Vierter Teil Der Mensch

Eins

Die Zelle war winzig. Vier mal vier Schritt. Da hatte ich bei den Alari mehr Platz gehabt.

Außerdem nahm die Hälfte des Raumes das Bett ein.

Nicht mal umhergehen konnte man hier. Nur aufstehen, sich umdrehen, auf dem Fußboden Liegestütze machen ... und sich danach wieder hinlegen. Gut, angeblich sollte ich hier nicht lange bleiben. Die Entscheidung würde diesmal nicht der Weltrat treffen. Schließlich handelte es sich ja nur um eine Lappalie. Daher würde die Entscheidung der Ausbilder Fed treffen. Unverzüglich und gerecht. Andere Ausbilder würden das Urteil bestätigen oder modifizieren.

Das Resultat würde man mir mitteilen.

Besonders komisch fand ich, dass sich das Ganze Reue des Ausbilders nannte.

Formal galt ich als unschuldig. Denn ich war ja nur schlecht erzogen.

In die Wand war ein Bildschirm eingelassen, der jedoch nicht funktionierte. Ein Terminal fehlte.

Vier mal vier Schritt, und wenn man nicht übers Bett stiefelte, zwei mal vier.

Angeblich sollte ich nicht lang hierbleiben ...

Der Schirm leuchtete auf, als ich mich auf dem Bett wälzte und an die graue Decke starrte, die mit einer einzigen matten Lampe aufwartete. Wie vorausschauend, dass es selbst im Internat ein absolut solides Gefängnis gab. Allerdings hieß es hier Karzer ...

»Ich bin schuldig der missglückten Erziehung des Nik Rimer ...«

Ein Blick auf den Bildschirm bewies mir, dass der Ausbilder Fed in der Tat unglücklich aussah. Man hatte mir erklärt, die Übertragung werde für alle Ausbilder auf Heimat ausgestrahlt. Ihnen sollte Feds Erzählung eine Lehre sein ...

»Es gibt nichts Schlimmeres als einen Schützling, der die Hand gegen seinen Ausbilder erhebt ...«, brachte Fed halb flüsternd heraus. »Wie wird da seine nächste Tat aussehen? Wird er eine Frau demütigen? Ein Kind schlagen?«

»Du lügst, du Schwein«, sagte ich gleichmütig zum Bildschirm.

Aber Fed hörte mich nicht. Zumindest jetzt nicht. Mein Rachedurst fand jedoch Gefallen an der Vorstellung, dass er sich später die Aufzeichnung ansehen würde. Denn garantiert wurde die Zelle mit einer Kamera überwacht.

»Nach Auffassung der Ärzte leidet Nik Rimer an psychischer Regression, die durch eine Amnesie hervorgerufen wurde«, fuhr Fed fort. »Er zeigt erneut die emotionalen Reaktionen eines Kindes. Aber selbst das entschuldigt mich nicht. Denn auch das heißt nur, dass ich zu spät jene abnormen Aspekte seiner Persönlichkeit korrigiert habe, die ihn jetzt in dieses Unglück getrieben haben. Impulsivität, Ungeduld, Selbstgewissheit ...«

Ich lachte. Vielleicht werden die Kinder jetzt noch früher ins Internat gesteckt ...

»Ich bitte um Strafe für mich«, verlangte Fed. »Um die Strafe ... eines gesamtplanetaren Tadels. Ich bitte um Mitleid mit meinem Schüler ... und seine Einlieferung in ein Sanatorium auf unbestimmte Zeit.«

»Ich ändere das Sanatorium in einen Tadel«, blaffte ich. »Du Pharisäer ...«

Auf dem Bildschirm senkte der Ausbilder den Kopf. Er wartete.

»Die Entscheidung wurde getroffen«, verkündete eine weibliche Stimme. »Ausbilder Fed, Ihre Arbeit wurde für unbefriedigend befunden. Ihnen wird die Möglichkeit gewährt, Ihre Schuld durch Arbeit im Internat Weißes Meer zu sühnen.«

»Danke«, hauchte Fed.

»Schützling Nik Rimer, Ihr Verhalten wurde für asozial und gefährlich befunden. Sie werden auf unbestimmte Zeit ins Sanatorium überstellt, ohne das Recht auf Revision der Entscheidung. Sie haben das Recht, Ihre Meinung zu äußern, wir hören Sie.«

Das versprach, komisch zu werden.

»Könnte es nicht sein, dass Sie allesamt unrecht haben?«, fragte ich.

»Die Gesellschaft kann sich nicht irren.«

»Warum nicht?«

»Fehler sind eine Abweichung der Persönlichkeit von den Gesetzen der Gesellschaft. Die Gesellschaft ist per definitionem frei von Fehlern.«

Mir kam der Verdacht, ich spräche mit einer Maschine.

»Und wenn die Ausgangsprämissen falsch sind?«

»Eine Schlussfolgerung über die Unangemessenheit des Systems kann nur ziehen, wer außerhalb des Systems steht. Sie sind Teil der Gesellschaft, Nik Rimer.«

»Ich befinde mich hinter Schloss und Riegel«, hielt ich dagegen.

