13

Lorena war enttäuscht, aber nicht wirklich überrascht, als sie Kristoff auf Lady Proudmoores Thron sah. Die Lady selbst vermied es, auf diesem Ding zu sitzen. Ganz anders ihr Kämmerer, wenn er sie vertrat.

Kristoff hockte auch weniger auf dem Thron, als dass er sich darauf drapierte. Seine schmalen Schultern hingen herab, und er saß schräg, sodass ein Bein über die Seite baumelte. Er las in einer Schriftrolle, als Lorena von Duree hereingeführt wurde.

»Oberst Lorena möchte Euch sehen, Sir«, sagte die alte Zofe kleinlaut.

»Was ist los, Oberst?«, fragte Kristoff, ohne von seinem Dokument aufzuschauen.

»Strov ist verschwunden«, sagte sie ohne Einleitung.

Jetzt blickte er doch von dem Papier auf und hob eine Augenbraue »Sollte mir dieser Name irgendetwas sagen?«

»Er würde es, wenn Ihr den Treffen in den Gemächern der Lady etwas mehr Aufmerksamkeit zollen würdet.«

Kristoff legte die Schriftrolle zur Seite und richtete sich auf. »Mäßigt Euren Ton, wenn Ihr mit mir in diesem Raum sprecht, Oberst.«

Lorena starrte den Kämmerer verblüfft an. »Ich rede mit Euch, wie es mir gefällt, egal, in welchem Raum wir uns befinden. Lady Proudmoore hat Euch beauftragt, Theramore in ihrer Abwesenheit zu regieren. Das heißt aber nicht, dass Ihr dadurch die Lady werdet.« Sie lächelte selbstgefällig. »Dafür mangelt es Euch an Grundlegendem.«

Kristoff runzelte die Stirn. »Bis Lady Proudmoore zurückkommt, bin ich ermächtigt, in ihrem Auftrag zu handeln. Und Ihr werdet dem mit Respekt begegnen.«

»Ihr seid der Kämmerer, Kristoff, was Euch dazu ermächtigt, der Berater von Lady Proudmoore zu sein, genau wie ich. Verfallt deshalb nicht in Größenwahn.«

Kristoff lehnte sich auf dem Thron zurück, nahm die Schriftrolle auf und fragte gelangweilt: »Seid Ihr aus einem bestimmten Grund gekommen? Ich meine, außer mich in Frage stellen zu wollen?«

»Wie ich schon sagte, Strov ist verschwunden. Ich hatte ihn losgeschickt, um nach den Mitgliedern des Flammenden Schwerts zu fahnden. Ich habe mit seinem Bruder Manuel gesprochen, der mir bestätigt hat, dass im Demonsbane alles wie geplant verlaufen ist. Strov saß in einer Ecke, Manuel redete mit dem Kerl, von dem er annahm, dass er zum Flammenden Schwert gehört, und Strov folgte ihm. Das war vorgestern. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.«

»Und was geht mich das an?« Kristoff klang immer noch völlig desinteressiert.

»Weil er, Ihr schwafelnder Narr, nach dem Flammenden Schwert gesucht hat. Demselben Flammenden Schwert, das mich und meine Leute in Northwatch angegriffen hat. Ich denke, das ist verdächtig genug, oder nicht?«

»Nicht unbedingt.« Er legte die Schriftrolle erneut nieder. »Leute desertieren immer wieder vom Militär. Eine traurige Tatsache, von der ich annahm, dass sie Euch geläufig ist, Oberst.«

Lorena antwortete knapp: »Sie ist mir geläufig, Kämmerer. Aber ich kenne auch Strov. Er würde sich lieber ein Körperteil abhacken als zu desertieren. Er ist der beste Soldat, den ich habe. Ich will die Insel auseinander nehmen und ihn finden. Ich werde nicht hinnehmen, dass er einfach verschwindet!«

