IQ

Zuerst hatte es den Anschein, dass es trotz der schwülen Hitze eine ziemlich ruhige Nacht wer­den würde - John Coffey war wie üblich still und in sich zurückgezogen, Wild Bill gab sich als Mild Bill, und Delacroix war prima gelaunt für einen Mann, der in etwas mehr als vierundzwanzig Stun­den ein Rendezvous mit Old Sparky hatte.

Er verstand tatsächlich, was ihm widerfahren würde, wenigstens das Wesentliche; er hatte Tacos als Henkersmahlzeit bestellt (>mindestens vier<) und mir spezielle Anweisungen für die Küche gegeben. »Sagen Sie ihnen, sie sollen mir diese scharfe Sauce machen, so dass Flammen aus die Mund schießen, wenn man >allo< sagt - sie sollen das grüne Zeug nehmen, nicht das milde. Das Grüne ist so scharf, dass ich nicht komme von Klo die nächste Tag, aber diesmal keine Probleme, n'est cepas?«

Die meisten sorgen sich mit einer Art schwachsinniger Wildheit um ihre unsterblichen Seelen, doch Delacroix zeigte wenig Interesse, als ich ihn fragte, welchen seelischen Beistand er in seinen letzten Stunden haben wollte. Wenn >diese komische Typ< Schuster gut genug für Chief Bitterbuck gewesen war, sagte sich Del, dann würde er auch gut genug für ihn sein. Nein, was ihn beschäftigte - ich wette, Sie haben es bereits erraten -, das war die Sorge, was nach seinem Tod aus Mr. Jingles werden würde. Ich war es gewohnt lange Stunden mit den zum Tode Verurteilten vor ihrem letzten Marsch zu verbringen, aber dies war das erste Mal, dass ich diese langen Stunden damit verbrachte, über das Schicksal einer Maus zu grübeln.

Del erwog ein Szenario nach dem anderen, ging geduldig die Möglichkeiten durch. Und während er laut dachte und für seinen Liebling, die Maus, die Zukunft plante, als wäre sie ein Kind, das er aufs College schicken musste, warf er die bunte Holzrolle gegen die Wand. Jedes Mal, wenn er das tat, sprang Mr. Jingles hinterher, holte die ehemalige Garnspule ein und rollte sie zurück zu Dels Fuß. Nach einer Weile ging mir das auf die Nerven - erst das Klacken der hölzernen Rolle gegen die Wand, dann das Schaben von Mr. Jingles' Pfoten. Obwohl es ein niedlicher Trick war, verlor er nach etwa anderthalb Stunden allmählich den Reiz. Aber Mr. Jingles wurde anscheinend niemals müde. Er legte dann und wann eine Pause ein, um sich mit einem Schluck Wasser aus dem Unterteller zu erfrischen, den ihm Delacroix eigens für diesen Zweck hingestellt hatte, oder um ein Stück von einem pinkfarbenen Pfefferminzbonbon zu knabbern, und dann machte er weiter. Manchmal lag es mir auf der Zunge, Delacroix zu sagen, dass er ihm mal eine Pause gönnen sollte, aber jedes Mal erinnerte ich mich daran, dass er nur noch diese Nacht und den morgigen Tag hatte, um mit Mr. Jingles zu spielen, und so hielt ich den Mund. Gegen Ende wurde es jedoch wirklich schwierig, ihn gewähren zu lassen - Sie wissen, wie das ist, wenn man immer wieder die gleichen Geräusche hören muss. Nach einer Weile geht es einem auf die Nerven. Ich wollte es ihm schließlich doch sagen, doch dann veranlasste mich irgend etwas, über die Schulter und aus der Zellentür zu schauen. John Coffey stand an der Tür seiner Zelle gegenüber und schüttelte den Kopf: links, rechts und zurück zur Mitte. Als hätte er meine Gedanken gelesen und mir sagen wollen, dass ich es mir noch einmal überlegen sollte.

Ich sagte, ich würde dafür sorgen, dass Mr. Jingles zu Delacroix' Tante käme, zu der Lady, die ihm die große Tüte Pfefferminzbonbons geschickt hatte. Die bunte Garnspule konnte ebenfalls zur Tante, sogar sein >Haus< - wir würden sammeln und dafür sorgen, dass Toot auf seinen Anspruch auf die Zigarrenkiste verzichtete. Nein, sagte Delacroix nach einigem Überlegen (er warf dabei mindestens fünfmal die Rolle gegen die Wand, und Mr. Jingles rollte sie entweder mit der Nase oder schob sie mit seinen Pfoten zurück), das gehe nicht Tante Hermine sei zu alt, sie würde Mr. Jingles' lebhafte Art nicht verstehen. Und angenommen, Mr. Jingles überlebte sie? Was würde dann mit ihm geschehen? Nein, nein, Tante Hermine kam einfach nicht in Frage.

»Nun, wie wäre es, wenn einer von uns Mr. Jingles übernimmt?« fragte ich. Einer von uns Wär­tern? Wir würden ihn gleich hier in Block E behalten. Nein, sagte Delacroix, er danke mir freundlich für den Gedanken, certainement, aber Mr. Jingles sei eine Maus, die sich nach Freiheit sehne. Er, Eduard Delacroix, wisse das, weil Mr. Jingles - Sie haben es erraten - ihm diese Information ins Ohr geflüstert habe.

»Also gut«, sagte ich, »dann wird ihn einer von uns mit nach Hause nehmen, Del. Vielleicht Dean. Er hat einen kleinen Sohn, der ein Mäuschen einfach lieben wird.« Delacroix wurde bleich vor Entsetzen bei diesem Gedanken. Ein kleines Kind verantwortlich für ein nagendes Genie wie Mr. Jingles?

Wie, im Namen von le bon Dieu, konnte man von einem kleinen Jungen erwarten, dass er die Dressur

regelmäßig trainierte, geschweige denn ihm neue Tricks beibrachte? Und angenommen, das Kind

verlor das Interesse und vergaß, ihn zwei oder drei Tage hintereinander zu füttern? Delacroix, der

sechs Menschen bei lebendigem Leibe geröstet hatte, um sein ursprüngliches Verbrechen zu

vertuschen, erschauerte mit dem gleichen Abscheu, den ein radikaler Tierschützer bei dem Gedanken

an Tierversuche empfindet.

Also gut, ich erklärte mich bereit, ihn zu mir zu nehmen (ich verspreche ihnen alles, erinnern Sie sich?

In ihren letzten achtundvierzig Stunden verspreche ich ihnen alles). Na, wie wäre das?

»Nein, Sir, Boss Edgecombe«, lehnte Del in entschuldigendem Tonfall ab. Er warf wieder die Rolle. Sie

flog gegen die Wand, prallte ab, drehte sich; dann war Mr. Jingles bei ihr und schob sie mit der Nase

zurück zu Delacroix. »Vielen Dank, merci beaucoup - aber Sie wohnen draußen in die Wald, und Mr.

Jingles, er 'at Angst, dass Ja foret zu leben. Ich weiß, weil...«

»Ich denke, ich kann erraten, woher du das weißt, Del«, unterbrach ich ihn.

Delacroix nickte und lächelte. »Aber wir werden diese Problem lösen, bestimmt!« Er warf die Rolle.

Mr. Jingles flitzte hinterher. Ich versuchte, nicht zusammenzuzucken.

Am Ende war es Brutal, der die Lage rettete. Er war beim Wachpult gewesen und hatte Dean und

Harry beim Cribbage zugeschaut. Percy war ebenfalls da, und Brutal war es schließlich leid zu

versuchen, eine Unterhaltung mit ihm anzufangen und nur verdrossenes Grunzen als Antwort zu

bekommen. So schlenderte er zu mir - ich saß außerhalb von Delacroix' Zelle auf einem Stuhl -,

verschränkte die Arme und hörte uns zu.

»Wie wäre es mit Mouseville?« fragte Brutal in die nachdenkliche Stille, die entstanden war, nachdem

Del sich geweigert hatte, seinen Mr. Jingles in mein altes Spukhaus im Wald zu lassen. Brutal äußerte

die Bemerkung lässig, als wollte er betonen, dass es nur so eine Idee war.

»Mouseville?« fragte Delacroix und blickte Brutal in einer Mischung aus Überraschung und Interesse

an. »Was ist Mouseville?«

»Das ist diese Touristenattraktion in Florida«, sagte Brutal. »Tallahassee, glaube ich. Stimmt das,

Paul? Tallahassee?«

»Klar«, erwiderte ich ohne das geringste Zögern und dachte: Gott segne Brutus Howell. »Tallahassee.

Rechts ab von der Kreuzung vor der Hunde-Universität« Brutals Mund zuckte ein wenig bei meiner

Wegbeschreibung, und ich dachte schon, er würde alles mit seinem Gelächter verderben, aber er

bekam sich unter Kontrolle und nickte. Ich konnte mir vorstellen, dass er mich später noch auf die

>Hunde-Uni< ansprechen würde.

Diesmal warf Del die Rolle nicht, obwohl Mr. Jingles mit den Vorderpfoten auf Dels Slipper stand und

es ihn sichtlich gelüstete, eine erneute Runde mit der Rolle zu drehen. Der Cajun blickte von Brutal zu

mir und dann wieder zu Brutal. »Was machen die in Mouseville?« fragte er.

»Meinst du, sie würden Mr. Jingles aufnehmen?« fragte mich Brutal, ignorierte Del und lockte ihn

zugleich. »Meinst du, er hat das Zeug dazu, Paul?«

Ich setzte eine nachdenkliche Miene auf.

»Weißt du«, sagte ich schließlich, »je mehr ich darüber nachdenke, desto brillanter finde ich die

Idee.« Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Percy sich auf der Green Mile näherte (er machte einen

weiten Bogen um Whartons Zelle; er hatte also die Lektion nicht vergessen). Percy lehnte sich mit der

Schulter gegen eine leere Zelle und hörte mit einem dünnen geringschätzigen Lächeln zu.

»Was ist diese Mouseville?« wollte Del ungeduldig wissen.

»Eine Touristenattraktion, wie ich schon sagte«, antwortete Brutal. »Da sind mindestens hundert

Mäuse, ganz genau kenne ich die Zahl nicht. Würdest du nicht auch sagen, dass es über hundert sind,

Paul?«

»Heutzutage eher über hundertfünfzig«, sagte ich. »Es ist ein Riesenerfolg. Ich hörte, man will eine

Filiale in L. A eröffnen und Mouseville West nennen, denn das Geschäft boomt. Dressierte Mäuse sind

stark im Kommen im Showgeschäft, nehme ich an - ich kann das auch nicht ganz verstehen.«

Delacroix saß mit der Rolle in der Hand da, schaute uns an und hatte seine eigene Lage im Augenblick

völlig vergessen.

»Sie nehmen nur die besten Mäuse«, gab Brutal zu bedenken, »diejenigen, die tolle Tricks

beherrschen. Und es können keine weißen Mäuse sein, denn das sind Mäuse, die aus Tierhandlungen

kommen.«

»Tier'andlungen, ja, merdel« ereiferte sich Delacroix. »Ich 'asse Mäuse von Tier'andlungen!«

»Jedenfalls haben sie dort dieses Zelt«, berichtete Brutal weiter, den Blick in die Ferne gerichtet

während er sich das vorstellte. »In dieses Zelt gehen...«

»Ja, ja, wie in eine cirquel. Muss man da Eintritt zahlen?«

»Willst du mich verscheißern? Selbstverständlich muss man da Eintritt zahlen. Einen Dime pro Person,

Kinder zwei Cent Und diese ganze Stadt ist aus Bakelitboxen und Klopapierrollen gemacht, mit

Fenstern aus Hausenblase, damit man sehen kann, was sie drinnen ...«

»Ja! Ja!« Delacroix geriet jetzt in Ekstase. Dann wandte er sich an mich. »Was ist 'ausenblase?«

»So etwas wie bei einem Backofen, damit man vorne hineinsehen kann«, erklärte ich.

»Ah ja! Dieses Zeug!« Delacroix fuchtelte mit der Hand, um Brutal zum Weitersprechen zu drängen,

und Mr. Jingles' kleine glänzende Augen drehten sich praktisch in den Höhlen, als er versuchte, die

Holzrolle im Blick zu behalten. Es war ziemlich lustig. Percy kam ein bisschen näher, als ob er einen

besseren Blick haben wollte, und ich sah, dass John Coffey ihn finster anschaute, aber ich war zu sehr

versunken in Brutals Phantasie, um Percy viel Aufmerksamkeit zu schenken. Brutal stellte einen neuen

Rekord auf in seinem Bemühen, einem Todeskandidaten zu sagen, was er hören wollte, und ich

bewunderte ihn, glauben Sie mir.

»Nun«, fuhr Brutal fort, »da ist die Mäusestadt Mouse City, aber was die Kids wirklich lieben, ist der

Mouseville All-Star Circus, wo Mäuse auf Trapezen schwingen, kleine Fässer rollen, auf Seilen tanzen

und Münzen stapeln ...«

»Das ist es! Das ist die Platz für Mr. Jingles!« Delacroix' Augen funkelten, und seine Wangen waren

vor Begeisterung gerötet. Mir kam in den Sinn, dass Brutus Howell eine Art Heiliger war.

»Du wirst eine Zirkusmaus, Mr. Jingles! Wirst in Mouse City in Florida leben! Mit Fenstern aus

Sowiesoglas! Hurra!«

Er warf die Rolle besonders schwungvoll. Sie prallte tief gegen die Wand, wirbelte verrückt herum und

flog zwischen den Gitterstäben der Zellentür hinaus auf die Green Mile. Mr. Jingles flitzte hinter der

Rolle her, und Percy sah seine Chance.

»Nein, du Narr!« schrie Brutal, aber Percy hörte nicht auf ihn. Als Mr. Jingles bei der Rolle war - zu

sehr im Stress, um wahrzunehmen, dass sein alter Feind ganz in der Nähe war -, stampfte Percy mit

der Sohle seines harten schwarzen Arbeitsschuhs auf ihn. Es knackte, als Mr. Jingles' Rückrat brach,

und Blut schoss aus seiner Schnauze. Seine kleinen schwarzen Augen quollen aus den Höhlen, und ich

sah darin den Ausdruck von Überraschung und Todesqual, der nur zu menschlich war. Delacroix schrie

vor Entsetzen und Trauer. Er warf sich gegen die Tür seiner Zelle und streckte die Arme zwischen den

Gitterstäben hindurch, so weit, wie er konnte, und er schrie immer wieder den Namen der Maus.

Percy wandte sich zu ihm um - zu uns dreien -und lächelte. »Na also«, sagte er. »Ich wusste, dass ich

ihn erwische, früher oder später. Wirklich nur eine Frage der Zeit.« Er machte kehrt, ging in aller Ruhe

die Green Mile hinauf und ließ Mr. Jingles auf dem Linoleum in einer Blutlache liegen, die sich immer

weiter ausbreitete.

Teil 4

Der qualvolle Tod

1

Abgesehen von all der anderen Schreiberei führe ich ein kleines Tagebuch, seit ich in Georgia Pines wohne - keine große Sache, nur ein paar Absätze pro Tag, hauptsächlich über das Wetter. Gestern Abend habe ich darin geblättert. Ich wollte sehen, wie lange es her ist, seit mich meine Enkel, Christopher und Lisette, mehr oder weniger in das Altenheim gezwungen haben. »Zu deinem Besten, Opa«, sagten sie. Natürlich meinten sie es so. Sagen das nicht meistens die Leute, wenn sie endlich eine Lösung gefunden haben, wie sie ein Problem loswerden können, das geht und spricht? Es ist etwas über ein Jahr her. Das Unheimliche ist, dass ich nicht weiß, ob ich es als ein Jahr oder länger oder kürzer empfinde. Mein Zeitgefühl schmilzt anscheinend wie der Schneemann eines Kindes während eines Tauwetters im Januar. Es ist, als ob Zeit, wie sie immer war - Eastern Standard Time, Sommerzeit, Arbeitszeit - nicht mehr existiert. Hier gibt es nur Georgia Pines Time, und das ist Alte-Mann-Zeit, Alte-Frau-Zeit und Piss-ins-Bett-Zeit. Der Rest... alles weg. Vorbei. Dies ist ein verdammt gefährlicher Ort Man merkt es zuerst nicht man denkt, er ist nur langweilig, etwa so gefährlich wie ein Kindergarten zur Mittagsschlafzeit, aber er ist gefährlich, das kann ich Ihnen sagen. Seit ich hier bin, habe ich viele Leute in die Senilität gleiten sehen, und manchmal ist es kein Gleiten - manchmal geht es mit der Geschwindigkeit eines Schnelltauchenden U-Boots hinab. Wenn sie herkommen, sind sie meistens in Ordnung - mit trüben Augen, auf den Stock angewiesen, mit vielleicht etwas schwacher Blase, aber sonst okay -, und dann passiert etwas mit ihnen. Einen Monat später sitzen sie nur noch im Fernsehraum, starren mit stumpfem Blick zu Oprah Winfrey auf dem Bildschirm und halten ein vergessenes Glas Orangensaft schief und tröpfelnd mit zittriger Hand.

Einen Monat später muss man ihnen die Namen ihrer Kinder sagen, wenn sie zu Besuch kommen. Und wieder einen Monat später muss man sie an ihren eigenen Namen erinnern. Wie ich schon sagte, etwas passiert mit ihnen: Die Georgia-Pines-Zeit passiert mit ihnen. Die Zeit hier ist wie eine schwache Säure, die zuerst die Erinnerung auslöscht und dann den Wunsch weiterzuleben. Man muss dagegen ankämpfen. Das sage ich auch Elaine Connelly, meiner besonderen Freundin. Es ist besser für mich geworden, seit ich aufschreibe, was ich 1932 erlebte, das Jahr, in dem John Coffey zu der Green Mile kam. Einige der Erinnerungen sind schrecklich, aber ich spüre, dass sie meinen Verstand und mein Bewusstsein schärfen wie ein Messer einen Bleistift, und das ist der Schmerz wert. Aber das Schreiben und die Erinnerung allein sind nicht genug. Ich habe auch einen Körper, so verfallen und grotesk er vielleicht jetzt sein mag, und ich trimme ihn, soviel ich kann. Zuerst war es hart - mit alten Knackern wie mir ist nicht viel los, wenn es um Leibesübungen nur um der Fitness willen geht -, aber es ist jetzt leichter, weil meine Spaziergänge einen Zweck haben. Ich mache meinen ersten Spaziergang vor dem Frühstück - an den meisten Tagen, sobald es hell wird. Diesen Morgen hat es geregnet, und bei feuchtem Wetter schmerzen meine Gelenke, aber ich nahm einen Poncho von den Garderobenhaken bei der Küchentür und ging trotzdem hinaus. Wenn man eine Aufgabe hat, muss man sie erfüllen, und wenn das schmerzt, ist es nicht zu ändern. Außerdem gibt es Belohnungen. Die größte ist, das Gefühl für die wahre Zeit zu behalten, im Gegensatz zu der Georgia-Pines-Zeit. Und ich mag den Regen, Schmerzen oder nicht. Besonders am frühen Morgen, wenn der Tag jung und scheinbar voller Möglichkeiten ist sogar für einen erschöpften alten Knaben wie mich.

Ich ging durch die Küche, schnorrte zwei Scheiben Toast von einem der noch schläfrigen Köche und ging hinaus. Ich überquerte die Krocket-Spiel-Straße und dann das kleine Putting Green, das voller Unkraut war. Jenseits davon ist ein Wäldchen mit einem engen gewundenen Pfad hindurch und ein paar Schuppen am Weg, die nicht mehr benutzt werden und still vor sich hin modern. Ich ging langsam über diesen Pfad, lauschte auf das geheimnisvolle Prasseln des Regens in den Kiefern und mampfte mit meinen wenigen verbliebenen Zähnen ein Stück Toast. Meine Beine taten weh, aber es war nur ein leichter, erträglicher Schmerz. Sonst fühlte ich mich ziemlich gut. Ich sog die feuchte graue Luft tief ein, wie ich konnte, nahm sie auf wie Nahrung.

Und als ich zum zweiten dieser alten Schuppen gelangte, ging ich für eine Weile hinein und kümmerte mich darin um meine Aufgabe.

Zwanzig Minuten später spazierte ich auf dem Pfad zurück. Ich spürte einen Wurm von Hunger in meinem Magen nagen und sagte mir, dass ich etwas Kräftigeres als Toast essen konnte. Einen Teller Haferschleim und vielleicht sogar ein Rührei mit einem Würstchen. Ich liebe Würstchen, habe sie immer gemocht, aber wenn ich heutzutage mehr als eins esse, neige ich zu Durchfall. Wenn ich nur ein Würstchen esse, geht jedoch alles gut. Dann, mit vollem Bauch und mit von der feuchten Luft aufgemöbeltem Verstand (hoffte ich jedenfalls), würde ich ins Solarium gehen und über die Hinrichtung von Eduard Delacroix schreiben. Das würde ich so schnell wie möglich tun, damit ich nicht den Mut verlöre.

Ich dachte an Delacroix' Maus Mr. Jingles, als ich die Krocket-Spielstraße überquerte und zur Küchentür ging - wie Percy Wetmore die Maus niedergestampft und ihr das Rückgrat gebrochen und wie Delacroix geschrieen hatte, als ihm klar geworden war, was sein Feind getan hatte -, und ich sah nicht Brad Dolan, der, von der Abfalltonne halb versteckt, neben der Tür stand. Ich nahm ihn erst wahr, als er mich am Handgelenk packte. »Kleinen Spaziergang gemacht, Paulie?« fragte er.

Ich zuckte zurück und riss mein Handgelenk los. Einiges war einfach auf das Erschrecken zurückzuführen - jeder wird zurückzucken, wenn er sich erschreckt -, aber das war nicht alles. Ich hatte an Percy Wetmore gedacht, wissen Sie, und Brad erinnert mich immer an ihn. Teils liegt es daran, dass Brad wie Percy stets mit einem Schmöker in der Tasche herumläuft (bei Percy waren es immer Abenteuermagazine; bei Brad sind es kleine Taschenbücher mit Witzen, über die man nur lachen kann, wenn man blöde und gemein ist), teils weil er sich aufführt wie König Scheiße von Schloss Kackhaufen, aber hauptsächlich liegt es daran, dass er hinterhältig ist und anderen gern weh tut.

Er war gerade erst zur Arbeit gekommen und hatte noch nicht seine weiße Pflegerkluft angezogen. Er trug Jeans und ein lässig aussehendes Hemd im Western-Stil. In einer Hand hielt er den Rest eines Blätterteigteilchens, das er in der Küche gemopst hatte. Er stand unter dem Dachvorsprung, wo er futtern konnte, ohne nass zu werden. Und wo er mich belauern konnte, dessen bin ich mir jetzt ziemlich sicher. Ich bin mir auch bei etwas anderem ziemlich sicher: Ich werde mich vor Mr. Brad Dolan in acht nehmen müssen. Er mag mich nicht besonders. Ich weiß nicht, warum, aber ich wusste auch nie, warum Percy Wetmore eine Abneigung gegen Delacroix hatte. Und >Abneigung< ist wirklich ein zu schwaches Wort. Percy hasste Del wie die Pest von dem Moment an, als der kleine Franzose zur Green Mile kam.

»Was ist mit dem Poncho, den du anhast, Paulie?« fragte Brad Dolan und drehte den Kragen um. »Das ist nicht deiner.«

»Den hab' ich aus dem Flur vor der Küche genommen«, sagte ich. Ich hasse es, wenn er mich Paulie nennt, und ich denke, das weiß er, aber ich wollte ihm nicht die Befriedigung geben, es mir anzusehen. »Da hängt eine ganze Reihe davon. Ich hab' ihn nicht beschädigt, nicht wahr? Schließlich ist das Ding für den Regen gemacht«

»Aber er ist nicht für dich gemacht, Paulie«, sagte er und zurrte wieder daran. »Das ist der springende Punkt. Diese Regenhäute sind für die Angestellten bestimmt nicht für die Heimbewohner.« »Ich verstehe immer noch nicht wer dadurch einen Schaden hat, wenn ich einen benutze.« Er lächelte dünn. »Es geht nicht um Schaden, es geht um die Vorschriften. Was wäre das Leben ohne Vorschriften? Paulie, Paulie, Paulie.« Er schüttelte den Kopf, als bedauerte er zu leben, bloß weil er meinen Anblick ertragen musste. »Du meinst vielleicht, ein alter Furzer wie du braucht sich nicht mehr an Vorschriften zu halten, aber das ist ein Irrtum, Paulie.*

Brad lächelte mich an. Konnte mich nicht leiden. Hasste mich vielleicht sogar. Und warum? Ich weiß es nicht. Manchmal gibt es keinen Grund. Das ist das Unheimliche.

»Nun, es tut mir leid, dass ich gegen die Vorschriften verstoßen habe«, sagte ich. Es klang ein wenig weinerlich, etwas schrill, und ich hasste mich deswegen, aber ich bin alt, und alte Leute sind leicht weinerlich. Alte Leute sind leicht ängstlich.

Brad nickte. »Entschuldigung angenommen. Und jetzt häng das Ding wieder auf. Du hast ohnehin nicht draußen im Regen herumzuspazieren. Besonders nicht in dem Wäldchen. Was ist, wenn du ausrutschst und fällst und dir die Hüfte brichst? Ha? Wer, glaubst du, muss deine Last dann den Hügel hoch zurück ins Haus schleppen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. Ich wollte nur von ihm weg. Je länger ich ihm zuhörte, desto mehr klang er wie Percy. William Wharton, der Verrückte, der im Herbst '32 zur Green Mile kam, schnappte einmal Percy und jagte ihm eine solche Angst ein, dass er sich in die Hosen pinkelte. Wenn ihr das irgend jemandem erzählt, seid ihr alle binnen einer Woche arbeitslos und könnt betteln gehen, drohte uns Percy hinterher. Und jetzt, nach all diesen Jahren, konnte ich Brad Dolan fast die gleichen Worte sagen hören, im gleichen Tonfall. Es ist fast, als ob ich durch das Schreiben über diese alten Zeiten irgendeine geheime Tür aufgeschlossen habe, die Vergangenheit und Gegenwart verbindet. Von Percy Wetmore zu Brad Dolan, von Janice Edgecombe zu Elaine Connelly vom Staatsgefängnis Gold Mountain zum Altenheini Georgia Pines. Und wenn mich dieser Gedanke heute Nacht nicht wach hält, dann wird mich wohl nichts wach halten.

Ich tat so, als wollte ich durch die Küchentür gehen, und Brad packte mich wieder am Handgelenk. Ich weiß nicht, ob es auch schon beim ersten Mal so war, aber diesmal tat er mir absichtlich weh, quetschte mein Handgelenk, um mir Schmerzen zuzufügen. Sein Blick zuckte hin und her, und Brad vergewisserte sich, dass niemand in der Nässe des frühen Morgens sah, wie er einen der Alten misshandelte, die er pflegen sollte.

