»Ja«, flüsterte ich, und ich konnte es verstehen. Die Veranda der Dettericks im Dunkeln. Wharton
neigt sich wie ein leichenfressender Dämon über sie. Eines der Mädchen setzt zu einem Schrei an.
Wharton schlägt es, und es blutet aus der Nase.
Es war hauptsächlich dieses Blut, das auf die Veranda getropft war.
»Er tötete sie mit ihrer Liebe«, sagte John. »Ihrer Liebe zueinander. Verstehen Sie, wie es war?«
Ich nickte, brachte kein Wort heraus.
Er lächelte.
Die Tränen flössen wieder, doch er lächelte. »So ist es jeden Tag«, sagte er, »auf der ganzen Welt«
Dann legte er sich auf die Pritsche und drehte das Gesicht zur Wand.
Ich trat hinaus auf die Meile, schloss seine Zellentür ab und ging zum Wachpult. Ich fühlte mich
immer noch wie in einem Traum. Ich erkannte, dass ich Brutals Gedanken hören konnte - ein sehr
schwaches Wispern, wie um die Trennung eines Worts zu überlegen, ich glaube, das Wort hieß
empfangen. Er dachte: Wird das verdammte Wort em-pfan-gen oder emp-fan-gen getrennt? Dann
blickte er auf, begann zu lächeln und hörte im Ansatz auf, als er mich genauer betrachtete. »Paul?«
fragte er. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja.« Dann erzählte ich ihm, was John mir gesagt hatte - nicht alles und natürlich nicht was seine
Berührung bei mir bewirkt hatte (ich habe diesen Teil niemals jemandem erzählt nicht einmal Janice;
Elaine Connelly wird die erste sein, die es erfährt das heißt wenn sie diese letzten Seiten lesen will,
nachdem sie all die anderen gelesen hat), aber ich gab wieder, dass John sterben wollte. Das war
anscheinend eine Erleichterung für Brutal - eine kleine jedenfalls -, aber ich spürte (hörte?), dass er
sich fragte, ob ich das nicht erfunden hatte, nur um ihn zu beruhigen. Dann spürte ich, dass er sich
entschied, es zu glauben, einfach weil es ihm die Dinge ein bisschen erleichtern würde, wenn es
soweit war.
»Paul, kommt diese Infektion zurück?« fragte er. »Du siehst ganz rot aus.«
»Nein, ich glaube, ich bin okay«, sagte ich. Das war ich nicht aber ich war zu diesem Zeitpunkt
überzeugt dass John recht hatte und ich bald wieder normal sein würde.
Ich spürte, dass das Kribbeln nachließ.
»Trotzdem könnte es nicht schaden, wenn du in dein Büro gehst und dich ein bisschen hinlegst«
Hinlegen war das letzte, nach dem mir in diesem Augenblick zumute war - die Idee kam mir so
lächerlich vor, dass ich fast lachte. Ich war mehr in der Stimmung, mir vielleicht ein kleines Haus zu
bauen, das Dach mit Schindeln zu decken, den Garten zu pflügen und zu bepflanzen. Alles vor dem
Abendessen.
So ist es, dachte ich, jeden Tag. Auf der ganzen Welt. Diese Dunkelheit auf der ganzen Welt
»Ich schaue lieber mal bei der Verwaltung vorbei. Muss dort ein paar Dinge überprüfen.«
»Wenn du meinst«
Ich ging zur Tür und öffnete sie. Dann blickte ich zurück. »Du hast es richtig getrennt«, sagte ich.
»EMP-FAN-GEN, nach dem P und dem N. So kenne ich es jedenfalls; aber ich nehme an, es gibt
Ausnahmen von allen Regeln.«
Ich ging hinaus und brauchte nicht zurückzublicken, um zu wissen, dass er mir offenen Mundes
nachstarrte.
Ich blieb den Rest dieser Schicht in Bewegung, konnte nicht länger als fünf Minuten hintereinander
stillsitzen, bevor ich wieder aufsprang. Ich ging zur Verwaltung, und dann stelzte ich auf dem leeren
Hof hin und her, dass die Wachen auf den Türmen mich für verrückt halten mussten. Als meine
Schicht vorüber war, beruhigte ich mich allmählich wieder, und dieses Rascheln der Gedanken in
meinem Kopf - es war wie das Rascheln von Blättern -, hatte ziemlich nachgelassen.
Doch auf dem halben Heimweg an diesem Morgen kehrte es stark zurück. Ich musste meinen Ford am
Straßenrand stoppen, aussteigen und fast eine halbe Meile sprinten, den Kopf gesenkt, mit den Armen
pumpend, und der Atem, den ich einsog und ausatmete, war so warm wie etwas, das man unter der
Achsel getragen hat. Ich joggte den halben Weg zum parkenden Ford zurück und ging den Rest des
Weges langsam, und mein Atem dampfte in der kalten Luft. Als ich zu Hause eintraf, erzählte ich
Janice, dass John Coffey mir gesagt hatte, er sei bereit und wolle sterben. Sie nickte und wirkte
erleichtert. War sie das wirklich? Ich konnte es nicht sagen. Vor sechs Stunden, sogar vor drei, hätte
ich es gewusst aber nun wusste ich es nicht. Und das war gut. John hatte gesagt, dass er es leid war,
und jetzt konnte ich verstehen, warum. Was er hatte, hätte jeden erschöpft. Jeder hätte sich nach
Ruhe und Frieden gesehnt.
Als Janice fragte, warum mein Gesicht so gerötet war und warum ich so verschwitzt roch, erzählte ich
ihr, dass ich den Wagen auf dem Heimweg geparkt hatte und eine Weile gelaufen war, und zwar
schnell. Soviel erzählte ich ihr - wie ich vielleicht schon gesagt habe (es sind jetzt zu viele Seiten, und
ich will nicht zurückblättern, um mich zu vergewissern), belegen wir uns nicht in unserer Ehe -, aber
ich erzählte ihr nicht, warum ich gelaufen war.
Und sie fragte nicht.
9
Es gab kein Gewitter in der Nacht in der John Coffey über die Green Mile gehen musste. Es war der Jahreszeit entsprechend in dieser Gegend und in den dreißiger Jahren kalt, und der Schein von Millionen Sternen fiel auf die abgeernteten Felder, wo Frost auf Zaunpfosten glitzerte und wie Diamanten auf den vertrockneten Maiskolben des vergangenen Juli funkelte. Bei dieser Hinrichtung hatte Brutus Howell die Leitung - er würde dem Todeskandidaten die Haube aufsetzen und Van Hay im Schaltraum das Kommando geben, wenn es soweit war. Bill Dodge war bei Van Hay. Und gegen elf Uhr zwanzig in der Nacht des zwanzigsten November gingen Dean, Harry und ich zu unserer einzigen belegten Zelle, in der John Coffey auf seiner Pritsche saß, verschränkte Hände zwischen den Knien, ein kleiner Fleck von Hackbratensoße auf dem Kragen seines blauen Hemdes. John Coffey schaute uns durch die Gitterstäbe an und schien viel ruhiger, als wir uns fühlten. Meine Hände waren kalt, und in meinen Schläfen pochte es. Zu wissen, dass er bereit war, war die eine Sache - sie ermöglichte uns wenigstens, unsere Arbeit zu tun -, aber es war eine andere Sache, zu wissen, dass wir ihn für ein Verbrechen, das ein anderer begangen hatte, auf dem elektrischen Stuhl hinrichten würden.
Ich hatte Hal Moores gegen sieben Uhr an diesem Abend zum letzten Mal gesehen. Er war in seinem Büro und knöpfte seinen Mantel zu. Sein Gesicht war bleich, und seine Hände zitterten so sehr, dass er Probleme mit den Knöpfen hatte. Ich wollte fast seine Hände zur Seite schieben und den Mantel für ihn zuknöpfen, wie man es bei einem kleinen Kind macht.
Die Ironie war, dass Melinda bei Jans und meinem Besuch am vergangenen Wochenende besser ausgesehen hatte, als Hal an diesem Abend aussah.
»Ich sehe mir diese Hinrichtung nicht an«, sagte er, »Curtis wird dort sein, und ich weiß, dass Coffey
bei Ihnen und Brutus in guten Händen sein wird.«
»Ja, Sir, wir werden unser Bestes tun«, sagte ich. »Gibt es neue Nachrichten über Percy?« Kommt er
wieder zu Verstand? meinte ich natürlich. Sitzt er jetzt irgendwo in einem Zimmer und erzählt
jemandem - höchstwahrscheinlich einem Arzt -, wie wir ihn in die Zwangsjacke steckten und in der
Gummizelle einsperrten wie jedes andere Problemkind ... jeden anderen Scheißer, in Percys Sprache?
Und wenn, würde man ihm glauben? Aber laut Hal war Percys Zustand unverändert. Er sprach nicht
und war anscheinend überhaupt nicht auf der Welt soweit das jemand beurteilen konnte. Er war noch
in Indianola - »wird beurteilt«, hatte Hal gesagt und verwirrt wegen der Formulierung gewirkt -, aber
wenn es keine Verbesserung gab, würde er bald verlegt werden.
»Wie hält sich Coffey?« fragte Hal dann. Er hatte es endlich geschafft, den letzten Knopf seines
Mantels zuzufummeln.
Ich nickte. »Er hält sich prima, Hal.«
Er nickte ebenfalls und ging zur Tür. Er sah alt und krank aus. »Wie kann so viel Gutes und Böses
zusammen im selben Menschen sein? Wie kann der Mann, der meine Frau geheilt hat, derselbe Mann
sein, der diese kleinen Mädchen tötete? Verstehen Sie das?«
Ich sagte ihm, dass ich es nicht verstand, dass Gottes Wege geheimnisvoll waren, dass Gutes und
Böses in allen von uns ist, dass es uns nicht zusteht, nach dem Warum zu fragen, blabla, blablaba.
Das meiste, was ich sagte, hatte ich in der Kirche >Gelobt sei Jesus, der Herr ist der Allmächtige<
gehört. Hal nickte die ganze Zeit und wirkte begeistert. Er konnte es sich erlauben zu nicken, nicht
wahr? Ja. und auch, begeistert zu wirken. Sein Gesicht spiegelte eine tiefe Traurigkeit wider, ja, er
war betroffen, das habe ich nie bezweifelt -aber diesmal gab es keine Tränen, denn er hatte eine
Frau, zu der er heimkehren konnte, und es ging ihr prima. Dank John Coffey war sie gesund, und es
ging ihr gut und der Mann, der John Coffeys Hinrichtungsbefehl unterzeichnet hatte, konnte zu ihr
heimkehren. Er brauchte nicht mit anzusehen, was als nächstes geschah. Er würde in dieser Nacht in
der Wärme seiner Frau schlafen, während John Coffey im Leichenschauhaus im Kellergeschoß des
County Hospital liegen und in den freudlosen, stillen Stunden vor dem Morgengrauen kalt werden
würde. Und ich hasste Hal deswegen. Nur ein bisschen, und ich würde darüber hinwegkommen, aber
es war Hass, das muss ich sagen. Echter Hass.