»Haben Sie alles gesagt?«

Ich dachte kurz nach. »Ja, absolut alles.«

»Die Entscheidung ist getroffen und öffentlich zur Kenntnis gebracht worden.«

Der Bildschirm erlosch.

Wie schnell und traurig meine Karriere als Ausbilder endete!

Zehn Minuten wartete ich, dann kam ich zu dem Schluss, man würde mich nicht so schnell holen, legte mich bequemer hin und versuchte einzuschlafen. Natürlich öffnete sich prompt die Tür.

Mich holten Han und Tag.

Möglicherweise mussten die Freunde des Verbrechers seine Eskorte stellen. Vielleicht wollte sich aber von den anderen Ausbildern auch einfach niemand an mir die Hände schmutzig machen.

»Steh auf, Rimer«, befahl Han. Er hielt eine Waffe in Händen. Eine kleine silberne Pistole.

»Wie heißt denn dieses Ding?«, fragte ich, während ich mich erhob.

Han war ziemlich nervös. Er verkraftete all das nicht besonders gut. Allerdings wäre es mir in meiner Lage unnatürlich vorgekommen, ihn zu bedauern.

»Das ist ein Muskelrelaxator, Rimer. Er wird in der Medizin im Falle von Krämpfen eingesetzt und ruft eine vorübergehende Muskelerschlaffung hervor.«

»Wie bequem, nicht wahr?« Ich grinste. »Genau wie bei meinem Schiff, das hatte ja auch keine Waffe. Deshalb habe ich das Raumschiff der Nicht-Freunde mit den denkbar friedlichsten Gerätschaften abgefackelt ...«

»Rimer, du bist krank. Die Menschen können schon seit langer Zeit auf jede Waffe verzichten.«

»Natürlich können sie das. Bei einer derartigen Auswahl an friedlicher Technik ...«

Ich trat an ihnen vorbei in den Gang hinaus, Tag und Han blieben hinter mir, in meinem Rücken.

»Geh vor, Rimer, wir sagen dir die Richtung.«

»Hast du meinen Namen schon vergessen, Han?«

»Was soll das, Nik?«, fragte Tag. »Du weißt doch, dass du in deinen Rechten eingeschränkt bist.«

»Ja, schon gut. Wohin?«

»Zum Ausgang. Und dann zur Transportkabine.«

In dem Krankenhausblock, in dem der Karzer lag, herrschte gähnende Leere. Wir liefen an den durchscheinenden Wänden der Zimmer mit den sorgfältig gemachten kleinen Betten entlang, an dem großen, schneeweiß blitzenden Operationssaal, kamen in einen Gang, der bereits zum allgemeinen Internatsteil gehörte, und hielten auf die Tür zu. Unter der Kupferglocke am Eingang stand noch immer der kleine Junge. Er sah mich mit nahezu heiligem Entsetzen an.

Armer Lotti. Wie lange deine sinnlose Wacht am Internatseingang wohl noch dauern wird ...?

»Ri ... Nik, versprich mir, dass du nicht versuchst abzuhauen.«

»Warum das?«

»Ich will die Kinder nicht mit dem Anblick der Waffe erschrecken.«

»Gut«, lenkte ich ein. »Steck sie weg.«

»Aber ich kann sie jederzeit ziehen«, warnte mich Han.

Da fing ich an zu lachen. Was sollte das? Spielten sie selbst heute noch Regressor?

So verließen wir Mütterchens Licht, drei Freunde, einer lachend, die beiden anderen noch über den Witz grübelnd ...

Ich bedauerte ein wenig, dass Katti nicht noch kam. Dagegen freute mich, dass Fed weggeblieben war. Als wir den Waldrand fast erreicht hatten, blickte ich noch einmal zurück auf das Internatsgebäude und meinte, hinter dem flugs erlöschenden Fenster im dritten Stock die Figur des Ausbilders erkannt zu haben. Ob wir uns je wiedersehen würden?

Der Weg zurück zur Kabine kam mir kürzer vor. Da es bereits dämmerte, achteten Tag und Han darauf, sich dicht hinter mir zu halten. Die beiden waren nervös. Na klar, vielleicht würde ich mich plötzlich in das Wäldchen schlagen, mich dort verstecken und nachts die Kinder erschrecken, indem ich in dem friedlichen Park Geschrei und das Geräusch von Ohrfeigen produzierte ...

Das ist ein gutes Wort, Ohrfeigen. Wer sich das ausgedacht hatte ... Dehnbar und kränkend.

»Nik ...«, ließ sich Tag hinter mir zaghaft vernehmen. »Nik, hörst du mich?«

»Ja.«

»Wir werden versuchen, eine Revision der Entscheidung zu erlangen. In einem Jahr oder in zweien. Wenn deine Genesung Fortschritte gemacht hat.«

»Was ist ein Sanatorium, Tag?«

»Ein Ort, an dem asoziale Verhaltensformen behandelt werden.«

»Und wie?«

»Das weiß ich nicht, Nik.«

»Gibt es nur ein einziges Sanatorium für die ganze Heimat?«

»Natürlich nicht.«

»Das heißt, es gibt viele mit asozialen Neigungen?«

Lange Zeit sagte niemand ein Wort.

