7

Das steinerne Gewölbe, in dem sich Thralls Sitz der Macht und sein Empfangsraum als Kriegshäuptling der Horde befand, war kühl. Thrall mochte es so. Orcs waren keine Kreaturen der Kälte, deshalb fühlten sie sich hier leicht unwohl. Da er glaubte, dass es das Beste für die Besucher war, sich nicht zu gut in der Gegenwart ihres Anführers zu fühlen, akzeptierte er das eigene Unbehagen. Beim Bau hatte er darauf geachtet, dass die Mauern dick waren und keine Fenster hatten. Licht gab es nur von ein paar Laternen, keinen Fackeln, weil diese weniger Wärme spendeten.

Nicht, dass es jemals wirklich unangenehm kalt gewesen wäre. Er wollte schließlich nicht, dass seine Leute leiden mussten, wenn sie ihn um etwas baten. Aber er wollte es ihnen auch nicht zu leicht machen. Es war ein schwieriger Weg gewesen, den Thrall eingeschlagen hatte, und er wusste wie wertvoll, aber auch gefährdet seine aktuelle Position war. Er nahm deshalb jede Möglichkeit wahr, sich einen Vorteil zu verschaffen, selbst wenn es etwas so Unbedeutendes war, wie den Thronsaal kühl zu halten.

Er traf sich mit Kalthar, seinem Schamanen, und Burx, seinem stärksten Krieger. Beide standen vor Thrall, der auf seinem Thron aus Fellen von eigenhändig erlegten Tieren saß.

»Die Menschen sind immer noch in der Feste Northwatch. Das Letzte, was wir gehört haben, war, dass ein Schiff mit neuen Truppen ankam. Das klingt, als wollten sie den Stützpunkt verstärken.«

»Wohl kaum.« Thrall lehnte sich auf dem Thron zurück. »Lady Proudmoore hat mich darüber informiert, dass sie einen ihrer Krieger dorthin entsendet, um Kapitän Boliks Bericht zu untersuchen.«

Burx richtete sich auf. »Misstrauen sie etwa dem Wort eines Kriegers?«

Kalthar, dessen grüne Haut mit dem Alter bleich und faltig geworden war, lachte kehlig. »Ich bin mir sicher, Burx, dass sie dem Wort eines Orcs genauso trauen wie du dem eines Menschen.«

»Menschen sind feige und verachtungswürdig«, sagte Burx geringschätzig.

»Die Menschen von Theramore sind nicht so.« Thrall beugte sich vor. »Und ich will nicht, dass in meiner Gegenwart noch einmal schlecht von ihnen gesprochen wird.«

Burx stampfte mit dem Fuß auf. Thrall musste sich beherrschen, um den Krieger nicht auszulachen. Die Geste erinnerte ihn an ein Menschenkind, das einen Wutanfall hatte. Unter Orcs war dieses Gebaren allerdings ein völlig legitimes Zeichen von Verstimmung. Obwohl er der Lord der Clans war, gab es Zeiten, in denen Thrall sich zwingen musste, sich zu erinnern, dass er nicht von seiner eigenen Art aufgezogen worden war.

»Dies ist unser Land, Thrall. Die Menschen haben kein Recht, es zu beanspruchen. Lass sie zurück über die Große See gehen, wo sie hingehören. Und lass uns zu dem Leben zurückkehren, das wir geliebt haben, bevor uns die Dämonen verhext haben. Weit weg von allen bösen Einflüssen, egal ob sterblicher oder anderer Natur.«

Thrall schüttelte den Kopf. Er hatte geglaubt, diese Diskussion bereits vor zwei Jahren beendet zu haben. »Die Menschen haben das unwirtlichste Land auf Kalimdor bekommen und sogar ausgesprochen wenig davon. Wir haben die Marschen von Dustwallow nie gewollt. Jainas Leute hingegen...«

»Jaina?« spöttelte Burx.

Jetzt stand Thrall auf. »Sei vorsichtig, Burx. Lady Proudmoore, Jaina, hat sich meinen Respekt verdient. Du verlierst ihn gerade.«

Burx duckte sich leicht. »Es tut mir Leid, Kriegshäuptling, aber du musst verstehen, du wurdest von ihnen aufgezogen. Es macht dich manchmal... blind für Dinge, die für den Rest von uns offensichtlich sind.«

»Ich bin für gar nichts blind, Burx. Du erinnerst dich vielleicht, dass ich es war, der den Orcs auf dieser Welt die Augen geöffnet hat, als sie dem dämonischen Fluch zum Opfer gefallen waren. Ich war es, der sie daran erinnert hat, wer wir sind. Glaube ja nicht, dass du mich belehren könntest wie...«

Ein atemloser junger Orc stürzte herein und unterbrach sie. »Donnerechsen!«

Thrall blinzelte. Thunder Ridge, die Heimat dieser Kreaturen, war weit weg von hier. Wenn einige dieser Tiere in Orgrimmar selbst aufgetaucht wären, wäre der Alarm jedoch gewiss anders ausgefallen.