Jetzt betrat ich die Zelle, gefolgt von Dean und Harry.
Beide waren blass und deprimiert »Bist du bereit John?« fragte ich.
Er nickte. »Ja, Boss. Ich schätze, ja.«
»Also gut. Ich muss meinen Spruch aufsagen, bevor wir gehen.«
»Sagen Sie nur, was Sie sagen müssen, Boss.«
»John Coffey, als Beamter des Strafvollzugs ...«
Ich sagte das Offizielle bis zum Ende, und als ich fertig war, trat Harry Terwilliger neben mich und
streckte John die Hand hin. John blickte überrascht drein, dann lächelte er und schüttelte die Hand.
Dean, blasser denn je, gab ihm als nächster die Hand. »Du verdienst etwas Besseres, John«, sagte er
mit belegter Stimme. »Es tut mir leid.«
»Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte John. »Dies ist der harte Teil. In einer kleinen Weile geht's mir
gut«
Er stand auf, und das St. Christophorus-Medaillon, das Melly ihm geschenkt hatte, rutschte aus
seinem Hemd.
»John, ich muss das haben«, sagte ich. »Ich kann es dir nach der ... später wieder umhängen, wenn
du willst aber ich sollte es jetzt an mich nehmen.« Es war aus Silber, und wenn es an seinem Körper
lag, wenn Jack Van Hay den Saft anschaltete, konnte es an seiner Haut schmelzen. Und selbst wenn
das nicht geschah, konnte es elektroplattieren und eine Art verkohltes Foto von sich auf der Brust
hinterlassen. Ich hatte so was schon gesehen. Ich hatte fast alles während meiner Jahre auf der Meile
gesehen. Mehr, als gut für mich war. Das wusste ich jetzt.
Er streifte das Kettchen mit dem Medaillon über den Kopf und gab es mir. Ich steckte es in meine
Tasche und forderte ihn auf, aus der Zelle zu treten. Es war nicht nötig, seinen Kopf zu überprüfen
und festzustellen, ob der Kontakt gewährleistet und die Induktion gut war; sein Schädel war glatt wie
meine Handfläche.
»Wissen Sie, Boss, ich bin heute Nachmittag eingeschlafen und habe einen Traum gehabt«, sagte
John. »Ich träumte von Dels Maus.«
»Tatsächlich, John?« Ich ging rechts von ihm. Harry flankierte ihn links. Dean folgte dahinter, und
dann schritten wir über die Green Mile. Für mich war es das letzte Mal, an dem ich jemals einen
Häftling begleitete.
»Ja«, sagte er. »Ich träumte, ich kam zu diesem Ort, von dem Boss Howell sprach, zu diesem
Mouseville. Ich träumte, dass dort Kinder waren und wie sie über die Tricks der Maus lachten! O
Mann!« Er lachte bei dem Gedanken daran, und dann wurde er wieder ernst. »Ich träumte, dass diese
beiden kleinen blonden Mädchen dort waren. Sie lachten ebenfalls.
Ich nahm sie in die Arme, und da war kein Blut in ihren Haaren, und es ging ihnen prima. Wir alle
schauten Mr. Jingles zu, wie er die Spule rollte, und wir lachten und waren putzmunter.«
»So?« Ich dachte, ich konnte es nicht durchziehen, konnte es einfach nicht, es ging nicht. Ich glaubte,
ich müsste schreien, oder mein Herz würde vor Kummer zerspringen, und das würde das Ende sein.
Wir gingen in mein Büro. John schaute sich kurz um, und dann kniete er sich ohne Aufforderung hin.
Hinter ihm blickte mich Harry mit gequältem Blick an. Dean war weiß wie Papier.
Ich kniete mich neben John und dachte, dass sich eine komische Kehrtwendung um hundertachtzig
Grad anbahnte: Nachdem ich all den Todeskandidaten aufgeholfen hatte, damit sie die Reise beenden
konnten, war ich diesmal derjenige, der Hilfe brauchte. So fühlte ich mich jedenfalls.
»Um was sollten wir beten, Boss?« fragte John.
»Kraft«, erwiderte ich, ohne auch nur zu denken. Ich schloss die Augen und sagte: »Herr der
Heerscharen, bitte, hilf uns zu beenden, was wir angefangen haben, und heiße bitte diesen Mann,
John Coffey - wie Kaffee, nur anders geschrieben -, im Himmel willkommen, und gib ihm Frieden.
Bitte, hilf uns, dass wir ihn verabschieden, wie er es verdient, und dass nichts schief geht Amen.«
Ich öffnete die Augen und schaute Dean und Harry an. Beide sahen jetzt ein bisschen besser aus,
vermutlich, weil sie einen Augenblick Zeit gehabt hatten, um zu Atem zu kommen. Ich bezweifle, dass
es an meinem Gebet lag.
Ich wollte aufstehen, und John hielt mich am Arm zurück. Sein Blick war schüchtern und hoffnungsvoll
zugleich. »Ich erinnere mich an ein Gebet das mir jemand beibrachte, als ich klein war«, sagte er.
»Ich meine wenigstens, ich kann mich erinnern. Darf ich es aufsagen?«
»Nur zu, John«, sagte Dean. »Wir haben noch viel Zeit«
John schloss die Augen und konzentrierte sich. Ich dachte an Müde-bin-ich-geh-zur-Ruh oder vielleicht
eine verstümmelte Version des Vaterunsers, aber ich hörte keines von beidem. Ich hatte nie gehört,
was nun kam, und ich habe es auch seither nie wieder gehört. Nicht, dass es besonders ungewöhnlich
war. John Coffey hielt die Hände vor seine geschlossenen Augen und sagte: »Baby Jesus, sanft und
gelind, bete für mich, ein Waisenkind. Sei mein Freund, sei die Kraft meiner Hände, sei bei mir bis
zum Ende. Amen.« Er öffnete die Augen, wollte sich erheben und betrachtete mich dann genau.
Ich wischte mir mit dem Arm über die Augen. Als ich ihm zugehört hatte, waren meine Gedanken bei
Del gewesen; er hatte ebenfalls am Ende noch ein Gebet hinzufügen wollen. Heilige Maria, Mutter
Gottes, bete für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes ... »Tut mir leid, John.«
»Das ist nicht nötig«, sagte er. Er drückte meinen Arm und lächelte. Und dann, wie ich es geahnt
hatte, half er mir auf die Füße.
IQ
Es waren nicht viele Zeugen da - vielleicht insgesamt vierzehn, nur halb soviel wie bei Delacroix'
Hinrichtung. Homer Cribus war da und strapazierte den Klappstuhl mit seiner Masse wie gewöhnlich,
aber ich sah nichts von Deputy McGee. Er hatte sich offenbar wie Direktor Moores entschieden, dieser
Hinrichtung nicht beizuwohnen.
In der ersten Reihe saß ein älteres Paar, das ich zuerst nicht erkannte, obwohl ich Fotos von ihm in
vielen Zeitungen bei den Artikeln über diesen Tag in der dritten Woche des November gesehen hatte.
Als wir uns dann der Plattform näherten, auf der Old Sparky wartete, zischte die Frau: »Stirb langsam,
du Hurensohn!« - und ich erkannte, dass es die Dettericks waren, Klaus und Marjorie. Ich hatte sie
nicht wieder erkannt, weil man nicht oft ältere Leute sieht, die kaum über dreißig sind.
John zog bei den Worten der Frau und Sheriff Cribus' beifälligem Grunzen die Schultern ein. Hank
Bitterman, der auf Posten bei der dürftigen Gruppe von Zuschauern stand, ließ Klaus Detterick nicht
aus den Augen. Das war auf meine Anweisungen zurückzuführen. Aber Detterick machte in dieser
Nacht keine Bewegung in Johns Richtung. Detterick war scheinbar auf einem anderen Planeten.
Brutal, der neben Old Sparky stand, gab mir einen kleinen Wink, als wir auf die Plattform traten. Er
schob seine Waffe ins Holster, ergriff Johns Handgelenk und führte ihn so sanft zum elektrischen
Stuhl, wie ein Junge seine Angebetete zum ersten gemeinsamen Tanz auf die Tanzfläche geleitet
»Alles in Ordnung, John?« fragte er leise.
»Ja, Boss, aber ...« Seine Augen rollten in den Höhlen hin und her, und zum ersten Mal wirkte er
ängstlich. »Aber hier sind viele Leute, die mich hassen. Viele. Ich kann es spüren. Es tut weh. Wie
Stiche von Bienen. Es schmerzt«
»Dann spür, wie wir empfinden«, sagte Brutal leise. »Wir hassen dich nicht - kannst du das spüren?«
»Ja, Boss.« Aber seine Stimme zitterte jetzt schlimmer, und seine Augen hatten sich mit Tränen gefüllt.
»Tötet ihn zweimal, Jungs!« schrie Marjorie Detterick plötzlich. Ihre schrille Stimme war wie ein Peitschenhieb. John duckte sich gegen mich und stöhnte. »Ja, tötet diesen Vergewaltiger und Kindermörder zweimal, das wäre prima!« Klaus, der immer noch wie ein Mann wirkte, der mit offenen Augen träumte, zog sie an sich. Sie begann zu schluchzen.
Ich sah mit Bestürzung, dass Harry Terwilliger ebenfalls weinte. Bis jetzt hatte keiner der Zuschauer seine Tränen gesehen - er stand mit dem Rücken zu ihnen -, aber er heulte. Doch was konnten wir tun? Außer weitermachen, meine ich.
Brutal und ich drehten John um. Brutal drückte eine der Schultern des schwarzen Hünen, und John setzte sich. Er umfasste Old Sparkys breite Eichenarme, sein Blick glitt hin und her, und er befeuchtete mit der Zungenspitze zuerst einen Mundwinkel, dann den anderen. Harry und ich ließen uns auf die Knie sinken.