»Was treibst du auf diesem Pfad?« fragte er. »Ich weiß, dass du nicht dort hingehst, um zu wichsen, diese Zeit hast du lange hinter dir, also, was treibst du da?«

»Nichts«, sagte ich und ermahnte mich, ruhig zu sein, ihm nicht zu zeigen, wie sehr er mir weh tat. Ja, ich musste die Ruhe bewahren und daran denken, dass er nur den Pfad erwähnt hatte - von dem Schuppen wusste er nichts. »Ich gehe nur spazieren. Um einen klaren Kopf zu bekommen.« »Zu spät dafür, Paulie, dein Kopf wird nie wieder klar werden.« Er quetschte mein dünnes Altmän­nerhandgelenk wieder, dass ich glaubte, das Knirschen der Knochen zu hören, und dabei irrte sein Blick hin und her, und er vergewisserte sich, dass er sicher war.

Brad machte es nichts aus, gegen die Vorschriften zu verstoßen; er hatte nur Angst davor, dabei erwischt zu werden. Und auch in diesem Punkt war er wie Percy Wetmore, der einen immer daran erinnerte, dass er der Neffe des Gouverneurs war. »So alt, wie du bist, ist es ein Wunder, dass du dich erinnern kannst, wer du bist Du bist zu verdammt alt. Sogar für ein Museum wie dieses. Bei deinem Anblick bekomme ich eine Gänsehaut Paulie.«

»Lass mich los«, sagte ich und bemühte mich, nicht weinerlich zu klingen. Nicht nur aus Stolz. Ich dachte mir, das Weinerliche in meiner Stimme würde ihn reizen - wie der Geruch von Schweiß manchmal einen Hund zum Zubeißen reizt der sonst nur knurren würde. Das brachte mich auf den Gedanken an einen Reporter, der über John Coffeys Prozess berichtet hatte. Der Reporter war ein schrecklicher Mann namens Hammersmith, und das Schrecklichste an ihm war, dass er nicht gewusst hatte, wie schrecklich er war.

Anstatt mich loszulassen, quetschte Brad Dolan wieder mein Handgelenk. Ich stöhnte auf. Ich wollte es nicht, aber ich konnte nichts dafür. Der Schmerz stach bis zu meinen Fußknöcheln hinab. »Was treibst du dort auf dem Pfad, Paulie? Sag's mir.«

»Nichts!« sagte ich. Ich heulte nicht noch nicht aber ich befürchtete, dass ich es bald tun würde, wenn er mir weiter so zusetzte. »Nichts, ich gehe nur spazieren, ich spaziere gern, lass mich los!«

Das tat er, aber nur, um meine andere Hand zu packen. Die war zur Faust geballt »Mach auf«, sagte er. »Lass Papa sehen, was du da hast.«

Ich zeigte ihm die Handfläche, und als er sah, was darauf lag, grunzte er angewidert. Es war müder Rest meiner zweiten Scheibe Toast. Ich hatte die rechte Hand zur Faust geballt, als er mein lin­kes Handgelenk gequetscht hatte, und an meinen Fingern klebte Butter - nun, natürlich Margarine, es gab hier keine Butter.

»Geh rein und wasch dir deine verdammten Pfoten«, sagte er, trat zurück und biss einen Happen von seinem Blätterteigteilchen ab. »Mein Gott«

Ich ging die Treppe hinauf. Meine Beine zitterten, und mein Herz hämmerte wie ein Motor mit undichten Ventilen und wackelnden alten Kolben. Als ich die Hand auf den Türgriff legte und in die Küche - und in die Sicherheit - gehen wollte, sagte Dolan: »Wenn du jemandem erzählst dass ich dein armes altes Händchen gequetscht habe, sage ich, dass du spinnst. Beginn seniler Demenz wahrscheinlich. Und du weißt, dass man mir glauben wird. Wenn du blaue Flecken kriegst wird man denken, du hast sie dir selbst zugefügt«

Ja. Das stimmte. Und wieder einmal hätte Percy Wetmore das sagen können, ein Percy, der irgendwie jung und gemein geblieben war, während ich alt und gebrechlich geworden war. »Ich sage keinem etwas«, murmelte ich. »Es gibt nichts zu sagen.«

»So ist es richtig, Opa.« Sein Tonfall war leicht und spöttisch, der Tonfall eines Arschlochs (um Percys Wort zu benutzen), das dachte, es werde ewig jung bleiben. »Und ich werde alles daran setzen herauszufinden, was du da treibst. Hast du gehört?«

Ja, ich hatte es gehört, aber ich wollte ihm nicht die Genugtuung geben, es zu bestätigen. Ich ging in die Küche, durchquerte sie (ich roch jetzt Eier und Würstchen, aber der Appetit war mir vergangen) und hängte den Poncho auf den Haken. Dann ging ich nach oben auf mein Zimmer -machte bei jeder Treppenstufe eine Pause, damit sich mein Pulsschlag beruhigen konnte -und sammelte mein Schreibmaterial zusammen.

Anschließend ging ich hinunter ins Solarium. Ich hatte mich gerade an den kleinen Tisch beim Fenster gesetzt, als meine Freundin Elaine den Kopf zur Tür hereinsteckte. Sie sah müde und unpässlich aus, wie ich fand. Sie hatte ihr Haar gekämmt, war aber noch im Morgenmantel. Wir alten Schätzchen halten nicht viel von Förmlichkeiten; meistens können wir sie uns nicht erlauben. »Ich will dich nicht stören«, sagte sie. »Ich sehe, du willst schreiben ...« »Sei nicht albern«, sagte ich. »Ich habe mehr Zeit, als Carter Leberpillen hat. Komm herein.« Sie trat ein, blieb jedoch bei der Tür stehen. »Ich konnte einfach nicht schlafen - wieder mal - und schaute vor einiger Zeit zufällig aus dem Fenster ... und ...«

»Und du sahst Mr. Dolan und mich bei unserem freundlichen kleinen Plausch.« Ich hoffte, sie hatte nur zugesehen und bei geschlossenem Fenster nicht gehört, dass ich gewinselt hatte, um losgelassen zu werden.

»Es sah nicht freundlich aus«, sagte sie. »Paul, dieser Mr. Dolan hat sich über dich erkundigt. Er hat mich über dich ausgefragt - in der vergangenen Woche war das. Ich habe mir zuerst nicht viel dabei gedacht nur dass er seine hässliche lange Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten stecken soll, aber jetzt mache ich mir Gedanken.«

»Er hat sich nach mir erkundigt?« Ich hoffte, dass es nicht so besorgt klang, wie ich mich fühlte. »Was wollte er denn wissen?«

»Wohin du spazierst zum Beispiel. Lind warum du spazieren gehst«

Ich lachte gezwungen. »Das ist ein Mann, der nichts von Körperertüchtigung hält, soviel ist klar.« »Er denkt, du hast ein Geheimnis.« Sie musterte mich. »Lind ich denke das auch.« Ich öffnete den Mund - was ich sagen wollte, weiß ich nicht -, aber Elaine hob eine ihrer knorrigen, jedoch sonderbar schönen Hände, bevor ich ein einziges Wort herausbringen konnte. »Wenn du eins hast, will ich nicht wissen, was es ist Paul. Deine Angelegenheiten gehen mich nichts an. Ich wurde erzogen, so zu denken, aber nicht jeder lernt dass man sich nicht in anderer Leute Dinge einmischt. Sei vorsichtig. Das ist alles, was ich dir sagen will. Und jetzt lasse ich dich allein, damit du arbeiten kannst«

Sie wandte sich um und ging, doch bevor sie durch die Tür war, rief ich ihren Namen. Sie drehte sich mir zu und schaute mich fragend an.

»Wenn ich fertig habe, was ich schreibe ...«, begann ich und schüttelte dann leicht den Kopf. Das war falsch formuliert »Falls ich zu Ende bringe, woran ich schreibe, würdest du es lesen?« Sie überlegte anscheinend, und dann schenkte sie mir die Art Lächeln, bei der ein Mann sich leicht verlieben kann, sogar wenn er so alt ist wie ich. »Das wäre mir eine Ehre.«

»Warte lieber, bis du es gelesen hast bevor du von Ehre sprichst«, sagte ich und dachte an Delacroix' Tod.

»Ich werde es lesen«, sagte sie. »Jedes Wort Ich verspreche es.

Doch du musst es vorher zu Ende schreiben.« Sie ließ mich allein, damit ich arbeiten konnte, doch es dauerte lange, bis ich irgend etwas schrieb.

Ich saß fast eine Stunde lang da und starrte aus dem Fenster, klopfte mit meinem Kugelschreiber an die Tischseite und beobachtete, wie sich der graue Tag allmählich ein wenig aufhellte. Ich dachte über Brad Dolan nach, der mich Paulie nennt und stets Witze über Schlitzaugen und Nigger und Itaker und Iren macht, und ich dachte an Elaine Connellys Worte. Er denkt, du hast ein Geheimnis. Ich denke das auch.

Und vielleicht habe ich eins. Ja, vielleicht stimmt es. Und natürlich will Brad Dolan es wissen. Nicht weil er meint, es sei wichtig (das ist es nur für mich, nehme ich an), sondern weil er der Ansicht ist, sehr alte Männer wie ich sollten keine Geheimnisse haben. Sie sollten keine Ponchos vom Haken vor der Küche nehmen und auch keine Geheimnisse haben. Unsereins sollte nicht auf den Gedanken kommen, dass wir noch Menschen seien. Und warum sollte man uns solch einen Gedanken nicht erlauben? Brad Dolan weiß nichts. Und darin ist er ebenfalls wie Percy.

Meine Gedanken kehrten schließlich wie ein Fluss nach einer langen Biegung dorthin zurück, wo sie gewesen waren, als Brad Dolan mich am Handgelenk gepackt hatte: zu Percy, dem bösartigen Percy Wetmore, und wie er sich an dem Mann gerächt hatte, der ihn ausgelacht hatte. Delacroix hatte die bunte Spule geworfen - Mr. Jingles würde sie holen -, und sie prallte von der Wand ab und hüpfte durch die Gitterstäbe der Zelle auf den Gang. Da sah Percy seine Chance.

2

»Nein, du Narr!« brüllte Brutal, aber Percy hörte nicht auf ihn. Gerade als Mr. Jingles die Spule

erreichte - zu sehr darauf konzentriert, um zu bemerken, dass sein alter Feind in der Nähe war -,

stampfte Percy mit der Sohle eines harten schwarzen Arbeitsschuhs auf ihn. Es knackte, als Mr.

Jingles' Rückgrat brach, und Blut schoss aus seinem Mund. Seine kleinen schwarzen Augen quollen

aus den Höhlen, und ich sah darin einen Ausdruck von Überraschung und Qual, der nur allzu

menschlich war.

Delacroix schrie vor Entsetzen und Trauer. Er warf sich an die Tür seiner Zelle, streckte die Arme so

weit, wie er konnte, durch die Gitterstäbe und schrie immer wieder den Namen der Maus.

Percy wandte sich ihm zu und lächelte. Er wandte sich auch zu mir und Brutal. »Ich wusste, dass ich

ihn früher oder später erwische. War wirklich nur eine Frage der Zeit« Dann machte er kehrt und

stolzierte über die Green Mile davon, während Mr. Jingles auf dem grünen Linoleum lag, das sich mit

seinem Blut färbte. Dean erhob sich hinter dem Wachpult stieß mit dem Knie an und warf das

Cribbage-Markierbrett vom Pult. Die Pins flogen aus ihren Löchern und rollten in alle Richtungen.

Weder Dean noch Harry, der gerade ausgeschieden war, beachteten das umgekippte Spiel.

»Was hast du diesmal getan?« schrie Dean Percy an. »Was, zum Teufel, war es diesmal, du blöder

Stümper?« Percy gab keine Antwort. Er stolzierte wortlos an dem Pult vorbei und strich sein Haar mit

den Fingern glatt. Er ging durch mein Büro und in den Vorratsraum. William Wharton

antwortete an seiner Stelle. »Boss Dean? Ich glaube, er hat einem gewissen Pommes frites gezeigt,

dass es nicht klug ist, ihn auszulachen«, sagte er, und dann begann er selbst zu lachen. Es war ein

gutes Lachen, ein Country-Lachen, fröhlich und tief. Ich habe während dieser Zeit meines Lebens

Menschen kennen gelernt (meistens sehr unheimliche Leute), die nur normal klangen, wenn sie

lachten. Wild Bill Wharton war einer dieser Typen.

Ich schaute wieder benommen auf die Maus. Mr. Jingles atmete noch, aber winzige Blutperlen hatten

sich in seinen Barthaaren verfangen, und in die zuvor glänzenden schwarzen Augen schlich sich eine

dumpfe Trübung. Brutal hob die bunte Rolle auf, schaute darauf und sah dann mich an. Er wirkte so

betäubt, wie ich mich fühlte. Hinter uns schrie Delacroix seine Trauer und sein Entsetzen hinaus. Es

ging natürlich nicht nur um die Maus; Percy hatte ein Loch in Delacroix' Abwehrmechanismus

geschlagen, und all sein Entsetzen strömte heraus. Aber Mr. Jingles war der Mittelpunkt für diese

aufgestauten Gefühle, und es war schrecklich, Del schreien zu hören. »Oh, non«, schrie er immer

wieder zwischen verstümmelten Gebeten auf Cajun-Französisch. »Oh, non, oh, non, arme Mr. Jingles,

arme gute Mr. Jingles, oh, non!«

»Geben Sie ihn mir.«

Ich blickte überrascht auf und war mir erst nicht sicher, wer das mit tiefer Stimme gesagt hatte. Dann

sah ich John Coffey. Wie Delacroix hatte er die Arme durch die Gitterstäbe seiner Zellentür gestreckt

obwohl er sie nur bis zur Hälfte seiner Unterarme hindurch bekam; danach waren die

Arme einfach zu dick und im Gegensatz zu Del fummelte er nicht mit seinen Armen herum, sondern

streckte sie, so weit er konnte, aus und hielt die Handflächen offen. Es war eine zielbewusste, fast

drängende Geste.

Und seine Stimme klang ebenso, was der Grund war, nehme ich an, weshalb ich sie zuerst nicht als

die Stimme von John Coffey erkannt hatte. Er wirkte jetzt ganz anders als die verlorene, weinende

Seele, die in den vergangenen paar Wochen diese Zelle bewohnt hatte. »Geben Sie ihn mir, Mr.

Edgecombe! Solange noch Zeit ist!«

Dann erinnerte ich mich an das, was er für mich getan hatte, und ich verstand. Ich sagte mir, es

konnte nicht schaden, aber ich bezweifelte, dass es helfen würde. Als ich die Maus aufhob, zuckte ich

bei dem Gefühl zusammen - da stachen so viele gesplitterte Knochen an verschiedenen Stellen aus

Mr. Jingles' Fell, dass er sich anfühlte wie ein Fellbespanntes Nadelkissen. Dies war keine

Blaseninfektion. Aber...

»Was machst du da?« fragte Brutal, als ich Mr. Jingles auf Coffeys gewaltige rechte Hand setzte.

»Was, zum Teufel, soll das?«

Coffey zog die Maus durch die Gitterstäbe in die Zelle. Mr. Jingles lag schlaff auf Coffeys Handfläche,

der Schwanz hing im Bogen zwischen Coffeys Daumen und Zeigefinger, und die Spitze zuckte

schwach mitten in der Luft. Dann bedeckte Coffey seine rechte Hand mit der linken, schuf eine Art

Hohlraum, in dem die Maus lag. Wir konnten von Mr. Jingles nur noch den Schwanz sehen, der

herabhing und dessen Spitze wie ein langsamer werdendes Pendel zuckte. Coffey hob seine Hände

zum Gesicht spreizte dabei die Finger der Rechten und schuf Zwischenräume wie zwischen

Gefängnisgittern. Der Schwanz der Maus hing jetzt von derjenigen Seite seiner Hände, die uns

zugewandt war. Brutal schob sich neben mich und hielt immer noch die bunte Garnrolle in der Hand.

»Was macht der da?«

»Pst«, sagte ich.

Delacroix hatte aufgehört zu schreien. »Bitte, John«, flüsterte er. »Oh, Johnny, 'elfen ihm, bitte 'elfen

ihm, oh, s 'U vous plait«

Dean und Harry kamen dazu. Harry hielt immer noch unsere alten Spielkarten in der Hand. »Was ist

los?« fragte Dean, aber ich schüttelte nur den Kopf. Ich fühlte mich wieder wie hypnotisiert, und ich

fress 'nen Besen, wenn ich das nicht war.

Coffey hielt den Mund zwischen zwei seiner Finger und atmete tief ein. Die Zeit schien einen Moment

lang stillzustehen. Dann hob er den Kopf von den Händen, und ich sah das Gesicht eines Mannes, der

schrecklich krank war oder furchtbare Schmerzen hatte. Seine Augen blickten scharf und schienen zu

lodern. Coffeys Schneidezähne bissen in seine volle Unterlippe; das dunkle Gesicht hatte die Farbe von

Asche angenommen, die in Schlamm verrührt worden war. Ein erstickter Laut klang tief aus seiner

Kehle.

»Allmächtiger«, flüsterte Brutal. Die Augen drohten ihm aus dem Gesicht zu fallen.

»Was?« Harry schrie fast »Was ist?«

»Der Schwanz! Siehst du das nicht? Der Schwanz« Mr. Jingles' Schwanz war nicht länger ein

sterbendes Pendel; er schwang lebhaft hin und her wie der Schwanz einer Katze, die in der Stimmung

ist, einen Vogel zu schnappen. Und dann ertönte aus Coffeys Handflächen ein uns allen

vertrautes Quieken. Coffey stieß wieder diesen erstickten, kehligen Laut aus und wandte dann den

Kopf wie jemand, der im Mund Schleim hat, den er ausspucken will. Statt dessen atmete er eine

Wolke schwarzer Insekten - ich denke, es waren Insekten, und die anderen sagten das gleiche, aber

bis heute bin ich mir nicht sicher - aus Mund und Nase aus. Sie wogten um ihn herum wie eine dunkle

Wolke, hinter der vorübergehend seine Gesichtszüge verschwanden.

»Mein Gott, was ist das?« fragte Dean mit schriller, angsterfüllter Stimme.

»Alles in Ordnung«, hörte ich mich sagen. »Keine Panik, es ist alles okay, in ein paar Sekunden

werden sie fort sein.«

Es war genau wie an dem Tag, an dem Coffey meine Blaseninfektion geheilt hatte. Die >Insekten<

wurden weiß und verschwanden. »Nicht zu glauben«, flüsterte Harry.

»Paul?« fragte Brutal mit bebender Stimme. »Paul?«

Coffey sah wieder okay aus - wie jemand, der erfolgreich einen Bissen Fleisch ausgehustet hat, an

dem er zu ersticken drohte. Er bückte sich, hielt die übereinander gewölbten Hände auf den Boden,

spähte durch die Lücken zwischen seinen Fingern und öffnete die Hände. Mr. Jingles, völlig fit - mit

tadellosem Rückgrat, und kein einziger Knochensplitter ragte aus dem Fell -, flitzte heraus. Er

verharrte kurz an der Tür von Coffeys Zelle und lief dann über die Green Mile in Delacroix' Zelle. Ich

bemerkte, dass immer noch kleine Blutperlen an seinen Barthaaren klebten.

Delacroix hob Mr. Jingles auf, lachte und weinte gleichzeitig und bedeckte die Maus ungeniert mit

schmatzenden Küssen. Dean und Harry und Brutal sahen in stummem Staunen zu. Dann trat Brutal

vor und hielt die bunte Rolle durch die Gitterstäbe. Delacroix sah sie zuerst nicht; er war zu sehr in

Anspruch genommen von Mr. Jingles. Er war wie ein Vater, dessen Sohn vor dem Ertrinken gerettet

worden war. Brutal tippte ihm mit der bunten Rolle auf die Schulter. Delacroix blickte auf, sah sie,

nahm sie und widmete sich wieder Mr. Jingles. Er streichelte das Fell und verschlang ihn mit Blicken,

wie um sich zu bestätigen, ja, die Maus ist wohlauf, die Maus ist heil und gesund, und alles ist in

Ordnung.

»Wirf die Rolle«, sagte Brutal. »Ich möchte sehen, wie Mr. Jingles hinterherläuft« »Er ist in Ordnung, Boss Howell, er wieder gut, Gott sei danke ...« »Wirf die Rolle«, wiederholte Brutal. »Na, mach schon, Del.«

Delacroix bückte sich sichtlich widerstrebend, weil er Mr. Jingles nicht aus den Händen geben wollte, jedenfalls noch nicht. Dann warf er sehr behutsam die Rolle. Die ehemalige bemalte Spule rollte durch die Zelle an der Corona-Zigarrenkiste vorbei und zur Wand. Mr. Jingles lief hinterher, war aber nicht ganz so schnell wie früher. Er humpelte ganz leicht mit seinem linken Hinterbein, und das beeindruckte mich am meisten - ich nehme an, dieses leichte Humpeln machte es real. Er gelangte jedoch zu der Rolle und rollte sie mit der Nase zu Delacroix zurück - die alte Begeisterung war immer noch da. Ich blickte zu John Coffey, der an der Tür seiner Zelle stand und lächelte. Es war ein müdes Lächeln, und ich konnte es nicht als wirklich glücklich bezeichnen, aber der verzweifelte, drängende Ausdruck, den sein Gesicht gehabt hatte, als er mich gebeten hatte, ihm die Maus zu geben, war verschwunden. Ebenso der Ausdruck von Schmerz und der Furcht als würde er ersticken. Es war wieder unser John Coffey, mit der geistesabwesenden Miene und dem sonderbaren, wie in weite Ferne gerichteten Blick »Du hast geholfen«, sagte ich. »Nicht wahr, großer Junge?« »Richtig«, sagte Coffey. Das Lächeln vertiefte sich ein wenig, und für einen Moment war es glücklich. »Ich habe geholfen. Ich habe Dels Maus geholfen. Ich habe ...« Er verstummte, konnte sich nicht an den Namen erinnern.

»Mr. Jingles«, sagte Dean. Er schaute John vorsichtig und staunend an, als erwartete er, dass Flammen aus ihm schlugen oder vielleicht eine Flut seine Zelle unter Wasser setzte. »Richtig«, sagte Coffey. »Mr. Jingles. Er ist eine Zirkusmaus. Wird in Mouseville wohnen.« »Worauf du wetten kannst«, sagte Harry, der jetzt ebenfalls John Coffey anstarrte. Hinter uns legte sich Delacroix auf die Pritsche und hielt Mr. Jingles auf der Brust. Del sang leise für ihn irgendein französisches Liedchen, das wie ein Wiegenlied klang. Coffey blickte über die Green Mile zum Wachpult und der Tür, die in mein Büro und weiter in den Lagerraum jenseits davon führte. >Boss, Percy ist böse«, sagte er. »Boss Percy ist gemein. Er hat auf Dels Maus getreten. Er hat auf Mr. Jingles getreten.« Und dann, bevor wir etwas zu ihm sagen konnten - ehe uns etwas eingefallen war -ging John Coffey zu seiner Pritsche zurück, legte sich darauf und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand.

3

Percy stand mit dem Rücken zu uns da, als Brutal und ich zwanzig Minuten später den Lagerraum

betraten. Er hatte eine Dose Möbelpolitur in einem Regal über dem Korb gefunden, in den wir unsere

schmutzigen Uniformen warfen (und manchmal unsere Zivilklamotten; der Gefängniswäscherei war es

gleichgültig, was sie wusch), und polierte das Eichenholz der Arme und Beine von Old Sparky, dem

elektrischen Stuhl. Das klingt vermutlich absonderlich für Sie, vielleicht sogar makaber, aber für mich

und Brutal war es das Normalste, was Percy in der ganzen Nacht getan hatte. Old Sparky würde

morgen von der Öffentlichkeit gesehen werden, und Percy würde der Leiter bei der Hinrichtung sein.

»Percy«, sagte ich ruhig.

Er drehte sich um, das kleine Liedchen, das er gesummt hatte, erstarb in seiner Kehle, und er schaute

uns an. Ich sah nicht die Furcht, die ich erwartet hatte, jedenfalls zuerst nicht. Mir wurde klar, dass

Percy irgendwie älter wirkte. Und ich dachte, dass John Coffey recht hatte. Percy sah bösartig aus.

Bösartigkeit ist wie eine süchtig machende Droge - und niemand auf der Erde hat mehr Kompetenz als

ich, das zu sagen -, und nach einer gewissen Zeit des Ausprobierens war Percy ihr verfallen. Es gefiel

ihm, was er Delacroix' Maus angetan hatte. Und noch mehr hatten ihm Delacroix' Entsetzensschreie

gefallen.

»Fangt keinen Streit mit mir an«, sagte er in fast freundlichem Tonfall. »Ich meine, hey, es war nur

eine Maus. Sie gehörte von Anfang an nicht hierher, wie ihr Jungs wisst«

»Der Maus geht es prima«, sagte ich. Mein Herz klopfte wie wild in meiner Brust, aber ich sprach

milde, fast unbeteiligt »Einfach prima. Sie läuft herum und fiept und rollt wieder die Spule. Du bist

nicht besser im Mäusekillen als in den meisten anderen Dingen, an denen du dich hier versuchst«

Er starrte mich erstaunt und ungläubig an. »Erwartest du, dass ich das glaube? Ich habe das

verdammte Ding zermalmt. Ich habe es gehört Du kannst mir nicht weismachen ...«

»Halt die Schnauze.«

Er starrte mich an, die Augen weit aufgerissen. »Was? Was hast du zu mir gesagt?«

Ich trat einen Schritt näher auf ihn zu. Ich spürte, dass meine Stirnader pochte. Ich konnte mich nicht

erinnern, wann ich zum letzten Mal so zornig gewesen war.

»Freut es dich nicht, dass Mr. Jingles okay ist? Nach all den Gesprächen, die wir hatten, dass es unser

Job ist die Gefangenen ruhigzuhalten, besonders wenn das Ende für sie naht solltest du dich freuen,

dass die Maus lebt. Du solltest erleichtert sein. Schließlich muss Del morgen den letzten Gang

antreten.«

Percy blickte von mir zu Brutal, und seine gekünstelte Ruhe schlug in Unsicherheit um. »Was für ein

Spiel treibt ihr, Jungs?« fragte er.

»Dies ist kein Spiel, mein Freund«, sagte Brutal. »Du glaubst es ist ein ... Nun, das ist einer der

Gründe, weshalb man dir nicht trauen kann. Willst du die absolute Wahrheit wissen? Ich halte dich für

einen ziemlich traurigen Fall.«

»Pass auf, was du sagst« Percys Stimme klang jetzt belegt Furcht kroch hinein, Furcht vor dem, was

wir vielleicht mit ihm anstellen wollten. Es freute mich, die Furcht zu hören. So würden wir leichter mit

ihm fertig werden. »Ich kenne Leute. Bedeutende Leute.«

»Das sagst du immer, aber du bist ja so ein Träumer«, erwiderte Brutal. Er klang, als würde er gleich

in Gelächter ausbrechen.

Percy legte das Poliertuch auf den Sitz des elektrischen Stuhls mit den Klammern an den Armen und

Beinen. »Ich habe diese Maus getötet. Ihr könnt mir keine Märchen erzählen.« Seine Stimme klang

nicht ganz fest.

»Geh und überzeuge dich selbst«, sagte ich. »Dies ist ein freies Land.«

»Das werde ich«, sagte er, »das werde ich.«

Er stolzierte an uns vorbei, die Lippen zusammengepresst und seine kleinen Hände (Wharton hatte

recht es waren Mädchenhände) fummelten mit seinem Kamm herum. Er ging die Treppe hinauf und

duckte sich durch die niedrige Tür in mein Büro. Brutal und ich blieben schweigend bei Old Sparky

stehen und warteten auf Percys Rückkehr. Ich weiß nicht wie es bei Brutal war, aber ich wusste nicht

was ich hätte sagen sollen. Ich weiß jetzt noch nicht was ich über das denken soll, was wir soeben

erlebt hatten.