»Das wissen wir nicht, Nik«, räumte Han schließlich ein. »Es gehört sich nicht, darüber zu reden.«

»Ihr lebt ein bequemes Leben, Leutchen.«

Wenn ich mich nicht täuschte, seufzte einer der beiden.

»Du hast einen Fehler gemacht, Nik«, sagte Tag. »Du hast dich absolut unanständig verhalten. Direkt widerlich.«

»Ich werde ja Zeit haben, meine bisherige Meinung zu ändern. Oder zu festigen. Werdet ihr mich besuchen?«

»Ich weiß nicht, ob das erlaubt ist«, gab Tag zu.

»Verstehe. Wenn ihr wollt, bringt es in Erfahrung. Wisst ihr, wo ich hinkomme?«

»Dein Sanatorium heißt Frischer Wind. Das merken wir uns.«

»Ein schöner Name«, gab ich zu.

Durch die Bäume drang schwaches Licht. Die Kabine schimmerte, das Plastik leuchtete, es zuckten fliederfarbene Blitze darüber.

»In unserer Kindheit sind wir gern hierhergekommen«, sagte ich. »Wir haben uns im Gebüsch versteckt und dieses Licht beobachtet. Und davon geträumt, dass jemand ins Internat kommt und wir uns mit ihm unterhalten. Dass wir den Kopf gegen seine zärtliche Hand schmiegen. Vielleicht würden uns ja auch einmal unsere Eltern besuchen. Obwohl das absolut unwahrscheinlich war.«

Hinter mir breitete sich Stille aus.

»Du erinnerst dich daran?«, fragte Tag.

»Nein, Freunde. Ich weiß, dass es so gewesen ist.«

»Wieso das?«

»Weil ich ein kranker, asozialer Typ bin.«

Vor der Kabine blieb ich kurz stehen und genoss das Spiel des Lichts. »Welche Nummer hat die Kabine im Frischen Wind?«, erkundigte ich mich.

»Dort gibt es nur eine Kabine.« Tag druckste, bevor er verlegen hinzufügte: »Du kannst das Terminal nicht mehr benutzen. Dir wurden doch deine sozialen Rechte genommen.«

»Dann erledige du das.«

Er trat an die Kabine heran und berührte den Aktivator. Die Türen öffneten sich.

»Sehen wir uns noch mal?«, fragte ich.

Die beiden hüllten sich in Schweigen.

»Grüßt Katti von mir«, bat ich. »Sagt ihr, dass es mir leid tut, wie alles gekommen ist. Aber ich konnte nicht anders.«

»Aber warum? Warum, Nik?«, presste Tag mit gequälter Stimme heraus.

»Weil Mistkerle eins auf die Schnauze kriegen müssen. Ungeachtet der Folgen.«

Inzwischen war es völlig dunkel, und ich konnte ihre Gesichter nicht erkennen. Ich trat in die Kabine und hob die Hand zum Abschied.

Raumverschiebung ohne Rückkehr. Sanatorium Frischer Wind.

»Los schon, du Blechdose«, knurrte ich.

Unter mir flammte Licht auf, und die Dunkelheit außerhalb der Kabine verzog sich kurz.

Schon war ich da.

Das Sanatorium trug seinen Namen mit gutem Grund. Der Wind hier war frisch. Sogar sehr frisch.

Ich stand bis zu den Knöcheln im Schnee. Eishagel peitschte auf mein Gesicht ein. Meine Aufmachung war hier reichlich fehl am Platze. Aber ich sollte froh sein, dass ich nicht Shorts und ein kurzärmliges Hemd trug.

Der Zylinder der Transportkabine schien der einzige Hinweis auf eine Zivilisation in diesem endlosen Schneefeld zu sein. Graue Finsternis bedeckte den Himmel, nur im Westen schimmerte er unter den letzten Strahlen Des Mütterchens noch zart durch. Ich drehte mich nach links und nach rechts - in einem Anflug von Panik, dass sie genau das für mich vorgesehen hatten: Eine einsame Kabine mitten in einer Schneewüste. Und den Entzug der sozialen Rechte.

Meine Rechte hätten mir allerdings sowieso nichts genützt. In der Kabine gab es ja nicht mal ein Terminal. Ich war über eine Einbahnstraße hierhergekommen.

Ich machte einen Schritt, dann noch einen, spürte, wie mir trockener, loser Schnee in die Schuhe geriet. Ich sackte bis zu den Knien ein.

»Das darf doch nicht ...«, flüsterte ich. Alles war so dämlich, so hoffnungslos! »Ihr Mistkerle!«

In dem Moment sah ich einzelne Lichter, die sich in einer Kette am Horizont entlangzogen.

Also gab es hier doch Leben ...

Dort mussten Hochstände oder Türme stehen. Ziemlich weit weg. Ob ich zu denen gehen sollte?

Ich tastete mit dem Blick noch einmal den akkuraten Kreis der Lichter ab. Anscheinend begrenzten sie etwas.

Entweder die Transportkabine oder ... .

