«

Grunthor nickte angespannt.

Achmeds Bewegungen wurden langsamer. Er fuhr sich mit der behandschuhten Hand über den Mund und dachte nach.

»Und du sagst, dass Omet noch lebt?«

»Jawoll.«

Der Bolg-König hob ruckartig den Kopf. »Wie lebendig ist er? Ist er verkrüppelt oder dem Tode nahe?«

Grunthor seufzte. Er presste die Kiefer so fest aufeinander, dass die Stoßzähne über die aufgeworfenen Lippen ragten.

»So gut wie neu«, sagte er schließlich. »Als ob es nie passiert war.«

Achmed stand reglos da und sann nach. Er war so konzentriert, dass selbst sein Atemholen unsichtbar geworden war. Grunthor sah, wie sich die Erkenntnis zuerst über sein Gesicht und dann über den ganzen Körper ausbreitete. »Es hat funktioniert«, sagte der König schließlich. »Der Lichtfänger hat richtig gearbeitet – oder wenigstens der Teil, der für die Heilungen verantwortlich ist, also die rote Sektion.«

»Man sollte glauben, dass die orangefarbene Sektion genauso gut funktioniert hat«, murmelte der riesige Bolg.

»Sie hat das Feuer entzündet, das dieses ganze verdammte Ding in die Luft gejagt hat.«

In der Halle ertönte ein metallisches Klappern, gefolgt von rasch davoneilenden Schritten.

»Es hat funktioniert«, wiederholte Achmed. »Du wirst die Bedeutung dessen noch nicht erkennen, Grunthor, aber ich kann dir versichern, dass es vollständig funktionieren wird, wenn wir es reparieren können, und dann haben wir einen Schutz für Ylorc und das Kind, der nicht seinesgleichen hat.« Er schenkte den rollenden Augen des Sergeanten keine Beachtung, sondern ging zur Tür und öffnete sie sorgsam. Er hob den Metallzirkel auf, der auf dem Steinboden lagen, und schloss die Tür wieder.

»Jetzt will ich erst einmal das Erdenkind sehen«, sagte er.

Während sie den grob behauenen Tunnel entlangliefen, der von der Truhe am Fußende von Achmeds Bett zu der Kammer führte, in welcher das Erdenkind schlief, roch Achmed immer noch ganz leicht den Rauch aus der Schlacht, die vor vier Jahren zum Schutz des Kindes geführt worden war. Für jede andere Nase wäre dieser Geruch nicht wahrnehmbar gewesen, doch Achmeds Geruchssinn und seine Kehle waren genauso empfindlich wie seine bloßliegenden Adern und Nerven. Diese seltsame Anatomie, die ihm von seiner dhrakischen Mutter und seinem unbekannten Bolg-Vater vererbt worden war, stellte für ihn sowohl einen Fluch als auch ein Segen dar. Sie verschaffte ihm Warnungen vor Gefahren, die sonst keiner bemerkte, und die Erinnerung an Dinge, die andere schon lange vergessen hatten.

Sogar Grunthor. Während des Abstiegs warf er einen Blick auf den Sergeant-Major und bemerkte das ausdruckslose Gesicht seines Freundes im kalten Licht ihrer Laternen, die aus glimmernden, in den Tiefen des Berges gefundenen Kristallen bestanden. Grunthor lauschte dem Lied der Erde, das nur er hören konnte. Was immer es für ein Lied war, es machte ihn wachsam und angespannt, doch er verspürte nicht denselben Schrecken, den Achmed jedes Mal fühlte, wenn er diesen Ort betrat.

Wann immer sie in die Trümmer des Loritoriums hinabstiegen, des Grabes tief im Innern des Berges, wo das Erdenkind schlief, wurde der Bolg-König von erschreckenden Erinnerungen an die Schlacht heimgesucht, die sie in der Nähe geführt hatten. Die F’dor hatten eine der Wurzeln des Weltenbaumes zersetzt und waren an ihr entlang durch die Kruste der Erde geglitten, vorbei an den Wachttürmen und Bollwerken, die er und Grunthor so sorgfältig errichtet hatten. Sie waren bis in das Herz der Bergkette vorgedrungen – in die verborgene Kammer, in der das Kind seit Jahrhunderten schlummerte.

Es hatte keine Warnung gegeben, außer den Albträumen des Kindes.

Und das Kind konnte nicht sprechen, konnte ihnen nicht sagen, was da auf es zukam.

Achmed beschleunigte seine Schritte, als sie sich der Kammeröffnung näherten. Er rannte durch den roh behauenen Eingang und kletterte geschwind über die Barrikade aus Felsen und lockerem Gestein, die das letzte Bollwerk vor dem beschädigten Loritorium darstellte. Er hielt den Atem an, als er den Schotterberg hinaufstieg. In der Ferne sah er es. Es schlief. Achmed seufzte leise und nickte Grunthor zu, der ihm über den schlüpfrigen Geröllhaufen nachstieg. Gemeinsam gingen sie hinüber zu dem Altar aus Lebendigem Gestein, auf dem das Mädchen schlummerte. Sie schauten hinunter auf das Erdenkind; ihre Augen suchten nach Veränderungen seit dem letzten Mal, als sie es gesehen hatten.

Ein eisiger Lufthauch senkte sich gleichzeitig auf die beiden nieder.

»Sie vertrocknet«, flüsterte Grunthor.

Achmed nickte. Er zog den Metallzirkel hervor und maß vorsichtig den Körper, der einmal größer als sein eigener gewesen war. Das Kind hatte ein wenig von seinem glatt polierten Fleisch verloren, das früher die lebendigen Farben der Erde getragen hatte: Grün und Braun, Zinnoberrot und Purpur. Es waren gewundene Bänder aus Farbe gewesen, die nun unter der silbergrauen, durchscheinenden Haut verblasst waren. Wie viel es verloren hatte, war ungewiss, doch wenigstens hatte er nun einen Vergleichs wert.

Zögernd streckte er die Hand aus und legte sie auf das Haar des Erdenkindes, das brüchig wie strohiges Gras am Ende des Sommers war. Die Haarwurzeln waren golden wie reifer Weizen – ein Zeichen dafür, dass die Erde, aus der das Kind hervorgegangen war, sich auf die Erntezeit vorbereitete, bevor sie in den Schlaf des kommenden Winters fiel. Doch unter den grasähnlichen Locken lagen schwarze Strähnen wie Unkraut, entweder vom Feuer verbrannt oder von Gift versengt.

»Nein«, flüsterte Achmed. »O Götter, nein!«

»Glaubst du, sie ist krank?«, fragte Grunthor besorgt und suchte mit seinen Blicken die leere Gruft ab. Achmed gab keine Antwort. »Lass mich mal sehen.«

Der Bolg-König trat benommen beiseite, während sich der riesige Sergeant dem Katafalk mit dem Schlafenden Kind näherte. Er sah zu, wie Grunthor nachdenklich auf es herunterschaute. Der Riese war genauso mit der Erde verbunden wie der König, noch mehr sogar, denn seine Verbindung mit ihr war vor langer Zeit geschmiedet worden. Die Erde sprach zu seinem Blut. Manchmal war es nur ein flüchtiger Eindruck, den Grunthor aus dieser Verbindung gewann, ein Bild in seinem Kopf, das er dem Bolg-König nie in Worten mitteilen konnte. Aber das war auch nicht nötig. Achmed konnte den Ernst der Botschaft jeweils an Grunthors Gesichtsausdruck ablesen. Er sah nervös zu, wie der Riese eine Hand ausstreckte und sie sanft auf den Bauch des Kindes legte. Sie ruhte auf der Daunendecke, mit der Rhapsody es vor vielen Jahren zugedeckt hatte. Das Gesicht des Kindes war vom selben polierten Grau wie immer, als sei es aus Stein gemeißelt, doch Achmed spürte eine krank machende Benommenheit, als er bemerkte, dass an der Stirn des Mädchens kleine schlammige Rinnsale herunterliefen. Es wirkte, als schwitze es im Fieber.

Der Atem, kaum sichtbar im Schlaf, war unregelmäßig. Beim Einatmen war ganz leise ein Schnaufen zu hören, das gewiss nichts Gutes für die Gesundheit bedeutete, falls ein uraltes Wesen, das aus Lebendigem Stein gebildet war, so etwas wie Gesundheit haben konnte. Lass das, was in der Erde schläft, ungestört ruhen; sein Erwachen kündigt von ewiger Nacht, hatte einst über dem Eingang zu ihrer Kammer gestanden. Die Buchstaben waren mannshoch gewesen, wie um ihre Bedeutung hervorzuheben. Ob sich diese Prophezeiung auf das Kind selbst bezog oder auf noch schrecklichere Dinge, die in der Erde schlummerten, wusste Achmed nicht. Aber da er einige dieser Dinge mit eigenen Augen gesehen hatte, war ihm klar, dass die friedliche Ruhe dieses Wesens nicht nur für seine eigene Sicherheit und die seiner Untertanen, sondern für die ganze Welt von enormer Bedeutung war.

Und nun zuckte das Kind, drehte sich leicht von einer Seite auf die andere, als wolle es bald erwachen. Achmed dachte an den Tag vor beinahe vier Jahren, als er das Mädchen zum ersten Mal gesehen hatte. Es war ihm von der Großmutter gezeigt worden, einer uralten dhrakischen Frau, die seit Jahrhunderten allein mit dem Kind gelebt und es bewacht hatte. Sie war die letzte Überlebende einer Kolonie aus dem Volk seiner Mutter gewesen, die ihr Leben für die Rettung und den Schutz des Kindes hingegeben hatte. Unter dem wachsamen Blick der Wächterin hatte er auf die bemerkenswerte Kreatur hinuntergeschaut und bemerkt, dass ihre Züge zugleich rau und sanft waren, als ob das Gesicht mit stumpfem Werkzeug gemeißelt und danach ein ganzes Leben lang sorgfältig poliert worden sei. Er hatte sich über ihre Augenbrauen und Lider gewundert, die wie aus trockenen

Grashalmen gemacht schienen und zu ihren faserigen, Weizengarben gleichenden Haaren passten.

Sie ist ein Kind der Erde, geformt aus Lebendigem Gestein, hatte die Großmutter in ihrer summenden Sprache gesagt. Bei Tage und bei Nacht, zu allen Jahreszeiten schläft sie. Sie war schon vor meiner Geburt hier. Ich bin verpflichtet, sie zu bewachen, bis der Tod mich holt. So muss es auch bei dir sein.

Er hatte diesen Befehl ernst genommen.

»Nun?«, fragte er leise, als er seine Sorgen nicht mehr unterdrücken konnte. »Was geschieht mit ihr?«

Grunthor seufzte und trat so weit von dem Katafalk zurück, dass das Kind ihn nicht hören konnte.

»Sie blutet sich zu Tode«, sagte er.

Scheinbar endlos warteten sie zusammen in der Dunkelheit, in der noch der Rauch der vergangenen Jahre hing. Sie wachten über das Schlafende Kind und suchten nach einem Grund für sein Welken.

Weil Grunthors Adern ebenfalls mit der Erde verbunden waren und sein Herz im gleichen Rhythmus wie das ihre schlug, versuchte er die Quelle ihrer Auflösung zu ermitteln, indem er schweigend mit ihr in Verbindung trat, doch er entdeckte nichts als ein schmerzhaftes Gefühl schlimmen Verlustes. Schließlich trat er zurück und schüttelte traurig den massigen Kopf.

»Vielleicht versuchst du’s einmal«, schlug er Achmed vor, der neben dem Katafalk des Kindes hockte, die Ellenbogen auf die Knie gestützt hatte und die Hände vor die verhüllten Lippen hielt. »Kannst du deine Blutgabe einsetzen?«

Nun schüttelte auch der Bolg-König den Kopf. »Sie ist schon lange versiegt«, murmelte er leise, weil er das Erdenkind nicht stören wollte. »Die Gabe tritt nur noch sporadisch auf. Sie hilft ausschließlich bei denen, die in Serendair geboren wurden. Während ich nicht in der Lage bin, dem Kind zu helfen, pocht der Herzschlag eines jeden lebenden Cymrers noch immer deutlich in meinem Kopf, und du weißt, wie sehr ich diese Idioten liebe. Diese Ironie macht mich krank. Die Götter lachen sich bestimmt kaputt darüber.«

Der Sergeant-Major stieß scharf die Luft aus. »Ja? Dann sollen sie sich doch kaputt lachen. Was jetzt?«

Achmed stand auf und legte seine Hand auf die des Erdenkindes. Er beugte sich über sie, strich ihm die grasigen Haarsträhnen aus der verschwitzten Stirn und hauchte einen Kuss darauf.

»Mach dir keine Sorgen«, flüsterte er. »Wir halten Wacht. Wir werden herausfinden, wer dir das antut, und wir werden es unterbinden.«

Er drehte sich um und ging in die Dunkelheit, zurück zu der Barriere aus Schutt und dem Tunneleingang. Sobald sie außer Hörweite waren, sprach er die letzten vier Worte für diese Nacht.

»Ruf die Archonten zusammen.«

Die Drachin lag still, als der Tag kam und der erfrorenen Welt um sie herum Licht, aber keine Wärme brachte. Als die Nacht dem Tag folgte, wiederholte sich der Kreislauf. Ihr gebrochener Verstand heilte allmählich, fand wieder zu sich, obwohl sie noch immer nicht ihre Gestalt begriff und sich nicht erinnern konnte, wieso sie so fern von diesem Ort kalter Klarheit in einer Höhle aus Rauch und Asche eingesperrt gewesen war.

Als sie hier angekommen war, hatte sich die Welt bereits im Griff des Herbstes befunden; nun kündigte der Winter mit frühen und bitterkalten Winden sein Nahen an. Obwohl sie noch keine Klarheit über sich erlangt hatte, sagte ihr Instinkt, sie müsse rasch einen warmen Unterschlupf finden, denn sonst werde sie sterben. Unter großen Anstrengungen hob die Bestie den Kopf, wuchtete sich auf die Unterarme und kroch über die Erde, so wie sie zuvor durch die Erde gekrochen war, über den frostglatten Boden und die endlose, von trockener Vegetation betupfte Ebene bis zum Ufer eines beinahe zugefrorenen Sees. In der Ferne meinte sie Rauch aus ihm aufsteigen zu sehen, doch aller Wahrscheinlichkeit nach waren es nur Eiskristalle, die der scharf über die Tundra wehende Wind aufgestöbert hatte.

Nachdem sie sich unter Schmerzen einen Weg durch das Dickicht am Ufer gebahnt hatte, streckte sie zögerlich eine Hand aus und berührte die Wasseroberfläche. Sie wollte herausfinden, ob der See bereits gefroren war und ihr Gewicht tragen konnte.

Die spiegelähnliche Oberfläche, die noch nicht vollständig zu Eis geworden war, warf ein Bild zurück, das ihr die Luft abschnürte.

Keine Hand spross aus dem Gelenk, sondern eine rotgoldene und mit Schuppen besetzte, verkrümmte Klaue, die in grausamen Krallen endete, von denen einige rasiermesserscharf, andere abgebrochen waren und eine fehlte. Sie wurden von Knochen zusammengehalten, die nichts entfernt Menschliches mehr an sich hatten.

Die Bestie prallte vor Entsetzen zurück.

Die große Klaue verschwand und hinterließ Kräuselungen im gefrierenden Wasser.

Der noch benommene Verstand der Drachin kämpfte gegen das an, was sie gesehen hatte, doch in ihrem Innern setzte Begreifen ein.

Langsam kroch sie vorwärts, stärkte ihre Entschlossenheit und schaute hinunter auf das Wasser.

Teilweise verborgen von Weidengestrüpp und Farnkraut, erblickte sie ein Gesicht, das zwar eine Saite ihrer Erinnerung berührte, welches sie aber nicht als ihr eigenes erkannte.

Sie riss die Büsche auseinander und sah erneut hin.

Dann stieß sie einen Schrei der Wut aus, ein lang gezogenes, anhaltendes Heulen, das zur Verzweiflung gerann und den Schnee in großen, weißen Massen von den Berghängen trieb.

Als sie sich dazu zwingen konnte, erneut hinzusehen, waren ihre Augen voller ungeweinter Tränen.

Vergangen war ihre stolze Schönheit. Sie war eine hübsche Frau gewesen, hatte die große, statuenhafte Gestalt ihres Vaters geerbt und auch seine goldfarbene Haut. Die spannenden Züge ihres Gesichts, das unzählige Gemälde bei Hofe inspiriert sowie Statuen und Münzen als Vorbild gedient hatte, war ebenfalls verschwunden und durch die scheußlichen Umrisse einer Bestie, eines Drachen ersetzt worden, wie ihre verachtete Mutter einer gewesen war.

Die Drachin starrte weiterhin ihr Gesicht an und war in Unglauben und Entsetzen gefangen. Nase und Mund verengten sich zu einer schlangenähnlichen Schnauze, die Haut war zu roten Schuppen geworden, die im Licht metallisch glänzten und Spuren von Schwarz und Kupfer aufwiesen, an den Rändern gehörnt waren und schwimmhautartige Schwingen ausbildeten, von denen eine zerfetzt war und schlaff am Rücken herunterhing. Nur die Augen waren noch so wie früher: brennende blaue Augen, die einen Mann mit einem einzigen Blick dem Erdboden gleichzumachen vermochten und so zwingend waren, dass sie mit ihrem Blick beinahe jede Seele verzaubern, versklaven oder verführen konnte.

Als sie nun ihr Spiegelbild in dem halb gefrorenen See anschaute, flössen diese zwingenden blauen Augen vor Kummer über. Die Felsen, auf welche ihre Tränen fielen, glitzerten golden im Sonnenlicht und würden für alle Zeiten so bleiben.

Die Drachin schüttelte sich heftig, als ob sie so den Körper abwerfen könnte, in dem sie gefangen war. Sie versuchte mit Willenskraft, ihre alte Gestalt wiederzubekommen, und endete schließlich dabei, ihre Haut mit den scharfen Krallen zu zerfleischen und grausame Wunden in ihr eigenes, dickes Fleisch zu schlagen. Doch es war alles umsonst. Das Feuer, das sie getroffen und ihr Bewusstsein seit ihrem Erwachen heimgesucht hatte, war von den Sternen gekommen, dem Element des Äthers, gereinigt in der lebendigen Flamme. Die Gestalt, die sie nun aus freiem Willen so sehr verletzt hatte, war auf immer und ewig ihre eigene. Alles Menschliche war für alle Zeit durch eine Macht aus ihr getilgt worden, die älter als ihre eigene war.

Ihr drehte sich der Magen um, und sie erbrach ätzende Flammen, deren Feuer seinen Ursprung in den Brandherden hatte, die nun ein Teil ihrer Eingeweide waren. Das Gebüsch entzündete sich, knisterte, wurde sofort schwarz und erfüllte die Luft mit trägem Rauch.

Als helles Blut in Streifen und Flecken auf den Frostboden fiel, verwandelte sich der Kummer der Drachin in Wut. In gewisser Weise gefiel ihr die versehentliche Vernichtung des Buschwerks und linderte ihren Schmerz ein wenig.

Sie holte tief Luft, atmete wieder aus und ließ es zu, dass sich ihr Zorn in ihrem Atem entlud. Eine wogende Welle aus orangefarbener Hitze rollte über die frostige Ebene, schmolz den Schnee und versengte die kleinen Bäume. Überall um sie herum schwelte die Landschaft.

Zerstörung, flüsterte es in ihren immer noch nicht völlig klaren Gedanken. Zerstörung lindert den Schmerz ein wenig.

Das war eine leicht einzunehmende Medizin.

In der Ferne erfühlte sie den Ort, der ihr Nest gewesen war. Er rief sie von Westen her.

Die Drachin war zu müde, um über die Folgen ihrer neuen Gestalt nachzudenken. Sie schleppte sich auf den Ort zu, an dem sie Antworten zu finden hoffte.

Und Ruhe, die ihr zu neuer Stärke verhelfen würde.

3

Fischerdorf bei Jeremias’ Landung — Avonderre

Als der Fischer Kail Faron am Strand entdeckte, glaubte er zunächst, er sei bloß über ein dickes Knäuel Seegras gestolpert, das eines der Priele verstopfte.

Nach eingehenderer Untersuchung merkte er, dass das, was ihn schließlich an einen großen Tintenfisch oder eine Qualle denken ließ, in Wirklichkeit eine groteske Masse farbloser Haut war, die an einem Knochengerüst hing, das keine Ähnlichkeit mit einer menschlichen Gestalt hatte.

Doch der Kopf erinnerte entfernt an den eines Kindes. Die Augen waren geschlossen, die Lippen vorn zusammengenäht, und schwarzes Wasser tropfte aus den Mundwinkeln.

Zuerst hatte der Fischer es mit einem Brett totschlagen und den Katzen zum Fraß vorwerfen wollen. Er hätte es getan, wenn ihm nicht aufgefallen wäre, dass sich die flache Brust noch hob und senkte.

Bächlin, sein Gefährte, der die Netze säuberte, sah, wie er vor Abscheu zurückprallte, und rief vom Pier aus: »Was ist denn los?«

Kail zuckte die Schultern. »Hier ist was aus einem Albtraum!«, brüllte er zurück.

Bächlin wischte sich den Schleim an der Hose ab und kam zu Kail herüber, der noch immer auf die Masse starrte, die sich am Ende des Priels im Seetang verfangen hatte.

»Lieber All-Gott«, sagte er und beschirmte die Augen.

Die Kreatur lag totenstill in dem stinkenden Wasser. Nur die schwache Bewegung der platten Nasenflügel und das sanfte Heben und Senken der Brust deuteten an, dass sie noch lebte. Die blasse, leicht goldene, aber von der Sonne ausgebleichte Haut hing lose über einem Skelett, dessen Missbildungen selbst unter all dem Seegras deutlich erkennbar waren.

»Glaubst du, es lebt?«, fragte Bächlin nach kurzer Zeit nervös.

Kail nickte schweigend.

Vorsichtig hob Bächlin ein Ruder auf und entfernte ein wenig Seetang von der Kreatur.

Beide Männer zuckten zusammen, als mehr von ihrem Körper ans Licht kam. Verdrehte Glieder, die nicht aus Knochen, sondern aus Knorpel zu bestehen schienen, standen in unmöglichen Winkeln vom Rumpf ab. Das Geschöpf lag auf der Seite und war fast nackt. Die zerrissenen Überreste von Stoff, die einen Teil seines Körpers bedeckten, wölbten sich an einigen Stellen leicht vor und deuteten sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsmerkmale an.

Bächlin fluchte erneut und warf den Seetang ins Meer.

»Eine Missgeburt, das ist es. Eine Laune der Natur«, sagte er. Er konnte nicht wissen, wie wenig die Natur mit dem zu tun hatte, was da in dem Priel vor ihm lag. »Zum Teil Qualle, zum Teil Mensch oder was Ähnliches.«

»Oder vielleicht zum Teil eine Frau«, bemerkte Kail und deutete auf die Knospen, die Brüste zu sein schienen.

»Pech drüberschütten und anzünden«, murmelte Bächlin. »Ich hab was im Boot.«

Kail schüttelte nachdenklich den Kopf. »Nee«, meinte er schließlich. »Vielleicht können wir daran eine oder zwei Kronen verdienen. Der Fang heute war mies.«

»Eine Krone verdienen? Bist du verrückt, Mann? Wer will denn so was essen?«

»Nicht essen, du Dämel!«, erwiderte Kail verächtlich. »Wir könnten es einem vorbeiziehenden Zirkus oder einem Monstrositätenkabinett anbieten – die kaufen solche Missgeburten. Vor etwa zwei Wochen war eins oben an der Küste bei Windreich.«

Bächlin warf einen Blick die Küste hoch, wo der Rauch aus den erst kürzlich gelöschten Waldbränden noch in der Luft hing. Bis vor wenigen Nächten hatte die gesamte Westküste unter stinkender Hitze gelegen. Ätzende Flammen, die den unmissverständlichen Stempel des Bösen getragen hatten, waren über das Land hinweg gezogen. Nun, da die Feuer erstickt waren, kehrten einige der evakuierten Dorfbewohner zurück und durchstöberten die verkohlten Überreste ihrer Häuser am Wasser und in dem versengten Wald. Es lag eine beunruhigende Stille in der Luft, als ob die Küste auf die nächste Welle der Zerstörung wartete.

»Wenn sie in Windreich waren, sind sie vermutlich zusammen mit den anderen Flüchtlingen nach Osten Richtung Bethania gegangen«, sagte er und stieß vorsichtig mit dem Ruder gegen das Geschöpf. »Dieses Ding würde es nie so weit schaffen.«

»Ja, scheint so was wie’n Fisch zu sein«, stimmte Kail ihm zu. »Ein Fischjunge.«

»Oder Mädchen.«

»Brr. Na ja, die Leute, die mit diesen Seltsamkeiten und Missgeburten handeln, könnten Verwendung dafür haben, was immer es sein mag – lebend oder tot. Ich hole das Netz. Wir ziehen es aus dem Priel und legen es in den Wagen. Wir sollten auch unsere paar gefangenen Fische räuchern und sie nach Bethania karren. Da verkaufen wir unsere Waren und besorgen das Seil und was wir sonst noch in der nächsten Zeit brauchen, und während wir da sind, suchen wir nach dem Monstrositätenkabinett. Dieses Ding nimmt uns nicht viel Platz im Wagen weg.«

Bächlin seufzte. »Wenn du meinst«, sagte er zweifelnd. »Aber ich glaube, wir müssen es feucht halten. Sonst überlebt der Einzigartige Schreckliche Fischjunge den Weg nach Bethania nicht. Ob tot oder lebendig, er wird anfangen zu stinken. Vielleicht stinkt er weniger, wenn wir ihn am Leben erhalten.«

Kail, der schon auf dem Weg zum Boot war, kicherte bei dieser Vorstellung.

Faron wurde von einem heftigen Stoß ins Bewusstsein zurückgeschleudert, als das Karrenrad in eine tiefe Straßenfurche geriet. Das Geschöpf öffnete ein großes, fischartiges Auge, das von milchigem grauem Star überzogen war. Es war so schwach, dass es nicht einmal unter den Schmerzen zusammenzuckte. Die Mittagssonne badete seine brüchige Haut in Licht und Hitze, was Blasen auf seinem Körper hervorrief. Es schloss das Auge wieder und seufzte, während es den Atem ausstieß. Faron war bereits so geschwächt und krank, dass für seinen umwölkten Verstand der Tod gar nicht schnell genug kommen konnte.

Obwohl Faron sein ganzes Leben lang in einem ungeheuerlichen, schlecht funktionierenden Körper eingekerkert war, war sein Verstand zwar einfach, aber scharf, und obwohl er dem Tod so nahe war, erkannte er doch die Erschütterungen, die durch das Wasser an seine hoch empfindlichen Trommelfelle drangen, als Stimmen, wenn auch als unvertraute. Unwillkürlich erschauerte das Geschöpf und versuchte zu begreifen, was geschehen war. Seit seiner Geburt war Faron in Dunkelheit in einem Teich aus glimmerndem grünem Wasser gehalten worden. Deshalb begriff er nur wenig von der äußeren Welt, auch wenn ihm sein Vater abends bei seinen Besuchen, während denen er seinen Sohn mit Meeresaalen gefüttert hatte, von ihr erzählt hatte. Farons Vater war zärtlich zu ihm gewesen, obwohl er manchmal Ausbrüche von Grausamkeit und Zorn gehabt hatte. Faron liebte ihn so sehr, wie ein unterentwickelter Geist lieben konnte, und fühlte sich in seiner Abwesenheit hilflos – so hilflos, dass ihm nach dem Verlust seines Vaters der Tod willkommen war.

Faron rollte sich noch etwas enger zusammen und wünschte das Ende herbei.

Die Sonne brannte auf seinen Nacken.

Und mitten in den Qualen spürte er eine weitere Quelle der Schmerzen.

Benommen versuchte sich Faron auf die scharfen Kanten zu konzentrieren, die ihm zwischen den arthritischen Fingern ins Fleisch und in die herabhängenden Bauchfalten schnitten.

Mit letzter Kraft streckte Faron einen Ellbogen aus und brachte die weichen Knochen, die gewöhnlich der Unterarm gewesen wären, nahe an die fischartigen Augen in seinem Gesicht.

Er öffnete die Augen zu kleinen Schlitzen, um sie vor dem Sonnenlicht zu schützen.

Der schrecklich missgestaltete Mund mit den in der Mitte geschlossenen Lippen, die an den Mundwinkeln aufklafften, kräuselte sich leicht zum Schatten eines Grinsens.

Die Schuppen waren noch da. Eine steckte im Fleisch zwischen seinen Fingern, die anderen hatten sich in die Falten über seinem Bauch gegraben, wo sie versteckt worden waren.

Faron öffnete die ersten beiden Finger der Hand vor seinen Augen gerade so weit, dass er sehen konnte, was sie hielten.

Die Sonne glitzerte in dem unregelmäßigen grünen Oval und bündelte sich in ihm, sodass der Mittelpunkt wie das Licht in einer Schneise aufleuchtete, während die ausgefransten Ränder der Schuppe kalt und dunkel wie das Innerste des Waldes blieben.

Das versagende Herz der Kreatur tat einen Satz. Faron spähte in die Schuppe und kämpfte dabei gegen die stechenden Strahlen der Sonne an.

Dann drehte er die Schuppe sacht, damit das Licht in Kräuselungen über die leicht eingekerbte Oberfläche lief. Auf der Schuppe bildete sich ein hauchdünner Überzug. Ihre Oberfläche leuchtete vielfarbig wie ein Nebelschleier, hinter dem ein kühler und üppiger Wald zu locken schien. Als das Geschöpf sicher war, welche Schuppe es in der Hand hielt, lächelte es.

Es war die Todesschuppe.

Seit sich die Kreatur das Lesen der Schuppen beigebracht hatte, wusste sie, wie sie die Zukunft aus ihnen erkennen konnte. Früher war Faron oft verwirrt gewesen, wenn er in der kühlen, köstlichen Dunkelheit seines sicheren Hafens die Schuppen für seinen Vater hatte lesen müssen. Die Bilder, die er in ihnen gesehen hatte, hatten ihn verblüfft.

Zum Glück war die Todesschuppe leicht zu verstehen.

Faron hielt die Schuppe schräg und spähte in sie hinein.

Die Welt um die Schuppe herum zerschmolz und wurde von Dunkelheit ersetzt.

Das Leben, wie Faron es kannte, war nun begrenzt auf das kleine Oval zwischen den ausgefransten Rändern der Schuppe.

In einem Rahmen vollkommener Schwärze summte die Wahrsageschuppe vor Kraft und wirkte wie die dunkelgrüne Iris eines gewaltigen Auges.

In ihrem Mittelpunkt erkannte Faron den Wald mit der sonnenlosen Lichtung darin, welche die Todesschuppe immer zeigte. An diesem Ort sang kein Vogel; es herrschte eine Stille, die nicht einmal vom Atem des Windes durchbrochen wurde.

Faron wartete. Er bemerkte weder die Schlaglöcher der Straße noch die heftige Sonne auf seiner Haut. Nach einigen Augenblicken bildete sich in der Lichtung eine durchscheinende Gestalt, wie aus dem Nebel selbst geformt. Es war die Gestalt eines blassen Mannes, gekleidet in Roben aus Grün, die mit dem Wald hinter ihm verschmolzen. Seine Augen, schwarz und verzehrend wie die Leere selbst, wurden von dichten, mächtigen Brauen gekrönt, die als Einziges fest und greifbar zu sein schienen und hoch zum schneeweißen Haar führten. Es handelte sich um Yl Angaulor, den Fürsten Rowan, den die Menschen die rechte Hand der Sterblichkeit nannten.

Er war die friedvolle Verkörperung des Todes.

Trotz seines ernsten Aussehens hatte Faron Yl Angaulor nie gefürchtet. Das Geschöpf beobachtete gebannt, wie Fürst Rowan langsam den umwölkten Kopf schüttelte und dann in dem Nebel verschwand, aus dem er gekommen war.

Die Todesschuppe wurde dunkel.

Faron schloss die Augen, als die Hitze des Tages zurückkehrte.

Nicht für mich, dachte das Geschöpf in seinem Halbbewusstsein. Ich sterbe jetzt nicht.

Eine einzelne ätzende Träne quoll unter dem stark geäderten Augenlid hervor und brannte, als sie niederfiel. Der Schnee dämpfte das Licht der Sonne, die über dem Rand der Welt hing und innehielt, als überlege sie sich noch, ob sie untergehen solle.

Mit letzter Kraft zog sich die Bestie aus dem Abgrund hoch und über die eisbedeckten Bollwerke, welche die Berge in weiten, gefrorenen Ringen überzogen. Auf dem flachen, kalten Boden außerhalb der Mauern ruhte sie aus.

Das Wort, das sie angetrieben, das den Schlaf zerstreut hatte, der an den Rändern ihres Bewusstseins lauerte, und um dessentwillen sie die Taubheit ihrer Glieder bekämpft hatte, hallte immer lauter in ihrem Kopf wider. Heimat.

Müde neigte sie ihr Haupt; das dreikammerige Herz schlug laut.

Über ihr in der schneegeschwängerten Luft reichte ein Schloss bis in die Wolken. Es war aus Marmor erbaut und seit langer Zeit mit einer so dicken Eisschicht bedeckt, dass es den Eindruck erweckte, als sei es aus Eis geformt. Die drei Türme erhoben sich in stolzer Pracht unangefochten bis zum Winterhimmel.

Heimat. Heimat. Heimat.

Die Drachin öffnete langsam die Augen. Die senkrechten Pupillen, welche die brennend blaue Iris kerbten, zogen sich im letzten Licht der späten Nachmittagssonne zusammen und tranken förmlich den Anblick der riesigen Festung. Mit diesem Bild kam die Erinnerung zurück.

In den dunklen Ecken ihres umwölkten Verstandes lagerten die einzelnen Teile dieser Erinnerung ohne einen Zusammenhang. Nun aber schienen sie langsam aufeinander zuzukriechen und ein klareres Bild zu ergeben. Die erste Erinnerung, die zurückkehrte, war sehr alt. Es war der Anblick des Schlosses, wie sie es zum ersten Mal nach ihrer Verbannung gesehen hatte. Sie hatte den Eindruck, einmal eine Königin oder wenigstens eine wichtige Frau gewesen zu sein, denn obwohl sie von jemandem, an dessen Gesicht sie sich noch nicht klar entsinnen konnte, zum Rand der eisigen Abhänge geführt und dort für alle Zeit allein gelassen worden war, war sie aufrecht und erhobenen Hauptes geblieben.

Als die Drachin hoch zu den himmelwärts strebenden Türmen schaute, deren Fenster so dick mit Eis überzogen waren, dass das Sonnenlicht nie wieder durch sie dringen würde, kehrten weitere Bilder zurück. Sie erinnerte sich nun an die einsamen Jahre in den höhlenartigen Hallen hinter den Toren, an die Stille in ihrem marmornen Gefängnis, die nur von den Echos ihrer eigenen Schritte und dem Knistern der Feuer durchbrochen wurde, welche in den gewaltigen Kaminen brannten. Jedes Jahrhundert, jedes Jahr, jeder Tag, ja sogar jede Stunde kehrten allmählich zurück. Ihr Drachenblut geriet mit jedem Herzschlag in größere Aufruhr, als sie sich an die winzigsten Einzelheiten erinnerte, wie es nur einem Drachen möglich war, und es quälte sie so, wie es nur einen Drachen quälen konnte.

Sie haben mich an diesen Ort verbannt, dachte sie verbittert. Nun brannte eine Wut in ihrem Blut, an deren Ursprung sie sich noch nicht erinnern konnte. Sie haben mich allein in den kalten Bergen zurückgelassen, mit nichts als meinen Erinnerungen. Und nun hat mir jemand sogar diese genommen.

Bei diesem Gedanken formte sich ein weiteres Bild in ihrem Kopf. Es war ein Gesicht, das Gesicht einer Frau, das sie jedoch noch nicht vollständig erkennen konnte. Einer Frau mit goldenen Haaren und smaragdgrünen Augen; alles andere war noch undeutlich.

Am Rande des Drachenbewusstseins entzündete sich wieder das Feuer des Hasses. Sie wusste noch nicht, wer diese Frau war oder warum ihr eigenes säurehaltiges Blut bei dem Gedanken an sie kochte, doch sie wusste, dass die Erinnerung daran irgendwann zurückkommen würde.

Als sie kam, schwor die Drachin, dass all das unverbrauchte Feuer, all der unterdrückte Hass sich in einer donnernden Wut entladen werde, welche die Grundfeste der Welt erschüttern, das endlose Eis zu grauem Staub zermalmen und sogar die Marmormauern des Gefängnisses aufbrechen würde, das ihre Heimat und ihr Nest war.

Die Bestie kroch weiter auf das Schloss zu und suchte Schutz vor der hereinbrechenden Nacht.

4

Haguefort — Navarne

Gwydion Navarne wartete besorgt in dem reich ausgestatteten Korridor vor den Türen der Großen Halle von Haguefort, der rosenfarbenen Steinburg, die sein angestammtes Heim war. Seine sechzehn Lebensjahre waren vom Verlust seiner Mutter und danach seines Vaters und von einigen Beinahe-Verlusten bestimmt. Daher war er immer besorgt, wenn hinter verschlossenen Türen wichtige Gespräche geführt und wesentliche Entscheidungen getroffen wurden und er draußen im Korridor warten musste.

Diesmal war er besonders nervös. Seine Vormunde, der Herr und die Herrin der Cymrer, hatten ihn beinahe zu jeder wichtigen Staatsentscheidung hinzugezogen, die seit dem Tod seines Vaters vor drei Jahren zu fällen gewesen war. Doch nun hatten sie ihn höflich gebeten, draußen zu warten, was ihn sehr aufregte, auch wenn er sich sagte, dass dafür kein Grund bestand. Er vertraute seinem Paten und dessen Frau, die ihn als Enkel adoptiert hatte. Doch trotz dieses Vertrauens waren seine Nerven an diesem Morgen sehr angespannt.

Seine Besorgnis wurde zu regelrechter Bestürzung, als die geschätztesten Berater seiner Vormunde nacheinander in dem Korridor vor der Großen Halle eintrafen. Jeder wurde angekündigt und rasch eingelassen, während Gwydion weiterhin seine Runden auf dem dicken Teppich aus gewebter Seide drehte.

Als schließlich ein ihm vertrauter Ratgeber erschien, handelte Gwydion. Er entschloss sich, Anborn anzusprechen, den Großmarschall und General aus dem cymrischen Krieg. Der Grund dafür lag weniger darin, dass Anborn sein Lehrer gewesen war, sondern in dessen Lähmung. Der cymrische Held musste auf einer Sänfte getragen werden, und bei seiner Ankündigung gab es eine Verzögerung, sodass Gwydion die Gelegenheit ergreifen und mit ihm reden konnte, bevor er in der Großen Halle verschwand.

»Marschall! Was geht da drinnen vor sich?«, fragte er, während er sich zwischen die Sänfte und die Tür stellte. Anborn gab den Trägern das Zeichen, ihn abzusetzen und allein zu lassen. Seine azurblauen Augen – die Farbe der cymrischen Dynastie – blitzten unter den gerunzelten Brauen in einer Mischung aus Verärgerung, Belustigung und Zuneigung.

»Woher soll ich das wissen, du junger Narr? Dank dir bin ich doch noch nicht einmal durch die Tür gekommen. Tritt zur Seite, dann werde ich es vielleicht erfahren.«

»Versprecht Ihr mir zurückzukommen, sobald Ihr es wisst, und es mir zu verraten?«, bedrängte Gwydion ihn.

»Wenn Rhapsody und Ashe Euch zum Gespräch geladen haben, muss es um etwas sehr Wichtiges gehen.«

Der General schüttelte seine Mähne aus dunklem, vom Silber des Alters durchzogenem Haar und schnaubte verächtlich.

»Gewiss, obwohl ich bezweifle, dass ich während der ganzen Unterredung anwesend sein werde. Wo du deine Kaufmannslehre machst, interessiert mich nicht besonders.«

Gwydions Gesicht verzerrte sich, als eisiges Entsetzen seine Eingeweide packte.

»Eine Kaufmannslehre? Sie wollen mich in die Lehre schicken? Bitte sagt, dass das nicht stimmt.«

Der General gab den Sänftenträgern ein Zeichen. »Also gut. Es stimmt nicht. Geh mir aus dem Weg, Halunke. Ich will diese verfluchte Zusammenkunft hinter mich bringen, damit ich mich wieder wichtigeren Dingen widmen kann. Ich muss meine Männer ausbilden, meine Stiefel säubern, mir die Nase schnauzen und einem menschlichen Rühren nachkommen – was auch immer; alles ist wichtiger als dieser Unsinn.«

»Eine Lehre?«

»Kopf hoch, Junge, um Himmels willen«, sagte der General, während die Soldaten die Sänfte anhoben. »Wenn du eines Tages Herzog sein willst, ist es für deine Ausbildung unerlässlich, dass du für eine gewisse Zeit fortgehst. Dein eigener Vater war zu seiner Jugend Lehrling bei vielen Meistern. Du wirst es überleben, und es wird dir gut tun.« Die Türen öffneten sich. Die Sänfte des Generals wurde in die Halle getragen, und hinter ihm schlössen sich unbarmherzig die Türen.

Gwydion sank auf eine Bank aus geschnitztem Mahagoniholz und ächzte.

»Was ist los?«

Er schaute auf und sah Melisande, seine neunjährige Schwester. Sie blickte ihn besorgt mit ihren dunklen Augen an. Gwydion lächelte rasch.

»Vielleicht gar nichts, Melly«, versuchte er ihr zu versichern. Melisande hatte dieselben Schrecken durchlitten wie er, aber sie war viel jünger. Zwischen Gwydion und seinen Vormunden hatte die unausgesprochene Übereinkunft bestanden, das Leben seiner kleinen Schwester so sorgenfrei wie möglich zu gestalten.

»Du lügst«, meinte Melly gelassen. Sie steckte ihre Strohpuppen in eine Tasche und setzte sich neben ihm auf die Bank.

»Nein, ich lüge nicht«, gab Gwydion zurück. Er drehte sich um und sah, wie Jal’asee, der Botschafter der fernen Insel der Meeresmagier, das entgegengesetzte Ende des Korridors betrat. Beide Geschwister sahen mit ehrerbietigem Schweigen zu, wie der alte Mann mit seiner Gefolgschaft aus drei Leuten herbeikam. Jal’asee war ein alter Seren und stammte von einer der fünf Menschenrassen ab, die ihren Ursprung in vorgeschichtlicher Zeit hatten. Seine Herkunft war an der großen, dünnen Gestalt, der goldenen Haut und den dunklen, funkelnden Augen deutlich zu erkennen; es hieß, die Seren stammten von den Sternen ab. Gaematria, die mystische Insel, auf der sie sich ihre Heimat gemeinsam mit anderen alten Rassen und einigen gewöhnlichen Menschen geschaffen hatten, die vor Jahrhunderten als Flüchtlinge gekommen waren, lag dreitausend Meilen weiter westlich in der Mitte des weiten Zentralmeeres. Angeblich war es einer der letzten Orte auf der Erde, wo Magie noch als Wissenschaft angesehen und ausgeübt wurde.

»Wenn die Meeresmagier einen Abgesandten schicken, muss es um etwas ganz anderes gehen«, dachte Gwydion laut nach. »Es wäre vermessen zu glauben, meine Ausbildung sei für sie oder für irgendjemanden außer Rhapsody, Ashe und vielleicht Anborn von Bedeutung.«

»Vielleicht wollen sie dich hinrichten lassen«, meinte Melisande scherzhaft und holte ihre Strohpuppen wieder hervor. »Der Bericht der Lehrer war möglicherweise schlechter, als wir uns vorstellen können.«

In diesem Augenblick öffneten sich die Türen, und ihr Vormund kam heraus. Beide Kinder standen sofort auf. Der Herrscher der Cymrer, dessen Name ebenfalls Gwydion lautete, den sie aber im kleinen Kreis immer nur Ashe nannten, steckte in einer höfischen Robe, was so selten der Fall war, dass sowohl Melisande als auch Gwydion unruhig wurden.