Drei Minuten vergingen. Brutal nahm das Poliertuch und wienerte die dicken Rückenteile des

elektrischen Stuhls. Er hatte ein Teil poliert und begann beim nächsten, als Percy zurückkehrte. Percy

stolperte die Treppe von meinem Büro herunter und fiel fast hin. Als er sich uns näherte, schritt er

unsicher. Sein Gesicht spiegelte Schock und Ungläubigkeit wider.

»Ihr habt sie vertauscht«, sagte er schrill und anklagend. »Ihr habt die Mäuse irgendwie vertauscht

ihr Bastarde. Ihr spielt mit mir, und ihr werdet es verdammt bereuen, wenn ihr nicht damit aufhört!

Ich sorge dafür, dass ihr arbeitslos werdet und um Brot Schlange stehen könnt wenn ihr nicht aufhört!

Für wen haltet ihr euch?«

Er verstummte schwer atmend und mit geballten Händen.

»Ich werde dir sagen, für wen wir uns halten«, sagte ich. »Wir sind die Leute, mit denen du

zusammenarbeitest Percy . .., aber nicht mehr sehr lange.« Ich legte meine Hände auf seine Schultern

und umklammerte sie. Nicht richtig fest aber es war ein Umklammern. Ja, das war es.

Percy wollte meine Hände abwehren. »Nimm deine...«

Brutal packte Percys rechte Hand - das ganze Ding, klein und weich und weiß, verschwand in Brutals

gebräunter Faust »Halt die Fresse, Sonny. Wenn du weißt was gut für dich ist dann nutzt du diese

eine letzte Gelegenheit um das Wachs aus deinen Ohren zu pulen.«

Ich drehte ihn um, hob ihn auf die Plattform und drückte ihn runter, bis seine Knie den Sitz des

elektrischen Stuhls berührten und er sich setzen musste. Seine Ruhe war verschwunden; ebenso seine

Bösartigkeit und Arroganz. Diese beiden Eigenschaften waren in ihm, aber Sie müssen sich in

Erinnerung rufen, dass Percy sehr jung war. In seinem Alter waren sie noch eine dünne Schicht wie

ein hässlicher Überzug von Emaille. Man konnte noch durch sie hindurchstoßen. Und ich nahm an,

dass Percy jetzt bereit war zuzuhören.

»Ich will dein Wort haben«, sagte ich.

»Mein Wort? Warum?« Er bemühte sich, höhnisch zu grinsen, doch seine Augen verrieten Angst. Der

Strom im Schaltraum war abgeschaltet, aber Old Sparkys hölzerner Sitz hatte seine eigene Kraft, und

ich nahm an, dass Percy das in diesem Augenblick spürte.

»Dein Wort, dass du nach Briar Ridge gehst und uns in Frieden lässt, wenn du morgen Nacht die

Hinrichtung leiten darfst«, sagte Brutal so hitzig, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. »Dass du am Tag

nach der Hinrichtung dein Versetzungsgesuch einreichst«

»Und wenn ich das nicht tue? Wenn ich einfach gewisse Leute anrufe und ihnen erzähle, dass ihr mich

belästigt und mir droht? Auch tyrannisiert?«.

»Wir werden vielleicht bluten, wenn deine Verbindungen so gut sind, wie du anscheinend meinst«,

sagte ich, »aber wir werden dafür sorgen, dass du ebenfalls bluten wirst Percy.«

»Wegen dieser Maus? Ha! Meint ihr, es juckt einen, dass ich die verdammte Maus eines Mörders

totgetreten habe? Wen interessiert das schon außerhalb dieser Klapsmühle?«

»Wohl keinen. Aber drei Leute sahen dich untätig herumstehen, als Wild Bill Wharton versuchte, Dean

Stanton mit seinen Handketten zu erwürgen. Was diese Leute aussagen, wird jemanden interessieren,

Percy, das verspreche ich dir. Das wird sogar den Gouverneur interessieren.«

Percys Gesicht war jetzt stark gerötet »Ihr meint, man wird euch glauben?« fragte er, aber seine

Stimme hatte viel von ihrer zornigen Kraft verloren. Es war offenkundig, dass er dachte, jemand

könnte uns glauben. Und Percy mochte es nicht in Schwierigkeiten zu stecken. Gegen die

Vorschriften zu verstoßen war für ihn in Ordnung. Sich dabei erwischen zu lassen war nicht in

Ordnung.

»Nun, ich habe einige Fotos von Deans Hals geknipst, bevor die Blutergüsse zurückgingen«, sagte

Brutal - ich hatte keine Ahnung, ob das stimmte oder nicht aber es klang gut »Weißt du, was diese

Fotos beweisen? Dass Wharton ziemlich lange zum Zuge kam, bevor jemand ihn zurückreißen konnte,

obwohl du gleich neben ihm gestanden hast auf Whartons ungedeckter Seite. Du müsstest einige

harte Fragen beantworten, nicht wahr? Und so eine Sache kann einem ziemlich lange anhängen.

Möglicherweise noch lange, nachdem der Onkel nicht mehr Gouverneur ist sondern daheim auf der

Veranda Pfefferminztee trinkt. Eine Personalakte kann mächtig interessant sein, und viele Leute

können sie sich im Laufe eines Lebens anschauen.«

Percys Blick zuckte misstrauisch zwischen uns hin und her. Mit der linken Hand glättete er sein Haar.

Er sagte nichts, aber ich dachte mir, dass wir ihn fast soweit hatten.

»Na, komm schon, lass uns damit aufhören«, sagte ich. »Du willst so wenig hier bleiben, wie wir dich

hier haben wollen, ist es nicht so?«

»Ich hasse es hier!« stieß er hervor. »Ich hasse die Art und Weise, wie ihr mich behandelt. Ich hasse

es, dass ihr mir nie eine Chance gebt!«

Das war weit von der Wahrheit entfernt aber ich sagte mir, dass dies nicht der Zeitpunkt war, das

richtig zu stellen.

»Aber ich mag mich auch nicht unter Druck setzen lassen.

Mein Daddy hat mich gelehrt, wenn man einmal nachgibt dann wird man wahrscheinlich sein ganzes Leben lang herumgeschubst werden.« Seine Augen, nicht ganz so hübsch wie seine Hände, aber fast, blitzten. »Und besonders hasse ich es, von großen Affen wie diesem Kerl herumgeschubst zu werden.« Er starrte meinen alten Freund an und stieß einen Grunzlaut aus. »Brutal - du hast wenigstens den richtigen Spitznamen.«

»Du musst etwas begreifen, Percy«, sagte ich. »Wir sehen es so, dass du uns herumschubst. Wir sagen dir ständig, wie wir die Dinge hier handhaben, und du scherst dich einen Dreck darum und versteckst dich hinter deinen politischen Verbindungen, wenn etwas deinetwegen in die Hosen geht. Delacroix' Maus totzutrampeln -«, ich fing Brutals Blick auf und korrigierte mich hastig, »- der Ver­such, Delacroix' Maus totzutrampeln, ist nur einer von vielen Fällen. Du schubst uns herum und schubst und schubst; schließlich schubsen wir zurück, das ist alles. Aber hör zu, wenn du das Richtige tust wirst du duftend wie eine Rose aus dieser Sache herauskommen und gut aussehen wie ein junger Mann auf seinem Weg nach oben. Niemand wird jemals etwas von unserer kleinen Unterhaltung erfahren. Was sagst du also? Handle wie ein erwachsener Mann. Versprich, dass du nach Dels Hinrichtung von hier verschwindest«

Er dachte darüber nach. Und nach einer Weile nahmen seine Augen einen Ausdruck an wie bei Leuten, die soeben auf eine gute Idee gekommen sind. Das gefiel mir nicht, denn jede Idee, die Percy für gut hielt würden wir für schlecht halten.

»Denk daran, wie schön es sein wird, von diesem Eitersack Wharton wegzukommen«, sagte Brutal. Percy nickte, und ich ließ ihn vom elektrischen Stuhl aufstehen. Er strich sein Uniformhemd zurecht steckte es hinten in den Hosenbund und 11 ihr sich mit dem Kamm durch sein Haar. Dann schaute er uns an.

»Okay, ich bin einverstanden. Ich leite morgen die Hinrichtung von Del. Und am nächsten Tag lasse ich mich nach Briar Ridge versetzen. Wir sind dann quitt In Ordnung?«

»In Ordnung«, sagte ich. Dieser Ausdruck war noch immer in seinen Augen, aber im Moment war ich zu erleichtert, um mir etwas daraus zu machen. Er streckte mir die Hand hin. »Schlägst du ein?« Ich tat es. Brutal ebenfalls. Wir Narren.

4

Der nächste Tag war der schwülste und der letzte mit unserer merkwürdigen Oktoberhitze. Donner

grollte, als ich zur Arbeit kam, und dunkle Wolken ballten sich im Westen. Sie näherten sich im Laufe

des Abends, und wir sahen blauweiße Blitze aus ihnen zucken. Gegen zehn Uhr abends tobte ein

Tornado im Trapingus County - vier Leute kamen dabei ums Leben, und das Dach des Mietstalls in

Tefton wurde abgehoben -, und es gab heftige Gewitter und orkanartige Stürme in Cold Mountain.

Später kam es mir vor, als ob der Himmel gegen den schlimmen Tod von Eduard Delacroix protestiert

hatte.

Am Anfang lief alles prima. Del hatte einen ruhigen Tag in seiner Zelle verbracht und manchmal mit

Mr. Jingles gespielt, jedoch überwiegend einfach auf seiner Pritsche gelegen und ihn gestreichelt.

Wharton versuchte ein paar Mal, Krawall zu machen - einmal brüllte er zu Del hinüber, dass es

Mausi-Burgers geben würde, wenn der alte Franzose in der Hölle Quickstep tanzte -, doch der kleine

Cajun antwortete nicht, und Wharton sagte sich anscheinend, dass er nichts erreichen konnte, und

gab auf.

Um Viertel nach zehn tauchte Bruder Schuster auf und erfreute uns alle mit seiner Ankündigung, er

werde das Vaterunser mit Del in Cajun-Französisch beten. Das schien ein gutes Omen zu sein.

In diesem Punkt irrten wir uns natürlich alle.

Die Zeugen trafen gegen elf Uhr ein. Die meisten sprachen leise über das Wetter und stellten

Spekulationen an, dass die Hinrichtung wegen eines Stromausfalls möglicherweise verschoben werden

könnte. Keiner von ihnen wusste anscheinend, dass Old Sparky mit einem Generator betrieben wurde

und die Show weitergehen würde -es sei denn, der Generator würde vom Blitz getroffen.

Harry war in dieser Nacht im Schaltraum, und so fungierten er, Bill Dodge und Percy Wetmore als

Platzanweiser, führten die Leute zu ihren Plätzen und fragten jeden, ob er ein Glas kaltes Wasser

trinken wollte. Es waren zwei Frauen anwesend: die Schwester des Mädchens, das von Del

vergewaltigt und ermordet worden war, und die Mutter von einem der Brandopfer. Letztere Lady war

groß und bleich und entschlossen. Sie sagte zu Harry Terwilliger, sie hoffe, der Mann, dessentwegen

sie gekommen war, habe Angst und wisse, dass die Feuer der Hölle für ihn geschürt waren und

Satans Teufelchen auf ihn warteten. Dann brach sie in Tränen aus und vergrub ihr Gesicht in einem

Spitzentaschentuch, das fast die Größe eines Kissenbezugs hatte.

Donner krachte, kaum gedämpft durch das Blechdach. Die Leute blickten beklommen nach oben.

Männer, die sich unbehaglich fühlten, weil sie mitten in der Nacht Krawatten trugen, wischten sich

über ihre geröteten Wangen. Es war höllisch schwül in dem Lagerschuppen, der als Hinrichtungsraum

diente. Und sie blickten natürlich immer wieder zu Old Sparky. Sie mochten vielleicht früher in der

Woche Witze über diese Aufgabe gerissen haben, aber der Spaß war ihnen in dieser Nacht so gegen

halb zwölf vergangen. Ich habe Ihnen schon zu Anfang gesagt, dass der Spaß schnell für die Leute

vorbei ist, die sich auf diesen Eichenstuhl setzen müssen, aber die zum Tode verurteilten Gefangenen

waren nicht die einzigen, deren Lächeln verschwand, wenn es tatsächlich soweit war.

Der elektrische Stuhl wirkte irgendwie so kahl auf der Plattform, und die Klammern, die an den Beinen

abstanden, sahen aus wie Dinge, die jemand tragen muss, der an Polio leidet. Es wurde nicht viel

geredet, und als der Donner wieder dröhnte und es krachte, als habe der Blitz in einen Baum

eingeschlagen, stieß die Schwester von Delacroix' Opfer einen Schrei aus. Als letzter nahm Curtis

Anderson, Direktor Moores Stellvertreter, seinen Platz bei den Zeugen ein.

Um halb zwölf ging ich zu Delacroix' Zelle, und Brutal und Dean folgten mir. Del saß auf seiner

Pritsche, und Mr. Jingles war auf seinem Schoß. Der Kopf der Maus war zu dem Todeskandidaten

gereckt, und die kleinen schwarzen Augen schauten Dels Gesicht an. Del kraulte Mr. Jingles' Kopf

zwischen den Ohren. Große Tränen rollten über Dels Wangen, und sie waren es anscheinend, auf die

Mr. Jingles spähte. Del blickte auf, als er unsere Schritte hörte. Er war sehr bleich.

Ich spürte, dass hinter mir John Coffey an der Tür seiner Zelle stand und zuschaute.

Del zuckte zusammen, als meine Schlüssel klirrten, doch er streichelte weiter Mr. Jingles' Kopf,

während ich aufschloss und die Tür öffnete.

»'allo, Boss Edgecombe«, sagte er. »'allo, Jungs. Sag 'allo, Mr. Jingles.« Aber Mr. Jingles schaute nur

weiter wie hingerissen auf das Gesicht des fast kahlköpfigen kleinen Mannes, wie um die Quelle der

Tränen zu ergründen.

Die farbige Spule lag ordentlich in der Corona-Zigarrenkiste, zum letzten Mal darin abgelegt, dachte

ich wehmütig.

»Eduard Delacroix, als Beamter des Strafvollzugs ...«

»Boss Edgecombe?«

Ich wollte schon die formelle Ansprache fortsetzen, doch dann überlegte ich's mir anders. »Was ist,

Del?«

Er hielt mir die Maus hin. »Hier. Lassen Sie nicht zu, dass Mr. Jingles etwas passiert«

»Del, ich bezweifle, dass er zu mir kommt. Er ist nicht...«

»Mais oui, er sagt, er will. Er sagt, er weiß alles über Sie, Boss Edgecombe, und Sie bringen ihn zu die

Ort in Florida, wo die Mausies ihre Tricks zeigen. Er sagt, er vertraut Ihnen.« Delacroix streckte die

Hand weiter aus, und die Maus trat doch tatsächlich von seiner Handfläche auf meine Schulter. Sie

war so leicht dass ich sie nicht durch meinen Uniformrock fühlen konnte, aber ich spürte sie wie eine

kleine Hitze. »Und Boss? Lassen Sie nicht diesen Bösen an ihn 'eran. Lassen Sie nicht zu, dass der

Böse meiner Maus was antut«

»Okay, Del, ich werde es nicht zulassen.« Die Frage war, was sollte ich im Augenblick mit Mr. Jingles

machen? Ich konnte nicht Delacroix mit einer Maus auf meiner Schulter an den Zeugen vorbeiführen.

»Ich nehme ihn, Boss«, sagte eine tiefe Stimme hinter mir. Es war John Coffeys Stimme, und es war

unheimlich, dass sie gerade jetzt ertönte, als hätte er meine Gedanken erraten. »Nur für jetzt. Wenn

Del nichts dagegen hat«

Del nickte erleichtert »Ja, nimm ihn, John, bis diese Dummheit vorüber ist - bien\ Und danach ...« Er

blickte wieder zu Brutal und mir. »Ihr müsst sie nach Florida bringen. Zu diese Stadt, die Mouseville

'eißt«

»Ja, höchstwahrscheinlich tun Paul und ich das zusammen«, sagte Brutal und beobachtete besorgt,

wie Mr. Jingles von meiner Schulter auf Coffeys gewaltige ausgestreckte Handfläche trat. Mr. Jingles

tat es ohne Protest und unternahm keinen Fluchtversuch; er huschte so bereitwillig John Coffeys Arm

hinauf, wie er auf meine Schulter getreten war. »Wir nehmen uns etwas von unserem Urlaub. Nicht

wahr, Paul?«

Ich nickte. Del nickte ebenfalls. Seine Augen glänzten, und die Andeutung eines Lächelns spielte um

seine Lippen. »Die Leute zahlen einen Dime, um Mr. Jingles zu sehen. Zwei Cents die Kinder. Ist es

so, Boss Howell?« »So ist es, Del.«

»Sie sind eine gute Mann, Boss Howell«, sagte Del. »Sie auch, Boss Edgecombe. Sie 'aben mich

manchmal angebrüllt, oui, aber nur, wenn es sein musste. Ihr seid alle gute Männer außer diesem

Percy. Ich wünsche, ich könnte euch irgendwo Wiedersehen. Mauvais temps, mauvais chance.«

»Ich muss dir etwas sagen, Del«, erklärte ich ihm. »Die Worte, die ich jedem sagen muss, bevor wir

gehen. Keine große Sache, aber es gehört zu meinem Job. Okay?«

»Oui, Monsieur«, sagte er und schaute Mr. Jingles, der auf John Coffeys breiter Schulter hockte, ein

letztes Mal an. »Au revoir, mon ami«, sagte er und begann heftiger zu weinen, »/e t'aime, mon petit«

Er warf der Maus eine Kusshand zu. Diese Kusshand hätte lustig oder vielleicht einfach grotesk sein

sollen, doch das war sie nicht. Dean starrte von der Gummizelle aus über den Gang und lächelte

sonderbar. Ich glaube, er war den Tränen nahe. Ich leierte herunter, was ich sagen musste, und als

ich fertig war, trat Delacroix zum letzten Mal aus seiner Zelle.

»Warte noch einen Augenblick, Boss«, sagte Brutal und überprüfte die rasierte Stelle auf Dels Kopf,

wo die Kappe sitzen würde. Er nickte mir zu. »Gut mit Eversharp rasiert. Wir können gehen.«

So machte Eduard Delacroix seinen letzten Spaziergang über die Green Mile, und kleine Bäche von

Tränen und Schweiß rannen seine Wangen hinab, und Donner grollte in der Nacht. Brutal ging links

des Todeskandidaten, ich rechts und Dean hinter ihm.

Schuster wartete in meinem Büro, und die Wärter Ringgold und Battle standen in den Ecken auf

Posten. Schuster blickte auf, als Del eintrat lächelte und sprach ihn auf französisch an. Es klang

gestelzt für mich, aber es wirkte Wunder.

Del erwiderte das Lächeln, ging zu Schuster und umarmte ihn. Ringgold und Battle spannten sich an,

aber ich hob die Hände und schüttelte den Kopf.

Schuster hörte sich Dels Flut von tränenersticktem Französisch an, nickte verständnisvoll und klopfte

ihm auf den Rücken. Er schaute mich über die Schulter des kleinen Mannes hinweg an und sagte:

»Ich verstehe kaum ein Viertel von dem, was er sagt«

»Ich bezweifle, dass es was ausmacht«, knurrte Brutal.

»Ich auch, Sohn«, sagte Schuster und grinste. Er war der beste von ihnen, und jetzt wird mir klar,

dass ich keine Ahnung habe, was aus ihm geworden ist. Ich hoffe, er hat seinen Glauben behalten,

was auch immer sonst sich ereignet hat.

Er forderte Delacroix auf, sich hinzuknien, und faltete die Hände. Delacroix folgte seinem Beispiel.

»Not' Pere, qui etes aux ci'eux«, begann Schuster, und Delacroix sprach mit. Sie beteten das

Vaterunser in diesem flüssig klingenden Cajun-Französisch, bis zu »mais deliverez-nous du mal, ainsi

soit-il.« Unterdessen waren Dels Tränen versiegt, und er wirkte ruhig. Einige Bibelverse (auf englisch)

folgten, und Schuster versäumte nicht die altbewährte Sache mit dem stillen Wasser. Als das erledigt

war, wollte sich Schuster erheben, doch Del hielt ihn am Ärmel fest und sagte etwas auf französisch.

Schuster hörte aufmerksam zu und runzelte die Stirn. Er erwiderte etwas. Del fügte noch etwas hinzu

und schaute dann hoffnungsvoll zu ihm hoch.

Schuster wandte sich mir zu. »Er will noch etwas, Mr. Edgecombe. Ein Gebet bei dem ich ihm wegen

meines Glaubens nicht helfen kann. Ist das in Ordnung?«

Ich blickte auf die Wanduhr und sah, dass es siebzehn Minuten vor Mitternacht war. »Ja«, sagte ich,

»aber es muss schnell gehen. Wir müssen einen Zeitplan einhalten, wissen Sie.«

»Ja, ich weiß.« Er wandte sich wieder Delacroix zu und nickte.

Del schloss die Augen, wie um zu beten, doch einen Moment lang sagte er nichts. Er furchte die Stirn,

und ich hatte das Gefühl, dass er in der Erinnerung kramte, wie jemand vielleicht in einer kleinen

Dachstube nach einem Gegenstand sucht, den er lange, lange Zeit nicht benutzt (oder benötigt) hat.

Ich schaute wieder zur Uhr und sagte fast etwas - ich hätte es getan, wenn Brutal mir nicht am Ärmel

gezupft und den Kopf geschüttelt hätte.

Dann begann Del leise, aber schnell in diesem Cajun zu sprechen, das so rund und weich und sinnlich

wie die Brust einer jungen Frau war.

Marie/ Je vous salue, Marie, oui, pleine de gräce, lc Seigneur est avec nous; vous etes benie entre

toutes les femmes et mon eher Jesus, le fruit de vos entrailles, est beni.« Er weinte wieder, aber ich

bezweifle, dass ihm das bewusst war. »Sainte Marie, oh ma mere. Mere de Dieu, priez pour moi, priez

pour nous, pauv' pecheurs, maint'ant et a l'heure ,.. l'heure de notre mort L'heure de mon mort.« Kr

atmete tief und zitternd ein. »Ainsi soit-il.«

Durch das Fenster des Büros fiel der grelle, blauweiße Strahl eines Blitzes, als Delacroix aufstand. Alle

außer Del zuckten zusammen; er wirkte immer noch in das Gebet vertieft. Er streckte eine Hand aus,

ohne zu sehen, wohin. Brutal ergriff die Hand und drückte sie kurz. Delacroix schaute ihn an und

lächelte ein wenig.

-Nous voyons ...«, begann er und verstummte. Dann sprach er wieder Englisch. »Wir können jetzt

gehen, Boss Howell, Boss Edgecombe. Ich bin mit Gott im reinen.«

»Das ist gut«, sagte ich und fragte mich, wie im reinen mit Gott sich Del in zwanzig Minuten fühlen

würde. Ich hoffte, dass sein letztes Gebet gehört worden war und Mutter Maria für ihn mit ganzem

Herzen und der Seele betete, denn Eduard Delacroix, Vergewaltiger und Mörder, brauchte alle

Fürbitten, die er bekommen konnte.

Draußen erhellte wieder ein Blitz den Himmel. »Komm, Del. Es ist jetzt nicht mehr weit«

»Prima, Boss, das ist prima. Denn ich 'abe keine Angst mehr.« Das sagte er, aber ich sah ihm an den

Augen an - Vaterunser oder nicht, Ave Maria oder nicht -, dass er log. Wenn sie über das letzte Stück

des grünen Linoleums gehen und sich durch die kleine Tür ducken, haben fast alle Angst

»Bleib am Fuß der Treppe stehen, Del«, sagte ich leise, als er durch die Tür ging, aber das hätte ich

mir sparen können. Er blieb abrupt am Fuß der Treppe stehen, und zwar, weil er Percy Wetmore sah,

der auf der Plattform stand, den Eimer mit dem Schwamm neben sich, und das Telefon, dessen

Leitung zum Gouverneur führte, auf der Höhe seiner rechten Hüfte.

».Non«, stieß Del entsetzt hervor. »Non, non, nicht der!«

»Geh weiter«, sagte Brutal. »Blick nur auf mich und Paul. Vergiss, dass er überhaupt da ist«

»Aber...«

Leute wandten den Kopf und schauten zu uns, aber ich schob mich ein bisschen zur Seite und konnte

Delacroix am linken Ellenbogen packen, ohne dass es gesehen wurde. »Ruhig«, sagte ich so leise,

dass nur Del - und vielleicht Brutal - es hören konnte. »Das einzige, das diesen Leuten von dir in

Erinnerung bleiben wird, ist die Art, wie du rausgekommen bist, also zeig dich ihnen von deiner besten

Seite.«

In diesem Augenblick donnerte es so laut, dass das Blechdach des Vorratsraums vibrierte. Percy

zuckte zusammen, als hätte ihm jemand in den Hintern gezwickt und Del lachte verächtlich.

»Wenn es noch lauter donnert, pisst er sich wieder in die 'osen«, sagte er und straffte die Schultern -

nicht dass er viel zu straffen gehabt hätte. »Kommt Bringen wir es 'inter uns.«

Wir gingen zur Plattform. Delacroix ließ unterwegs seinen Blick nervös über die Zeugen schweifen -

ungefähr fünfundzwanzig waren es diesmal -, aber Brutal, Dean und ich hielten unseren Blick auf den

heißen Stuhl gerichtet. Alles wirkte in Ordnung. Ich hob einen Daumen und blickte mit fragend

gehobenen Brauen zu Percy, der ein wenig schief grinste, als ob er sagen wollte: Was meinst du, ob

alles in Ordnung ist? Na klar ist es das.

Ich hoffte, er hatte recht

Brutal und ich griffen automatisch nach Delacroix' Ellenbogen, als er auf die Plattform hinaufstieg. Es

sind nur ein paar Zentimeter vom Boden aus, aber es würde Sie überraschen, wie viele, sogar die

härtesten der harten Babys, Hilfe brauchen, um diese letzte Stufe in ihrem Leben zu bewältigen.

Del schaffte es jedoch prima. Er blieb einen Moment vor dem Stuhl stehen (ohne Percy anzusehen)

und sprach dann zu Old Sparky, wie um sich vorzustellen. »C'est moi«, sagte er. Percy wollte nach

ihm greifen, doch Delacroix drehte sich von selbst um und setzte sich auf Old Sparky. Ich kniete mich

an seine linke Seite und Brutal an die rechte. Ich schützte meinen Unterleib und meine Kehle auf die

Art, die ich bereits beschrieben habe, und schwang die Klammer herum, damit sich die offenen

Klemmbacken um die weiße Haut gerade oberhalb von Delacroix' Knöcheln schlossen. Donner krachte,

und ich zuckte zusammen, Schweiß rann in mein Auge, brannte.

Mouseville, dachte ich aus irgendeinem Grund. Mouseville, und der Eintrittspreis betrug einen Dime.