Etwa zweihundert Schritt entfernt standen, halb unter Schnee begraben - weshalb ich sie auch nicht gleich gesehen hatte -, flache, unscheinbare Gebäude.

»Da haben wir ja auch das Sanatorium«, sagte ich laut und fing mit dem Mund Schneespritzer auf. »Wird Zeit, dich zu erholen, Niki ...«

Durch den Schnee zu waten war schwierig. Und vor allem: ärgerlich. Noch hatte ich die makellosen Straßen der Stadt vor Augen, die Pfade des Internats. Mein Körper erinnerte sich noch an die sommerliche Wärme. Das hier schien nachgerade die Kehrseite der Welt zu sein.

Kälte und Nacht.

Vielen Dank, Ausbilder.

Schließlich erreichte ich die Häuser mit ihren geriffelten Mauern, den dunklen Fenstern, den flachen, mit Schneewehen und einer Eiskruste verzierten Dächern doch. Vor den Türen war der Schnee platt gestampft, was mir Hoffnung gab.

Also dann ...

Im Grunde hatte ich sowieso keine Wahl. Deshalb steuerte ich auf die nächstgelegene Tür zu. Ich berührte sie mit der Hand, doch es passierte nichts. Ich stieß gegen die Tür - denn sie würde ja wohl nicht nach außen aufgehen, das wäre bei einem solchen Schneefall einfach unklug, morgens würde man das Haus nie verlassen können ... Woher wusste ich das nun schon wieder?

Eigentlich spielte es aber gar keine Rolle. Was sollte ich jetzt tun? Erfrieren? Von Haus zu Haus rennen?

Ich trat gegen die Tür, hämmerte mit den Fäusten dagegen, ohne Schmerz in den tauben Fingern zu spüren. Es verging nicht weniger als eine Minute, bevor es im Schloss knackte und die Tür in die Mauer glitt.

Ein geräumiger Vorraum. Blendende Lampen an der Decke. Ein würfelförmiges Gitterding an der Tür - ich spürte sofort die Wärme, die davon ausging.

Und dann noch ein gebeugter älterer Mann, der mir die Außentür geöffnet hatte.

Seine Glatze und die in den Nacken gerutschte Strickmütze entblößten auf dem ganzen Kopf trockene Grindstellen. Er hatte kleine, hellblaue Augen, die sich in mich hineinbohrten, und ein dunkelhäutiges, hageres Gesicht.

Seine dicke, formlose Kleidung war von schmutzig grauer Farbe.

»Da bist du ja«, begrüßte er mich.

Man hatte mich also erwartet. Mich aber dennoch von der Kabine allein herstapfen lassen, obwohl ich die Gebäude durchaus hätte übersehen können.

Ich trat vor und schob den Mann beiseite. Schweigend machte er mir daraufhin freiwillig Platz.

Ich setzte mich vor den Heizwürfel und streckte die klammen Hände der Wärme entgegen. Langsam wich die Kälte aus meinem Körper.

Nach einer geraumen Weile schloss der Mann die Außentür. Er blieb stehen, trieb mich aber nicht an.

Ich zog die Schuhe aus und schüttelte den eingedrungenen Schnee heraus. Die dünnen weißen Socken waren jetzt braun und nass, ich wagte es jedoch nicht, sie ebenfalls auszuziehen. Nachdem ich mich etwas bequemer hingesetzt hatte, streckte ich die Füße der Wärme entgegen.

»Willst du da Wurzeln schlagen?«, fragte der Mann leise.

»Das wird sich finden«, warf ich ihm hin, ohne mich umzudrehen.

Der Mann gickelte, anscheinend gefiel ihm meine Antwort.

»Ich bin Agard. Agard Tarai.«

»Nik Rimer«, stellte ich mich vor.

Er ließ eine weitere Minute verstreichen, bevor er mich fragte: »Was ist, wollen wir jetzt weiter?«

»Ich habe den Eindruck, man würde mich schon mein ganzes Leben lang antreiben. Warte noch.«

Ich zog mir die Schuhe wieder an und bewegte die Zehen. Sie taten etwas weh, waren aber nicht abgestorben.

»Hast du dir Frost gefangen?«

»Nein.«

Ich stand auf und musterte Agard. Er war so hässlich, dass es ihn sympathisch machte.

»Was wäre passiert, wenn ich diese Häuser nicht bemerkt hätte, Agard Tarai?«

»Dann hätten die Wendigen Freunde dich gerettet.«

»Sind die etwa auch hier?«

»Das hier ist sozusagen ihr Zuhause.« Agard lächelte und entblößte damit weit auseinanderstehende, gelbe Zähne. »Die Bedingungen bei uns sind fast wie auf dem Äußeren Planeten, allerdings gibt es hier mehr Schnee. Das gefällt ihnen aber.«

Ich schaute mich noch einmal im Vorraum um, diesmal aufmerksamer und ruhiger. An der Wand waren in einem grob gezimmerten Holzverschlag zwanzig Spaten aufgestellt. Ganz normale Dinger, genau wie aus dem Burgenzeitalter. Die Hälfte von ihnen wurde häufig benutzt und hatte glänzende Griffe und funkelnde, abgeschliffene Blätter.