»Wo?« fragte Burx.

»Weit weg von hier jedenfalls«, sagte Kalthar, der eine ähnliche Einschätzung zu haben schien wie Thrall, »andernfalls hätte man sicher nicht nur einen Boten geschickt, noch dazu einen solchen Jüngling.«

Der Jüngling, wie ihn Kalthar nannte, trug in der Tat den blitzförmigen Nasenring eines Boten. Es bestand kein Zweifel, er war von Thunder Ridge hierher gelaufen, um Thrall Bericht zu erstatten.

»Sprich«, forderte Thrall ihn auf.

»Ich komme von der Drygulch Klamm, Kriegshäuptling. Die Donnerechsen sind aus Thunder Ridge entkommen.«

»Wie konnte das passieren?« fragte Burx.

Thrall funkelte seinen Krieger an. »Lass ihn sprechen – vielleicht erfahren wir es dann.« Zu dem Jungen sagte er: »Weiter.«

»Ein Farmer namens Tulk hörte sie heranstürmen. Er rief seine Söhne, und sie verjagten die Echsen, bevor sie seine Ernte zerstören konnten. Aber niemand hat je davon gehört, dass Donnerechsen Thunder Ridge verlassen hätten. Deshalb haben er und seine Söhne sich mit dem Nachbarfarmer und dessen Söhnen zusammengetan und sind nach Thunder Ridge gezogen.«

Thrall nickte. Thunder Ridge wurde von einem dichten Wald begrenzt – mit dicken, tief verwurzelten Bäumen –, den die Echsen nicht durchqueren konnten. Wer beweglich und biegsam war, konnte den Wald überwinden. Aber Donnerechsen gewiss nicht.

»Als sie dort ankamen, sahen sie, dass der Wald abgeholzt war. Die Echsen haben sich selbst einen Weg geschaffen. Die Farmer fürchten um ihre Ernte.«

Thrall war gedanklich noch beim ersten Teil der Meldung. »Abgeholzt? Wie genau?«

»Die Bäume waren allesamt abgeschnitten. Die Stümpfe, die übrig waren, reichten nur eine Handbreit über den Boden.«

Burx fragte: »Wo wurde das viele Holz hingebracht?«

Der Junge zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Sie haben keine Äste gesehen, nichts, nur die Stümpfe.«

Thrall schüttelte den Kopf. »Wie ist das möglich?«

»Ich weiß nicht, wie das möglich ist, Kriegshäuptling«, sagte der Junge. »Aber genauso ist es passiert, das ist so sicher, wie ich hier stehe.«

»Das hast du gut gemacht.« Thrall entließ den Boten mit einem militärischen Gruß. »Lass dir etwas zu essen und zu trinken geben. Vielleicht habe ich noch ein paar Fragen, nachdem du dich gestärkt hast.«

Der Junge nickte. »Danke, Kriegshäuptling.« Damit eilte er hinaus.

»Das waren die Menschen«, sagte Burx, kaum dass der Bote den Thronsaal verlassen hatte. »So muss es sein. Sie haben schon so oft nach Holz aus den Wäldern von Thunder Ridge gefragt. Ein Orc würde das Land sicher nicht so schänden.«

Obwohl Thrall nicht schlecht von den Menschen denken wollte, musste er Burx insgeheim Recht geben. Kein Orc aus Durotar würde so etwas tun.

»Sie können unmöglich so viel Holz von Thunder Ridge zur Küste transportiert haben, ohne dabei beobachtet worden zu sein. Wären sie über Land gezogen, hätte man sie auch sehen müssen, dasselbe gilt für den Fall, dass sie Luftschiffe einsetzten.«

»Es gäbe eine dritte Möglichkeit«, sagte Kalthar.