Zwei Cents für die Kinder, die Mr. Jingles' Auftritt sehen würden.

Die Klammer war störrisch und ließ sich nicht schließen. Ich konnte Del tief Luft in seine Lungen

saugen hören, die in weniger als vier Minuten verkohlt sein und seinem vor Furcht rasenden Herzen

keinen Sauerstoff mehr geben würden. Dass er ein halbes Dutzend Leute umgebracht hatte, schien in

diesem Moment das Unwichtigste zu sein. Ich versuche hier nichts über richtig und falsch zu sagen,

sondern nur, wie es war.

Dean kniete sich neben mich und flüsterte: »Klappt's nicht, Paul?«

»Ich kann nicht ...«, begann ich, und dann schloss sich die Klammer schnappend. Die Klemmbacken

mussten in Delacroix' Haut gezwickt haben, denn er zuckte zusammen und stieß ein zischendes

Geräusch aus. »Tut mir leid«, sagte ich.

»Ist okay, Boss«, sagte Del. »'at nur eine Moment weh getan.«

Auf Brutals Seite war die Elektrode in der Klammer, und es dauerte immer etwas länger, sie zu

schließen. So standen wir alle drei fast gleichzeitig auf. Dean griff nach der Klammer für Dels linkes

Handgelenk, und Percy ging zu der, die für Dels rechtes Handgelenk bestimmt war. Ich war bereit

einzugreifen, wenn Percy Hilfe brauchte, doch er schloss die Klammer am Handgelenk besser, als ich

die Klammer am Knöchel geschlossen hatte. Ich sah, dass Del jetzt am ganzen Körper zitterte, als

stünde er bereits unter leichtem Strom.

Ich roch auch seinen Schweiß. Der Geruch war sauer und stark und erinnerte mich an schwache

Essigsoße.

Dean nickte Percy zu. Percy blickte über die Schulter - ich sah eine Stelle an seinem Kinn, wo er sich

an diesem Tag beim Rasieren geschnitten hatte - und sagte mit leiser, fester Stimme: »Stufe eins!«

Es folgte ein Summen, ähnlich wie bei einem alten Kühlschrank, wenn er anspringt, und die Lampen

im Raum wurden heller. Einige Leute schnappten nach Luft, und leises Gemurmel vom Publikum war

zu hören. Del zuckte auf dem Stuhl, und seine Hände klammerten sich so fest um die Enden der

Armlehnen aus Eiche, dass die Knöchel weiß wurden. Seine Augen rollten in den Höhlen, und dann

wurden seine keuchenden Atemzüge schneller. Er hechelte jetzt fast

»Ruhig«, murmelte Brutal. »Ruhig. Del, du hältst dich einfach prima. Weiter so, du hältst dich einfach

prima.«

tiey, Jungs, dachte ich. Kommt und seht, was Mr. Jingles kann! Und wieder donnerte es.

Percy trat erhaben vor den elektrischen Stuhl. Dies war sein großer Moment, er war der Mittelpunkt,

alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Alle außer einem Augenpaar. Delacroix sah, wer es war, und

schaute auf seinen Schoß. Ich hätte einen Dollar für einen Doughnut gewettet dass Percy seinen Text

verpatzte, wenn er ihn nicht bei einer Übung, sondern tatsächlich und vor Publikum sprechen musste,

doch er rasselte ihn glatt und mit unheimlich ruhiger Stimme herunter.

»Eduard Delacroix, Sie sind zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt. Das Urteil wurde von einer

Jury gesprochen und von einem Richter in diesem Staat verhängt, Gott schütze die Bürger dieses

Staates. Haben Sie etwas zu sagen, bevor das Urteil vollstreckt wird?«

Del versuchte zu sprechen, doch zuerst kam nur ein entsetztes, unverständliches Krächzen heraus. Die

Andeutung eines verächtlichen Lächelns spielte um Percys Mundwinkel, und ich hätte ihn deswegen

mit Freuden erschossen. Dann leckte sich Del über die Lippen und versuchte es von neuem.

»Es tut mir leid, was ich getan 'abe«, sagte er. »Ich würde alles tun, um die Uhr zurückzudrehen, aber

das kann keine Mensch. So ...« Donner explodierte wie eine Granate über uns. Del ruckte hoch,

soweit es die Klammern erlaubten, und seine Augen traten aus den Höhlen. »So zahle ich jetzt den

Preis. Gott vergebe mir.« Er leckte sich wieder über die Lippen und blickte zu Brutal. »Vergesst nicht,

was ihr für Mr. Jingles versprochen habt«, sagte er leise.

»Das werden wir nicht vergessen, keine Sorge«, sagte ich und tätschelte Delacroix' kalte Hand.

»Er kommt nach Mouseville ...«

»Quatsch«, sagte Percy aus dem Mundwinkel, ohne die Lippen zu bewegen wie ein Sträfling beim

Hofgang, und er schnallte den Gurt um Delacroix' Brust fest »So eine Stadt gibt es nicht. Es ist ein

Märchen, das diese Jungs erfunden haben, um dich ruhigzuhalten. Das solltest du wissen, du

Schwuler.«

Der verzweifelte Ausdruck in Dels Augen sagte mir, dass ein Teil von ihm es gewusst hatte ... sich der

Rest von ihm jedoch gegen dieses Wissen gesträubt hatte. Ich schaute Percy sprachlos und

wütend an, und er erwiderte meinen Blick kühl, als wollte er fragen, was ich dagegen tun konnte. Und

da hatte er mich natürlich. Ich konnte nichts tun, nicht vor den Zeugen, nicht vor Delacroix, der am

äußersten Rande des Lebens saß. Ich konnte nichts tun, nur weitermachen, es beenden.

Percy nahm die Kapuze vom Haken, streifte sie hinab über Dels Gesicht und zog sie unter dem

vorstehenden Kinn des kleinen Mannes fest um das Loch oben drin zu dehnen. Als nächstes nahm er

den Schwamm aus dem Eimer und legte ihn in die Kappe, und hier wich Percy zum ersten Mal von der

Routine ab: Anstatt sich zu bücken und den Schwamm aus dem Eimer zu fischen, nahm er die

Stahlkappe vom Rücken des Stuhls und neigte sich mit ihr in den Händen vor.

Mit anderen Worten, anstatt den Schwamm zur Kappe zu bringen - was die natürliche Prozedur gewesen wäre -, brachte er die Kappe zum Schwamm. Mir hätte klar werden sollen, dass etwas falsch war, aber ich war zu aufgeregt. Es war die einzige Hinrichtung, an der ich teilnahm, bei der ich mich völlig außer Kontrolle fühlte. Was Brutal anbetraf, so schaute er Percy überhaupt nicht an, nicht als er sich über den Eimer neigte (und sich so bewegte, dass er zum Teil verdeckte, was er tat), nicht als er sich aufrichtete und sich Del mit der Kappe in den Händen und dem braunen, runden Schwamm darin zuwandte. Brutal schaute auf den Stoff, der Dels Gesicht verhüllte, beobachtete, wie sich die schwarze seidene Kapuze nach innen wölbte und den Umriss von Dels offenem Mund zeigte und sich dann wieder mit seinem Atem blähte. Dicke Schweißperlen bildeten sich auf Brutals Stirn und an den Schläfen, gerade unterhalb des Haaransatzes. Ich hatte ihn noch nie bei einer Hinrichtung schwitzen gesehen. Hinter ihm stand Dean, der aufgewühlt und krank aussah, als kämpfe er dagegen an, sein Abendessen von sich zu geben. Wir alle begriffen, dass etwas falsch war, das weiß ich jetzt. Wir konnten nur nicht sagen, was es war. Keiner wusste damals, welche Fragen Percy an Jack Van Hay gestellt hatte. Es waren viele Fragen gewesen, aber ich habe den Verdacht, dass die meisten nur zur Tarnung gedient hatten. Worüber Percy etwas wissen wollte - ich glaube, das einzige, was er wissen wollte -, war der Schwamm. Der Zweck des Schwamms. Warum er in Salzlake getränkt wurde ... und was geschehen würde, wenn man ihn nicht in Salzlake tränkte. Was passieren würde, wenn der Schwamm trocken war.

Percy drückte die Kappe auf Dels Kopf. Der kleine Mann ruckte etwas hoch und stöhnte wieder, diesmal lauter. Einige der Zeugen bewegten sich unbehaglich auf ihren Klappstühlen. Dean trat einen halben Schritt vor, wollte bei dem Kinngurt helfen, und Percy forderte ihn mit einer knappen Geste auf zurückzutreten. Dean tat es und zuckte zusammen, als ein Donnerschlag den Hinrichtungsraum vibrieren ließ. Diesmal prasselte nach dem Donner Regen auf das Dach. Es klang hart, als schütte jemand Erdnüsse auf ein Waschbrett.

Sie haben schon Leute sagen hören: >Mir stockte das Blut in den Adern<, nicht wahr? Klar. Wir alle haben das gehört, aber zum ersten Mal in all meinen Jahren spürte ich es tatsächlich in jener Gewitternacht im Oktober 1932, ungefähr zehn Sekunden nach Mitternacht. Es war nicht der Ausdruck von boshaftem Triumph auf Percy Wetmores Gesicht, als er von der angeschnallten und mit Klammern auf dem Stuhl befestigten Gestalt mit dem verhüllten Gesicht und der Kappe auf dem Kopf zurücktrat, der mich alarmierte; es war etwas, das ich hätte sehen sollen und nicht sah. Es lief kein Wasser von der Kappe auf Dels Wangen. Das war der Augenblick, in dem ich endlich begriff.

»Eduard Delacroix«, sagte Percy, »jetzt soll Elektrizität durch deinen Körper geleitet werden, bis du tot bist, wie es das Gesetz des Staates vorschreibt«

Ich schaute in einer Qual zu Brutal, zu der im Vergleich meine Blaseninfektion nur eine Beule im Finger gewesen war. Der Schwamm ist trocken! formte ich unhörbar mit den Lippen, aber er schüttelte nur den Kopf, verstand mich nicht schaute wieder auf den verhüllten Kopf des Franzosen, wo sich die schwarze Seide nach innen wölbte und nach außen blähte.

Ich wollte Percy am Ellenbogen packen, doch er wich zurück und schaute mich kalt an. Es war nur ein kurzer Blick, aber er sagte mir alles. Später würde er seine Lügen und Halbwahrheiten erzählen, und die meisten würden von den Leuten geglaubt werden, die zählten. Aber ich kannte die andere Geschichte. Percy war ein guter Schüler, wenn er etwas tat an dem er Spaß hatte, das hatten wir bei den Proben festgestellt und er hatte aufmerksam zugehört als Jack Van Hay erklärte hatte, wie der in Salzlake getränkte Schwamm den Saft leitete, kanalisierte, die Ladung wie eine Art elektrische Kugel ins Gehirn lenkte. O ja, Percy wusste genau, was er tat. Ich denke, ich glaubte ihm später, als er sagte, er habe nicht gewusst wie weit es gehen würde, aber das zählt nicht einmal in der Rubrik der guten Absichten, nicht wahr? Nein, das zählt gewiss nicht dazu. Aber ich konnte nichts tun, ich hätte nur vor dem stellvertretenden Direktor und all den Zeugen Jack Van Hay anschreien können, den Hebel nicht zu betätigen. Ich glaube, wenn ich noch fünf Sekunden gehabt hätte, dann hätte ich vielleicht genau das geschrieen, doch Percy ließ mir keine fünf Sekunden. »Möge Gott deiner Seele gnädig sein«, sagte er zu der keuchenden entsetzten Gestalt auf dem elektrischen Stuhl, und dann schaute er zu dem Drahtgeflechtfenster, an dem Harry und Jack standen, Jack mit der Hand auf dem Hebel, den ein Witzbold mit MABELS HAARTROCKNER markiert hatte. Der Arzt stand rechts von diesem Fenster, den Blick auf die schwarze Arzttasche zwischen seinen Füßen geheftet, so still und zurückhaltend wie immer. »Stufe zwei!«

Zuerst war es wie immer - das Summen, das ein wenig lauter als bei Stufe eins war, aber nicht viel, und das Aufbäumen von Dels Körper, als sich seine Muskeln verkrampften. Dann gingen die Dinge schief. Das Summen verlor seine Stetigkeit und begann zu schwanken. Es folgte ein Knistern, als würde Zellophan zerknittert. Ich roch etwas Schreckliches und erkannte erst, dass es eine Mischung aus verbranntem Haar und Schwamm war, als ich sah, dass blaue Rauchschleier unter den Rändern der Kappe emporkräuselten. Weiterer Rauch strömte aus der Öffnung oben in der Kappe, durch die der Draht führte; es sah aus, als kräusele Rauch aus der Spitze eines Indianer Tipi.

Delacroix begann auf dem Stuhl zu zittern und zu zucken, und sein verhüllter Kopf ruckte von einer

Seite zur anderen, als wollte er etwas heftig verneinen. Seine Beine stießen in kurzen Stößen auf und

ab, behindert durch die Klammern an seinen Knöcheln. Donner krachte, und der Regen trommelte

härter aufs Dach.

Ich schaute zu Dean Stanton; er starrte verstört zurück Unter der Kappe knackte es gedämpft, es

hörte sich an wie das Explodieren eines Kiefernscheits im Feuer, und jetzt sah ich auch Rauch in

kleinen Wölkchen aus der Kapuze quillen.

Ich sprang zu dem Drahtgeflechtfenster zwischen uns und dem Schaltraum, aber bevor ich etwas

sagen konnte, packte mich Brutus Howell am Ellenbogen. Sein Griff war so hart, dass die Nerven im

Arm zu vibrieren begannen. Brutal war wachsbleich, aber nicht in Panik - nicht einmal am Rande einer

Panik »Sag Jack nicht, dass er aufhören soll«, raunte er. »Was auch immer du tust, sag ihm das nicht.

Es ist zu spät zum Aufhören.«

Zuerst hörten die Zeugen Dels Schreie nicht. Das Prasseln des Regens auf dem Blechdach war zu

einem Brausen angeschwollen, und es donnerte fast pausenlos. Aber wir auf der Plattform hörten sie -

erstickte Schreie der Qual unter der rauchenden Kapuze, Laute, die vielleicht ein Tier ausstößt das in

eine Häckselmaschine geraten ist und zerfetzt wird.

Das Summen von der Kappe war jetzt unregelmäßig und abgehackt unterbrochen von Explosionen,

die wie statische Entladungen klangen. Delacroix ruckte auf dem Stuhl vor und zurück wie ein Kind,

das einen Koller hat. Die Plattform erzitterte, und er prallte so hart gegen den Ledergurt dass er ihn

fast zerrissen hätte.

Er zuckte unter dem Strom auch von Seite zu Seite, und ich hörte das Knacken, als seine rechte

Schulter entweder brach oder ausgerenkt wurde. Es klang, als hätte jemand mit einem

Vorschlaghammer auf eine Holzkiste geschlagen. Der Schritt seiner Hose, jetzt nur verschwommen zu

sehen, weil seine Beine wie kurze Kolben stoßweise auf und ab ruckten, wurde dunkel. Dann begann

er zu kreischen, schreckliche Laute, schrill und rattenhaft, die sogar im Prasseln des Regens zu hören

waren.

»Was, zum Teufel, passiert mit ihm?« rief jemand.

»Werden die Klammern und Gurte halten?«

»Mein Gott, der Gestank' Puh!«

Dann fragte eine der beiden Frauen: »Ist das normal?«

Delacroix ruckte vor, fiel zurück, ruckte vor, fiel zurück Percy starrte ihn entsetzt an. Er hatte etwas

erwartet, aber nicht dies. Die schwarze Seide über Delacroix' Kopf fing Feuer. Zu dem Gestank von

verbranntem Haar und Schwamm kam jetzt der von verbranntem Fleisch. Brutal schnappte sich den

Eimer, in dem der Schwamm gelegen hatte (er war jetzt natürlich leer), und lief zu dem extra tiefen

Brunnen des Hausmeisters in der Ecke.

»Soll ich nicht den Saft abstellen, Paul?« rief Van Hay durch das Fenster. Er klang völlig fassungslos.

»Soll ich ...«

»Nein!« rief ich zurück Brutal hatte es zuerst erkannt, aber mir war es nicht viel später klar geworden;

wir mussten es zu Ende bringen. Was auch immer sonst wir in unserem restlichen Leben tun würden,

war zweitrangig gegenüber dieser einen Sache: Wir mussten es mit Delacroix zu Ende bringen. »Gib

Strom, um Himmels willen! Strom, Strom, Strom!«

Ich wandte mich Brutal zu und nahm kaum wahr, dass die Leute hinter uns jetzt

durcheinander redeten und einige schrieen. »Lass das!« brüllte ich Brutal an. »Kein Wasser/ Kein

Wasser! Bist du verrückt?«

Brutal wandte sich mir zu, und seine Miene spiegelte eine Art benommenes Verstehen wider. Wasser

auf einen Mann schütten, der Saft bekam? () ja. Das würde reichlich blöde sein. Er schaute sich um,

sah den Feuerlöscher an der Wand hängen und schnappte ihn statt dessen. Guter Junge.

Die schwarze Seide war jetzt so weit zusammengeschrumpft, dass Gesichtszüge zu sehen waren, die

schwärzer als die von John Coffey waren. Seine Augen, jetzt nur unförmige Kleckse aus weißem

Gelee, waren aus den Höhlen geblasen worden und lagen auf seinen Wangen. Die Wimpern waren

fort, und während ich hinschaute, fingen die Lider Feuer. Rauch wölkte aus dem offenen V seines

Hemdes, und das geriet dann ebenfalls in Brand. Und immer noch summte die Elektrizität, und das

Summen drang in meinen Kopf und dröhnte dort. Ich denke, es ist das Geräusch, das Wahnsinnige

hören müssen, dieses oder ein ähnliches.

Dean stürzte vorwärts und dachte wohl in seiner Benommenheit, dass er das Feuer aus Dels Hemd

mit den Händen ausschlagen könnte. Ich riss ihn hart zurück dass er fast von den Beinen geraten

wäre. Wenn er jetzt Delacroix berührt hätte, wäre das so ähnlich gewesen, als hätte er einen Kessel

mit kochendem Teer angefasst.

Ich schaute mich nicht um und wusste nicht, was hinter mir los war, aber es klang nach einem wilden

Durcheinander.

Stühle fielen um, Leute brüllten, eine Frau kreischte: »Aufhören, aufhören, seht ihr denn nicht, dass er

genug hat?«

Curtis Anderson packte mich an der Schulter und fragte, was um Himmels willen passiert war und warum ich Jack nicht befohlen hatte, den Strom abzustellen. »Weil ich das nicht konnte«, sagte ich. »Wir waren zu weit gegangen, um es noch zu stoppen, haben Sie das denn nicht gesehen? Es wird in ein paar Sekunden vorbei sein.« Aber es dauerte mindestens zwei Minuten, bis es vorüber war, die längsten Minuten meines ganzen Lebens, und ich denke, die meiste Zeit davon war Delacroix bei Bewusstsein. Er schrie und zuckte und ruckte vor und zurück und von einer Seite zur anderen. Rauch drang aus seiner Nase und aus dem Mund, der jetzt die Farbe reifer Pflaumen hatte. Rauch kräuselte von seiner Zunge wie von einem heißen Backblech. Alle Knöpfe seines Hemdes sprangen entweder ab oder schmolzen. Sein Unterhemd fing nicht richtig Feuer, aber es verkohlte, und Rauch stieg daraus auf, und wir konnten den Gestank seiner brennenden Brusthaare riechen. Hinter uns rannten die Leute zur Tür wie Rinder in einer Stampede. Sie konnten natürlich nicht hinaus - wir waren schließlich in einem verdammten Gefängnis -, und so drängten sie sich einfach dort, während Delacroix briet (Ich brate), hatte der alte Toot-Toot gesagt, als wir für die Hinrichtung von Arien Bitterbuck geprobt hatten, (ich bin ein gebratener Truthahn), und der Donner grollte, und der Regen prasselte hernieder.

Irgendwann dachte ich an den Arzt und hielt' nach ihm Ausschau. Er war noch dort, aber er lag auf dem Boden neben seiner schwarzen Tasche. Er war ohnmächtig geworden. Brutal kam mit dem Feuerlöscher zu mir. »Noch nicht«, sagte ich. »Ich weiß.«

Wir sahen uns nach Percy um. Er stand jetzt fast hinter Old Sparky, wie erstarrt, die Augen weit auf­gerissen, die Knöchel einer Hand in den Mund geschoben. Dann sackte Delacroix schließlich auf dem Stuhl zurück. Sein verunstaltetes Gesicht lag auf einer Schulter. Er zuckte immer noch, aber so etwas hatten wir schon gesehen; es war der Strom, der das verursachte. Die Kappe saß jetzt schief auf seinem Kopf, doch als wir sie etwas später abnahmen, blieb das meiste von seinem Skalp und seiner wenigen verbliebenen Haare an dem Metall haften wie an einem starken Klebstoff. »Abstellen!« rief ich Jack zu, als eine halbe Minute vergangen war und nur das Zucken durch die Elektrizität von der rauchenden, verkohlten Gestalt auf dem elektrischen Stuhl zu sehen war. Das Summen verstummte sofort, und ich nickte Brutal zu.

Er drehte sich um und rammte den Feuerlöscher so hart in Percys Arme, dass Percy zurücktaumelte und fast von der Plattform fiel. »Du tust das«, sagte Brutal. »Du leitest hier schließlich die Show, nicht wahr?«

Percy bedachte ihn mit einem Blick, der angewidert und mörderisch zugleich war, dann hantierte er mit dem Feuerlöscher und schoss eine große Wolke von weißem Schaum über den Mann auf dem Stuhl. Ich sah einen von Dels Füßen einmal zucken, als der Strahl sein Gesicht traf, und dachte: O nein, vielleicht ist es noch nicht vorüber, aber es war nur dieses eine Zucken. Andersen hatte sich umgewandt und bellte zu den in Panik geratenen Zeugen, dass alles in Ordnung und alles unter Kontrolle war, nur eine Stromschwankung durch das Gewitter, kein Grund zur Sorge. Fehlte nur noch, dass er das, was sie rochen - eine teuflische Mischung aus verbranntem Haar, gebratenem Fleisch und frischer Scheiße aus Eduard Delacroix' knusprigem Arschloch -, als Chanel Nr. 5 bezeichnete.

»Hol das Stethoskop vom Doc«, wies ich Dean an, als der Feuerlöscher leer war. Delacroix war jetzt mit einer weißen Schicht bedeckt, und der schlimmste Gestank wurde von einem stechenden chemischen Geruch überlagert »Soll ich den Doc ...«

»Vergiss den Doc, hol nur das Stethoskop«, sagte ich. »Lass uns das hinter uns bringen ... ihn hier rausschaffen.«

Dean nickte. Hinter uns bringen und hier raus waren zwei Gedanken, die ihm gefielen. Sie gefielen uns beiden. Er ging zu der Arzttasche und kramte darin. Der Doc begann sich zu regen, so hatte er wenigstens keinen Schlaganfall oder Herzinfarkt erlitten. Das war gut. Aber die Art, wie Brutal Percy anschaute, war nicht gut.

»Geh in den Tunnel, und warte bei der Leichenkarre«, sagte ich zu Percy. Percy schluckte. »Paul, hör zu, ich weiß nicht...«

»Halt die Klappe. Geh in den Tunnel, und warte bei der Leichenkarre. Sofort!« Er schluckte abermals, verzog das Gesicht als ob es schmerzte, und ging dann zur Tür, die zur Treppe und dem Tunnel führte. Er hielt den leeren Feuerlöscher auf dem Arm, als wäre es ein Baby. Dean passierte ihn, als er mit dem Stethoskop zu mir zurückkehrte. Ich schnappte mir das Stethoskop und stöpselte die Hörmuscheln in meine Ohren. Ich hatte das früher schon gemacht, bei der Army, und es ist so ähnlich wie mit dem Fahrradfahren - man verlernt es nicht.

Ich wischte den Schaum von Delacroix' Brust und musste würgen und gegen Brechreiz ankämpfen, als ein großes, heißes Stück seiner Haut einfach vom Fleisch abfiel wie Haut von einem ... Sie wissen schon. Von einem gebratenen Truthahn.

»O Gott«, schluchzte hinter mir eine Stimme, die ich nicht kannte. »Ist es immer so? Warum hat mir das keiner gesagt? Ich wäre niemals hergekommen!«

Zu spät, mein Freund, dachte ich. »Schafft diesen Mann hier fort«, sagte ich zu Dean oder Brutal oder wer auch immer es hörte - ich sagte es, als ich sicher war, sprechen zu können, ohne in Delacroix' rauchenden Schoß zu kotzen. »Lasst sie alle durch die Tür raus.«

Ich sammelte meinen Mut so gut ich konnte, und legte die Scheibe des Stethoskops auf das rot­schwarze Stück von rohem Fleisch, das ich auf Dels Brust vom Löschschaum befreit hatte. Ich lauschte und betete, dass ich nichts hören würde, und genau das hörte ich - nichts. »Er ist tot«, sagte ich zu Brutal. »Gott sei Dank«

»Ja. Gott sei Dank. Du und Dean, ihr holt die Bahre. Wir schnallen ihn los und bringen ihn schnell fort.«

5

Wir brachten die Leiche die zwölf Stufen hinab und auf den Leichenkarren. Mein Alptraum war, dass

das gebratene Fleisch von den Knochen abfallen würde, während wir die Leiche schleppten - es war

Old Toots gebratener Truthahn, der mir nicht aus dem Sinn ging -, aber das passierte natürlich nicht.

Curtis Anderson war oben und beruhigte die Zuschauer - versuchte es jedenfalls -, und das war gut

für Brutal, denn Anderson konnte nicht sehen, dass Brutal einen Schritt auf das Ende des

Leichenkarrens zu machte und ausholte, um Percy zu schlagen, der dort wie betäubt stand. Ich hielt

Brutals Arm fest, und das war gut für beide. Es war gut für Percy, denn Brutal wollte einen Schlag

austeilen, der die Wucht hatte, Percy fast zu enthaupten, und gut für Brutal, denn er hätte seinen Job

verloren, wenn er geschlagen hätte, und wäre vielleicht im Knast gelandet, nicht als Wärter, sondern

hinter Gittern.

»Nein«, sagte ich.

»Was meinst du mit nein?« fragte er mich wütend. »Wie kannst du nein sagen? Du hast gesehen, was

er getan hat! Was sagst du mir da? Du lässt ihn immer noch durch seine Beziehungen schützen? Nach

dem, was er verbrochen hat?«

»Ja.«

Brutal starrte mich offenen Mundes an, und er war so zornig, dass seine Augen zu tränen begannen.

»Hör mir zu, Brutus - wenn du ihn schlägst, sind wir höchstwahrscheinlich alle gefeuert. Du, ich,

Dean, Harry und vielleicht sogar Jack Van Hay. Jeder sonst rückt eine Stufe oder zwei auf der Leiter

höher, angefangen mit Bill Dodge, und die Gefängnisleitung stellt drei oder vier Arbeitslose als Wärter

an, um die Stellen unten zu besetzen. Vielleicht kannst du damit leben, aber ...« Ich wies mit dem

Daumen zu Dean, der in den gewölbten, feuchten Tunnel starrte und fast so benommen wie Percy

wirkte. »Aber was ist mit Dean? Er hat zwei Kinder, eines auf der High School und das andere kurz

davor.«

»Worauf läuft es also hinaus?« fragte Brutal. »Soll er ungestraft davonkommen?«

»Ich habe nicht gewusst, dass der Schwamm nass sein muss«, sagte Percy mit schwacher,

mechanischer Stimme. Dies war natürlich die Story, die er vorher geübt hatte, als er einen für

Delacroix schmerzhaften Streich anstatt der Katastrophe erwartet hatte, die wir soeben erlebt hatten.