Die Augen des cymrischen Herrschers waren himmelblau und hatten senkrechte Pupillen, die das Drachenblut in seinen Adern verrieten. Sie glänzten warm, als er die Kinder bemerkte.

»Melly! Du bist auch hier! Ausgezeichnet. Bitte bleib noch eine Weile vor der Halle. Man wird dich bald hereinholen.« Er streckte die Hand nach Gwydion aus. Sie steckte in einem Ärmel aus weißer Seide mit dunkelroten Streifen und einem Lederumschlag. »Kommst du bitte mit mir, Gwydion?«

Der Junge tauschte einen entsetzten Blick mit seiner Schwester aus und folgte Ashe durch die gewaltigen Flügeltüren, die sich beinahe unmerklich hinter ihnen schlössen.

Als sie durch den Eingang zur Großen Halle schritten, schaute Gwydion hoch zu der gewölbten Decke, auf der alte Fresken, welche die Geschichte des cymrischen Volkes erzählten, sorgfältig um einen dunkelblauen Mittelpunkt angeordnet waren. Als sein Vater noch gelebt hatte, hatten sie die Große Halle nur zu seltenen Gelegenheiten betreten und die meiste Zeit in den Familiengemächern und der Bibliothek verbracht, sodass die Pracht der Halle für Gwydion nie zur Selbstverständlichkeit geworden war. Er folgte mit den Augen unwillkürlich der Geschichte seiner Vorfahren, die vor vierzehn Jahrhunderten von der dem Untergang geweihten Insel Serendair geflohen waren. Jedes Joch des Deckengewölbes umfasste einen bestimmten Abschnitt der Geschichte. Gwydion schaute hoch zum ersten Fresko, auf welchem dem Herrscher Gwylliam ap Rendlar ap Evander tuatha Gwylliam, manchmal auch Gwylliam der Visionär genannt, die Erkenntnis zuteil wurde, dass die Insel bei der Erhebung des Schlafenden Kindes, einem gefallenen Stern, der in den Tiefen des Meeres brannte, von vulkanischem Feuer verzehrt werden würde. Gwydion wurde noch aufgeregter, als er erkannte, dass die höfische Kleidung, die Gwylliam trug, stark derjenigen von Ashe glich.

Jedes weitere Fresko erzählte mehr von der Geschichte: das Treffen des Entdeckers Merithyn und der Drachin Elynsynos, die einst unangefochten über einen großen Teil des mittleren Kontinents einschließlich Navarne geherrscht hatte; die Einladung an das Volk von Serendair, in ihrem Land Schutz zu suchen; die Erbauung und das Ablegen der drei Schiffsflotten, welche die cymrischen Flüchtlinge von der Insel forttrugen; das Schicksal jeder der drei Flotten; die Vereinigung des cymrischen Königshauses durch die Heirat des Herrschers Gwylliam mit Anwyn, einer der drei Töchter der Drachin Elynsynos; die Errichtung eines gewaltigen Reiches, über das der erste Herr und die erste Herrin der Cymrer geherrscht hatten, und schließlich seine Vernichtung im cymrischen Krieg.

Gwydion hatte Ashe einmal vorgeschlagen, in dem freien blauen Feld in der Mitte ein Bild des neuen Zeitalters entstehen zu lassen, in das sie vor kurzem eingetreten waren und das als das Zweite cymrische Zeitalter bekannt war. Es begann mit der Thronbesteigung seines Paten zusammen mit Rhapsody, die drei Jahre zuvor vom cymrischen Konzil als Herrscherin eingesetzt worden war. Ashe hatte nur gelächelt; das Feld war leer geblieben.

In der Großen Halle waren viele Stühle aufgestellt worden. Auf ihnen saßen die Herzöge der fünf anderen Provinzen von Roland und Abgesandte von jedem anderen Mitgliedsstaat des cymrischen Bündnisses, eines lockeren Zusammenschlusses von Ländern, die dem Herrscher und der Herrscherin der Cymrer treu ergeben waren. Rial, der Vizekönig des Waldreiches Tyrian, dessen Titularkönigin Rhapsody war, nickte ihm freundlich zu, doch in seinem Blick lag unverkennbar Mitgefühl. Gwydion bekam eine Gänsehaut.

Bevor sie unter dem zweiten Joch herschritten, wandte sich Ashe zu ihm um und ergriff seinen Arm.

»Komm für einen Augenblick her«, sagte er und zog ihn in ein Seitengemach.

Gwydion folgte ihm blind. Sein Magen hatte sich vor Sorgen zusammengekrampft. Ashe schloss die Tür hinter ihnen. Die Echos aus der gewaltigen Halle wurden sogleich von dem Teppich, den Vorhängen und Gobelins des kleineren Raumes verschluckt.

In dem Zimmer stand neben dem Fenster die Herrin der Cymrer und beobachtete die Blätter draußen, die allmählich ihre üppig grüne Färbung verloren und die Farbe des Feuers annahmen. Auch sie steckte in einer schweren, samtenen Hofrobe, einem tiefblauen Kleid, das steif von ihrer schlanken Gestalt abstand und ihren gewölbten Bauch verdeckte. Ihr goldenes Haar war aus dem Gesicht gekämmt und in komplizierten Mustern nach Art der Lirin gelegt, dem Volk ihrer Mutter. Als sie die beiden den Raum betreten hörte, drehte sie sich um und schaute Gwydion eine Weile eingehend an, dann schenkte sie ihm ein warmherziges Lächeln, das gleich darauf einem Ausdruck der Besorgnis Platz machte.

»Was ist los?«, fragte Rhapsody und wandte sich vom Fenster ab. »Du siehst aus, als ob du zu deiner Hinrichtung gingest.«

»Du bist schon das zweite Familienmitglied an diesem Morgen, das auf diesen Gedanken kommt«, erwiderte Gwydion nervös und ergriff die Hand, die sie ihm entgegenstreckte. Er verneigte sich förmlich. »Sollte ich mir Sorgen machen?«

»Mach dich nicht lächerlich«, antwortete sie, zog ihn an sich und strich ihm zärtlich über das Haar. Ihre Gesichtshaut, die für gewöhnlich eine gesunde, rosiggoldene Färbung hatte, wurde blass, und die klaren grünen Augen füllten sich mit Tränen des Schmerzes. Sie ließ ihn los und ging hinüber zu einem Sessel, in den sie sich rasch setzte. Ihre Schwangerschaft war schwierig, wie Gwydion wusste. Sie ermüdete rasch, und ihr wurde leicht übel.

»In Kürze haben wir einige Neuigkeiten bekannt zu geben, aber da sie alle für dich unmittelbar von Belang sind, war ich der Meinung, du solltest sie hören, bevor die Öffentlichkeit sie erfährt«, sagte Ashe, goss seiner Frau ein Glas Wasser ein und reichte es ihr. »Falls du in irgendeiner Hinsicht anderer Meinung bist, werden wir selbstverständlich noch einmal darüber nachdenken.«

Gwydion seufzte tief. »In Ordnung«, sagte er und versteifte sich. »Worum geht es?«

Ashe verbarg ein Lächeln und legte die Hände auf Rhapsodys Schultern. »Erstens wird Hochanger, der neue Palast, den ich für deine ... Großmutter habe errichten lassen« – seine Drachenaugen zwinkerten belustigt bei dieser Bezeichnung für Rhapsody – »am ersten Tag des Herbstes fertig sein. Ich plane, unseren Hausstand dorthin zu verbringen. Es ist an der Zeit, Haguefort zu verlassen und unsere eigene Residenz zu beziehen.«

Gwydion drehte sich der Magen um. Rhapsody und Ashe hatten seit Stephen Navarnes Tod vor drei Jahren in Gwydions Familienburg gelebt; der Herzog und Ashe waren Jugendfreunde gewesen. Ihre Gegenwart war das Einzige, was das Leben in Haguefort erträglich gemacht hatte. Ansonsten wären die Erinnerungen zu schrecklich für Gwydion gewesen. Obwohl er ein junger Knabe und Melisande noch ein Kleinkind gewesen war, als ihre Mutter auf der Straße in die Stadt umgebracht worden war, erinnerte er sich noch an sie und vermisste sie, wenn die Nachtwinde um die Zinnen des Schlosses heulten und kreischten oder wenn die Tage warm und windreich waren wie jene, an denen er und seine Mutter früher hatten Drachen steigen lassen. Der Verlust seines Vaters, der vor seinen Augen in einer Schlacht gestorben war, hatte seinem Optimismus den Todesstoß versetzt. Auch wenn er wusste, dass er die Last dieser Tragödien immer mit sich herumschleppen würde, erschien sie ihm leichter, wenn er sie mit Leuten teilen konnte, die ihn liebten und seinen Vater geliebt hatten.

»Außerdem glauben wir, dass es eine gute Idee ist, wenn Melisande erst einmal mit uns in dem neuen Palast lebt.«

»Nur Melly? Ich nicht?«

»Richtig. Dazu kommen wir gleich.«

Gwydion nickte benommen. Alle Nerven schrien in ihm auf. Sie schicken mich wirklich weg, dachte er. Bei diesem Gedanken schwirrte ihm der Kopf.

»Zweitens«, fuhr Ashe fort, ohne seine Bestürzung zu bemerken, »möchten Rhapsody und ich in diesem Jahr wieder einen Winterkarneval abhalten.«

Gwydions Entsetzen explodierte. Der Winterkarneval war in Navarne eine lange Familientradition gewesen. Sein Vater hatte ihn immer gern zur Zeit der Wintersonnenwende ausgerichtet. Jahr für Jahr war dies ein großes Fest, das mit den heiligen Tagen beider Glaubensrichtungen des Kontinents zusammenfiel – der patriarchalischen Religion Sepulvartas wie auch des Ordens der Filiden, der Naturpriester des Kreises von Gwynwald. Das Fest dauerte drei Tage und wurde bestimmt von sportlichen Wettkämpfen, Essen, Sangeswettstreiten, Minne und Dutzenden anderer Fröhlichkeiten.

Der letzte Karneval hatte vor vier Jahren stattgefunden und war zu einem Blutbad ausgeartet. Dieses Grauen war in Gwydion noch sehr lebendig.

»Warum?«, fragte er. Er konnte seinen Widerwillen einfach nicht verbergen.

»Weil es Zeit wird, ins Leben zurückzukehren«, sagte Rhapsody sanft. »Dein Vater hat dieses Fest geliebt und wusste, wie wichtig es für die Einwohner seiner Provinz und für ganz Roland war. Es ist das einzige Mal im Jahreskreis, dass die Anhänger der Religion von Sepulvarta und der von Gwynwald zu einem angenehmen Zweck zusammenkommen. Insofern ist es wichtig für das gegenseitige Verständnis der beiden Glaubensrichtungen. Außerdem müssen wir etwas verkündigen, und das Fest scheint uns dafür die beste Gelegenheit zu sein.«

»Etwas verkündigen?«

»Drittens«, sagte Ashe, »haben wir nach eingehenden Unterredungen und Rücksprache mit unseren verlässlichsten Beratern entschieden, dass du dein Erbe als Herzog von Navarne nun antreten solltest.«

Gwydion starrte seine Vormunde schweigend an.

»Aus diesem Grund bieten wir dir an, Melisande mit uns zu nehmen«, sagte Rhapsody rasch. »Sobald du die Verantwortung für das Herzogtum übernommen hast, musst du dich an vieles gewöhnen, und die Sorge um deine Schwester, die du sicherlich gern übernehmen würdest, darf dich nicht ablenken. Unser neues Heim liegt weniger als eine Tagesreise zu Pferde entfernt. Sie kann dich besuchen, wann immer einer von euch beiden es will.«

Ashe ging hinüber zu dem jungen Mann, stellte sich vor ihn und sah ihm ernst in die Augen.

»Am letzten Tag des Herbstes ist dein siebzehnter Geburtstag«, sagte er feierlich. »Du hast dich als wert erwiesen, in deine Rechte als Herzog eingesetzt zu werden. Du bist sowohl tapfer als auch weise über dein Alter hinaus. Das ist kein Geschenk, Gwydion, es steht dir von Rechts wegen zu. Du hast den Titel geerbt. Ich benötige dich als Vollmitglied meines Konzils, und Navarne braucht einen Herzog, der die Interessen des Landes wahrt und verteidigt. Anborn glaubt, du bist bereit dazu, und das ist wirklich ein hohes Lob. Mein Onkel ist nicht sehr freigebig mit seiner Unterstützung und seinem Lob. Wenn er glaubt, dass du den Titel verdient hast, dann wird es wenige geben, die ihm zu widersprechen wagen.«

»Aber einige gibt es bestimmt«, erwiderte Gwydion. Sein Herz raste immer noch.

»Niemanden«, antwortete Rhapsody lächelnd. »Unser Zusammentreffen hat bereits stattgefunden, und alle sind einverstanden. Es tut mir Leid, dass du gezwungen warst, in der Halle zu warten, aber das Konzil musste frei sprechen können. Wenn du gehört hättest, was sie über dich gesagt haben, wärest du sehr geschmeichelt gewesen. Niemand hat etwas eingewandt.« Sie schaute Ashe an. Tristan Steward, Gwydion Navarnes Vetter, hatte Bedenken geäußert, aber am Ende seine Unterstützung zugesagt.

»Selbst wenn es da jemanden gäbe, so wäre das etwas, an das du dich sowieso gewöhnen musst«, meinte Ashe.

»Es ist das Los des Anführers, infrage gestellt zu werden, und es ist das Zeichen eines guten Anführers, wenn er Lob und Tadel gleichmütig hinnimmt, ohne sich von beiden zu sehr in seinen Entscheidungen beeinflussen zu lassen. Also, was sagst du? Sollen wir Melisande hereinrufen, damit sie den ersten Augenblick der Amtseinsetzung ihres Bruders miterleben kann?«

Gwydion ging hinüber zum Fenster, an dem Rhapsody vorhin gestanden hatte, und zog den Vorhang zurück. Dabei flatterte ein Schwärm Wintervögel geräuschvoll auf, der in den nahen Bäumen gesessen hatte. Er schaute über die welligen grünen Felder seines angestammten Landes, das von einer zwölf Fuß hohen Mauer durchstoßen wurde, die sein Vater errichtet hatte, um das unmittelbar an das Schloss grenzende Land zu schützen. Die Bewohner hatten allmählich ihre Behausungen innerhalb der Mauer errichtet und die ursprünglich unberührte Wiese in ein Städtchen verwandelt, wie Stephen es vorhergesagt hatte. Nun war es hässliche Wirklichkeit. Schönheit und Unschuld waren für Sicherheit hergegeben worden.

»Ich vermute, das ist das Ende meiner Kindheit«, sagte er mit einer Stimme, die schwer war vor Melancholie. Ashe ging zum Fenster und stellte sich hinter ihn. »In gewisser Weise ja. Man könnte aber auch sagen, dass deine Kindheit schon vor langer Zeit geendet hat, Gwydion. Du hast in deinem jungen Leben mehr Verluste erlitten, als man je ertragen sollte. Deine Amtseinsetzung ist nur eine formelle Anerkennung der Tatsache, dass du schon seit einiger Zeit ein Mann bist.«

»Dein Vater hat die Unschuld der Kindheit nie wirklich verloren, Gwydion«, fügte Rhapsody leise hinzu. »Er hat dieselben Verluste erfahren wie du – seine Mutter, eure Mutter. Auch euer Pate, denn viele Jahre lang hat Stephen geglaubt, Ashe wäre tot. Aber er hatte dich und Melly und ein Herzogtum, für die er stark sein musste. Er hätte sich dunkler Melancholie ergeben können und jedes Recht dazu gehabt. Aber er zog es vor, zu lachen, zu feiern und statt in der Finsternis im Licht zu leben.« Langsam erhob sie sich. »Diese Wahl hast auch du getroffen – wie wir alle.«

Gwydion drehte sich um und betrachtete seine Vormunde. Sie beobachteten ihn eingehend und nachdenklich, aber in ihrem Blick lag das stumme Verständnis von Menschen, die ihre Führungsrolle nur widerwillig angenommen hatten, weil sie für sie ein großes persönliches Opfer darstellte. Er wusste, dass auch sie beide viel verloren hatten – beinahe jeden auf der Welt, den sie je geliebt hatten. Und in ihrem Verlust hatten sie sich aneinander festgehalten.

Etwas, das sein Pate auf ihrer Hochzeit vor drei Jahren gesagt hatte, kam ihm in Erinnerung.

Wenn es nach deiner Großmutter gegangen wäre, hätte sie allen Schmuck und alle Macht aufgegeben und fortan in einer Ziegenhütte irgendwo in einem fernen Wald gelebt. Sie hätte Kräuter angebaut, Musik komponiert und Kinder großgezogen. Nur ein Wort von ihr, und ich würde mit meinen eigenen Händen Berge versetzen, um ihr diesen Wunsch zu erfüllen.

Und warum hast du es noch nicht getan?, hatte Gwydion gefragt.

Weil es einige Dinge gibt, vor denen man nicht weglaufen kann, denn sie stecken in dir, hatte Ashe geantwortet und seine Hochzeitskette umgelegt. Eines davon ist Pflichtgefühl. Rhapsody wird in der Position gebraucht, in die man sie gewählt hat, so wie ich. Seine Augen hatten geleuchtet. Aber sobald man uns nicht mehr braucht, werde ich dich um deine Hilfe bei der Errichtung dieser Ziegenhütte bitten.

Gwydions Blicke trafen sich mit denen des Herrn und der Herrin der Cymrer.

»Es ist mir eine Ehre«, sagte er nur.

Rhapsodys und Ashes Erwiderung bestand in einem Lächeln.

»Du sollst wissen, dass wir immer für dich da sind«, meinte Rhapsody.

»Wir sollten hinausgehen und die guten Neuigkeiten allen mitteilen, nicht wahr?«, fügte Ashe hinzu, lief quer durch den Raum zur Tür und öffnete sie. »Wir müssen ein Fest und eine Amtseinsetzung planen.«

Auf seinem Weg hinter den beiden cymrischen Herrschern den Mittelgang der Großen Halle hinunter hielt Gwydion Navarne lange genug bei Anborns Stuhl inne, sodass er sich zu ihm hinunterbeugen und ein einziges Wort aussprechen konnte.

»Kaufmannslehre?«

Der Marschall grinste böse.

»Ich habe dir doch gesagt, dass es nicht so ist«, flüsterte er, als der zukünftige Herzog weiterging. Während Ashes Ankündigung hielt Gwydion den Blick starr auf das Gesicht des Marschalls gerichtet. Es blieb gefroren, erstarrt zu der ewig gleichen Maske, ein Hofgesicht, wie Ashe es nannte, unwandelbar und ohne jede Gefühlsregung oder Andeutung der Gedanken hinter der Fassade. Doch Gwydion glaubte in den himmelblauen Augen des cymrischen Helden mehr zu sehen: vielleicht Mitgefühl, denn er und Anborn hatten enge Freundschaftsbande geschmiedet, und er wusste, dass Anborn Titel und höfische Verpflichtungen verabscheute und stattdessen seine Befreiung von jeglicher Pflicht über alles schätzte. Wenn man an die Opfer dachte, die er als junger Mann am Hof seiner Eltern Gwylliam und Anwyn gebracht hatte, und an den Krieg, den ihn sein Vater gegen seine Mutter zu führen gezwungen hatte, verstand Gwydion Anborns Abscheu vor Titeln und den Pflichten, die sie mit sich brachten, nur allzu gut. Der Marschall hatte Gwydion seit langem geraten, sie bis zu dem Tag zu meiden, da er ihnen nicht mehr aus dem Weg gehen könnte. Nun war dieser Tag gekommen.

Als die Ankündigung endlich vorbei war und die Glückwünsche entgegengenommen waren, vermeldete Ashe, dass in unmittelbarem Anschluss zu Gwydions Ehren ein Staatsbankett abgehalten werde. Die geladenen Gäste huschten höflich um ihn herum, entboten ihm erneut ihre Glückwünsche und verfielen sodann ins Gespräch. Gerade als die Gruppe die Große Halle verlassen und sich auf den Weg in den Speisesaal machen wollte, neigte der Botschafter aus Gaematria, der Insel der Meeresmagier, leicht den Kopf und redete so leise, dass nur Ashe ihn verstehen konnte. Der Herrscher der Cymrer nickte.

»Onkel«, rief er Anborn zu, der sich gerade darauf vorbereitete, aus der Halle getragen zu werden, »hast du einen Augenblick Zeit für uns?«

Der Marschall runzelte die Brauen, gab aber seinen Trägern das Zeichen zu warten.

»Geh schon zum Bankett, Melly«, sagte Gwydion Navarne zu seiner Schwester. »Ich komme gleich nach.«

»Mal sehen, ob ich dir einen Platz freihalten kann«, meinte Melly mit Schalk in den schwarzen Augen. »Es wäre schade, wenn du auf deiner eigenen Feier hinten stehen müsstest.« Sie drehte sich um und folgte den Staatsoberhäuptern aus der Halle, wobei ihre goldenen Locken fröhlich tanzten.

Die Herzöge der orlandischen Provinzen sowie Tristan Steward, der Oberherrscher, blieben ebenfalls zurück und sahen aufmerksam zu, wie Jal’asee langsam über den Teppich des Mittelganges schritt und vor dem Marschall stehen blieb. Der Meeresmagier nickte den zwei Mitgliedern seines Gefolges zu, die die Türen zu einem der Seitengemächer öffneten. Er verschwand darin und kam kurz darauf mit einem riesigen Strohsack heraus, auf dem eine mächtige hölzerne Kiste lag. Mit großer Mühe setzte er sie vor Anborn ab und zog sich dann rasch und respektvoll einige Schritte zurück.

»Was soll das?«, wollte der Marschall wissen, während er die hölzerne Kiste argwöhnisch beäugte.

Der alte Seren räusperte sich; seine goldenen Augen glitzerten.

»Ein Geschenk von Eurem Bruder Edwyn Griffyth, dem Hohen Meeresmagier von Gaematria«, sagte er.

Seine sanfte, tiefe Stimme knisterte vor fremdartiger Energie und verursachte bei Gwydion eine Gänsehaut. Der zukünftige Herzog warf einen raschen Blick zu Rhapsody hinüber und bemerkte, dass es ihr genauso ging. Sie hörte aufmerksam zu, als ob sie Musik lausche, die sie nie zuvor vernommen hatte.

Anborn schnaubte verächtlich: »Ich will nichts von ihm haben, und schon gar nichts, was in einer Sänfte hereingetragen werden muss. Das ist eine Beleidigung. Nehmt es weg.«

Jal’asees gelassener Gesichtsausdruck veränderte sich trotz dieser harschen Entgegnung nicht. Er griff nur zwischen die Falten seiner Robe, holte ein kleines Papierbündel hervor, hielt es schweigend hoch und erklärte, dass es Anweisungen von Edwyn seien. Ashe nickte.

»Bei allem Respekt«, sagte der große Mann mit seiner angenehm rauchigen Stimme. Er schaute auf das erste Blatt, räusperte sich wieder und las laut vor:

>»Sei kein kindischer Esel. Mach dein Geschenk auf.<«

Ein leises Kichern breitete sich in der Halle zwischen den Herzögen aus. Anborn starrte zuerst sie und dann den serenischen Botschafter an. Jal’asee lächelte gütig. Der Marschall atmete tief ein, stieß die Luft laut wieder aus und bedeutete den Dienern, die Kiste zu öffnen.

Die Mitglieder von Jal’asees Gefolge schlössen die Kiste auf und traten zurück, als die hölzernen Wände umfielen.

Im Innern befand sich eine funkelnde Maschine aus Metall. Sie stand aufrecht und hatte stählerne Fußpolster, die von gegliederten Gelenken getragen wurden, welche wiederum von zwei Rädern mit Gestänge und Handgriffen angetrieben zu werden schienen. Alle Versammelten hielten die Luft an; ansonsten herrschte Stille in der Großen Halle.

»Was, im Namen der verschrumpelten, winzigen Eier meines Bruders, ist das?«, fragte Anborn geringschätzig. Jal’asee hüstelte höflich, steckte das oberste Blatt nach hinten und spähte auf das nächste.

>»Das ist ein Gehapparat, du Strohkopf. Er ist genau auf deine Größe, dein Gewicht und deinen Umfang eingestellt und sollte dir ermöglichen, wieder aufrecht zu gehen. Aber du solltest keine Bemerkung zur Größe meiner Genitalien machen, denn das könnte zu peinlichen Fragen über deine eigene Männlichkeit führen.<«

Anborn richtete sich wütend auf seinen Fäusten auf. »Ich will dieses Ding nicht haben!«, brüllte er. »Schafft diesen neumodischen Apparat zurück zu meinem Bruder und sagt ihm, er soll sich ihn sonst wohin schieben.«

Geduldig schob Jal’asee das nächste Blatt nach hinten und las das nun oben liegende.

>»Es besteht kein Grund, gemein zu werden. Außerdem bezahle ich den Rücktransport nicht. Es bleibt, wo es ist. Du solltest das Beste daraus machen.<«

Anborn beäugte den metallenen Gehapparat mit gerunzelter Stirn und wandte sich wieder an den Botschafter von Gaematria.

»Sagt meinem Bruder, dass ich mich dafür bedanke«, meinte er mit übertriebener Höflichkeit.

Jal’asee blinzelte und durchstöberte rasch die verbleibenden Blätter. Sein altes Gesicht nahm einen schmerzlichen Ausdruck an.

»Ich ... äh ... scheine darauf keine passende Antwort zu haben«, sagte er in belustigter Verlegenheit. »Ich glaube, diese Antwort hat Ihr Herr Bruder nicht vorhergesehen.«

»Ha! Ich hab ihn!«, krähte Anborn. Er gab den Sänftenträgern ein Zeichen. »Bringt mich hier heraus, sonst verpasse ich noch das Essen.« Seine Diener hoben ihn hoch und trugen ihn aus der Halle. Die Herzöge, die Botschafter und die beiden cymrischen Herrscher schauten ihm mit einer Mischung aus Heiterkeit und Verblüffung nach. Die Herzöge, die sich inzwischen wieder miteinander unterhielten, folgten ihm.

Ashe ging hinüber zu dem Gehapparat und untersuchte ihn sorgfältig. »Edwyns Fähigkeiten als Erfinder und Schmied verblüffen mich immer wieder«, sagte er mit Verwunderung in der Stimme. »Es ist schön zu sehen, dass er das Genie, das er von seinem Vater Gwylliam geerbt hat, zu guten Zwecken einsetzt, anstatt damit wie dieser Zerstörungen anzurichten.«

»Gwylliam war nicht immer zerstörerisch«, sagte Rhapsody und sah zu, wie Ashe die Handkurbel langsam drehte, worauf das rechte Fußpolster sich hob und einen Schritt nach vorn machte. Dann drehte er es zurück. »Er ist verantwortlich für viele nützliche und angenehme Erfindungen. Die Hallen von Ylorc werden von Lichtern erhellt, die er geschaffen hat; der Berg wird durch ein Ventilationssystem geheizt und gekühlt, das aus seiner Hand stammt. In den Tiefen der Berge gibt es sogar Aborte. Als Ylorc noch Canrif, sein Meisterwerk, war, enthielt es einige der klügsten und anspruchsvollsten Erfindungen auf der ganzen Welt. Wenn du die Narrheiten deines Großvaters tadelst, solltest du seine Errungenschaften nicht vergessen.«

Sie spürte eine leichte Berührung am Ellbogen, drehte sich um und sah, dass JaFasee hinter ihr stand. Sie schaute in sein Gesicht und erwiderte sein Lächeln.

»Herrin, wenn Ihr erlaubt, möchte ich gern einen Augenblick allein mit Euch reden«, sagte er freundlich. Rhapsody schaute hinüber zu Ashe, der sie fragend anblickte und nickte.

»Geh schon mit den Herzögen vor, Sam«, sagte sie gelassen, wobei sie ihn mit dem Namen anredete, den sie immer dann gebrauchte, wenn sie unter sich waren. »Ich komme gleich nach.« Sie wartete, bis ihr Gemahl und Gwydion den Raum verlassen hatten. Sobald sie allein waren, sah sie JaFasee an.

»Ja?«

Das freundliche Gesicht des alten serenischen Botschafters wurde ernst.

»Herrin, wird der Bolg-König zur Amtseinsetzung des jungen Gwydion beim Winterkarneval eingeladen?«

»Natürlich«, antwortete Rhapsody. »Warum?«

»Ist es wahrscheinlich, dass er kommt?«

Sie seufzte und zuckte die Achseln. »Das kann ich nicht sagen. Er ist für lange Zeit seinem Königreich fern gewesen.« Sie errötete. Der Grund für sein Fernsein hatte in ihrer Rettung gelegen. »Warum fragt Ihr, Euer Exzellenz?«

Der große Mann sah ernst auf sie hinunter. »Ich hoffe, dass Ihr mir die Ehre erweisen werdet, mich ihm vorzustellen und mir ein kurzes Gespräch mit ihm zu ermöglichen.« Die rauchige Stimme klang beiläufig, aber Rhapsody hörte die unmissverständliche Ernsthaftigkeit in seinen Worten.

»Wenn er kommt, werde ich Euch ihm gern vorstellen, aber ich kann nicht versprechen, dass er in ein längeres Gespräch mit Euch einwilligt«, sagte sie. »Achmed ist... nun ja, er kann unberechenbar sein.«

»Ich verstehe«, meinte JaFasee. »Und ich bin dankbar für jede Unterstützung, die Ihr mir gewährt. Ich habe vor, bis zur Sonnenwende hier zu bleiben und an der Amtseinsetzung teilzunehmen. Es wäre für mich unmöglich, innerhalb der verbleibenden zwei Monate nach Hause und wieder her zu reisen.« Seine Augen leuchteten hell.

»Zumindest ohne besondere Hilfe.«

Rhapsody lächelte. »Eines Tages möchte ich gern etwas über diese >Hilfen< erfahren«, sagte sie, stand auf und richtete ihre Röcke, da sie die Halle verlassen wollte. »Auch wenn ich weiß, dass die Meeresmagier sehr zurückhaltend sind, wenn es um ihre Magie geht.«

Der Botschafter nickte nichts sagend. »Es wäre mir eine große Ehre, Euch etwas darüber zu berichten, vor allem da Ihr im Rang einer Benennerin steht, Herrin«, sagte er und bot ihr seinen Arm an. »Euer Eid, immer die Wahrheit zu sagen und die alten Überlieferungen zu schützen, macht Euch zu einer der wenigen Personen außerhalb von Gaematria, mit der man angemessen über solche Dinge reden kann. Wenn Ihr Euch dazu in der Lage fühlt, können wir vielleicht einen Spaziergang durch die Gärten machen und uns darüber unterhalten.«

»Vielen Dank. Das klingt sehr verlockend«, meinte Rhapsody und ergriff seinen Arm.

»Vielleicht könnt Ihr mir als Gegengabe etwas mehr über den Bolg-König erzählen«, schlug JaFasee vor, während er durch die Große Halle schritt. »Er ist einer der beiden, mit denen Ihr von Serendair entlang der Wurzeln der Sagia bis hierher gereist seid, nicht wahr?«

Die cymrische Herrscherin blieb schockiert stehen. Zitternd zog sie ihren Arm fort. Außer Ashe wusste keine lebende Seele, wie sie und ihre beiden Freunde aus der alten Welt dem Untergang der Insel Serendair entkommen und auf der anderen Seite der Zeit hier gelandet waren.

»Woher ... woher wisst Ihr das?«, fragte sie mit versagender Stimme. Sie war so überrascht, dass sie ihre Verblüffung nicht elegant überspielen konnte. Die von der Schwangerschaft herrührende Übelkeit und Erschöpfung, gegen die sie andauernd ankämpfen musste, verhinderten dies.

Jal’asee lächelte sie an.

»Weil ich Euch das Land habe verlassen sehen.«

5

Auf der transsorboldischen Strasse — Remaldfaer — Sorbold

Die Abenddämmerung setzte ein und nahm das verbliebene Licht des Nachmittags mit.

Talquist, der Regent des weiten, dürren Reiches Sorbold, hatte den halben Tag hindurch im hinteren Teil seines üppigen Reisewagens Notizen niedergeschrieben und über Bilanzen gebrütet. Er hatte die Blende vor dem Fenster hochgezogen, damit er bei seiner Arbeit frische Luft und Licht bekam. Nun, da die Nacht herannahte, hielt er inne und löschte die Tinte auf dem letzten Schriftstück, bevor er sich erlaubte, einen Blick aus dem Fenster auf den Sonnenuntergang zu werfen.

Auch wenn er sich in aller Bescheidenheit dazu entschlossen hatte, nur ein Jahr lang zu herrschen, obwohl die Waage von Jierna Tal zu seinen Gunsten ausgeschlagen war und ihn als Herrscher bestätigt hatte, gönnte sich Talquist schon jetzt den Luxus des Amtes, das er bald für immer innehaben würde. Er hatte den ganzen Tag von den Gaben gekostet, die ihm die Kaufmannschaft zukommen ließ, aus der er als Führer der westlichen Gilden hervorgegangen war: Süßigkeiten aus Golgarn, Blätterteigpasteten mit Honig und Kardamom, geröstete Nüsse und köstliche

Weine aus dem Hintervold, wo die gefrorenen Trauben durch Eis gepresst wurden und einen unvergleichlichen Nektar ergaben. Sein ganzes Leben lang hatte er im Handel des Kontinents gearbeitet und daher eine Vorliebe für feine Dinge entwickelt sowie Möglichkeiten gefunden, an sie heranzukommen, obwohl er früher nur ein einfacher Hafenarbeiter gewesen war. Wenn er in ein paar Monaten der Erste Herrscher der Sonne sein würde, konnte er sich auf noch großartigere Leckereien freuen. Die Küche im Palast von Jierna Tal wurde als die beste auf der ganzen Welt angesehen.

Die Pracht des Sonnenuntergangs über der sorboldischen Wüste ließ niemanden kalt, selbst wenn man ein so konzentrierter Mann wie Talquist war. Die Luft, die sonst so dünn und trocken war, dass sie Nasenbluten verursachte, wurde nun süßer und feuchter, als ob sie die Sonne dazu verführen wolle, am Morgen zurückzukehren. Der Wind hatte sich gelegt, und die Luft war klar. Das Firmament verdunkelte sich im Osten zu samtigem Blau, und winzige Sterne schimmerten durch den wolkenlosen Schleier der Nacht. Im Westen tanzten wirbelnde Farben. Feuriges Rot wurde zu sanftem Rosa und schloss sich um eine brennende Kugel aus rotorangefarbenen Flammen, die langsam hinter den fernen Bergen versank.

Talquist seufzte. In diesem Land liegt eine so große Schönheit, dachte er, während unbändiger Stolz auf seine Nation in ihm aufstieg. Es ist ein raues Land, so trocken, ein bedrohliches Reich der endlosen Sonne, doch seine Pracht ist unleugbar.

Das Hufgeklapper seiner Eskorte von fünfzig Mann riss ihn aus den Gedanken. Talquist griff nach der Streichholzschachtel aus Platin, holte ein Zündholz heraus und entzündete die Duftöllampe auf seinem Tisch. Ein schwaches Glimmen setzte ein, dehnte sich aus und brachte der tiefer werdenden Dunkelheit des samtigen Wageninneren warmes Licht.

Noch drei Tage, bis wir Jierna Tal erreicht haben, dachte Talquist. Sein Blick kehrte zu dem aufgeschlagenen Hauptbuch vor ihm zurück. Dieser Gedanke erregte ihn. Er wollte nach so langer, arbeitsreicher Zeit an der Westküste rasch in den großen Palast mit den vielen Zinnen tief in den Bergen des inneren Sorbold zurückkehren. Ein bedauerlicher Unfall bei der Befragung der Waage hatte Ihvarr, den Herrscher der östlichen Gilden und Talquists Freund, Geschäftspartner und einzigen ernsthaften Konkurrenten das Leben gekostet. Talquist hatte sofort Ihvarrs Organisation aus Minenarbeitern, Fuhrmännern, Händlern und Lageristen übernommen, die eingehende Aufsicht und Überwachung erforderte; seine eigenen Seehandelsgeschäfte bedurften dessen sogar noch mehr. Doch die schwere Arbeitslast machte ihm nichts aus, denn Talquist war ein ehrgeiziger Mann.

Der Klang eines Pferdes, das sich seinem Wagen von der Seite näherte, lenkte seine Aufmerksamkeit von den Büchern ab. Talquist schaute aus dem Fenster und erkannte einen seiner Späher, der dem Wagen das Signal gab, langsamer zu werden.

»Haltet an«, befahl er, während er sich aus dem Fenster lehnte. Dann rief er dem Späher zu:

»Was ist los?«

Der Soldat, der die Uniform des Herrschers trug, zügelte sein Pferd ebenfalls.

»Herr, vor uns nähert sich eine Karawane aus vier Wagen dem Bergpass.«

»Ja, und?«

»Sie scheinen nur bei Dunkelheit zu reisen, um nicht entdeckt zu werden. Die Wagen sind voller Gefangener.«

Talquist lehnte sich noch weiter aus dem Fenster und zog die Brauen unwillig zusammen.

»Gefangene?«

»Ja, Herr. Sie sind gefesselt und haben Binden über den Augen. Möglicherweise sind sie im Süden an der Skelettküste gelandet.«

Talquist nickte wütend. Der Sklavenhandel in Sorbold war sprunghaft gestiegen. Der Verkauf menschlicher Gefangener an die Minen und Felder nahm seit dem Tod der Kaiserin der Dunklen Erde stetig zu, wobei das Ableben der Herrscherin zu seiner eigenen Thronbesteigung geführt hatte. Abtrünnige Sklavenhändler, die Dörfer oder Karawanen angriffen und ihre Gefangenen zu Feldarbeit zwangen oder sie verkauften, waren für Talquist inzwischen eines der größten Ärgernisse.

»Wohin sind sie unterwegs?«, fragte er.

Der Soldat zog seinen Helm aus und schüttelte den Schweiß davon ab. »Ihrer Route nach zu urteilen, würde ich sagen, zu den Olivenhainen von Baltar«, meinte er.

»Fangt sie ab. Leitet meinen Wagen um«, befahl Talquist. »Ich will sehen, wer Sklaven in mein Reich schmuggelt, und dem persönlich ein Ende setzen. Ich werde mich hier im Wagen verstecken. Sag dem Kutscher, er soll so schnell wie möglich fahren.«

»Ja, Herr.«

Talquist zog die Blende herunter und löschte das Licht. Er kochte vor Wut.

Evrit rieb mit der Zunge über die Innenseite der Wangen in der nutzlosen Hoffnung, dadurch Speichel erzeugen zu können.

Fünf Tage in Fesseln und mit einer Binde vor den Augen hatten ihn empfänglicher für die Dinge in seiner Umgebung gemacht: für die kühlende Luft bei anbrechender Nacht, für den Gestank im Wagen und für das Ächzen, Schmerzesjammern und Angstheulen seiner Mitgefangenen, besonders seiner jungen Söhne, deren Stimmen er auch dann erkannte, wenn kein Wort gesprochen wurde. Er versuchte ein Lebenszeichen von seiner Frau zu erhaschen, die sich stark gewehrt hatte und in einen anderen Wagen geworfen worden war, doch das endlose Hufgetrappel und das Knirschen und Ächzen der Wagen machten dies unmöglich.

Selac, der jüngere seiner zwei Söhne, gab schon seit Stunden keinen Laut mehr von sich. Jedes Mal wenn der Lärm im Wagen weniger wurde, hatte Evrit mit krächzender, kaum mehr verständlicher Stimme nach ihm gerufen, aber keine Antwort erhalten. Er betete, dass der Junge nur eingeschlafen oder bewusstlos geworden war, weil er Gestank und Durst nicht mehr ertragen hatte, konnte jedoch den dumpfen Laut nicht überhören, der immer dann ertönte, wenn die Wagen langsamer wurden und die tägliche Versorgung der Gefangenen mit Nahrung und Wasser erfolgte. Er hatte fünf solcher Geräusche gehört. Der peitschende Sand des Wüstenwindes stach ihm in die Haut und diente als Ersatz für die Angsttränen, die wegen des Wassermangels und der Augenbinde nicht fließen konnten.

Immer wieder verfluchte er sich dafür, dass er so dumm gewesen war, die Seereise nach Golgarn anzutreten. Er war der Führer der Expedition gewesen; er und seine Passagiere auf der Freiheit hatten ihre Abreise so eingerichtet, dass sie vor dem letzten der südlichen Sommerwinde segeln konnten, bevor der Herbst die Strömung vor der Skelettküste lebensgefährlich machte. Sie waren in See gestochen, weil sie hofften, in Golgarn werde ihre religiöse Sekte geduldet werden, denn dieser Staat hing keinem besonderen Glauben an. Sie hatten den Untergang ihres Schiffes überlebt, doch dann waren sie von den Leuten, die ihnen an Land geholfen und die sie als ihre Retter angesehen hatten, gefangen genommen worden.

Ihre Kaperer waren nicht in allen Belangen herzlos mit ihnen umgegangen. Keine Frau war vergewaltigt worden, und soweit er wusste, hatte es keine Misshandlungen und Schläge gegeben. Ihnen waren die Augen verbunden worden, und man hatte sie gefesselt, nachdem sie Wasser und Nahrung erhalten hatten. Dann hatten sie sich erleichtern dürfen. Aber die Härte des Sommers in der Wüste, der raue Transport und die allgemeinen Umstände machten ihr gemeinsames Elend nur noch schlimmer. Der Anführer der Sklavenhändler hatte ihnen versprochen, dass sie nach zwei Olivenernten ihre Freiheit wiedererlangen konnten, falls sie pflichtgetreu und gut arbeiteten. Evrit war nicht dumm genug, den Worten eines Sklaventreibers zu glauben, doch wenigstens hatten die Frauen und Kinder daraufhin Hoffnung gefasst. Seit ihr Schiff auf dem Weg nach Golgarn vom Kurs abgekommen und auf eines der gefährlichen Riffe vor der Skelettküste gelaufen war, hatte Evrit geglaubt, es sei nur eine Frage der Zeit, bis der Tod seine Familie holen werde. Ihre Rettung hatte sich in der Tat nicht unbedingt als besser erwiesen.

Aus der Ferne hörte er ein Hörn schmettern – einmal, lange, anhaltend, dann noch einmal und dreimal kurz. Evrit spürte, wie die Männer im Wagen sich aufrichteten oder versteiften. Sie hatten es ebenfalls gehört.

Die Kaperer riefen sich etwas zu; sie redeten in einer Sprache, die er nicht verstand. Panik lag in ihren Stimmen.

»Was ... ist los?«, murmelte der Mann neben ihm.

Der Boden unter dem Wagen erzitterte. Evrit erkannte das Geräusch.

»Pferde«, flüsterte er. »Viele Pferde.«

Die Wagen wurden langsamer; das Knirschen machte dem Lärm von donnernden Hufen Platz, die von der sandigen Straße gedämpft wurden.

Einer der Gefangenen betete laut; andere fielen leise ein, als die Erschütterungen durch die herankommenden Pferde ihnen den Wüstenstaub gegen die Haut trieben.

Evrit versuchte den Mahlstrom von Geräuschen zu unterscheiden. Anscheinend hatten einige der Sklaventreiber fliehen wollen. Sie hatten die Wagen verlassen und waren fortgeritten, doch sie waren rasch von anderen, ihnen zahlenmäßig überlegenen Reitern wieder eingefangen worden. Dem Lärm nach zu urteilen, waren die Wagen umzingelt, und an den gebrüllten Befehlen erkannte er, dass sie sich in der Obhut einer Militäreinheit befanden, auch wenn nicht klar war, um welche es sich handelte.

Nach langer Zeit des Lärms und der Verwirrung hörte er schließlich einen Wagen neben den Karren anhalten und eine Tür sich unter strengem Protokoll öffnen. Er lauschte angestrengt und versuchte einige Worte zu verstehen, doch auch sie stammten aus einer Sprache, die er nicht kannte.

Auf ein Kommando sprang jemand in den Wagen, der dabei heftig erzitterte. Einige Herzschläge später spürte er, wie Hände sanft seine Augenbinde entfernten.

Zuerst glaubte er, das Augenlicht verloren zu haben. Als er von der Binde befreit war, blieb die Welt um ihn herum trotzdem dunkel, doch bald hatte er sich an die Finsternis gewöhnt und erkannte einen Soldaten in roter Stoffuniform mit Lederstreifen darauf, der auch den anderen Gefangenen die Binden abnahm.