»Bin ich der elfte?«, fragte ich.

Agard folgte meinem Blick. »Kluger Junge«, meinte er nickend. »Ja, ja, es fehlt uns stets an Arbeitskräften. Viele kommen nämlich nicht in den Genuss, in den Frischen Wind geschickt zu werden.«

Ich trat vor die Tür, die ins Haus selbst führte. Sie stand halb offen.

»Lass dich nicht unterkriegen«, warf mir Agard nach.

Anscheinend war das ein ehrlich gemeinter Rat ...

Im Unterbewusstsein hatte ich mit etwas gerechnet, das sich mit dem Internat oder dem Wohnheim vergleichen ließe. Gänge, Treppen, kleine Zimmer ...

Vor mir lag jedoch nur ein einziger Raum. Schmutzige Holzwände, die mit irgendwelchen Aufschriften beschmiert waren. Fenster, durch die man nicht blicken konnte. Lediglich die Hälfte der Deckenlampen brannte, eine von ihnen flackerte, um sie herum prangte ein feuchter Fleck. Ob die Decke undicht war?

Die Einrichtung fügte sich ins Bild. An den Wänden standen ein paar Heizgeräte. Reihen von Etagenbetten aus Eisen, ein großer, zerkratzter Tisch mit einem Dutzend Stühlen und einem Sessel. Im Sessel saß ein Mann, der etwas älter war als ich. Mit seinem blassen Gesicht, den langen blonden Haaren und dem plüschigen, grellrosafarbenen Anzug nahm er sich hier wie ein zufälliger Gast aus. Bei meinem Anblick presste er die Lippen fest zusammen, winkte mich aber trotzdem heran.

Die Stühle waren ebenfalls alle besetzt. Ich ließ den Blick über die Gesichter schweifen und hielt gedanklich fest, dass die meisten Bewohner des Sanatoriums noch jung waren. Von Agard abgesehen, der mir langsam aus dem Vorraum nachschlurfte, gab es nur noch einen älteren Mann, einen sehr kräftigen, hochgewachsenen Mann mit klugem Gesicht, der einen eng anliegenden dünnen Anzug aus silbrigem Stoff trug, unter dem sich seine Muskeln wölbten. Er saß ein wenig abseits ... bewusst abseits.

Ich trat an den Tisch heran. Da es keinen freien Stuhl mehr gab, zögerte ich. Niemand sagte etwas. Daraufhin setzte ich mich auf den Rand des Tischs, indem ich einen Metallbecher zur Seite schob, der mit einer heißen, dampfenden Flüssigkeit gefüllt war.

»Recht forsch«, bemerkte der blonde Mann in leicht vorwurfsvollem Ton. »Wie heißt du?«

»Nik Rimer«, antwortete ich.

Der Mann trank einen Schluck aus seinem Becher und lächelte verzückt. Im Raum hing ein schwacher Geruch nach Alkohol. War der im Sanatorium etwa nicht verboten?

»Ist dir kalt?«

»Ein bisschen.«

»Dann wärm dich auf.«

Er hielt mir seinen Becher hin. Eine Sekunde wartete ich, ob mir jemand den Becher weiterreichte, denn ich wollte nicht vom Tisch aufstehen.

Schließlich nahm ich mir von einem zerkratzten Plastiktablett einen sauberen Becher und füllte mir mit einer Kelle etwas aus einem großen Topf ab. Ich trank.

Die Flüssigkeit war süß und heiß, mit einem guten Schuss Alkohol. Wärme durchströmte meinen Körper.

Der Mann hielt mir seinen Becher immer noch hin. Irgendwann zuckte er mit den Schultern und trank ihn selbst aus.

»Und weshalb hat man dich ins Sanatorium geschickt, Nik?«

»Ich bin falsch über die Straße gegangen.«

»Nik, wir sind hier unter uns«, bemerkte der Mann tadelnd. »Also erzähl.«

»Ich nehme an, ihr kennt die Geschichte sowieso. Ich habe meinem Ausbilder eine in die Fresse gehauen.«

»Wirklich?« Der Mann spielte den Erstaunten. »So etwas gehört sich nicht ...«

Was für eine Farce. Bis auf diesen blassgesichtigen Schönling vor mir schwiegen alle, ein paar musterten mich, ein paar wandten den Blick ab. Der ältere Kraftprotz betrachtete seine Finger, untersuchte sie mit der Neugier eines Blinden, der gerade eben sehend geworden war.

»Es gehört sich nicht, einen Ausbilder zu schlagen!«, wiederholte der Typ. »Wieso hast du das getan, Nik?«

»Es musste sein.«

Ich nippte erneut an dem heißen Alkohol.

»Er ist in Ordnung«, mischte sich hinter mir Agard überraschend ein. »Er ist in Ordnung, Kley.«

Er wandte sich nicht an den blassen Typ. Aber das hatte ich auch nicht erwartet.

Der Kraftprotz riss sich kurz von seinen Händen los und sah Agard missbilligend an. »Dich hat niemand gefragt. Komm her, Nik.«

Ich stellte den Becher ab und ging zu ihm.