»Er war nie nass, wenn wir geprobt haben.«

»Ah, du Arschloch...«, begann Brutal und wollte auf Percy losgehen. Ich packte ihn wieder und riss

ihn zurück. Schritte klapperten auf der Treppe. Ich blickte hinauf und befürchtete, Curtis Anderson zu

sehen, doch es war Harry Terwilliger. Seine Wangen waren weiß wie Papier und seine Lippen purpurn,

als hätte er Heidelbeeren gegessen.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder Brutal zu. »Um Himmels willen, Brutal, Delacroix ist tot,

nichts kann das ändern, und Percy ist es nicht wert« War der Plan oder der Anfang davon bereits

damals in meinem Kopf? Das habe ich mich seither gefragt glauben Sie mir. Ich habe mich das im

Laufe vieler Jahre gefragt und nie eine zufrieden stellende Antwort gefunden. Ich nehme an, es macht

nicht viel aus. Viele Dinge spielen keine Rolle mehr, aber das hält einen nicht davon ab, darüber zu

grübeln, wie ich festgestellt habe.

»Ihr redet über mich, als wäre ich ein Dummkopf«, sagte Percy. Es klang immer noch benommen und

atemlos - als hätte ihm jemand einen harten Schlag in den Bauch verpasst -, aber er erholte sich ein

bisschen.

»Du bist ein Dummkopf, Percy«, sagte ich.

»Hey, du kannst nicht...«

Ich beherrschte meinen eigenen Drang, ihn zu schlagen, nur mit größter Mühe. Wasser tropfte aus

den Backsteinen des Tunnels herab; unsere Schatten geisterten riesig und verzerrt über die Wände

wie Schatten in dieser Poe-Geschichte über den großen Affen in der Rue Morgue. Donner grollte, aber

hier unten war er gedämpft

»Ich will nur eines von dir hören, Percy, und das ist die Wiederholung des Versprechens, dass du

morgen dein Versetzungsgesuch nach Briar Ridge einreichst«

»Mach dir deswegen keine Sorgen«, sagte er mürrisch.

Er schaute auf die mit einem Laken zugedeckte Leiche auf dem Karren, blickte fort, sah mir kurz ins

Gesicht und blickte wieder weg.

»Das wäre das beste«, sagte Harry. »Andernfalls könntest du Wild Bill Wharton viel besser

kennen lernen, als dir lieb ist« Eine kurze Pause. »Wir könnten dafür sorgen.«

Percy hatte Angst vor uns, und er fürchtete sich vermutlich vor dem, was wir vielleicht taten, wenn er

noch hier war und wir herausfanden, was er bei Jack Van Hay über den Schwamm gefragt hatte

und warum er immer in Salzlake getränkt war, aber Harrys Erwähnung von Wharton brachte wirklich

Entsetzen in seine Augen. Ich sah ihm an, dass er sich erinnerte, wie Wharton ihn gepackt hatte,

durch sein Haar gestreichelt und ihm einen schwulen Antrag gemacht hatte.

»Das würdet ihr nicht wagen«, flüsterte Percy.

»Doch, das würde ich«, erwiderte Harry ruhig. Und weißt du was? Ich würde damit durchkommen.

Weil du bereits gezeigt hast, dass du höllisch unvorsichtig bei Gefangenen bist und unfähig dazu.«

Percy ballte die Hände zu Fäusten, und seine Wangen färbten sich rötlich. »Ich bin nicht...«

»Klar bist du ein unfähiges Arschloch«, sagte Dean, der zu uns aufschloss. Wir bildeten einen groben

Halbkreis um Percy am Fuß der Treppe, und sogar der Rückzug durch den Tunnel war blockiert; der

Leichenkarren stand hinter Percy mit der Ladung von verbranntem Fleisch unter dem alten Laken. »Du

hast soeben Delacroix bei lebendigem Leib verbrannt. Wenn das keine Unfähigkeit ist, was ist es

dann?«

Percys Blick flackerte. Er hatte geplant, sich durch angebliche Unwissenheit zu schützen; und jetzt

erkannte er, dass er in der eigenen Falle gefangen war. Ich weiß nicht was er vielleicht als nächstes

gesagt hätte, denn in diesem Augenblick kam Curtis Anderson die Treppe herunter. Wir hörten ihn

und zogen uns ein wenig von Percy zurück, damit es nicht ganz so bedrohlich aussah.

»Was, verdammt noch mal, hatte das alles zu bedeuten?« brüllte Anderson. »Mein Gott, dort oben ist

der ganze Boden voll gekotzt! Und der Gestank! Ich habe von Magnusson und TootToot beide Türen

öffnen lassen, aber der Gestank wird fünf Jahre lang nicht verschwinden, darauf wette ich. Und dieses

Arschloch von Wharton singt darüber. Ich kann ihn hören!«

»Kann er einen Ton halten, Curtis?« fragte Brutal. Sie wissen, dass man Leuchtgas mit einem einzigen

Funken verbrennen und nicht zu Schaden kommen kann, wenn man es tut, bevor die Konzentration

zu stark wird? So war dies. Wir starrten Brutus einen Moment lang staunend an, und dann brüllten wir

alle los. Unser schrilles, hysterisches Gelächter flatterte wie Fledermäuse den finsteren Tunnel hinauf

und zurück. Unsere Schatten verschoben sich und huschten über die Wände. Gegen Ende fiel sogar

Percy in das Lachen ein. Schließlich verstummte es, und danach fühlten wir uns alle ein wenig besser.

Wieder geistig normal.

»Okay, Jungs«, sagte Anderson, tupfte sich mit seinem Taschentuch über die tränenden Augen und

lachte immer noch gelegentlich wie in einem Schluckauf. »Was, zum Teufel, ist passiert?«

»Eine Hinrichtung«, sagte Brutal. Ich denke, sein sehr ruhiger Tonfall überraschte Anderson, aber

mich erstaunte er nicht, jedenfalls nicht sehr; Brutal war immer gut darin gewesen, sich auf die

Schnelle einer Situation anzupassen. »Eine erfolgreiche.«

»Wie, in Gottes Namen, können Sie eine solche Pleite als erfolgreich bezeichnen? Die Zeugen werden

einen Monat lang nicht schlafen! Hölle, die fette alte Schachtel wird vermutlich ein Jahr lang kein Auge

zutun!«

Brutal wies auf den Leichenkarren und den Umriss unter dem Laken. »Er ist tot, nicht wahr? Was Ihre

Zeugen anbetrifft, die meisten davon worden morgen Abend ihren Freunden und Bekannten erzählen,

dass es poetische Gerechtigkeit war - Del dort verbrannte eine Reihe Leute bei lebendigem Leib, und

so drehten wir den Spieß um und verbrannten ihn bei lebendigem Leib. Die Zeugen werden jedoch

nicht sagen, dass wir es waren. Sie werden sagen, es war Gottes Wille, den er durch uns ausführen

ließ. Vielleicht ist sogar etwas wahr daran. Und wollen Sie den besten Teil wissen? Den absoluten

Hammer? Die meisten ihrer Freunde und Bekannten werden wünschen, dabei gewesen zu sein, um es

zu sehen.«

Als er das sagte, blickte er Percy angewidert und sardonisch an.

»Und wenn ihre Federn ein bisschen zerzaust wurden, na und?« fragte Harry. »Sie haben sich

freiwillig für den verdammten Job gemeldet, keiner hat sie als Zeugen eingezogen.«

»Ich wusste nicht, dass der Schwamm nass sein soll«, sagte Percy mit der Stimme eines Roboters.

»Er war bei den Proben nie nass.«

Dean blickte ihn angeekelt an. »Wie viele Jahre hast du auf die Klobrille gepinkelt, bis dir jemand

gesagt hat, dass du sie vorher hochklappen sollst?« schnarrte er.

Percy öffnete den Mund zu einer Erwiderung, doch ich riet ihm, die Schnauze zu halten.

Erstaunlicherweise tat er es. Ich wandte mich an Anderson.

»Percy hat Mist gebaut, Curtis - das ist passiert, schlicht und einfach.« Ich wandte mich Percy zu, und

mein Blick warnte ihn, mir nur ja nicht zu widersprechen. Das tat er nicht, vielleicht weil er in meinen

Augen las: Es war besser, wenn Anderson blöder Fehler hörte als Absicht und außerdem zählte nicht,

was hier unten im Tunnel gesagt wurde. Was zählte, was stets bei den Percy Wetmores dieser Welt

zählt, war das, was schriftlich festgehalten oder den hohen Tieren zu Gehör gebracht wurde - den

Leuten, die wichtig waren.

Andersen sah uns fünf unsicher an. Er blickte sogar zu Delacroix, aber Del sagte natürlich nichts.

»Ich nehme an, es hätte schlimmer sein können«, sagte Anderson.

»Das ist richtig«, pflichtete ich ihm bei. »Er könnte noch am Leben sein.«

Curtis blinzelte - diese Möglichkeit war ihm anscheinend noch nicht in den Sinn gekommen.

»Ich will morgen einen kompletten Bericht über diesen Vorfall auf meinem Schreibtisch haben«, sagte

er. »Und keiner von euch redet mit Direktor Moores darüber, bis ich Gelegenheit dazu hatte.

Verstanden?« Wir nickten heftig. Wenn Curtis Anderson es dem Direktor verklickern wollte, war uns

das nur recht.

»Wenn nur keiner dieser Schreiberlinge es in die Zeitungen bringt...«

»Das werden sie nicht«, sagte ich. »Wenn sie es versuchen, werden ihre Chefredakteure es

abwürgen. Zu grausam als Familienlektüre. Aber sie werden es nicht mal versuchen - sie waren heute

Nacht alle geschockt. Manchmal laufen Dinge schief, das ist alles. Das wissen sie so gut wie wir.«

Anderson dachte darüber nach und nickte dann. Er wandte sich Percy zu, und ein angewiderter

Ausdruck war auf seinem für gewöhnlich freundlichen Gesicht.

»Sie sind ein kleines Arschloch«, sagte er, »und ich kann Sie kein bisschen leiden.« Er nickte

zufrieden, als er Percys entgeisterte Miene sah. »Und wenn Sie Ihren hochgestochenen Freunden

erzählen, dass ich das gesagt habe, dann werde ich es leugnen, bis Tante Rhodys alte graue Gans

wieder zum Leben erwacht und diese Männer werden für mich eintreten. Sie haben ein Problem,

Sohn.«

Er machte kehrt und stieg die Treppe hinauf. Ich ließ ihn vier Stufen hinaufgehen und sagte dann:

»Curtis?«

Er blieb stehen und wandte sich mit erhobenen Augenbrauen um, ohne etwas zu sagen.

»Sie brauchen sich wegen Percy keine Sorgen zu machen«, sagte ich. »Er lässt sich bald nach Briar

Ridge versetzen. Dort hat er größere und bessere Aufgaben. Nicht wahr, Percy?«

»Sobald sein Versetzungsgesuch genehmigt ist«, lügte Brutal hinzu.

»Und bis dahin meldet er sich jede Nacht krank«, warf Dean ein.

Das erregte Percys Zorn, denn er arbeitete noch nicht lange genug im Gefängnis, um Zeit

anzusammeln, die bei Krankmeldungen verrechnet wurde. Er schaute Dean angewidert an.

»Davon kannst du träumen.«

6

Wir waren um viertel nach eins wieder im Block (mit Ausnahme von Percy, der den Hinrichtungsraum

saubermachen musste und den Job mürrisch erledigte), und ich musste einen Bericht schreiben. Ich

entschloss mich, es am Wachpult zu tun; wenn ich mich auf meinen bequemen Bürostuhl setzte,

würde ich wahrscheinlich eindösen. Das kommt Ihnen vielleicht angesichts dessen, was erst vor einer

Stunde geschehen war, merkwürdig vor, aber ich hatte das Gefühl, seit elf Uhr in der vergangenen

Nacht drei Leben gelebt zu haben, alle ohne Schlaf.

John Coffey stand an seiner Zellentür, und Tränen rannen aus seinen Augen, die sonderbar wie in

weite Ferne blickten - es war, als liefe Blut aus einer unheilbaren, aber sonderbar schmerzlosen

Wunde. Näher zum Pult saß Wharton auf seiner Pritsche, wiegte sich hin und her und sang ein Lied,

das er offenbar erfunden hatte und das nicht mal ganz blödsinnig war. Soweit ich mich erinnere, ging

es so:

Grill-Party, Dabbadabbadu

Stinke, stinke, puh-puh-puh!

Es war nicht Billy oder Philadelphia Philly,

Es war nicht Jackie oder Rourke!

Es war ein kleiner Warmer, eine heiße Gurke

Mit Namen Delacroix, hahaha!

»Halt die Klappe, du Blödmann«, sagte ich. Wharton grinste und zeigte seine absterbenden

Zähne. Er starb nicht, jedenfalls noch nicht; er war da, glücklich, praktisch Step tanzend.

»Komm her, wenn du was auf die Nase haben willst, oder traust du dich nicht?«

Und dann begann er einen anderen Vers des >Grillparty-Songs< und reimte nicht ganz so blindlings.

Dort in der Zelle war was los, das muss ich sagen. Eine Art unreife und widerliche Intelligenz, die - auf

ihre Weise - fast brillant war.

Ich ging zu John Coffey. Er wischte sich seine Tränen mit dem Handballen fort. Seine Augen waren rot

und wirkten wie entzündet, und er sah aus, als wäre er ebenfalls erschöpft. Ich weiß nicht, warum er

das hätte sein sollen, ein Mann, der vielleicht zwei Stunden über den Hof schlurfte und den Rest der

Zeit in seiner Zelle saß oder lag, aber ich bezweifelte nicht, was ich sah. Es war zu deutlich.

»Armer Del«, sagte er mit leiser, heiserer Stimme. »Armer alter Del.«

»Ja«, sagte ich. »Armer alter Del. John, bist du Okay?«

»Er hat es hinter sich«, sagte Coffey. »Del hat es hinter sich, nicht wahr, Boss?«

»Ja. Beantworte meine Frage, John. Bist du Okay?«

»Del hat es hinter sich, er ist der Glückliche. Ganz gleich, wie es geschah, er ist der Glückliche.«

Ich dachte, Delacroix hätte ihm da widersprochen, aber das sagte ich nicht. Statt dessen spähte

ich in Coffeys Zelle. »Wo ist Mr. Jingles?«

»Ist dort runter gerannt« Coffey wies durch die Gitterstäbe den Gang hinunter zur Tür der

Gummizelle. Ich nickte. »Nun, er wird zurückkommen.«

Aber das war nicht der Fall; Mr. Jingles' Tage auf der Green Mile waren vorüber. Die einzige Spur von

ihm, auf die wir jemals stießen, war das, was Brutal in diesem Winter fand: ein paar bunte Holzsplitter

und der Geruch von Pfefferminzbonbons, der aus einem Loch in einem Balken drang.

Ich wollte dann fortgehen, aber ich tat es nicht. Ich schaute John Coffey an, und er sah mich an, als

wüsste er alles, was ich dachte. Eine innere Stimme forderte mich auf, wegzugehen, zum Wachpult

zurückzukehren und meinen Bericht zu schreiben. Statt dessen sagte ich seinen Namen:

»John Coffey.«

»Ja, Boss?« erwiderte er sofort.

Manchmal ist man dazu verdammt, etwas unbedingt wissen zu wollen, und so war es mit mir in

diesem Augenblick. Ich ließ mich auf ein Knie sinken und zog einen meiner Schuhe aus.

z

Der Regen hatte aufgehört, als ich heimkehrte, und ein später, grinsender Mond tauchte über den Hügeln im Norden auf. Meine Schläfrigkeit war anscheinend mit den Wolken verschwunden. Ich war hellwach, und ich konnte Delacroix an mir riechen. Ich dachte, dass ich ihn auf meiner Haut -Grillparty, stinke stinke, puh-puh-puh - noch lange riechen würde. Janice war noch auf und erwartete mich wie immer in Hinrichtungsnächten. Ich wollte ihr die Geschichte nicht erzählen, sah keinen Sinn darin, sie damit zu quälen, doch sie sah mein Gesicht, als ich die Küche betrat und wollte alles wissen. So setzte ich mich hin, nahm ihre warmen Hände in meine kalten (die Heizung in meinem alten Ford funktionierte kaum, und seit dem Gewitter war die Temperatur stark gesunken) und erzählte ihr alles, was sie glaubte hören zu wollen. Ungefähr in der Mitte der Geschichte brach ich heulend zusammen, was ich nicht erwartet hatte. Ich schämte mich, aber nur ein bisschen; es war Janice, verstehen Sie, und sie maß mich nie an den Zeiten, an denen ich von dem Weg abwich, den ein Mann einhalten sollte ... den Weg, den ich jedenfalls einhalten wollte. Ein Mann mit einer guten Frau ist das glücklichste von Gottes Geschöpfen, und einer ohne muss zu den unglücklichsten zählen, denke ich; der einzige wahre Segen ihres Lebens ist, dass sie nicht wissen, wie arm sie dran sind. Ich heulte, und Janice hielt meinen Kopf gegen ihren Busen, und als mein eigenes Gewitter vorüber war, fühlte ich mich besser ... jedenfalls ein wenig. Und ich glaube, da sah ich zum ersten Mal bewusst meine Idee. Nicht den Schuh; das meine ich nicht. Der Schuh war damit verknüpft, aber anders. Meine wirkliche Idee war in diesem Augenblick jedoch eine sonderbare Erkenntnis: dass John Coffey und Melinda Moores, so unterschiedlich sie auch in Größe und Geschlecht und Hautfarbe waren, genau die gleichen Augen hatten: kummervoll, traurig, den Blick wie in die Ferne gerichtet. Sterbende Augen.

»Komm ins Bett«, sagte meine Frau schließlich. »Komm mit mir ins Bett, Paul.« Das tat ich dann, und wir liebten uns, und als es vorüber war, schlief sie ein. Als ich dort lag und das Grinsen des Mondes beobachtete, dachte ich an John Coffeys Worte, dass er geholfen hatte. Ich habe Dels Maus geholfen. Ich habe Mr. Jingles geholfen. Er ist eine Zirkusmaus. Klar.

Und vielleicht, sagte ich mir, sind wir alle Zirkusmäuse, die herumlaufen und nicht ahnen, dass Gott und all seine himmlischen Heerscharen uns durch unsere Plexiglasfenster in unseren Bakelit-Häusern beobachten. Ich schlief ein wenig, als der Tag heller wurde - zwei Stunden, schätze ich, vielleicht auch drei; und ich schlief, wie ich heute hier in Georgia Pines immer schlafe und damals kaum jemals - mit kleinen Träumen. Ich schlief mit Gedanken an die Kirchen meiner Jugend ein. Die Namen wechselten je nach den Launen meiner Mutter und Schwestern, aber in Wirklichkeit waren sie alle dieselbe, alle die >Erste Provinz-Kirche. Gelobt Sei Jesus, Der Herr Ist Allmächtig. Im Schatten dieser Kirchtürme tauchte der Gedanke an Buße so regelmäßig auf wie das Läuten der Glocke, die den Gläubigen zum Gottesdienst ruft. Nur Gott konnte Sünden vergeben, konnte und tat es, wusch sie fort mit dem Blut seines gekreuzigten Sohnes, aber veränderte nicht die Verpflichtung seiner Kinder, für diese Sünden zu büßen (und sogar für ihre einfachen Fehltritte), wann immer es möglich war. Buße war stark; sie war der Riegel der Tür, die man vor der Vergangenheit schloss. Ich schlief ein und dachte an Buße, an Eduard Delacroix in Flammen, während er auf dem Blitz ritt, an Melinda Moores und meinen großen Jungen mit den endlos weinenden Augen. Diese Gedanken bahnten sich ihren Weg in einen Traum. Darin saß John Coffey an einem Flussufer und schrie seine unverständliche Mondkalb Trauer hinauf in den Himmel des frühen Sommers, während auf dem anderen Ufer ein Güterzug scheinbar endlos über eine rostige Brücke fuhr, die den Trapingus River überspannte. Auf jedem Arm hielt der Schwarze die Leiche eines nackten blonden Mädchens im Kindesalter. Seine Hände, wie riesige braune Felsen an den Enden dieser Arme, waren zu Fäusten geballt. Um ihn herum zirpten Grillen, flogen Insekten. Der Tag war heiß. In meinem Traum ging ich zu dem Schwarzen, kniete mich vor ihn hin und ergriff seine Hände. Seine Fäuste öffneten sich und zeigten ihre Geheimnisse. In einer Hand war eine grün und rot und gelb gefärbte Garnspule. In der anderen war ein Schuh eines Gefängniswärters.

»Ich konnte nichts dafür«, sagte John Coffey. »Ich versuchte, es ungeschehen zu machen, aber es war zu spät« Und diesmal, in meinem Traum, verstand ich ihn.

8

Am Morgen um neun Uhr, während ich meine dritte Tasse Kaffee auf der Veranda trank (meine Frau

sagte nichts, aber ich sah ihr Missbilligung an, als sie mir die dritte Tasse Kaffee brachte), klingelte

das Telefon. Ich ging in die Diele und nahm den Hörer ab. Die Frau von der Vermittlung sagte gerade

jemandem, dass er in der Leitung bleiben sollte. Dann wünschte sie mir einen wunderschönen Tag

und schaltete sich aus der Leitung ... vermutlich. Bei Telefonistinnen in der Vermittlung konnte man

nie ganz sicher sein.

Hal Moores' Stimme erschütterte mich. Sie klang zitternd und krächzend wie die eines Achtzigjährigen.

Mir kam in den Sinn, dass die Dinge in der vergangenen Nacht im Tunnel zum Glück mit Curtis

Anderson klargegangen waren, dass er genauso über Percy dachte wie wir, denn der Mann, mit dem

ich am Telefon sprach, würde höchstwahrscheinlich nie wieder einen Tag im Gefängnis Cold Mountain

arbeiten.

»Paul, ich hörte, dass es gestern Nacht Probleme gab. Ich erfuhr ebenfalls, dass unser Freund

Mr. Wetmore daran beteiligt war.«

»Kleine Schwierigkeiten«, gab ich zu, drückte den Hörer fester ans Ohr und beugte mich näher an die

Sprechmuschel. »Aber der Job wurde erledigt. Das ist das Wichtige.«

»Ja, natürlich.«

»Darf ich fragen, wer es Ihnen erzählt hat?« Damit ich eine Dose an seinen Schwanz binden kann,

dachte ich, aber ich sagte es nicht.

»Sie dürfen fragen, Paul, aber weil es Sie wirklich nichts angeht werde ich meinen Mund halten. Als

ich bei meinem Büro angerufen habe, um festzustellen, ob es irgendwelche Post oder dringende

Arbeit gibt, hat man mir etwas Interessantes erzählt«

»So?«

»Ja, anscheinend ist ein Versetzungsgesuch in meinem Postkörbchen gelandet. Percy Wetmore will so

bald wie möglich nach Briar Ridge gehen. Er muss das Versetzungsgesuch noch während der

Nachtschicht geschrieben haben, meinen Sie nicht auch?«

»So klingt es«, pflichtete ich bei.

»Normalerweise lasse ich so etwas von Curtis erledigen, aber angesichts der ... Atmosphäre in Block E

in der jüngsten Zeit bat ich Hannah, es mir in der Mittagspause vorbeizubringen. Sie war so nett und

will das tun.

Ich werde das Gesuch genehmigen und noch heute Nachmittag in die Hauptstadt schicken. Ich denke,

es wird nicht länger als einen Monat dauern, bis Sie Percy zum letzten Mal sehen - von hinten, wenn

er geht. Vielleicht dauert es nicht mal einen Monat.«

Der Direktor erwartete von mir Freude über diese Nachricht und er hatte ein Recht darauf. Er hatte

Zeit von der Pflege seiner Frau abgezweigt um eine Sache zu erledigen, die sonst vielleicht bis zu

einem halben Jahr gedauert hätte, selbst bei Percys Beziehungen.

Dennoch rutschte mein Herz in die Hose. Einen Monat! Aber vielleicht machte das so oder so nicht viel

aus. Es räumte den völlig natürlichen Wunsch aus dem Wege, zu warten und eine riskante

Unternehmung aufzuschieben, und das, woran ich jetzt dachte, war wirklich riskant. Manchmal ist es

besser in so einem Fall, ins kalte Wasser zu springen, bevor man den Mut verliert.

Wenn wir mit Percy fertig werden mussten (immer vorausgesetzt ich konnte die anderen dazu

bringen, bei meinem Wahnsinn mitzumachen - mit anderen Worten, immer vorausgesetzt dass es ein

Wir gab), konnte es genauso gut heute Nacht sein.

»Paul? Sind Sie noch da?« Moores sprach mit gesenkter Stimme, als glaubte er, jetzt mit sich selbst zu

reden. »Verdammt ich glaube, die Verbindung ist unterbrochen.«

»Nein, ich bin noch dran, Hal. Das ist eine großartige Nachricht«

»Ja«, stimmte er zu, und ich dachte wieder betroffen, wie alt er klang. Irgendwie dünn und schwach.

»Oh, ich weiß, was Sie denken.«

Nein, Direktor, das weißt du nicht, dachte ich. Nie in Millionen Jahren kannst du wissen, was ich

denke.

»Sie denken, dass unser junger Freund noch bei der Hinrichtung von Coffey da sein wird. Das stimmt

vielleicht - Coffey wird vor dem Thanks-giving Day dran sein, denke ich -, aber sie können Wetmore

wieder in den Schaltraum schicken. Keiner wird etwas dagegen haben. Er auch nicht, sollte man

annehmen.«

»Das werde ich tun«, sagte ich. »Hal, wie geht es Melinda?«

Es folgte eine lange Pause - so lang, dass ich hätte annehmen können, ich hätte ihn aus der Leitung

verloren, wenn ich nicht sein Atmen gehört hätte. Als er wieder sprach, war es viel leiser.

»Es geht mit ihr bergab.«

Bergab. Dieses Wort benutzten die Alten nicht um eine sterbende Person zu beschreiben, sondern

eine, die sich vom Leben loszulösen beginnt »Die Kopfschmerzen sind wohl ein bisschen besser ... im

Moment jedenfalls ..., aber sie kann nicht ohne Hilfe gehen, kann nichts mit den Händen greifen und

halten und verliert die Kontrolle über ihre Blase, während sie schläft ...« Es folgte wieder eine Pause,

und dann sagte Hal mit noch leiserer Stimme etwas, das ich nicht verstand, das aber wie »Sie sucht«

klang.

»Was sucht sie, Hal?« fragte ich und runzelte die Stirn. Meine Frau war auf der Türschwelle zur Diele

aufgetaucht. Sie trocknete die Hände mit einem Geschirrtuch ab und sah mich an.

»Nein«, sagte Hal Moores mit einer Stimme, die zwischen Ärger und Tränen schwankte. »Sie flucht«.

»Oh.« Ich wusste immer noch nicht was er meinte, aber ich wollte nicht näher darauf eingehen.