Evrit schaute sich rasch und verzweifelt um und erhaschte einen Blick auf seinen ältesten Sohn, der ihn wild anstarrte. Er nickte aufmunternd und sah dann hinter sich.

In der Mitte der vier Wagen stand ein untersetzter Mann, der in weite weiße Roben gekleidet war und eine schwere Halskette aus Gold trug. Die Roben waren mit den Symbolen des Schwertes und der Sonne bestickt. Er gab Anweisungen an die berittenen Soldaten, die offenbar eine ganze Kohorte stark waren und die gleiche Hautfarbe und Gestalt wie ihr Anführer hatten. Einige ritten zwischen die Wagen, während andere die Gefangenen befreiten und Wasser herumreichten.

Jemand bot ihm einen Weinschlauch an, und er trank dankbar mit noch gebundenen Händen, dann schaute er sich nach Selac um und entdeckte ihn in einem der anderen Wagen. Evrit neigte den Kopf vor Erleichterung und flüsterte ein Dankgebet für ihre Errettung.

Schließlich winkte der Mann in der Robe den Soldaten, mit dem er gesprochen hatte, fort, drehte sich um und redete die Gefangenen in der allgemein verständlichen Sprache der Seehandelsleute an.

»Ich bin Talquist, Herrscher über Sorbold und designierter Kaiser. Ich heiße euch in meinem Land willkommen und entschuldige mich für alle Misshandlungen, die ihr durch die Hände meiner Untertanen erleiden musstet. Der Anführer wurde bereits hingerichtet, und der Rest dieser abtrünnigen Sklavenhalter befindet sich nun im Gewahrsam meines Heeres.«

Evrit seufzte erleichtert und schenkte seinen beiden Söhnen ein aufmunterndes Lächeln.

»Ihr werdet nun in meiner Karawane Weiterreisen, damit meine Soldaten euch beschützen können«, fuhr der Herrscher fort. »Bald werdet ihr alle von euren Augenbinden befreit sein, falls ihr es noch nicht seid. Wenn jemand Wasser braucht, möge er das bitte dem Soldaten sagen, der für seinen Wagen zuständig ist. Wer ist euer Anführer?«

Einen Augenblick lang herrschte Stille. Dann hatte Evrit die Stimme wieder gefunden.

»Unsere ... unsere Expedition hat keinen richtigen Führer, Herr«, sagte er mit brechender Stimme. »Aber ich habe die Ladepapiere unterschrieben, als wir auf der Freiheit die Segel gesetzt haben.«

Der Herrscher drehte sich nach ihm um und kam zu ihm herüber, wobei er freundlich lächelte.

»Die Freiheit, sagst du? Ein feines Schiff. Ich habe oft Fracht auf ihr befördern lassen. Ist sie gesunken?«

»Ja, Herr, es tut mir Leid, das sagen zu müssen. Sie ist auf ein Riff gelaufen. Wir sind bei der Skelettküste an Land gekommen, wurden aber von den Männern gefangen genommen, die Ihr überwältigt habt.«

»Ich entschuldige mich im Namen meiner Nation. Sie hatten kein Recht, das zu tun.« Der Herrscher gab den Soldaten einen weiteren Befehl, die sich daraufhin in vier Zweiergruppen teilten und in die Wagen kletterten, um sie zu lenken. Dann ging er zurück zu der Kutsche, aus der er gestiegen war.

»Äh ... mein Herr?«, rief Evrit nervös; die entsetzten Blicke seiner Mitgefangenen hatten ihn dazu gezwungen. Der Regent blieb stehen und drehte sich um. »Ja?«

»Könnte ... könnte man uns vielleicht die Fesseln abnehmen?«

Der Regent dachte kurz nach, ging dann zurück zu dem Wagen, stellte sich vor Evrit und schaute ihn nachdenklich an.

»Die Frau in dem grünen Rock ist deine Gemahlin, nicht wahr?«, fragte er schließlich.

»J... ja«, stammelte Evrit.

Der Herrscher nickte. »Möchtest du sie neben dir haben?«

»Ja, ja, mein Herr«, sagte Evrit dankbar.

Der Herrscher legte die Hand auf eine der Wagenbohlen und beugte sich dichter zu Evrit vor. »Ich fürchte, ich habe euch unbeabsichtigt in die Irre geführt. Die Sklavenhändler, die euch gefangen genommen haben, hatten dazu kein Recht, weil der ganze Sklavenhandel nur von der Krone beherrscht werden darf – also von mir«, sagte er freundlich. »Während diese Schurken euch möglicherweise in einen Olivenhain oder auf eine Obstplantage geschickt hätten, habe ich eine viel bessere Verwendung für eure Männer: die Salzminen von Nicosi. Ihr seht stark aus. Ihr solltet dort eine Weile überleben können. Die Frauen werden in den Stofffabriken arbeiten, und die Kinder werden im Palast als Kaminfeger dienen und die Latrinen säubern, denn dazu haben sie die richtige Größe.«

Der Regent drehte sich um und ging zurück zu seiner Kutsche. Dabei rief er dem Hauptmann seiner Wache zu:

»Mikowacz, bring mir die Frau in dem grünen Rock. Mit ihr fange ich an. Ich will, dass du morgen früh die schönsten und jüngsten für mich ausgesucht hast. Schließlich dauert es drei Tage, bis wir die Minen erreicht haben.«

Er schaute zurück zu Evrit, dessen Gesicht so weiß wie der zunehmende Mond war, der über der sorboldischen Wüste hing.

»Wenn ich mit der Frau des Anführers fertig bin, darfst du ihr erlauben, neben ihrem Mann im Wagen zu sitzen, bis wir bei den Salzminen sind.«

Er kletterte in seine Kutsche und ließ die Tür offen.

6

Rabengilde — Diebesmarkt — Yarim Paar

Yabrith, der Schläger, Dieb und Mörder, wusste genau, wann ein Mensch kurz vor dem Zusammenbruch stand. Im Verlauf seiner verbrecherischen Karriere hatte er diese Gabe schon oft eingesetzt und sich dadurch einen beachtlichen Ruf bei der Sammlung von Informationen und Geheimnissen erworben, die er selbst den unwilligsten Opfern entlockte.

Sein Gespür für gefährliche Situationen war nun geweckt. Er befand sich inmitten der dunklen, zerfallenden Mauern der Rabengilde im Inneren Markt von Yarim Paar. Die Luft war aufgeladen mit Gefahr und schwarzer Wut, die nur schwach im Zaum gehalten wurde.

Yabrith hatte keine Lust, der Tropfen zu sein, der das Fass zum Überlaufen brachte. Er stellte das schwere Kristallglas vor Dranth, dem Kronprinzen, ab und trat rasch an die Seite des Tisches, wobei er versuchte, nicht die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich zu lenken. Im Stillen hoffte er, dass der Alkohol, den er ausgeschenkt hatte, die Erregung besänftigen werde, die den Kronprinzen und seine Gefährten in der Gilde seit einigen Wochen im Griff hielt.

Dranth, der Kronprinz der Gilde, streckte die nur leicht zitternde Hand aus und ergriff das Glas. Er goss die bernsteinfarbene Flüssigkeit in einem Zug hinunter. Dann biss er die Zähne zusammen und sog das Brennen in sich ein. Er hoffte, es werde seinen Geist beruhigen, bemerkte aber verschwommen, dass kein Alkohol der Welt dafür stark genug sein konnte.

Seit einem ganzen Mondumlauf wurde er nun von Albträumen geplagt, zum ersten Mal seit seiner Kindheit, und erwachte schweißgebadet und im sauren Geruch der Angst. Nach diesen Träumen lief Dranth immer hin und her und versuchte, auf diese Weise die Bilder aus seinem Kopf zu vertreiben, doch es gelang ihm nur, sie für kurze Zeit in die dunklen Kavernen seines Geistes zu scheuchen, wo sie in den Schatten warteten, bis der Schlaf ihn übermannte.

Und dann kamen die Bilder wieder hervor und krallten sich in ihm fest.

Er stellte das Glas auf der dicken Platte des neuen Tisches ab und zuckte unter dem dumpfen Laut zusammen. Es war ein ähnliches Geräusch wie das, welches ihn heimsuchte – das Absetzen einer Kiste auf den Vorgänger des neuen Tisches vor vier Wochen.

Dranth hatte die kleine, in Leder gefasste Kiste geöffnet und das Pergamentpapier vorsichtig ausgewickelt, da er der Meinung gewesen war, die Gildenmeisterin, die heimlich in den Bergen von Ylorc tief im Nest des Bolg-Königs gearbeitet hatte, habe ein weiteres Paket nach Hause geschickt. Als er jedoch die innere Umhüllung abgenommen hatte, war der Kopf der Gildenmeisterin zum Vorschein gekommen. Die Augen waren weit geöffnet und vereitert gewesen; sie hatten von Maden gewimmelt, die durch das Fleisch gekrochen waren. Der Mund hatte in einem Ausdruck der Überraschung offen gestanden.

Er war zurückgeprallt und hatte sich auf den Boden der Gildenhalle erbrochen.

Es war nicht das Grauen über das schreckliche Schicksal der früheren Gildenführerin gewesen, das Dranth den Magen umgedreht hatte. Es war auch nicht das Gefühl des Verlustes gewesen. In den zwanzig Jahren, in denen er Esten gekannt hatte, war er niemandem gegenüber treuer, ergebener und sklavischer gewesen, doch als er ihren von den Schultern abgetrennten Kopf vor sich auf dem Tisch hatte verwesen sehen, waren es weder Trauer noch Ekel gewesen, die Dranth geschüttelt hatten.

Es war tiefste Angst.

Wenn er nicht den Beweis vor sich gehabt hätte, wäre er nie auf den Gedanken gekommen, dass jemand die Gildenmeisterin töten könnte – noch dazu auf eine so grausame und schreckliche Weise.

Von dem Augenblick an, als er sie zum ersten Mal in einer dunklen Gasse gesehen hatte, wie sie im zarten Alter von acht Sommern ihr Messer gnadenlos in den Bauch eines verblüfften Soldaten gestoßen und den Mann so kaltblütig ausgeweidet hatte, als spiele sie mit einer Strohpuppe, war sich Dranth der außerordentlichen Fähigkeit Estens zu Mord und Selbstschutz sowie der Tatsache schmerzlich bewusst gewesen, dass sie keine Seele besaß. Sie hatte ihr ganzes Erwachsenenleben lang die Gilde, die Stadt und einen großen Teil der Provinz Yarim in ihrem gnadenlosen Griff gehalten, die unbestrittene Vorherrschaft der Rabengilde auf den Gebieten des Schwarzmarktes, Mordes, Diebstahls und einer Menge noch schrecklicherer Verbrechen behauptet und ihre Untaten regelrecht zur Kunstform erhoben.

Dranth, der sie mehr als jeder andere auf der Welt geliebt und geachtet hatte, war der Ansicht gewesen, sie sei das personifizierte Böse – und er hatte geglaubt, sie sei unverwundbar.

Doch irgendjemandem war es gelungen, sie zu töten und ihr bei lebendigem Leibe den Kopf von den Schultern zu schneiden.

Wer immer das gewesen sein mochte, hatte sie überrascht. Auch das hätte Dranth nie für möglich gehalten. Wenn das unverwundbare Böse ohne Gegenwehr getötet und zerstückelt werden konnte, dann hatte Dranth sein ganzes Leben lang die Macht seiner Feinde und der der Gilde unterschätzt.

Einen Monat später zitterte er immer noch. Er war bei Neumond hinaus in die Wüste gerannt und hatte in der alles verschlingenden Dunkelheit Estens Überreste in sandigem roten Ton vergraben, wobei ihn die Schwärze der Nacht und seine Tränen beinahe blind gemacht hatten. Dranth wünschte sich, er könnte die Lage ihres Grabes vergessen, denn es gab so viele, die es plündern und sie im Tod verspotten wollten, was sie im Leben nie gewagt hätten. Möglicherweise würden sie sogar ihren Schädel an einem schäbigen Ort wie einer Taverne, einem Bordell oder einem Abort zur Schau stellen.

So wie sie selbst es mit unzähligen Gegnern getan hatte.

Er hatte die Kiste, den Tisch und alles, was damit in Berührung gekommen war, verbrannt.

Dranth hob den Blick von der neuen Tischplatte. Im schwachen Licht der Gildenhalle standen etwa sechzig weitere Diebe in den Schatten und warteten auf ihre Befehle.

Als seine Stimme sich endlich bis zum Mund vorgekämpft hatte, klang sie sanft, entschlossen, tödlich.

»Die Gildenmeisterin ist zum Hof des Bolg-Königs gegangen, um Rache für altes Unrecht zu suchen«, sagte er. Seine Augen funkelten im Feuer des Kamins hinter ihm. »Von diesem Hof kam das Päckchen, das ... Esten hat diese Gilde mit ihrer Hände Arbeit und ihrem eigenen Blut aufgebaut. Jeder, der es wagt, dieses Blut zu vergießen, muss sich vor der Gilde verantworten.«

Ein leiser Stimmenchor setzte ein, murmelte Zustimmung und verstummte wieder.

»Der Bolg-König hat sich unsere ewige Feindschaft erworben, und er wird sie zu spüren bekommen. Doch jeder, der stark genug ist, um Esten zu töten, wird weder durch einen gewöhnlichen Angriff noch durch die Art von Mord, die wir im Schatten ausüben, verwundbar sein.« Auch er verfiel nun in Schweigen.

»Was denn, Dranth?«, fragte schließlich einer der Gesellen.

Dranth starrte ins Feuer. Er beobachtete die Flammen vor dem Ruß, der die Ziegel an der Rückwand des Kamins sprenkelte, und ließ seine Gedanken mit ihnen fliegen. Schließlich wandte er sich wieder an die Gilde.

»Wir werden seine Feinde unterstützen«, sagte er nur. »Vor ihrem Tod hat die Gildenmeisterin uns genaue Pläne und Karten seines Reichs geschickt sowie Einzelheiten über Vorräte, Bewaffnung, Schätze und Menschenmaterial. Diese Informationen sind für jeden, der ihn besiegen will und das Heer dazu hat, von unschätzbarem Wert.«

Er warf das Kristallglas in den Kamin.

»Es gibt eine Menge solcher Männer«, sagte der Kronprinz. »Aber ich glaube, ich werde zuerst in Sorbold nachforschen. Es liegt an Ylorcs südwestlicher Grenze und hat einen neuen Herrscher. Wie ich gehört habe, war er selbst einmal ein Gildenherr.« Dranths Augen blitzten. »Und wie die Herrin immer gesagt hat, weiß jeder Gildenmann um den Wert der angebotenen Waren. Wir müssen in ihm nur den überwältigenden Wunsch entfachen, sie haben zu wollen, ob er sie braucht oder nicht.

Also werden wir sie zu einem Preis anbieten, dem er nicht widerstehen kann.«

Die riesenhaften Portale des Eisschlosses waren zur Unkenntlichkeit zugefroren.

Die Drachin starrte auf den Eingang; ihr Körper wurde wegen des allmählichen Wärmeverlustes immer langsamer. Schnee bedeckte nun ihre Mammutklauen und häufte sich zwischen den Knochen auf, die früher einmal ihre Finger gewesen waren. Die Gelenke verhärteten sich bei jedem schmerzhaften Schritt. Auf den Lidern hatte sich eine stechende Eiskruste gebildet, und die Haut schälte sich unter dem Gewicht des Eises auf den Schuppen.

Das Leben, das nach so langer Zeit im Grab zu ihr zurückgekehrt war, verebbte nun wieder.

Öffnet euch, flüsterte sie. Bitte öffnet euch.

Ihr Drachensinn, der zusammen mit ihrer Lebenskraft dahinschwand, spürte eine Regung in den Türen, als ob der Stahl etwas in ihr erkannt hätte, aber zu schwach oder zu unwillig wäre, um darauf zu antworten. Tief in ihr, in jenem Teil, in dem noch ihr stahlharter und hochmütiger Wille hauste, schmerzte die Weigerung der Tore.

Der Zorn über die Abfuhr entzündete sich und raste wie ein Buschfeuer durch sie hindurch.

»Öffnet euch«, sagte sie nun lauter und mit festerer Stimme. Sie drang eher aus ihrem Kopf und ihren Eingeweiden als aus der Kehle. Drachen hatten keine Stimmbänder und mussten daher das Element der Luft manipulieren, um wie die Menschen reden zu können – in einer Stimme, die man sogar durch das Heulen eines Herbststurmes hören konnte.

Vor ihr schienen sich die gigantischen Eisscheiben ein wenig zu glätten. Der Spalt zwischen ihnen erzitterte; die Türen bebten, blieben aber geschlossen.

Auch die Bestie zitterte, aber vor Wut. Voll entzündete und alles umfassende Wut erhitzte ihr Blut, und der Zorn strömte aus ihr heraus und zerschmolz lockere Schneebretter in der Ferne, die polternd in den Abgrund stürzten.

»Öffnet euch!«, heulte sie. Der Wind kreischte mit ihrer Stimme. »Ich befehle es!«

Das Eis, das die Tore seit drei Jahren ungestört bedeckte, brach auf und fiel in großen, sich biegenden Platten ab. Lawinen schlugen auf die gefrorenen Steine des Vorhofes. Die Augen der Drachin brannten hell vor Wut. Sie holte tief Luft und stieß sie mit ihrer ganzen Wut wieder aus.

Der Blitz aus ätzendem Feuer, dessen Quelle der Schwefel in ihrem Bauch war, blendete sie beinahe mit seinem grellen Licht.

Die kochende Atemwelle sprengte die gefrorenen Türen und schmolz das Eis und den Schnee, der die Wände überzog. Ströme aus flüssigem Dampf stürzten wie Wasserfälle herab, als sich auch die unterste Eisschicht nach einem weiteren Schlag des dreikammerigen Herzens verflüchtigte und hohe Platten aus Metall enthüllte. Langsam schwangen die Palasttüren auf.

Die Bestie schaute keuchend und triumphierend zu, als das kalte Innere des Palastes zum Vorschein kam. Ich habe zwar meine Erinnerungen noch nicht zurück, dachte sie, während sie beobachtete, wie das geschmolzene Eis zu glimmenden Bändern erstarrte, aber ich entsinne mich, dass dieser Ort mir gehört. Und alles, was mir gehört, muss sich vor mir verneigen.

Sie beachtete die Schmerzen in ihren Gliedern nicht, sondern kroch weiter voran und zog ihren stechenden Körper durch die gewaltige Türöffnung und auf den kalten Steinboden dahinter.

Leise schlössen sich die großen Türen wieder.

Die höhlenartige Halle erbebte unter dem Klang von Metall auf Stein, als sich die Bestie über den Boden zu der riesigen Haupthalle schleppte und dabei mit den Klauen über den Granit schabte.

Vor ihr in der Haupthalle befand sich ein großer Kamin. Er war schwarz vor lange erkaltetem Ruß. Das Deckengewölbe thronte hoch über ihr. Wenn sie sich zu voller Größe aufrichtete, würde sie es beinahe erreichen. Hinter ihr erlaubten hohe, mit einer dicken Eisschicht überzogene Fenster den Einfall gedämpften Lichts. Ihr Drachensinn, der in ihr so verwurzelt war wie ihr Augenlicht, ihr Gehör oder Tastsinn, regte sich in ihr. Er hatte in der Kälte geschlafen und schien nun allmählich aufzutauen. Sie wurde sich erst schwach, dann immer stärker der einzelnen Bestandteile des Schlosses bewusst: die drei Türme, die Wendeltreppen, die tiefen, mit Vorräten angefüllten Keller, die nun gefroren waren, da die Feuer in den riesigen Kaminen schon seit Jahren erloschen waren. Sie drehte sich langsam um; es hatte den Anschein, als nehme sie alles um sie herum durch ihre Haut auf.

Mit diesem Ort waren nur wenige Erinnerungen verbunden. Sie hatte allem Anschein nach allein innerhalb dieser gefrorenen Mauern und in diesen leeren Zimmern gelebt. Sie wusste, dass es über und unter ihr Räume gab, die sie wegen ihrer eigenen Größe nie wieder sehen würde. Alle Türen außer denen zu den ausgedehntesten Räumen im Erdgeschoss würden ihr den Zutritt verweigern. Wenigstens gab es hier Schutz vor der endlosen Kälte der blassen Berge.

Ein mächtiges Summen zog ihre Aufmerksamkeit an. Sie drehte den schweren Kopf fort von dem leeren Kamin in Richtung des hohen Fensters. Vor ihm stand ein einfacher Altar aus schwerem, geschnitztem Holz, darauf lag ein angelaufenes Fernglas.

Die Drachin schloss die brennenden Augen.

Auch jetzt konnte sie das Gerät noch sehen, denn seine Macht strahlte durch ihre geschlossenen Lider. Ihre ganze Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, Schwingungen liefen über ihre Haut und passten sich dem Schlag ihres Herzens an.

Erinnere dich, dachte sie verzweifelt. Was ist das?

Sie öffnete die Augen wieder, zog sich über den kalten Steinboden zu dem Altar und schaute angestrengt auf das Fernglas hinab.

In ihrem Kopf wirbelten Bilder umher, Szenen eines wilden Kampfes, verzweifeltes Leiden, Schlachten, Triumphe, Ereignisse von welterschütternder Wichtigkeit und völliger Belanglosigkeit; sie alle buhlten um ihre Aufmerksamkeit, bis ihr der Kopf schwirrte. Verwirrt glitt sie von dem Altar zurück und schirmte ihre Gedanken ab.

Dumpfer und bohrender Schmerz zuckte in ihr auf; er war noch schlimmer als die andauernde Pein ihres verwundeten Körpers. Es packte und schwächte sie, ihr Kopf sank zu Boden. Ihr wurde schwindlig, dann schaute sie wieder auf.

Inmitten all der Verwirrung hörte sie eine klare und deutliche Stimme im Aufruhr ihrer Erinnerungen wie eine Glocke in einem Meeressturm. Es war eine Frau, die jeden Satz überdeutlich aussprach.

Ich gebe dir den neuen Namen Die Vergangenheit. Deine Handlungen sind nicht mehr im Gleichgewicht. Von nun an wird deine Zunge nur noch dazu dienen, über den Bereich zu sprechen, zu dem allein dein Blick Zugang hat. Du wirst nichts mehr über den Herrschaftsbereich deiner Schwestern, die Gegenwart und die Zukunft, sagen können. Niemand wird dich mehr aus einem anderen Grund aufsuchen. Also solltest du dein Wissen besser darbieten, denn sonst wirst du bald vollkommen vergessen sein.

Die große Bestie erbebte.

Im ersten Augenblick wollte sie das Fernglas von dem Altar stoßen und es unter ihrem Gewicht zerschmettern oder es von den Zinnen des Schlosses in die Schluchten schleudern, doch bereits der Gedanke daran bereitete ihr Schmerzen, körperliche Schmerzen, als ob ein Eispickel in ihren Kopf eindränge. In ihrem geringen Wissen war sie sich sicher, dass dieses Gerät älter war als sie selbst und aus einem untergegangenen Land stammte, einem Ort, den die Winde nicht mehr finden konnten und den die Zeit vollkommen vergessen hatte. Sie spürte auch, dass es in irgendeiner Weise mit ihr in Verbindung stand – in bedeutender, beinahe heiliger Weise.

Ich gebe dir den neuen Namen Die Vergangenheit.

Das Fernglas schimmerte im verdämmernden Licht.

Es sieht die Vergangenheit, dachte die Drachin. Mit diesem Gedanken kam eine neue Gewissheit, als ob er in ihrem Kopf kleine, verborgene Orte geöffnet hätte, die ihr bisher verschlossen gewesen waren. Es sieht die Vergangenheit.

Es kann mich sehen.

Mit dieser Erkenntnis kam eine Welle der Macht, der Wiederbelebung. Die Bestie, die noch immer in ihrer eigenen Lebensgeschichte verloren war, war für die Augen der Zeit nicht länger unsichtbar; sie war nicht mehr allein in der weiten Weiße der endlosen Berge. Irgendwo in der Vergangenheit verbargen sich ihre Erinnerungen und warteten darauf, von ihr entdeckt zu werden.

Und das Fernglas war in der Lage, sie zu sehen.

Die Schmerzen in ihrem Bauch wurden stärker und wurden gefolgt von Schwäche. Hunger, dachte die Drachin. So fühlt sich Hunger an.

Sie kroch zum vereisten Fenster, konnte aber hinter den gefrorenen Scheiben nichts erkennen. Der angeborene Überlebenssinn loderte in ihr auf, und ihr Drachensinn bemerkte alles innerhalb von fünf Meilen, was für sie wichtig sein könnte.

Einzelheiten wurden riesig groß, das winzigste Weizenkorn war für sie so deutlich wie die Sonne. Sie wusste sofort, dass es in den Kellergewölben des Schlosses Nahrung für Menschen gab, doch wenn sie darankommen wollte, musste sie Mauern durchbrechen. So stark war sie im Augenblick nicht. Ihre Sinne richteten sich nach draußen und suchten die Berge und Schluchten ab.

Eineindrittel Meile entfernt flog ein Adler nach Südost mit einer Geschwindigkeit von zweiunddreißig, nein, einunddreißig Knoten. Noch weiter draußen zerstreute sich eine Schar Schneehühner im Wind. Die Drachin verwarf den Gedanken. Sie wusste nicht, ob sie schon in der Lage war zu fliegen. Eine ihrer Schwingen schmerzte, war steif und hing herab, vermutlich das Ergebnis einer Verletzung. Zunächst musste sie am Boden nach Nahrung suchen. Sie konzentrierte sich noch stärker.

Ein Gletscherstrom rann durch ihre Ländereien, wie sie feststellte. Das Wasser war silbergrau und kalt; noch vor wenigen Augenblicken war es uraltes, blaues Eis gewesen, doch nun plätscherte es lustig die gefrorenen Hänge hinab. Vielleicht fand sie dort Nahrung, doch wenig später verwarf sie diesen Gedanken wieder. Der Winter stand vor der Tür; die großen roten und silbernen Fische waren gekommen, hatten gelaicht und waren gestorben. Sie hatten den Zyklus vollendet, der das Leben für sie vorgesehen hatte. Es gab nichts mehr in dem grauen Wasser, das den Hunger der Drachin zu stillen vermocht hätte.

Dann spürte sie etwas anderes am Rande ihres Bewusstseins.

Nahe am Flussufer, unter dem Schutze eines breiten Felsvorsprungs, befand sich ein kleines Jagdlager. Männer. Menschen, dem Geruch nach zu urteilen, den ihr Drachensinn aufnahm.

Zuerst stieß sie dieser Gedanke ab. Sie war einst ein Wesen wie sie gewesen, eine Frau, wenn auch nicht menschlich, denn ihr Blut war viel älter, wie sie annahm. Schwach erinnerte sie sich an Worte, die eine andere Drachin zu ihr gesprochen hatte, die vermutlich verwandt mit ihr gewesen war – ihre Mutter vielleicht. Bitterer und faulig schmeckender Hass stieg ihr bei dieser Erinnerung in den Mund.

Wenn sie in dein Land eindringen, warum isst du sie dann nicht?, hörte sie jemanden mit der Stimme eines Kindes fragen.

Sie essen? Mach dich nicht lächerlich, hatte die andere Drachin gesagt. Es sind Menschen. Man isst keine Menschen, egal, wie sehr sie es auch verdienen mögen.

Warum nicht?

Weil das barbarisch wäre. Menschen haben angeblich Gefühle, auch wenn ich noch keinen Beweis dafür gefunden habe. Man isst keine empfindungsfähigen Wesen. Nein, mein Kind, ich begnüge mich mit Hirschen, Schafen und Gnus. Sie sind gut verdaulich und verursachen keine solchen Schuldgefühle im Magen wie Menschen.

Ich kenne keine Schuldgefühle, dachte die Drachin bitter. Nur Hunger.

Sie gestattete ihrem Drachsinn, sich noch weiter zu erstrecken und näher an das Jagdlager heranzugehen, in dem der Schnee die kleinen Hütten unter dem Vorsprung eingekreist und so eine eisige Barriere zwischen den Menschen und dem Fluss gebildet hatte. Sie hatten einen vier Fuß breiten und sieben Fuß langen Weg zwischen Lager und Fluss gegraben. Mit ihren geistigen Augen sah die Drachin die Fußspuren, die zum Wasserlauf führten, und die Stellen, wo die Eimer ans Ufer gezogen worden waren.

Während ihr Hunger stärker wurde und ihr Drachensinn sich ausdehnte, verengten sich ihre Augen. Sie dachte angestrengt nach.

Ich habe keine solchen Skrupel Menschen gegenüber, meinte sie. Sie sind eine große Fleischquelle, voll warmem Blut und mit dünner Haut. Bestimmt kann man sie schön grillen und gut aufbewahren.

Ich verhungere.

Die Entscheidung war nicht schwer.

Öffnet euch, befahl sie den Türen des Schlosses mit einer Stimme voll blutiger Entschlossenheit. Wie zur Antwort schlugen sie auf. Der eisige Wind blies hinein und wirbelte wütend durch die höhlenartige Halle. Von Hunger und dem Verlangen angetrieben, ihre Schmerzen in Zerstörung umzuwandeln, glitt die Bestie durch das Portal in die Dämmerung, über die Mauern und hinunter in eine Schlucht, wo sie unter dem Schnee in der Erde verschwand.

7

Die Verheerung des Wyrms war ein episches, bebildertes Gedicht aus dem cymrischen Zeitalter, geschrieben auf eine Pergamentrolle, das Achmed nach unzähligen Jahrhunderten tief in den Gewölben der Bibliothek von Canrif gefunden und mit gewisser Belustigung Rhapsody gegeben hatte, bevor sie mit Ashe auf die lange Suche nach der Drachin Elynsynos gegangen war. Der Bolg-König hatte selbstgefällig dagesessen und kaum seine Fröhlichkeit verbergen können, als er ihr ausdrucksstarkes Gesicht beim Lesen des Gedichtes beobachtet hatte; es hatte ausführlich von den mörderischen Taten der Drachin berichtet, zu der sie hatte aufbrechen wollen. Elynsynos, die Drachin, nach welcher der Kontinent benannt war, war dem Schriftstück zufolge älter als die Zeit selbst. In atemberaubenden Einzelheiten erzählte es die Geschichte der uranfänglichen Drachin, die angeblich zwischen einhundert und fünfhundert Fuß lang war und so spitze Zähne wie ein geschmiedetes Bastardschwert hatte. Da alle Drachen etwas von den fünf Elementen besaßen, konnte sie jede Gestalt oder Kraft der Natur wie einen Tornado, eine Flut oder einen Waldbrand annehmen, behauptete das Gedicht. Sie war böse und grausam, und als ihr Geliebter und Vater ihrer drei Töchter, der Seemann Merithyn der Eroberer, nicht wie versprochen zu ihr zurückgekehrt war, geriet sie in schreckliche Wut und tobte durch den westlichen Kontinent, wobei sie die Länder bis zur zentral gelegenen Provinz Bethania mit ihrem beißenden Atem verbrannte. In Bethania selbst entzündete ihr Feuer die ewige Flamme, die noch heute in Vrakna brannte, der dem Element des Feuers geweihten Basilika.

Rhapsody hatte dem hämischen Bolg-König damals sofort erklärt, dass dieser Bericht nichts als Unsinn sei. Das war ihr klar gewesen, obwohl sie die Drachin noch nie gesehen hatte. Als Benennerin war sie vertraut mit allen Überlieferungen, angefangen von den ersten, die von ungeschulten Geschichtenerzählern wiedergegeben und mit der Zeit zu Erzählungen ausgeschmückt worden waren und vor Unrichtigkeiten und Übertreibungen wimmelten, bis hin zu jenen, denen es um die reine Überlieferung ging und deren Inhalte so genau und richtig wie nur möglich waren.

Dennoch bargen die Beschreibungen in dieser Geschichte genug mögliche Wahrheiten, um Rhapsody nervös zu machen.

Später, als sie die Drachin in ihrem Nest angetroffen hatte, da hatte Elynsynos das Gedicht rasch als falsch entlarvt.

Du hast diesen Schund namens Die Verheerung des Wyrms gelesen, nicht wahr?

Ja.

Es steht nur Unsinn darin. Ich hätte den Schreiber bei lebendigem Leibe auffressen sollen. Als Merithyn starb, hatte ich tatsächlich kurz überlegt, ob ich den Kontinent in Schutt und Asche legen sollte, aber es wird dir doch wohl klar sein, dass ich es nicht getan habe. Glaube mir, wenn ich hätte toben und rasen wollen, wäre dieser Kontinent nur noch eine sehr große, sehr schwarze Kohlenschicht und würde bis zum heutigen Tage schwelen.

Tatsächlich hatten der Kontinent und seine Bewohner trotz all ihrer Ängste vor den Drachenlegenden und trotz des jammervollen Berichts über den tobenden Wurm nie die Verwüstungen erlitten, von denen die Geschichten erzählten, und nie mehr als ein verlorenes Schaf an eine Bestie verloren. Eine wirkliche Zerstörungsorgie hatten sie nie erlebt.

Und waren daher völlig unvorbereitet.

Die Leute aus dem Dorf Anwaer mitten im Hintervold waren ein ruhiges Völkchen.

Im Gegensatz zu den Winternomaden, die den Sommer mit Fischfang an den üppigen Flüssen, mit Fallenstellerei und dem Fangen von Pelztieren verbrachten und sich bei Anbruch des Herbstes in südlichere Gefilde zurückzogen, trotzten die Familien von Anwaer der schneidenden Kälte und dem dichten Schnee und blieben auf ihrem angestammten Land. Sie waren alle auf die eine oder andere Weise miteinander verwandt und empfanden die Schönheit der einsamen Tundra, die grünen Wälder aus hoch aufschießenden Fichten und die nur durch die Bergwinde unterbrochene Stille als ausreichenden Grund, den harten Winter an jenem Ort zu verbringen, den ihre Familien schon seit Generationen ihre Heimat nannten.

Als der Herbst kam und sich die benachbarten Dörfer entvölkerten, beendete Anwaer seine Felltransporte und die Fischerei und stellte auf die Jagd um.

Für gewöhnlich dauerte die Jagdsaison nur wenige Wochen – weniger als ein Mondzyklus. Wenn die Hitze des Sommers abnahm und die gnadenlosen Schwärme aus blutsaugenden Insekten von der herannahenden Kälte vertrieben wurden, kamen die Wildtiere des Hintervold aus ihren sommerlichen Verstecken hervor, kletterten von den weißen Bergen und begaben sich in geschütztere Regionen, suchten nach Beute oder Pflanzen und einem einladenderen Klima für den kommenden Winter.

Das endlose Land auf dem Dach der Welt erlaubte es den Tieren, groß zu werden, und ein einziges, sorgfältig bearbeitetes Wild reichte aus, um eine ganze Familie durch den Winter zu bringen. Also verließen die Jäger die Dörfer, gingen in die dichteren Wälder und warteten auf die Beute.

Doch dieses Jahr kam sie nicht.

Nach zwei Wochen ohne Beute sagten sich die Männer, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Was immer das Wild verscheucht hatte, hatte nicht einzelne Tiere oder Gruppen, sondern den ganzen Bestand erschrocken. Die Karibus und nördlichen Gnus waren zuletzt entgegen ihrer Natur Richtung Norden gesichtet worden. Auch die einzelgängerischen Arten wie Elche und jene Tiere, welche die Männer aus Anwaer wegen ihrer Pelze jagten, waren verschwunden. Die Jäger saßen schweigend in ihren Verschlagen, hörten wenig und sahen nichts. Selbst der übliche Gesang der Zugvögel war verstummt.

Als schließlich der Winter nahte, entschieden die Männer aus Anwaer, dass sie den Herden nach Norden folgen mussten. Wenn die Jagdgesellschaft auf eine Gruppe von Tieren oder sogar den Rand einer umherziehenden Herde stieß, konnte sie vielleicht genug Wild erlegen, um über den Winter zu kommen. Falls sie es innerhalb des nächsten Mondes schafften, würde der seichte Gletscherfluss noch nicht ganz zugefroren sein, sodass man auf behelfsmäßigen Booten vor den schwersten Schneefällen zurück nach Anwaer fahren konnte. Wenn aber Neumond kam, bevor sie ihre Vorräte aufgefüllt hatten, würde es zu spät sein. Dann müsste das Dorf zum ersten Mal seit Menschengedenken rasch nach Süden ziehen und vor dem schlechten Wetter fliehen.

Falls die Männer noch nicht zurück sein sollten, wenn der Mond zu einer dünnen Sichel geworden war, würden die Frauen allein aufbrechen, wie es vereinbart worden war.

Das jüngste Mitglied der Jagdgesellschaft band gerade die Boote auf dem silbernen, wogenden Fluss zusammen, als die Nacht hereinbrach.

Der Wind war kalt. Das Wasser, das fast überall nur knietief war, während es dem jungen Mann an den tieferen Stellen bis zur Schulter reichte, kräuselte sich unter der Brise, trieb die Boote gegeneinander und zerrte an den Seilen und steinernen Bojen.

Der Jäger, dessen Name Sonius lautete, bemühte sich darum, dass die Boote in dem kalten Wasser nicht auseinander brachen. Er kämpfte gegen die sinkende Sonne an, murmelte leise Flüche und zog sich schließlich die Rehlederhandschuhe aus, damit er die Seile besser packen konnte.

Er schaute zurück zu dem Rauch, der aus dem Abzug im Schnee drang, welcher die Hütten unter dem breiten Überhang bedeckte. Eine Lawine, die kurz nach der Errichtung der Hütten niedergegangen war, hatte das Gebiet vor Wind und Raubtieren geschützt, die vom Geruch der Beute angelockt werden mochten. Sie hatten fünf Elche und zwei Gnus erlegt und räucherten gerade die beiden Letzteren, damit sie bis zu ihrer Rückkehr nach Anwaer nicht verdarben. Der Rest der Jagdgesellschaft hatte sich hinter der dicken Schneewand, die nur eine Tunnelöffnung zum Fluss hin und einen halbmondförmigen Abzug in der Decke für den Rauch besaß, zum Schlafen niedergelegt, bevor man am nächsten Morgen den Rückweg antreten würde.

Sonius hatte den kürzesten Halm gezogen und arbeitete trotz seiner Erschöpfung, bis er die Boote in Sicherheit gebracht hatte. Nachdem er den letzten Knoten geknüpft hatte, stand er müde auf und schaute über den silbergrauen Fluss.

Der Wind hatte sich beinahe völlig gelegt. Weiße Eisbrocken aus dem Gletscher trieben im Wasser und drehten sich langsam in der Strömung. Das schwache Licht der Mondsichel wurde von dem Fluss zurückgeworfen, wirbelte umher und verschwand wieder in der Dunkelheit.

Sonius fragte sich beiläufig, warum es so still geworden war. Dann seufzte er, vertrieb den Gedanken aus seinem Kopf und drehte sich um, weil er durch den Tunnel im Schnee zurück ins Lager gehen wollte.

Zuerst sah er die Bewegung nicht, doch als er sich bis auf wenige Schritte dem Schneewall genähert hatte, bemerkte er ein Flackern in den Bergen. Er trat zurück, schaute hoch und versuchte einen besseren Blick zu bekommen. Vielleicht war es das Bergeis, aus dem wieder Stücke brachen. Er betete darum, dass es nicht noch eine Lawine war, die seine Jagdgenossen unter ihrem schützenden Felsvorsprung begraben würde.

Sonius schaute hoch in den endlosen Schnee und glaubte einen Schatten über den Berghang rutschen zu sehen. Er beschirmte die Augen vor dem schwachen Licht des Mondes. Es ist eine Bewegung des Schnees, dachte er, vermutlich hervorgerufen durch den Wind.

Aber es herrscht kein Wind.

Er rieb sich die Augen und schaute wieder hoch zu den Gipfeln.

Die Bewegung war nicht mehr zu sehen.

Sonius schüttelte den Kopf und ging auf den Tunnel zu.

Der massige Kopf der Drachin kam hinter dem Felsvorsprung hervor, erhob sich über den Schneewall und stieß unmittelbar vor ihm nieder. Der Gestank von Schwefel erfüllte die Luft, die vor Hitze flirrte.

Die schlangenartigen Augen verengten sich, die senkrechten Pupillen dehnten sich im Licht des Mondes aus. Ein abgerissenes Keuchen entrang sich der Kehle des jungen Jägers. Mit glasigen Augen starrte er die Bestie an, die sich vor ihm aufbaute, dann machte er einen taumelnden Sprung auf den Tunnel unter ihr zu.

Plötzlich wurde das Flussufer in ein Licht gehüllt, das so hell wie das des Tages war. Ein Feuerstoß rollte in beißenden Wellen von dem Vorsprung herunter, erleuchtete den menschlichen Schatten und erhellte sein junges Gesicht, bevor es schwarz und mit dem Rest des Körpers zu Skelettasche wurde.

Dann erlosch das Licht, und die Dunkelheit kehrte zurück.

Die Drachin kauerte sich auf die Spitze des Felsvorsprungs und starrte reumütig auf den Aschenhaufen am Rande des Schneewalls. Verdammt, dachte sie, die Haut ist noch dünner, als ich gedacht habe. So geht es nicht, wenn ich das Fleisch haben will.

Sie drehte sich auf dem Vorsprung um. Donnernd schlug sie mit ihrem stacheligen Schwanz gegen den Schneewall und zerschmetterte dessen Decke, sodass das Eis in den Tunnel brach. Dann kletterte sie auf den Wall und rutschte bis zu der halbmondförmigen Öffnung, hinter der ihr Drachsinn die Menschen erspürte, die neben dem ersterbenden Feuer schliefen.

Sie wusste, dass es elf waren. Ihr Geist, der durch das uranfängliche Element in ihrem Blut mit Erkenntnissen überschüttet wurde, war sich jedes Einzelnen bewusst: wie viel jeder wog, wo er schlief und wie tief sein Schlummer war. Auch gab es vier Hunde, alle in verschiedenen Stadien der Ruhe. Sie schaute das Lager hinter der Schneewand für eine Weile an und dachte, welch ein guter Ort dies für ein Fleischlager war.

Dann glitt sie durch die Öffnung.

Der erste Mann befand sich in ihrem Griff, noch bevor er die Gelegenheit zum Erwachen hatte. Die Hunde sahen sie, rochen sie vermutlich und bellten aufgeregt, als sie über den Wall rollte und durch das Feuer auf die erste behelfsmäßige Hütte zuglitt, die sie wie eine Nussschale unter ihrem Gewicht zerdrückte. Der Mann war in Wolllaken eingewickelt. Die Bestie zerquetschte ihn mit ihren Klauen und riss ihm die Kehle auf, dann warf sie seinen tropfenden Körper auf den Boden und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Menschen zu, der neben ihm gelegen hatte.

Dieser Mann, der in völligem Entsetzen zugeschaut hatte, wie sie sich seines Genossen entledigt hatte, kreischte auf. Es war ein gurgelndes, hohes Geräusch, das schmerzhaft durch das empfindliche Trommelfell der Drachin drang. Er heulte immer noch, als sie ihn ergriff und vom Boden hob. Sie trennte ihm den Kopf mit einem sauberen Biss von den Schultern und spuckte ihn ins Feuer, damit er zu jaulen aufhörte.

Nun begann der geschmeidige, freudige Tanz des Todes. Die Männer, die hinter der gewaltigen Schneemauer gefangen waren, zerstreuten sich in die Ecken ihres kleinen Unterschlupfes, versteckten sich hinter Felsen, krochen vergeblich auf die Mauer zu und versuchten sie zu erklimmen. Sie warfen mit ihren groben Jagdwaffen mit Speeren und Langbögen – nach ihr, doch die Geschosse prallten ohnmächtig an ihrer gepanzerten Haut ab. Die glimmenden Kohlen, die in dem Kampf zerstreut worden waren, warfen schwache, rot gesprenkelte Schatten auf das Massaker.

Als sie einen Jäger nach dem anderen in die Enge trieb und abschlachtete, lachte die Bestie in ihr angesichts dieses Gemetzels laut vor Lust. Es war ein harter, hässlicher Laut voll seelenloser Bosheit. Zerstörung lindert den Schmerz, dachte sie, als sie den Letzten packte, ihn langsam zerdrückte und sich daran erfreute, wie das Leben aus ihm schwand, während die Hunde, die inzwischen nicht mehr bellten, vor Entsetzen winselten. Und ich muss so viele Schmerzen lindern.