Am Vortag hatten wir von einem Kalfakter aus der Werkstatt flexible Vergrößerungen an die Klammern für die Knöchel schweißen lassen, denn John Coffeys Knöchel waren weitaus größer als die von durchschnittlichen Todeskandidaten. Wir hatten also Vorsorge getroffen, doch ich hatte einen alptraumhaften Augenblick, als ich dachte, dass die Klammern immer noch zu schmal waren und wir John in die Zelle zurückführen mussten, während Sam Broderick, der Leiter der Werkstatt in diesen Tagen, aufgetrieben wurde und rasch noch größere Klammern zurechtbastelte. Ich zerrte ein letztes Mal besonders hart an der Klammer auf meiner Seite, und sie schloss sich. Johns Bein zuckte, und er schnappte nach Luft. Ich hatte ihn gezwickt.
»Verzeihung, John«, murmelte ich und blickte zu Harry. Er hatte die Klammer leichter schließen können (entweder war sie auf seiner Seite ein wenig größer, oder Johns rechter Knöchel war etwas kleiner), aber er blickte mit zweifelnder Miene auf das Resultat. Ich glaube, ich verstand den Grund; die abgeänderten Klammern sahen hungrig aus, ihre Rachen schienen aufzuklaffen wie die Kiefer von Alligatoren.
»Es wird alles in Ordnung sein«, sagte ich und hoffte, dass es überzeugend klang ... und dass ich die Wahrheit sagte. »Wisch dir übers Gesicht Harry.«
Er wischte sich mit dem Ärmel Tränen von den Wangen und Schweiß von der Stirn. Wir wandten uns um. Homer Cribus, der zu laut mit seinem Nebenmann, dem Staatsanwalt gesprochen hatte, verstummte. Es war fast soweit.
Brutal hatte eines von Johns Handgelenken fest geschnallt, Dean das andere. Über Deans Schulter hinweg sah ich den Arzt. Er stand, unauffällig wie immer, an der Wand, die schwarze Tasche zwischen den Füßen. Heutzutage rennen die Ärzte zu solchen Anlässen, besonders diejenigen mit dem Tropf, aber damals musste man sie fast herbeizerren, wenn man sie brauchte. Vielleicht hatten sie damals eine klarere Vorstellung von dem, was zur Aufgabe eines Arztes gehörte und was eine Perversion des Eids ist, wenn sie schwören, vor allem keinen Schaden anzurichten.
Dean nickte Brutal zu. Brutal wandte den Kopf, blickte anscheinend zu dem Telefon, das niemals für jemanden wie John Coffey klingelt, und rief Jack Van Hay zu: »Stufe eins!«
Da war dieses Summen, als schalte sich ein alter Kühlschrank ein, und die Lampen wurden ein wenig heller. Unsere Schatten waren schärfer, schwarze Umrisse, die an der Wand hochkletterten und wie Geier um den Schatten des elektrischen Stuhls zu schweben schienen. John atmete scharf ein. Seine Handknöchel waren weiß.
»Tut es schon weh?« schrie Mrs. Detterick mit gebrochener Stimme an der Schulter ihres Mannes. »Ich hoffe es! Ich hoffe, es tut höllisch weh!« Ihr Mann drückte sie an sich. Aus einem Nasenflügel blutete er. Ich sah ein dünnes rotes Rinnsal in seinen schmalen Schnurrbart sickern. Als ich im folgenden März die Zeitung aufschlug und las, dass er an einem Schlaganfall gestorben war, zählte ich zu den am wenigsten überraschten Leuten auf der Erde.
Brutal trat in Johns Gesichtsfeld. Er berührte Johns Schulter, während er sprach. Das war gegen die Vorschriften, aber von den Zeugen wusste das nur Curtis Anderson, und er bemerkte es anscheinend nicht. Ich fand, er sah wie ein Mann aus, der nur seinen Job zu Ende bringen will. Es verzweifelt hinter sich bringen will. Er meldete sich nach Pearl Harbor bei der Army, kam jedoch nie nach Übersee; er starb bei einem Verkehrsunfall in Fort Bragg.
John entspannte sich unterdessen. Ich bezweifle, dass er viel - wenn überhaupt etwas - von dem verstand, was Brutal ihm sagte, aber er fand Trost, während Brutals Hand auf seiner Schulter ruhte. Brutal, der ungefähr fünfundzwanzig Jahre später an einem Herzanfall starb (er aß ein Fischbrötchen und schaute sich einen Ringkampf im Fernsehen an, als es geschah, sagte seine Frau), war ein guter Mann. Mein Freund. Vielleicht der Beste von uns. Er hatte keine Mühe zu begreifen, dass ein Mann die letzte Reise antreten wollte und zugleich Angst davor hatte.
»John Coffey, Sie sind zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt worden, das Urteil ist von einer Jury von ihresgleichen gefällt und von einem Richter dieses Staates verkündet worden. Gott schütze die Bürger dieses Staats. Haben Sie noch etwas zu sagen, bevor das Urteil vollstreckt wird?«
John befeuchtete wieder seine Lippen und sprach dann deutlich. Sechs Wörter.
»Ich bedaure, dass ich so bin.«
»Das solltest du auch!« schrie die Mutter der beiden toten Mädchen. »Du Monster. DAS SOLLTEST DU
VERDAMMT BEDAUERN!«
John blickte zu mir. Ich sah keine Resignation in seinen Augen, keine Hoffnung auf den Himmel,
keinen beginnenden Frieden. Wie gerne würde ich Ihnen das Gegenteil sagen.
Wie gerne würde ich es mir selbst sagen. Was ich sah, war Furcht, Elend, Unvollkommenheit,
Unverständnis." Es waren die Augen eines gefangenen und verängstigten Tieres. Ich dachte an das,
was er gesagt hatte, wie es Wharton gelungen war, Cora und Käthe Detterick von der Veranda zu
holen, ohne jemanden im Haus aufzuwecken. Er hat sie mit Liebe getötet. So ist es jeden Tag. Auf der
ganzen Welt.
Brutal nahm die neue seidene Haube zum Verhüllen des Gesichts vom Messinghaken hinten am Stuhl,
aber als John sie sah und begriff, was es war, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen. Er schaute
mich an, und jetzt sah ich große Schweißtropfen auf seinem kahlen Schädel. Sie wirkten fast so groß
wie Wanderdroßeleier.
»Bitte, Boss, tun Sie mir nicht dieses Ding übers Gesicht«, sagte er mit leiser, krächzender Stimme.
»Bitte, lassen Sie mich nicht im Dunkeln sterben. Ich habe Angst vor der Dunkelheit«
Brutal sah mich an. Er hatte die Augenbrauen gehoben, stand wie erstarrt da und hielt die Haube.
Sein Blick sagte mir, dass es meine Entscheidung war, er würde sich daran halten. Ich überlegte, so
schnell und so gut ich konnte - es fiel mir schwer mit dem Pochen in den Schläfen. Das Verhüllen des
Gesichts war Tradition, nicht gesetzlich vorgeschrieben. Es diente eigentlich nur dazu, die Zeugen zu
schonen. Und plötzlich entschied ich mich, dass sie nicht geschont zu werden brauchten, diesmal
nicht. John hatte schließlich nichts in seinem Leben getan, was rechtfertigte, wo er war. Sie wussten
das nicht, aber wir wussten es, und ich entschloss mich, ihm seinen letzten Wunsch zu erfüllen.
Marjorie Detterick würde mir vermutlich einen Dankesbrief schicken.
»In Ordnung, John«, murmelte ich.
Brutal hängte die Haube wieder an den Stuhl. Homer Cribus rief empört mit seiner tiefen, knarrenden
Stimme: »He, Mann! Streif ihm die Haube über! Meinst du, wir wollen seine Augen platzen sehen?«
»Seien Sie still, Sir«, sagte ich, ohne mich umzudrehen. »Dies ist eine Hinrichtung, und Sie tragen
keine Verantwortung hier.«
»Genauso wenig, wie du für seine Festnahme verantwortlich bist du Fettwanst«, flüsterte Harry. Harry
starb 1982 als fast Achtzigjähriger. Ein alter Mann. An mein Alter kam er natürlich nicht heran, aber
das kommen nur wenige. Er starb an irgendeinem Darmkrebs.
Brutal neigte sich vor und nahm den runden Schwamm aus dem Eimer. Er drückte einen Finger hinein
und leckte die Fingerspitze ab, aber das war kaum nötig; ich sah, dass das hässliche braune Ding
tropfte. Er steckte den Schwamm in die Kappe und setzte John die Kappe auf den Kopf. Jetzt fiel mir
auf, dass Brutal ebenfalls blass war - teigig bleich, am Rande der Ohnmacht. Ich dachte an seine
Worte, dass er zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl hatte, in die Hölle zu kommen, weil wir
uns darauf vorbereiteten, ein Geschenk Gottes zu töten. In mir stieg plötzlich Übelkeit auf. Ich brachte
sie unter Kontrolle, aber nur mit Mühe. Wasser vom Schwamm tropfte an den Seiten von Johns
Gesicht hinab.
Dean Stanton rollte den Brustgurt aus - bei diesem Anlass zur maximalen Länge -, zog ihn über Johns
Brust und gab mir das Ende. Wir hatten uns so große Mühe gegeben, Dean in der Nacht unseres
Ausflugs wegen seiner Kinder zu schützen, und wir hatten nicht geahnt, dass er nur noch weniger als
vier Monate zu leben hatte. Nach John Coffeys Hinrichtung reichte er ein Versetzungsgesuch ein und
wurde von Old Sparky fort zum Block C versetzt, und dort stieß ihm ein Häftling einen Bolzen in die
Kehle und ließ ihn auf dem schmutzigen Bretterboden verbluten.
Ich erfuhr nie, warum. Ich bezweifle, dass jemand jemals den Grund erfährt Old Sparky war so etwas
Perverses, wenn ich an jene Tage zurückdenke, solch eine tödliche Narretei. Wir sind zerbrechlich wie
geblasenes Glas, sogar unter den besten Bedingungen. Um einander mit Gas und Elektrizität und
kaltblütig zu töten? Die Torheit. Der Horror.
Brutal überprüfte den Gurt und trat zurück Ich wartete darauf, dass er sprach, doch das tat er nicht.
Als er die Hände hinter dem Rücken verschränkte, wusste ich, dass er das Kommando nicht geben
würde. Vielleicht weil er es nicht geben konnte. Ich bezweifelte, dass ich dazu in der Lage war, doch
dann sah ich Johns angsterfüllte, weinende Augen und wusste, dass ich es tun musste.
Selbst wenn es mich für immer verdammte, ich musste es tun.
»Stufe zwei«, sagt ich mit krächzender Stimme, die ich kaum als meine erkannte.