»Nein.«

Lorenas Hand ging instinktiv zum Schwert, aber sie wusste, dass es dumm gewesen wäre, den Mann auf Theramores Thron niederzustrecken – ganz gleich wie wenig er seine momentanen Privilegien auch verdienen mochte. »Was meint Ihr mit ,nein'?«

»Ich hatte angenommen, Ihr wärt mit der Definition des Wortes vertraut...«

»Sehr spaßig.« Sie nahm ihre Hand vom Schwertgriff und ging zu dem großen Fenster, damit sie Kristoff nicht ansehen musste. Der Himmel war so klar, dass sie Alcaz Island im Nordosten sehen konnte. »Dieses Flammende Schwert macht mir Sorgen, Kämmerer. Sie benutzen Magie und sie...«

»Im Moment ist das Flammende Schwert wenig mehr als ein Gerücht. Und noch dazu eines, möchte ich hinzufügen, das Ihr nicht beweisen könnt, weil Euer Gefreiter vermisst wird. Es tut mir Leid, ich kann Theramores Ressourcen nicht vergeuden, um einen Deserteur zu finden. Nicht, wenn ich diese Ressourcen anderswo dringend benötige.«

Lorena wirbelte herum. »Wovon redet Ihr?«

»Euer Kommen hat mir die Mühe erspart, Euch rufen zu lassen«, sagte Kristoff.

Lorena wunderte sich, warum er das nicht gleich gesagt hatte und sprach ihn darauf an.

Spöttisch antwortete Kristoff: »Es steht Euch nicht zu, die Person in Frage zu stellen, die auf dem Thron sitzt, Oberst. Stattdessen steht es Euch zu, den Befehlen dieser Person zu gehorchen. Und gerade jetzt sagt Euch diese Person, dass sich Orc-Truppen bei Kolkar Crag sammeln. Das ist der Grenzbereich zwischen Durotar und Northwatch.«

Sie verzichtete darauf, ihm zu erklären, dass sie verdammt genau wusste, wo Kolkar Crag lag. Stattdessen fragte sie mit einem finsteren Blick: »Wann ist das passiert?«

»Gerade erst heute Morgen. Major Davin braucht zusätzliche Verstärkung. Ich will, dass Ihr sie anführt.«

Es gehörte nicht zu Lorenas Job, alle Truppenbewegungen innerhalb von Theramore und Northwatch zu überwachen. Aber sie hätte sehr wohl darüber informiert werden müssen. »Zusätzliche Verstärkungen? Wurde Northwatch denn vorher schon verstärkt?«

»Ja, gestern. Es gab mehrere Zwischenfälle entlang der Handelsküste mit Orcs, die Menschen provoziert haben. Es hat sogar Verhaftungen gegeben. Und gerade in diesem Moment wird ein Menschen-Kapitän in Ratchet gefangen gehalten, weil ein Orc ihn angegriffen hat.«

Lorena nickte, weil sie den betreffenden Bericht gelesen hatte. »Und was ist daran schlimm? Die Gnome haben das Recht, Prügeleien zu beenden.«

»Das war keine Prügelei!« Kristoff brüllte – ein Gefühlsausbruch, der Lorena überraschte. Der Kämmerer war oft hochmütig, arrogant, und – das räumte sie gern ein – auch brillant in seinem Job. Aber sie hatte noch nie erlebt, dass der dürre Mann seine Stimme erhoben hätte.

»Ob es eine Schlägerei war oder nicht«, sagte sie in ruhigem Ton, den sie absichtlich als Kontrast zu Kristoffs anschwellender Lautstärke wählte, »ist nicht unsere Angelegenheit. Warum wurde Northwatch verstärkt?«

»Ich sagte Euch bereits, Orc-Truppen...«

»Ich meine die eigentliche Verstärkung.«

Kristoff zuckte mit den Achseln. »Major Davin hielt es für notwendig, und ich stimmte zu.«