Dann begann der Festschmaus.

8

In den Tunneln der Hand — Ylorc

Es war tief in der Nacht der Rückkehr des Bolg-Königs, als Trug gerufen wurde.

Ihm war, als sei ihm befohlen worden aufzustehen, noch bevor er seinen ersten Atemzug im Schlaf getan hatte, doch er beschwerte sich nicht. Beschwerden waren sinnlos, und etwas an der stillen Nervosität des Wächters, der zu ihm gekommen war, verriet ihm, dass er beobachtet wurde. Trug erhob sich schweigend und zog sich rasch in der Art aller Archonten Achmeds an. In den sieben Jahren seiner Ausbildung hatte er viele solcher mitternächtlichen Aufforderungen erhalten.

Er folgte dem Wächter an dem Ausbildungsplatz vorbei und bemerkte am Geruch, dass die beiden Pferde, die er dort für die Nacht angebunden hatte, weggeführt und durch zwei andere von ähnlicher Größe und Gestalt ersetzt worden waren. Verwirrt kniff er die Brauen zusammen. Eine solche Probe seines Wahrnehmungsvermögens war zuletzt vor weniger als einem Jahr erfolgt, als man vermutet hatte, er kenne noch nicht jedes einzelne der dreihundertfünfzig Pferde, für deren Unterbringung er verantwortlich war. Doch selbst damals hatte diese Probe nicht gewirkt. Es verwunderte ihn, warum jemand sie nun aufs Neue versuchte.

Wie die meisten Angehörigen seiner Rasse sprach Trug seine Gedanken nur selten aus. Daher schwieg er, während er hinter dem Wächter herging. Er lauschte nach anderen Gesprächen oder Bewegungen, hörte aber nichts außer seinem eigenen Atem und den Schritten des Mannes, der ihn aus den Bergtunneln führte.

Im Gegensatz zu seinen Gefährten war Trug auch im Sprechen ausgebildet worden. Was er sprach, waren die Gedanken des Bolg-Königs, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Berges. Es war seine Bestimmung, als Stimme ausgebildet zu werden, als der Archont, der alle Gespräche für König Achmed und das Bolgland führte, sowohl die offiziellen als auch die geheimen, und er musste sich um die vielen Meilen von Sprachröhren kümmern, die den Berg durchzogen und ein Erbe des cymrischen Zeitalters waren. Dazu war er von Kindheit an in den letzten sieben Jahren ausgebildet worden. Rhapsody hatte ihn damals ausgesucht, weil er die Befähigung zur Durchführung dieser Aufgaben mitbrachte. Systematisch hatte man ihn mit Sprache, Geheimschrift, Anatomie und tausend anderen Wissenschaften vertraut gemacht, die in Zusammenhang mit jeglicher Art von sprachlicher und anderer Verständigung standen. Vor einem Jahr war er für wert befunden worden, sich um den Taubenschlag mit seiner großen Zahl von Botenvögeln sowie um die Pferdeboten zu kümmern, die mit den Postkarawanen ritten. Auch war geplant, ihm die Verantwortung für König Achmeds Netzwerk aus Botschaftern und Spionen zu übertragen.

Doch obwohl er eines Tages der Herr aller Verständigung innerhalb Ylorcs und der Zahnfelsen mit der Welt draußen sein würde, hatte man ihm nicht gesagt, warum er gerufen wurde. Er erwartete es auch nicht.

Ein einstündiger Fußmarsch aus dem Berg heraus zu einem kleinen, abgeflachten Gipfel, der wie eine Senke in den Zahnfelsen steckte, führte ihn zu einem Horchposten, einer Station, von der aus die Augen, Achmeds Elitespione, täglich Berichte über alle Vorgänge auf den Bergpässen abgaben. Der Wächter hielt in der Senke an, entzündete eine Lampe, hängte sie auf und bedeutete Trug, sich an den Tisch zu setzen, der in dem Lichtkegel erkennbar wurde.

Auf dem Tisch stand ein Zylinder aus Knochenmaterial, der das Siegel des Königs trug. Trug sagte nichts, doch Schweißperlen erschienen auf seiner Stirn. Der Wächter deutete auf den Behälter und trat dann aus der windigen Senke.

Trug starrte den Zylinder eine Weile an. Er wusste, dass er etwas enthielt, das einen Wendepunkt in seiner Bestimmung bedeutete. Ihm war genau wie seinen Gefährten schon vor langer Zeit von dem Auftauchen dieser versiegelten Botschaft berichtet worden, und er wusste, was sie darstellte. Entweder handelte es sich bei ihr um seine Verbannung, so wie es bei mindestens einem anderen Archonten-Auszubildenden gewesen war, oder aber um seine Erhebung zum vollwertigen Mitglied. Wie dem auch sei, in dieser Nacht würde zumindest ein Teil seines bisherigen Lebens enden.

Mit klammen Fingern erbrach er das Siegel und öffnete den Zylinder.

Er starrte auf das Blatt und versuchte seine Bedeutung zu begreifen. Es enthielt lediglich den Abdruck einer Hand.

Trug stand auf, hielt den Rand des Pergaments in die Flamme der Lampe und wartete, bis es vollständig verbrannt war. Dann warf er die Asche in den Wind, der über den ausgehöhlten Berggipfel hinwegbrauste. Als das letzte Aschestück in den Aufwind geraten und fortgetragen worden war, löschte Trug die Laterne und eilte in den Berg zurück. Er huschte durch die Dunkelheit hin zu einem Gang in der Tiefe, den er nur allzu gut kannte.

Tief im Innern des Berges, an einer Gabelung von fünf Tunneln, die als die Hand bekannt war, trafen sie sich. Jeder war auf die gleiche Weise gerufen worden.

Als die Archonten eintrafen, nickten sie einander zu, sagten aber nichts. Es war nicht nur üblich, sondern vorgeschrieben, sich still zu verhalten, bis der König oder sein Abgesandter sprach. Achmed wollte sicher sein, dass die Worte in den Ohren der Archonten so rein und von anderen Lauten ungetrübt waren wie möglich, wenn sie sich versammelten.

Die zukünftigen Archonten waren in gewisser Hinsicht Achmeds Kinder, auch wenn keiner von ihnen je das Gesicht des Königs gesehen hatte. Man hatte sie von ihren Klanen getrennt, als er König geworden war. Manche glaubten, sie seien Geiseln, doch sie waren als neuer Klan von den anderen abgesondert worden, und der Bolg-König sowie Grunthor und Rhapsody waren eine Zeit lang gemeinsam mit anderen Personen, die Achmed draußen hatte anwerben können, ihre Lehrer und Eltern gewesen. Grunthor war als der Erzarchont bekannt und verlieh diesem Titel ein Gewicht, das ihn sofort begehrenswert machte.

Ihre Erziehung entsprach Achmeds eigenem Werdegang. Sie wurden zu einem geheimen Zweck unterrichtet; Wissen wurde ihnen als Religion vermittelt, und man brachte ihnen bei, an ihre Fähigkeiten zu glauben, denn ansonsten wäre ihr Volk verdammt.

Keiner von ihnen war älter als achtzehn Sommer.

Sie kamen aus verschiedenen Stämmen, die vor Achmeds Ankunft durch die Zahnfelsen gezogen waren und sowohl ihresgleichen als auch jede andere unglückliche Kreatur gejagt hatten, sei es Mensch oder Tier. Einige waren Abkömmlinge der Klane der Klaue, der kriegerischen Plünderer, die im Grenzland, dem Vorgebirge und der felsigen Steppe gelebt hatten, welche an das Menschenreich von Roland stieß. Andere waren von den Klanen der Eingeweide fortgelockt worden, die tiefer in dem Reich lebten, das sie selbst Ylorc nannten hinter dem Schutzwall der Zahnfelsen in den Waldlichtungen und entvölkerten Städten, die einst das Kernland der cymrischen Bastion gewesen waren. Die möglicherweise wertvollsten waren von den Augen gekommen, jenen Halbmenschen, die am besten an die dünne Luft gewöhnt waren, die Simse und Gipfel der Zahnfelsen durchkletterten und, in Wolken gehüllt, die Welt von oben betrachteten.

Und einige stammten von den Findern ab. Die Finder waren eigentlich kein Klan, sondern eher Abkömmlinge jener unglücklichen Cymrer, die vor tausend Jahren zurückgeblieben oder zurückgelassen worden waren, als die Bolg Canrif überrannt hatten. In ihrem Blut befanden sich noch einige magische Elemente der Langlebigkeit und Elementarkraft, die ihre unbekannten Vorfahren ihnen vermacht hatten, doch bis Achmed kam, hatten sie nicht gewusst, wie sie diese Kräfte nutzen sollten.

Achmed sah sie selten, aber regelmäßig. Er stellte sie auf die Probe und führte sie in neue Richtungen. Sie waren sich über seine Beweggründe nicht sicher, so wie sich die Bäume des Haines nicht sicher waren, ob der Förster sie maß, um sie abzusägen oder um sich zu vergewissern, ob sie sein Gewicht beim Klettern in die Wolken zu tragen vermochten. Zehn von ihnen waren im achten Jahr der Ausbildung übrig geblieben. Einige der Kinder, die zu Achmed gesandt worden waren, hatte er anderen Lektionen unterworfen, eines war verschwunden, eines verbannt worden. Jene, die entlassen worden waren, brauchten nicht länger die Geschichte Rolands und der Cymrer, Weltgeografie und Währungen zu studieren und waren auch nicht mehr der strengen Aufmerksamkeit des Königs unterworfen.

Für sie war es eine angenehme Erleichterung, für ihre Klane eine schreckliche Entehrung.

Jene Archonten, die die Ausbildung überstanden hatten, kamen nun einer nach dem anderen in die schwarzen Tunnel der Hand, wo kein Licht hineinreichte oder herausdrang.

Als Erste war Harran eingetroffen, die Meisterin der Überlieferungen, eine Finderin, die von Rhapsody ausgesucht und von ihr persönlich unterrichtet worden war, bis diese Ylorc verlassen hatte, um über das lirinische Reich Tyrian zu herrschen. Selbst nach bolgischen Maßstäben war Harran dünn. Ihre schattenhafte Gestalt störte die Finsternis am Ende des Tunnels, in den sie sich setzte und wartete, kaum auf.

Wenige Augenblicke später kam Kubila. Seine langen Beine machten ihn zu einem überragenden Läufer und verschafften ihm die Sicherheit, dass er vor den meisten eintraf, die zur Hand reisen mussten, obwohl seine Behausung am weitesten entfernt lag. Er nickte Harran in der Dunkelheit zu, betrat den Finger, in dem sie kauerte, setzte sich vor sie und wartete. Einer nach dem anderen kamen sie: Yen, der Schmied, der die Position des Rüstmeisters bekleidete und für die Herstellung der einzigartigen Waffen verantwortlich war, die in Ylorc gebraucht wurden und sogar schon Handelsgut geworden waren, was ihn zu einem der mächtigsten Männer im Königreich machte; Krinsel, die Hebamme, die von einer langen Reihe geachteter Klanmütter abstammte und sich um die medizinischen Bedürfnisse des Reiches kümmerte; und Dreekak, der Meister der Tunnel, der brillante junge Baumeister, der die hunderte von Meilen unterirdischer Passagen und Gebäude überprüfte und erneuerte, die vor tausend Jahren von den Cymrern erbaut worden waren. Überdies hatte er eine große Zahl von Anlagen restauriert, die Gwylliam erfunden hatte, um das Leben in den Berghöhlen zivilisierter zu machen. Der so genannte Kessel, die große Stadt innerhalb des Wachtgebirges, besaß nun eine funktionierende Luftumwälzung, Wasserversorgung und ein Bewässerungssystem. Wärme und Luft wurden eingeleitet, Regenwasser diente zum Trinken und Kochen, und die Kanalisation führte in große Zisternen am Fuß einer unbewohnten Gebirgsschlucht, während die Abfälle früher überall herumgelegen hatten. In diesen Dingen waren die Bolg wesentlich weiter fortgeschritten und zivilisiert als ihre Nachbarn des Menschenlandes von Roland, dessen Bewohner sie lange verächtlich als Ungeheuer abgetan hatten.

Bis zur Ankunft König Achmeds, des Erdenverschlingers, des Vertilgenden Auges, des Nachtmannes, des Kriegsherrn des gesamten unterirdischen Reiches, war das auch richtig gewesen. Doch er hatte umfassende Änderungen vorgenommen und die Bolg so geformt wie Trug: zu etwas Größerem und zu einem höheren, wenn auch unbekannten Ziel.

Bei der Ankunft von Vrith, dem Quartiermeister, setzte ein Wispern ein. Seine Pflichten umfassten das Inventar und die Versorgung des gesamten Königreiches und insbesondere des Bolg-Heeres. Vrith hatte von Geburt an einen Klumpfuß, weshalb er an seinem zehnten Geburtstag auf dem Gipfel des Kurmen zum Sterben ausgesetzt worden war. Rhapsody hatte ihn gerettet und rasch seine Übergenauigkeit sowie sein beeindruckendes Gefühl für Zahlen bemerkt. Daher hatte sie ihn dazu ausgebildet, Ylorcs Vorräte zu überwachen, während das Königreich von einem losen Zusammenschluss von Plünderern zu einem Staatsgebilde überging, dessen Heer gefürchtet, dessen Führer geachtet und dessen Güter begehrt waren.

Greel, der Minen-Archont, den man »Das Gesicht des Berges« nannte, traf in Begleitung von Ralbux ein, der als Gelehrter die Erziehung des Bolg-Volkes leitete. Sie nahmen ihren Platz auf dem Boden des Zeigefingertunnels ein.

Schließlich kam der einzige Archont, der kein Bolg war. Omet war vor drei Jahren von Achmed und Rhapsody in Yarim aus der Sklaverei gerettet worden. Als Menschenkind, dessen Mutter ihn an die Meisterin der Rabengilde übergeben hatte, damit er in der Ziegelfabrik der Wüstenstadt schuftete und schwitzte, hatte er Ylorc gern als neue Heimat angenommen. Irgendwo in diesen Bergen ereignet sich etwas Großartiges, hatte Rhapsody zu ihm gesagt, als sie ihn freiließ. Du kannst ein Teil davon sein. Geh hin und schreibe deinen Namen in den zeitlosen Fels, damit es die Geschichte sehen kann. Diese Worte hatten in seinem Herzen widergehallt und ihn zu seinem Posten geführt, welcher der geheimste aller Archonten war.

Omet war der Erbauer des Lichtfängers.

Nach einigen Augenblicken des Schweigens bemerkten die zehn Archonten gleichzeitig die Gegenwart des Königs. Jeder wusste, dass Achmed erkannt werden wollte, denn sonst wäre niemand auf ihn aufmerksam geworden. Das statische Summen in den Tunneln deutete an, dass die Aufmerksamkeit der Archonten eingefordert wurde. Wenn jemand dieses Summen überhört hätte, wäre ihm der siebeneinhalb Fuß große Schatten hinter dem Umriss des Königs in der Dunkelheit gewiss nicht verborgen geblieben.

Sie gesellten sich in der Hand zueinander, und der König bedeutete ihnen, sich zu setzen. Grunthor stand im Daumen, und Krinsel, die Hebamme, saß vor ihm auf dem Steinboden. Kubila und Harran hockten in der Öffnung des angrenzenden Tunnels, des Zeigefingers. Kubila hatte die schlaksigen Beine ausgestreckt und die Hände hinter sich gefaltet; Harran kauerte mit angezogenen Knien da, als sei ihr so tief im Berg kalt. Omet und der Schmied Yen hatten sich den nächsten Tunnel ausgesucht, und die anderen befanden sich im letzten der Finger. Als sie still und reglos geworden waren, nahm Achmed seinen Platz in der Handfläche auf einem Stuhl ein, der anscheinend für diese Zeremonie hierher gebracht worden war. Zuerst sah er die anderen nur an. Schließlich sagte er mit einer sandigen Stimme, die tiefer als alles war, was sie bisher gehört hatten: »Meine Kinder, eure Ausbildung ist nun beinahe beendet.«

Ein halbes Dutzend Seufzer hallten durch die Tunnel, und die Achonten suchten in der Dunkelheit nach den Blicken der anderen.

Für Harran, die Meisterin der Überlieferungen, die kaum fünfzehn Jahre alt war, war dies eine besonders willkommene Neuigkeit. Man hatte ihr befohlen, einhundert cymrische, lirinische, Nain- und Bolg-Genealogien aufsagen zu können. Sie musste Manuskripte in sieben teils toten Sprachen auswendig lernen, wobei sie die Texte jeweils nur ein einziges Mal sah, und die Namen der Anführer aller Bolg-Klane und aller Soldaten behalten. Darüber hinaus musste sie sich in den Quellentexten auskennen, die in der Großen Bibliothek von Canrif verstreut lagen, wo die Bibliothekare und Studenten unter ihrer Anleitung in nie endenden Schichten ihre Forschungen betrieben.

Als Achmed die Erleichterung in ihren Augen sah, lächelte er schwach. »Das bedeutet nicht, dass die Prüfungen schon vorbei sind, Harran«, sagte er trocken. »So geht das nicht. Die Überprüfung deines Wissens wird bald beginnen und für den Rest deines Lebens andauern. Ein Schwert wird geprüft, wenn es die Schmiede verlässt und bevor es im Wasser abgekühlt und zum letzten Mal geschliffen wird, aber das ist nicht die wirkliche Probe des Schwertes. Diese kommt später, im Zusammenprall und im Blut. Doch für das Erste bin ich zufrieden.«

Er schaute den Schmied an.

»Yen, ich kenne das Metall, aus dem du gemacht bist. Ich habe selbst den Hammer an deine Kanten gelegt, dich aber noch nicht auf die Steine geworfen, um zu sehen, ob du singst oder zerspringst.« Der Schmied schluckte deutlich, sagte aber nichts.

Dann wandte sich der König an den Archonten, den er für Handel und Diplomatie ausbildete. »Kubila, ich kenne deine Herkunft, habe dich zum Läufer für das große Bergrennen ausgebildet, aber du musst noch beweisen, wer stärker ist: du oder der kommende Sturm. Doch genug der Prüfungen für den Augenblick.

Ihr seid meine Archonten, die Hüter unserer tausendundeins Geheimnisse. Zählt und bewahrt sie sorgfältig.«

Die jungen Leute sahen einander verwirrt an. Niemand hatte je gehört, dass Achmed diesen Namen gebrauchte. Achmed bemerkte ihre Verwunderung, wandte sich an Trug, der eines Tages seine Stimme sein würde, und erteilte ihm nickend die Erlaubnis zu sprechen. Trug räusperte sich.

»Wir bewahren viele Geheimnisse, Herr«, sagte er mit einer Stimme, die dazu ausgebildet war, die harten Töne der bolgischen Sprache zu unterdrücken. »Was, Herr, sind die tausendundeins Geheimnisse?«

Die verschiedenfarbigen Augen des Königs, eines hell, das andere dunkel, glimmerten. »Wer kann darauf eine Antwort geben?«

Die Archonten sahen sich erneut an und richteten dann den Blick wieder auf ihren Anführer.

»Die Geheimnisse der Festungswerke, der Brustwehren und Tunnelfallen«, flüsterte Dreekak, der Meister der Tunnel nervös.

»Die Geheimnisse der Spione«, meinte Trug.

»Die Geheimnisse des Lichtfängers«, fügte Omet hinzu. Seine Stimme klang für Bolg-Ohren immer schrill, wenn er versuchte, in ihrer Sprache zu reden, doch keiner der Archonten zuckte zusammen.

»Das alles sind wertvolle Antworten«, erwiderte der König. »Doch es gibt noch größere Geheimnisse, Geheimnisse, die ich euch gleich mitteilen werde. Ihr müsst sie in eurem Herzen behalten und mit eurer Seele bewachen. Doch wir sind auch Wächter vieler kleinerer, manchmal drängenderer Geheimnisse.« Er wandte sich an Vrith, den Quartiermeister. »Wie lange können wir eine Belagerung der Berge durchstehen, wenn wir völlig eingekreist und umzingelt sind?«

»In dieser Jahreszeit zwei Monate und sechzehn Tage«, antwortete Vrith mechanisch, wie er es schon so oft in sieben Sprachen getan hatte. Die Archonten waren seit frühester Kindheit gewohnt, auf diese Weise befragt zu werden. »Zwei Tage weniger im Winter.«

»Wie viele unserer Kaufleute und Agenten befinden sich augenblicklich außerhalb von Ylorc?«

»Einhundertzwölf«, antwortete Kubila.

»Wie viele unsichtbare Routen, die die Tauben von Roland benutzen, hat der Falkenmeister entdeckt?«

»Neun«, sagte Trug.

»Was liegt am Boden des Tunnels, der durch die kürzlich erfolgte Explosion des Lichtfängers geöffnet wurde?«

»Das wissen wir noch nicht, Herr«, sagte Dreekak rasch und zögerlich zugleich. Dies war eine Antwort, die ein Archont zu geben hasste, daher gab man sie am besten schnell, damit der König nicht glaubte, man versuche eine Schwäche in der Ausbildung zu verdecken.

Der König nickte. »All diese kleinen Geheimnisse und noch zahllose andere ergeben insgesamt eintausend. Aber was ist das eine weitere?« Er schaute sie eine Weile lang an, wandte sich dann an Harran und rief sie wortlos.

Die junge Meisterin der Überlieferungen dachte kurz nach und antwortete: »Das Geheimnis, warum Ihr uns ausgewählt habt und wofür Ihr uns ausbildet.«

»Das ist es«, entgegnete Achmed erfreut. »Eure Ausbildung ist beendet, zumindest so weit es um den Status des Archonten geht. Dies ist mein letztes Wort an euch als Lernende: Was ist das Geheimnis der Weisheit?«

Greel, der verantwortlich für die Minenarbeiten war, sagte: »Bevor man etwas tut, muss man sich die Auswirkungen eine Million mal vorstellen.«

»Auch, bevor man etwas sagt«, fügte Yen hinzu.

Achmed gab dazu seine schweigende Zustimmung und bedeutete dann den jungen Leuten, näher heranzukommen.

»Die ganze Zeit über, in der ich euch solche Geheimnisse gelehrt habe, habe ich eines für mich behalten. Ich habe es mit niemandem außer Grunthor geteilt.« Und mit Rhapsody, dachte er verbittert, doch sie hat es nicht bewahrt. »Aber wenn ihr die Wünsche erfüllen wollt, die ich an euch Archonten habe, darf es keine Geheimnisse zwischen uns geben. Ich werde nun das tausendunderste Geheimnis mit euch teilen. Aber um es zu verstehen, braucht ihr Licht an diesem lichtlosen Ort.«

Achmed nahm aus seinem Umhang einen eiförmigen Stein, der so hell strahlte wie der Mittag. Die Archonten wichen vor den Strahlen zurück, stellten einen Augenblick später jedoch fest, dass das Licht kalt war und ihnen nicht in die Nachtaugen stieß, in die Augen von Höhlenbewohnern, die seit Jahrhunderten im Bauch der Berge lebten.

»Die Nain entdeckten diese Steine tausend Könige vor Faedryth, ihrem gegenwärtigen Führer. Der Gebrauch der Steine ist seit damals hunderte Male vergessen und wieder in Erinnerung gerufen worden. Ihr dürft nicht zulassen, dass das, was ihr gelernt habe, in derselben Weise vergessen wird.« Er übergab Harran den glühenden Stein. »Das braucht ihr, um zu sehen, was ihr sehen müsst, bevor ihr verstehen könnt.«

Während er sprach, senkte er langsam die Kapuze und wickelte den Stoff von seinem Gesicht. Seine Worte und das, was die jungen Leute sahen, hatten eine hypnotisierende Wirkung. Nur Grunthor, der dies schon zuvor gesehen und gehört hatte, hielt nicht den Atem an.

»Um den Grund für eure Ausbildung zu verstehen, müsst ihr etwas über mich erfahren, was ihr noch nicht wisst. Ich bin aus einer unheiligen Verbindung zu einem schrecklichen Zweck hervorgegangen: Um einen Geist, den niemand sehen kann, aufzuspüren, zu jagen und zu töten. Dieser Zweck meines Daseins ist mir angeboren. Ich habe meine Mutter nicht gekannt, doch ich spüre ihr Blut noch in meinen Adern.«

Die blasse, purpurfarbene Haut der Stirn, die von Adern durchzogen war, stellte keine geeignete Vorbereitung auf den Anblick seiner unverhüllten Augen dar. Sie waren von verschiedener Farbe, von unterschiedlicher Form und Lage und ruhten in einer Haut, die so durchscheinend war, dass es den Anschein hatte, als flössen sie haltlos in seinem Schädel umher. Die Archonten schluckten.

»Während ihr durch meine Schleier die Züge meines bolgischen Vaters erkannt habt, der einer von zwölf Soldaten war, welche meine dhrakische Mutter vergewaltigten und entführten, seht ihr nun die Entartung der Rasse, deren erste Generation ich darstelle. Die Dhrakier sind ein altes Volk, geboren aus dem Wind, abstammend aus der Rasse des Kith, wie du, Harran, gelernt hast. Doch der Zweck der Dhrakier war einzigartig. Sie waren Gefängniswärter, Wächter. Als wir bei dieser Aufgabe versagten, wurden wir zu Jägern. Doch anstatt mir das Erbe meines dhrakischen Blutes zu erklären, wurde ich von Bolg auf der anderen Seite der Welt erzogen, gefoltert und schließlich eingekerkert.« In seiner Stimme lag keine Spur von Bedauern und keine Bitte um Mitgefühl. Sie war tonlos und leise, unterstrich aber die Wichtigkeit der Worte.

»Eines Tages wurde der Drang meines Blutes so stark, dass ich ihn nicht mehr verleugnen konnte. Ich musste herausfinden, was mich zum Morden trieb. Um den Bolg zu entkommen, war ich gezwungen, meinen Bewacher zu töten. Er war mir so etwas wie ein Bruder geworden, und er war nicht viel älter als ich selbst.«

Die Archonten starrten auf die nun enthüllte Nase, deren geblähte Nüstern an die eines Pferdes erinnerten, aber aus zarten Blütenblättern zu bestehen schienen und von Venennetzen durchzogen waren.

»Um meine Flucht zu überleben, war ich gezwungen, ihn zu verzehren.«

Die Archonten nickten gleichgültig. Kannibalismus war bei ihren Stämmen üblich gewesen, bevor Achmed das Bergreich übernommen hatte. Auf Rhapsodys Beharren war er unter Strafe gestellt worden. Der König war damit einverstanden gewesen, nicht wegen ihres Einwandes der Unzivilisiertheit und der Ansichten der Welt draußen, sondern weil er seine Untertanen ganz und ungefressen brauchte.

Der praktisch lippenlose Mund schmeckte die Luft nach Spuren von Angst ab, die in die Dunkelheit hineingeflüstert wurde.

»Nun, da ihr mein Gesicht gesehen habt, werdet ihr begreifen. So kommt es, dass ich weiß, was ich weiß. Wie ich spüre, wenn ihr einen Raum betretet. Wie ich euch flüsternd fluchen höre und eure Müdigkeit rieche. Es steckt in meiner Haut. Es ist mein Fluch und mein Segen. Ich spüre den Rhythmus der Welt um mich herum, ich kann mich davor nicht verstecken. Meine Empfindungen sind nicht unfehlbar, aber ich habe nur sehr selten Unrecht. Und nun erzähle ich euch, was ihr wissen müsst, damit ihr begreift, warum wir die tausendundeins Geheimnisse bewachen.«

Er wandte sich an Harran und richtete seinen schiefen Blick auf sie, als ob er eine Waffe begutachte. Die Meisterin der Überlieferung behielt ihre stoische Haltung, doch ihr dürrer Körper zitterte wie ein Blatt im Wind.

»Ich habe dir erlaubt, die Überlieferungen Rolands und anderer Länder des Kontinents zu studieren, aber ich habe oft genug angedeutet, dass es sich dabei tatsächlich um Folklore, um Geschichten handelt, die verfälscht sind, weil Generationen von Narren sie weitergegeben haben, statt dass sie von lirinischen Benennern und anderen in der Kunst Geschulten und der Wahrheit Verpflichteten aufbewahrt worden sind. Was weißt du über die F’dor?«

Die junge Gelehrte schluckte. Ihr dunkles Gesicht wurde blass.

»Die F’dor waren Kinder des Feuers und der alten Kultur, die aus ihm entspringt«, zitierte sie aus den Texten, die sie gelesen hatte. »Es waren die F’dor, die das Feuer gezähmt und es der Menschheit gegeben haben, damit diese es zum Schutz, zum Wärmen der Häuser im Winter und zum Schmieden von Waffen verwenden.

Die schon lange verstorbenen F’dor waren die Urväter des Stahls, der Schmieden und diejenigen, die den Menschen die Gabe des Feuers brachten.«

Achmed nickte nachdenklich. »Das steht wirklich in den Texten. Das predigen die Schwachsinnigen, die sich um die Feuerbasilika in Bethania kümmern, den unglücklichen Dumpfschädeln, die dort zum Gottesdienst gehen. Das ist genau das, was die Welt glaubt. Ich aber sage euch nun, dass dies die größte Lüge ist, die je erzählt wurde.« Seine Augen funkelten, als er sie näher zu sich heran bat, damit er so leise sprechen konnte, dass er kaum hörbar war.

»In der Vorzeit, als die Welt geformt wurde, gab es fünf Rassen, die den uranfänglichen Elementen entsprangen. Vier dieser Rassen – die Seren, die aus dem Äther hervorgingen, dem Stoff, aus dem einst die Sterne entstanden, die Kith aus der Luft, die Mythlin aus dem Wasser und die Drachen aus der Erde – lebten in dieser vorgeschichtlichen Zeit angeblich in recht harmonischem Verhältnis miteinander. Die F’dor, die Zweitgeborenen dieser erstgeborenen Rassen, waren jedoch nicht die alte Kultur, die der Welt Heilung und Schmiedekunst schenkte. Sie waren Dämonen von unvorstellbarer Zerstörungswut, die alles Leben von der Erde tilgen und schließlich die Erde selbst auslöschen wollten. Sie waren gestaltlose, flüchtige Wesen ohne Körper und konnten in einen menschlichen Wirt schlüpfen – oder in den einer anderen Rasse, so lange ihr Opfer weniger mächtig war als sie. Sie haben ganze Arbeit geleistet und hätten beinahe den Weltuntergang herbeigeführt, bis die anderen Völker ihre Kräfte bündelten und die meisten in eine undurchdringliche Gruft aus Lebendigem Gestein tief in der Unterwelt warfen, im Bauch der Erde nahe dem Herzen aus Feuer. Jede Rasse spielte eine Rolle in der Gefangennahme und Einkerkerung, doch es waren die Kith, denen die Verantwortung für die Überwachung oblag. Daher wurde einem ihrer Stämme, der älteren Unterrasse der Dhrakier, die schwere Aufgabe übertragen, die Gruft zu bewachen und tief im Innern der Erde zu leben, getrennt vom Wind, der ihre Mutter ist, Tag für Tag bis in alle Ewigkeit.

Jahrtausendelang ging alles gut, bis eines Tages ein Stern vom Himmel ins Meer fiel. Sein Aufprall sprengte die Gruft und erlaubte vielen F’dor, die dort gefangen waren und ihre Zeit mit nutzlosen Träumen der Zerstörung vertan hatten, in die Oberwelt zu fliehen und sich unter der arglosen menschlichen Bevölkerung zu verbreiten, die aus den Erstgeborenen und den älteren Rassen hervorgegangen war. So wurde das zerstörerische Element freigesetzt.«

Achmed hielt in seiner Hetzrede inne. Die Archonten atmeten kaum mehr, was vermutlich von dem Schock herrührte, den der erstmalige Anblick seines Gesichts und der Umstand bei ihnen auslöste, dass er mehr zusammenhängende Worte sprach als je zuvor, seit er in Ylorc eingetroffen war. Er zwang sich, ruhiger zu werden und seine Stimme weniger harsch klingen zu lassen.

»Diese Wesen leben noch. Einige von ihnen sind in der wiederhergestellten Gruft gefangen, andere sind frei; sie verstecken sich im hellen Tageslicht, und ihre giftigen, parasitischen Geister klammern sich unsichtbar an menschliche Wirte. Sie sind kaum zu unterscheiden von dem Rest des menschlichen Fleisches, der über die Erde wandelt. Und jene, die in der Oberwelt sind, wollen nur eines: ihre Genossen aus der Gruft befreien, damit sie gemeinsam ihr Verlangen befriedigen können, das ihre ganze Rasse verzehrt: den Hunger auf Vernichtung, Auslöschung, Vertilgung allen Lebens, nicht nur in dieser Welt, sondern auch in der nächsten. Sie wollen zur vollkommenen Leere zurückkehren, selbst wenn es sie ihre eigene Existenz kosten sollte. Man spürt ihre Gegenwart in den Gezeitenströmungen des Universums, im Krieg, in Eroberungszügen, in Morden, in Verrat. Kurz, in allen menschlichen Angelegenheiten.

Das, was sie suchen, ist das letzte Geheimnis. Ich will es euch mitteilen. Eine uralte Prophezeiung berichtet von ei’nem Schlafenden Kind, genauer gesagt von drei solchen Kindern. Kennst du diese Prophezeiung, Harran?«

Die Meisterin der Überlieferung nickte, schloss die Augen und sang mit leiser, tonloser Stimme:

Das Schlafende Kind, sie, die Jüngstgeborene, Lebt weiter in Träumen, doch weilt sie beim Tod, Der ihren Namen in sein Buch zu schreiben gebot, Und keiner beweint sie, die Auserkorene.

Die Mittlere, sie liegt und schlummert leise, Zwischen dem Himmel aus Wasser und treibendem Sand, Hält stille, geduldig, Hand auf Hand, Bis zu dem Tag, an dem sie antritt die Reise.

Das älteste Kind ruht tief, tief drinnen Im immer-stillen Schoß der Erden. Noch nicht geboren, doch mit seinem Werden Wird das Ende aller Zeit beginnen.

Achmed nickte, als Harran verstummte. »Das erste Kind aus der Prophezeiung liegt in diesen Bergen«, sagte er feierlich und beobachtete die Gesichter der Archonten. Ihre Augen funkelten in der Dunkelheit. »Es ist ein Erdenkind, geschaffen aus Lebendigem Gestein, ein Überbleibsel aus der Geburt der Welt. Vielleicht ist es sogar das Letzte der Rasse, welche die Drachen aus dem Element der Erde geformt haben. Die Rippen seines Körpers bestehen aus demselben Lebendigen Gestein, das auch die Gruft bildet, und würden daher wie ein Schlüssel wirken, wenn das Kind in die Hände der F’dor fiele. Und sie wissen, dass es hier ist.«

Ein hörbares Schaudern ging durch die Versammlung. Achmed warf Grunthor einen raschen Blick zu; sein Gesicht wirkte unbeteiligt. Der Bolg-König seufzte und fuhr dann fort:

»Das zweite Kind, das in der Prophezeiung genannt wird, ist der Stern, der vor tausenden von Jahren auf der anderen Seite der Welt ins Meer stürzte – derselbe Stern, der auch die Gruft zerschmetterte. Dieser brennende Stern, der Jahrtausende unter dem Meer schlummerte, erhob sich und verschlang die Insel Serendair vor vielen Jahrhunderten in einer feurigen Sintflut. Doch trotz der Zerstörung, die darauf folgte, und trotz all der vernichteten Leben verursachte sie viel geringeren Schaden, als es die beiden anderen könnten.« Der Bolg-König wurde still, und alle Laute im Tunnel verschwanden zusammen mit seiner Stimme.

Schließlich fragte Omet: »Und das dritte, Herr? Das älteste?«

Der Bolg-König schwieg lange. Schließlich redete er wieder. Seine Stimme war sanft.

»Zum Beginn der Zeit, als es auf der Erde nur die fünf Rassen der Erstgeborenen gab, stahlen die F’dor den Drachen etwas – dem Urvater der Rasse, dem ältesten aller Drachen. Es handelte sich um ein Ei. Sie nahmen den ungeborenen Drachen, der in seinem Blut alle Elemente vereinigte, und beschmutzten ihn, machten ihn unrein. Er wurde in einem Zustand der Stasis gehalten, und man erlaubte ihm zu wachsen, bis er ein Teil des Weltengewebes war. Tiefer noch als die Gruft liegt in der Erde das älteste Kind, eine Bestie von unvorstellbarer Größe, die in kalten, unterweltlichen Höhlen schläft und darauf wartet, dass ihr Name gerufen und sie wieder lebendig wird und Leben geben kann, denn alle Drachen müssen brüten. Sie schläft noch, weil bei der Gefangennahme der F’dor alle Wärme ihres bösen Feuers mit ihnen ging. Doch wenn sie befreit werden sollten, werden sie die Bestie sofort rufen, und sie wird erwachen.

Und die Welt verschlingen.«

Der König richtete sich ein wenig auf und versuchte die Blicke zu übersehen, die in der Hand getauscht wurden.

»Ich bin vor mehr als tausend Jahren dem Griff eines oberweltlichen F’dor entwischt, denn ich hatte während meines Dienstes einen Blick über die Schwelle der Gruft geworfen. Als ich sah, was sich in ihr befindet, habe ich begriffen, dass es Schlimmeres als den Tod gibt, Schlimmeres als Verbannung, Schlimmeres als endlose Folter. Als ich dies sah und begriff, verstand ich, warum das dhrakische Blut in meinen Adern nach dem Tod aller F’dor schreit, warum ich jeder Spur ihres fauligen Geruchs nachjagen muss, die ich im Wind bemerke, und warum ich die Erde von allen säubern muss, die ich finden kann. Das ist ein Ruf, der alle anderen Pflichten überlagert. Ich bin Jäger und auch Wächter – der Wächter des Erdenkindes. Der Wächter der Bolg. Und es ist eine scheußliche Ironie des Schicksals, dass ich auch der Wächter der Erde selbst bin. Ausgebildet als Mörder und Händler des Todes, der einst einen ganzen Kontinent in Angst und Schrecken versetzte, bin ich nun derjenige, in dessen Verantwortung die Sorge um das Leben und möglicherweise auch das Nachleben liegt, denn die F’dor hassen beides und versuchen es bei Gelegenheit auszulöschen.

Meine unfreiwilligen Kinder, auch wenn einige glauben, das Alter könne mir nichts anhaben und ich sei zwar sterblich, aber nicht durch die Hand der Zeit, muss ich euch ein Vermächtnis machen und euch zu seiner Erfüllung verpflichten. Diese Verpflichtung beginnt nun, da ihr allmählich erwachsen werdet. Ich kann diese Last nicht mehr allein tragen. Grunthor ist mir dabei immer eine Hilfe gewesen, aber auch er kann es nicht mehr allein sein. Ich weiß nicht, welche unmittelbare Macht die F’dor außerhalb ihrer Gruft haben und wie viele dämonische Geister in menschlichen Wirten stecken, doch ich sehe, wie ihr Einfluss in den Herzen der Menschen wächst. Die Gier nach Zerstörung dringt bis hinter die Berge, in denen wir herrschen. Ihr werdet mir beistehen. Gleich mir ist eure Bestimmung keine Wahl, die ihr getroffen habt, sondern eine, die für euch getroffen wurde. Sie liegt so weit außerhalb eurer Einflussmöglichkeit wie das Schlagen eures eigenen Herzens. Es gibt keinen Weg, auf dem ihr eure Bestimmung umgehen oder vor ihr fliehen könnt.

Dies ist das tausendunderste Geheimnis. Ihr werdet euer Leben in endloser Wacht verbringen, die Erde und alles, was auf ihr lebt, vor dem beschützen, was sie zu vernichten trachtet. Eure Ausbildung, eure Hingabe, eure Weisheit – euer Leben – sind verpfändet, um diese Berge zu halten, das Erdenkind zu beschützen, so wie ich es beschütze, und die erste und möglicherweise letzte Barriere zwischen den F’dor und dem Drachen zu sein, der im Herzen der Welt schläft.«

Die Archonten nickten einer nach dem anderen voller Verständnis.

Der Bolg-König band sich die Schleier wieder um.

»Wenn ihr glaubt, diese Aufgabe sei zu schwer für euch, dann bedenkt, dass ihr als Bolg geboren seid. Wenn ihr euch selbst bemitleidet, denkt daran, dass ihr auch als Menschen oder, schlimmer noch, als menschliche Cymrer auf die Welt hättet kommen können. Wenn ihr euch das vorstellt, verschwindet sofort jedes Selbstmitleid.«

Zum ersten Mal in dieser Nacht kicherte Grunthor.

»Ja, und wenn ihr unbedingt wissen wollt, wie’s ist, einer von denen zu sein, kann ich euch das halbe Hirn rausschnippeln und zum Leben nach Roland schicken. Will jemand?«

Das heftige Kopfschütteln erzeugte eine kleine Staubwolke in den fest gefügten Korridoren der Hand. Als Achmed von der Hand zurückkehrte, stellte er fest, dass ein nervöser Bote auf ihn in der Großen Halle wartete.

Ungeduldig streckte Achmed ihm die Hand entgegen. Es war ein Knabe, noch jünger als Trug, der ihm rasch einen Elfenbeinzylinder von der Postkarawane übergab. Achmed brach das Siegel auf, und da die Nachricht von Haguefort kam, zog er das Pergament zwischen Nase und Lippen über das verhüllte Gesicht. Rhapsodys Geruch haftete noch daran, es war das frische Aroma von Vanille und Gewürzseife. Der Duft gefiel ihm, auch wenn er den Grund dafür nicht kannte.

Statt Myrrhe und Ambra, die bei anderen Königinnen und Monarchen so beliebt waren, benutzte Rhapsody dieselben süßen Gewürze, mit denen sie sich als Bauernmädchen auf der anderen Seite der Zeit zu reinigen gepflegt hatte. Es war tröstlich zu wissen, dass wenigstens einige Dinge sich nicht geändert hatten, seit sie den Titel einer Herrin der Cymrer trug und zu Ashes Gemahlin geworden war.

»Was von der Herzogin?«, wollte Grunthor wissen.

Achmed nickte. »Nur eine Nachricht, dass ich in den nächsten Tagen nach einem Botenvogel Ausschau halten soll.«

Der Sergeant-Major stieß einen leisen Pfiff aus und langte in den Patronengurt, der ihm über den Rücken hing. Die Griffe seiner geschätzten Waffensammlung, die wie die Stacheln eines schrecklichen Reptils hervorstachen, klapperten, als er nach einer Klinge suchte, mit der er spielen konnte. Er entschied sich für das Alte Luder, ein gezahntes Kurzschwert, das er zu Ehren einer Hure aus der alten Welt so genannt hatte, und zog die Waffe, wobei er sie an seiner Handfläche entlanglaufen ließ.

»Klingt so, als sähen wir sie bald wieder. Gut. Hab sie vermisst.«

Der Bolg-König seufzte. »Hoffen wir, dass sie nicht schon wieder gerettet werden muss. Sie hasste es noch mehr als ich, wenn das überhaupt möglich ist. Aber ich kann mich jetzt nicht mit ihr und ihren Wünschen abgeben. Ich muss ein zertrümmertes Königreich wieder aufbauen.«

9

Aussenbezirk der Hauptstadt — Provinz Bethania

Während der Reise auf dem Wagen nach Bethania lag Faron in gnädiger Bewusstlosigkeit.

Der unverständige Geist der Kreatur, der bestenfalls primitiv genannt werden konnte, sank in einen nahezu besinnungslosen Zustand; er weilte in einem nebeligen Reich, in dem halb geformte Träume und Bilder in Bruchstücken auftauchten und von den Spritzern lauwarmen Wassers vertrieben wurden, welches die Fischer immer wieder auf seinem Körper verteilten, der unter der heißen Sonne aufzischte. Faron lag unter Seetang, mit dem die beiden Männer seinen bleichen Körper bedeckt hatten. Er wünschte den Tod herbei, wenn er bei Bewusstsein war, und glitt durch Nachtmahre, wenn er es nicht war. Dabei verbrannte er allmählich in der Sonne.