Die Kappe summte. Acht große Finger und zwei große Daumen erhoben sich von den Enden der
breiten Eichenarme des elektrischen Stuhls und zuckten mit gezackten Spitzen in zehn verschiedene
Richtungen. John Coffeys große Knie ruckten auf und ab, aber die Klammern an seinen Knöcheln
hielten. Ober uns explodierten drei der Hängelampen - rums, peng, rums!
Marjorie Detterick schrie auf und wurde in den Armen ihres Mannes ohnmächtig. Sie starb achtzehn Jahre später in Memphis. Harry schickte mir die Todesanzeige. Es war ein Unfall mit einer Straßenbahn.
John sank nach vorne gegen den Brustgurt. Für einen Moment trafen sich unsere Blicke. Er nahm mich wahr. Ich war das letzte, was er sah, als wir ihn vom Rand der Welt kippten. Dann fiel er gegen die Rückenlehne zurück, die Kappe war jetzt ein wenig schief auf seinem Kopf, und Rauch - eine Art verkohlter Nebel - drang darunter hervor. Aber insgesamt ging es schnell. Ich bezweifle, dass es schmerzlos war, wie es die Befürworter des elektrischen Stuhls immer behaupten (das ist eine Theorie, die anscheinend selbst die fanatischsten Anhänger niemals persönlich in der Praxis überprüfen wollen), aber es war schnell. Die Hände waren wieder schlaff, die zuvor bläulichweißen Monde der Fingernägel hatten jetzt einen auberginefarbenen Ton, und Rauch kräuselte von Wangen empor, die noch nass vom Salzwasser aus dem Schwamm waren ... und von seinen Tränen. John Coffeys letzte Tränen.
11
Mit mir war alles in Ordnung, bis ich zu Hause eintraf. Inzwischen dämmerte der Morgen, und Vögel
sangen. Ich parkte meine Blechkiste, stieg aus und ging die hintere Treppe hinauf, und dann stieg die
zweitgrößte Erleichterung, die ich je gehabt hatte, in mir auf. Ich dachte, es lag daran, dass John
Coffey sich so vor der Dunkelheit gefürchtet hatte. Ich erinnerte mich an den Tag seiner Ankunft im
Todesblock wie er uns gebeten hatte, des Nachts eine Lampe anzulassen, und meine Beine gaben
nach. Ich plumpste auf meine Treppe, neigte den Kopf über die Knie und weinte. Ich glaube, ich
heulte nicht nur um John, sondern für uns alle.
Janice kam aus dem Haus und setzte sich neben mich. Sie legte einen Arm um meine Schultern.
»Du hast ihm nicht mehr weh getan, als sein musste, nicht wahr?«
Ich nickte bestätigend.
»Und er wollte sterben.«
Ich nickte abermals.
»Komm ins Haus«, sagte sie und half mir auf. Ich musste daran denken, wie John mir aufgeholfen
hatte, nachdem wir zusammen gebetet hatten. »Komm rein und trink einen Kaffee.«
Das tat ich. Der erste Morgen verging, der erste Nachmittag, dann die erste Arbeitsschicht. Die Zeit
siegt über einen, ob Sie es wollen oder nicht. Die Zeit siegt und am Ende ist nur Dunkelheit.
Manchmal finden wir andere in dieser Dunkelheit, und manchmal verlieren wir sie dort wieder. Das ist
alles, was ich weiß, abgesehen davon, dass dies 1932 geschah, als die staatliche Strafvollzugsanstalt
noch in Gold Mountain war. Und als natürlich der elektrische Stuhl dort war.
12
Gegen Viertel nach zwei am Nachmittag kam meine Freundin Elaine Connelly ins Solarium, wo ich saß
und die letzten Seiten meiner Geschichte vor mir ordentlich gestapelt hatte. Sie war sehr blass, und
unter ihren Augen glänzte es. Ich glaube, sie hatte geweint.
Ich hatte nur aus dem Fenster geschaut, hinaus über die Hügel im Osten, und in meiner rechten Hand
pochte es. Aber es war ein irgendwie friedliches Pochen. Ich fühlte mich wie eine leere Hülle.
Ein Gefühl, das schrecklich und wunderbar zugleich war.
Es fiel mir schwer, Elaine in die Augen zu sehen - ich befürchtete, darin vielleicht Hass und
Verachtung zu sehen -, aber sie waren in Ordnung. Traurig und verwundert, aber in Ordnung.
Kein Hass, keine Verachtung, keine Ungläubigkeit.
»Willst du den Rest der Story lesen?« fragte ich. Ich klopfte mit der schmerzenden Hand auf den
kleinen Stapel von Manuskriptseiten. »Sie ist fertig, aber ich kann verstehen, wenn du den Rest
einfach nicht lesen willst...«
»Es ist keine Frage, was ich will«, sagte Elaine. »Ich muss wissen, wie es ausgeht obwohl ich
annehme, dass du ihn zweifellos hingerichtet hast. Das Eingreifen der Vorsehung wird im Leben von
gewöhnlichen Menschen stark überschätzt, finde ich. Aber bevor ich diese Seiten nehme ... Paul...«
Sie verstummte, als wüsste sie nicht weiter. Ich wartete.
Manchmal kann man den Leuten nicht helfen. Manchmal ist es besser, es nicht mal zu versuchen. »Paul, du redest hier, als hättest du 1932 zwei erwachsene Kinder - nicht nur ein Kind, sondern zwei. Wenn du deine Janice nicht geheiratet hast ,als du zwölf und sie elf war, dann ist es unmöglich, dass ...«
Ich lächelte ein wenig. »Wir waren jung, als wir heirateten - viele Leute im Hügelland waren das, meine eigene Mutter heiratete jung -, aber nicht so jung.«
»Wie alt warst du dann? Ich habe immer angenommen, du wärst Anfang Achtzig, in meinem Alter, vielleicht sogar ein bisschen jünger, aber nach dem, was ich gelesen habe ...« »Ich war vierzig in dem Jahr, in dem John über die Green Mile ging«, sagte ich. »Ich wurde 1892 geboren. Das macht mich hundertundvier Jahre alt wenn ich noch zählen kann.« Sie starrte mich sprachlos an.
Ich hielt ihr den Rest des Manuskripts hin und erinnerte mich, wie John mich berührt hatte, dort in seiner Zelle. Sie werden nicht explodieren, hatte er gesagt und ein bisschen bei der Vorstellung gelächelt und ich war es auch nicht..., aber etwas war trotzdem mit mir geschehen. Etwas Dauerhaftes.
»Lies den Rest«, sagte ich. »Die Antworten, die ich habe, stehen darin.«
»Also gut«, sagte sie fast flüsternd. »Ich habe ein bisschen Angst, das kann ich nicht leugnen, aber ... in Ordnung. Wo wirst du sein?«
Ich stand auf, reckte mich und lauschte dem Knacken meiner Wirbelsäule. Eines wusste ich mit Sicherheit - ich konnte das Solarium nicht mehr ausstehen. »Draußen auf der Krocket-Spielstraße. Ich will dir immer noch etwas zeigen, und das ist in dieser Richtung.« »Ist es ... gruselig?« In ihrem furchtsamen Blick sah ich das kleine Mädchen, das sie gewesen war, als Männer im Sommer Strohhüte und im Winter Mäntel aus Waschbärfell getragen hatten. »Nein«, sagte ich lächelnd. »Nicht gruselig.«
»In Ordnung.« Sie schwenkte die Seiten. »Ich lese auf meinem Zimmer. Dann treffen wir uns auf der Krocket-Spielstraße ...« Sie blätterte in dem Manuskript und schätzte die Seitenzahl. »Um vier? Einverstanden?«
»Perfekt«, sagte ich und dachte an den zu neugierigen Brad Dolan. Der würde dann weg sein.
Elaine drückte leicht meinen Arm und verließ das Solarium. Ich blieb einen Augenblick lang stehen, schaute auf den Tisch und konnte nicht glauben, dass er leer war außer dem Tablett, auf dem Elaine mir an diesem Morgen das Frühstück gebracht hatte. Meine Seiten waren verschwunden. Ich konnte irgendwie nicht fassen, dass ich fertig war ..., und wie Sie sehen, war ich das auch noch nicht, weil ich nach dem Bericht über John Coffeys Hinrichtung all dies noch geschrieben und die letzten Seiten Elaine gegeben hatte. Und selbst da hatte ein Teil von mir gewusst, warum ich noch nicht fertig war. Alabama.
Ich nahm die letzte Scheibe kalten Toast vom Tablett, ging nach unten und hinaus auf die KrocketSpielstraße.
Dort setzte ich mich in die Sonne, beobachtete ein Dutzend Paare und eine langsame, aber fröhliche Vierergruppe beim Schwingen ihrer Schläger, hing ihren Altmännergedanken nach und ließ die Sonne meine Altmännerknochen wärmen. Gegen Viertel vor drei begann die Schicht von drei bis elf Uhr auf dem Parkplatz einzutrudeln, und um drei Uhr fuhren die Leute der Schicht von sieben bis drei Uhr davon. Die meisten gingen in Gruppen zum Parkplatz, aber Brad Dolan war allein. Das war ein irgendwie aufheiternder Anblick; vielleicht war die Welt doch noch nicht ganz zum Teufel gegangen. Eines seiner Witzbücher ragte aus seiner Gesäßtasche. Der Weg zum Parkplatz verlief längs der Krocket-Spielstraße, und so sah er mich dort, aber er winkte mir nicht und blickte mich auch nicht finster an. Das passte mir ausgezeichnet. Er stieg in seinen alten Chevrolet mit dem Aufkleber ICH HABE GOTT GESEHEN, UND SEIN NAME IST NEWT. Dann fuhr er davon und hinterließ eine dünne Spur von billigem Motoröl.
Gegen vier Uhr gesellte sich Elaine zu mir, wie sie versprochen hatte. Ich sah ihr an den Augen an, dass sie noch etwas mehr geweint hatte. Ich legte den Arm um sie und drückte sie fest an mich. »Armer John Coffey«, sagte sie. »Und armer Paul Edgecombe.« Armer Paul, hörte ich Jan sagen. Armer guter Junge.
Elaine begann wieder zu weinen. Ich hielt sie im Arm, dort an der Krocket-Spielstraße im Sonnenschein des Nachmittags. Unsere Schatten sahen aus, als tanzten sie. Vielleicht in den So-als-
ob-Ballsälen, deren Musik wir in jenen Tagen im Radio hörten.
Schließlich hatte Elaine sich wieder unter Kontrolle und löste sich von mir. Sie fand ein
Papiertaschentuch in ihrer Kleidertasche und wischte sich damit über die feuchten Augen.