Das brauchte ich auch nicht, denn er erklärte es von sich aus.

»Sie ist gerade noch in Ordnung, völlig normal, redet über ihren Blumengarten oder ein Kleid, das sie

im Katalog sah, oder erzählt vielleicht wie sie Roosevelt im Radio hörte und wie wunderbar er klang,

und plötzlich, wie aus heiterem Himmel, sagt sie die schrecklichsten Dinge, die scheußlichsten ...

Wörter. Sie hebt nicht die Stimme. Ich denke, es wäre fast besser, wenn sie das täte, denn dann ...

Verstehen Sie, dann ..

»Dann würde sie nicht wie sie selbst klingen.«

»Genau das meine ich«, sagte er dankbar. »Aber sie in dieser schrecklichen Gossensprache mit

ihrer süßen Stimme zu hören . .. Entschuldigen sie, Paul.«

Seine Stimme brach, und ich hörte, wie er sich räusperte. Dann sprach er weiter, mit etwas festerer

Stimme, jedoch ebenso unglücklich. »Sie will, dass Pastor Donaldson rüberkommt, und ich weiß, dass

er ein Trost für sie wäre, aber wie kann ich ihn um einen Besuch bitten? Angenommen, er sitzt bei ihr,

liest aus der Bibel, und sie beschimpft ihn mit einem obszönen Wort? Das könnte passieren. Sie tat es

gestern Abend bei mir. Sie sagte: »Gibst du mir bitte das Liberty Magazin, du Arschficker?< Paul, wo

kann sie solche Ausdrücke gehört haben? Wie kann sie diese Wörter kennen?«

»Ich weiß es nicht Hal, werden Sie heute Abend zu Hause sein?«

Wenn es ihm gut ging und er sich unter Kontrolle hatte, nicht von Sorgen oder Kummer gequält

wurde, hatte Hal Moores einen scharfen und sarkastischen Humor; seine Untergebenen fürchteten

diese Seite von ihm sogar mehr als seinen Zorn oder seine Verachtung, glaube ich. Sein Sarkasmus,

für gewöhnlich ungeduldig und oftmals schroff, konnte brennen wie Säure. Ein wenig davon spritzte

jetzt auf mich. Es war unerwartet, aber im großen und ganzen freute ich mich darüber. Anscheinend

hatte ihn doch nicht aller Mut verlassen.

»Nein, ich werde nicht zu Hause sein«, sagte er. »Ich führe Melinda zum Tanz aus, wir legen eine

flotte Sohle beim Square Dance aufs Parkett und sagen dann dem Geiger, dass er ein Wichser und

Hühnerficker ist«

Ich schlug die Hand vor den Mund, um nicht zu lachen. Glücklicherweise ging der Lachreiz schnell

vorüber.

»Entschuldigung«, sagte Hal. »Ich habe in letzter Zeit nicht viel geschlafen. Das macht mich grantig.

Natürlich sind wir zu Hause. Warum fragen Sie?«

»Ich nehme an, es spielt keine Rolle«, sagte ich.

»Sie dachten doch nicht daran, vorbeizukommen, oder? Denn wenn Sie gestern Nacht Dienst hatten,

dann haben Sie heute Abend Dienst. Oder haben Sie mit jemandem getauscht?«

»Nein, ich habe nicht getauscht«, sagte ich. »Ich habe heute Abend Dienst«

»Es wäre ohnehin keine gute Idee bei Melindas Verfassung.«

»Vielleicht nicht. Danke für Ihre Neuigkeiten.«

»Gern geschehen. Beten Sie für meine Melinda, Paul.«

Ich versprach es und dachte, dass ich vielleicht ein bisschen mehr tun würde als beten. Gott hilft

denjenigen, die sich selbst helfen, wie es in der Kirche »Gelobt Sei Jesus, Der Herr Ist Allmächtig«

heißt Ich hängte den Hörer ein und schaute Janice an.

»Wie geht's Melly?« fragte sie.

»Nicht gut« Ich erzählte ihr, was Hal mir gesagt hatte, einschließlich ihres Fluchens, wobei ich jedoch

die Kraftausdrücke wegließ. Ich schloss mit Hals Wort bergab, und Janice nickte traurig.

Dann musterte sie mich genauer.

»Wie denkst du darüber? Du denkst irgend etwas, vielleicht nichts Gutes. Ich sehe es dir an.«

Lügen kam nicht in Frage; so gingen wir nicht miteinander um. Ich sagte ihr nur, es sei das beste, sie

wisse es nicht, jedenfalls im Augenblick.

»Ist es ... kann es dich in Schwierigkeiten bringen?« Sie klang nicht alarmiert - mehr interessiert -,

was eines der Dinge ist die ich immer an ihr geliebt habe.

»Vielleicht«, sagte ich.

»Ist es eine gute Sache?«

»Vielleicht«, wiederholte ich. Ich hatte immer noch die Hand auf dem Telefonhörer.

»Möchtest du, dass ich dich allein lasse, während du telefonierst?« fragte sie. »Dass ich ein gutes

Frauchen bin und abwasche oder bügele?«

Ich nickte. »So würde ich es nicht formulieren, aber...«

»Haben wir Gäste beim Mittagessen, Paul?« »Ich hoffe es«, sagte ich.

9

Ich erwischte Brutal und Dean sofort, denn beide hatten Telefon. Harry hatte keins, damals jedenfalls nicht, aber ich kannte die Telefonnummer von seinem nächsten Nachbarn. Harry rief zwanzig Minuten später zurück sehr verlegen, weil es ein R-Gespräch war, und mit dem Versprechen, seinen Anteil zu zahlen, wenn unsere nächste Telefonrechnung kam. Ich sagte ihm, dass wir diese Eier zählen würden, wenn sie gelegt waren, und fragte ihn, ob er zum Mittagessen rüberkommen konnte. Brutal und Dean würden hier sein, und Janice hatte versprochen, ihren berühmten Krautsalat zu machen ... ganz zu schweigen von ihrem noch berühmteren Apfelkuchen. »Ein Mittagessen, einfach so?« Harry klang skeptisch.

Ich gab zu, dass ich etwas mit ihnen besprechen wollte, über das man am Telefon nicht reden konnte. Harry stimmte zu. Ich hängte den Hörer ein, ging zum Fenster und schaute nachdenklich hinaus. Obwohl wir die Spätschicht hatten, waren durch meine Anrufe weder Brutal noch Dean geweckt worden, und Harry hatte ebenfalls nicht geklungen, als wäre er eben erst aus dem Traumland gekommen. Anscheinend hatte nicht nur ich Probleme mit den Ereignissen der letzten Nacht, und angesichts der Verrücktheit, die ich im Sinn hatte, war das vielleicht gut.

Brutal, der am nächsten bei mir wohnte, traf um Viertel nach elf ein. Dean tauchte eine Viertelstunde später auf, und Harry - schon in Dienstkleidung - kam ungefähr fünfzehn Minuten nach Dean. Janice servierte uns in der Küche Roastbeef-Sandwiches, Krautsalat und Eistee. Noch vor einem Tag hätten wir auf der Veranda gegessen und wären froh über eine Brise gewesen, doch seit dem Gewitter war die Temperatur um gut fünfzehn Grad gefallen, und ein scharfer kühler Wind wehte von den Hügeln. »Du kannst dich gern zu uns setzen«, sagte ich zu meiner Frau.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bezweifle, dass ich wissen will, was ihr ausheckt - ich werde mir weniger

Sorgen machen, wenn ich nichts darüber weiß. Ich werde im Wohnzimmer essen. Ich habe diese

Woche Besuch von Miss Jane Austen, und sie ist eine sehr gute Gesellschaft.«

»Wer ist Jane Austen?« fragte Harry, als Janice fort war. »Eine Cousine? Von dir oder von Janice? Ist

sie hübsch?«

»Sie ist eine Schriftstellerin, du Blödmann«, sagte Brutal. »Die ist tot, praktisch seit Betsy Ross die

Sterne an die erste Flagge heftete.«

»Oh.« Harry wirkte verlegen. »Ich bin kein großer Leser. Ich lese hauptsächlich das Radioprogramm.«

»Was hast du vor, Paul?« fragte Dean.

»Fangen wir mit John Coffey und Mr. Jingles an.« Sie blickten mich überrascht an, was ich erwartet

hatte - sie hatten gedacht, ich wollte mit ihnen entweder über Delacroix oder Percy reden. Vielleicht

über beide. Ich schaute Dean und Harry an. »Die Sache mit Mr. Jingles - was Coffey getan hat -

geschah ziemlich schnell. Ich weiß nicht, ob ihr rechtzeitig da wart, um zu sehen, wie kaputt die Maus

war.«

Dean schüttelte den Kopf. »Aber ich habe das Blut auf dem Boden gesehen.«

Ich wandte mich an Brutal.

»Dieser Hurensohn Percy hat sie zerstampft«, sagte er. »Sie hätte tot sein müssen, aber sie starb

nicht. Coffey machte etwas mit ihr. Heilte sie irgendwie. Ich weiß, wie das klingt, aber ich sah es mit

eigenen Augen.«

Ich sagte: »Er heilte mich ebenfalls, und ich sah es nicht nur, ich spürte es.« Ich erzählte ihnen von

meiner Blaseninfektion - wie sie wieder aufgetreten und wie schlimm sie gewesen war (ich wies aus

dem Fenster zu dem Holzstapel, an dem ich mich an jenem Morgen festhalten musste, als der

Schmerz mich auf die Knie trieb) und wie sie völlig verschwunden war, nachdem Coffey mich berührt

hatte.

Als ich fertig erzählt hatte, saßen sie da und dachten eine Weile darüber nach, wobei sie ihre

Sandwiches verzehrten.

Dann sagte Dean: »Schwarze Dinger wie Insekten kamen aus seinem Mund.«

»Das stimmt«, bestätigte Harry. »Sie waren zuerst schwarz. Dann wurden sie weiß und

verschwanden.« Er blickte nachdenklich vor sich hin. »Ich war verdammt nahe daran, die ganze Sache

zu vergessen, bis du sie zur Sprache gebracht hast, Paul. Ist das nicht komisch?«

»Nichts daran ist komisch«, sagte Brutal. »Ich denke, das tun die Leute immer bei Sachen, die sie

nicht verstehen können - sie vergessen sie einfach. Es ist nicht sehr gut für die Leute, sich an etwas

zu erinnern, das keinen Sinn ergibt. Wie war es bei dir, Paul? Waren da Insekten, als er dich heilte?«

»Ja. Ich denke, sie waren die Krankheit ... die Qual... der Schmerz. Er nahm es in sich auf und entließ

es wieder in die Luft.«

»Wo es starb«, sagte Harry.

Ich zuckte die Achseln. Ich wusste nicht, ob es starb oder nicht, war mir nicht sicher, ob das

überhaupt eine Rolle spielte. »Hat er es aus dir herausgesaugt?« fragte Brutal. »Es sah aus, als hätte

er es aus der Maus gesaugt. Den Schmerz. Den ... du weißt schon. Den Tod.«

»Nein«, sagte ich. »Er hat mich nur berührt. Und ich habe es gespürt. Eine Art Schlag wie von

Elektrizität, nur nicht schmerzhaft. Aber ich lag nicht im Sterben, ich war nur krank«

Brutal nickte. »Die Berührung und der Atem. Wie man es von diesen Gospelsängern hört«

»Gelobt sei Jesus, der Herr ist allmächtig«, sagte ich.

»Ich weiß nicht, ob Jesus darin vorkommt«, sagte Brutal. »Aber mir scheint John Coffey ist ein

mächtiger Mann.«

»Also gut«, sagte Dean. »Wenn ihr sagt dass all dies geschehen ist glaube ich es. Gott bewirkt auf

geheimnisvolle Weise seine Wunder. Aber was hat das alles mit uns zu tun?«

Nun, das war die große Frage, nicht wahr? Ich holte tief Luft und erzählte ihnen, was ich vorhatte. Sie

hörten verblüfft zu. Sogar Brutal, der gern diese Schmöker mit den Geschichten über grüne Männchen

aus dem Weltraum liest wirkte baff. Als ich diesmal zu Ende erzählt hatte, war das Schweigen länger,

und keiner kaute mehr auf den Sandwiches herum.

Schließlich sagte Brutus Howell in ruhigem, sachlichem Tonfall: »Wir würden unsere Jobs

verlieren, wenn wir erwischt werden, Paul, und wir kannten uns verdammt glücklich preisen, wenn das

alles ist was passiert. Wir könnten in Block A als Gäste des Staates enden, Brieftaschen nähen und

paarweise duschen.«

»Ja«, sagte ich. »Das könnte passieren.«

»Ich kann deine Gefühle ein wenig verstehen«, fuhr Brutal fort »Du kennst Moores besser, als wir ihn

kennen - er ist nicht nur der Boss, sondern auch dein Freund -, und ich weiß, dass du viel an

seine Frau denkst...«

«Sie ist die netteste Frau, die du dir vorstellen kannst«, sagte ich, »und sie bedeutet für ihn die Welt«

»Aber wir kennen sie nicht so gut wie du und Janice«, sagte Brutal.

»Das musst du zugeben, Paul.«

»Du würdest sie mögen, wenn du sie kennst«, sagte ich. »Jedenfalls, wenn du sie kennen gelernt

hättest bevor sie krank wurde. Sie tut vieles für die Gemeinde, sie ist eine gute Freundin, und sie ist

religiös. Mehr noch, sie ist lustig. War es jedenfalls. MC konnte Dinge erzählen, bei denen man lachte,

und einem die Tränen kamen. Aber keiner dieser Punkte ist der Grund, weshalb ich helfen will, sie zu

retten, wenn sie gerettet werden kann. Was mit ihr passiert ist eine Beleidigung, gottverdammt, eine

Beleidigung. Der Augen, der Ohren und des Herzens.«

»Sehr nobel, aber ich bezweifle höllisch, dass du deshalb diesen Fimmel hast«, sagte Brutal. »Ich

nehme an, es hat was mit dem zu tun, was mit Del passierte. Du willst es irgendwie ausgleichen.«

Und er hatte recht. Natürlich hatte er recht. Ich kannte Melinda besser, als sie sie kannten, aber

letzten Endes vielleicht nicht gut genug, um die Jungs zu bitten, ihre Jobs für sie aufs Spiel zu setzen

... und möglicherweise sogar ihre Freiheit oder, was das anbetraf, meinen eigenen Job und meine

Freiheit aufs Spiel zu setzen. Ich hatte zwei erwachsene Kinder, und ich wollte natürlich nicht, dass

meine Frau ihnen schreiben musste, dass ihrem Vater der Prozess gemacht und er verurteilt wurde als

... nun, was würde das sein? Ich wusste es nicht mit Sicherheit. Anstiftung und Beihilfe zu einem

Fluchtversuch war das Wahrscheinlichste.

Aber der Tod von Eduard Delacroix war das Widerlichste, Übelste, das ich je in meinem Leben erlebt

hatte - nicht nur in meinem Berufsleben, sondern im ganzen Leben -, und ich war daran beteiligt

gewesen. Wir alle hatten daran teilgenommen, denn wir hatten zugelassen, dass Percy Wetmore

blieb, obwohl wir wussten, dass er schrecklich untauglich für die Arbeit in Block E war.

Wir hatten mitgespielt. Sogar Direktor Moores war beteiligt gewesen.

»Seine Eier werden braten, ob Wetmore dabei ist oder nicht« So oder ähnlich hatte er es formuliert,

und vielleicht war das gut genug, wenn man bedachte, was der kleine Franzose getan hatte, aber am

Ende hatte Percy viel mehr getan, als Dels Eier zu braten; er hatte dem kleinen Mann die Augäpfel aus

den Höhlen geblasen und ihm das Gesicht verbrannt. Und warum? Weil Del ein mehrfacher Mörder

war? Nein. Weil sich Percy in die Hosen gemacht hatte und der kleine Cajun so frech gewesen war,

ihn auszulachen. Wir waren an einer ungeheuerlichen Tat beteiligt gewesen, und Percy kam

ungestraft davon. Er würde nach Briar Ridge gehen, glücklich wie eine Muschel bei Flut und dort

würde er eine ganze Anstalt voller Irren haben, an denen er seine Grausamkeiten begehen konnte.

Daran konnten wir nichts ändern, aber vielleicht war es noch nicht zu spät um etwas von dem Dreck

an unseren eigenen Händen abzuwaschen.

»In meiner Kirche nennt man es Buße, nicht Ausgleich«, sagte ich, »aber ich nehme an, es läuft ur

das gleiche hinaus.«

»Denkst du wirklich, Coffey könnte sie retten?« fragte Dean. »Einfach ... diesen Gehirntumor aus

Ihrem Kopf... saugen? Als wäre es ein ... Pfirsichkern?«

»Ich denke, er kann das. Es ist natürlich nicht sicher, aber nach dem, was er bei mir getan hat... und

Mr. Jingles ...«

»Diese Maus war regelrecht zerstampft«, sagte

Brutal.

»Aber würde er es tun?« überlegte Harry.

»Wenn er das kann, wird er es tun«, sagte ich.

»Warum? Coffey kennt sie nicht einmal!«

»Weil es seine Art ist. Weil Gott ihn dafür erschaffen hat.«

Brutal machte eine Schau daraus, in die Runde zu blicken und uns alle daran zu erinnern, dass jemand

fehlte. »Und was ist mit Percy? Meinst du, der würde das einfach durchgehen lassen?« fragte er, und

so erzählte ich ihm, was ich mit Percy im Sinn hatte. Als ich fertig war, starrten Harry und Dean mich

verblüfft an, und ein bewunderndes Grinsen stahl sich in Brutals Gesicht

»Ziemlich verwegen, Bruder Paul!« sagte er. »Es Verschlagt mir den Atem!«

»Aber das wäre der Hammer!« Dean flüsterte fast, und dann lachte er laut und klatschte in die Hände

wie ein Kind. Sie werden sich daran erinnern, dass Dean ein besonderes Interesse an dem Teil meines

Plans hatte, der Percy betraf - Percy hatte schließlich tatenlos zugesehen, als Dean fast umgebracht

worden wäre.

»Ja, aber was kommt danach?« fragte Harry. Er klang verdrossen, doch seine Augen verrieten ihn; sie

glänzten, die Augen eines Mannes, der überzeugt werden will. »Was dann?«

»Es heißt, Tote reden nicht«, sagte Brutal, und ich blickte schnell zu ihm, um mich zu vergewissern,

dass er scherzte.

»Ich denke, er wird den Mund halten«, sagte ich.

»Tatsächlich?« Dean blickte skeptisch drein. Er nahm seine Brille ab und begann die Gläser zu

polieren. »Davon musst du mich überzeugen.«

»Erstens wird er nicht wissen, was wirklich geschah - er ist auf sein eigenes Urteil angewiesen und

wird denken, es wäre nur ein Streich. Zweitens - und noch wichtiger -, er wird Angst haben, etwas zu

sagen. Darauf zähle ich wirklich. Wir sagen ihm, wenn er Briefe schreibt oder telefoniert, dann

schreiben wir auch Briefe und telefonieren.«

»Über die Hinrichtung«, sagte Harry.

»Und über seine Untätigkeit, als Dean von Wharton angegriffen wurde«, sagte Brutal. »Ich denke,

Percy Wetmore hat wirklich Angst, dass Leute das erfahren.« Er nickte langsam und nachdenklich. »Es

könnte klappen. Aber, Paul... würde es nicht vernünftiger sein, Mrs. Moores zu Coffey zu bringen

anstatt Coffey zu Mrs. Moores? Wir würden uns sehr gut um Percy kümmern, wie du es geplant hast,

und sie durch den Tunnel hereinbringen anstatt Coffey auf diesem Weg hinaus.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich. Völlig ausgeschlossen.«

»Wegen Direktor Moores?«

»Genau richtig. Er ist so stur, dass der Ungläubige Thomas dagegen wie Johanna von Orleans

aussieht. Wenn wir Coffey in sein Haus bringen, können wir ihn überraschen, und er lässt Coffey

wenigstens einen Versuch machen. Aber sonst...«

»Was benutzen wir als Fahrzeug?« fragte Brutal.

»Ich dachte zuerst an die Postkutsche«, sagte ich.

»Aber ich nehme an, wir bekommen den Gefangenentransporter nicht unbemerkt vom Hof, und jeder

im Umkreis von zwanzig Meilen weiß, wie er aussieht. Vielleicht können wir meinen Ford nehmen.«

»Wieder ein Vielleicht«, sagte Dean und setzte »eine Brille auf die Nase. »Du kannst Coffey nicht in

deinen Wagen bekommen, nicht mal nackt, wenn du ihn mit Schmalz bestreichst und einen

Schuhlöffel benutzt. Du hast ihn so oft gesehen, dass du vergessen hast wie groß er ist«

Darauf hatte ich keine Antwort. Ich hatte mich an diesem Morgen hauptsächlich auf das Problem

Percy konzentriert - und auf das geringere, aber nicht unerhebliche Problem Wild Bill Wharton.

Jetzt wurde mir klar, dass der Transport nicht so einfach sein würde, wie ich gehofft hatte.

Harry Terwilliger nahm den Rest seines zweiten Sandwiches, schaute kurz darauf und legte es wieder

hin. »Wenn wir wirklich diese verrückte Sache durchziehen«, sagte er, »könnten wir meinen Pickup

Truck benutzen. Coffey hinten draufsetzen. Zu dieser Uhrzeit werden nicht viele Leute auf

den Straßen sein. Wir reden von weit nach Mitternacht, nicht wahr?« »Ja«, sagte ich.

»Ihr Jungs vergesst eines«, sagte Dean. »Ich weiß, dass Coffey ziemlich ruhig war, seit er zum Block

kam, und meistens auf seiner Pritsche lag und heulte, aber er ist ein Mörder. Und er ist riesig. Wenn

er sich entschließt, aus Harrys Truck zu türmen, können wir ihn nur stoppen, indem wir ihn

erschießen. Und bei einem solchen Riesen ist das gar nicht so leicht. Angenommen, wir können ihn

nicht an einer Flucht hindern? Und angenommen, er bringt noch jemanden um? Ich verliere ungern

meinen Job und gehe ungern in den Knast, als Gefangener, meine ich - ich muss eine Frau und Kinder

ernähren -, aber ich habe ebenso ungern den Tod eines kleinen Mädchens auf dem Gewissen.«

»Das wird nicht passieren«, sagte ich.

»Wie kannst du da so sicher sein?«

Ich gab keine Antwort

Ich wusste einfach nicht wie ich anfangen sollte. Mir war natürlich klar gewesen, dass dies zur

Sprache kommen würde, aber ich wusste immer noch nicht wie ich ihnen erzählen sollte, was ich

wusste. Brutal half mir.

»Du glaubst nicht dass er es getan hat Paul?« Er schaute mich ungläubig an. »Du hältst diesen

großen Einfaltspinsel für unschuldig.«

»Ich bin mir ganz sicher, dass er unschuldig ist«, sagte ich.

»Wie kannst du das sein?«

»Aus zweierlei Gründen«, sagte ich. »Einer ist mein Schuh.« Ich neigte mich vor und begann zu

erzählen.

Teil 5

Reise in die Nacht

Mr. H. G. Wells schrieb einst eine Geschichte über einen Mann, der eine Zeitmaschine erfand, und ich

habe beim Schreiben dieser Erinnerungen entdeckt, dass ich meine eigene Zeitmaschine erschaffen

habe. Im Gegensatz zu Wells kann meine jedoch nur in die Vergangenheit reisen - zurück ins Jahr

1932, um genau zu sein, als ich Chefwärter in Block E des Staatsgefängnisses Cold Mountain war -,

aber trotzdem ist sie unheimlich wirkungsvoll für all das. Diese Zeitmaschine erinnert mich an den

alten Ford, den ich in jenen Tagen fuhr; man konnte sicher sein, dass er schließlich starten würde,

aber man wusste nie, ob ein Drehen des Schlüssels genügte, um den Motor anzulassen, oder ob man

aussteigen und kurbeln musste, bis einem praktisch der Arm abfiel.

Ich hatte viele leichte Starts, seit ich damit begann, die Geschichte von John Coffey zu erzählen, aber

gestern musste ich kurbeln. Ich nehme an, das lag daran, dass ich bei Delacroix' Hinrichtung

angelangt war und ein Teil meines Verstandes das nicht noch einmal durchleben wollte. Es war ein

schlimmer Tod, ein schrecklicher Tod, der wegen Percy Wetmore so geschah, wie er geschah.

Percy, ein junger Mann, der gern sein Haar kämmte, es jedoch nicht ertragen konnte, ausgelacht zu

werden, nicht einmal von einem fast kahlköpfigen kleinen Franzosen, der das nächste Weihnachtsfest

nicht erleben würde.

Wie bei den meisten unangenehmen Aufgaben liegt der härteste Teil beim Start. Es spielt keine Rolle

für einen Motor, ob man den Schlüssel benutzt oder die Kurbel; wenn man ihn erst einmal angelassen

hat, läuft er so oder so wie am Schnürchen. So war es gestern bei mir. Zuerst kamen die Wörter in

kleinen Schüben, dann in ganzen Sätzen, dann in einem Sturzbach. Das Schreiben ist eine besondere

und ziemlich furchterregende Form der Erinnerung, wie ich festgestellt habe - es hat etwas Totales,

das beinahe an Vergewaltigung grenzt. Vielleicht empfinde ich das nur so, weil ich ein sehr alter Mann

geworden bin (was hinter meinem Rücken passierte, wie ich manchmal denke), aber ich bezweifle

das. Ich glaube, die Kombination von Bleistift und Erinnerung schafft eine Art praktischen Zauber, und

Zauber ist gefährlich. Als jemand, der John Coffey kannte und sah, was er bewirken konnte - bei

Mäusen und Menschen -, fühle ich mich sehr berufen, das zu sagen.

Zauberei ist gefährlich.

Jedenfalls schrieb ich gestern den ganzen Tag, die Worte fluteten einfach aus mir heraus, das

Solarium dieses hochgejubelten Altenheims wurde durch den Lagerraum am Ende der Green Mile

ersetzt, wo so viele meiner Problemkinder auf dem elektrischen Stuhl Platz nahmen, und durch die

Treppe, die in den Tunnel unter der Straße führt. Dort konfrontierten Dean und Harry und Brutal und

ich Percy Wetmore angesichts Eduard Delacroix' rauchender Leiche, und wir ließen Percy sein

Versprechen erneuern, sich nach Briar Ridge zur staatlichen Nervenheilanstalt versetzen zu lassen.

Es gibt immer frische Blumen im Solarium, aber gestern am Mittag roch ich nicht ihren Duft,

sondern den Gestank des verbrannten Fleischs des Toten.

Das Geräusch des Rasenmähers unterhalb des Fensters wurde zum dumpfen Klatschen von Wasser,

das durch die gewölbte Decke des Tunnels tropfte. Der Ausflug begann. Ich war mit Seele und

Verstand, wenn auch nicht mit dem Körper, ins Jahr 1932 zurückgereist.