Nach scheinbar endloser Zeit kam der Wagen langsam zum Stehen und zeigte keine Anzeichen, weiterzufahren. Kail kletterte aus dem Wagen und reckte sich qualvoll. Er beschirmte die Augen und schaute auf die von Mauern umgebene Hauptstadt Bethanias und ihren äußeren Ring aus Dörfern und Siedlungen; sodann deutete er in die Tiefen der Stadt auf die Geschäfte und Hütten und den quirligen Fußverkehr, der auf den Straßen herrschte.

»Der Kesselflicker hat gesagt, der Knabe, der für das Monstrositätenkabinett verantwortlich sei, befinde sich in der Gasse hinter der Taverne Zum Adlerauge«, sagte er zu Bächlin, der sich ebenfalls streckte und nickte. »Du gehst in die Stadt und verkaufst unseren Fang an den Fischhändler, und ich gehe in den äußeren Kreis und sehe mal, was ich für unseren Fischjungen bekomme.« Bächlin nickte und gab dem Pferd ein schnalzendes Zeichen. Kail sah zu, wie der Wagen auf das westliche Tor zurollte. Es war eine der beiden Öffnungen, durch die Handelsvieh und Kaufmannsverkehr in die Stadt gelangen konnten. Der Zutritt war streng begrenzt, und deshalb fand ein großer Teil des Handels, der nicht mit den Gesetzen übereinstimmte, vor der Ringmauer in den äußeren Dörfern und Siedlungen statt.

Dorthin ging er nun und suchte das Adlerauge und die Straße dahinter.

Kail war kein Fremder hier. Er kannte solche Orte in ganz Roland und verkaufte seine Waren gern in solchen Randsiedlungen. Auch gab er bevorzugt sein Geld hier aus. Die Gewinnspannen waren höher und die Angebote billiger. Außerdem gab es hier eine Menge Dinge, die kein Kaufmann aus der Stadt, der etwas auf sich hielt, je in die Hand nehmen würde.

Auf der Straße nach Bethania waren sie vielen anderen kleinen Kaufleuten begegnet und hatten immer wieder gefragt, ob jemand den Wanderzirkus gesehen habe, der noch vor wenigen Wochen an der Küste aufgetreten sei. Schließlich hatte ihnen ein Kesselflicker inmitten seiner klappernden, vom Wagen herabhängenden Töpfe und Pfannen verraten, dass der Wanderzirkus nach Bethania gereist sei und auf den düsteren Straßen außerhalb der Stadtmauer seine Kunst mehr schlecht als recht zur Schau stelle.

Außerdem hatte er eine Wegbeschreibung zu der Taverne gegeben.

Kail ging über die gepflasterten Straßen, an kleinen Läden, Tavernen und Wohnhäusern vorbei und sog den Anblick und die Gerüche des Ortes in sich ein: das Gackern der Hühner beim Geflügelschlächter, das fröhliche, kreischende Lachen der Straßenkinder, das Feilschen der alten Frauen auf dem Markt, der appetitliche Geruch von Essen, der aus den Gasthäusern drang. Kail war hungrig und wollte es auch bleiben, bis er sein Geschäft abgeschlossen hatte. Das würde sicherstellen, dass er bei den Verhandlungen hart blieb.

Schließlich kam er zu dem Ort, den der Kesselflicker ihm genannt hatte. Das Adlerauge war ein schäbiges, dringend reparaturbedürftiges Gebäude und stand mit der Fassade zu einer dunklen Straße hin, die als Bettlerallee bekannt war. Kail schlüpfte in die Gasse, die zur Rückseite des Gebäudes führte, und folgte dem geschäftigen Lärm in den Hintergassen.

Eine kleine Gruppe Männer hatte sich mit einer einfach gekleideten Frau und einigen Jungen in einem Kreis um einen stämmigen, kahlköpfigen Mann versammelt, der grob genagelte Stiefel und eine Peitsche trug, die ihm von der Schulter bis zur Hüfte reichte. Er führte etwas an einer Kette, das auf der schmutzigen Straße herumhüpfte, brummte und heulte. Kail kam näher heran, um einen besseren Blick zu bekommen.

Sobald er in den Kreis getreten war, sah er, dass die Kreatur am Ende der Kette ein Mensch oder wenigstens menschenähnlich war. Sie war bis hoch zu den Augenlidern völlig mit Haaren bedeckt und ging wie ein Affe auf den Fingerknöcheln umher. Immer wieder sprang das Geschöpf die Menge an, die voller Belustigung und Schreck zugleich vor ihm zurückwich. Der große Mann zerrte das haarige Wesen an der Kette zurück und schrie es mit drohender Stimme an. Kail verzog angewidert die Lippen.

Der muskulöse Mann bemerkte seinen offensichtlichen Abscheu. Er warf dem Fischer einen finsteren Blick zu, lockerte die Kette ein wenig und nickte in Kails Richtung. Das haarige Geschöpf sprang auf den Fischer zu, kratzte ihn am Bein und kletterte ihm in irrer Wut bis zur Hüfte hinauf. Es hatte bereits seine Kleidung besabbert, als der Mann an der Kette zog und es wieder auf den Boden zwang. Die anderen Zuschauer wichen hastig vor Kail zurück. Der Fischer blieb standhaft. Er durchbohrte den Bändiger mit Blicken, bewegte sich aber nicht.

»Also gut, wer will eine Eintrittskarte haben?«

Die Stimme war hinter Kail ertönt. Er starrte immer noch den Bändiger nieder, während sich die anderen fortbewegten. Er hörte den Klang von Münzen und eine Wegbeschreibung zu einem Ort am Rande der Stadt. Als sich die Zuschauer schließlich zerstreut hatten, stellte sich der Kartenverkäufer neben den Bändiger. Er war groß und dünn und trug einen schmalen schwarzen Bart, der seine Wangen einrahmte. Gekleidet war er in eine farbenprächtige, rot und golden gestreifte Seidenhose und eine grüne Weste; dazu trug er einen hohen schwarzen Hut.

»Nun, mein Freund, kann ich dich für eine Eintrittskarte begeistern?«, fragte er. Seine Stimme war tief und angenehm, aber es schwang etwas Dunkles in ihr mit.

»Wenn Ihr so etwas ein Monstrum nennt, dann nicht«, antwortete Kail und deutete auf die keuchende Kreatur. Der große Mann trat näher an ihn heran. »Ich versichere dir, guter Mann«, sagte er mit einladender, doch auch bedrohlicher Stimme, »dass unser Kabinett unvergleichlich ist. Es wird dir einfach gefallen. Und was die Monstren angeht ...« Er beugte sich weiter vor, als verrate er ein Geheimnis. »Die dunkelsten Abgründe deines Geistes können sich ein solches Grauen nicht vorstellen, wie du es in unserem Zirkus sehen wirst.«

Kail rieb sich am Kinn, als ob er nachdenke. »Wer ist verantwortlich für diesen Zirkus?«

Die dunklen Blicke des großen Mannes wanderten über Kails Gesicht.

»Wer will das wissen?«

»Jemand, der etwas zu verkaufen hat«, erwiderte der Fischer fest. Er hatte am Hafen so viel Düsteres gesehen, dass ihm weder ein Spaßmacher in gestreifter Hose noch ein muskelbepackter Schläger oder ein behaarter Mann, der sich wie ein Affe benahm, Angst einjagen konnten.

Der große Mann kniff die Augen zusammen.

»Ich bin der Direktor des Monstrositätenkabinetts«, sagte er düster. »Und ich bezweifle, dass du irgendetwas von Interesse für mich hast. Ich habe die feinsten Exemplare aus jeder Ecke der Welt gesammelt...«

»Wie wäre es mit einem Wesen, dass sowohl Mann als auch Frau und dazu noch Fisch ist?«, unterbrach Kail ihn.

Der Zirkusdirektor schnaubte. »Hab ich schon.«

Kail verschränkte die Arme vor der Brust. »Meiner ist echt.«

Wut entzündete sich in den schwarzen Augen des großen Mannes. Er warf einen Blick in die Gasse und stellte beruhigt fest, dass niemand Kails spöttische Bemerkung gehört hatte. »Alle Ungeheuer des Monstrositätenkabinetts sind echt«, sagte er mit unverkennbarer Drohung in der Stimme. »Wenn du keine Eintrittskarte kaufen möchtest, solltest du jetzt besser gehen.«

Kail dachte darüber nach, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich sag dir was«, gab er zurück, ohne auf die wachsende Wut im Gesicht des Bändigers zu achten. »Ich kaufe eine Karte, aber Ihr trefft Euch mit mir in der Dämmerung außerhalb des Zirkus eine halbe Stunde vor Öffnung. Ich zeige Euch meinen Wundersamen Fischjungen, und wenn Ihr ihn haben wollt, könnt Ihr ihn mir abkaufen – und mir die verdammte Eintrittskarte bezahlen. Abgemacht?«

»Eine halbe Krone«, sagte der Zirkusdirektor und streckte die Hand aus.

Schließlich blinzelte Kail doch. »Ich habe wirklich den falschen Beruf«, murmelte er, zog seine Geldbörse hervor und legte widerstrebend die Münze in die Hand des großen Mannes. »Nun, wenigstens weiß ich, dass Ihr gut bei Kasse seid, falls Ihr mein Ungeheuer kaufen wollt.«

Kail traf sich mit Bächlin vor dem westlichen Tor.

»Wie hat sich der Fang verkauft?«

Bächlin streckte ihm die Hand entgegen und zog ihn in den Wagen.

»Erstaunlich gut«, sagte er und ergriff wieder die Zügel. »Die Brände an der Westküste haben den Fischnachschub unterbrochen. Die Händler waren ziemlich gierig danach. Und ich habe unglaublich günstig Seil gekauft.«

Kail rieb sich die Hände vor Freude. »Das scheint eine sehr erfolgreiche Reise zu werden, Bächlin«, sagte er gewichtig. »Wie geht’s unserem Fischjungen?«

»Beim letzten Mal, als ich nach ihm gesehen hab, lebte er noch, aber er fing an zu zerschrumpeln. Und er stinkt wie nichts sonst.«

»Bei Sonnenuntergang wird er verschwunden sein. Wir waschen den Wagen mit kochendem Wasser aus, bevor wir uns auf den Rückweg machen«, meinte Kail. »Aber zuerst sollten wir einen Blick auf ihn werfen. Vielleicht können wir ihn ein wenig aufhübschen, bevor er heute Abend den Herrn des Zirkus trifft.«

Er kletterte in den hinteren Teil des Wagens, umrundete vorsichtig das Laken aus Seetang und zog es langsam vom Gesicht der Kreatur weg.

Faron blinzelte nur leicht und stieß die Luft aus, die in einem Zischen an den Seiten seines Mundes entwich. Er war bewusstlos.

Kail schüttelte das Geschöpf und prallte vor der schleimigen Haut zurück.

»He, du! Wach auf, du Tier. Du gehst zum großen Ball! Wenigstens für deinesgleichen.«

Das Geschöpf bewegte sich nicht.

Kail zog die Brauen zusammen. »Wach auf«, drängte er die Kreatur erneut. Als sie immer noch keine Antwort gab, warf er einen Blick über die Schulter nach Bächlin. »Nicht gut. Sie werden nicht viel zahlen, wenn er einfach nur so daliegt.«

»Vielleicht ist er krank«, meinte Bächlin.

»Vielleicht. Ein Fisch ohne Wasser – er fühlt sich bestimmt nicht besonders wohl.« Kail riss sich zusammen, ergriff das dünne Handgelenk der Kreatur und hob den weichen Arm. Hautfalten hingen locker herab, und als Kail ihn losließ, fiel er schlaff zurück. Der Fischer schnaubte verärgert, trat näher und schaute sich das Geschöpf eingehender an.

Zwischen den langen, arthritischen Fingern steckte etwas.

Kail griff danach und packte es. Es war dünn, hart und grün und hatte einen ausgefransten Rand. Inmitten des Seetangs hatte er es zunächst nicht bemerkt. Er zerrte daran.

Die Augen des Geschöpfes öffneten sich ein wenig.

Kail zog noch einmal.

Das fischartige Geschöpf zischte, lauter diesmal, und der Kopf rollte vor und zurück in dem krampfhaften Versuch aufzuwachen.

»Was, zum ...?«, murmelte Kail. Er zog ein weiteres Mal, und zwar mit so viel Kraft, wie er aufbringen konnte. Der Gegenstand löste sich aus dem Griff der Kreatur und hinterließ eine dünne Spur aus schwarzem Blut zwischen den dürren Fingern.

Nun schlug das Geschöpf die Augen ganz auf und schüttelte aufgeregt die miteinander verschmolzenen Lippen. Es zischte wild, fuhr mit den schwachen Armen durch die Luft und griff nach seinem Schatz.

Kail beachtete seine Einwände nicht, sondern hielt das Ding gegen das Licht der Nachmittagssonne. Es war hart wie der Panzer eines Insekts und gleichzeitig biegsam, hatte zerfetzte Ränder und kleine Linien auf der Oberfläche. Zuerst war er der Meinung gewesen, es sei von grüner Farbe, doch als das Licht die Oberfläche traf, wurde es zu unzähligen kleinen, tanzenden Regenbögen gebrochen.

»Verdammt«, flüsterte Kail bezaubert.

Die Kreatur zischte noch lauter und spuckte aus. Sie sah Kail an und kochte vor Wut. Schwach griff sie nach der dünnen Scheibe, doch Kail begab sich rasch außerhalb ihrer Reichweite.

Er schaute seinen Fund noch eine Zeit lang an und richtete den Blick dann wieder auf das Geschöpf, das ihn mit all seiner verbliebenen Kraft anstarrte.

»Willst du das hier zurückhaben?«, fragte er sanft. Die Kreatur nickte böse. »Ausgezeichnet. Du verstehst mich. Also gut, mein Freund, wenn du es wirklich zurückhaben willst, solltest du vor dem Zirkusdirektor recht lebendig aussehen. Wenn er dich genug mag, um dich zu kaufen, gebe ich dir deinen Schatz zurück. Aber nur dann.« Er steckte die fransige Scheibe in sein Hemd und kletterte wieder auf den Fahrersitz. Dem Mitleid erregenden Jammern und Wimmern aus dem hinteren Teil des Wagens schenkte er keine Beachtung.

Der Zirkus lagerte nördlich der Stadt, kurz hinter den äußeren Dörfern. Er befand sich in einem Kreis aus Fackeln und Laternen, die zuckende Schatten auf die Krevensfelder dahinter warfen.

Im Licht der untergehenden Sonne und der flackernden Feuer erkannten Kail und Bächlin zehn Zirkuswagen, jeder in dunklen, satten Farben mit Bildern bemalt, die aller Vorstellung spotteten. Einige Karren und Zugpferde sowie eine Menge Zelte fanden sich am Rand des Platzes.

Ein stetiger Strom von Menschen bewegte sich auf den Zirkus zu. Zuschauer mit großen Augen vermischten sich mit unangenehmen Gestalten, die offenkundig andere Vergnügungen als das Monstrositätenkabinett suchten. Kail wusste, dass der Zirkus oft auch ein Markt für fleischliche Gelüste war – zumeist für jene von perverser Natur.

Stämmige Wachen, welche die gleiche Kleidung wie der Bändiger trugen, den er in der Bettlerallee gesehen hatte, standen in gleichmäßigen Abständen um das Zirkuszelt. Der Kartenabreißer, ein Buckliger mit einer Hasenscharte, wartete beim Eingang und sammelte sorgsam die Pergamentstücke aus Fischhaut ein, die der Zirkusdirektor den Neugierigen in der Allee verkauft hatte. Solche Zirkusse arbeiteten oft ausschließlich mit vorverkauften Eintrittskarten, damit kein Bargeld vorhanden war, falls die Obrigkeit oder Räuber erschienen, um sie zu schließen oder auszurauben. Der Bucklige scheuchte zwei Jungen fort, und einen Augenblick später war eine der Wachen bei ihnen und knurrte sie an.

»Ihr könnt morgen wiederkomm!«, rief ihnen der Bucklige hinterher. »Wir sin noch zwei Tage hier!«

Bächlin schirmte die Augen vor dem Fackellicht ab und sah sich um. »Hier wartet keiner auf uns«, sagte er nervös. Er gab seinem Pferd, das angespannt im Fackelschein tänzelte, einen geschnalzten Befehl.

Kail nickte ihm zu. Niemand erwartete sie vor dem Zeltring.

»Ich gehe rein und suche nach ihm«, erbot sich Bächlin.

Der andere Fischer lachte. »Ich hatte vergessen, dass du eine Vorliebe für so etwas hast«, sagte er, suchte noch einmal die Umgebung ab, entdeckte aber kein Zeichen vom Zirkusdirektor. »Wir sollten ihm nicht auf seinem eigenen krummen Boden gegenübertreten. Ein solcher Ort ist schließlich die Heimstatt von Ungeheuern.«

»Wie sollen wir denn mit ihm sprechen?«

»Wir bringen ihn dazu, zu uns hinauszukommen.«

Bächlin kratzte sich verwirrt am Kopf. »Und was ist, wenn er nicht rauskommen will?«, fragte er aufgeregt und beobachtete die Menge, die nun durch das Tor eingelassen wurde.

»Ich verspreche dir, dass er kommen wird«, sagte Kail zuversichtlich.

Er sprang vom Wagen und zog die Abdeckung aus Öltuch zurück. Das Geschöpf zwischen dem Seetang zischte ihn an. In seinen Augen glühte der Hass.

»Da bist du ja, Kerlchen. Bleib bloß ruhig«, sagte er und schenkte dem vernichtenden Blick der Kreatur keine Beachtung, als sie versuchte, mit ihren gebogenen Gliedern nach ihm zu greifen.

Er zog das Öltuch wieder über das Geschöpf, stellte sich im Wagen auf, räusperte sich und rief mit der Stimme eines Marktschreiers, die er sich als Fischhändler im Hafen erworben hatte:

»Kommt herbei, Ihr Damen und Herren, kommt alle und seht den Wundersamen Fischjungen! Ein schrecklicheres Ungeheuer werdet Ihr in dem Kabinett, für das Ihr schon bezahlt habt, nicht finden. Und noch besser: Hier kostet es Euch nichts!«

Die Menge, die in das Monstrositätenkabinett strömte, ging an ihm vorbei, und nur wenige schauten in seine Richtung.

Kail versuchte es erneut. »Kommt, wenn Ihr Euch traut, und schaut in das Antlitz eines wahren Ungeheuers! Kommt und werft einen Blick auf ein Wesen, das halb Mann, halb Frau und halb Fisch ist!«

Einige Männer wurden langsamer, doch ansonsten beachtete ihn die Menge nicht weiter, sondern eilte auf die Zelte zu.

Kail ließ sich indes nicht entmutigen. Er sprach eine schwergewichtige Frau an, die mit ihrem rotköpfigen Gemahl, dessen Brustkorb so mächtig war wie ein Fass, an ihm vorbeischlenderte.

»Ihr, meine Dame! Ihr scheint mir eine tapfere Seele zu sein. Wollt Ihr die Erste sein, die ein wirkliches Ungeheuer sieht? Etwas, das so schrecklich ist, dass sogar der Zirkusdirektor des Monstrositätenkabinetts Angst hat, herauszukommen und es sich anzuschauen?«

Die Frau blieb gebannt stehen und zupfte ihren Gemahl am Ärmel. Der Mann schüttelte missbilligend den Kopf, aber sie wollte nicht weitergehen.

»Ach, komm doch, Percy, er hat mich auserwählt! Ich will die Erste sein!«, quakte sie. »Bitte, mein Liebchen. Komm, wir sehen es uns an.«

»Ja, mein Herr, hört auf die kleine Dame«, sagte Kail auf eine Art, die er für manierlich hielt. »Ihr könnt es Euch ebenfalls ansehen. Und es wird Euch nichts kosten. Seid die Ersten! Oder geht weiter.«

Der Mann mit der Brust wie ein Fass warf einen sehnsüchtigen Blick in Richtung des Monstrositätenkabinetts, schaute dann in das erwartungsvolle Gesicht seiner Frau und seufzte.

»Na gut, Grita, aber dann kommen wir zu spät zum Tor«, sagte er widerwillig.

Kail klatschte vor Freude in die Hände. Wie er erwartet hatte, bildete sich allmählich ein kleiner Auflauf, der bereit war, ein wenig später das Monstrositätenkabinett zu besuchen und vorher zu sehen, was sich in dem Wagen befinden mochte. Das Licht der Fackeln warf lange, huschende Schatten über das Öltuch und verlieh ihm das Aussehen eines bedrohlichen Tümpels, aus dem bald etwas Scheußliches auftauchen würde.

»Kommt an diese Seite, meine Dame«, sagte er zu der Frau, die nun eifrig zu der Stelle schritt, auf welche der Fischer gedeutet hatte. Der Mann folgte ihr laut seufzend. Kail warf einen Blick über die Schulter in Richtung Zirkus. Wie erwartet, hatte er die Aufmerksamkeit von so vielen Leuten errungen, dass der Bucklige am Tor neugierig wurde. Der Kartenabreißer murmelte einer der Wachen etwas zu. Der muskelbepackte Hüne schlüpfte durch das Tor und verschwand im Innern des Zirkus.

Kail wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Frau zu, die ungeduldig neben dem Wagen tänzelte. Er nahm einen so höflichen Ton wie möglich an.

»Seid Ihr bereit, meine Dame?«

Die Frau nickte eifrig.

»Achtet darauf, innerhalb der Reichweite Eures prächtigen Gemahls zu bleiben. Das hier ist ein wildes Tier.«

»Mach endlich voran«, brummte ihr Mann.

Kail schaute noch einmal in die Menschenmenge und nickte, als er sie für groß genug hielt.

»Also gut. Seht Euch den Wundersamen Fischjungen an!«

Er packte das Öltuch und zog es hoch, sodass die Frau und ihr Gemahl in das Innere des Wagens schauen konnten, während der Rest der Umstehenden die Gesichter der beiden beobachtete.

Der Mann und die Frau spähten in die Tiefen des Wagens.

Zuerst erblickten sie nur Dunkelheit. Die Frau stellte sich auf die Zehenspitzen und beugte sich vor, um besser sehen zu können, während ihr Mann die Arme verschränkte und verärgert wirkte.

»Ich seh gar nichts«, sagte er griesgrämig.

»Ich auch nicht ...«

Gerade als die Frau die Worte ausgesprochen hatte, sprang die Kreatur im Wagen mit aller Kraft auf sie zu und zischte und kreischte wild. Schwarzes Wasser ergoss sich zwischen den weichen, gelben Zähnen aus ihrem an den Rändern offen stehenden Mund, und die umwölkten Augen waren erfüllt von mörderischer Wut.

Beide wichen vor Entsetzen zurück und kreischten gemeinsam auf. Das Gesicht der Frau war ganz grau geworden. Schluchzend verbarg sie sich hinter ihrem Mann, doch er vermochte ihr nicht zu helfen, denn er wirkte wie angewurzelt und kreischte wie ein Affe.

Diese Enthüllung hatte den erwünschten Erfolg. Das Entsetzen des Mannes und seiner Gemahlin waren so echt, dass eine Welle des Grauens über die ganze Zuschauerschaft hinwegbrauste, die vor Angst aufkeuchte, auch wenn niemand sonst das Ungeheuer in dem Wagen gesehen hatte.

Kail kicherte über das Entsetzen, das sich auf Bächlins Gesicht breit gemacht hatte. Die Welle des Schreckens hatte auch seinen Gefährten erreicht. Er zog das Öltuch wieder über den Wagen.

»In Ordnung«, rief er der Menge zu, die sich um ihn versammelt hatte und wegen der Schreie auf das Dreifache angewachsen war. »Wer ist der Nächste?«

Bächlin hatte sich inzwischen wieder erholt und beobachtete das Tor. »Kail«, murmelte er, »er kommt.«

Ohne hinzusehen, nickte Kail. »Ihr, mein Herr?«, fragte er rasch und zog einen großen, stämmigen Mann an den Rand des Wagens. Die Leute, die in seiner Nähe gestanden hatten, traten hastig zurück.

Gerade als der Mann zum Beobachtungsplatz gelockt wurde, traten der Zirkusdirektor und zwei seiner Aufseher in den Kreis der Zuschauer. Kail wartete mit der Enthüllung, bis der Zirkusdirektor nahe genug stand. Als er nur noch wenige Schritte entfernt war, zog der Fischer das Öltuch wieder fort und rief damit ein ersticktes Keuchen und einen Schrei echten Grauens aus der Tiefe des stämmigen Mannes hervor.

Die Bauernmenge schwatzte in einer Mischung aus Erregung und Angst durcheinander. Der Zirkusdirektor bahnte sich einen Weg, gefolgt von seinen Aufsehern, und versuchte das Geplapper zu übertönen und die Gruppe zu überzeugen, in den Zirkus zu kommen, doch das Versprechen eines kostenlosen Blicks auf ein offenbar scheußliches Monstrum erweckte in jedem den Wunsch, es mit eigenen Augen zu sehen.

»Was macht ihr hier?«, wollte der Inhaber des Zirkus von Kail wissen, der die Ereignisse mit einem Ausdruck selbstgefälliger Zufriedenheit verfolgte.

»Nun, wir bieten Euren Zirkusbesuchern eine kleine ... eine kleine ...«

»Nebenvorstellung?«, schlug Bächlin vor.

Kail kicherte. »Genau! Eine Neben Vorstellung, neben dem Zirkus.« Er schaute von der ungestümen Menge, die nun gespannt darauf war, wer als Nächstes in den Wagen spähen durfte, zu dem blassen Zirkusdirektor und seinen Schlägern und bedachte den Mann mit einem anmaßenden Blick. »Nun werdet mal nicht unverschämt, Herr Zirkusdirektor«, sagte er herablassend. »Schließlich wart Ihr es, der mich hierher gebracht hat. Ich habe Euch dieses Ungeheuer zuerst angeboten, aber Ihr hattet es ja nicht nötig, zu unserer Verabredung zu erscheinen.«

Der Zirkusdirektor drängte sich durch die Menge und kam an die Seite des Wagens, wo Kail stand. »Ich will es sehen«, forderte er und ergriff den Rand des Öltuchs.

»Na, na«, tadelte Kail ihn und schlug seine Hand fort. »Für Euch ist es nicht kostenlos, Zirkusdirektor. Ihr habt von mir Geld gefordert, damit ich Eure Vorführung sehen kann. Da ist es nur gerecht, wenn Ihr für meine nun eine Krone bezahlt.«

Die erregte Menge murmelte Zustimmung.

Unmenschliche Laute drangen unter dem Öltuch hervor.

Das Gesicht des Zirkusdirektors entspannte sich. »Ich habe kein Geld dabei«, meinte er mürrisch.

Kail nickte. »Das stimmt vielleicht sogar. Also werde ich Euch zeigen, wie ein Ehrenmann handelt. Obwohl Ihr mich so grob behandelt habt, will ich Euch die Krone erlassen. Aber wenn Ihr meinen Fischjungen kaufen wollt, müsst Ihr meinen Preis zahlen plus die Krone plus die halbe Krone, die Ihr von mir verlangt habt.« Er schaute sich in der wachsenden Menge nach Unterstützung um. »Ist das gerecht?«, fragte er die Versammelten. Ein Chor der Zustimmung erhob sich.

»In Ordnung«, knurrte der Zirkusdirektor. »Und jetzt zeig mir deine verdammte Missgeburt.«

Kail lächelte breit und trat beiseite. Er verneigte sich und deutete höflich auf den Wagen. »Seid mein Gast, Herr.«

Der Zirkusdirektor hob die Abdeckung.

Ein blasser Arm schoss aus den Eingeweiden des Wagens hervor. Die kranke Haut war beinahe grün im flackernden Licht der Fackeln. Einen Augenblick später folgte der missgestaltete Kopf. Die großen, umwölkten Augen blitzten, der groteske Mund stieß zischende und kreischende Laute aus, die eindeutig unmenschlich waren und vielleicht sogar einen dämonischen Ursprung hatten. Das Wesen krallte sich an dem Zirkusdirektor fest, packte ihn an der Jacke und zog ihn zu sich. Der Mann machte sich frei und wich zurück. Die Kreatur schlug hilflos nach Kail, bevor sie wieder in die Tiefen des Wagens zurücksank.

Die Menge keuchte auf; die Zuschauer in der ersten Reihe drückten und drängelten, um aus der Reichweite des Wagens zu gelangen.

Nur der Zirkusdirektor stand still und reglos da. Er wandte sich an Kail, der seine Freude nicht verbergen konnte.

»Wie viel willst du dafür haben?«, fragte er angespannt.

Kail tat so, als denke er nach. »Nun, heute Nachmittag hatte ich vor, fünfzig Kronen zu verlangen«, sagte er und fuhr fort, als er das entsetzte Atemholen des Zirkusdirektors vernahm: »Aber da Ihr so grob zu mir wart, beträgt der Preis nun hundert Goldkronen. Plus zwei.«

Der Zirkusdirektor wollte etwas entgegnen, doch dann bemerkte er die Menge, die nun eifrig dem Monstrositätenkabinett entgegenströmte, und überlegte es sich anders.

»Abgemacht«, sagte er. Er gab einem seiner Wächter ein Zeichen, und der Mann verschwand in Richtung der äußeren Vororte von Bethania.

»Wir geben Euch eine Stunde«, sagte Kail und kletterte zurück in den Wagen. »Mein Freund Bächlin würde gern die Vorführung besuchen, falls Ihr nichts dagegen habt. Danach werden wir verschwinden, entweder mit unserem Geld und ohne unseren Fischjungen, oder ohne es und mit ihm. Wenn also Euer Lakai nicht pünktlich mit dem Geld ...«

»Er wird rechtzeitig zurückkommen«, presste der Zirkusdirektor durch die Zähne.

»Gut«, meinte Kail und streckte sich auf der Wagenplanke. »Und weil ich Euch beweisen will, was für ein großzügiger Bursche ich bin, gebe ich Euch seine Fische kostenlos dazu. Sie sind seine Nahrung, auch wenn er Aale bevorzugt. Ihr solltet Verabredungen besser einhalten.«

Die Kreatur wurde im Schutz der Dunkelheit übergeben, als der Zirkus für die Nacht geschlossen hatte. Sie hatte gezischt und gespuckt, doch ihre weichen Knochen und ihre Schwächlichkeit hatten die Übergabe recht einfach gemacht.

»Vergesst nicht, das Geschöpf feucht zu halten«, hatte Kail dem Zirkusdirektor geraten, als es in eine Leinwandschlinge gelegt und durch das Tor in die seltsame Welt des Monstrositätenkabinetts gebracht wurde.

»Es trocknet leicht aus.«

»Nimm dein Geld und verschwinde«, sagte der Zirkusdirektor und sah zu, wie die Aufseher die Gestalt in eines der Zelte trugen. Er drehte sich um und folgte ihnen ohne ein weiteres Wort.

Als sie später in dieser Nacht die transorlandische Straße erreicht hatten und auf dem Rückweg zur Westküste waren, sprach Bächlin endlich. Er hatte stundenlang vor sich hingestarrt und zu verstehen versucht, was er hinter dem Tor des Zirkus gesehen hatte.

»Da drin war eine ... Frau mit zwei ... zwei ...

Schlitzen«, flüsterte er und deutete zwischen seine Beine. Er schüttelte den Kopf und versuchte diesen Anblick aus seinen Gedanken zu vertreiben.

Kail lachte laut auf. »Gut, dass ich mein Gold behalten habe, Bächlin«, sagte er in rauem Ton. »Man will doch nicht seine >Münze< in einen dieser >Schlitze< stecken, oder?«

»Und eine hat Menschenfleisch gegessen«, fuhr Bächlin fort, der immer noch bemüht war, die Bilder aus seinem Kopf zu vertreiben. »Überall um sie herum abgetrennte Arme, und sie hat mit den Zähnen an dem Fleisch und den Fingern gezerrt ...«

»Hör auf damit«, befahl ihm Kail. »Ich will unser Glück genießen.« Er klopfte sich gegen die Brust, an der er seine Geldbörse trug, und spürte dabei etwas Scharfes über die Haut oberhalb der Rippen kratzen. Er griff unter sein Hemd und zog die vielfarbige, ausgefranste Scheibe hervor, die er dem Geschöpf abgenommen hatte. Hell und bunt leuchtete sie im Licht der untergehenden Mondsichel.

»Schau mal einer an«, sagte er freudig; er hatte diesen seltsamen Gegenstand völlig vergessen. »Da haben wir ja noch eine Erinnerung an unseren Fischjungen.«

»Hattest du nicht versprochen, sie ihm zurückzugeben?«, fragte Bächlin.

Kail zuckte die Achseln. »Ein Versprechen einem Fisch gegenüber braucht man wohl kaum einzuhalten«, sagte er lässig. »Ich mache ihnen jeden Tag Versprechungen und locke sie damit in meine Netze. Diese Versprechen halte ich ebenfalls nicht. Außerdem wird der Zirkus längst weitergezogen sein, wenn wir jetzt zurückfahren sollten.« Er drehte die Schuppe in der Hand und bewunderte sein eigenes Gesicht in der spiegelnden Oberfläche.

»Haben sie gesagt, wohin sie als Nächstes gehen wollen?«

Kail dachte kurz nach und versuchte sich zu erinnern. Schließlich nickte er.

»Nach Sorbold«, sagte er.

Fast den ganzen Rest des Tages legten sie in ihrem üblichen Schweigen zurück. Kail plante, wie er seinen Anteil an ihrem Vermögen ausgeben würde, und Bächlin versuchte zu vergessen, wie sie dazu gekommen waren.

10

Faron erwachte im Wasser. Das Geschöpf blinzelte. Es war dunkel im Innern des Zeltes. Faron erkannte verschwommene Umrisse durch das milchige Glas des Behälters, in dem er sich befand. Unter geringer Anstrengung glitt er an die Oberfläche und holte Luft. Dabei schlug sein weicher Schädel gegen eine verstärkte Leinwand, die um das Glas gebunden war.

Er versuchte sich zu erinnern, wie er an diesen Ort gekommen war, doch das Bild in seinem schwachen Verstand war undeutlich und schmerzlich. Faron dachte daran zurück, wie er vor dem Wagen in eine Art Schlinge gelegt worden war und zu ertrinken gefürchtet hatte, als man ihn in den Tank geworfen hatte, doch alles andere war unklar für ihn.

Er schlug hilflos gegen das Glas und drückte die gebogenen Hände in sinnloser Anstrengung gegen die Leinwanddecke. Nach wenigen Augenblicken gab er erschöpft auf. Wenigstens befand er sich nicht mehr unter der sengenden Sonne, sondern durfte Wasser ohne Salz genießen.

Der Gedanke an Salzwasser machte Faron traurig. Das letzte Mal, dass das Geschöpf seinen Vater gesehen hatte, war an Bord eines Schiffes gewesen. Er war wütend an Land gegangen und nie wiedergekommen. Faron hatte ihn durch die Todesschuppe in einen tiefen Abgrund gleiten sehen. Der Fürst Rowan, Yl Angaulor, hatte ihm den Zutritt zum ewigen Frieden verweigert. Der Tod seines Vaters hatte Faron das Herz gebrochen. Tiefe Verzweiflung hatte eingesetzt, doch nur für kurze Zeit.

Die Trauer war mit der Gezeitenwelle fortgespült worden, die seinem Vater in die Unterwelt gefolgt war. Faron war unter Deck gewesen, in einem Tümpel aus glimmerndem grünem Wasser in der Dunkelheit des Schiffsbauches, als die Welle das Schiff getroffen hatte. Kurz zuvor hatte er Schreie gehört, aber er hatte nicht gewusst, was dort oben vor sich gegangen war, bis das Schiff heftig geschlingert hatte. Der Tümpel war ausgelaufen und Faron in den Schiffskörper geschleudert worden. Er hatte das Bewusstsein verloren und war irgendwann im Meer aufgewacht, umgeben von Treibgut und ohne Anzeichen eines anderen lebenden Wesens. Und so war es lange Zeit geblieben. Er hatte das brennende Salz und die donnernden Wellen ertragen, bis er bewusstlos in einem Fischernetz an Land geholt worden war.

Die Zeltklappe wurde zurückgezogen; Licht drang herein. Faron zuckte zusammen.

Eine kräftige Frau, gekleidet in viele Lagen zerrissener Blusen, befleckter Schürzen und zerfetzter Röcke, betrat das Zelt. In ihren scharfnageligen Händen hielt sie ein Tablett. Sie trug keine Schuhe; ihre gewaltigen Füße, doppelt so groß wie normal, standen in einem seltsamen Winkel ab und waren platt und mit Schwielen überzogen. Zwischen den Zehen schienen sich Schwimmhäute auszubreiten.

Sie kam geradewegs auf den Tank zu und spähte hinein. Faron wich zur rückwärtigen Wand und trat wild das Wasser. Die Frau zog die gerunzelten Lippen zurück und entblößte einen beinahe zahnlosen Mund; die wenigen Zähne, die sie noch hatte, waren entweder schwarz oder abgebrochen.

»Bist wach! Ach, Kleines, Emmi is so froh, dasses dir besser geht.«

Die Frau setzte das Tablett auf dem schmutzigen Boden ab und gluckste mitfühlend.

»Na, na, Kleiner, hast nix zu befürchten. Die alte Emmi würd dir nie was tun.« Sie löste den Knoten, der die Leinwand über dem Tank hielt, hob sie über ihren Kopf und warf sie auf den Boden.

Faron hob abwehrend den Arm und zischte die seltsame Frau an. Sie zuckte nicht zusammen, sondern verschränkte bloß die Arme vor der Brust und betrachtete den Neuzugang zärtlich.

»Hör auf damit, mein Kleiner, mein Süßer. Hast nix zu befürchten. Hungrig?«

Farons umwölkte Augen verengten sich. Er schaute sie misstrauisch an und nickte dann vorsichtig.

»Armer Kleiner. Hab dir ’n paar schöne Fische mitgebracht, lebende. Wülste?«

Eine Mischung aus Hunger und Erregung trat in Farons Blick. Die Frau kicherte darüber, zog das Tuch von dem Tablett und enthüllte eine kleine Schüssel voller Goldfische. Sie hielt sie vor Farons Gesicht und gluckste vor Vergnügen, als das Geschöpf in Vorfreude sabberte und jaulte. Sie streckte einen langen, krallenbewehrten Finger aus, spießte mit einer so schnellen Bewegung, dass Faron ihr nicht folgen konnte, einen der Fische auf und hielt das zappelnde Tier über den Tank.

»Hier, mein Schönchen, mein Süßer«, flüsterte sie. »Komm und iss.«

Faron schwamm zum hinteren Teil des Tanks und dachte nach. Schließlich siegte der Hunger über das Misstrauen, und das Geschöpf kam wieder hervor und drückte sich gegen die Vorderwand des Tanks. Mit zuckenden Lippen griff Faron nach oben und pflückte den zitternden Fisch vom Nagel der Frau. Er erbebte vor Lust, als der Fisch durch seine Kehle in den Magen glitt, der seit dem Schiffbruch nichts als Hunger gekannt hatte.

Draußen vor dem Zelt waren Stimmen zu hören, als zwei Männer vorbeigingen.

»Habt ihr Entenfuß-Emmi gesehen? Der Zirkusdirektor sucht nach ihr.«

»Ja, sie ist ins Zelt gegangen, um den Neuen zu füttern.«

Die Zeltklappe wurde wieder zur Seite gezogen. Faron wich vor dem Licht zurück. Entenfuß-Emmi blickte den Mann, der die Klappe geöffnet hatte, finster an.

»Emmi ...«

»Hab ihn gehört. Sag ihm, er soll seine Streifenhose anbehalten, hab zu tun. Muss den Neuen füttern«, sagte sie grob. Sie wandte sich wieder Faron zu, und das Stumpfzahnlächeln legte sich erneut über ihr Gesicht.

»Tut mir so Leid, mein Liebster, komm doch wieder her. Hier is noch einer.« Sie spießte einen zweiten Fisch auf und hielt ihn hoch.

Nach kurzem Zögern kehrte Faron zu ihr zurück und erlaubte ihr, einen Fisch nach dem anderen aufzuspießen und sie hochzuhalten, damit er sie essen konnte. Ihr schien die Berührung von Farons Lippen nichts auszumachen; im Gegenteil, es machte ihr Spaß, die zuckenden Fische verschwinden zu sehen, die allmählich seinen Hunger stillten. Sie sprach sanft mit Faron und sang ihm leise etwas vor, wie es eine Mutter bei ihrem Kind machte.

Sie war so sanft und freundlich; es war nach dem langen Schwimmen im Meer und den Misshandlungen an Land so schön, dass es Faron eine Erinnerung zurückbrachte – die Erinnerung an den Vater, der sich um sein Geschöpf so zärtlich gekümmert hatte, auch wenn er manchmal wütend und grausam gewesen war. Da stieg in ihm ein tiefes Gefühl von Verlust auf, wie er es noch nie verspürt hatte, und eine Träne rollte aus dem umwölkten Auge und über die faltige Wange.

Entenfuß-Emmis grässliches Lächeln machte einem Ausdruck mitleidiger Besorgnis Platz.

»Na, na«, sagte sie rasch, setzte die leere Fischschüssel ab und wandte sich wieder der weinenden Kreatur zu.

»Was is denn los, Liebchen? Die alte Emmi is doch hier, und sie wird nich zulassen, dass dir einer was tut.« Sie streckte die Hand aus und ballte vorsichtig die Finger mit den langen Nägeln zu einer Faust, damit sie das Geschöpf nicht kratzte. Dann wischte sie ihm ganz sanft mit den Knöcheln die Träne von der Wange. »Nich weinen, mein Liebchen, mein Schönchen. Bald fahren wir wieder.«

Farons Augen flogen auf, und plötzlich lag Erkennen in ihnen.

Entenfuß-Emmi zog darauf die Brauen bis in die Stirn.

»Was is los, Liebchen?«

Die an den Seiten aufklaffenden Lippen zitterten, und die verkrüppelten Hände schlugen gegen die Brust. Nun zog Emmi die Brauen verwirrt zusammen. »Fahren? Was is mit fahren?«

Faron zeigte auf sich. Er nickte und schüttelte dann wieder den Kopf.

Entenfuß-Emmi begriff allmählich. »Dein Name, nich wahr? Fahren?«

Faron schüttelte erneut den Kopf.

»Fahrn? Foahrn? Fern?« Sie probierte einiges, bis sie schließlich zu »Faron« kam und das Geschöpf im Tank beinahe rasend vor Freude wurde.

Die Frau klatschte begeistert.

Sie streckte die Hand aus und streichelte erneut mit den Knöcheln die Wangen der Kreatur. »Freut mich, dich kennen zu lernen, Faron. Bist du Mann oder Frau?«

Das Geschöpf blinzelte; Unverständnis lag in seinem Blick.

Entenfuß-Emmi schüttelte den Kopf. »Egal, macht nix. Das wissen hier sowieso viele nich. Keine Sorge, Liebchen, Emmi passt auf dich auf, mehr brauchst du nich.« Sie kam näher; ihre Kleiderlumpen raschelten, als sie sich gegen das Glas presste. »Denk dran, Liebchen: Du bist so gut wie jede andere lebende Seele auf der großen, weiten Welt. Sie zahlen vielleicht, um solche wie dich zu sehen, um dich auszulachen und Sachen nach dir zu werfen, aber wer weiß, vielleicht bist du da, wo du herkommst, so was wie ’n König! Vielleicht biste in irgend’nem fernen Meer der Herr über all die Fische, die da schwimmen, un’ auch über die Austern un’ Muscheln. Un’ wer sin’ schon die, die über dich lachen? Bauerntrampel, allesamt. Hirnlose Bauern, die ihre elenden Kupfermünzen dafür ausgeben, andere auszulachen. Dabei wollense nur ihr eigenes Leben vergessen, weil’s so sinnlos is.« Ihr Lächeln wurde breiter und ihre Stimme wärmer.