»Was geschah mit der Frau des Direktors, Paul? Was geschah mit Melly?«
»Sie wurde als das Wunder ihrer Zeit betrachtet, wenigstens von den Ärzten im Krankenhaus in
Indianola«, sagte ich. Ich ergriff Elaines Arm, und wir spazierten zu dem Pfad, der vom Parkplatz für
die Angestellten fort und in das Wäldchen führte.
Zu dem Schuppen bei der Mauer zwischen Georgia Pines und der Welt der jüngeren Leute.
»Sie starb - an einem Herzanfall, nicht an einem Gehirntumor - zehn oder elf Jahre später. 1943,
glaube ich. Hal starb an einem Schlaganfall, so ungefähr um den Tag von Pearl Harbor herum -es
kann sogar genau an diesem Tag gewesen sein -, sie überlebte ihn also um zwei Jahre.
Ziemlich ironisch, was?«
»Und Janice?«
»Darauf bin ich heute noch nicht ganz vorbereitet«, sagte ich. »Ich werde es dir ein anderes Mal
erzählen.«
»Versprochen?«
»Versprochen.« Aber das war ein Versprechen, das ich nie einhielt. Drei Wochen nach dem Tag, an
dem wir zusammen in das Wäldchen spazierten (ich hätte ihre Hand gehalten, wenn ich nicht
befürchtet hätte, ihren geschwollenen, arthritischen Fingern weh zu tun), starb Elaine Connelly
friedlich in ihrem Bett. Wie bei Melinda Moores war ihr Tod das Resultat eines Herzanfalls. Der Pfleger,
der sie fand, sagte, sie hätte friedlich ausgesehen, als wäre der Tod plötzlich und ohne viel
Schmerzen eingetreten. Ich hoffe, er hatte recht. Ich habe Elaine geliebt. Und sie wird mir fehlen.
Sie und Janice und Brutal und einfach alle.
Wir gelangten zu dem zweiten Schuppen am Pfad, zu dem unten an der Mauer. Er stand abseits
zwischen verkrüppelten Kiefern, und ihre Schatten betupften das durchhängende Dach und die mit
Brettern vernagelten Fenster. Ich ging darauf zu. Elaine blieb einen Moment zurück, und ich sah ihr
an, dass sie Angst hatte.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte ich. »Wirklich. Komm mit«
Die Tür hatte keine Klinke - es hatte einst eine gegeben, doch sie war weggerissen worden -, und so
benutzte ich ein gefaltetes Stück Karton als Keil zwischen Tür und Rahmen, um sie zuzuklemmen. Ich
entfernte jetzt den Keil und betrat den Schuppen. Die Tür ließ ich so weit auf, wie es ging, denn
drinnen war es dunkel.
»Paul, was? ... Oh. Oh\« Dieses zweite >Oh< war fast ein Schrei. An einer Seite stand ein Tisch.
Darauf lagen eine Taschenlampe und eine braune Papiertüte. Auf dem schmutzigen Boden stand eine
Zigarrenkiste, die ich von dem Mann bekommen hatte, der die Getränke- und Bonbonautomaten des
Altenheims auffüllte. Ich hatte ihn danach gefragt, und weil seine Firma auch Tabakprodukte
verkaufte, war es leicht für ihn gewesen, daran heranzukommen. Ich bot ihm an, dafür zu bezahlen -
als ich in Cold Mountain arbeitete, waren Zigarrenkisten begehrt und wertvoll gewesen, wie ich Ihnen
vielleicht erzählt habe -, aber er lachte mich nur aus.
Über den Rand der Zigarrenkiste spähte ein glänzendes, kleines, schwarzes Augenpaar.
»Mr. Jingles«, sagte ich leise. »Komm her. Komm her, alter Junge, und begrüße diese Lady.«
Ich ging in die Hocke - es schmerzte, aber ich schaffte es - und streckte meine Hand aus. Zuerst
dachte ich, er würde es diesmal nicht schaffen, über die Seite der Zigarrenkiste zu klettern, doch es
gelang ihm mit einem letzten Sprung. Er fiel auf die Seite, rappelte sich auf und kam zu mir.
Er humpelte leicht mit einem der Hinterbeine; die Verletzung, die Percy ihm zugefügt hatte, war in Mr.
Jingles' alten Tagen zurückgekehrt. In seinen alten, alten Tagen. Abgesehen von einem runden Fleck
auf seinem Kopf und der Schwanzspitze war sein Fell völlig grau geworden.
Er hopste auf meine Handfläche. Ich hob ihn auf, und er streckte sich, um meinen Atem zu
schnüffeln. Seine Ohren waren zurückgelegt, und seine kleinen schwarzen Augen blickten lebhaft. Ich
hielt Elaine meine Hand hin. Sie schaute die Maus offenen Mundes und mit weit aufgerissenen Augen
staunend an.
»Das kann nicht sein«, sagte sie und blickte zu mir auf. »Oh, Paul, das ... das kann nicht sein!«
»Schau zu«, sagte ich, »und dann sag das noch einmal.«
Ich nahm aus der Tüte auf dem Tisch eine Holzspule, die ich selbst bunt angemalt hatte - nicht mit
Buntstiften, sondern mit farbigem Textmarker, eine Erfindung, von der man 1932 nicht einmal
träumte. Es kam jedoch auf das gleiche hinaus. Die Rolle war so knallig bunt, wie Dels Holzspule
gewesen war, vielleicht sogar noch knalliger. Messieurs et Mesdames, dachte ich. Bienvenu au cirque
du mousie!
Ich ging wieder in die Hocke, und Mr. Jingles flitzte von meiner Handfläche. Er war alt, aber besessen
wie eh und je. Seit ich die Spule aus der Tüte genommen hatte, hatte er für nichts sonst Augen. Ich
rollte die Spule über den unebenen Boden, und Mr.' Jingles eilte sofort hinterher. Er rannte nicht mit
seiner früheren Schnelligkeit, und sein Humpeln war schmerzlich anzusehen, aber warum sollte er
schnell und sicher auf den Füßen sein? Er war alt, wie ich schon sagte. Ein Methusalem einer Maus.
Mindestens vierundsechzig.
Er erreichte die Spule, als sie an die ferne Wand prallte und zurückhüpfte. Er umrundete sie und legte
sich dann auf die Seite. Elaine wollte zu ihm gehen, doch ich hielt sie zurück Nach einer Weile kam Mr.
Jingles wieder auf die Füße. Langsam, sehr langsam, schob er die Spule mit der Nase zu mir.
Als er zu mir gekommen war - ich hatte ihn auf der Treppe zur Küche in fast der gleichen Verfassung
gefunden, als hätte er eine weite, erschöpfende Reise hinter sich -, war er noch in der Lage gewesen,
die Spule mit den Pfoten zu lenken, wie er es vor all diesen Jahren auf der Green Mile gekonnt hatte.
Das schaffte er jetzt nicht mehr; sein Hinterbein stützte ihn nicht mehr. Doch mit der Nase war er so
gut wie immer; er musste einfach von einem Ende der Spule zum anderen laufen, um sie auf Kurs zu
halten. Als er bei mir war, nahm ich ihn auf eine Hand - er wog nicht viel mehr als eine Feder - und
die Spule auf die andere. Der Blick seiner glänzenden schwarzen Augen war stets auf die Spule
gerichtet.
»Nicht noch mal, Paul«, sagte Elaine mit gebrochener Stimme. »Ich kann es nicht ertragen, ihn so zu
sehen.«
Ich verstand, wie sie sich fühlte, aber ich dachte, dass ihr Wunsch falsch war. Mr. Jingles liebte es,
hinter der Spule herzulaufen und sie zu holen; nach all den Jahren liebte er es immer noch so sehr.
Wir sollten alle so glücklich in unseren Leidenschaften sein.
»Es sind auch Pfefferminzbonbons in der Tüte«, sagte ich. »Canada Mints. Ich nehme an, er mag sie
noch - er hört nicht auf zu schnüffeln, wenn ich ihm einen Bonbon hinhalte -, aber seine Verdauung
ist zu schlecht geworden, und so isst er sie nicht. Ich bringe ihm statt dessen Toast«
Ich ging wieder in die Hocke und brach ein kleines Stück von der Toastscheibe ab, die ich aus dem
Solarium mitgenommen hatte, und legte es auf den Boden. Mr. Jingles schnüffelte an dem Stück
Toast, nahm es dann zwischen die Pfoten und begann zu mampfen. Seinen Schwanz hatte er hübsch
um sich herumgewunden. Er knabberte zu Ende und schaute dann erwartungsvoll auf.
»Manchmal können wir alten Knacker mit unserem Appetit überraschen«, sagte ich zu Elaine und gab
ihr den Rest der Toastscheibe. »Versuch du es.«
Sie brach ein Stückchen Toast von der Scheibe ab und ließ es zu Boden fallen. Mr. Jingles humpelte
hin, schnüffelte, schaute zu Elaine ... und hob es auf und knabberte.
»Verstehst du?« fragte ich. »Er weiß, dass du kein Aushilfswärter bist kein Springer.«
»Woher kam er, Paul?«
»Keine Ahnung. Eines Tages ging ich raus zu meinem Morgenspaziergang, und da lag er auf der
Küchentreppe. Ich wusste sofort, wer er war, aber ich besorgte mir eine Spule, um sicherzugehen.
Und ich beschaffte eine Zigarrenkiste für ihn.
Ausgelegt mit dem weichsten Stoff, den ich finden konnte. Er ist wie wir, Ellie - an den meisten Tagen
eine einzige wunde Stelle. Doch er hat noch nicht all seinen Lebenshunger verloren. Er liebt immer
noch seine Spule, und er liebt es immer noch, wenn er Besuch von seinem alten Blockpartner
bekommt. Sechzig Jahre lang behielt ich die Geschichte von John Coffey für mich, über sechzig Jahre,
und jetzt habe ich sie erzählt. Ich hatte auch so eine Ahnung, warum er zurückgekommen ist. Um
mich wissen zu lassen, dass ich mich beeilen und es tun soll, solange noch Zeit ist. Weil ich wie
er - dorthin komme.«
»Wohin?«
»Oh, das weißt du«, sagte ich, und ich beobachtete Mr. Jingles eine Weile schweigend. Dann, aus
keinem Grund, den ich Ihnen nennen kann, warf ich die Spule wieder, obwohl mich Elaine gebeten
hatte, es nicht zu tun. Vielleicht nur, weil in gewisser Weise seine Jagd nach der Spule wie die Version
alter Leute von langsamem und vorsichtigem Sex war - Sie, die jung und überzeugt sind, dass Sie in
Ihrem Fall im Alter eine Ausnahme sein werden, mögen es vielleicht nicht so sehen, aber sie wollen es
immer noch tun.