»Ich heiße Kley Harter. Und zwar genauso, keine Spitznamen. Das musst du dir als Allererstes einprägen.«

Nach wie vor sah er mich nicht an, ließ er sich nicht zu einem Blick herab.

»Wir führen hier unser eigenes Leben, Nik. Ein schwieriges, anstrengendes Leben. Wir alle sind ... krank. Wir alle sind in Behandlung. Was ist die beste Medizin, Nik?«

»Arbeit.«

»Richtig. Das merk dir als Zweites. Angeblich hast du einen Hirnschaden. Das ist gut. Dann wirst du dich hier leichter einleben.«

Ich schwieg. Er gefiel mir immer weniger. Und dieses Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit.

»Such dir irgendeines der oberen Betten aus«, wies mich Kley an. »Die Nachtzeit wurde bereits eingeläutet, daran müssen wir uns halten.«

»Und warum eines der oberen Betten?«, fragte ich mit einem Blick auf die Reihen von Betten. »Sind die unteren alle belegt?«

»Für dich ja.«

Im Grunde war es mir völlig einerlei, wo ich schlief. Ich wollte auch nicht wissen, warum ich mich an die Nachtzeit halten sollte, während sonst niemand ans Schlafen dachte. Ich ging zu einer der Reihen, zog mein Jackett aus und warf es auf das nächstbeste Bett.

»Komm zurück«, befahl Kley leise. »Unser Gespräch ist noch nicht zu Ende. Abgesehen davon ist es verboten, sich ohne Erlaubnis zu entfernen. Das musst du dir merken.«

»Als Drittes?«

Endlich sah er mich an. Durchdringend, abschätzend.

»Ja.«

»Was sonst noch?«

Kley erhob sich. Er überragte mich um einen Kopf. Und sein Alter dürfte seine physische Verfassung kaum beeinträchtigen.

»Einen alten Ausbilder zu schlagen ist mies«, sagte er. »Ich bin ebenfalls Ausbilder. Könntest du mich schlagen?«

»Ohne Grund nicht.«

»Ganz recht.« Kley breitete die Arme aus. »Ohne Grund sollte man kein schlechtes Verhalten an den Tag legen.

Aber was wäre, wenn du einen Grund hättest? Denk gut darüber nach! Und? Können wir das Thema abhaken?«

Ich nickte.

»Guck einmal hinter diese Tür«, verlangte Kley.

Unter dem Blick von zehn Leuten ging ich schweigend zur Tür. Ich öffnete sie. Im Unterschied zur Außentür funktionierte das Schloss hier.

Die Sanitäreinheit. Fünf Klos, ihnen gegenüber fünf Duschkabinen.

»Fangen wir mit der Therapie an«, sagte Clay. »Die Sanitäreinheit muss sauber gemacht werden. Die Klosetts müssen blitzen. Wenn du gut suchst, findest du eine Bürste und Scheuermittel. Wenn du sie nicht findest, musst du dir was einfallen lassen.«

»Ich glaube, diese Arbeit wird nach einer bestimmten Reihenfolge erledigt«, sagte ich.

»Völlig richtig. Und heute bist du dran.«

Ich zögerte. Hier herrschte ein eigenes Leben, mit eigenen Gesetzen. Vielleicht mussten Neulinge die Klos schrubben und in den oberen Betten schlafen.

Aber diese Gesetze gefielen mir nicht.

Ich schloss die Tür.

»Ich glaube, da irrst du dich, Kley Harter«, sagte ich.

»Aber vielleicht irrst auch du dich? Und zwar gewaltig?«

»Vielleicht«, räumte ich ein. »Aber wenn, dann mache ich wenigstens meinen eigenen Fehler.«

Kley kam auf mich zu. Ganz gemütlich.

»Kli, das ist ein Regressor, vergiss das nicht! Er kennt fiese Tricks!«, schrie der Blonde mit dünner Stimme. »Kli, der tut dir am Ende noch was!«

Kley reagierte nicht. Er lächelte sogar. Ob die Ausbilder vielleicht auch fiese Tricks kannten? Oder war er sich sicher, die Amnesie hätte mir alle Kenntnisse genommen ...?

Ich schaffte es nicht, auf den Schlag zu reagieren. Als ich ihn bemerkte, war mir klar, dass ich einen Kinnhaken einstecken würde, aber mein Körper war noch zu matt, zu entspannt von der Wärme.

Die Welt schwankte, und ich flog an die Wand. Ich prallte mit dem Hinterkopf auf, dass mir schwarz vor Augen wurde. Meine Hand traf auf das glühende Gitter eines Heizgeräts. Der Schmerz der Verbrennung brachte mich zur Besinnung. Ich fuhr zusammen und rappelte mich an der Wand hoch. Aus der aufgeplatzten Lippe tropfte Blut.