»Aber du un’ ich, mein Liebchen, wir spielen vor Königen un’ Königinnen, vor Herren un’ Herrinnen, Liebchen! Wir gehen in die großen Städte un’ Paläste, die diese Elenden nie sehen werd’n. Kann dir also egal sein, wennse über dich lachen, mein Liebchen. Wer zuletzt lacht, lacht am besten, un’ das sin’ wir.«

Das Monstrositätenkabinett blieb drei weitere Nächte in Bethania, eine Nacht länger als geplant. Jeden Abend stellten sich die Leute in langen Schlangen an, um den schrecklichen Fischjungen zu sehen. Die Nachricht von ihm hatte sich bis in die innere Stadt verbreitet, und die Neugier war so groß, dass sogar der Zirkusdirektor, der sich sonst eng an seinen Zeitplan hielt, der Versuchung nicht widerstehen konnte.

Aber nachdem er drei Nächte hintereinander den Zirkus von Sonnenuntergang bis in die frühen Morgenstunden geöffnet hatte, entschied er, dass es auch so etwas wie zu viel Glück gab. Er befahl seiner erschöpften Menagerie zu packen und die Pferde anzuspannen.

Ein ganzes Reich erwartete sie, ein raues Land, in dem Handel und Wirtschaft aller Art, ehrenhaft und weniger ehrenhaft, blühten.

Sorbold.

11

Haguefort — Navarne

Rhapsody war während des gesamten Mahls zu Gwydions Ehren blass und schweigsam. Nachdem das Essen abgetragen war, hoffte Ashe, sie werde einiges von ihrer Lebenskraft wiedererlangen und ihr Magen werde sich beruhigen, aber sie blieb auch noch angespannt und still, als die Reden begannen.

Ashe hatte sich unablässig Sorgen gemacht, seit er in die Große Halle zurückgegangen war und dort seine Frau im Gespräch mit Jal’asee angetroffen hatte. Rhapsodys Empfänglichkeit für die Musik des Lebens führte meistens dazu, dass die Schwingungen in ihrer Umgebung zu ihrer Stimmung passten. Seit ihrer Rückkehr zu Heim und Familie war sie mit sich im Einklang gewesen. Doch der Drachensinn in Ashes Blut verriet ihm nun, dass sie hinter ihrem ruhigen »Hofgesicht« entsetzlich nervös war. Was immer der Botschafter der Meeresmagier ihr gesagt hatte, hatte sie unbeschreiblich aufgeregt, doch sie hatte ihm nicht verraten, worum es sich handelte.

Als nun die einzelnen Herzöge Rolands nacheinander aufstanden und seinem jungen Mündel Worte der Weisheit und Wertschätzung übermittelten, ergriff Ashe schweigend Rhapsodys Hand. Sie war heiß, entweder durch die Schwangerschaft oder das Element des reinen Feuers, das sie vor langer Zeit auf ihrer Reise durch den Bauch der Erde mit Achmed und Grunthor in sich aufgenommen hatte. Außerdem war sie nass. Es war Angstschweiß. Er beugte sich wie beiläufig zu ihr hinüber und flüsterte ihr ins Ohr: »Möchtest du, dass ich dich ganz höflich entschuldige?« Rhapsody schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ist mit dir alles in Ordnung, meine Liebe? Du machst mir Angst.«

»Ich muss Zeit und Kraft finden, um noch einmal mit dem Botschafter der Meeresmagier zu sprechen«, flüsterte Rhapsody. Ashe hörte ihre Stimme nur in seinem Ohr; es war ein Kunstgriff der Benennerin.

»Morgen«, antwortete er ruhig. »Ich glaube, du solltest deine Ansprache halten und dich dann zur Ruhe begeben. Ich frage Jal’asee, ob er morgen früh nach deinem Gebet in den Garten kommt. Reicht das?«

Rhapsody seufzte und nickte zögernd. Als die Herzöge von Roland schließlich mit ihren Glückwünschen an Gwydion fertig waren und Rial von Tyrian sowie die übrigen Botschafter der befreundeten Staaten auf sein Wohl getrunken hatten, erhob sie sich ein wenig schwankend und wandte sich an ihren Adoptivenkel.

»Gwydion Navarne, du bist der Sohn eines großen Mannes und der Namensvetter eines anderen Großen. Du hast dein ganzes bisheriges Leben diese beiden Namen getragen und die Ehre, die mit ihnen verbunden ist. Am letzten Tag des Herbstes wirst du endlich zu deinem eigenen Namen kommen. Ich habe keinen Zweifel, dass die Sänger und Benenner in ihren zukünftigen Geschichten von großen Taten, von Ehrenhaftigkeit, Hochachtung, Tapferkeit, Treue, Führerstärke und Freundlichkeit gegenüber deinen Gefährten berichten werden. Du hast all diese Charakterzüge schon gezeigt, noch bevor du in dein Geburtsrecht eingesetzt wurdest. Trage sie weiter durch dein Leben, als Mann und als Herzog von Navarne.« Sie erblasste und griff nach der Hand ihres Gemahls. »Es tut mir Leid; ich muss mich jetzt hinlegen.« Ashe wollte aufstehen, aber sie bedeutete ihm, sitzen zu bleiben. »Nein, nein, bitte bleibt alle und feiert weiter. Ich will, dass mein Enkel anständig gefeiert wird, auch wenn ich heute Abend keine Stimme habe, um ein altes Lied zu singen. Ich entschuldige mich bei dir dafür, Gwydion, und wünsche dir alles Gute.« Schwach hob sie ihr Glas in Gwydion Navarnes Richtung, prostete ihm zu, lächelte ihn an und warf ihm einen Kuss zu. Dann raffte sie ihre schweren Samtröcke.

Ashe stand auf und ergriff ihren Arm. »Ich bin gleich wieder da«, sagte er zu den Gästen, »sobald die Herrin ruht. Bitte bleibt alle hier.« Die Herzöge und Botschafter erhoben sich, als das Paar den Raum verließ, und kehrten dann zu ihren Unterhaltungen zurück.

»Hast du Schmerzen?«, fragte Ashe, als sie durch die prächtigen Korridore von Haguefort auf die große Treppe zugingen, vorbei an liebevoll aufgestellten Rüstungen, Wappen, Gobelins und anderen Antiquitäten, die Stephen Navarne, der cymrische Geschichtsforscher, gesammelt hatte. »Mehr als üblich? Geht es dem Kind nicht gut?«

Rhapsody verlangsamte ihre Schritte, als sie am Fuß der Treppe ankamen, und schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte sie, während ihr Gesicht noch blasser wurde. »Ich glaube, ich bin durch die Ereignisse etwas durcheinander gebracht.«

»Du kannst mir davon erzählen, sobald ich dich ins Bett gebracht habe«, sagte Ashe und legte den Arm über ihren Rücken, als sie den Fuß auf die unterste Treppenstufe setzte. Dann überlegte er es sich anders, hob sie in seine Arme und trug sie die Treppe hinauf. Ihre mangelnde Gegenwehr beunruhigte ihn, denn Rhapsody hasste es, getragen zu werden.

Ein Palastwächter öffnete die Tür zu ihrem Turmzimmer, als Ashe sich ihm näherte, und schloss sie hinter dem Paar wieder, worauf er sich leise aus dem Korridor zurückzog.

Ashe trug Rhapsody zu ihrem gemeinsamen Bett, legte sie nieder und zog beim Kerzenlicht die Bettvorhänge zu. Dann setzte er sich neben sie und schaute ihr tief in die Augen, während er versuchte, ihren Zustand zu erfühlen. Er erlaubte seinem Drachensinn, seinem Erbe, das er seiner Urgroßmutter Elynsynos zu verdanken hatte, über seine Frau zu schweifen und sie auf eine Art und Weise zu untersuchen, die dem bloßen Auge unmöglich war. Ihr Atem ging flach. Es war ein Zeichen von Unbehagen, das sie während ihrer Schwangerschaft oft zeigte. Manwyn, die Seherin der Zukunft, das Orakel von Yarim, hatte ihr Schmerzen vorhergesagt, aber gleichzeitig eine beruhigende Aussage gemacht.

Die Schwangerschaft wird nicht leicht, aber sie wird Rhapsody weder umbringen noch sie verletzen. Als Ashe seine Frau nun betrachtete, wie sie nach Luft rang und die Zähne zusammenbiss, um ihre Schmerzen unter Kontrolle zu halten, fragte er sich wütend, was das Orakel wohl mit »verletzen« meinte.

Rhapsodys Augen, die sich zu einem Smaragdgrün verdunkelten, wenn sie wütend, belustigt oder tief berührt war, hatten nun die Farbe von Frühlingsgras. Ashe bemerkte, dass sich ihr Blut veränderte, während das Kind in ihr wuchs. Der Drachenanteil seines Nachkommens war stark und deutlich daran erkennbar, dass er die Umgebung, in der er heranwuchs, bereits zu beherrschen versuchte.

Ihm drehte sich der Magen um, als er an die warnenden Worte dachte, die sein Vater Llauron ihm vor der Hochzeit über den Tod von Ashes Mutter im Kindbett mitgegeben hatte.

Ich vermute, du weißt, was deiner eigenen Mutter passiert ist, als sie dem Kind eines Drachen das Leben geschenkt hat. Ich habe dir die Einzelheiten bis jetzt erspart. Willst du sie hören? Willst du wissen, wie es ist, einer Frau, die man zufälligerweise auch noch liebt, zuzusehen, wie sie unter Schmerzen stirbt, während sie versucht, dein Kind zur Welt zu bringen? Ich will es dir gern beschreiben. Da das Drachenjunge instinktiv die Eierschale durchbrechen und sich mit den Krallen einen Weg hinausbahnen will...

Halt. Seine eigene Stimme war in Drachenlauten ertönt.

In den Augen seines Vaters hatte ein grimmiges Licht geleuchtet, aber da war noch mehr gewesen – Mitgefühl vielleicht.

Dein Kind wird noch drachenähnlicher sein als du; also sind die Aussichten der Mutter auf ein Überleben nicht groß. Wenn schon deine eigene Mutter es nicht geschafft hat, wie wird es dann wohl deiner Gemahlin ergehen? So musste ich mit Entsetzen und der größten Trauer meines Lebens dem zusehen, was eigentlich meine größte Freude hätte sein sollen. Und ich will nicht, dass du meinen Fehler wiederholst. Und ich will nicht, dass Rhapsody für unsere Welt verloren geht.

Rhapsody hatte sich jedoch von den Warnungen seines Vaters nicht in ihr gemeinsames Leben hereinreden lassen wollen. Sie hatte darauf bestanden, seine Großtante, das Orakel, zu besuchen und es zu fragen, wie ihr Schicksal aussähe, wenn sie ein Kind haben wollten. Manwyn, die Seherin der Zukunft, konnte nicht lügen, und ihre Antworten schienen recht klar gewesen zu sein. Rhapsody litt tatsächlich infolge der Schwangerschaft, aber es schien ihr jeden Tag etwas besser zu gehen. Zumindest konnte sie wieder sehen, während zu Beginn ihr Augenlicht ernsthaft gefährdet gewesen war. Ashe wusste, dass sie litt, und er hasste es, ertrug es aber, da es ihre eigene Wahl gewesen und sie glücklich damit war. Das Ergebnis würde alle Schmerzen rechtfertigen.

Doch nun schien sie durch das, was der Meeresmagier ihr gesagt hatte, stärker in Mitleidenschaft gezogen zu sein als durch alles, was mit ihrem Körper geschah. Er drückte sanft ihre Hand.

»Sag es mir.«

Rhapsodys Griff wurde fester. »Er weiß es. Jal’asee weiß, dass Achmed, Grunthor und ich durch die Erde von Serendair entkommen sind.«

Ashe blinzelte und dachte kurz nach. »In Ordnung«, sagte er schließlich. »Was ist schlimm daran, Aria?« Er redete sie mit dem Namen an, den er in ihren zärtlichsten Augenblicken benutzte. Es war der lirinische Ausdruck für »mein Leitstern«, und jetzt hatte er sie so genannt, weil er hoffte, es werde ihr Unbehagen ein wenig lindern. Rhapsody ließ seine Hand los und zog sich die Kissen hinter den Kopf. »Es war ein Geheimnis, das wir streng gehütet haben«, sagte sie beunruhigt, als ob die Worte sie schmerzten. »Außer uns dreien bist du die einzige lebende Person, die alle Einzelheiten unserer Reise an diesen Ort kennt – oder wenigstens hatten wir das bisher geglaubt.«

Ashe streichelte ihr Gesicht, zog ihr das Mieder aus und löste die Korsettstangen, damit sie freier atmen konnte.

»Ich verstehe, dass du aufgeregt bist, weil andere etwas wissen, was sie nicht wissen sollten«, sagte er, während er die Schnüre aus den Löchern zog, »aber wenn du es dir recht überlegst, wirst du erkennen, dass es nur ein Schock war, weil du geglaubt hattest, es sei ein Geheimnis. Was aber ist so schlimm daran?«

Rhapsody seufzte auf, als sich ihre Kleidung lockerte, und dachte über seine Worte nach. »Achmed war immer der Ansicht, dass wir diese Information geheim halten müssen«, sagte sie und hob ihren Körper an, damit Ashe ihr das schwere Samtüberkleid ausziehen konnte. Nun trug sie nur noch das leichtere weiße Hemd. »Ich glaube, es würde ihn wütend oder zumindest misstrauisch machen, wenn er erführe, dass jemand von einem so fernen und geheimnisvollen Ort wie Gaematria unsere Vergangenheit kennt.«

»Wann ist Achmed denn einmal nicht wütend oder misstrauisch?«, fragte Achmed scherzhaft und warf ihr Kleid auf einen Stuhl neben sich. Sein Drachensinn bemerkte Rhapsodys innerliches Zusammenzucken, denn ihre bäuerliche Herkunft hatte ihr einen Sinn für Ordnung vermittelt, den er, das Kind aus einer königlichen Linie und Sohn des Oberhaupts eines religiösen Ordens, nie gekannt hatte.

Rhapsody lächelte schwach. »Stimmt«, gab sie zu. »Aber mich macht es ebenfalls nervös.«

Ashe zog die warme Decke und die frischen Laken für sie zurück und steckte sie um ihren Körper fest, wobei seine Hand auf ihrem geschwollenen Bauch innehielt. »Wenn das Bankett vorbei ist, werde ich Jal’asee bitten, dich morgen nach deinen Gebeten zum Sonnenaufgang im Garten zu treffen«, sagte er. Er spürte die Bewegungen des Kindes in ihr und lächelte. »Dann erfährst du, was er weiß und ob es eine Bedrohung darstellt oder nicht. Die Meeresmagier bewahren viele Geheimnisse, die sowohl der Zeit als auch der Welt verloren gegangen sind. Ich vermute, dass deines bei ihm sicher aufgehoben ist. Doch das kannst du morgen früh selbst beurteilen. Bis dahin solltest du nicht mehr darüber nachdenken.« Er beugte sich vor und küsste sie sanft, dann senkte er die Lippen auf ihren Bauch und drückte auch ihrem gemeinsamen Kind einen Kuss auf, bevor er sich wieder erhob. »Schlaf jetzt, meine Liebe. Ich komme sehr bald zurück.«

Rhapsody packte ihn am Nacken und gab ihm einen weiteren Kuss, dann streichelte sie ihm über das Gesicht.

»Sehr gut«, sagte sie. »Bitte entschuldige mich bei Gwydion wegen meines armseligen Versuches einer Rede auf ihn. Wenn wir ihn in zwei Monaten zum Herzog ernennen, werde ich in besserer Form sein.«

»Ruh dich jetzt aus«, sagte Ashe, löschte die Kerzen und verließ das Zimmer.

Rhapsody drehte sich in der Dunkelheit auf die Seite und erlaubte dem Schlaf, sie fortzutragen. Ihre Träume waren voller beunruhigender Bilder aus den Abgründen ihres Geistes. Für eine Ewigkeit schien sie in Dunkelheit und Kälte gefangen und empfand die klamme Furcht, wieder durch den Bauch der Erde entlang der Axis Mundi, der Weltenachse, zu reisen und über die Wurzeln der Sagia zu kriechen, die ihr Volk als heilig verehrte. In ihrem Traum trat sie aus dem Boden hervor und kam in eine Welt auf der anderen Seite der Zeit, die im Griff von Terror und Krieg lag. Vor ihr rannten Leute in alle Richtungen davon. Sie kreischten vor Angst, und ihre Stimmen wurden von einer Kakophonie der Zerstörung geschluckt, die überall um sie herum loderte. Was für ein Krieg ist das?, fragte sie sich, während sie durch die Vernichtung schritt, die sie eingekreist hatte. Verkohlte Leichen bedeckten den Boden. Ist das der serenische Krieg, der meine Heimat nach unserer Abreise zerrissen hat, oder der cymrische Krieg, der dieses neue Land erschütterte, während wir noch durch die Erde reisten?

In der Ferne erhellte Feuerschein den Himmel. In ihrem Traum reckte sich Rhapsody und versuchte zu erkennen, was die Wolken beleuchtete. Sie glaubte, die Gestalt eines geflügelten, kreisenden Tieres zu sehen. Eine wogende Wolke aus schwarz-orangefarbenen Flammen, die vor Säure troff, strömte aus dem Rachen der Bestie. Das ist Anwyn, dachte sie benommen und warf sich im Schlaf herum. Das ist keiner der beiden Kriege. Das ist eine Erinnerung an den Kampf, der vor drei Jahren auf dem cymrischen Konzil stattfand, als die Drachin alle Gefallenen der Geschichte wiederbelebt und gegen uns in die Schlacht geschickt hat. Sie zwang sich, befreiter zu atmen, und erinnerte sich daran, dass diese Schlacht vorbei war. Die Drachin war schon lange tot. Ashes Drachengroßmutter lag in einem Grab vor Ylorc; sie war von Sternenfeuer aus dem Himmel getroffen worden.

Durch Rhapsodys Hand und die Macht der Tagessternfanfare, des Elementarschwertes des Sternenfeuers, das sie als Iliachenva’ar trug.

Doch die Erinnerung an Anwyns Vernichtung zerstreute ihre unbewussten Ängste nicht und vertrieb auch nicht die Träume von Zerstörung und Tod aus ihrem Kopf. Sie verpflanzte sie lediglich in die Gegenwart, wodurch Rhapsodys Herz noch heftiger schlug, während ihren gebannten Geist Bilder ihrer selbst trafen, wie sie vor einer Welle ätzenden Feuers davonlief, die Hände vor dem Bauch, zum Schutz des Kindes. In manchen Szenen schob sie das Kind vor sich her, in anderen trug sie es im Arm; manchmal war es noch in ihr, während sie sich in der Dunkelheit versteckte und es nach seiner Urgroßmutter rief und dadurch ihren Aufenthaltsort verriet. Jedes Mal, wenn sie einen neuen Zufluchtsort gefunden hatte, stöberte die Drachin sie auf. Immer wieder floh Rhapsody mit dem Kind, bis sie schließlich an sich herunterschaute und feststellte, dass sie allein und ihre Arme leer waren. Nun zeigten ihr die Träume eine wogende See, lodernde Schiffe und eine brennende Küste hinter der Uferlinie, einen Kontinent, ja, eine ganze Welt im Krieg. Große geflügelte Wesen kreisten über dem Land und schössen plötzlich auf die dunklen menschlichen Gestalten herab, die durch den Rauch rannten. Die Bestien pflückten sie vom Boden ab und nahmen die sich windenden Opfer mit in den Himmel.

Als Ashe zurückkehrte, war sie in Schweiß gebadet und sprach im Schlaf mit leiser, panischer Stimme. Er eilte zu ihrem Bett, nahm sie in die Arme und beruhigte sie, während seine Drachnatur die Albträume vertrieb und sie aus dem Äther verbannte, der Rhapsody umgab. Er flüsterte ihr tröstende Worte zu, bis ihre Atemzüge tiefer und gleichmäßiger wurden, ihr Fieber sank und sie traumlos an seiner Schulter weiterschlief.

Er lag lange Zeit wach, streichelte ihre feuchte Stirn, liebkoste ihre seidigen Goldlocken und fragte sich, was die Nachtmahre zurückgeholt haben mochte, unter denen sie früher schon gelitten hatte, von denen sie jedoch nun schon so lange befreit gewesen war. Vielleicht war es die noch nicht lange zurückliegende Entführung durch den verderbten Mann gewesen, der vor langer Zeit einen Pakt mit einem Dämon eingegangen war, um Unsterblichkeit zu erlangen, und dann nach ihr gesucht hatte. Selbst die Vernichtung ihres Entführers und ihre Rückkehr in die Geborgenheit hatten wohl kaum alles Grauen aus ihren Gedanken gelöscht. Vielleicht war es das, was sie nun plagte.

Schließlich glitt er selbst in Träume hinüber – in Träume, in denen er durch Wasser wanderte, durch den Ozean reiste, gestaltlos und ohne körperliche Beschränkungen, und mit dem Element sprach, an das er gebunden war, so wie Rhapsody an das Feuer gebunden war. Er hatte es in der Vergangenheit schon oft getan, war ins Meer gewatet und hatte seinen Körper durchlässig gemacht, während er zwischen den Wellen stand, damit Seele und Geist von allen Sorgen gereinigt wurden.

Während sie in der Dunkelheit der Bettkammer nebeneinander schliefen, ihre Herzen gleichzeitig, aber nicht gemeinsam schlugen und ihr Atem im Einklang ging, wussten sie nicht, dass zwar Ashe von der Vergangenheit träumte, Rhapsody aber von kommenden Dingen.

Als ihr Hunger gestillt war, stieg die Drachin wieder auf die kalten Gipfel.

Der Nachthimmel erstreckte sich endlos und voller Versprechungen. Sterne blinkten am dunklen Horizont, und über allem schien am Firmament die Aurora – pulsierende Bänder aus vielfarbigem Licht, die zur stillen Musik des Universums tanzten.

Die Drachin sog den frostigen Wind ein. Ich erinnere mich daran, dachte sie, während sie die gewundenen Lichtbänder in der Dunkelheit über ihr beobachtete. Die Nordlichter. Wie hell sie leuchten und wie kalt. Sie entsann sich, wie sie im Körper einer Frau unter ihnen gestanden hatte, unter dem schwarzen Himmel und den glitzernden Sternen, und zugesehen hatte, wie ihr Atem eisige Wolken in der Finsternis gebildet hatte, während sie über die Macht, die Schönheit und die ferne Majestät der Aurora nachgedacht hatte. Sie war ein Zeichen für die Macht des Äthers, jenes Elements, das vor der Welt geboren worden war, das die Sterne erleuchtete, das in der Erde und in der gewaltigen Leere des Weltraums brannte. Als ein Geschöpf mit Drachenblut in den Adern war sie in der Lage gewesen, das Wispern des Elements in ihr selbst zu spüren. Nun, in Drachengestalt, pulsierte es in ihr im Einklang mit den Schwingungen der Aurora.

Äther. Seine kalte Schönheit hypnotisierte sie. Aber es war auch die Macht des Äthers zusammen mit der des reinen Feuers, die sie auf ewig in diese Gestalt gebannt hatte – in diesen elenden, schlangenartigen Körper. Am fernsten Rand ihres Bewusstseins blitzte grell ein Erinnerungsfetzen auf.

Eine junge Erinnerung, nicht aus der alten Zeit, als sie noch eine Frau war, sondern aus den Tagen der Drachengestalt.

Sie flog, schwebte im warmen Wind und hielt etwas in ihren krallenbewehrten Klauen.

Eine nette Aussicht, nicht wahr, meine Dame? Wie gefällt dir der Ausblick von hier oben?

Ein Bild zuckte in ihrem Kopf auf und wurde gleich darauf von ihrer Haut aufgenommen. Es war der Blitz einer brennenden Waffe, eine stechende Wunde im Flügel und Schmerzen, als sengende Hitze durch sie hindurchfuhr und ihr das Fleisch aufriss. Die Pein hallte noch im Gewebe zwischen den hohlen Knochen des verkrüppelten Flügels wider. Unwillkürlich zuckte sie bei dieser Erinnerung zusammen Deine Seele sei verdammt, Anwyn.

Zu spät, hatte die Drachin geflüstert. Ihre eigene Stimme hallte in ihrer Erinnerung wider.

Sie folgte dem Pfad der Erinnerung zurück und schaute mit ihren inneren Augen auf die blutgetränkte Klaue. Sie hatte den Eindruck, dass die Kreatur, die sich in ihrem Griff wand, eine Frau war – eine kleine Frau mit goldenen Haaren, die eine Waffe aus Feuer schwang. Sie versuchte den Namen der Frau in ihrem Mund zu formen, aber er entzog sich ihr noch.

Hass, schwarz wie der Nachthimmel über ihr, brannte wie das kalte Feuer der Aurora in ihrem dreikammerigen Herzen.

Anwyn, dachte sie. Der Name rührte eine Saite in ihrer Erinnerung an. Anwyn.

Ihr Name.

Ihr eigener Name.

Und sie erinnerte sich.

12

Haguefort — Navarne

Der Morgen kroch durch die östlichen Fenster, ungebeten und unwillkommen.

Im grauen Licht der frühen Dämmerung richtete sich Rhapsody auf. Sie war benommen und dennoch ein wenig erfrischt. Sie drückte einen warmen Kuss auf die Wange ihres schlafenden Gemahls, lehnte sich zurück und beobachtete ihn eine Weile. In Liebe bewunderte sie sein Gesicht. Kinn und Wangen waren vom Schatten des Nachtbartes überzogen. Wenn er die Augen geschlossen hatte, war sein menschliches und lirinisches Erbe deutlicher als bei wachem Zustand zu erkennen. Die senkrechten Schlitze in seinen Augen waren das einzige unleugbare Zeichen des Drachenblutes in seinen Adern. Wenn er schlief, war er indes ein Mensch. Rhapsody ging das Herz auf bei diesem Anblick.

Als Ashe im Schlaf seufzte und sich zur Seite rollte, stand sie auf, fuhr mit der Hand sanft über seine Schulter und begab sich ins Ankleidezimmer, um sich für ihre Morgenandacht fertig zu machen.

Die Luft im Garten war kalt. Der Herbst kam, und die Erde kühlte sich zur Vorbereitung auf den bald einsetzenden, langen Schlaf allmählich ab. Wenn es in diesem Jahr wie immer war, würde der erste Schnee etwa eine Woche vor der Wintersonnenwende fallen und den mittleren Kontinent mit einer gleichmäßigen Frostschicht bedecken, die tief in den Boden einsank, bis nach dem Julfest eine kurze Tauperiode kam, während der das raue Wetter eine Mondphase lang aussetzte, bevor das Reich des Frostes zurückkehrte und bis zum Frühling andauerte. Diese Wärme im tiefsten Winter nahm einen besonderen Platz in Rhapsodys Herzen ein. Es war »Tau« gewesen, als sie, Achmed und Grunthor zum ersten Mal an diesen Ort gekommen waren. In der verhältnismäßigen Wärme der Zwischenperiode waren sie aus dem dunklen Bauch der Erde ans Licht gekrochen.

Doch bevor der Winter einsetzte, kam der Herbst, Erntezeit, ihre Lieblingsjahreszeit. Sie hatte die ersten Anzeichen dafür bei ihrer Rückreise von der Küste bemerkt, nach ihrer Entführung, als das Land von Gwynwald bis Avonderre gebrannt hatte. Nachdem Ashe und Achmed sie zurückgebracht hatten, war sie beinahe eine ganze Woche ans Bett gefesselt gewesen, bis sie aufbegehrt hatte und zum Fenster geeilt war, von wo aus sie rechtzeitig den Beginn des Herbstes miterlebt hatte. Die Blattspitzen der Bäume hinter dem Balkon ihres Turmfensters hatten erste Färbungen von Rot und Orange, Gelb und Braun angenommen.

Als sie nun über die gepflegten Gartenwege Hagueforts ging und auf die ersten Sonnenstrahlen am Horizont wartete, sog Rhapsody den Morgenwind ein, der mit dem Geruch nach Hickoryholz und Kiefern und dem scharfen Duft von brennendem Laub gewürzt war. Es erinnerte sie an das Zuhause ihrer Kindheit in Serendair, das Bauernland, in dem sie geboren war und wo der Herbst eine Zeit voller Dringlichkeit, Aufregung und Lebendigkeit gewesen war, weil das Jahr kürzer und die Tage dunkler wurden. Sie beobachtete nun den Himmel. Die Liringlas, die Sternensänger der Lirin, pflegten die Morgendämmerung mit Liedern zu begrüßen; sie spürten, wenn das Himmelblau des Horizonts am tiefsten war und den Aufgang der Sonne anzeigte.

Der erste Strahl des Morgens durchbrach den Horizont, schickte einen dünnen Lichtpfeil in die Wolken und badete sie in goldenem Licht. Rhapsody räusperte sich und setzte zu dem uralten Gebet an, dem Willkommenslied, das ihre lirinische Mutter ihr beigebracht hatte, während ihr menschlicher Vater bezaubert dabei gestanden hatte.

Sie sang das erste Morgenlied, wandte sich dann nach Westen und begann mit dem zweiten, dem Gesang, der den Morgenstern verabschiedete. Rhapsody schaute zu, wie das helle Sternenlicht im entflammenden Himmel schwächer wurde, und sang schließlich ihr letztes Lied, den Gesang an Seren, den Stern auf der anderen Seite der Welt, unter dem sie geboren worden war.

Ana, sang sie leise, mein Leitstern. Es war Tradition, dass jede Liringlas-Seele an den Stern gebunden war, der über den Tag ihrer Geburt herrschte. Der Seren war Rhapsodys Geburtsstern; es war der helle Himmelskörper, nach dem die Insel Serendair benannt worden war. Dieses Lied fiel ihr immer schwer, wenn sie es in ihrem neuen Land sang, denn sie konnte den Stern dabei nicht sehen. Er funkelte in der Dunkelheit eine halbe Welt weit entfernt, wenn hier die Sonne hoch am Himmel stand, und schlief im Licht des Tages, wenn Rhapsody unter den Sternen dieses neuen Landes stand. Rhapsody hatte an diesem Morgen das traditionelle Abendlied gesungen, weil sie ihren Geburtsstern ehren wollte, wenn er schien, obwohl sie ihn nicht sehen konnte.

Als sie das Namenslied des Sterns sang, hörte sie eine voll tönende, knisternde Stimme einfallen und in derselben Sprache singen.

Seren, si vol nira caeleus, toterdaa guiline meda vor tu.

Blut stieg ihr ins Gesicht. Sie brach den Gesang ab, wirbelte herum und sah JaFasee hinter sich stehen. Er lächelte freundlich, doch sein Gesichtsausdruck veränderte sich, als er ihre Reaktion sah.

»Bitte vergebt mir, Herrin«, sagte er und verneigte sich ehrerbietig. »Ich wollte Euch nicht stören.«

Rhapsody durchquerte den Garten. In einer unbewussten Geste des Schutzes legte sie eine Hand auf ihren Bauch.

»Woher ... woher kennt Ihr die lirinischen Gesänge?«, fragte sie beunruhigt und bemühte sich, in einem angemessenen Ton zu reden.

Jal’asee lächelte. »Ihr vergesst, Herrin, dass die meisten Lirin, die aus Eurer Heimat – unserer Heimat – flohen, mit der Zweiten Flotte segelten. Nachdem die Flotte in einem Sturm vom Kurs abgekommen war, reisten die meisten nicht bis zu diesem Kontinent weiter oder folgtem dem Rest der Flotte nach Manosse, sondern gingen in Gaematria an Land. Daher lebe ich mit einer großen Zahl Eurer Landsleute zusammen. Zweifellos mit mehr, als Ihr je gesehen habt, falls Ihr unter Menschen aufgewachsen seid.« Er steckte die langgliedrigen Finger in die Ärmel seiner Robe und trat vorsichtig auf sie zu, während die Sonne über den Horizont stieg und den Himmel strahlend blau färbte.

»Ich habe in meinem Leben nur wenige aus der Rasse meiner Mutter getroffen«, gestand Rhapsody. Eine Welle der Übelkeit durchfuhr sie. Sie kämpfte sie nieder. Dann ahmte sie Jal’asees Handhaltung nach, denn ihre Finger waren plötzlich kalt geworden, entweder von der Morgenkühle oder vom Schock der Überraschung darüber, dass er zusammen mit ihr das Morgenlied gesungen hatte.

Der alte, goldhäutige Mann trat näher und blieb stehen, als er in angenehmer Hörweite war. »Außerdem wage ich anzumerken, dass ich aus einer älteren Rasse als der Euren stamme, so alt die Lirin auch sein mögen«, sagte er sanft. »Es heißt, die Seren stammten von den Sternen ab und seien eine Rasse, die aus jenem Ort hervorging, wo das Element auf der Erde geboren wurde – dort, wo das Sternenlicht diese Welt zuerst berührte. Genau wie die Insel sind wir natürlich nach dem Stern benannt. In Eurem Lied schwingt der wahre Name des Sterns mit. Daher ist es nicht außerhalb aller Wahrscheinlichkeit, dass ich dieses Lied ebenfalls kenne.« Er zwinkerte ihr zu.

»Und falls dem nicht so sein sollte, habe ich ein Ohr für schwierige Melodien, wie man mir nachsagt.«

Rhapsody kicherte verlegen. »Wie anmaßend von mir. Ich bitte Euch um Entschuldigung, Euer Exzellenz.«

»Bitte, Herrin, redet mich mit meinem richtigen Namen an. In meinem Volk ist dies ein Zeichen sowohl der Freundschaft als auch des Respekts.« Rhapsody nickte. »Euer Gemahl bat mich, Euch hier zu treffen. Ich entschuldige mich dafür, dass ich zu früh bin.«

»Keineswegs.«

»Ausgezeichnet. Also, was kann ich für Euch tun? Ich stehe zu Euren Diensten.«

Rhapsody bemühte sich, mit ruhiger Stimme zu sprechen, während sich ihr Magen auflehnte. »Ihr könnt Eure Bemerkungen vom vergangenen Abend erhellen, da sie mich verwirrt haben.«

»Darüber, dass ich gesehen habe, wie Ihr die Insel verließet?«

»Ja.«

Jal’asee betrachtete eingehend ihr Gesicht. Rhapsody bemerkte, dass ihm das Kommen und Gehen ihrer Übelkeit wie auch die Bewegungen des Kindes in ihr bewusst waren. Als der Brechreiz nachließ, streckte der Botschafter der Meeresmagier den Arm aus und führte sie zu einer marmornen Bank vor einem plätschernden Springbrunnen.

»Wisst Ihr, warum die Leute seekrank werden?«, fragte er mit seiner tiefen Stimme, als sie sich setzten.

»Besonders die Menschen. Nachdem sie alle einer Rasse entstammen, die aus dem Wasser hervorgegangen ist, und sie selbst zu einem großen Teil ebenfalls daraus bestehen, könnte man meinen, dass sie an den Rhythmus des Meeres gewöhnt sind. Aber da sie eine unbewusste Abneigung gegen den Ozean haben und den Wunsch hegen, von ihm getrennte Wesen zu sein, stimmen die Schwingungen nicht überein, und so werden sie krank. Wenn sie bloß lernen könnten, das Element in sich anzuerkennen!« Er streckte die eine Hand zu dem Wasser aus, das in pulsierenden Strömen aus dem Springbrunnen schoss, und legte die andere gegen Rhapsodys Stirn. Unwillkürlich schloss sie die Augen.

Sie hörte, wie das Plätschern lauter wurde, und erkannte sogleich, dass es Jal’asees Stimme war, die sich vollkommen den Schwingungen des herabströmenden Wassers angepasst hatte. Sie spürte, wie die Übelkeit in ihr wich. Ihr Magen beruhigte sich, und ihre Ausgeglichenheit kehrte zusammen mit ihrem klaren Blick zurück, den sie seit der Empfängnis des Kindes nicht mehr gehabt hatte. Sie hatte plötzlich ein Gefühl des Wohlergehens, als ob sie in einer Blase schwimme, die sie vor den Stößen und Knüffen der Luft schützte, die ihr seit einigen Monaten zusetzten. Sie öffnete die Augen und sah, dass der große, goldhäutige Mann mit den hellen Augen sie anlächelte.

»Besser?«

»Ja, vielen Dank«, antwortete Rhapsody. »Nun sagt mir bitte, was Ihr letzte Nacht mit Eurer Bemerkung gemeint hattet.«

Jal’asee schaute sie nachdenklich an. Rhapsody hätte schwören können, dass das Plätschern des Wassers im Springbrunnen wieder lauter wurde.

»Habt Ihr je einen aus meiner Rasse gesehen, als Ihr auf der Insel Serendair lebtet?«, fragte er schließlich. Seine Stimme war sanft und nicht mehr so kratzig wie zuvor. Sie passte sich dem Klang des fallenden Wassers an. Rhapsody dachte über seine Frage nach. »Nein«, sagte sie, »obwohl ich ein wenig über die alten Seren weiß. Mein Lehrer Heiles, der Mann, der mich in der Kunst des Singens ausbildete, führte mich auch in die alten Überlieferungen ein und erzählte von den einzelnen Rassen der Erstgeborenen, doch bevor wir in die Tiefe gehen konnten, verschwand er. Ich habe ihn nie wieder gesehen, also musste ich meine Studien allein beenden.«

Jal’asee nickte. »Hattet Ihr schon immer auf den Feldern gelebt, oder wart Ihr auch einmal in einer größeren Stadt gewesen?«

»Ich ... ich war als junges Mädchen von zu Hause fortgelaufen und lebte einige Jahre in Ostend.« Rhapsody errötete, als sie an ihr Leben dort und an das dachte, was sie getan hatte, um zu überleben.

»Ostend war die größte Stadt der Insel, eine Hafenstadt, zu der die Kaufleute aus allen Teilen Serendairs und aus vielen anderen Ländern strömten. Und doch habt Ihr in all den Jahren, die Ihr dort verbracht habt, nie einen alten Seren gesehen?«

»Nein. Ich hatte geglaubt, dass sie in einem früheren Zeitalter ausgestorben wären – außer dem Graal, dem Wesir des Königs, der aus den Geschichten der reisenden Kaufleute bekannt war.«

Der Meeresmagier setzte sich bequemer hin. »Herrin, vor langer Zeit, bevor der Großvater des Königs, der über die Insel herrschte, die Ihr als Kind kanntet, war ich Lehrer an der Stillen Festung, der königlichen Schule von Serendair. Auch bin ich Professor der natürlichen Magie und der Gezeitenschwingungen an der Akademie von Gaematria. Ich erzähle Euch das aus zwei Gründen. Erstens möchte ich Euch an meinen Kenntnissen teilhaben lassen, die Ihr aufgrund Eurer Gabe des Benennens als der Wahrheit so nahe wie möglich erkennen werdet.«

Rhapsody nickte. Jal’asee kicherte. »Falls ich zweitens bei meiner Geschichte einen herablassenden, befehlenden oder anmaßenden Ton anschlagen sollte, bitte ich dies zu entschuldigen. Einmal Gelehrter, immer Gelehrter. Ich will in keiner Weise Euch gegenüber herablassend erscheinen, aber allen Professoren sind einige Dinge eigen, und Scheinheiligkeit ist eines davon. Dafür entschuldige ich mich bereits im Voraus von ganzem Herzen.«

Rhapsody lachte.

Jal’asee räusperte sich. »Vergebt mir, wenn ich Euch etwas erzähle, was Ihr bereits wisst«, sagte er.

»In der Geschichte dieser Welt ist das früheste, noch vor dem Einsetzen der Geschichtsschreibung liegende Zeitalter als die Vorzeit bekannt. In dieser Zeit traten die Erstgeborenen ins Leben, die unmittelbar aus den fünf Elementen hervorgegangen sind. Die Seren waren die Ersten, und das Element des Äthers war das erste Element. Es kam von einem anderen Ort in die Welt; es ist das Feuer der Sterne und besitzt eine natürliche Musik, die Musik des Lichts. Ich vermute, Ihr wisst das?« Rhapsody nickte. »Gut. Habt Ihr je einen Angehörigen einer anderen Erstgeborenen-Rasse gesehen? Habt Ihr je jemanden getroffen, der ein Kith, ein Mythlin oder ein F’dor war? Oder ein Drache? Ihr habt in der alten Welt nie einen Drachen gesehen, oder?«

»Nein«, gestand Rhapsody. »Mir sind fast nur Menschen begegnet. Einige der später Geborenen stammten von den Erstgeborenen ab. Ich habe einige Gwadd gesehen, und meine Mutter war eine Lirin. Ich glaube, ich bin sogar ein paar Nain begegnet, auch wenn ich damals nicht wusste, wer sie waren. Aber ich habe nie einen von den Erstgeborenen gesehen. Wie gesagt dachte ich, sie seien allesamt ausgestorben, so wie man uns es beigebracht hatte.«

»Nun, wie Ihr sehen könnt, sind wir noch nicht ausgestorben.« Jal’asee bedeckte die Augen, als die Sonne höher stieg und den Garten mit hellem Licht überschüttete.

»Wo wart Ihr denn?«, fragte die Herrin der Cymrer.

»Wir haben uns versteckt«, antwortete der Botschafter der Meeresmagier ernst. »Viele Jahrhunderte hindurch.«

»Warum?«

»Aus Selbstschutz«, erklärte Jal’asee. »Die Seren waren die Ersten, die auf der Insel erschienen, aber wir waren nicht lange allein. In früher Zeit, nachdem die F’dor tief im Innern der Welt eingekerkert worden waren, herrschte Friede – sehr lange, wenn man Euren Zeitmaßstab anlegt. Doch schließlich traten die jüngeren Rassen auf, die Lirin und die Nain, die sich nicht umeinander kümmerten. Zu ihrer Zeit lebte die Insel größtenteils noch in Frieden, denn die Orte, die sie zum Leben wählten, lagen weit voneinander entfernt und gefielen dem jeweils anderen Volk nicht, sodass es kaum zu Streitereien kam.

Doch dann, nachdem Jahrtausende vergangen waren, erschienen die Menschen – oder die Halbmenschen, wie wir sie nennen. Sie waren viele Generationen entfernt von der uranfänglichen Magie, welche die Erstgeborenen ins Leben gerufen hatte, und sterblich; sie führten ein kurzes, gewalttätiges Leben. Zuerst schien es, als kämen und gingen sie wie der Wind und löschten sich in ihrer Ungeduld selbst aus; doch wir haben ihre Stärke, ihre Ausdauer und ihren Blutdurst unterschätzt. Sie waren habgierig, dürsteten nach Land und Macht und haben beides auf jede mögliche Weise an sich gerissen – durch Krieg, Totschlag und Völkermord.

Und es waren viele. Sie haben unser einst weites und offenes Land mit ihren Siedlungen und Städten, ihren Festungen und Gefängnissen überzogen und sich immer weiter fortgepflanzt, bis sie beinahe alles erstickten, was vor ihnen da gewesen war. Wir hatten sie als Flüchtlinge willkommen geheißen, doch nun wollten sie alle Zivilisationen vor ihnen ausradieren. Ironischerweise so, wie Gwylliam es mit diesem Land hier getan hat.«

JaFasee hielt kurz inne, als ob die Geschichte ihn erschöpft habe. Rhapsody sah ihm in die Augen. In der goldenen Iris tanzte ein dunkler Wirbel; es war, als schaue er unmittelbar in eine schmerzliche Vergangenheit. Sie wartete still darauf, dass er fortfuhr, und beobachtete, wie die bronzene Farbe nach kurzer Zeit in seine dünnen, haarlosen Unterarme zurückkehrte. Schließlich schüttelte er den Kopf und schaute sie mit einem schiefen Lächeln auf seinem breiten, dünnen Mund an.

»Ich bitte um Vergebung, Herrin«, sagte er rasch und wischte sich mit einer schnellen Bewegung einige Schweißperlen von der Stirn. »Wenn einem bestimmt ist, ewig zu leben, nimmt die Geschichte manchmal eine Unmittelbarkeit an, welche die Zeit jenen vorenthält, über die sie Gewalt hat. Es ist, als sei das Geschehen von vor tausend Jahren erst gestern gewesen.«

Rhapsody nickte und wartete ab. Schließlich schüttelte sich der Meeresmagier, als wolle er den Schlaf vertreiben.

»Ich habe mit der Zeit gelernt, dass dies der Gang der Welt ist. In jeder Ära der Geschichte bildet sich eine Zivilisation heraus, herrscht eine Weile und wird dann von einer anderen verdrängt, entweder in einem jahrhundertelangen Prozess oder rasch und auf grausame Weise durch Eroberung, bis die Geschichte nur noch ein wirbelndes Meer des Wandels ist, in dem das Frühere ersetzt und das eine oder andere Bruchstück behalten wird. Es ist närrisch zu hoffen, dass das, was Ihr erbaut habt, überdauern wird, auch wenn wir selbst es tun werden.«

Der goldhäutige Mann blinzelte in das Licht der Sonne und richtete dann den Blick wieder auf Rhapsody.