Mr. Jingles eilte wieder hinter der Rolle her, unter sichtlichen Schmerzen und mit seiner ebenso
(jedenfalls für mich) offensichtlichen früheren Freude.
»Mouseville«, flüsterte Elaine und schaute ihm nach.
»Der Zirkus in Mouseville«, stimmte ich lächelnd zu. »Einen Dime für Erwachsene, freier Eintritt für
Kinder.«
»John Coffey berührte die Maus wie dich. Er heilte nicht nur deine damalige Krankheit, er machte dich
... resistent«
»Das ist eine gute Bezeichnung, finde ich.«
»Resistent gegen Dinge, die schließlich den Rest von uns niederwerfen wie einen Baum mit Termiten.
Du ... und er. Er machte dich resistent... und ihn. Mr. Jingles. Als er Mr. Jingles zwischen die
gewölbten Handflächen nahm.«
»Stimmt. Welche Kraft auch immer durch John übertragen wurde, sie bewirkte das - nehme ich
jedenfalls an -, und jetzt ist sie fast verbraucht. Die Termiten haben sich durch unsere Rinde
gefressen. Es dauert ein bisschen länger als normalerweise, aber sie kommen durch. Ich habe
vielleicht noch ein paar weitere Jahre, denn Menschen leben immer noch länger als Mäuse, nehme ich
an, aber Mr. Jingles' Zeit ist fast abgelaufen.«
Er erreichte die Spule, humpelte um sie herum, fiel auf die Seite und atmete schwer (wir konnten
sehen, wie sich sein graues Fell unter den keuchenden Atemzügen kräuselte), und dann stemmte er
sich auf und begann die Spule spielerisch mit seiner Nase zurückzuschieben. Sein Fell war grau, sein
Gang war unsicher, doch seine Augen glänzten wie immer.
»Du meinst er wollte, dass du schreibst was du geschrieben hast«, sagte Elaine. »Ist es so, Paul?«
»Nicht Mr. Jingles«, antwortete ich. »Nicht er, aber die Kraft, die ...«
»Hallo, Paulie. Und auch Elaine Connelly!« ertönte eine Stimme an der offenen Tür. Sie war von einer
Art sarkastisch gespieltem Erschrecken erfüllt »Habe ich euch erwischt! Was, um Himmels willen,
treibt ihr beide hier?«
Ich wandte mich um, irgendwie überhaupt nicht überrascht und sah Brad Dolan auf der Türschwelle.
Er grinste wie jemand, der das Gefühl hat, dass er andere prima hereingelegt hat. Wie weit war er
nach der Schicht die Straße hinuntergefahren? Vielleicht nur bis zum Wrangler, der Kneipe an der
nächsten Kreuzung, wo er ein Bier oder zwei getrunken hatte, bevor er zurückgekehrt war.
»Raus«, sagte Elaine kalt, »Verschwinden Sie auf der Stelle!«
»Du hast mir gar nichts zu sagen, du runzlige alte Hexe«, entgegnete er, immer noch feixend.
»Vielleicht hättest du das in jüngeren Jahren tun können, aber die sind jetzt vorüber. Hier hast du
dich nicht herumzutreiben. Das ist verboten. Kleines Liebesnest, Paulie? Ist es das, was du hier hast?
Eine Art Playboy-Bude für Greise ...« Seine Augen weiteten sich, als er schließlich den Bewohner des
Schuppens sah. »Was ist denn das? Nicht zu glauben!«
Ich schaute nicht hin. Erstens wusste ich, was dort war; zweitens hatte sich die Vergangenheit
plötzlich über die Gegenwart geschoben und ein schreckliches Bild geschaffen, dreidimensional in
seiner Realität. Es war nicht Brad Dolan, der dort auf der Türschwelle stand, sondern Percy Wetmore.
Im nächsten Moment würde er in den Schuppen stürmen und Mr. Jingles zerstampfen (der keine
Hoffnung mehr haben konnte, schnell genug zu sein, um ihm zu entkommen). Und diesmal gab es
keinen John Coffey, der ihn vom Rand des Todes ins Leben zurückholen konnte. Wie es auch keinen
John Coffey gegeben hatte, als ich ihn an diesem regnerischen Tag in Alabama gebraucht hatte.
Ich richtete mich auf und spürte nicht den Schmerz in meinen Gliedern und Muskeln. Ich stürmte auf
Dolan zu. »Lass ihn in Frieden!« schrie ich. »Du rührst ihn nicht an, Percy, oder ich werde bei Gott...«
»Wen nennst du Percy?« fragte Brad und stieß mich so hart zurück, dass ich fast gefallen wäre. Elaine
fing mich auf, obwohl es ihr weh tun musste. Sie stützte mich. »Es ist auch nicht das erste Mal, dass
du mich so genannt hast. Und hör auf, dir in die Hosen zu pissen. Ich habe nicht vor, ihn anzurühren.
Das ist nicht nötig. Das ist eine tote Maus.«
Ich fuhr herum, dachte, dass Mr. Jingles nur auf der Seite lag, um zu Atem zu kommen, wie er es
manchmal tat. Er lag auf der Seite, ja, doch sein Fell bewegte sich nicht. Ich versuchte mir
einzureden, dass ich das Kräuseln des Fells noch immer sehen konnte, und dann brach Elaine in lautes
Schluchzen aus. Sie bückte sich schwerfällig und hob die Maus auf, die ich zum ersten Mal auf der
Green Mile gesehen hatte, als sie zum Wachpult gekommen war und sich tapfer wie ein Mann
seinesgleichen genähert hatte ... oder seinen Freunden. Jetzt lag Mr. Jingles reglos auf Elaines Hand.
Seine Augen waren geschlossen. Er war tot.
Dolan grinste widerlich und bleckte dabei die Zähne, die sehr wenig Bekanntschaft mit einem
Dentisten gemacht hatten. »Ah, wie traurig!« sagte er. »Haben wir soeben den Liebling der Familie
verloren? Sollen wir eine kleine Beerdigung arrangieren, mit Papierblumen und ...«
»Halt die Schnauze!« schrie Elaine ihn an, so laut und kräftig, dass er einen Schritt zurückwich und
sein Grinsen verschwand. »VERSCHWINDE VON HIER! VERSCHWINDE, ODER DU WIRST KEINEN TAG
MEHR HIER ARBEITEN! KEINE STUNDE MEHR! DAS SCHWÖRE ICH!«
»Du wirst keine Scheibe Brot mehr bekommen, wenn du dich an der Schlange der Bedürftigen
anstellst«, sagte ich, aber so leise, dass keiner von beiden es hörte. Ich konnte nicht den Blick von Mr.
Jingles nehmen, der wie der kleinste Bärenfellteppich der Welt auf Elaines Handfläche lag.
Brad war nahe daran, es darauf ankommen zu lassen, sie zu zwingen, Farbe zu bekennen - und er
hatte recht der Schuppen war verbotenes Gelände für die Bewohner von Georgia Pines, soviel wusste
selbst ich -, doch dann gab er nach. Er war im Grunde seines Herzens ein Feigling wie Percy. Und er
hatte vielleicht Elaines Behauptung überprüft, dass ihr Enkel ein hohes Tier war, und festgestellt, dass
es stimmte. Und vor allem war seine Neugier befriedigt sein Wissensdurst gestillt. Nach all seinen
wilden Vermutungen hatte sich das Geheimnis als nicht so sehr groß erwiesen. Die Lieblingsmaus
eines alten Mannes hatte offenbar in dem Schuppen gehaust. Jetzt war sie krepiert, hatte einen
Herzanfall oder sonst was bekommen, während sie die farbige Spule geschoben hatte.
»Ich weiß nicht weshalb ihr so aus dem Häuschen seid«, sagt er. »Ihr tut, als wäre es ein Hund oder
so was gewesen.«
»Raus!« zischte Elaine. »Verschwinde, du unwissender Flegel. Das bisschen Grips, das du hast, ist
widerlich und verkommen.«
Er wurde rot. Die Stellen, an denen seine High-School-Pickel gewesen waren, nahmen ein dunkleres
Rot an als der Rest
»Ich gehe«, sagte er, »aber wenn du morgen wieder hierhin kommst ... Paulie ... wirst du ein neues
Schloss an dieser Tür sehen. Dieser Schuppen ist verbotenes Terrain für die Bewohner des Heims,
ganz gleich, was die nörgelige alte Mrs. Meine-Scheiße-stinkt-nicht sagt. Sieh dir den Boden an! Die
Bretter sind verzogen und verfault! Wenn du durchbrichst, wird dein mageres altes Bein brechen wie
ein Stück Brennholz. Also nimm diese tote Maus, wenn du willst, und troll dich.
Der Liebesschuppen ist hiermit geschlossen.«
Er machte kehrt und schritt davon wie jemand, der überzeugt ist, dass er sich einen guten Abgang
verschafft hat Ich wartete, bis er fort war, und nahm dann behutsam Mr. Jingles von Elaine entgegen.
Mein Blick fiel auf die Tute mit den Pfefferminzbonbons, und das bewirkte es - die Tränen kamen. Ich
weiß nicht warum, aber ich heule heutzutage irgendwie leichter.
»Hilfst du mir, einen alten Freund zu begraben?« fragte ich Elaine, als Brad Dolans schwere Schritte
verklungen waren.
»Ja, Paul.« Sie legte einen Arm um meine Hüfte und schmiegte den Kopf gegen meine Schulter. Mit
einem alten und knorrigen Finger strich sie über das Fell des toten Mr. Jingles.
»Das werde ich gern tun.«
Und so borgten wir uns eine Schaufel aus dem Gärtnereischuppen und begruben Dels Lieblingsmaus,
während die Schatten des Nachmittags lang durch die Bäume fielen, und dann spazierten wir zurück
zu unserem Abendessen und nahmen wieder auf, was von unserem Leben geblieben war. Und ich
dachte an Del, der auf dem grünen Teppich in meinem Büro kniete, Del, der die Hände
gefaltet hatte und dessen kahler Kopf im Lampenschein glänzte, während er uns bat uns um Mr.
Jingles zu kümmern und dafür zu sorgen, dass der Böse ihm niemals mehr etwas antat.
Doch der Böse tut uns allen am Ende etwas an, nicht wahr?
»Paul?« fragte Elaine. Ihre Stimme klang freundlich und erschöpft. Selbst das Ausheben eines kleinen
Grabs, um eine Maus darin zu bestatten, ist für alte Schätzchen wie uns eine Menge Stress.