Lorena schüttelte ihren Kopf und drehte sich zum Fenster um. »Major Davin glaubt nicht, dass die Orcs irgendetwas wert sind, Kämmerer. Ich würde seiner Aussage in dieser Sache nicht trauen. Er übertreibt möglicherweise.«

»Ich glaube nicht, dass er das tut. Schon gar nicht jetzt, wo sich gerade die Truppen sammeln.« Kristoff stand auf, verließ den Thron und blieb neben Lorena stehen. »Oberst, wenn Northwatch zur Front eines neuen Krieges zwischen Menschen und Orcs wird, sind wir vorbereitet. Deshalb entsende ich zwei Garnisonen und ebenso die Leibwache.«

Als er das gesagt hatte, starrte Lorena ihn mit offenem Mund an. Sie wechselte rasch die Position, damit sie Kristoff ansehen konnte und sich gleichzeitig von ihm entfernte. »Die Leibwache? Deren Aufgabe ist der Schutz von Lady Proudmoore.«

Ruhig antwortete Kristoff: »Die gerade nicht mit uns in Kontakt steht und außerdem auf sich selbst aufpassen kann. Besser ich setze sie in Northwatch ein, als dass ich sie hier nutzlos herumsitzen lasse.«

Wieder schüttelte Lorena den Kopf. »Ihr macht einen riesigen Fehler, Kristoff. Im Moment haben wir nur eine angespannte Situation. Das bedeutet nicht gleich einen neuen Krieg.«

»Vielleicht nicht. Aber besser, man ist auf einen Krieg vorbereitet, den man nicht austragen muss, als unvorbereitet auf einen zu sein, den man führen muss.«

Die Logik war bestechend, gefiel Lorena aber trotzdem nicht. »Und was, wenn die Orcs das als kriegerischen Akt betrachten?«

»So beurteile ich deren Aktionen, Oberst. Wir brauchen dort unseren besten Truppenkommandeur. Deshalb will ich, dass Ihr die Verstärkung für Northwatch anführt. Schnelligkeit zählt. Nehmt Eure höheren Offiziere per Luftschiff mit, um alles vorzubereiten. Der Rest der Truppe wird im Boot reisen und rechtzeitig eintreffen, um Eure Anweisungen auszuführen, wenn er mit Euch zusammentrifft.«

Lorena seufzte. Wenn das Luftschiff bereits vorbereitet war, hatte Kristoff seine Entscheidung getroffen, bevor sie diesen Raum betreten hatte. Trotzdem konnte sie noch einen letzten Trumpf ausspielen. »Ich glaube, wir sollten warten, bis Lady Proudmoore zurückkommt.«

»Das zu glauben ist Euer gutes Recht.« Kristoff ging zurück zum Thron und setzte sich darauf. Dabei legte er seine Arme theatralisch auf die breiten Lehnen.

»Lady Proudmoore ist damit beschäftigt, ihrem netten Orc-Freund zu helfen, während die Orcs ihre Verteidigungsanlagen bemannen und sich darauf vorbereiten, uns zu vernichten. Ich werde nicht zulassen, dass alles, was sie aufgebaut hat, zerstört wird, weil sie in Bezug auf Thrall blind ist. Nun denn, Oberst, Ihr habt Eure Befehle. Führt sie aus.«

»Kristoff, es ist ein Fehler. Lasst mich Strov suchen. Dann kann ich herausfinden...«

»Nein.« Kristoff entspannte sich. »Nun gut, Oberst. Ich will Euch ein Zugeständnis machen: Ihr dürft zwei Soldaten für die Suche nach Strov abstellen. Mehr kann ich nicht entbehren.«

Sie nahm an, dass sie von dem Kämmerer nicht mehr bekommen würde. »Danke. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet. Es scheint, ich muss meine Offiziere zusammenrufen.«

Kristoff nahm die Schriftrolle mit seiner rechten Hand wieder auf und entließ Lorena mit einem Wink seiner Linken. »Ihr dürft gehen.«

Sie drehte sich um und verließ den Thronsaal bebend vor Zorn.

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