Ich ließ das Mittagessen ausfallen, schrieb bis ungefähr sechzehn Uhr, und als ich den Bleistift

hinlegte, schmerzte meine Hand. Ich ging langsam hinab zum Ende des Flurs im ersten Stock. Dort

gibt es ein Fenster, das auf den Parkplatz der Angestellten blickt. Brad Dolan, der Pfleger, der mich an

Percy erinnert - und der stets zu neugierig ist wo ich hingehe und was ich auf meinen Spaziergängen

mache -, fährt einen alten Chevrolet mit einem Aufkleber ICH HABE GOTT GESEHEN, UND SEIN NAME

WAR NEWT. Der Wagen war weg; Brads Schicht war vorüber, und er war zu dem Kaff gefahren, wo

er zu Hause ist. Ich stelle mir einen Wohnwagen mit .Hustler-Faltblättern an den Wänden und

Dixie-Bierdosen in den Ecken vor.

Ich ging durch die Küche hinaus, in der das Abendessen vorbereitet wurde. »Was haben Sie in dieser

Tragetasche, Mr. Edgecombe?« fragte mich Norton.

»Eine leere Flasche«, sagte ich. »Ich habe entdeckt, dass die Quelle der Jugend dort unten in den

Wäldern ist. Ich gehe jeden Nachmittag um diese Zeit dorthin und hole mir ein bisschen Quellwasser.

Ich trinke es vor dem Schlafen. Guter Stoff, das kann ich Ihnen sagen.«

»Möge es Sie jung halten«, sagte George, der andere Koch, »aber schöner werden Sie davon auch

nicht.«

Wir alle kicherten darüber, und ich ging hinaus. Ich ertappte mich dabei, dass ich nach Brad Dolan

Ausschau hielt, obwohl sein Wagen weg war. Ich schalt mich Blödmann, weil er mir so unter die Haut

ging, und überquerte das Krocketfeld.

Jenseits davon ist ein dürftiges, kleines Putting Green, das in den Werbebroschüren von Georgia Pines

viel schöner aussieht, und dahinter windet sich ein Pfad in das Wäldchen östlich des Pflegeheims. An

diesem Pfad stehen ein paar alte Schuppen, von denen heute keiner mehr benutzt wird. Ich ging in

den zweiten Schuppen, der nahe an der hohen Mauer zwischen dem Gelände von Georgia Pines und

dem Georgia Highway 47 steht, und blieb dort für eine Weile.

An diesem Abend aß ich gut, hockte ein wenig vor dem Fernseher und ging früh zu Bett. In vielen

Nächten wache ich auf und schleiche mich hinunter in den Fernsehraum, wo ich alte Filme auf dem

American Movie Channel anschaue. In der vergangenen Nacht jedoch nicht; gestern Nacht schlief ich

wie ein Stein und ohne die Träume, die mich verfolgt haben, seit ich meine Abenteuer in Literatur

angefangen habe. All das gestrige Schreiben musste mich erschöpft haben. Ich bin nicht mehr der

Jüngste, wissen Sie.

Als ich aufwachte und sah, dass der Fleck Sonnenschein, der für gewöhnlich um sechs Uhr morgens

auf den Boden fällt es den ganzen Weg bis hinauf zum Fuß meines Bettes geschafft hatte, stand ich

rasch auf, so alarmiert, dass ich kaum den arthritischen Schmerz in meinen Hüften und Knien und

Knöcheln bemerkte. Ich zog mich schnell an und eilte in den Flur hinunter zu dem Fenster, durch das

man den Parkplatz der Angestellten überblicken kann. Ich hoffte, dass der Platz, auf dem Dolan

seinen alten Chevrolet parkt noch leer sein würde. Manchmal kommt er bis zu einer halben Stunde zu

spät...

Kein Glück. Der Wagen war da und glänzte rostig in der Morgensonne. Mr. Brad Dolan hatte in der

letzten Zeit einen Grund, pünktlich zu sein, nicht wahr? Ja. Der alte Paulie Edgecombe ging am frühen

Morgen irgendwohin, der alte Paulie Edgecombe tat etwas, und Mr. Brad Dolan wollte herausfinden,

was es war. Was treibst du dort, Paulie? Sag es mir. Er beobachtete mich wahrscheinlich bereits. Es

wäre klug, zu bleiben, wo ich war ..., aber das konnte ich nicht.

»Paul?«

Ich fuhr so schnell herum, dass ich fast fiel. Es war meine Freundin Elaine Connelly. Ihre Augen

weiteten sich, und sie streckte die Hände aus, wie um mich aufzufangen. Zum Glück für sie bewahrte

ich das Gleichgewicht; Elaines Arthritis ist schrecklich, und ich hätte sie vielleicht wie einen trockenen

Stock in zwei Hälften gebrochen, wenn ich in ihre Arme gefallen wäre. Die Romantik stirbt nicht wenn

man in das sonderbare Land geht das jenseits der Achtzig liegt aber sie können den Schwachsinn a la

Vom Winde verweht vergessen.

»Tut mir leid«, sagte Elaine. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Schon gut«, erwiderte ich und schenkte ihr ein schwaches Lächeln. »Das ist ein besseres Aufwachen

als mit kaltem Wasser. Ich sollte dich anheuern, damit du es jeden Morgen machst«

»Du hältst Ausschau nach seinem Wagen, nicht wahr? Dolans Wagen.«

Es hatte keinen Sinn, sie anzulügen, und so nickte ich. »Ich wünsche, ich könnte sicher sein, dass er

drüben im Westflügel ist. Ich möchte mich für eine Weile davonstehlen, aber ich will nicht, dass er

mich sieht«

Sie lächelte - ein Schatten des Lächelns der zauberhaften Fee, die sie als Mädchen gewesen sein

musste. »Er ist ein neugieriger Bastard, nicht wahr?«

»Ja.«

»Er ist aber nicht im Westflügel. Ich war schon unten zum Frühstück, du Schlafmütze, und ich kann

dir sagen, wo er ist, weil ich ihn gesehen habe. Er ist in der Küche.«

Ich schaute sie bestürzt an. Ich hatte gewusst, dass Dolan neugierig war, aber nicht, wie neugierig.

»Kannst du deinen Morgenspaziergang auslassen?« fragte Elaine.

Ich überlegte. »Ich könnte es, nehme ich an, aber...«

»Du solltest es nicht.«

»Richtig. Ich sollte es nicht«

Ich dachte: Jetzt wird sie mich tragen, wohin ich gehe, was ich in dem Wäldchen zu tun habe, das so

verdammt wichtig ist

Aber das tat sie nicht

Statt dessen schenkte sie mir wieder dieses Feen-Lächeln. Es sah seltsam und absolut wundervoll auf

ihrem ausgemergelten, vom Schmerz gezeichneten Gesicht aus. »Kennst du Mr. Howland?« fragte sie.

»Klar«, sagte ich, obwohl ich ihn selten sah; er ist im Westflügel, was in Georgia Pines fast wie im

Nachbarland war. »Warum?«

»Weißt du, was das Besondere an ihm ist?«

Ich schüttelte den Kopf.

«Mr. Howland«, sagte Elaine und lächelte breiter denn je, »ist einer von nur fünf übrig gebliebenen

Bewohnern von Georgia Pines, die Erlaubnis zum Rauchen haben. Weil er schon hier war, bevor die

Vorschriften geändert wurden.«

Eine Opa-Klausel, dachte ich. Und welcher Ort passte besser dafür als ein Altenheim?

Elaine griff in die Tasche ihres blauweiß gestreiften Morgenmantels und zog zweierlei hervor: eine

Zigarette und ein Zündholzbriefchen. »Fuchs, du hast die Gans gestohlen«, sang sie mit trällernder,

lustig klingender Stimme. »Die kleine Ellie wird Pipi ins Bett machen.«

»Elaine, was ...«

»Führe ein altes Mädchen nach unten«, sagte sie, steckte die Zigarette und die Streichhölzer in ihre

Tasche zurück und ergriff mit knorriger Hand meinen Arm. Wir gingen eingehakt über den Gang. Ich

entschied mich, aufzugeben und mich in ihre Obhut zu begeben. Sie war alt und gebrechlich, aber

nicht dumm. Als wir hinabgingen, mit der gläsernen Vorsicht der Relikte, die wir geworden sind, sagte

Elaine: »Warte am Fuß der Treppe. Ich gehe rüber zum Westflügel, zur Toilette, du weißt, welche ich

meine?«

»Ja«, sagte ich. »Die beim Bad. Aber warum?«

»Ich habe seit über fünfzehn Jahren keine Zigarette mehr geraucht«, sagte Elaine, »aber mir ist heute

danach. Ich weiß nicht, wie oft ich paffen kann, bevor der Rauchmelder dort losgeht, aber ich habe

vor, es herauszufinden.«

Ich schaute sie bewundernd an und dachte, wie sehr sie mich an meine Frau erinnerte - Jan hätte

vermutlich das gleiche getan. Elaine schaute mich an und lächelte ihr kesses Feen-Lächeln. Ich

umfasste ihren süßen langen Nacken, zog ihr Gesicht zu mir und küsste sie leicht auf den Mund.

»Ich liebe dich, Ellie«, sagte ich.

»Oh, klopf keine großen Sprüche«, sagte sie, aber sie war erfreut, das kann ich Ihnen sagen.

»Was ist mit Chuck Howland?« fragte ich. »Wird er Schwierigkeiten bekommen?«

»Nein, denn er ist im Fernsehraum und sieht sich mit zwei Dutzend anderen Leuten Good Morning

America an. Ich mache mich dünn, sobald der Rauchmelder im Westflügel Feueralarm auslöst.«

»Fall nicht und tu dir nicht weh, Frau. Ich würde mir nie verzeihen, wenn ...«

»Oh, hör mit deinem Theater auf«, sagte sie, und diesmal küsste sie mich. Liebe unter Ruinen. Es

klingt vielleicht lustig für einige von Ihnen und grotesk für die anderen, aber ich will Ihnen etwas

sagen, meine Freunde: Ulkige Liebe ist besser als überhaupt keine.

Ich schaute ihr nach. Sie ging langsam und steif (aber sie benutzt nur an nassen Tagen einen Stock,

und dann auch nur, wenn der Schmerz furchtbar ist; das ist eine ihrer Eitelkeiten). Ich wartete. Fünf

Minuten vergingen, dann zehn, und gerade als ich mir sagte, dass sie entweder den Mut verloren oder

entdeckt hatte, dass die Batterie des Rauchmelders in der Toilette leer war, legte der Feueralarm im

Westflügel mit einem lauten Schnarren los.

Ich machte mich sofort, aber langsam auf den Weg zur Küche - es hatte keinen Sinn, mich zu beeilen,

bevor ich sicher war, dass Dolan aus dem Weg war. Eine schnatternde Schar alter Leute, die meisten

noch im Morgenrock, kam aus dem Fernsehraum (hier wird es Erholungs-Center genannt; das ist

grotesk), um zu sehen, was los war. Chuck Howland war darunter, wie ich mit Freude sah.

»Edgecombe!« krächzte Kent Avery, stützte sich mit einer Hand auf seinen Spazierstock und kratzte

sich mit der anderen im Schritt seiner Pyjamahose. »Richtiger Alarm oder wieder ein Falscher? Was

meinst du?«

»Das kann man nie wissen«, erwiderte ich.

In diesem Augenblick trabten drei Pfleger vorbei, alle auf dem Weg zum Westflügel, und brüllten die

Leute an der Tür des Fernsehraums an, sie sollten nach draußen gehen und warten, bis Entwarnung

gegeben werde. Der dritte Pfleger war Brad Dolan. Er schaute mich nicht mal an, als er vorbeieilte,

was mich grenzenlos freute. Als ich weiter zur Küche ging, kam mir in den Sinn, dass das Team Elaine

Connelly und Paul Edgecombe es vermutlich mit einem Dutzend Brad Dolans und obendrein noch

einem halben Dutzend Percy Wetmores aufnehmen konnte.

Die Köche in der Küche räumten weiterhin das Frühstück ab und schenkten dem Heulen des

Feueralarms überhaupt keine Beachtung.

«Mr. Edgecombe«, sagte George. »Ich glaube, Brad Dolan hat Sie gesucht. Sie haben ihn nur knapp

verpasst«

Zum Glück, dachte ich. Laut sagte ich, dass ich Mr. Dolan vielleicht später sehen würde. Dann fragte

ich, ob etwas Toast vom Frühstück übrig geblieben war.

»Gewiss«, sagte Norton, »aber der ist jetzt kalt. Sie sind heute morgen spät dran.«

»Das bin ich«, pflichtete ich ihm bei, »aber ich habe Hunger.«

»Dauert nur 'ne Minute, bis ich eine Scheibe frisch getoastet habe«, sagte George und griff nach dem

Brot.

»Nicht nötig, kalt ist prima«, sagte ich, und als er mir zwei Toastscheiben gab (er sah verwirrt aus -

alle beiden Köche wirkten verwundert), eilte ich aus der Tür und fühlte mich wie der Junge, der ich

einmal gewesen war, als ich die Schule geschwänzt und mit einem im Hemd versteckten

Marmeladenbrot in Wachspapier zum Angeln gegangen war.

Als ich die Küche verlassen hatte, schaute ich mich schnell, reflexartig nach Dolan um, sah nichts

Beunruhigendes und eilte über das Krocketfeld und das Putting Green und mampfte dabei eine meiner

Toastscheiben.

Ich wurde ein wenig langsamer, als ich den Schutz des Wäldchens erreicht hatte, und während ich

über den Pfad ging; dachte ich an den Tag nach Eduard Delacroix' grauenvoller Hinrichtung.

Ich hatte an diesem Morgen mit Hal Moores gesprochen, und er hatte mir gesagt, dass der

Gehirntumor seiner Frau Melinda dazu geführt hatte, dass sie in Fluchen und obszöne Sprache

verfiel..., was meine Frau später als Tourette-Syndrom bezeichnet hatte (eher versuchsweise; sie war

sich nicht sicher, ob es das tatsächlich war). Das Zittern seiner Stimme, gepaart mit der Erinnerung

daran, wie John Coffey sowohl meine Blaseninfektion als auch das gebrochene Rückgrat von

Delacroix' Lieblingsmaus geheilt hatte, veranlasste mich, die Grenze zwischen dem Gedanken an eine

Tat und dem tatsächlichen Tun zu überschreiten.

Und da war noch etwas anderes. Etwas, das mit lohn Coffeys Händen und meinem Schuh zu tun

hatte.

So hatte ich meine Kollegen angerufen, die Männer, denen ich all die Jahre vertraut hatte - Dan

Stanton, Harry Terwilliger, Brutus Howell. Sie kamen am Tag nach Delacroix' Hinrichtung zum

Mittagessen zu mir nach Hause, und sie hörten mir wenigstens zu, als ich meinen Plan erläuterte.

Natürlich wussten sie alle, dass Coffey die Maus geheilt hatte. Brutal hatte es mit eigenen Augen

gesehen. So lachten sie mich nicht aus, als ihnen erklärte, dass ein anderes Wunder geschehen

könnte, wenn wir John Coffey zu Melinda Moores brachten. Es war Dean Stanton, der die

beunruhingendste Frage stellte: Was war, wenn John Coffey auf seinem Ausflug aus dem Knast

flüchtete?

»Und wenn er noch jemanden umbringt?« fragte Dean. »Ich verliere ungern meinen Job und komme

ungern hinter Gitter - ich muss Frau und Kinder ernähren -, aber ich hasse noch mehr den Gedanken,

ein weiteres totes Mädchen auf dem Gewissen zu haben.«

Schweigen. Alle schauten mich an und warteten auf meine Reaktion. Ich wusste, dass sich alles

verändern würde, wenn ich sagte, was ich auf der Zunge hatte; wir hatten einen Punkt erreicht an

dem ein Rückzug wahrscheinlich unmöglich war.

Für mich gab es jetzt schon kein Zurück mehr. lch öffnete den Mund und sagte:

2

»Das wird nicht passieren.«

»Wie, in Gottes Namen, kannst du dir dessen sicher sein?« fragte Dean.

Ich gab keine Antwort. Ich wusste einfach nicht, wie ich anfangen sollte.

Ich hatte gewusst, dass dies zur Sprache kommen würde, natürlich war ich darauf vorbereitet, aber

ich wusste immer noch nicht, wie ich ihnen sagen konnte, was in meinem Kopf und Herzen war.

Brutal half mir.

»Du meinst, er hat es nicht getan, nicht wahr, Paul?« Er schaute mich ungläubig an. »Du meinst,

dieser große Trottel ist unschuldig.«

»Ich bin mir ganz sicher, dass er unschuldig ist«, sagte ich.

»Wie kannst du das sein?«

»Dafür gibt es zwei Gründe«, sagte ich. »Einer davon ist mein Schuh.«

»Dein Schuh?« rief Brutal. »Was, in Gottes Namen, hat dein Schuh damit zu tun, ob John Coffey diese

beiden kleinen Mädchen ermordet hat oder nicht?«

»Ich zog gestern Nacht einen meiner Schuhe aus und gab ihn Coffey«, sagte ich. »Nach der

Hinrichtung war das, als die Dinge sich ein bisschen beruhigt hatten. Ich schob den Schuh durch die

Gitterstäbe, und er nahm ihn in seine großen Hände. Ich forderte ihn auf, die Schnürsenkel

zuzubinden. Ich musste sichergehen, versteht ihr, denn alle unsere Problemkinder tragen

normalerweise Pantoffeln - ein Mann; der wirklich Selbstmord begehen will, kann das mit

Schnürsenkeln tun, das wissen wir alle.« Sie nickten.

»Er nahm den Schuh auf den Schoß und kreuzte die Enden der Schnürsenkel, aber dann

wusste er nicht weiter. Er sagte, er sei sich ziemlich lange her, jemand habe ihm gezeigt, wie das

geht, als er ein Kind war - vielleicht sein Vater oder einer der Freunde seiner Mutter, nachdem sein

Vater abgehauen war -, aber er kriegte es nicht mehr hin.«

Dean ergriff das Wort.

»Mir geht es wie Brutal - ich verstehe nicht was dein Schuh mit der Frage zu tun hat, ob Coffey die

Detterick-Zwillinge ermordet hat oder nicht«

So ging ich die Geschichte der Entführung und Ermordung der Mädchen noch einmal durch - was ich

an jenem heißen Tag in der Gefängnisbücherei gelesen hatte, während mein Unterleib gekocht und

Gibbons in der Ecke geschnarcht hatte, und alles, was mir Hammersmith, der Reporter, später erzählt

hatte.

»Der Hund der Dettericks war kein großer Beißer, aber Weltklasse als Beller«, sagte ich. »Der Mann,

der die Mädchen entführte, hielt den Hund ruhig, indem er ihn mit Würstchen fütterte. Er kroch jedes

Mal, wenn er ihm ein Würstchen gab, ein bisschen näher, stelle ich mir vor, und während der Köter

das letzte Würstchen fraß, packte er ihn am Kopf und brach ihm das Genick

Als man Coffey später fand, entdeckte der Deputy, der die Posse führte - Rob McGee war sein Name -

eine Wölbung in der Brusttasche des Overalls, den Coffey trug. McGee argwöhnte zuerst, dass es sich

um eine Waffe handeln könnte.

Coffey sagte, es sei sein Mittagessen, und das war es dann auch - ein paar belegte Brötchen und eine

Gewürzgurke, eingewickelt in eine Zeitung und zugebunden mit Bindfaden von einem Metzger. Coffey

konnte sich nicht erinnern, wer es ihm gegeben hatte. Er wusste nur noch, dass es eine Frau mit einer

Schürze gewesen war.«

»Brötchen und eine Gurke, aber keine Würstchen«, sagte Brutal.

»Keine Würstchen«, bekräftigte ich.

»Natürlich nicht«, sagte Dean. »Die hat er an den Hund verfüttert.«

»Nun, das sagte der Ankläger beim Prozess«, stimmte ich zu, »aber wenn Coffey sein Mittagessen

aufgebunden und ausgewickelt hat, um die Würstchen an den Hund zu verfüttern, wie hat er die

Zeitung mit den anderen Dingen wieder mit diesem Bindfaden verschnürt? Ich weiß nicht, wann er

dazu überhaupt Gelegenheit hatte, aber lassen wir das im Augenblick mal ausgeklammert. Dieser

Mann kann nicht mal einen einfachen Altweiberknoten binden.«

Es folgte langes verblüfftes Schweigen, das schließlich von Brutus gebrochen wurde. »Scheiße«, sagte

er leise. »Warum hat keiner das beim Prozess zur Sprache gebracht?«

»Niemand hat daran gedacht«, sagte ich und dachte wieder an Hammersmith, den Reporter,

Hammersmith, der in Bowling Green das College besucht hatte, Hammersmith, der sich als aufgeklärt

bezeichnete, Hammersmith, der mir gesagt hatte, dass Bastardhunde und Neger ungefähr das gleiche

waren, dass beide einen plötzlich grundlos anfallen konnten. Er nannte sie eure Neger, als wären sie

immer noch Besitz ..., aber nicht sein Besitz. Nein, nicht seiner. Niemals seiner. Und zu dieser Zeit war

der Süden voller Hammersmith. »Keiner hatte das geistige Rüstzeug, sich darüber Gedanken zu

machen, Coffeys Verteidiger eingeschlossen.«

Aber du hast daran gedacht«, sagte Harry. »Verdammt, Jungs, wir sitzen hier mit Mr. Sherlock Holmes

zusammen.« Er klang spöttisch und ehrfürchtig zugleich.

Nun übertreib mal nicht«, sagte ich. »Ich hätte auch nicht daran gedacht, wenn ich mir nicht

zusammengereimt hätte, was er Deputy McGee an jenem Tag sagte und was er sagte, als er meine

Blaseninfektion heilte, und was er nach der Heilung der Maus sagte.« Was?« fragte Dean.

»Als ich in seine Zelle ging, war ich wie hypnotisiert. Ich hatte das Gefühl, dass ich tun musste, was er

wollte, dass ich es nicht aufhalten konnte, auch wenn ich es versucht hätte.«

Das gefällt mir nicht«, sagte Harry und bewegte sich unbehaglich auf seinem Platz. Ich fragte ihn, was

er wollte, und er sagte: »Nur helfen.«

Ich erinnere mich daran sehr deutlich, und als es vorüber war und ich mich besser fühlte, wusste er

das. >Ich habe geholfen<, sagte er. >Ich habe geholfen, nicht wahr?<«

Brutal nickte. »Wie bei der Maus. Du sagtest: >Du hast geholfen<, und Coffey plapperte es nach

wie ein Papagei. >Ich habe Dels Maus geholfen.< Hast du es in diesem Augenblick gewusst, Paul?

Das war der Zeitpunkt, nicht wahr?«

Ja, das nehme ich an. Ich erinnerte mich an das, was er sagte, als McGee ihn fragte, was geschehen

war. Es stand fast in jeder Story über die Morde.

>Ich konnte nichts dafür. Ich wollte es zurückhalten, aber es war zu spät<

Ein Mann, der das so oder ähnlich sagt und zwei tote Mädchen auf den Armen hält, weiße und blonde

Mädchen, ein riesiger Schwarzer wie er, wird leicht falsch verstanden. Sie hörten, was er sagte, in

Übereinstimmurig mit dem, was sie sahen, und was sie sahen, war ein Schwarzer. Sie glaubten, er

legte ein Geständnis ab, dass er unter dem Zwang gestanden hatte, die Mädchen zu entführen, zu

vergewaltigen und zu töten. Dann war er zur Vernunft gekommen und hatte versucht,

es aufzuhalten ...«

»Aber da war es zu spät«, murmelte Brutal. »Ja. Aber in Wirklichkeit versuchte er ihnen zu sagen,

dass er die Mädchen gefunden und versucht hatte, sie zu heilen - sie ins Leben zurückzuholen -, und

keinen Erfolg gehabt hatte. Sie waren zu lange tot«

»Paul, glaubst du das?« fragte Dean. »Glaubst du das, bei Gott, wirklich?«

Ich prüfte ein letztes Mal mein Herz, so gut ich konnte, und dann nickte ich.

Nicht nur, dass ich es jetzt wusste; ein intuitiver Teil von mir hatte gewusst, dass etwas mit John

Coffeys Lage von Anfang an nicht stimmte, als Percy ihn in den Block gezerrt und aus Leibeskräften

>Wandelnde Leiche< gebrüllt hatte. Ich hatte ihm die Hand geschüttelt, nicht wahr? Ich hatte nie

zuvor einem Mann, der zur Green Mile gekommen war, die Hand geschüttelt, aber Coffey hatte ich die

Hand gegeben.

»Allmächtiger!« stieß Dean hervor. »Dein Schuh ist die eine Sache«, sagte Harry. »Was ist die

andere?« »Kurz bevor die Posse Coffey und die Mädchen fand, kamen die Männer aus dem Wald am

Südufer des Trapingus River. Sie fanden eine Stelle mit plattgetretenem Gras, viel Blut und dem Rest

von Cora Dettericks Nachthemd. Die Hunde waren eine Zeitlang verwirrt. Die meisten wollten nach

Südosten, flussabwärts am Ufer entlang. Aber zwei davon - die schlauen Hunde - wollten

stromaufwärts laufen. Bobo Marchant führte die Hunde, und als er die schlauen Hunde an dem

Nachthemd schnüffeln ließ, änderten sie mit den anderen die Richtung.«

»Die schlauen Hunde wurden verwirrt, nicht wahr?« fragte Brutal. Ein sonderbares kleines Lächeln

spielte um seine Mundwinkel. »Sie sind genau genommen keine Spürhunde, und sie wussten nicht

mehr, was sie tun sollten.«

»Ja.«

»Ich kapiere das nicht«, sagte Dean.

»Die schlauen Hunde vergaßen, was Bobo ihnen zu Beginn der Jagd unter die Nase gehalten hatte«,

sagte Brutal. »Als sie zum Flussufer gelangten, verfolgten sie den Mörder, nicht die Mädchen. Das war

kein Problem, solange der Mörder und die Mädchen zusammen waren, aber ...«

Dean dämmerte es, das sah ich an seinen Augen. Harry hatte bereits kapiert

»Wenn man darüber nachdenkt«, sagte ich, »fragt man sich, wie jemand, selbst eine Jury, die einem

herumziehenden Schwarzen das Verbrechen anhängen will, auch nur eine Minute glauben konnte,

dass John Coffey der Täter war. Allein der Gedanke, den Hund mit Futter ruhig zu halten, bis er ihm

das Genick brechen konnte, geht über Coffeys Verstand hinaus.

Ich nehme an, er war nie näher an der Detterick-Farm als bis zum Südufer des Trapingus. Sechs oder

noch mehr Meilen entfernt. Er gammelte herum, wollte vielleicht zur Eisenbahnlinie, um mit einem

Güterzug irgendwohin zu fahren - wenn sie von der Bockbrücke kommen, sind sie so langsam, dass

man aufspringen kann -, als er im Norden Lärm hörte.«

»Der Mörder?« fragte Brutal. »Der Mörder. Da hatte er sie vielleicht schon vergewaltigt, oder vielleicht

war es die Vergewaltigung, die Coffey hörte. Jedenfalls war die blutige Stelle im Gras der Tatort; dort

schlug der Mörder ihre Köpfe zusammen, ließ sie fallen und machte sich davon.«

»Nach Nordwesten«, sagte Brutal. »In die Richtung, in die die schlauen Hunde wollten.«

»Richtig. John Coffey kommt, vermutlich neugierig wegen des Lärms, durch eine Gruppe Erlen, etwas

südöstlich der Stelle, wo die Mädchen zurückgelassen worden waren, und er findet ihre Leichen.