»Fangen wir mit der Therapie an«, sagte Kley. »Also, es gehört sich nicht, mit dem Barackenältesten zu streiten, erst recht nicht, wenn er ein Ausbilder ist ...«

»Du bist schon lange kein Ausbilder mehr!«, schrie Agard plötzlich. »Lass den Jungen zufrieden, Kley.«

Tarais Stimme erstarb, als Harter kurz in seine Richtung blickte. Anscheinend bedauerte Agard seine Intervention sofort. Mir jedoch hatte sie Kraft gegeben. Eine bessere Stütze als die Wand in meinem Rücken.

Hatte ich wirklich unrecht?

»Bereust du?«, fragte Kley, als er auf mich zukam.

»Nein«, flüsterte ich.

»Das wird dir noch leidtun. Mann«, meinte Kley mitleidig.

Etwas veränderte sich. Etwas geschah mit mir. Die Farben traten leuchtender hervor, die Geräusche nahmen eine betäubende Lautstärke an. Das Atmen der Leute kam mir wie Donner vor, die Bewegungen Kleys langsam und ungelenk. Mein Herz setzte einen Moment lang aus - um dann wie wahnsinnig loszuhämmern, in einem verzweifelten Rhythmus. Poch-poch, poch-poch-poch ... Ich hatte mich schon einmal an dieser Grenze befunden, an diesem letzten Mal, das mich von einem schrecklichen und wahnsinnigen Moment trennte ... einem Moment, nach dem etwas passieren würde. Damals hatte ich, von Tag und Han festgehalten, widerstanden.

Aber diesmal nicht.

Kley sprang vor und streckte die Hand nach meiner Kehle aus. Ich wich zur Seite, glitt weg. Mein Körper lebte sein eigenes Leben, ich beobachtete nur das Geschehen, war ein betäubter, paralysierter Beobachter namens ... namens ...

Der Barackenälteste schlug gegen die Wand, bewegte den Kopf hin und her, drehte sich um. Doch da stand ich schon neben ihm. Ohne jede Hast wartete ich, bis Kley ausholte, verzweifelt ausholte, denn er hatte bereits begriffen, dass Jäger und Opfer die Rollen getauscht hatten.

Keine Angst, keine Angst, flüsterte in meinem Kopf ein unsichtbarer Chor. Das kannte ich, das war fast wie beim Steuerungssystem, dann aber doch ganz anders, absolut anders ... ich kannte das, ich erinnerte mich ...

Ich fing die Hand, die mich schlagen wollte, ab - was sich als genauso leicht herausstellte, als schnappte ich nach einem im Wind schwankenden Ast. Und das Knirschen, als die Knochen des ehemaligen Ausbilders unter meinen Fingern brachen, war ebenso hölzern und in keiner Weise schrecklich.

Er schrie auf, aber es steckten ungeheure Kraft und ein enormer Willen in ihm, in diesem alten, kräftigen Mann, der mich das Leben lehren wollte. Sogar einen Tritt unter die Gürtellinie versetzte er mir noch, einen starken und präzisen Tritt.

Ich verspürte keinen Schmerz.

Schmerz war für die anderen.

Von nun an und für immer.

Ich kugelte ihm den Arm aus, an der Schulter. Das ist ein schwaches Gelenk, und der Schmerz der reißenden Muskeln ist stärker als von einem gebrochenen Knochen.

Kampftransformation ...

Es waren drei, die sich auf mich stürzten, während ich über dem zu Boden gestreckten Kley Harter aufragte. Von den anderen rührte sich niemand. Sie erwiesen sich als weitsichtiger.

Jeder der drei bezog einen Schlag. Mehr bedurfte es nicht. Jedes Mal in den Bauch, ins Nervenzentrum. Ich wusste nicht, wohin ich schlagen musste, aber meine Hände wussten es. In die Knoten des parasympathischen Nervensystems, direkt ins Zentrum, damit umgehend eine unerträgliche Schmerzexplosion erfolgte. Drei Körper, die sich am Boden krümmten.

Ich wollte mehr!

Das gefiel mir!

»Nnnicht-Freuuund!«

Die Stimme des blonden Jüngelchens klang gedehnt und zäh. Er war inzwischen in den Vorraum geschlüpft und kam jetzt mit einem Spaten zurück. So linkisch wie er ihn hielt, konnte die Arbeitstherapie wohl nicht für alle im Sanatorium gelten ...

Ich streckte den Arm aus und fing das funkelnde Spatenblatt mit dem Handgelenk ab. Mein Hemd zerriss, vom scharfen Stahl zerschnitten.

Aus der aufgeschlitzten Stelle in meiner Haut trat ein Blutstropfen.

Mit der linken Hand umfasste ich das Gesicht des Mannes, vergrub mich in die Haut der rosafarbenen Wangen und schleuderte ihn in Richtung der Bettreihen. Er knallte mit dem Kopf gegen ein Metallgestell und verstummte.

Rückkehr in den Mimikrymodus ...

»Danke, Cualcua«, flüsterte ich dem Außerirdischen zu, der meinen Körper bewohnte, den Körper eines Menschen von der Erde.

Schmerz. Schwere. Mein Kopf platzte.

In ihm brach ein kleines Erdbeben aus. Der Abgrund, der meine Vergangenheit abgeschottet hatte, stülpte sich um, blähte sich zu einem Berg auf.