»Als im Zweiten Zeitalter der Geschichte – das den Gelehrten von Gaematria als Zemertzah, >die zerbrochene Welt<, bekannt ist – den alten Seren klar wurde, dass sowohl unserer Kultur als auch unserem Volk die Vernichtung durch die fortschreitende menschliche Besiedlung Serendairs drohte, sahen wir für uns nur zwei Möglichkeiten des Überlebens. Wir konnten die Insel verlassen und in ein fernes und unbewohntes Land ziehen, wie Gwylliam es später am Ende des Dritten Zeitalters getan hat, oder wir versteckten uns in der Erde, tiefer als die Nain in ihren Bergen, und lebten in den Katakomben, die von der Geburt der Erde übrig geblieben waren. Die erste Möglichkeit war für uns unvorstellbar. Auch wenn wir nur wenige waren, so war unsere Rasse doch aus dem Licht der Sterne hervorgegangen und dem Lehm der Insel entsprungen, den das Sternenlicht berührte. Selbst im Angesicht von Krieg und Tod konnten wir unseren Geburtsort und unsere Heimat nicht verlassen. Also verschwanden wir vom Antlitz der Welt. Der größte Teil unserer Bevölkerung schlüpfte in diese Grotten, in diese Grüfte tief in der Erde, und nur wenige von uns blieben oben, um Wacht zu halten und auf die Zeit der Rückkehr zu warten.

Die Menschen, die Nain, die Lirin und ihresgleichen bemerkten kaum, dass wir verschwunden waren. Sie hatten genug mit ihren Kriegen zu tun, und als sich der Staub gelegt hatte, gingen die Menschen als Sieger hervor, wie Ihr bestimmt im Geschichtsunterricht gehört habt. Das Königreich einer jeden Rasse behielt seine Souveränität unter dem menschlichen Hochkönig, dessen Linie schließlich mit Gwylliam endete. Das Bündnis der Königreiche gestaltete die Insel nach seinem Willen. So war es, als Ihr geboren wurdet, und so war es auch noch, als die Flotten die Insel verließen. Alles, was in den Augen der Welt von meinem Volk übrig blieb, war eine Hand voll oberirdischer Seren – Graal, der Wesir des Königs, den Ihr schon erwähntet, ich und einige andere, zu deren Zählung Ihr nicht einmal zwei Hände brauchtet. Schließlich blieb nur Graal übrig: Als einer von uns auf grausame Weise getötet wurde, verließ der Rest außer Graal die oberirdische Luft und suchte Schutz in den Katakomben bei unserem Volk.

Und dort blieben wir, bis das Schlafende Kind andeutete, es werde sich erheben. Dann kamen jene von uns wieder in die Oberwelt, die Serendair verlassen und irgendwo anders weiterleben wollten.«

»Das alles wusste ich nicht«, murmelte Rhapsody.

JaFasee lächelte. »Wenn Ihr geblieben wäret, statt mit Euren Freunden die Insel zu verlassen, hättet Ihr es gewusst. Aber es geschah, während Ihr durch die Erde reistet, entlang der Wurzel der Sagia. Ja, Herrin, ich weiß, dass Ihr den Weltenbaum mithilfe eines Schlüssels aus Lebendigem Gestein betreten habt, in Begleitung jenes Mannes, der nun der König der Bolg ist, und seinem Sergeant-Major, denn als Ihr an der Pfahlwurzel des Baumes in die Dunkelheit hinabgeklettert seid, habe ich vom Eingang der Katakomben, die der Baum schützte, hinausgeschaut und Euch mit eigenen Augen gesehen.«

Die Erinnerung an die Reise durch die Erde brauste zurück: das erstickende Gefühl, tief unter dem Boden zu stecken, getrennt vom schützenden Himmel. Schweiß brach auf Rhapsodys Stirn aus. Sie schloss die Augen und schluckte, versuchte die Angst zu bekämpfen, die sie auch vier Jahre später immer noch spürte, obwohl die Reise durch das Innere der Welt zeitlos gewesen war. Als sie wieder an die Oberfläche gekommen waren, hatten sie festgestellt, dass inzwischen vierzehn Jahrhunderte vergangen waren. Alles, was ihnen auf der Welt bekannt und vertraut gewesen war, war untergegangen. Es war ein Verlust, an den sie nicht mehr ständig dachte, doch wenn sie sich an ihn erinnerte, schmerzte er immer noch tief.

»Was habt Ihr gesehen?«, fragte sie zögernd.

Das Lächeln verschwand aus JaFasees Augen. Er schaute sie ernst an.

»Ich habe ein ängstliches, aber tapferes Mädchen gesehen, eine unfreiwillige Gefangene, die sich nutzlos aufbäumte, aber nicht aufgab. Ich habe ein Geschöpf gesehen, halb Bolg, halb Bengard, der Größe nach zu urteilen, der sie gefangen hielt und ihr gleichzeitig half. Und ich habe noch jemanden gesehen, den ich zu kennen glaubte.« Er zog die Stirn kraus, doch ansonsten änderte sich sein Gesichtsausdruck nicht. »Vielleicht kenne ich Euren Freund, den Bolg-König, aber ich kann mir nicht sicher sein, bis ich ihm nicht begegnet bin.

Jene von uns, die unter der Erdoberfläche lebten, befanden sich in einem Zustand des Halbschlafes. Wenn es mir möglich gewesen wäre, Euch zu helfen, und wenn mir bewusst gewesen wäre, dass Ihr solche Hilfe braucht, hätte ich Euch beigestanden. Aber alles, was ich sah und Euch nun berichte, war für mich wie ein eindringlicher Traum. Noch lange Zeit danach war ich mir nicht sicher, ob es Wirklichkeit oder Vision der Zukunft war, welche den alten Seren oft zuteil werden. Ich möchte mich bei Euch dafür entschuldigen, dass ich nicht in der Lage war, Euch zu helfen, aber es scheint, als ob es das Schicksal gut mit Euch gemeint hätte.«

Die Herrin der Cymrer lächelte schwach. »Ryle hira«, sagte sie leise. Es war ein altes lirinisches Sprichwort.

»Das Leben ist so, wie es ist.«

»In der Tat«, stimmte JaFasee ihr zu. »Ich weiß, dass Euer Lebensweg keinem vorhersehbaren Muster gefolgt ist, doch er hat Euch an Orte geführt, die Ihr ansonsten niemals gesehen hättet, und er hat in Euch Kräfte geweckt, von denen Ihr keine Ahnung gehabt hättet, wenn Eure Zeit auf Erden traditioneller verlaufen wäre. Ihr habt gesagt, dass Euer Lehrer verschwand, bevor Ihr Euer Studium des Benennens abschließen konntet, und Ihr deshalb Eure Ausbildung allein vollendet habt. Vergebt mir, wenn ich es sage, aber das merkt man. Ich hatte die Ehre, viele lirinische Benenner zu kennen, sowohl in Serendair als auch in Gaematria, und es ist deutlich zu sehen, dass Ihr den letzten Schritt ausgelassen habt – die Taufe im Licht des Ana, des Leitsterns eines jeden Benenners.«

Rhapsody errötete vor Verlegenheit. »Ich ... ich weiß nicht einmal, was Ihr damit meint«, sagte sie nervös.

»Es ist nichts, dessen man sich schämen muss, und es ist nicht verwunderlich, dass Ihr es nicht wisst«, meinte JaFasee besänftigend. »Dabei handelt es sich um eine Zeremonie, die das Ende der Studien eines Benenners bedeutet, und sie wird ihm erst dann enthüllt, wenn es an der Zeit für ihn ist. Wenn Euer Lehrer am Ende Eures Studiums nicht bei Euch war, so erstaunt es nicht, dass Euch die Taufe nicht zuteil wurde. Wie Ihr zweifellos wisst, ist die Seele eines jeden Lirin mit dem Stern verbunden, unter dem er geboren wurde, und jeder Tag und jede Nacht des

Jahres ist einem anderen Stern geweiht. Das ist es, was Ihr über Ana denkt, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Rhapsody. »Ich bin unter dem Seren geboren. Meine Gesänge sind immer an ihn gerichtet gewesen.«

Jal’asee nickte. »Ihr habt zweifellos Kraft aus diesem Stern gezogen, auch wenn er eine halbe Welt entfernt ist. Da Ihr Euch selbst unterrichtet habt, hattet Ihr zwar nicht die Gnade der Taufe im Licht Eures Leitsterns, aber Ihr habt andere Stärken entwickelt und andere Einsichten erhalten, weil Ihr Euren eigenen Weg gehen musstet, anstatt dem vorgeschriebenen Pfad zu folgen – so wie Ihr und Eure Gefährten den richtigen Weg innerhalb der Erde gefunden habt. Eure Verbindung zu dem Stern ist dadurch vielleicht noch stärker, weil Ihr Wache für ihn gehalten habt, obwohl er für Euch verloren ist. Wisst Ihr, er ist ein besonderer Himmelskörper und auch für die Maßstäbe des Universums ein alter Stern. Euer Gemahl trägt ein Stück von ihm in seiner Brust. Wie es dorthin gekommen ist, weiß ich nicht, aber ich spüre sein Lied.«

Ein Frösteln durchfuhr Rhapsody. Es war, als kenne Jal’asee nicht nur ihre eigenen Geheimnisse, sondern auch die aller Geschöpfe, die sie liebte. Der Botschafter der Meeresmagier bemerkte den Wandel in ihrem Blick und ergriff ihre Hand mit seinen langen, feingliedrigen Fingern.

»Euer Kind wird mit der Macht aller Elemente gesegnet und geschlagen sein, Rhapsody«, sagte er mit einer Stimme, die so warm wie ein Mittsommertag war. »Ihr seid durch das Feuer im Herzen der Erde geschritten. Habt keine Angst... Natürlich weiß ich das, denn Ihr habt es in Euch aufgenommen, was deutlich zu spüren ist. Was der Rest der Welt irrtümlicherweise für reine Schönheit hält, kann jemand wie ich, der die uranfänglichen Elemente in ihrer Rohform erlebt hat, als das erkennen, was es ist. Ihr und Euer Kind wurdet während Eurer kürzlich erfolgten Entführung in den Armen des Meeres gewiegt. Auch dies weiß ich – nicht weil ich es beobachtet hätte, sondern weil es mir die Wellen während meiner Reise von Gaematria nach hier erzählt haben. Euer Gemahl ist der Kirsdarkenva’ar, der Meister des Elements, also haben beide Eltern eine Verbindung zum Wasser. Auch die Erde ist in Euch beiden in Euch, weil Ihr durch ihr Herz gereist seid, und in Eurem Gemahl, weil er von der Drachin Elynsynos abstammt und auf diese Weise mit der Erde verbunden ist, so wie Ihr mit dem Stern Seren verbunden seid. Und schließlich seid Ihr als lirinische Königin ein Kind des Himmels, eine Tochter der Luft. Daher wird Euer Kind all diese Elemente in seinem Blut haben. Wisst Ihr, was die Summe dieser Elemente ist?«

»Sagt es mir«, verlangte Rhapsody. Ihre Stimme war ein ersticktes Flüstern.

Jal’asee lächelte breit. »Zeit«, antwortete er. »Er wird die Macht der Zeit haben. Ich hoffe, Ihr werdet mir die Ehre erweisen, Eurem Kind beizubringen, wie es diese Macht einsetzen kann, wenn es alt genug ist und sich die Gelegenheit ergibt.«

Das Kind in ihrem Bauch bewegte sich heftig. Rhapsody zuckte zusammen. Das Lied der Fontäne war zu Ende, und damit kehrte die Übelkeit zurück. Sie stand langsam auf, versuchte das Gleichgewicht zu behalten und legte eine Hand über die Augen, um sie vor der steigenden Sonne zu beschirmen.

»Vielen Dank«, sagte sie unverbindlich. »Ich werde es zu gegebener Zeit mit Ashe besprechen. Ich danke Euch für alles, was Ihr mir heute mitgeteilt habt, und bitte Euch, Edwyn Griffyth meinen Dank für die Gehmaschine zu übermitteln, die er Anborn geschickt hat.« Sie seufzte kummervoll. »Ich hoffe, er wird sich dazu herablassen, sie zu benutzen. Ich gestehe, dass es mir das Herz bricht, wenn ich ihn so beeinträchtigt sehe.«

Der alte serenische Botschafter stand auf und schaute auf sie herab. Sein Schatten fiel auf sie.

»Warum?«, fragte er, ergriff ihren Arm und führte sie den Gartenweg hinauf zur Festung.

»Weil er in einer Schlacht bei dem Versuch verletzt wurde, mich zu retten – wie Ihr vermutlich wisst«, sagte Rhapsody und bemühte sich, mit festen und gleichmäßigen Schritten zu gehen. »Ich habe damals versucht, meine Fähigkeiten als Sängerin und Benennerin zu seiner Heilung einzusetzen, doch wie Ihr seht, konnte ich ihn wegen meiner unvollendeten Ausbildung und meiner begrenzten Fähigkeiten nicht vollständig gesund machen. Da mir die Taufe im Licht meines Leitsterns fehlt, glaube ich wahrscheinlich nur irrtümlicherweise, dass ich seine Kraft benutzen kann.«

Jal’asee ging weiter, doch seine Stimme bewegte sich näher an ihr Ohr heran; es war, als ströme sie durch die Luft in Rhapsody ein.

»Ein Band zu dem Leitstern, wie zum Beispiel das der Liebe, ist oftmals stärker, wenn es unter großen Mühen geknüpft wurde«, sagte er sanft. »Anborn ist nicht verkrüppelt, weil Ihr ihn nicht heilen konntet, sondern weil er sich von Euch nicht heilen lassen wollte. Vielleicht wird er sich eines Tages dafür vergeben und es Euch erlauben, einen zweiten Versuch zu machen. Doch ich habe ihn während der letzten sieben Jahrhunderte beobachtet und würde nicht unbedingt darauf wetten. Euer Kind mag aus den Segnungen aller fünf uranfänglichen Elemente seinen Nutzen ziehen, aber es wird zweifellos mit Halsstarrigkeit von epischen Ausmaßen geschlagen sein. Dieser Zug ist in der Familie seines Vaters deutlich zu erkennen. Ihr habt bereits im Voraus mein tiefstes Mitgefühl.«

Rhapsody lachte während des gesamten Rückwegs zum Gartentor.

13

Das Monstrositätenkabinett

Entenfuß-Emmi hatte Wort gehalten und war Farons Beschützerin geworden.

Die lange Fahrt von Bethania zum südlich gelegenen Sorbold war schon unter gewöhnlichen Umständen eine schwierige Angelegenheit, doch mit einem zerbrechlichen Tank voll stinkenden Wassers im hinteren Teil eines Zirkuswagens, der über die schadhaften und löcherigen Straßen holperte, war sie der helle Wahnsinn. Emmi hatte ihre Habseligkeiten nach der ersten Nacht in Farons Wagen gebracht, nachdem der Tank beinahe von dem löwengesichtigen Mann und dem ekelhaften Schausteller mit den Schwertzähnen, zwei von Farons Mitreisenden, zerschmettert worden wäre, weil sie den Neuankömmling entweder als Nebenbuhler oder als Nahrung oder als beides ansahen. Entenfuß-Emmi hatte sich mit einem Besenstiel und einem Knurren von solcher Heftigkeit zwischen die gefräßigen Missgeburten und den Tank der geduckten Kreatur gestellt, dass sich die Männer, die mehr als doppelt so groß wie Emmi waren, in die dunklen Ecken des Wagens zurückgezogen, Flüche gemurmelt und still dort gehockt hatten, bis der Schlaf sie in sein Reich der Stille geholt hatte. Einige Tage lang hielt das Monstrositätenkabinett nur nachts an. Es wurden keine Vorstellungen gegeben, weil es entlang der Route keine Siedlungen mit genügend Einwohnern gab, für die sich die Mühe gelohnt hätte. Der Zirkusdirektor hatte entschieden, den heiligen Stadt-Staat Sepulvarta zu umfahren, in dem die Zitadelle des Patriarchen der größten orlandischen Religion stand, denn dieser hätte die Truppe wegen Zurschaustellung menschlichen Elends verhaften und verurteilen lassen. So blieb nichts anderes übrig, als bei Tag zu reisen und bei Nacht zu kampieren. Entenfuß-Emmi kümmerte sich liebevoll um Faron, und das Geschöpf schien sich ein wenig zu beruhigen, auch wenn es immer noch zusammenzuckte, sobald jemand anderes den Wagen betrat. Emmi übernahm es daher freudig, für Farons Bedürfnisse zu sorgen.

Die Aufseher, die als Wärter für die Missgeburten und als Wachen für die Zuschauer tätig waren, grummelten über Emmis neue Besessenheit. Malik, ein älterer Aufseher mit einer Narbe, die vom Hals über das Rückgrat bis zur Hüfte lief, hatte es sich angewöhnt, vor dem Wagen der neuen Missgeburt zu lauern, Emmis Kommen und Gehen zu beobachten und alles dem zunehmend verärgerten Zirkusdirektor zu berichten. Eines Nachts erwischte Malik sie in der Nähe einer kleinen Bauernsiedlung auf den Krevensfeldern südlich von Sepulvarta, wie sie die Leiter des Wagens mit einer leeren Fischschüssel in der Hand herunterstieg. Malik beugte sich aus seinem Versteck und packte sie um die Hüfte.

»Na, na, Emmi, wo biste denn gar gewesen? Mir scheint’s, du machst unsere Rationen kleiner un’ bedienst stattdessen den Fischjungen. Wäschst ihm auch die Hände un’ Füße – falls er so was hat.«

Entenfuß-Emmi drückte ihn von sich und entwand sich seinem Griff. »Er hat Füße, du hirnrissiger Tölpel. Sie sind nur weich.«

»Klar, un’ ich wett, der Rest von ihm is auch weich«, grinste Malik, packte sie wieder um die Hüfte und drehte sie um. »Aber du weißt, dass das bei mir nich so ist, oder, Emmi?« Er vergrub sein bärtiges Gesicht in ihrem Nacken und knabberte neckisch an ihrer Haut.

»Ja, du hast ’nen harten Kopf, Malik«, sagte sie schnippisch, doch die Lippen des Aufsehers zeigten Wirkung.

»Is schon so lang her, Emmi«, jammerte Malik, während seine Hände höher wanderten. »Hast ihn doch jetzt gefüttert, oder?« Die Zirkusfrau nickte. In ihre Augen kroch ein weicher Glanz. »Un’ er schläft?« Ein weiteres Nicken. »Dann geht’s ihm erst mal gut, oder? Komm, wir gehen hinter’s Klo, dann nehm ich dich her.«

Emmi schnaubte verächtlich. »Wird wohl andersrum sein«, sagte sie, setzte die Fischschüssel auf einem Fass ab und suchte verstohlen das Lager nach einer Spur des Zirkusdirektors ab. Er war nirgendwo zu sehen. »Is immer so.«

»Egal«, meinte Malik nachgiebig. Er ergriff ihre Klauenhand und führte sie in die Dunkelheit.

Sobald Entenfuß-Emmi zwischen den Schatten verschwunden war, kamen drei weitere Aufseher aus der Dunkelheit und betraten schweigend den Wagen.

Das Geschöpf schlief in seinem trüben Tank; es lag schlaff im Wasser, als die Männer mit nacktem Oberkörper durch den Wagen krochen und vorsichtig über die Betten der beiden anderen Missgeburten stiegen, die draußen waren, entweder um Luft zu schnappen oder um das Nachtmahl einzunehmen. Als sie schließlich im hinteren Teil des Zirkuswagens angekommen waren, besprachen sie sich stumm mit Handzeichen, sprangen dann aus der Finsternis, schlugen laut gegen den Tank, pressten die Gesichter gegen die Glaswände und kreischten fürchterlich.

Die neue Kreatur schoss vor ihnen zurück und heulte Mitleid erregend. Der verschlossene Mund klappte an den Seiten auf, und sie keuchte und kauerte im hinteren Teil des Tanks.

Die Aufseher schnitten noch immer Grimassen und klopften mit Stecken auf die Leinwand, als Entenfuß-Emmi in den Wagen stürzte. Sie richtete die Stangen ihrer vielen Mieder und schoss flammende Blicke ab. Hinter ihr kam Malik mit heruntergelassener Hose und blickte ziemlich finster drein.

Sie bohrte ihre Fingernägel wild in die Rücken von zwei Aufsehern, kratzte sie bis aufs Blut und brüllte mit einer Stimme, die beinahe den Glastank zum Zerspringen gebracht hätte: »Ihr blutigen Bastarde! Hände weg von meinem Liebchen!«

Der einzige Aufseher, der sich nicht in Reichweite ihrer Krallen befand, versetzte ihr einen kräftigen Stoß. Sie taumelte rückwärts und fiel dem Zirkusdirektor vor die Füße, der mit einer Laterne in der Hand an der Wagentür stand.

»Was geht hier vor?«, wollte der große, dünne Mann wissen.

»Sie machen mein Liebchen kirre!«, spuckte Entenfuß-Emmi aus, erhob sich heftig vom Boden und wollte sich wieder ins Kampfgetümmel stürzen, doch der Zirkusdirektor packte sie am Arm.

»Wenn ihr Weicheier dem Fischjungen etwas tut, vierteile ich euch«, sagte er mit bösem Zischen. »Diese Missgeburt hat unsere Einnahmen verdreifacht.« Er wandte sich an Malik und deutete auf den Boden.

»Bring diese Betten in den Fleischfresserwagen und hol die toten Ausstellungsstücke her.« Dann ging er auf das zitternde Geschöpf im Tank zu. »Ich will bei den Wagengenossen des Fischjungen kein Wagnis mehr eingehen.«

»Die Schlangenmenschen und anderen Missgeburten werden bei den Fleischfressern kaum Schlaf kriegen«, wandte einer der Aufseher ein. »Den Toten hingegen macht all das Heulen und Rumgerenne nichts aus.«

»Raus hier, wie ich befohlen habe«, knurrte der Zirkusdirektor und drängte den Mann zur Tür.

Er trat zur Seite und ließ die verdrießlichen Handlanger vorbei; dann wandte er sich wieder an Entenfuß-Emmi.

»Du kannst hier bleiben. Sorge dafür, dass ihm nichts mehr passiert.«

»Ja, das mach ich«, sagte Emmi, die nach dem Kampf noch immer keuchte.

Der Zirkusdirektor starrte die Kreatur im Glastank noch einmal an, dann drehte er sich um und verschwand hinter den Vorhängen.

Entenfuß-Emmi wischte sich die Nase am Arm ab und bahnte sich dann einen Weg durch den Wagen zum Tank, der matt in der Dunkelheit schimmerte. Sie löste die Leinwanddecke, zog eine kleine Holzkiste über den Tank, stellte sich darauf und tauchte die Arme in das unsaubere Wasser.

»So, mein Liebchen«, sagte sie sanft, bewegte die Arme und rief kleine Kräuselungen im Gefängnis des Geschöpfs hervor. »Jetzt biste in Sicherheit. Ich verlass dich nich, un’ das Wort des Zirkusdirektors is Gesetz hier. Keiner wird dir mehr was tun. Komm, mein Lieber. Emmi wiegt dich wieder in’ Schlaf.«

Das Geschöpf kauerte lange an der Rückwand des Tanks und starrte sie durch die Finsternis wild an. Sie sah die umwölkten Augen, offen und rund wie zwei Monde über der faltigen Haut seines Gesichts, und der Rest verschwamm im wässerigen Grün. Schließlich paddelte es vorsichtig herbei und legte den Kopf in ihre offene Hand.

Entenfuß-Emmi schenkte ihm ihr gebrochenes Lächeln, ballte die Finger der anderen Hand zur Faust und streichelte wortlos mit ihren Knöcheln über die Wange des Geschöpfs. Dabei sang sie ein Lied, das sie irgendwo gehört hatte. Wo das gewesen war, hatte sie schon lange vergessen.

In der Nacht, bevor die Zirkuskarawane den Bergpass erreichte, der ins nördliche Sorbold führte, öffnete der Zirkusdirektor die Tore für eine Truppe sorboldischer Bergsoldaten, die aus einer Eliteeinheit stammten, welche an der Grenze zwischen Roland, Sorbold und dem Firbolg-Reich Ylorc patrouillierte.

Die Soldaten, die schon lange von zu Hause fort waren und außer dem Warten auf eine Invasion, die nie kam, nichts zu tun hatten, hießen das Monstrositätenkabinett begeistert willkommen. Während sich vor den Hurenzelten die längsten Schlangen bildeten, wurden auch die Zelte, in denen sich die missgebildetesten und groteskesten Wesen befanden, eifrig besucht.

Faron war zwischen den toten Ungeheuerpräparaten ausgestellt, mit denen er den Reisewagen teilte: dem zweiköpfigen Säugling, dem geflügelten Mann und gut einem Dutzend anderer Missbildungen, die in Salzwasserlösung eingelegt waren. Die Soldaten bemerkten nicht einmal, dass Faron das einzige lebende Geschöpf in dem Zelt war, so mutlos war er geworden. Die Besucher gingen an ihm vorbei und redeten miteinander, als wären sie in einem Museum; dann eilten sie weiter zu den aufregenderen Zelten, wo die Gefahr lauerte, auch wenn sie nur gespielt war.

Als später die Aufseher die Wagen für die Nacht beluden, stürmte der Zirkusdirektor wütend durch die Vorhänge an der Tür von Farons Wagen, lief hinüber zum Tank und schlug mit der Hand gegen das Glas.

»Wach auf, du verdammter Fisch!«, knurrte er und drückte die entsetzte Entenfuß-Emmi, die auf einem Stuhl neben dem Behälter gesessen und genäht hatte, zur Seite. »Ich habe viel Geld für dich bezahlt, Kerlchen, einhundert Goldkronen plus zwei! Habe dich vor diesen schwachsinnigen Fischern gerettet. Und warunü« Er schlug wieder gegen den Tank, der wie verrückt schwankte. Wasser leckte aus einer Nahtstelle an der Seite.

»Weil du ein zischender und spuckender Albtraum warst, deshalb! Und wie dankst du es mir? Indem du wie leblos in deinem Tank schwimmst, nicht zu unterscheiden von den toten Präparaten, und die Besucher glauben, du bist ein Schwindel«

»Lass mein Liebchen in Ruh!«, rief Entenfuß-Emmi ungehalten.

Der Zirkusdirektor wirbelte herum und schlug die seltsame Frau mit dem Handrücken zu Boden.

Faron hatte sich vor dem rasenden Zirkusdirektor an das andere Ende des Tanks zurückgezogen und kreischte nun zornig auf. Er kam nach vorn, hämmerte gegen die Scheibe und kratzte hilflos mit seinen weichen, verdrehten Händen am Glas.

»Aha!«, rief der Zirkusdirektor. In seinen dunklen Augen blitzte Verstehen auf. »Das ist es also. Du musst wütend sein, nicht wahr?« Er drehte sich um und trat Emmi gegen die Stirn, als sie aufzustehen versuchte. Sie verlor das Bewusstsein. Der Zirkusdirektor lächelte, als das Geschöpf wieder aufkreischte und die gelben Zähne zusammenbiss. Seine Augen waren blutunterlaufen vor Zorn. Es drückte sich gegen das Glas, versuchte zu entkommen, kratzte an der Leinwand über ihm.

Die Augen des Zirkusdirektors weiteten sich vor Verwunderung.

Aus den Falten am Bauch der Kreatur kam etwas hervor, das er bisher nicht bemerkt hatte. Es war eine Reihe vielfarbiger Schuppen, die in der schlaffen Haut der Missgeburt verborgen waren. Eine dieser Schuppen hing am Rand einer Hautfalte und drohte hinunterzufallen. Einen Augenblick später geschah es, als der Fischjunge mit ausgestreckten Armen weiter gegen die Leinwandabdeckung schlug. Ein unregelmäßiges blaues Oval von der Größe einer Hand und mit ausgefranstem Rand trieb glitzernd in den Abfall am Boden des Tanks.

Als Faron den verblüfften Blick des Zirkusdirektors bemerkte, hörte er auf zu toben und folgte seinem Blick hinunter auf den Tankboden. Panik ersetzte die Wut. Das Geschöpf schoss zum Boden, packte die blaue Schuppe, steckte sie rasch zurück zwischen die Hautfalten und starrte den Zirkusdirektor an.

Der Zirkusdirektor rief nach seinen Handlangern und rollte die Ärmel auf.

»Gib es mir«, sagte er mit tiefer, bedrohlicher Stimme.

Das Geschöpf schüttelte den Kopf und zog sich wieder in die gegenüberliegende Ecke des Tanks zurück. Der Zirkusdirektor packte den Rand des Glases und schüttelte den Behälter heftig.

»Ich habe gesagt, gib es mir, du Missgeburt, bevor ich dich aus dem Wasser hole und dich in den Sand von Sorbold werfe, damit du da verschrumpelst.«

Faron zischte und spuckte.

Unter lautem Gepolter kamen die Aufseher in das Zelt. Mit einer Geschicklichkeit, die sich aus Jahren des Umgangs mit unwilligen Monstrositäten und wilden Bestien ergab, drückten sie Faron an die Rückseite des Tanks und hielten ihn im spritzenden Wasser fest, wobei er ungeheuerliche Schreie ausstieß. Sobald die Missgeburt besiegt war, riss der Zirkusdirektor das blaue Oval aus Farons Bauch. Seine Kleidung war vom schmutzigen Wasser durchnässt, doch er bemerkte weder dies noch die gequälten Schreie des Geschöpfs, sondern starrte im Licht der Laterne die Schuppe an.

Es handelte sich um ein nach innen gewölbtes Oval, das leicht ausgefranst war an den Rändern. Wenn man es flach hielt, so war es grau. Die blaue Färbung trat erst dann auf, wenn die Schuppe gegen das Licht gehalten wurde, das dann zu einem schimmernden Regenbogen brach, der über die eingekerbte Oberfläche tanzte. Auf der einen Seite der Schuppe war ein Auge eingraviert, umgeben von etwas, das wie Wolken aussah. Der Zirkusdirektor drehte sie sorgfältig in der Hand und bemerkte, dass die andere Seite – die konvex gewölbte – eine ähnliche Einritzung trug; doch das Auge auf dieser Seite wurde zum Teil von den Wolken bedeckt.

Er schaute wieder die zitternde Kreatur an, die in den Armen der Aufseher gefangen war und noch immer vor Wut heulte. Schwarzes Blut tropfte aus den Hautfalten des Bauches und trübte das Wasser.

»Ist das nicht hübsch?«, meinte er, hielt die Schuppe hoch und verspottete Faron. »Wenigstens weiß ich jetzt, wie ich dich dazu bringe, deine Vorstellung abzugeben, Fischjunge.« Er nickte den Aufsehern zu. »Lasst ihn los.«

Die Handlanger gehorchten, und Faron glitt zurück in den nur noch halb vollen Tank. Sie marschierten aus dem Wagen, gefolgt von dem durchnässten Zirkusdirektor.

Faron heulte immer noch. Manchmal klang es wütend, manchmal erbärmlich. Endlich kam Entenfuß-Emmi wieder zu sich. Sie presste die Hand gegen ihre misshandelte Stirn, kroch in ihren nassen, raschelnden Kleidern an Farons Seite und flüsterte Worte des Trostes und der Beruhigung, bis das Geschöpf nur noch gelegentliche Schluchzer von sich gab.

»Mein Liebchen, gräm dich nich. So is das Leben, furcht ich.« Sie streichelte mit ihren Knöcheln sanft den weichen Kopf. »So is das Zirkusleben.«

14

Der Kessel — Ylorc

Achmed hatte schon seit über einer Stunde über dem staubigen Buch gebrütet, als der Botenvogel eintraf. Grunthor hatte sich in der letzten Zeit angewöhnt, im Sitzen oder Stehen still über die Feldkarten und Berichte nachzusinnen, die von dem Klan der Augen in den Außenposten hereinkamen. Die fernen Wachttürme Ylorcs lagen hinter der Heide und den blauen Wäldern des zentralen Königreiches, tief in den Klüften der Zahnfelsen. Die Krankheit hatte sich unter den Klanen der Klaue und der Eingeweide ausgebreitet, aber die Augen waren offenbar nicht beeinträchtigt. Daher kamen inzwischen die meisten Informationen von ihren Anführern, die nun, da keine Konkurrenten mehr da waren, seine Gunst erringen wollten. Die Nachrichten, die sie schickten, wurden jedoch immer verwirrender.

Die aus dem Berg gehauenen Steinwände, die den Hauptversammlungsraum des Kessels umfassten, waren von Schatten aus dem großen Kaminfeuer durchzogen, das still in der Ecke brannte; ein gelegentliches Knistern und Knacken des Holzes waren die einzigen Geräusche.

Als der Bote aus dem Vogelhaus die Tür öffnete, hallten das Geräusch der Angeln und das Winseln des Holzes durch die Stille. Grunthor schaute auf und bemerkte, dass sich die Haare an den sehnigen Armen des Bolg-Königs aufgerichtet hatten.

Der Soldat hüstelte höflich; es war ein Laut, den ein Mensch als Grunzen ansehen würde. Achmed winkte ihn ungeduldig herbei.

Lange starrte er auf die Botschaft, die ihm der Bote übergab, dann setzte er sich auf seinem schweren hölzernen Stuhl zurück und legte die Hand auf die dünnen Lippen, wie er es immer tat, wenn er angestrengt nachdachte. Schließlich schaute er auf und warf dem Sergeant-Major einen scharfen Blick zu.

»Ich muss in ein paar Wochen wieder aufbrechen«, sagte er zu Grunthor.

»Bist doch grade erst zurückgekommen«, meinte der Sergeant mürrisch. »Was ist denn jetzt wieder los?«

»Ich muss zum Karneval gehen.«

»Na ja, wenn’s so ist, wünsch ich dir viel Spaß«, erwiderte Grunthor sarkastisch. »Bring mir ’n paar von diesen leckeren gezuckerten Mandeln mit, wenn’s welche gibt.«

Achmed warf die Botschaft ins Feuer und sah zu, wie sie verbrannte. Er liebte das Zischen von versengendem Papier. Schließlich sagte er:

»Rhapsody und ihr Tunichtgut von Mann haben sich entschieden, Stephens Sohn Gwydion den Titel eines Herzogs von Navarne zu verleihen. Obwohl ich es mir kaum vorstellen kann, das von einem Cymrer zu sagen, muss ich doch gestehen, dass ich den jungen Gwydion mag, so wie ich seinen Vater gemocht habe.«

»Ja, der alte Herzog Stephen war’n netter Kerl«, stimmte Grunthor zu; die Schroffheit in seiner Stimme verflüchtigte sich ein wenig. »Aber wenn ich was sagen darf: Du hast noch ’ne Menge anderer Sachen zu tun, wenn du weißt, was ich meine. Die Krankheit breitet sich aus, oder zumindest scheinen all die, die eine Berührung mit dem Glas des Lichtfängers überlebt haben, große Schmerzen zu haben. Dann das seltsame Gepolter in den Brustwehren und die Nachricht von den Augen, dass es in Sorbold ungewöhnlich ruhig ist. Irgendwas stimmt nicht, man spürt’s an der Luft. Wäre wohl gut, zu Hause zu bleiben.«

»Zweifellos«, pflichtete Achmed ihm bei. »Aber ich habe andere Gründe, dorthin zu gehen, als das Hofzeremoniell über mich ergehen zu lassen oder ein paar nette Tage mit wichtigtuerischen cymrischen Adligen zu verbringen.«

»Das würd ich nie bezweifeln«, meinte der Sergeant trocken. »Wir alle wissen, wie sehr du solche Feierlichkeiten liebst. Ich nehm an, dass du’s auch wegen der Herzogin tust.«

Der Bolg-König erhob sich und hockte sich vor den Kamin. Die pulsierende Wärme glitt über die empfindlichen Nerven auf seiner Haut. »Eigentlich gar nicht. Sie muss etwas für mich tun. Und sie schuldet mir etwas.« Er stand auf und kehrte zu seinem staubigen Buch zurück. »Außerdem möchte ich Gwydion Navarne etwas geben etwas, das ich bei Rhapsodys Rettung an mich genommen habe. Ich hatte es für mich beansprucht, obwohl Ashe schon entschieden hatte, dass Gwydion es bekommen soll. Ich will derjenige sein, der es ihm übergibt, damit es in der richtigen Weise eingesetzt wird. Das muss ich allen Beteiligten klar machen. Und ich will in meiner Abwesenheit die Archonten auf die Probe stellen. Sie haben ihren Auftrag erhalten und wissen nun, was ich von ihnen erwarte und was ihr Zweck ist. Ich werde kaum länger als zwei Wochen fort sein. Sicher kannst du die Dinge bis dahin ohne Zwischenfall am Laufen halten, Grunthor.«

Der riesige Sergeant antwortete nichts darauf, sondern starrte nur in die zuckenden Flammen und fragte sich, welches Grauen wohl diesmal heraufdämmerte.

Auf dem höchsten vereisten Gipfel klammerte sich die Drachin an die schneebedeckten Felsen und zitterte im Wind. Sie war durch das Tor des erfrorenen Palastes geglitten und in die Berge gestiegen, wobei sie auf dem ganzen Weg zum dunklen Gipfel gegen den Wind kämpfen musste.

Sie hatte sich um die Bergspitze gewickelt, ihren schlangenartigen Schwanz im Eis verankert, die Zähne gegen den Wind gebleckt und bemühte sich, die Augen zu öffnen. Der Sturm, der um den Gipfel tobte, peitschte sie und vergrub sich mit eisigen Fingern in ihren Lidern.

Verdammt, dachte die Bestie.

Sie spürte die Kälte nicht mehr so deutlich, denn in ihr hatte sich ein Feuer entzündet. Mit der Erinnerung an ihren Namen war eine brennende Kraft gekommen, die tief in ihren Eingeweiden glühte. Es war eine Quelle der Stärke und Energie, die durch ihren Beinahe-Tod und ihre Einkerkerung fast versiegt war. So lange sie nicht gewusst hatte, wie sie hieß, wie ihre Vergangenheit aussah und wie sie in ihren gegenwärtigen Zustand gekommen war, war sie schwach, gestört, ohnmächtig gewesen. Doch nun, da sie sich wenigstens an einen Teil ihrer Vergangenheit erinnerte, wollte sie unbedingt auch den Rest erfahren.

Und ihre Kraft wieder finden.

Sie stählte ihren Willen gegen den eisigen Wind und schrie mit aller Macht ihres Geistes in den kreischenden Sturm.

Anwyn Anwyn!

Aus dem Drachenschlund der Bestie kam kein Laut, da sie keinen normalen Kehlkopf hatte. Doch der Wille zu sprechen reichte. Um sie herum verdichtete sich die Luft und erzitterte. Sie beugte sich ihrem Befehl, wie sich alle Elemente des Ansinnen eines Drachen beugten.

Anwyn

Die Aufwinde erfassten den elementaren Laut und dehnten ihn in den Luftstößen, bis er in langen, jammernden Wellen um den Gipfel schwebte und tanzte.

Annnnnnnwyyyyyyyyynnnnnnnnn!

Der Laut schwoll an und erfüllte die dünne Luft um den Berggipfel. Er nahm an Kraft und Eindringlichkeit zu; seine Schwingungen schüttelten den Schnee von den Bergspitzen und lösten Lawinen aus, die glitzernd an den Hängen herabstürzten.

Der Lärm wuchs und verebbte, wurde von Windströmungen erfasst und breitete sich in ihnen aus, wisperte hinaus in die weite Welt und vervielfältigte ihren Schrei wieder und wieder, bis er den Rand des Meeres erreichte.

Die Bestie packte die eisigen Felsen des Berggipfels, und der Nebel in ihrem Kopf lichtete sich so stark wie seit ihrem Erwachen nicht mehr. Sie hielt sich in den Wind, ihr reptilienhaftes Blut kreiste in einer Art Ekstase. Sie spürte den Widerhall ihres Namens in der Welt und seinen Tanz auf dem Wind; er donnerte die Hänge herab und jammerte durch die Schluchten.

Und in der Ferne, tausend oder mehr Meilen entfernt, erhob sich ein Lärm, der ihm antwortete und sein Echo war. Es war eine Schwingung aus der tiefen Vergangenheit, jahrhundertealt, in einer polternden Stimme, die nicht wie die eines Drachen klang, auch wenn sie sandig war, als ob sie auf irgendeine Weise an die Erde gebunden sei. Obwohl das Wort dasselbe und die lang gezogene Melodie der Silben beinahe die gleiche waren, steckte doch eine völlig andere Macht dahinter. Während der Ruf der Drachin siegreich geklungen hatte, kam die Antwort von einer gequälten Stimme. Selbst noch Jahrhunderte später und tausend Meilen in Raum und Zeit entfernt, war die Wut und der Hass, die in diesem Wort lagen und es zu einer peinvollen Wehklage anschwellen ließen, unüberhörbar.

Annnnnnnwyyyyyyyyynnnnnnnnn!

Die Bestie hob den Kopf über den Wind; ihre Sinne waren zu kristallener Klarheit geschärft.

Ihr gieriger Drachensinn empfing die Antwort wie ein Leuchtfeuer aus der Vergangenheit. Sie drehte sich langsam um, beachtete nicht das eisige Peitschen des unbändigen Sturms, schloss alle anderen Gedanken und Einflüsse aus und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Klang ihres Namens, der sich allmählich in dem Wind zersetzte, der ihn aufgenommen hatte.

Ihr Name, voller Hass ausgesprochen, klang wie der tiefste Ton einer eisernen Glocke, wie das Brüllen des Meeres, wie die Musik der Sterne in der kalten Leblosigkeit des Nachthimmels.

Ihr Geist hatte ihn eingefangen. Nun ertönte er unablässig hinter ihren Augen und rief ihr zu aus den dunkelsten Tiefen der Geschichte.

Sie wusste nicht, wer ihr geantwortet hatte oder warum es mit solcher Erbitterung geschehen war, aber das war gleichgültig. Irgendwo südlich der vereisten Berge, irgendwo hinter dem sichtbaren Horizont, irgendwo in der Vergangenheit hatte jemand sie gekannt. Jemand besaß eine Macht, die der ihren ähnlich war. Jemand, den sie wütend gemacht hatte. Bei diesem Gedanken stahl sich grimmige Freude in ihr Herz.

Endlich hatte sie eine Verbindung zu dem Ort, an welchem jener Schrei ausgestoßen worden war.

Sie war nun in der Lage, ihn zu bestimmen, und dabei vielleicht mehr über sich selbst und ihre Kraft herauszufinden.

Und über die Frau, die sie hasste.

Die Drachin glitt von dem Gipfel herunter und folgte durch den brausenden Wind und die tote Wüste dem Klang ihres eigenen wahren Namens; sie hielt sich in Richtung Süden, bis der endlose Winter dem späten Sommer wich. Sobald der Boden warm genug war, grub sie sich ein und folgte dem rauen Lied ihres Namens unter der Erdoberfläche.

Sie jagte die Echos.

Ihre erregende Vorfreude auf Blutvergießen stieg mit jeder Meile, die sie zurücklegte.

15

Terreanfor — Basilika des lebendigen Gesteins — Sorbold

Talquist wartete ungeduldig im grauen Licht der Morgendämmerung.

Wann immer er in den Nachtberg kam, nahm er nicht wie all die anderen Besucher des Tempels den Weg durch die Klamm, die sich durch die trockenen Felsen wand, welche als natürliche Festung dienten, sondern einen schmalen Pfad, den er vor vielen Jahren entdeckt hatte, als er Messdiener in der Basilika gewesen war. In jüngeren Jahren hatte ihn das Klettern erschöpft, doch als älterer Mann hatte er gelernt, sich abzuhärten und die Reise ohne größere Anstrengungen hinter sich bringen.