»Alles in Ordnung?«
Mein Arm lag um ihre Hüfte. Ich drückte sie an mich. »Mir geht's prima«, sagte ich.
»Sieh nur«, sagte sie. »Es wird ein wunderschöner Sonnenuntergang. Sollen wir draußen bleiben und
ihn uns anschauen?«
»In Ordnung«, sagte ich, und wir blieben lange dort auf dem Rasen, Arm in Arm, und beobachteten,
wie sich der Himmel färbte und dann die Farben zu dem Grau von Asche verblassten.
Sainte Marie, Miere de Dieu, priez pour nous, pauvres pecheurs, maintenant et ä l'heure de notre mort
Amen.
13
1956. Alabama im Regen.
Unser drittes Enkelkind, ein schönes Mädchen namens Tessa, erhielt einen akademischen Grad der University of Florida. Wir fuhren mit einem Greyhound Bus dorthin. Ich war vierundsechzig, noch ein junger Hüpfer, und Jan war neunundfünfzig und so schön wie eh und je. Jedenfalls für mich. Wir saßen hinten im Bus, und Jan murrte während der ganzen Fahrt, weil ich ihr keine neue Kamera gekauft hatte, mit der sie bei dem großen Ereignis fotografieren konnte. Ich sagte ihr, dass wir nach unserer Ankunft einen Tag zum Einkaufen hatten und sie einen neuen Fotoapparat haben konnte, wenn sie einen haben wollte, unsere Haushaltskasse würde das verkraften, und ich dachte, dass sie nur so ein Theater machte, weil sie sich auf der Fahrt langweilte und das Buch nicht mochte, das sie mitgenommen hatte. Es war ein Perry Mason. Und dann verblasst alles in meiner Erinnerung für eine Weile wie ein Film, den man geöffnet in der Sonne liegengelassen hat.
Erinnern Sie sich an diesen Unfall? Ich nehme an, ein paar Leute, die dies lesen, werden sich vielleicht entsinnen, aber die meisten nicht. Doch er machte Schlagzeilen von Küste zu Küste, als er geschah. Wir waren außerhalb von Birmingham in strömendem Regen, Janice beklagte sich über ihre alte Kamera, und ein Reifen platzte. Der Bus tanzte Walzer auf dem nassen Asphalt und wurde an der Seite von einem Truck gerammt, der Düngemittel transportierte. Der Truck schob den Bus mit mehr als sechzig Stundenmeilen gegen einen Brückenpfeiler, rammte ihn gegen den Beton und zerriss ihn in zwei Hälften. Zwei glänzende, regennasse Teile drehten sich in entgegengesetzte Richtungen, die Seite mit dem Tank explodierte und schickte einen rotschwarzen Feuerball in den grauen Himmel. Gerade hatte sich Janice noch über ihre alte Kamera beklagt, und im nächsten Augenblick fand ich mich auf der anderen Seite der Brücke im Regen auf der Straße liegend wieder und starrte auf ein paar blaue Nylonhöschen, die aus dem Koffer von jemanden geflogen waren.
MITTWOCH war in schwarzem Garn darauf gestickt. Überall waren aufgeplatzte Koffer. Und Leichen. Und Leichenteile. Es waren dreiundsiebzig Personen in diesem Bus gewesen, und nur vier überlebten den Unfall. Ich gehörte dazu, der einzige, der nicht ernsthaft verletzt wurde.
Ich rappelte mich auf und wankte zwischen den aufgeplatzten Koffern und verstreuten Leichen herum und schrie den Namen meiner Frau. Ich trat einen Wecker zur Seite, daran erinnere ich mich, und ich habe in Erinnerung, dass ich einen toten Jungen, ungefähr dreizehn Jahre alt, zwischen Glasscherben liegen sah, dessen halbes Gesicht fehlte. Ich spürte das Prasseln des Regens auf meinem Gesicht, und als ich unter der Brücke hindurchging, hörte es für eine Weile auf. Ich gelangte auf die andere Seite, und das Prasseln setzte wieder ein, der Regen trommelte gegen meine Wangen und die Stirn. Bei einem zerschmetterten Führerhaus des umgekippten Trucks mit Düngemitteln sah ich Jan. Ich erkannte sie an ihrem roten Kleid - es war ihr zweitbestes. Das beste hatte sie natürlich für die Abschlussfeier auf der Uni aufbewahrt. Sie war nicht ganz tot. Ich habe oftmals gedacht, es wäre besser gewesen - wenn nicht für mich, dann für sie -, wenn sie sofort tot gewesen wäre. Es hätte mir vielleicht ermöglicht sie ein bisschen eher aufzugeben, ein bisschen natürlicher. Oder vielleicht mache ich mir da auch nur etwas vor. Ich weiß nur mit Sicherheit, dass ich sie nie aufgegeben habe, nicht wirklich. Sie zitterte am ganzen Körper. Einer ihrer Schuhe war vom Fuß gerissen worden, und ich sah, dass der Fuß zuckte. Ihre Augen waren offen, aber ausdruckslos, das linke war voller Blut und als ich neben ihr im rauchig riechenden Regen auf die Knie fiel, konnte ich nur denken, dass dieses Zucken bedeutete, sie war auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet worden; sie war unter Strom gesetzt worden, und ich musste den Strom abschalten, bevor es zu spät war.
»Hilfe!« schrie ich. »Hilfe! Jemand muss mir helfen!« Keiner half, niemand kam zu mir. Der Regen trommelte - starker Regen, der mein Haar durchnässte und gegen den Kopf presste -, und ich hielt sie in meinen Armen, und keiner kam. Ihre ausdruckslosen Augen blickten zu mir auf, in einer Art benommener Intensität, und Blut strömte aus ihrem Hinterkopf. Neben einer zitternden, krampfhaft zuckenden Hand lag ein Stück von verchromtem Stahl mit den Buchstaben GREY darauf. Daneben lag ungefähr ein Viertel von dem, was ein Geschäftsmann mit braunem Anzug gewesen war. »Helft mir!« schrie ich wieder und wandte mich zur Brücke, und da sah ich John Coffey im Schatten stehen, selbst nur ein Schatten, ein großer Mann mit herabhängenden Armen und kahlem Kopf. »John!« schrie ich. »Oh, John, bitte, hilf mir! Bitte, hilf Janice!« Regen rann in meine Augen. Ich blinzelte ihn fort, und John war verschwunden. Ich konnte die Schatten sehen, die ich für John gehalten hatte ..., aber es waren nicht nur Schatten gewesen. Dessen bin ich mir sicher. Er war dort. Vielleicht nur als ein Geist aber er war dort, und der Regen auf seinem Gesicht vermischte sich mit der endlosen Flut seiner Tränen.
Sie starb in meinen Armen, dort im Regen neben dem Truck mit Düngemitteln und im Geruch von brennendem Diesel. Für einen Moment kam sie zu Bewusstsein, ihr Blick wurde klar, die Lippen bewegten sich in einer letzten gewisperten Liebeserklärung. Ich spürte eine Art Anspannung ihres Körpers, und dann war sie tot. Ich dachte zum ersten Mal seit Jahren wieder an Melinda Moores, Melinda, die im Bett saß, obwohl all die Ärzte im Krankenhaus von Indianola geglaubt hatten, sie würde sterben; Melinda Moores, die frisch und ausgeruht war und John Coffey mit glänzenden, staunenden Augen anblickte. Melinda, die sagte: Ich träumte, du bist durch die Dunkelheit gewandert, und ich ebenfalls. Wir haben einander gefunden.
Ich ließ den verstümmelten Kopf meiner Frau auf den nassen Asphalt des Highways sinken, erhob mich (es war leicht; ich hatte nur einen kleinen Schnitt an der linken Hand, das war alles) und schrie seinen Namen in die Schatten unter der Brücke. »John! JOHN COFFEY! WO BIST DU, GROSSERJUNGE?«
Ich ging auf diese Schatten zu, trat einen Teddy der mit Blut auf dem Fell zur Seite, eine Brille mit nur einem Glas, eine abgetrennte Hand mit einem Granatring am rosigen Finger. »Du hast Hals Frau gerettet, warum nicht meine? Warum nicht Janice? WARUM NICHT JANICE?« Keine Antwort; nur der Gestank des brennenden Dieseltreibstoffs und der brennenden Leichen. Nur der Regen fiel unablässig aus dem grauen Himmel und trommelte auf den Asphalt, während meine Frau auf der Straße hinter mir lag. Keine Antwort damals, und keine Antwort jetzt. Aber John Coffey hatte 1932 nicht nur Melly Moores oder Dels Maus gerettet, die diesen putzigen Trick mit der Spule beherrschte und anscheinend nach Del gesucht hatte, lange bevor Del aufgetaucht war ... lange bevor John Coffey eingetroffen war.
John rettete auch mich, und Jahre später, als ich im Regen in Alabama stand, umgeben von Leichen und verstreutem Gepäck, und in den Schatten unter der Autobahnbrücke nach einem Mann suchte, der nicht da war, lernte ich eine schreckliche Sache: Manchmal gibt es überhaupt keinen Unterschied zwischen Rettung und Verdammung.
Ich fühlte mich von dem einen oder dem anderen durchströmt, als wir zusammen auf seiner Pritsche saßen - am achtzehnten November 1932. Was auch immer die sonderbare Kraft in ihm war, sie strömte durch die Berührung unserer Hände aus ihm heraus und in mich hinein, in einer Weise, wie es unsere Liebe und Hoffnung und unsere guten Absichten irgendwie niemals können, ein Gefühl, das als Kribbeln begann und zu einer gewaltigen Woge wurde, eine Kraft, die über alles hinausging, was ich je zuvor erlebt hatte und seither erlebt habe. Seit diesem Tag hatte ich nie Lungenentzündung oder Grippe, nicht mal eine Halsentzündung. Ich hatte nie wieder eine Blaseninfektion oder auch nur eine infizierte Schnittwunde. Ich hatte Erkältungen, aber sie waren selten - alle sechs oder sieben Jahre, und obwohl Leute, die nur selten Erkältungen haben, oftmals dann um so stärkere bekommen, wenn es sie erwischt, war das bei mir nie der Fall. Einmal, früher in diesem schrecklichen Jahr 1956, wurde bei mir ein Gallenstein entfernt. Ich glaube, das habe ich Ihnen erzählt. Vermutlich wird es komisch für einige Leser klingen, aber trotz allem, was ich gesagt habe, freute sich ein Teil von mir über den Schmerz, der einsetzte, als der Gallenstein fort war. Es war der einzige ernsthafte Schmerz, den ich seit diesem Problem mit meinem Wasserwerk gehabt hatte, vierundzwanzig Jahre zuvor. Die Krankheiten, die meine Freunde und gleichaltrige Bekannte befallen hatten, bis keiner von ihnen mehr übrig war - Schlaganfall, Krebs, Herzinfarkt Leberkrankheiten, Blutkrankheiten -, all diese Krankheiten hatten mich verschont, hatten einen Bogen um mich gemacht, wie man einen Schlenker mit dem Wagen macht um einem Hirsch oder Waschbär auf der Straße auszuweichen. Bei dem einzigen schweren Unfall, den ich hatte, war ich bis auf den Schnitt an der Hand unversehrt geblieben. 1932 impfte mich John Coffey mit Leben. Lud mich elektrisch auf wie jemand auf dem heißen Stuhl, könnte man sagen. Ich werde schließlich sterben - natürlich werde ich das, jede Illusion von Unsterblichkeit die ich vielleicht gehabt hatte, war mit Mr. Jingles gestorben -, aber ich werde mich lange vorher nach dem Tod sehnen.