Wieder schüttelte Thrall seufzend den Kopf, denn er ahnte, worauf Kalthar hinaus wollte. »Magie?«

»Ja, Magie«, sagte Burx. »Und die mächtigste Zauberin in Theramore ist deine hübsche Lady Proudmoore, Jaina.«

»Lady Proudmoore kann nicht dahinterstecken«, sagte Kalthar. »Diese Schändung des Landes ist verwerflich. Die Menschen sind dafür verantwortlich... und doch nicht.«

»Was willst du uns denn jetzt damit wieder sagen?«, fragte Burx ärgerlich.

»Du sprichst in Rätseln«, sagte auch Thrall. Dann lachte er. »Wie immer.«

»Hier sind höhere Kräfte am Werk, Thrall«, sagte Kalthar. »Machtvolle Kräfte.«

Burx stampfte mit seinem Fuß auf. »Lady Proudmoore verfügt über machtvolle Zauberei. Die Menschen haben viele Gründe, warum sie diese Bäume in ihren Besitz bringen könnten. Dadurch erhalten sie stärkeres Holz für ihre Boote. Was es ihnen wiederum erleichtern würde, unsere Handelsschiffe zu belästigen. Außerdem setzt es die Donnerechsen frei, wodurch unsere Farmen verwüstet werden...« Burx stellte sich vor Thralls Thron. Sein Gesicht war dem des Kriegshäuptlings so nah, dass seine Hauer die von Thrall fast berührten. »Es passt, Kriegshäuptling, es passt alles. Und du weißt es.«

In leisem Ton sagte Thrall: »Was ich sicher weiß, Burx, ist, dass Lady Proudmoore sich gegen ihren eigenen Vater gestellt hat, statt das Bündnis zwischen Durotar und Theramore zu zerstören. Glaubst du wirklich, sie würde die Allianz wegen ein paar Bäumen opfern?«

Burx trat zurück und warf die Arme in die Luft. »Wer kann schon sagen, was Menschen denken?«

»Ich kann es. Wie du eben ausgeführt hast, wurde ich von Menschen erzogen. Ich habe beides gesehen, die beste und die übelste Seite der Menschen. Und ich kann, wie du weißt, erkennen, dass Jaina Proudmoore nicht zu den Menschen gehört, die so etwas tun würden

Burx verschränkte verteidigend seine Arme vor der Brust und sagte: »Es gibt keine Menschenmagier auf Kalimdor, von denen wir wüssten. Was lässt das für andere Möglichkeiten zu, Kriegshäuptling?«

»Das weiß ich nicht.« Thrall lächelte. »Als Leutnant Blackmoore mich wie einen Mensch erziehen ließ, musste ich viele philosophische und naturwissenschaftliche Abhandlungen lesen. Bemerkenswert unter all dem war ein Vermerk, der mir im Gedächtnis haften blieb. Und zwar, dass am Anfang aller Weisheit die Aussage ,Ich weiß es nicht' steht. Wer zu diesem Eingeständnis nicht fähig ist, wird niemals etwas lernen. Und ich rühme mich der Fähigkeit, lernen zu können, Burx.« Er stand wieder auf. »Schick Krieger nach Drygulch. Sie sollen versuchen, die Donnerechsen einzufangen. Gib ihnen alle Unterstützung, die sie brauchen, um das Problem unter Kontrolle zu bringen.« Dann sah er Kalthar an. »Hol den Talisman. Ich werde mit Lady Proudmoore reden.«

»Wir sollten etwas tun.« Burx stampfte wieder mit dem Fuß auf, selbst als Kalthar langsam aus dem Raum ging, um zu erledigen, was Thrall ihm aufgetragen hatte. »Wir sollten nicht nur reden...«

»Reden ist der zweite Schritt, wenn man Dinge lernen will, Burx. Ich habe vor, herauszufinden, wer dafür verantwortlich ist. Jetzt geh und befolge meine Anweisungen.«

Burx wollte etwas erwidern, aber Thrall unterband es.

»Schweig, Burx! Du hast deine Position mehr als klar gemacht. Selbst du wirst mir zustimmen, dass die Probleme von Drygulch im Moment dringlicher sind. Jetzt geh und tu, was ich dir aufgetragen habe, bevor unsere Farmen noch tatsächlich verwüstet werden.«

»Selbstverständlich, Kriegshäuptling«, murrte Burx. Er grüßte, wie es der Bote getan hatte, und ging.

Thrall hoffte, dass Jaina seine Verteidigung verdiente, und tief in seinem Herzen wusste er, dass es so war.

Aber wenn nicht Jaina Proudmoore die Bäume gestohlen und die Donnerechsen freigelassen hatte... wer dann?

Загрузка...