Während er darauf wartete, dass sich die Geheimtür öffnete, betrachtete er die trockenen Felsformationen, die den Nachtberg umgaben. Ihre Farben waren prachtvoll. Die gnadenlose Sonne Sorbolds hatte Adern aus blassem Rosa und Rostrot, Spuren von Grün und dunklerem Purpur in sie eingebrannt und den sandigen braunen Stein der Wüste ausgebleicht. Tiefer im Berg, im kühlen Reich des Lebendigen Gesteins, wohin das Licht nicht reichte, erstrahlten die Farben in ihrem früheren Glanz; sie waren echt, tief und voller Leben.

Eine Spur größerer Pracht, die sich mitten im Berg versteckt, dachte er. Wie passend.

Die Steinplatte vor ihm knirschte. Talquist wandte sich ihr zu und sah, wie eine dunkle Türöffnung vor ihm in den Schatten erschien. Er eilte hinein.

Lasarys, der oberste Priester von Terreanfor, stand dicht hinter der Tür und hielt eine schwache Laterne in der Hand. Als die steinerne Tür wieder zuschwang und das Licht ausschloss, bemerkte Talquist, dass das blasse Gesicht des Erdenpriesters mürrischer als sonst aussah.

»Guten Morgen, Lasarys«, sagte Talquist mit übertriebenem Eifer. »Wie geht es dir an diesem neuen Tag?«

»Sehr gut, mein Herr«, antwortete der Hauptpriester. »Und Euch?«

»Nun, das kommt darauf an, Lasarys. Wie geht es mit deinem Projekt voran?«

Lasarys schluckte sichtlich. »Ich ... ich habe einige weitere Orte gefunden, wo ich ernten kann, mein Herr.«

»Ausgezeichnet!«, rief Talquist und versuchte seine Freude zu verbergen. Er wusste, dass das Gewinnen des Lebendigen Gesteins für Lasarys eine mehr als unangenehme Aufgabe war. Für ihn war es, als müsse er seiner eigenen Mutter die Brust abschneiden. »Zeig sie mir.«

Lasarys verneigte sich leicht und hielt das kalte Licht hoch, das den Weg in das Innere der Kathedrale erhellte. Terreanfor war die älteste der fünf den Elementen geweihten Basiliken und die einzige in Sorbold. Zugleich war sie die bekannteste und so alt wie die Erde, einer der letzten Fundorte des Lebendigen Gesteins auf dem Kontinent. Die Magie dieses Ortes war selbst in der Luft zu spüren. Von dem Augenblick an, wo Talquist aus dem heißen, trockenen Wind der äußeren Welt in die kühlen, feuchten Tiefen des Tunnels in den Nachtberg getreten war, fühlte er die Macht.

Er folgte dem Schatten des Hauptpriesters durch die gewundenen Tunnel, an die er sich aus der Zeit seines Messdienstes erinnerte. Die dunklen Wände schimmerten in Grün und Rosa, Purpur und Blau, wenn das Licht auf sie fiel. Im Gegensatz zu ihrem dunklen Bruder steckte die Lebendige Erde voller Farbe.

Die Tunneldecke wich einem großen, hohen Gewölbe weit über ihnen, als sie den eigentlichen Tempel betraten. Lasarys löschte die Laterne. Das einzige Feuer, das in den äußeren Gängen von Terreanfor gestattet war, wurde an einem goldenen Symbol der Sonne entzündet. In der Basilika selbst war kein Licht erlaubt außer den glimmernden, phosphoreszierenden Steinen, die aus sich selbst heraus kalt in der ansonsten vollkommenen Finsternis leuchteten.

Sie schritten an der ersten der gewaltigen Säulen vorbei, die wie Bäume geformt waren, welche bis zum Gewölbe der Hauptapsis reichten, in der eine ganze Menagerie von Tierstatuen stand. Es waren lebensgroße Skulpturen von Löwen, Gazellen, Elefanten und Gnus, die fast zu atmen schienen, da sie aus Lebendigem Gestein geschaffen waren. Hoch oben in den Steinbäumen hockten Vögel, deren Federn im kalten Licht die tiefen, satten Farben der Erde zeigten. Talquist glaubte beinahe, sie zwitschern zu hören.

Lasarys führte ihn durch den erdenen Garten zu einem Durchgang, der von gewaltigen Soldatenstatuen flankiert wurde. Es waren dreißig an der Zahl; jeder Einzelne stand auf einem Sockel von drei Fuß Höhe und ragte zehn weitere Fuß auf. Die Steinkrieger bildeten mit ihren primitiven Schwertern einen Bogengang; ihre Gesichter spiegelten die Züge des eingeborenen Volkes wider, das lange vor den Cymrern hier gelebt hatte. Es war das Volk, das Terreanfor gegründet und erhalten hatte. Es hatte die wunderbaren Steinkunstwerke innerhalb der Basilika geschaffen, indem es in die Lebendige Erde die Samen der Bäume, die Federn der Vögel und das Innerste der Tiere gepflanzt hatte, die dann wie durch Magie gesprossen waren.

Als sie schließlich in einem dunklen Alkoven standen, in dem ein Beet irdener Blumen blühte, deren Blätter wie kleine Sterne geformt waren, deutete Lasarys langsam auf den Boden.

»Hier«, sagte er traurig. »Ich habe die gesamte Kathedrale durchkämmt, und auch wenn es mich sehr schmerzt, könnten wir eine oder zwei dieser Blumen ernten, falls Ihr noch mehr Lebendiges Gestein haben müsst.«

Talquist hüstelte und unterdrückte dadurch ein Lachen. Dann räusperte er sich und legte den Arm um die Schulter des Priesters.

»Lasarys, du machst Scherze.« Er drückte den Mann freundlich und ließ ihn dann wieder los. Sein Gesicht nahm in der beinahe völligen Dunkelheit einen feierlichen Ausdruck an. »Mein Freund, ich fürchte, du hast mich missverstanden.«

Er drehte sich um und betrachtete den Steingarten mit seinen Bäumen und Pflanzen, mit den Blumen und Seerosenblättern, allesamt aus Lebendigem Gestein erschaffen; sie pulsierten im Licht der glühenden Kristalle. »Als ich dich darum bat, den Stein zu ernten, den ich zu meinen Gunsten in die Waagschale gelegt habe, damit die Dynastie der Dunklen Erde endet und ich den Kaiserthron besteigen kann, brauchte ich nur ein wenig davon, denn ich hatte das hier.« Er griff in seine Robe und holte ein ausgefranstes, leicht nach innen gewölbtes Oval hervor, das von violetter Farbe war, wenn Licht darauf fiel. »Der Neubeginn – das ist es, was diese Schuppe bedeutet. Ihre Macht ist älter als die des Lebendigen Gesteins, zumindest sagen das die alten Bücher. Und zwischen dem Stein, den du mir gegeben hast, und der Schuppe hat dieser Neubeginn eingesetzt.

Aber es war bloß der Anfang, Lasarys. Was ich vorhabe, ist mehr als nur die Beeinflussung einer alten Waage und eines Gewichts. Nein, ich habe viel größere Pläne. Wenn ich Kaiser bin, muss mein Reich meiner Vision würdig sein. Und ich sehe meilenweit, Lasarys.« Seine Augen schimmerten in der Dunkelheit. »Tausende Meilen weit.«

Der alte Priester zitterte. »Ich verstehe Euch nicht, Herr.«

»Das ist schon in Ordnung, Lasarys, das brauchst du auch nicht. Du hast mir vor vielen Jahren als Lehrer gut gedient, als ich dein Hilfspriester war. Ich bin vor langer Zeit zu dir gekommen, weil ich gehofft hatte, ich könnte herausfinden, wie man diese Schuppe einsetzen kann, die ich im Sand der Skelettküste gefunden hatte. Du konntest keine Klarheit in die Angelegenheit bringen, aber es war keine verlorene Zeit, genauso wenig wie meine Lehrjahre bei Gelehrten und Waldhütern, Kapitänen und filidischen Priestern, denn an jedem Ort, an dem ich nach Antworten suchte, fand ich andere Dinge, die das Bild vervollständigten – wie Steine eines Mosaiks.« Er lächelte, denn er war zufrieden mit diesem Vergleich. Er hielt die violette Schuppe hoch. »Und das hier, Lasarys, ist das Mittelstück.«

»Ja, Herr.« Lasarys fügte sich still, wie er es immer tat, wenn sein Herr in dieser Weise schwadronierte.

»Wo ist der Seligpreiser?«, fragte Talquist. Nielash Mousa, der Segner von Sorbold, war das geistliche Oberhaupt der patriarchalischen Religion in diesem Land und einer der fünf Segner, der höchsten geistlichen Ratgeber des Patriarchen. Unter seiner Aufsicht kümmerte sich Lasarys um Terreanfor.

»Er ... er ist zusammen mit den anderen Segnern in Sepulvarta beim Treffen mit dem Patriarchen. Er wird frühestens in sechs Wochen zurückkommen.«

»Und er wird erst zu den heiligen Tagen am Beginn des Sommers wieder in der Basilika sein, oder?«

»Ja, Herr«, flüsterte Lasarys. Ein schlimmes Gefühl durchfuhr ihn.

»Ausgezeichnet.« Talquists schwarze Augen leuchteten in der Dunkelheit. Er wandte sich von dem Garten ab und ging zurück zu dem aus Soldaten gebildeten Bogengang, die den Blick starr nach oben gerichtet hatten. Er deutete auf die letzte Statue rechts von ihm.

»Ich glaube, der ist der Richtige, Lasarys.«

Die Augen des Hauptpriesters wurden groß in der Dunkelheit. »Der Soldat, Herr?«, fragte er entsetzt.

»Ja. Ich will, dass du ihn aberntest.«

»Welchen ... welchen Teil des Soldaten?«

»Den ganzen Soldaten, Lasarys. Ich brauche eine Menge Lebendiges Gestein, und er wird gerade so viel spenden, wie ich benötige.«

Der Geistliche schluckte vernehmlich. »Herr ...«, flüsterte er.

»Spar dir deine Bitten, Lasarys. Du steckst schon zu tief in der Sache drin, um jetzt noch etwas einwenden zu können. Ich komme morgen wieder her und will dann die Statue gefällt und für mich auf dem Altar liegen sehen. All deine Priester sollen dir helfen, damit sie nicht beschädigt wird. Sei vorsichtig. Ich vermute, sie wiegt über zwei Tonnen, vielleicht sogar drei. Schneide sie am Sockel ab, damit die Füße nicht beschädigt werden. Überdies werde ich auch den Stein des Sockels brauchen, falls noch etwas davon übrig bleibt.« Talquist klopfte Lasarys auf die Schulter. Der Geistliche weinte still. »Kopf hoch! Jede Geburt bringt Schmerzen mit sich. Und wenn du siehst, was geboren werden soll, und dir die Nation betrachtest, die daraus entstehen wird, dann wirst du schließlich begreifen, dass es alle Qualen tausendmal wert ist.«

Er drehte sich um, ging an dem Priester vorbei und lief durch die dunkle Kathedrale zum Licht und dem heißen Wind der Oberwelt.

Jierna’sid — Palast von Jierna Tal — Sorbold

Als Talquist später am Nachmittag über den Handelsberichten und Schiffsmeldungen von der Westküste brütete, wurde sein Blick wieder von der Schuppe angezogen.

Er hielt in seiner Arbeit inne, legte die Feder zur Seite, streckte die Hand aus und strich geistesabwesend über die brüchige Oberfläche. Mit den Fingern fuhr er über die eingeritzten Linien und die kleinen Risse im Rand, die entfernt an einen Walknochen erinnerten.

Wie schön sie ist, dachte er und erinnerte sich daran, wie er die Schuppe zum ersten Mal gesehen hatte. Sie war nicht mehr als ein purpurner Schimmer im nebligen Sand der Skelettküste gewesen. Von dem Augenblick an, als er sie in seinen blutenden Fingern hielt, die er sich beim Graben in dem vulkanischen Sand aufgerissen hatte, wusste er, dass es etwas Uraltes mit großen magischen Kräften war. Damals hatte es sein Blut geschmeckt, was auch kürzlich wieder geschehen war.

Er dachte zurück an die Nacht im letzten Mittsommer, als er die Schuppe mit zitternden Händen auf die Waage von Jierna Tal gelegt hatte, dem gewaltigen Gerät aus der alten Welt, dessen gigantische Säule mit den großen Schalen aus gebranntem Gold auf dem Platz vor dem kaiserlichen Palast stand, in dem die Herrscherin von Sorbold drei Viertel eines Jahrhunderts unangefochten regiert hatte. Bis zu jener Nacht hatte die Dynastie der Dunklen Erde die ganze Nation im Würgegriff gehalten.

Er hatte dies geändert, hatte den Würgegriff gesprengt und der Kaiserin den Todesstoß versetzt. Und die violette Schuppe hatte es ihm erlaubt.

Die Schuppe hatte auf der einen Waagschale gelegen und ein Totem aus Lebendiger Erde, geschnitzt in Form des Sonnenthrones von Sorbold, auf der anderen.

Talquist schaute auf sein Handgelenk, das von einer verblassenden Narbe verunstaltet war. Sie war ein Überbleibsel des letzten Elementes der Austarierung – sieben Tropfen seines Blutes, freiwillig gegeben, sorgsam gezählt, als sie einer nach dem anderen auf die Waagschale fielen.

Ein Blutopfer zum Aufrechnen gegen das Lebendige Gestein – seine Lebensessenz auf der einen Seite und die der Erde auf der anderen.

Die Waagschalen hatten sich gehoben. Die blutige Schale stieg auf, dann kamen sie ins Gleichgewicht. Das Totem aus Lebendigem Gestein war in einer Rauchwolke zu Asche verbrannt.

Und die Macht der Dynastie der Dunklen Erde war in einem metaphysischen Herzschlag aus den Händen der Kaiserin in die seinen übergegangen.

Später hatte bei der großen Zeremonie nach dem Tod der Kaiserin jeder der Bewerber um den Thron aus den verschiedenen Gruppierungen Sorbolds die Waage von Jierna Tal bestiegen, um sich gegen den Staatsring, das Symbol der Macht, wiegen zu lassen. Jeder, der vor ihm auf die Waagschale gestiegen war, war für unpassend befunden worden, bis schließlich er an der Reihe gewesen war und gut sichtbar für alle Zuschauer von dem heiligen Gerät, das seit Jahrhunderten die wichtigsten Staatsangelegenheiten entschied, hoch in die Luft gehoben worden war. Die Waage und der Segner hatten ihn als Kaiser ausgerufen, doch Talquist war sich der politischen Unsicherheit bewusst, welche die plötzliche Wendung der Ereignisse mit sich gebracht hatte, und hatte deshalb bescheiden angeboten, befristet für ein Jahr als Herrscher ausgerufen zu werden. Falls ihn die Waage danach noch einmal bestätigte, würde er den Kaiserthron besteigen.

Er nutzte die Zeit gut. Die Beschränkungen, die die Kaiserin dem Handel auferlegt hatte, waren verschwunden, und sein Einfluss auf den Seehandel und die abhängigen Arbeitskräfte war sprunghaft gestiegen. Die Arenen und der blutige Kampfsport, der früher von der Krone nur an wenigen Orten geduldet und streng geregelt war, blühten nun im ganzen Land. Sklavenfang auf hoher See und im Süden, in den Niederen Landen, versorgte die Minen und steinigen Bergweinbaugebiete mit dringend benötigten Arbeitern. Die kaiserlichen Schatzkisten waren hübsch gefüllt.

Kurz, das Leben war schön.

Und das alles verdankte Talquist seiner wunderbaren Entdeckung, der Schuppe des Neubeginns mit den angenagten Rändern.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Gedanken.

»Herein«, rief Talquist, schloss seine Bücher und steckte die Schuppe zwischen die Falten seiner Robe. Der Kammerherr trat ein. Es war ein Mann mit der typischen dunklen Haut und dem kastanienbraunen Haar der Sorbolder, so wie auch Talquist.

»Mein Herr, ein Abgesandter der Rabengilde aus Yarim bittet um eine Audienz mit Euch unter dem Zeichen des goldenen Gewichts.«

Talquist lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Das goldene Gewicht war ein Losungswort, das nur den Anführern der Gilde bekannt war.

»Bitte ihn herein.«

Der Kammerherr trat zur Seite und gestattete dem Besucher den Eintritt. Der Mann ging durch die Tür wie ein Schatten und vermied instinktiv die Flecken aus verschwommenem Nachmittagslicht, die durch die staubigen Fenster hereinschienen.

Er hielt sich stattdessen an die dunklen Stellen und wurde eins mit ihnen, während er sich bewegte. Er trug die einfache Kleidung eines Reisenden: einen Umhang und eine Hose aus braunem Leinen. Seine dunklen Augen funkelten unter der Kapuze.

Während er sich dem Schreibtisch des Herrschers näherte, legte er den Umhang ab und enthüllte ein totengleiches Gesicht, das von ausgedünntem Haar bekränzt wurde. Lange Koteletten verbanden sich mit einem scharf getrimmten Bart, der seine Wangen wie diejenigen Schatten verdunkelte, durch die er schritt.

»Ich überbringe Euch Grüße von meinem Vetter in den Bergen, Herr«, sagte er. »Ich bin Dranth, der Kronprinz der Rabengilde von Yarim.«

Talquist stand langsam auf, winkte den Mann näher heran und betrachtete ihn eingehend.

Die Losung, die er gesprochen hatte, war noch geheimer und wurde nur in den schwersten Zeiten benutzt.

»Welchem Umstand verdanke ich die Ehre des Besuchs des Gilden-Kronprinzen persönlich?«, fragte Talquist und deutete auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Mein herzliches Beileid zum Tod Eurer Gildenmeisterin.«

Er suchte Dranths Gesicht sorgfältig nach einem Anzeichen von Überraschung ab, weil er von Estens Tod wusste, aber der Mann nickte bloß. »Ich habe sie nie persönlich getroffen, und wir haben keine Geschäfte miteinander gemacht, aber ihr Ruf war mir wohl bekannt.«

»Zweifellos«, erwiderte Dranth trocken. »Mein Herr.« Er setzte sich langsam auf den Stuhl.

»Da Ihr mich unter dem Zeichen des goldenen Gewichts sprechen wolltet, also von Kaufmann zu Kaufmann und von Gildenführer zu Gildenführer, bin ich verpflichtet, Euch auf jede erdenkliche Weise zu helfen, wenn Euer Begehren vernünftig ist. Was wollt Ihr?«

»Eigentlich glaube ich, dass das, was ich Euch bringe, für Euch von Nutzen sein kann, Herr«, sagte Dranth ehrerbietig. Er zog ein in Schafsfell gewickeltes Paket aus den Falten seines Umhangs und legte es vor dem zukünftigen Kaiser auf den Tisch. »Bitte schaut es Euch an.«

Talquist nickte in Richtung des Pakets. »Öffnet es für mich«, sagte er freundlich.

Dranth lächelte. »Gern, auch wenn Ihr von mir keine Fallen oder Gifte zu erwarten habt, Herr. Euer langes Leben und Eure gute Gesundheit sind mir sehr wichtig. Warum, werdet Ihr sogleich sehen.«

Er zog aus dem Paket ein Bündel Dokumente, jedes in der spinnenartigen Handschrift des Mörder-Codes, geschmückt mit Zeichnungen von Tunneln, Bunkern und Brustwehren.

»Die Gildenmeisterin hatte zum Zeitpunkt ihres Todes Aufklärungsarbeit im Firbolg-Königreich Ylorc geleistet«, erklärte Dranth leise. Talquist bemerkte, dass seine Stimme sowohl süß als auch giftig war, wie der Geruch der Mandeln im Arsen. »Sie hatte das Vertrauen des Bolg-Königs erworben und daher unbeschränkten Zugang zu seinem innersten Heiligtum, seinen Geheimnissen und Plänen. Sie hat viele Informationen nach Hause geschickt, einschließlich der Truppenstärke und Schlachtpläne, Tunnel- und Geländepläne, Munitionslager und vielem anderen wichtigen Material.« Er warf die Dokumente vor Talquist auf den Tisch.

»Unter anderem hat sie herausgefunden, dass er plant, gegen Sorbold zu marschieren.«

Talquist schnaubte: »Falls dem so ist, gibt es keinerlei Anzeichen dafür. Die Bolg sind mehr damit beschäftigt, Canrif zu verschönern, als zum Krieg aufzurüsten. Mir scheint König Achmed kein landhungriger Knabe zu sein. Er will, dass wir die Ungeheuer, über die er herrscht, als Menschen ansehen. Deswegen sind ihm Handelsabkommen und Warenaustausch wichtiger als Krieg.«

Dranth nickte nachdenklich. »Welche Waren stellt er her?«

Talquist zuckte die Achseln. »Die Bolg erzeugen eine seltsame, aber bemerkenswerte Mischung von Gütern«, sagte er. »Sie fertigen sehr leichtes, dehnbares Seil, das im Schiffsverkehr beliebt ist. Auch spinnen sie feine Damenhosen, was mich immer sehr amüsiert hat. Eine Holzart aus ihren inneren Wäldern hinter den Bergen hat einen leichten Blaustich in der natürlichen dunklen Färbung und wird besonders in Übersee stark nachgefragt.«

»Außerdem stellen sie Waffen her«, bemerkte Dranth. »Außerordentlich wirksame und tödliche Waffen.«

»Ja.«

»Aber während sie mit Euch Handelsabkommen haben, nach denen Ihr ihre Seile, ihr Holz und ihren Wäschemist kaufen und vermitteln dürft, verkaufen sie Euch ihre Waffen nicht.« Dranth lächelte eisig. »Oder etwa doch?«

Talquist schaute den Gildenführer lange an, blickte dann auf seinen Tisch und grinste.

»Was für eine Rechnung habt Ihr mit den Bolg zu begleichen?«, fragte er schließlich, während er mit dem Finger über die Holzmaserung fuhr.

»Der Tod unserer Meisterin«, antwortete Dranth.

»Sonst nichts?«

»Nein. Sie suchte Rache wegen einer anderen Angelegenheit, wegen des Diebstahls von Wasser, aber das ist nicht mehr von Bedeutung. Die Rabengilde hat geschworen, ihren Tod zu rächen. Das ziehen wir allem anderen vor und scheuen keine Ausgaben, keine Kosten irgendwelcher Art, bis zum Ende der Zeit, wenn es sein muss.«

Talquist kicherte. »Junge, Junge. Das ist wirklich eine bemerkenswerte Haltung.« Er schaute in das ernste Gesicht des Gilden-Kronprinzen, und sein Lächeln verdüsterte sich ein wenig. »Wenn Ihr zu Eurer Rache meine Hilfe haben wollt, hättet Ihr nur unter dem Zeichen des goldenen Gewichts um sie bitten sollen. Es ist gar nicht nötig, dass ich Eurer Blutrache zustimme; wichtig ist nur, dass sie meinen eigenen Interessen nicht zuwiderläuft.« Sein Lächeln wurde ein wenig breiter. »Und das ist nicht der Fall.«

Dranth nickte. Die Erleichterung in seinen Augen erreichte nicht sein restliches Gesicht.

»Wenn wir unsere Kräfte bündeln, könnt Ihr Eure Rache haben, und meine Pläne wird es auf angenehme Weise vorantreiben.« Er drückte seinen Stuhl zurück, stand auf und ging langsam zu den hohen Fenstern, welche den zentralen Platz der Stadt überblickten, auf dem die Waage stand. Ihr gewaltiger Arm warf einen dunklen, rechteckigen Schatten auf die Straßen. »Ich nehme an, es ist Euch klar, dass dieses Gespräch unter dem heiligen Eid der Gildenmeister steht?«

»Natürlich.«

»Und dass wir als Brüder der Gilden dazu verpflichtet sind, ehrlich miteinander umzugehen?«

Dranth zog die Brauen zusammen. »Die Rabengilde folgt derselben Standesehre wie alle anderen Gilden, Herr. Trotz unseres besonderen Geschäftsbereiches.«

»Versteht mich nicht falsch, Kronprinz«, wandte Talquist ein und öffnete die Hände zu einer milden Geste. »Ich achte den Ruf Eurer Gilde und Eure Sachkenntnis. Zu meiner Zeit als Gildenhierarch im westlichen Sorbold habe ich mit vielen Eurer Brudergilden zu tun gehabt. Ich muss aber unbedingt die Wahrheit wissen. Hat die Gildenmeisterin wirklich einen Plan der Bolg aufgedeckt, in Sorbold einzumarschieren, oder ...«

»Nein.«

»Gut. Ich bitte Euch, mir beim Abendessen Gesellschaft zu leisten. Dabei können wir besprechen, wie wir unser jeweiliges Ziel am besten erreichen.« Dranth nickte, und Talquist läutete nach dem Kammerherrn.

Als die Liköre serviert und die letzten Teller abgedeckt wurden, beugte sich Talquist über den Tisch.

»Jetzt, da ich die Fähigkeiten Eurer Organisation verstehe, glaube ich einen Weg zu sehen, wie ich Eure Bitte erfüllen kann.«

Dranth schlang die Finger ineinander. »Ich höre.«

»Alle Erkenntnisse, die Ihr mir mitgeteilt habt, entsprechen der Wahrheit, außer Eurer früheren Behauptung, die Bolg wollten Sorbold angreifen, nicht wahr?«

»Ja«, antwortete der Kronprinz der Rabengilde mit düsterer werdendem Blick. »Warum?«

Talquist ließ den Likör in seinem Glas sanft kreisen und atmete das Bukett ein.

»Was wisst Ihr über das Königreich Golgarn?«

Dranth zuckte die Schultern. Golgarn war ein fernes Reich, südöstlich von Ylorc und Sorbold gelegen. Die gefährlichen Pässe in den Zahnfelsen verhinderten den Handel über Land sowie Reisen von Roland und Ylorc nach Golgarn, sodass Informationen nur durch Botenvögel und Waren über das Meer ausgetauscht werden konnten. »Dort gibt es eine Brudergilde. Esten stand in losem Kontakt mit ihr, zu dem es für gewöhnlich kam, wenn ein Schuldner von hier nach dort oder umkehrt fliehen wollte, um seinen Verpflichtungen zu entgehen. Sie hat die Brudergilde als sehr hilfsbereit empfunden und sich dafür immer rasch erkenntlich gezeigt. Golgarn steht in freundschaftlichem Kontakt mit Sorbold, nicht wahr?«

»Ja«, stimmte Talquist ihm zu. »Aber der Kontakt ist nicht freundschaftlich genug.« Er nahm einen Schluck der goldenen Flüssigkeit, als Dranth fragend eine Braue hob. »Ihr werdet nach Golgarn gehen und ihre Nachrichtenkanäle unterwandern, die beim König enden. Ihr erzählt ihnen dasselbe Märchen, das Ihr mir erzählt habe, nämlich dass Ihr unanfechtbare Beweise für den Plan des Bolg-Königs habt, sein Heer aufzurüsten und Golgarn zu überfallen.«

»Sie werden mir nicht mehr glauben als Ihr«, sagte Dranth düster. »Die Berge schützen sie. Die Bolg-Tunnel enden fünfhundert Meilen vor ihrem Reich.«

Talquist grinste. »Ja, Ihr habt Recht. Wenn jemand zu Beliac, ihrem König, ginge und ihm eine solch abenteuerliche Geschichte erzählte, würde er sie sofort durchschauen. Aus diesem Grund müsst Ihr ihn dazu bringen, diese Information selbst herauszufinden.« Er leerte sein Glas und griff nach der Karaffe, um es erneut zu füllen. »Wenn echte, leicht abgeänderte Dokumente beweisen, dass die Bolg-Tunnel nicht fünfhundert, sondern fünf Meilen vor Golgarn enden, und diese bei dem Einbruch in ein Haus von zweifelhaftem Ruf – wie etwa dem Eurer Bruder-Gilde – gefunden würden, wäre Beliac genügend besorgt, um eine Untersuchung einzuleiten.«

Auch Dranth goss sich ein weiteres Glas ein. »Und was würde er finden, wenn er fünf Meilen weit in die Berge eindränge?«

»Ein Feldlager der Bolg, die sich auf den Krieg vorbereiten«, antwortete Talquist.

Dranth hatte das Glas an die Lippen gehoben und hielt in seiner Bewegung inne. »Aber da gibt es keine Bolg.«

»Es könnte welche geben. Zumindest genug, um Beliac davon zu überzeugen, dass er an seiner Grenze ein ernstes Problem hat.«

»Eine Scharade? Ein vorgespieltes Feldlager?«

»Genau.«

»Wie? Wie wollt Ihr genug Bolg überreden, einschüchtern oder gefangen nehmen, um eine solche Maskerade durchführen zu können? Sie sind ihrem König und Oberbefehlshaber gegenüber einzigartig loyal, von ihrer Schlichtheit und mangelnden Vertrauenswürdigkeit gar nicht erst zu reden. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, dass sie unter Folter oder in Todesschmerzen eine solche Scharade aufführen würden.«

Talquist nahm einen Schluck und öffnete die Lippen gerade weit genug, über die brennende Flüssigkeit hinweg einzuatmen und den Mund mit den alkoholischen Dünsten zu füllen. Dann schluckte er.

»Dranth«, sagte er und beugte sich nach vorn, »niemand hat in Golgarn je einen Bolg gesehen. Zumindest nicht seit dem cymrischen Krieg vor tausend Jahren. Ich könnte einen Ochsen oder einen Gorilla in ein rosafarbenes Unterhemd stecken und ihn mit einer schrecklichen Maske und einem Speer in die Berge stellen, und Golgarn würde glauben, dass man es angreift.«

Der Gildenführer starrte den Herrscher eine Weile an. Die Andeutung eines Lächelns legte sich über sein ansonsten regloses Gesicht. Er prostete Talquist zu und trank.

»Also habt Ihr vor, Golgarn zu vernichten?«, fragte er. »Ihr wollt sie anstiften, die Bolg anzugreifen?«

»Golgarn vernichten? Macht Euch nicht lächerlich, Dranth. Golgarn ist ein wichtiger Verbündeter, und Beliac ist mein Freund.«

Der Gildenführer schüttelte verwirrt den Kopf. »Dann verstehe ich Eure Beweggründe nicht. Wenn Ihr den König von Golgarn davon überzeugt, dass sich die Bolg gegen ihn sammeln, und er sie daraufhin angreift, werden die Bolg ihn und sein ganzes Königreich buchstäblich auffressen.«

»Beliac wird die Bolg nicht angreifen«, sagte Talquist. »Zumindest nicht allein. Er wird sich an mich wenden. Das sorboldische Heer ist zehnmal stärker als Golgarns, das zwar zahlenmäßig auch recht beachtlich, aber schlecht darauf vorbereitet ist, einseitig loszuschlagen. Beliac ist ein Verbündeter, der nicht einmal weiß, dass er mir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Aber bald wird er es wissen.«

»Eure Bereitschaft, Eure Freunde so gnadenlos zu manipulieren, ist bewundernswert«, sagte Dranth, trank aus und stellte das Glas auf den Tisch. Es fing das Kaminlicht ein und warf es in einem goldenen Fleck auf den Tisch. »Nicht viele Männer haben diesen Mut.«

Talquist zuckte die Schultern. »Ich bin Kaufmann, Dranth. Kennt Ihr das Sprichwort, dass wir unsere eigene Mutter verkaufen würden, wenn es Gewinn verspricht? Nun, das habe ich wirklich getan. Habe einen anständigen Preis für sie bekommen.«

»Was habt Ihr davon, wenn der König von Golgarn mit Euch einen Pakt gegen eine angebliche bolgische Invasion eingeht?«

»Ein Heer, das meinen Plänen entspricht.«

»Und was sind das für Pläne?«

Der Herrscher von Sorbold lächelte. »Das sollt Ihr selbst herausfinden«, sagte er freundlich und stand auf, wie um anzudeuten, dass Mahl und Gespräch vorbei waren. »Seid versichert, dass Euer Verlangen, den Bolg-König zur Rechenschaft zu ziehen, mehr als befriedigt werden wird. Von Gildenbruder zu Gildenbruder möchte ich Euch noch ein kleines Geheimnis verraten. Ich brauche überdies einen nördlichen Verbündeten. Der Priester des Hintervold ist ebenfalls mein Freund, und zwar ein sehr enger. Ich verdanke ihm fast meinen gesamten Wohlstand, den ich in meiner Laufbahn als Kaufmann angehäuft habe. Er hat mir sogar einmal das Leben gerettet. Und wenn Ihr sehen werdet, welche grausamen Methoden ich einsetzen werde, um mir seine Ergebenheit zu sichern, werdet Ihr erst begreifen, wie sehr es mir zusteht, ein Bruder Eurer Gilde genannt zu werden.«

Talquist setzte die leinene Kapuze seiner Herrscherrobe auf. »Und nun, Dranth, geht mit dem Kammerherrn und ruht Euch ein wenig aus. Morgen früh werden wir Pläne schmieden, doch zuvor muss ich mich noch um andere Dinge kümmern. Ein Monstrositätenkabinett ist in der Stadt, und ich erhalte eine Privatvorstellung. Ich liebe solche Seltsamkeiten. Gute Nacht.«

16

Der Sonnenuntergang färbte den Horizont an seinem östlichen Rand kobalt- und indigoblau, und dort, wo das Licht den Himmel noch im Westen berührte, war er türkisfarben. Talquist sog gierig die Abendbrise ein; die Luft wurde bei Anbruch der Nacht und mit dem Wechsel der Jahreszeiten in den nördlicher gelegenen Ländern immer kühler. In der sorboldischen Wüste bestand der Herbst hauptsächlich aus einem etwas frischeren Wind am Morgen und Abend. Ansonsten brannte die endlose Wüstensonne unablässig weiter und verwandelte das trockene Land allmählich zu Sand.

Von seinem Balkon sah er die Lagerfeuer des Zirkus, die Licht und dünne Rauchwölkchen in den Himmel schickten. Es war eine Einladung an ihn – nur an ihn allein. Er seufzte.

Es hatte eine Zeit gegeben, als er nichts als ein mächtiger Kaufmann gewesen war und es ihm keine Schwierigkeiten bereitet hatte, seine dunkelsten Phantasien in einem solchen Wanderzirkus auszuleben. Nun aber, da er der Welt als zukünftiger Kaiser von Sorbold bekannt war, durfte er höchstens belustigt zwischen den Wagen umherschlendern, aber keinesfalls an den sündigeren Genüssen teilhaben, die es hier auch gab. Eine Schande, dachte er, als er von dem Fenster zurücktrat und über die Treppe dem wartenden Zirkus entgegenging. Anschauen, aber nicht anfassen. Also gut.

Als er am Zirkustor ankam, wartete der Direktor bereits auf ihn.

»Eure Exzellenz«, grüßte er und verneigte sich tief. Seine gestreifte Seidenhose dehnte sich dabei grotesk.

»Also bitte, Gart, du und ich arbeiten doch schon seit vielen Jahren zusammen«, tadelte Talquist ihn. »Wir hatten gute Zeiten, und manchmal haben wir in lebensgefährlichen Situationen dem anderen den Rücken freigehalten. Es besteht kein Grund, jetzt so formell zu sein, wo ich, nun ja, Kaiser bin. Du darfst mich mit >mein Herr< anreden.«

»Ja, mein Herr«, murmelte der Zirkusdirektor und öffnete das Tor.

Er folgte dem zukünftigen Kaiser durch dunkle Wege, in Zelte hinein und wieder aus ihnen heraus, während Talquist das seltsame menschliche Inventar bewunderte. In einem Zelt hielten sie vor einer kleinen Frau mit mandelförmigen Augen, die auf einem winzigen Stuhl saß und einen gewaltigen Kragen um den Hals trug. Die Frau erkannte Talquist und erzitterte heftig, worauf die beiden Männer laut lachten.

»Ach, die Gwadd! Ich hatte sie völlig vergessen«, sagte Talquist. Er beugte sich vor. Die kleine Frau wich entsetzt zurück. »Kein Grund zur Sorge, kleine Süße«, murmelte er. »Ich fürchte, ich bin inzwischen so wichtig geworden, dass ich nicht mehr mit dir spielen darf.« Er wandte sich an den Zirkusdirektor, während sie weiter durch die Ausstellung liefen. »Wenn du zurück nach Roland gehst, solltest du vorsichtig sein, damit der cymrische Herrscher nicht bemerkt, dass du sie hast. Die Gwadd sind eigentlich keine Missgeburten. Es sind Leute aus der alten Welt – eine uralte Rasse, die mit dem cymrischen Exodus gekommen ist. Deswegen ist sie eigentlich seine Untertanin. Wenn er sie in deinem Zirkus entdeckt, wird er sie befreien und dich ins Gefängnis stecken.«

»Wie sollte der hohe Herr Gwydion das erfahren, es sei denn, er bucht eine Vorstellung im Monstrositätenkabinett?«, fragte der Zirkusdirektor verächtlich. »Meine Zuschauer haben keine Einladung zum Essen in Haguefort, bei dem sie ihm meine Geheimnisse verraten könnten.«

»Das ist nur allzu wahr«, pflichtete Talquist ihm bei und stellte sich vor einen zerbrechlichen Glastank, in dem eine fließende Masse verschrumpelten menschlichen Fleisches im Wasser schwamm. »Das hier ist neu. Was ist das für eine Missgeburt?«

»Wir nennen sie den Wundersamen Fischjungen«, erklärte der Zirkusdirektor und klopfte gegen das Glas, um die Kreatur zu wecken. »Wie Ihr seht, könnte es genauso gut das Erstaunliche Fischmädchen sein. Wir wissen eigentlich nicht, was es ist. Ich habe es zwei schwachsinnigen Fischern aus Avonderre abgekauft.«

»Hat es einen Namen?«, fragte Talquist und spähte tiefer in das schlammige grüne Wasser.

Der Zirkusdirektor zuckte die Achseln. »Entenfuß-Emmi nennt es Faron«, sagte er.

Die Kreatur im Tank erwachte und erkannte den Zirkusdirektor. Sie zischte drohend. Aus den Rändern des gummiartigen, in der Mitte über den weichen, gelben Zähnen zusammengewachsenen Mundes, floss das Wasser in unmissverständlichen Strömen der Wut.

»Guter Gott«, rief Talquist aus und kicherte. »Was für ein Grauen!«

Das Geschöpf zischte erneut, schwamm herbei und streckte die Klauen nach dem Zirkusdirektor aus. Hass lag in seinen trüben Augen.

»Er scheint dich zu mögen«, sagte Talquist belustigt und hob die Hand zum Schutz vor dem Speichel der Kreatur, die sich gegen das Glas drückte und nach dem Zirkusdirektor griff.

Im Licht der Zeltlaterne bemerkte er das Aufblitzen von schillerndem Licht. Es war ein rasch vergehendes Glitzern im Bauch der Kreatur, als sie den Zirkusdirektor mit ihren weichen Armen zu packen versuchte. Talquist blinzelte, weil er glaubte, der Wind habe ihm vielleicht nur ein Sandkorn ins Auge getrieben. Dann schaute er sich den Unterkörper des Wesens genauer an.

Er musste einige Zeit angestrengt hinsehen, denn die Lagen aus fettlosem Fleisch schaukelten im Wasser, doch schließlich bemerkte er es erneut. Zwischen den Hautfalten stachen Stacheln hervor, als ob sie dort versteckt worden wären. Die Spitzen der ovalen Schuppen sahen so aus wie die violette, die sich in seinem Besitz befand. Talquist spürte, wie kalte Erregung durch seinen Körper strömte. Das Blut floss von seinem rasch arbeitenden Hirn zum Herzen, das noch rascher arbeitete und ihn schwächte und ihm den Schweiß auf die Stirn trieb. Er hüstelte, um seine Erregung zu verbergen. »Wo haben die Fischer dieses ... dieses Ding gefunden?«, wollte er wie beiläufig wissen und versuchte dabei seine Stimme ruhig zu halten.

Der Zirkusdirektor zuckte die Schultern. »Das haben sie nicht gesagt. Vielleicht hatte es sich in irgendeinem Netz verfangen. Wenn ich Euch weiter bitten darf, mein Herr, ich möchte Euch unseren neuen Menschenfresser zeigen.« Er ergriff die Klappe des Zeltausgangs.

»Warte«, sagte Talquist. Seine Stimme war härter geworden. Er starrte weiterhin auf die Kreatur im Tank. Nun wich sie von der Scheibe zurück, drehte sich um und schaute den Zirkusdirektor böse über die skelettartige Schulter an.

Gart ließ die Zeltklappe los und trat wieder neben den Herrscher, in dessen Augen es glitzerte.

»Es ist eine wirklich beeindruckende Missgeburt«, sagte er mit ehrlicher Bewunderung im Blick. »Auf all meinen Reisen habe ich nichts derart Groteskes und Scheußliches gesehen, was noch gelebt hätte. Es war ein unverhoffter Glücksfall. Unser Einkommen hat sich gewaltig erhöht, seit ich ihn gekauft habe.«

»Ich will ihn haben«, sagte Talquist leidenschaftlich. »Nenn mir seinen Preis.«

Diese Worte machten den Zirkusdirektor sprachlos. Er lachte kurz auf, als ob man ihm den Bauch gekitzelt hätte.

»Das meinst du nicht ernst«, sagte er und vergaß völlig, dass er mit dem zukünftigen Kaiser sprach.

»Ich meine es völlig ernst«, beharrte Talquist. »Ich gebe dir das Zehnfache dessen, was du für ihn bezahlt hast.«

Der Zirkusdirektor schüttelte den Kopf. »Meine Entscheidung ist unumstößlich«, sagte er und kniff die Lippen zusammen. »Er steht nicht zum Verkauf, mein Herr.«

Talquists Hände wurden schweißnass. »Dann das Zwanzigfache.«

Der Zirkusdirektor wandte ihm den Rücken zu und ging wieder auf die Zeltklappe zu. »Dieses Ding verschlingt auf einen Schlag eine ganze Gallone Aale. Es hat mir gerade mal ein Dutzend meiner Zuchtgoldfische übrig gelassen – dank Entenfuß-Emmi, die sogar die Peitsche dafür riskiert. Es ist schwer zu hegen und durch und durch kränklich. Wozu wollt Ihr es haben? Nein, Herr, ich werde es Euch nicht verkaufen, und als Euer Freund kann ich mir nicht vorstellen, warum Ihr es haben wollt. Kommt, ich zeige Euch ein paar neue Missgeburten, die fast genauso beeindruckend sind.« Er schaute nervös über die Schulter. Der Herrscher starrte noch immer verzaubert den Fischjungen an. In seiner Verzweiflung kam Gart ein anderer Gedanke. »Ich habe einen neuen Lustwagen. Ich könnte ein paar Aufsehern befehlen, Wache zu stehen, falls Ihr ein wenig private Unterhaltung haben wollt, so wie früher ...«

Talquist drehte sich um und schoss einen Blick auf ihn ab, der wie ein Pfeil in seiner Stirn stecken blieb. »Mein letztes Angebot: das Zwanzigfache dessen, was du für ihn bezahlt hast, und freies Geleit aus meinem Land für dich.« Die Drohung in seiner Stimme war unüberhörbar.

Der Zirkusdirektor holte tief Luft und stieß den Atem langsam wieder aus. Innerlich kochte er. »Also gut. Ich habe zweihundert Goldkronen für ihn bezahlt – plus zwei«, fügte er rasch hinzu. Der Gedanke an die überheblichen Fischer schmerzte ihn immer noch.

»Du bist ein Lügner«, sagte Talquist verächtlich, »aber es ist mir gleich. Ich schicke meine Soldaten in zwei Stunden her, damit sie ihn abholen. Sie werden dir das Geld bringen, aber ich werde dich in sorboldischen Goldsonnen bezahlen. Unsere Münzen sind das Doppelte der orlandischen Kronen wert.«

»Ich vermute, Ihr wollt auch seine Nahrung haben«, meinte der Zirkusdirektor wütend. »Es ist unwahrscheinlich, dass Ihr mitten in der Wüste genügende Mengen an Fisch habt. Das wird teuer für Euch.«

»Behalte deine Nahrung, ich brauche sie nicht«, erwiderte der zukünftige Kaiser, ohne den Tank aus den Augen zu lassen. »Geh jetzt. Ich möchte mir meinen Neuerwerb ohne dich anschauen. Es ist offensichtlich, dass er dich nicht besonders mag.«

Er starrte weiterhin in das grüne Wasser und beobachtete die bleiche, fischartige Kreatur. Ihr umwölkter Blick folgte dem Zirkusdirektor, der das Zelt verließ und in die Dunkelheit trat.

Загрузка...