Um ehrlich zu sein, ich sehne mich bereits danach und habe mich danach gesehnt, seit Elaine Connelly gestorben ist. Muss ich Ihnen das sagen?
Ich schaue mir diese Seiten wieder an, blättere sie mit meinen zitternden, fleckigen Händen durch, und ich frage mich, ob eine Botschaft darin ist wie in diesen Büchern, die aufmuntern und den Leser veredeln sollen. Ich denke zurück an die Predigten meiner Kindheit, die dröhnenden Versicherungen in der Kirche >Gelobt sei Jesus, der Herr ist allmächtig< und ich rufe mir in Erinnerung, wie die Prediger zu sagen pflegten, dass Gott auch einen Spatz sieht, dass Er jedes, auch das letzte Seiner Geschöpfe sieht und beobachtet. Wenn ich an Mr. Jingles und die winzigen Holzsplitter denke, die wir in dem Loch im Dachbalken fanden, meine ich, dass es so ist. Doch dieser selbe Gott opferte John Coffey -der auf seine schlichte Art nur versuchte, Gutes zu tun - so grausam, wie jener Prophet des Alten Testaments ein wehrloses Lamm opferte ... wie Abraham seinen eigenen Sohn geopfert hätte, wenn es tatsächlich von ihm verlangt worden wäre. Ich denke an Johns Worte, dass Wharton die Detterick-Zwillinge mit ihrer Liebe füreinander tötete und dass es jeden Tag geschah, auf der ganzen Welt. Wenn es geschieht, dann lässt Gott es geschehen, und wenn wir sagen: »Ich verstehe das nicht«, erwidert Gott: »Das ist mir gleichgültig«.
Ich denke daran, dass Mr. Jingles starb, während ich ihm den Rücken zuwandte und meine Aufmerksamkeit einem widerwärtigen, unfreundlichen Mann galt dessen stärkstes Gefühl anscheinend eine besondere Art von Boshaftigkeit und Neugier ist. Ich denke an Janice, die in ihren letzten Sekunden zitterte, während ich bei ihr im Regen kniete. Hör auf, versuchte ich John an jenem Tag in seiner Zelle zu sagen. Lass meine Hände los. Ich werde ertrinken, wenn du es nicht tust. Ertrinken oder explodieren.
»Sie werden nicht explodieren«, antwortete er, als er meinen Gedanken hörte und bei der Vorstellung lächelte. Und das Schreckliche ist, dass es stimmte. Ich bin nicht explodiert. Ich habe wenigstens ein Leiden eines alten Mannes: Ich leide an Schlaflosigkeit. Spät in der Nacht liege ich in meinem Bett und lausche den dumpfen und hoffnungslosen Geräuschen gebrechlicher Männer und Frauen, die sich tiefer ins Alter husten. Manchmal höre ich ein Klingeln, mit dem ein Pfleger gerufen wird, oder das Quietschen von Schuhen auf dem Flur oder Mrs. Javits' kleinen Fernseher, aus dem die Spätnachrichten dudeln. Ich liege hier, und wenn der Mond vor meinem Fenster steht beobachte ich ihn. Ich liege hier und denke an Brutal, an Dean und manchmal auch an William Wharton. Stimmt, Nigger, ich bin so böse, wie du dir nur denken kannst. Ich erinnere mich an Delacroix und glaube ihn sagen zu hören: »Sehen Sie nur, Mr. Edgecombe, ich bringe Mr. Jingles eine neue Trick bei.« Ich denke an Elaine, die an der Tür des Solariums steht und Brad Dolan sagt, dass er mich in Frieden lassen soll. Manchmal döse ich und sehe diese Autobahnbrücke im Regen, und John Coffey steht darunter in den Schatten. Er ist nie nur eine Sinnestäuschung in diesen kleinen Träumen. Er ist es immer tatsächlich, mein großer Junge. Er steht nur da und beobachtet. Ich liege hier und warte. Ich denke an Janice, wie ich sie verloren habe, wie sie mir im Regen blutig aus den Händen glitt, und ich warte. Jeder von uns muss sterben, ohne Ausnahme, das weiß ich, aber manchmal, o Gott, ist die Green Mile so lang. ENDE
Nachwort des Autors
Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen war, aber mir hat es viel Spaß gemacht. Ich bezweifle, dass ich es wiederholen möchte (allein schon, weil einem die Kritiker sechsmal in den Hintern treten statt nur einmal), doch ich möchte die Erfahrung um nichts in der Welt missen. Während ich dieses Nachwort schreibe, bevor Teil 2 von The Green Mile veröffentlicht wird, ist das Experiment mit den Romanen in Fortsetzungen anscheinend ein Erfolg, zumindest was die Verkaufszahlen betrifft. Dafür, treue Leserschaft möchte ich Ihnen danken. Und etwas, das ein bisschen anders ist weckt uns vielleicht alle ein wenig auf - zeigt uns das alte Geschäft des Geschichtenerzählens in neuem Licht. So empfand ich es jedenfalls.
Ich schrieb eilig, weil Umfang und Termindruck verlangten, dass ich eilig schrieb. Das war ein Teil des Kitzels, aber es führte vielleicht zu einigen Anachronismen. Die Aufseher und Häftlinge hören in Block E im Radio Allen s Alley, und ich bezweifle, dass Fred Allen 1932 tatsächlich im Rundfunk gesendet wurde. Das mag auch für Kay Kyser und sein Kollege of Musical Knowledge gelten. Ich will mich nicht herausreden, aber manchmal hat es für mich den Anschein, dass jüngere Geschichte schwerer zu erforschen ist als das Mittelalter oder die Zeit der Kreuzzüge. Ich konnte ermitteln, dass Brutal die Maus auf der Green Mile tatsächlich Steamboat Willy genannt haben kann - der Disney-Comic existierte zu diesem Zeitpunkt fast vier Jahre -, aber ich habe den schleichenden Verdacht, dass das kleine pornographische Comicbuch mit Popeye und Olive Oyl nicht in die Zeit paßt. Ich werde vielleicht einiges von diesen Dingen in Ordnung bringen, falls und wenn ich mich entscheide, The Green Mile als Einzelband zu bringen - aber vielleicht werde ich die Schnitzer auch drin lassen. Hat schließlich nicht auch der große Shakespeare in Julius Caesar den Anachronismus gebracht, dass eine Uhr schlägt, lange bevor die mechanischen Uhren erfunden wurden?
The Green Mile als Einzelband zu veröffentlichen würde sicher wieder eine einzigartige Herausforderung sein, das ist mir klar geworden - das Buch könnte gewiss nicht herausgebracht werden wie in den Fortsetzungen. Da ich mir Charles Dickens als Vorbild nahm, fragte ich herum, wie Dickens mit dem Problem fertig wurde, die Erinnerung seiner Leserinnen und Leser zu Beginn jeder neuen Episode aufzufrischen. Ich hatte etwas ähnliches wie die Zusammenfassung erwartet, die jeder Fortsetzung in meiner geliebten Saturday Evening Post voranging, und festgestellt, dass Dickens nicht so simpel vorgegangen war; er baute die Zusammenfassung in die jeweilige Folge ein. Während ich überlegte, wie ich das anpacken sollte, wies meine Frau mich darauf hin (sie nörgelt eigentlich nicht herum, aber manchmal berät sie ziemlich unermüdlich), dass ich die Geschichte von Mr. Jingles, der Zirkusmaus, nie richtig beendet hatte. Ich fand, dass sie recht hatte, und erkannte, dass ich eine ziemlich interessante >Front Story< schaffen konnte, wenn ich Mr. Jingles zu einem Geheimnis in Paul Edgecombes Alter machte. (Das Ergebnis ähnelt ein wenig der Art der Filmversion von Fried Green Tomatoes.) Eigentlich entpuppte sich alles im Vorspann mit Pauls Geschichte - sein Leben im Altenheim Georgia Pines - zu meiner Zufriedenheit. Besonders gefiel mir, dass Dolan, der Pfleger, und Percy Wetmore in Pauls Gedanken miteinander verflochten wurden. Und das war etwas, das ich nicht geplant hatte; wie bei den glücklichsten Fiktionen ergab es sich einfach und nahm seinen Platz ein.
Ich möchte Ralph Vicinanza danken, der mich überhaupt erst auf die Idee des >Serien Thrillers< gebracht hat, und all meinen Freunden bei Viking, Penguin und Signet, die mich darin bestärkten, obwohl sie zu Beginn eine Heidenangst hatten (alle Schriftsteller sind verrückt, und natürlich wussten sie das). Ich möchte auch Marsha DiFillippo (sic) danken, die einen ganzen Stenoblock voll mit meinen engen handschriftlichen Notizen abtippte und sich nie beklagte. Nun ... fast nie. Vor allem möchte ich jedoch meiner Frau Tabitha danken, die diese Geschichte las und sagte, dass sie ihr gefiel. Schriftsteller schreiben fast immer mit einem Idealleser im Sinn, nehme ich an, und meine Frau ist meiner. Wir stimmen nicht immer darin überein in dem, was jeder schreibt (Teufel, wir sind selten einer Meinung, wenn wir zusammen im Supermarkt einkaufen), aber wenn sie etwas gut findet, dann ist es das für gewöhnlich auch. Denn sie ist hart in ihrem Urteil, und wenn ich versuche, zu mogeln oder etwas abzukürzen, merkt sie es immer. Und ich möchte Ihnen, meinen treuen Leserinnen und Lesern, danken.
Wenn Sie irgendwelche Vorschläge zu The Green Mile als Einzelband haben, lassen Sie es mich bitte wissen.
Stephen King 28. April 1996 New York City