Eines der Mädchen war vielleicht noch am Leben. Ich nehme an, dass möglicherweise beide noch

lebten, wenn auch nicht mehr lange. John Coffey hätte nicht gewusst, ob sie tot gewesen wären, das

ist sicher. Er weiß nur, dass er heilende Kräfte in seinen Händen hat, und er versucht, sie bei Cora und

Käthe Detterick einzusetzen. Als es nicht gelang, brach er zusammen und heulte hysterisch.

Und so fanden sie ihn.«

»Warum blieb er nicht dort, wo er sie fand?« fragte Brutal. »Warum nahm er sie nicht mit nach Süden

zum Flussufer? Kannst du dir das erklären?« »Ich wette, er blieb zuerst an Ort und Stelle«, sagte ich.

»Beim Prozess sprach man von einer breiten zertrampelten Stelle, an der alles Gras

plattgetreten war. Und John Coffey ist ein großer Mann.

«John Coffey ist ein verdammter Riese«, sagte Harry, sehr leise, damit meine Frau nicht sein

Kraftwort hörte, wenn sie zufällig lauschte. «Vielleicht geriet er in Panik, als er sah, dass nicht gelang,

was gelingen sollte. Oder vielleicht ..kam er auf den Gedanken, dass der Mörder noch in der Nähe

war, im Wald flussaufwärts, und ihn beobachtete. Coffey ist ein Hüne, aber er ist nicht sehr mutig.

Harry, erinnerst du dich, dass er uns bat, nach der Schlafenszeit im Block eine Lampe anzulassen?«

»Ja. Ich erinnere mich, dass ich das angesichts seiner Größe lustig fand.« Harry wirkte betroffen und

nachdenklich.

»Nun, wenn er die kleinen Mädchen nicht ermordet hat, wer dann?« fragte Dean.

Ich nickte. »Jemand anders. Ein Weißer, schätze ich. Der Ankläger machte eine große Schau daraus,

wie stark jemand sein muss, der einen Hund wie den der Dettericks tötet, aber ...«

»Das ist Unsinn«, sagte Brutus grollend. »Sogar ein zwölfjähriges Mädchen kann einem großen Hund

das Genick brechen, wenn es den Hund überrascht und weiß, wo es ihn packen muss. Wenn Coffey es

nicht getan hat, dann kann es verdammt fast jeder gewesen sein ... jeder Mann, meine ich. Wir

werden die Wahrheit vermutlich nie erfahren.«

»Es sei denn, er tut es wieder«, sagte ich. »Selbst dann würden wir sie nicht erfahren, wenn er es

unten in Texas oder drüben in Kalifornien tut«, wandte Harry ein.

Brutal lehnte sich zurück, rieb sich mit den Händen über die Augen wie ein müdes Kind und ließ sie

dann wieder auf den Schoß sinken.

»Dies ist ein Alptraum«, sagte er. »Wir haben einen Mann, der vielleicht unschuldig ist - der

vermutlich unschuldig ist -, und er geht über die Green Mile, was so sicher ist, wie Gott große Bäume

und kleine Fische macht. Was sollen wir dagegen tun? Wenn wir mit diesem Scheiß von heilenden

Händen anfangen, wird sich jeder einen Ast lachen, und Coffey landet trotzdem auf dem Grill.«

»Darüber können wir uns später Sorgen machen«, sagte ich, weil ich nicht die geringste Ahnung

hatte, was ich ihm antworten konnte. »Jetzt lautet die Frage, was tun wir - oder tun wir nicht - mit

Melly. Ich würde vorschlagen, wir denken noch ein paar Tage über die Sache nach, aber ich glaube,

dass jeder Tag, an dem wir untätig bleiben, das Risiko erhöht, dass er ihr nicht mehr helfen kann.«

»Erinnerst du dich, wie er die Hände nach der Maus ausstreckte?« fragte Brutal. »>Gib ihn mir,

solange noch Zeit ist<, sagte er. Solange noch Zeit ist

»Ich erinnere mich.«

Brutal überlegte und nickte dann. »Ich bin dabei. Ich fühle mich auch schlecht wegen Del, aber

hauptsächlich will ich sehen, was passiert, wenn er sie berührt. Vermutlich geschieht gar nichts, aber

vielleicht...«

»Ich bezweifle höllisch, dass wir den schwarzen Riesen überhaupt aus dem Block rausbekommen«,

sagte Harry. Dann seufzte er und nickte. »Aber was soll's? Ich mache mit«

»Ich auch«, sagte Dean. »Wer bleibt im Block, Paul? Ziehen wir Strohhalme?«

»Nein, Sir«, sagte ich. »Keine Strohhalme. Du bleibst«

»Einfach so? Den Teufel werde ich tun!« entgegnete Dean gekränkt und wütend. Er nahm seine Brille

ab und polierte sie heftig an seinem Hemd. »Was soll denn diese unfaire Regelung?«

»Diese Regelung berücksichtigt dass du jung genug bist um noch Kinder in der Schule zu haben«,

sagte Brutal. »Harry und ich sind Junggesellen. Paul ist verheiratet aber seine Kinder sind erwachsen

und stehen auf eigenen Füßen. Wir planen hier ein verdammt verrücktes Ding. Ich nehme an, wir

werden fast mit Sicherheit geschnappt.« Er schaute mich nüchtern an. »Eines hast du nicht erwähnt

Paul. Wenn wir es schaffen, Coffey aus dem Knast zu holen, und seine heilenden Hände nicht wirken,

dann wird uns Hal Moores persönlich einlochen.«

Er ließ mir eine Chance, etwas darauf zu erwidern, es vielleicht zu entkräften oder zu widerlegen, aber

das konnte ich nicht, und so hielt ich die Klappe. Brutal wandte sich an Dean und fuhr fort: »Versteh

mich nicht falsch, du kannst deinen Job ebenfalls verlieren, aber du hast wenigstens eine Chance, am

Knast vorbeizukommen, wenn es hart auf hart kommt. Percy wird denken, es war ein Streich; wenn

du am Wachpult bist, kannst du sagen, dass du auch an einen Jux gedacht hast und wir dir nie etwas

anderes gesagt haben.«

»Es gefällt mir trotzdem nicht«, sagte Dean, aber es war klar, dass er einverstanden war. Der

Gedanke an seine Kinder hatte ihn überzeugt »Und es muss heute Nacht sein? Bist du sicher?«

»Wenn wir es tun, muss es heute Nacht sein«, sagte Harry.

»Denn wenn ich die Zeit habe, darüber nachzudenken, verliere ich höchstwahrscheinlich die Nerven.«

»Lass mich das mit dem Krankenrevier erledigen«, sagte Dean. »Soviel kann ich wenigstens tun, nicht

wahr?«

»Solange du das Erforderliche tun kannst, ohne geschnappt zu werden«, sagte Brutal.

Dean wirkte beleidigt, und ich klopfte ihm auf die Schulter. »So schnell wie möglich, nachdem du

deinen Dienst angetreten hast... in Ordnung?«

»Aber sicher.«

Meine Frau steckte den Kopf durch die Tür, als hätte ich ihr ein Stichwort gegeben. »Wer möchte

noch Eistee?« fragte sie heiter. »Wie steht es mit Ihnen, Brutus?«

»Nein, danke«, sagte er. »Was ich brauchte, wäre ein guter Schluck Whisky, aber unter den

gegebenen Umständen ist das vielleicht keine gute Idee.«

Janice schaute mich an; lächelnder Mund, besorgter Blick. »Wozu stiftest du diese Jungs an, Paul?«

Aber bevor ich mir auch nur eine Antwort überlegen konnte, hob sie die Hand und sagte:

»Schon gut ich will es gar nicht wissen.«

3

Später, als die anderen fort waren und ich mich für die Arbeit anzog, ergriff sie mich am Arm, zog

mich herum und schaute mir forschend in die Augen. »Melinda?« fragte sie.

Ich nickte.

»Kannst du etwas für sie tun, Paul? Wirklich etwas für sie tun, oder ist alles ein Wunschtraum,

hervorgerufen von dem, was du gestern Nacht erlebt hast?«

Ich dachte an Coffeys Augen, an seine Hände und daran, wie hypnotisiert ich mich gefühlt hatte, als

ich auf sein Drängen hin zu ihm gegangen war. Ich dachte daran, wie er die Hände nach Mr. Jingles'

gebrochenem, sterbendem Körper ausgestreckt hatte. Solange noch Zeit ist, hatte er gesagt. Und ich

sah vor meinem geistigen Auge die SCHwarzen wirbelnden Dinge, die weiß geworden und

verschwunden waren.

»Wir könnten vielleicht die einzige Chance sein, die sie noch hat«, sagte ich schließlich.

»Dann ergreife sie«, sagte meine Frau und knöpfte meine neue Herbstjacke zu. Sie war seit meinem

Geburtstag Anfang September im Schrank, aber dies war erst das dritte oder vierte Mal, dass ich sie

trug. »Ergreife sie.«

Und sie schob mich praktisch aus der Tür.

4

Ich trat den Dienst an diesem Abend - der sonderbarste Abend meines ganzen Lebens - um sechs Uhr

zwanzig an. Ich glaubte immer noch schwach den Geruch von verbranntem Fleisch wahrzunehmen. Es

musste eine Sinnestäuschung sein - die Türen nach draußen, sowohl vom Block als auch vom

Hinrichtungsraum, waren den größten Teil des Tages geöffnet gewesen, und die vorherigen beiden

Schichten hatten dort stundenlang geschrubbt -, aber das änderte nicht, was meine Nase mir meldete,

und ich bezweifle, dass ich etwas hätte essen können, wenn ich nicht solche Heidenangst vor der

Nacht gehabt hätte, die vor mir lag.

Brutal kam um sechs Uhr fünfundvierzig zum Block, Dean zehn Minuten später. Ich fragte Dean, ob er

zum Krankenrevier gehen und mir ein Heizkissen für meinen Rücken besorgen könnte, den ich

anscheinend in der Nacht überlastet hatte, als ich geholfen hatte, Delacroix' Leiche in den Tunnel

hinunterzubringen. Dean sagte, er werde das gern tun. Ich glaube, er wollte mir zuzwinkern, aber er

hielt sich zurück.

Harry kam drei Minuten vor sieben Uhr zum Dienst.

»Der Truck?« fragte ich.

»Wie abgesprochen.«

So weit, so gut. Es folgte einige Zeit, in der wir beim Wachpult standen, Kaffee tranken und uns

bemühten, nicht zu erwähnen, was wir alle dachten und hofften: dass Percy zu spät kam oder

vielleicht überhaupt nicht auftauchte. Angesichts der leidseligen Kritik wegen der Art und Weise, wie

er die Hinrichtung durchgeführt hatte, war das immerhin möglich.

Aber Percy hielt sich anscheinend an den alten Grundsatz, dass man gleich wieder auf das Pferd

steigen soll, das einen abgeworfen hat, denn um sechs Minuten nach sieben Uhr kam er durch die

Tür, prachtvoll in seiner blauen Uniform, mit der Waffe an einer Hüfte und seinem

Hickory-Schlagstock in dem albernen handgefertigten Holster an der anderen. Er drückte seine

Stechkarte und schaute uns (mit Ausnahme von Dean, der noch nicht vom Krankenrevier

zurückgekehrt war) Misstrauisch an. »Mein Anlasser ist kaputt«, sagte er. «Ich musste den Wagen

ankurbeln.«

»Armer Junge«, sagte Harry.

»Du hättest zu Hause bleiben und das verdammte Ding reparieren lassen sollen«, sagte Brutal kühl.

»Wir wollen doch nicht, dass du deinen Arm überanstrengst, nicht wahr, Jungs?«

»Ja, das hätte dir gefallen, was?« Percy grinste höhnisch, aber ich glaube, er wirkte beruhigt durch

Brutals relativ milde Erwiderung. Das war Gut. In den nächsten paar Stunden mussten wir mit ihm

zurechtkommen - nicht zu feindselig, aber auch nicht zu freundlich. Nach der vergangenen Nacht wäre

ihm alles, das auch nur annähernd an Herzlichkeit herankam, verdächtig gewesen. Wir würden seine

Wachsamkeit nicht einschläfern können, das war uns allen klar, doch ich sagte mir, dass wir ihn

vielleicht ein bisschen einlullen könnten, wenn wir die Dinge richtig angingen.

Es war wichtig, dass wir schnell waren, aber es war ebenfalls wichtig - für mich jedenfalls -, dass

niemand zu Schaden kam. Nicht einmal Percy Wetmore. Dean kehrte zurück und nickte mir unauffällig

zu.

»Percy«, sagte ich, »ich möchte, dass du in den Lagerraum gehst und den Boden aufwischst. Auch die

Treppe zum Tunnel. Dann kannst du deinen Bericht über gestern Nacht schreiben.«

»Der sollte kreativ sein«, bemerkte Brutal, hakte die Daumen hinter seinen Gürtel und blickte zur

Decke.

»Ihr Jungs seid lustiger als ein Fick in der Kirche«, sagte Percy, aber darüber hinaus protestierte er

nicht. Er wies nicht mal auf das Offenkundige hin, nämlich dass der Boden dort bereits zweimal an

diesem Tag geschrubbt worden war. Ich nehme an, er freute sich über die Möglichkeit, von uns

fortzukommen.

Ich ging den Bericht der vorherigen Schicht durch, sah nichts, was mich anbetraf, und machte einen

Spaziergang zu Whartons Zelle. Er hockte mit angezogenen Knien und um die Schienbeine

verschränkten Händen da und schaute mich mit einem strahlenden, feindseligen Grinsen an.

»Wenn das nicht der große Boss ist«, sagte er. »Lebensgroß und zweimal so hässlich. Du siehst

glücklicher als ein Schwein in knietiefer Scheiße aus, Boss Edgecombe. Deine Alte hat an deinem

Fimmel gezupft, bevor du hergefahren bist, wie?«

»Wie geht's, Kid?« fragte ich mit ruhiger Stimme, und das heiterte ihn wirklich auf. Er ließ seine Beine

los, stand auf und reckte sich. Sein Lächeln wurde breiter, und etwas von der Feindseligkeit

verschwand daraus.

»Nicht zu glauben!« sagte er. »Diesmal weißt du meinen richtigen Namen! Was ist los, Boss

Edgecombe? Bist du krank oder was?«

Nein, nicht krank. Ich war krank, aber John Coffey hatte mich geheilt. Seine Hände wussten nicht

mehr, wie man Schnürsenkel zubindet, wenn sie das je gewusst hatten, aber sie kannten andere

Tricks. Ja, ganz bestimmt.

»Mein Freund«, sagte ich, »wenn du Billy the Kid statt Wild Bill sein willst ist mir das einerlei.«

Er blies sich sichtlich auf wie einer dieser widerlichen Fische, die in südamerikanischen Flüssen leben

und einen mit den Stacheln auf dem Rücken und an den Seiten fast zu Tode stechen können. Ich

hatte es während meiner Zeit auf der Green Mile mit vielen gefährlichen Männern zu tun gehabt, aber

wenige waren so abstoßend wie William Wharton gewesen, der sich selbst als großen Outlaw

betrachtete, dessen Verhalten im Knast jedoch selten über Pissen und Spucken durch die Gitterstäbe

seiner Zelle hinausging. Bis jetzt hatten wir ihm noch nicht den ehrfürchtigen Respekt

entgegengebracht der ihm nach seiner Ansicht zustand, aber in dieser besonderen Nacht wollte ich

ihn fügsam haben. Wenn ich ihm dafür Honig ums Maul schmieren musste, würde ich das gern tun.

»Ich habe viele Gemeinsamkeiten mit dem Kid, und das solltest du besser glauben«, sagte Wharton.

»Ich bin nicht hier, weil ich Bonbons aus einem Süßwarenladen geklaut habe.« So stolz wie ein Mann,

der von der Heldenbrigade der französischen Fremdenlegion verpflichtet worden war, und nicht wie

jemand, der in eine Zelle gesteckt worden war, die fünf lange Schritte vom elektrischen Stuhl entfernt

war. »Wo ist mein Abendessen?«

»Komm schon, Kid, im Bericht steht, dass du es um fünf Uhr fünfzig bekommen hast Hackbraten mit

Soße, Kartoffelbrei und Erbsen. So leicht kannst du mich nicht reinlegen.«

Er lachte breit und setzte sich wieder auf die Pritsche. »Dann stell das Radio an.« Er sprach >Radio<

aus, wie es Leute scherzhaft taten, damit es sich mit den Slangwort >Daddy-O< der fünfziger Jahre

reimte. Komisch, an wie viel man sich erinnern kann, wenn die Nervenstränge so scharf gespannt

sind, dass sie fast singen.

»Vielleicht später, großer Junge«, sagte ich. Ich trat von seiner Zelle zurück und schaute den Gang

hinab. Brutal war zum fernen Ende geschlendert, wo er sich vergewisserte, dass die Tür zur

Gummizelle einfach abgeschlossen war, nicht doppelt. Ich wusste, dass sie es war, weil ich sie bereits

selbst überprüft hatte. Später wollten wir die Tür so schnell wie möglich öffnen können. Es würde

keine Zeit bleiben, das Gerümpel, das sich im Laufe der Jahre dort angesammelt hatte, zu entfernen

wie vor Whartons Ankunft; wir hatten es herausgebracht, sortiert und an anderen Plätzen aufbewahrt,

kurz nachdem sich Wharton zu unserer fröhlichen Band gesellt hatte. Wir hatten uns gesagt, dass die

Zelle mit den weichen Wänden oft benutzt werden würde, bis >Billy the Kid< über die Green Mile

spazieren würde.

John Coffey, der für gewöhnlich zu dieser Zeit dalag, mit dem Gesicht zur Wand, die langen, klobigen

Beine über die Kante der Pritsche baumelnd, saß mit verschränkten Händen auf der Pritsche und

beobachtete Brutal mit einer Wachsamkeit - einem Dasein -, was untypisch für ihn war.

Er heulte auch nicht.

Brutal überprüfte die Tür zur Gummizelle und kehrte dann auf der Green Mile zurück. Er blickte kurz

zu Coffey, als er dessen Zelle passierte, und Coffey sagte etwas Merkwürdiges: »Klar, ich führe gern

spazieren.« Als antworte er auf etwas, das Brutal gesagt hatte.

Brutals Blick traf meinen.

Er weiß es, konnte ich ihn fast sagen hören. Irgendwie weiß er es.

Ich zuckte die Achseln und breitete die Arme aus, wie um zu sagen: Natürlich weiß er es.

5

TootToot der alte Kalfakter, machte mit seinem Karren den letzten Ausflug des Abends nach Block E

gegen acht Uhr fünfundvierzig. Wir kauften genug von seinem Mist, um ihn habgierig lächeln zu

lassen.

»Sagt mal, Jungs, habt ihr diese Maus gesehen?« fragte er.

Wir schüttelten den Kopf.

»Vielleicht hat der hübsche Junge sie gesehen«, sagte TootToot und nickte in Richtung Lagerraum,

wo Percy entweder den Boden aufwischte, seinen Bericht schrieb oder sich am Hintern kratzte.

»Was juckt dich das? Es geht dich ohnehin nichts an«, sagte Brutal. »Zieh Leine, Toot. Du verpestest

die Luft«

TootToot zeigte sein besonders unangenehmes Grinsen, zahnlos und hohlwangig, und machte eine

Schau daraus, die Nase in die Luft zu recken und zu schnüffeln. »Das ist nicht mein Gestank«, sagte

er. »Das ist Del, der seinen letzten Furz gelassen hat«

Kichernd schob er seinen Karren aus der Tür und in den Hof. Und er rollte ihn zehn weitere Jahre,

noch lange nachdem ich fort war - Hölle, lange nachdem Cold Mountain fort war -, verkaufte Teilchen

und Popcorn an Wärter und an die Häftlinge, die sich das erlauben konnten. Manchmal höre ich ihn

sogar jetzt noch in meinen Träumen, wie er brüllt: »Ich brate, ich brate, ich bin ein gerösteter

Truthahn!«

Die Zeit dehnte sich, als TootToot fort war, die Uhr schien zu kriechen. Wir ließen anderthalb Stunden

lang das Radio laufen, und Wharton lachte wiehernd über Fred Allen und Allen's Allcy, doch ich

bezweifle sehr, dass er viele der Gags verstand. John Coffey saß auf der Kante seiner Pritsche, hatte

die Hände verschränkt und blickte fast ununterbrochen zu jedem, der am Wachpult war. Ich habe

Leute so bei Greyhound-Haltestellen warten sehen, bevor ihre Busse ausgerufen wurden.

Percy kam gegen elf Uhr aus dem Lagerraum und überreichte mir einen Bericht den er mühsam mit

Bleistift geschrieben hatte. Radiergummikrümelchen hafteten auf dem Blatt Papier an den Stellen, an

denen er radiert hatte. Er sah, dass ich mit dem Daumen über die Radierstellen strich, und sagte

hastig: »Das ist nur ein erster Entwurf. Ich werde es noch abschreiben. Was denkst du?«

Ich dachte, dass es die empörendste Beschönigung war, die ich in meinem ganzen Leben gelesen

hatte. Aber ich sagte ihm, dass ich es prima fand, und er trollte sich zufrieden.

Dean und Harry spielten Cribbage, sprachen zu laut miteinander, kabbelten sich zu oft über die

Punktzahl und schauten ungefähr alle fünf Sekunden zum kriechenden Zeiger der Uhr. Die Luft war so

von Spannung erfüllt dass ich das Gefühl hatte, sie fast meißeln zu können wie Stein, und die einzigen

Leute, die es anscheinend nicht spürten, waren Percy und Wild Bill.

Zehn Minuten vor Mitternacht konnte ich es nicht länger ertragen, und ich nickte Dean leicht zu. Er

ging mit einer Flasche R.C. Cola, die er von Toots Karren gekauft hatte, in mein Büro und kehrte zwei

Minuten später zurück. Die Cola war jetzt in einem Zinnbecher, den ein Häftling nicht zerbrechen

kann, um sich dann damit aufzuschlitzen. Ich nahm den Becher und blickte mich um. Harry, Dean und

Brutal schauten mich an. Ebenfalls John Coffey. Percy nicht. Percy war in den Lagerraum

zurückgekehrt, wo er sich in dieser besonderen Atmosphäre vielleicht behaglicher fühlte. Ich

schnüffelte kurz an dem Zinnbecher und roch nichts außer RC. Cola, die in jenen Tagen einen

seltsamen, aber angenehmen Zimtgeruch hatte.

Ich ging mit der Cola zu Whartons Zelle. Er lag auf seiner Pritsche. Er masturbierte nicht - jedenfalls

noch nicht -, hatte jedoch einen Steifen in der Hose und zupfte dann und wann daran wie ein

verrückter Bassgeiger, der eine extra dicke E-Saite bearbeitet.

»Kid«, sagte ich.

»Stör mich nicht«, knurrte er.

»Okay«, sagte ich. »Ich habe dir ne Cola gekauft, weil du dich den ganzen Abend wie ein Mensch

benommen hast - das ist verdammt fast ein Rekord für dich -, aber dann werde ich sie eben selbst

trinken.«

Ich tat so, als ob ich genau das tun wollte, und hob den Zinnbecher (verschrammt an den Seiten, weil

er oftmals an viele Zellengitter geworfen worden war) an den Mund. Wharton war blitzschnell von

seiner Pritsche herunter, was mich nicht überraschte.

Es war kein Bluff mit hohem Risiko; die meisten Schweren - und so bezeichneten wir Lebenslängliche,

Vergewaltiger und die Männer, die für Old Sparky vorgesehen waren - sind scharf auf Süßes, und

dieser hier war keine Ausnahme.

»Gib her, du Arsch, sagte Wharton. Er sprach, als wäre er der Vormann und ich ein niederer

Ranchhelfer. »Gib das dem Kid!«

Ich hielt den Becher gerade außerhalb der Gitterstäbe, damit er hindurchgreifen musste. Wenn man

selbst die Hand durchs Gitter streckt, ist das ein Rezept für eine Katastrophe, wie Ihnen jeder

erfahrene Gefängniswärter sagen wird. Dies war etwas, an das wir dachten, ohne zu wissen, dass wir

es dachten - wie wir wussten, dass wir uns von den Häftlingen nicht mit Vornamen ansprechen lassen

sollten, wie wir wussten, dass das schnelle Klirren von Schlüsseln Probleme im Block bedeutet, weil

das Geräusch von einem Wärter verursacht wird, der rennt, und Gefängniswärter rennen niemals, es

sei denn, es gibt Zoff im Tal. Das sind Dinge, die Percy Wetmore nie lernen würde.

Heute hatte Wharton jedoch kein Interesse daran, mich zu schnappen oder zu würgen. Er grabschte

sich den Zinnbecher, trank die Cola in drei langen Schlucken und rülpste herzhaft. »Ausgezeichnet!«

sagte er.

Ich streckte ihm die Hand hin. »Becher.«

Er behielt ihn einen Moment lang mit aufreizendem Grinsen. »Und wenn ich ihn behalte?« Ich zuckte

mit den Schultern. »Dann kommen wir rein und holen ihn uns. Und du wanderst in die kleine Zelle mit

den weichen Wänden. Und du hast deine letzte R.C. getrunken. Es sei denn, in der Hölle wird Cola

serviert.«

Sein Grinsen verschwand »Ich mag keine Witze über die Hölle, du Scheißer« Er stieß den Becher

durch die Gitterstäbe. »Hier. Nimm.«

Ich nahm den Becher. Hinter mir sagte Percy, der aus dem Lagerraum aufgetaucht war: »Warum, in

Gottes Namen, gibst du einem Drecksack wie ihm eine Cola?«

Weil sie mit genug Betäubungsmittel aus dem Krankenrevier gemixt ist, um ihn für achtundvierzig

Stunden flachzulegen, und er nichts davon geschmeckt hat. Das sagte ich natürlich nicht, sondern das

dachte ich.

»Bei Paul ist die Barmherzigkeit grenzenlos«, sagte Brutal. »Sie fällt wie ein sanfter Regen vom

Himmel.« , »Hä?« fragte Percy mit gerunzelter Stirn.

»Das heißt, er hat eine weiche Ader. Die hat er immer schon gehabt, und die wird er immer haben.

Willst du eine Runde Crazy Eights mit uns spielen, Percy?«

Percy schnaubte. »Außer Herzblatt und Alte Jungfer ist Crazy Eights das blödeste Kartenspiel, das

jemals erfunden wurde.«

»Deshalb dachte ich, dir würde eine Partie gefallen«, sagte Brutal und lächelte freundlich.

»Jeder hier ist ein Klugscheißer«, sagte Percy und zog schmollend in mein Büro ab. Es missfiel mir,

dass die kleine Ratte ihren Arsch hinter meinem Schreibtisch parkte, aber ich hielt den Mund.

Die Uhrzeiger krochen dahin. Null Uhr zwanzig, null Uhr dreißig. Zwanzig vor eins erhob sich John

Coffey von seiner Pritsche, stellte sich an seine Zellentür und umfasste locker die Gitterstäbe. Brutal

und ich gingen zu Whartons Zelle und schauten hinein. Er lag auf der Pritsche und lächelte die Decke

an. Seine Augen waren geöffnet, aber sie wirkten wie große Glaskugeln. Eine Hand ruhte auf seiner

Brust, die andere baumelte schlaff von der Seite seiner Pritsche, und die Knöchel rieben über den

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