Wie weh das tat ...

Zu viele Wörter. Neue Wörter. Zu viel Gedächtnis.

Ich bin nicht Niki Rimer!

Ich bin Pjotr Chrumow!

Ein Konzentrationslager konnte man Sanatorium nennen, aber änderte das etwas?

»Auf eure Plätze, ihr Wanzen«, zischte ich.

Die Leute sprangen vom Tisch auf. Sie suchten zwischen den Betten Zuflucht, in der zweifelhaften Vertrautheit der ihnen zugewiesenen Plätze. Selbst die drei, die Kley zu Hilfe gekommen waren, zogen umgehend ab.

»Schafft den weg!«

Zwei Männer schleppten den ehemaligen Ausbilder gehorsam auf sein Bett.

»Gibt es hier ... einen Arzt?«, fragte ich, inzwischen wieder in normalem Tonfall. Einer der Gefangenen hob zaghaft die Hand. »Befass dich mit ... ihm.«

Ich setzte mich vor der Wand auf den Boden und bedeckte mein Gesicht mit den Händen.

Zu viele neue Wörter. Ein allzu rasanter Wechsel.

Großvater, Schule, Ausbildung, Fluggesellschaft, Hyxi, der Zähler, Danilow, die Alari ...

... und die hatte ich getötet. Wirklich getötet!


»Alles muss echt aussehen«, erklärte der Kommandant des rot-violetten Geschwaders der Alari. »Du wirst mit uns kämpfen und uns umbringen. Wir werden ebenfalls versuchen, dich umzubringen. Aber du hast gute Chancen. Keiner von uns wird einen Panzeranzug tragen. Die Landeeinheiten werden aus dem Flaggschiff gebracht. Die Reihen, die du durchbrechen musst, werden ausschließlich aus Piloten und Technikern bestehen. Und die beherrschen die Kunst des Zweikampfs nicht.«

»Ich will das nicht«, sagte ich der schwarzen Maus.

»Niemand will sterben. Das ist ein Gesetz des Lebens. Aber manchmal muss man alle Gesetze vergessen ...«


Mein Kopf barst vor Schmerz. Mein Herz verlangsamte sein Rasen.

Cualcua!

Ja ...

Warum bin ich so erbarmungslos gewesen?

Deine Aggressionszentren waren vorübergehend aktiviert. Für den Kampf war das unerlässlich.

»Nik Rimer, ich möchte mit Ihnen reden ...«

Ich schlug die Augen auf. Die Worte luden sich nicht sofort mit Sinn auf. Ich lernte gerade erst, in zwei Sprachen gleichzeitig zu denken. Agard Tarai stand vor mir. Ein hässlicher, finsterer Zwerg mit einem von Grind übersäten Kopf. Seine Strickmütze hatte er abgenommen und zerquetschte sie jetzt in der Hand.

»Sprich«, sagte ich.

»Die Patienten der sechsten Baracke des Sanatoriums Frischer Wind warten auf Ihre Anweisungen. Es sind bereits zwanzig Minuten vergangen, Nik Rimer.«

Nach terrestrischen Maßstäben war er um die fünfzig. Hier hatte das Jahr eine andere Länge, insgesamt lag die Lebenserwartung aber nicht viel höher ...

Ich schaute zu den Männern hinüber, die vor ihren Betten warteten. Der blasse Schönling schluchzte und rieb sich den Kopf. Kley lag im Bett, sein linker Arm war entblößt und mit durchscheinendem Stoff umwickelt worden. Er war jünger als Tarai, vierzig vielleicht oder fünfundvierzig ...

»Was ist mit ihm?«, fragte ich.

»Ein Bruch und eine ausgekugelte Schulter. Morgen wird Kley Schwierigkeiten bei der Arbeit kriegen.«

»Soll er sich erholen«, flüsterte ich.

Agard schaute mich mit schweigender Verblüffung an. Er zögerte. »Und die anderen?«, fragte er schließlich.

»Sie sollen alle schlafen«, befahl ich. »Morgenstund hat Vernunft im Mund ...«

Teufel auch! Wie verstümmelt das Sprichwort klang, wenn es durch die Sprache der Geometer gesiebt wurde!

Andererseits gewann es dadurch eine ungewohnte Tiefsinnigkeit. Und es nahm die Form eines Befehls an, denn ohne den Blick von mir zu wenden, legten sich die Menschen ins Bett.

»Gut, Nik Rimer.«

»Nenn mich Nik«, bat ich.

Agard sah mir unverwandt in die Augen.

»Wenn dich das nicht stört«, fügte ich hinzu.

»Nein ... gern ... Nik.«

»Ist noch etwas zu trinken da?«, fragte ich.

»Ja.«

»Gibt es hier vielleicht ein Plätzchen, wo wir ungestört sind? Wir müssen miteinander reden.«

Agard nickte schweigend. Er ging zum Tisch, füllte zwei Becher und bedeutete mir, ihm zu folgen. Das tat ich. Von Bett zu Bett wanderte leises Flüstern.

Tarai öffnete eine Tür in der Wand, die ich bisher nicht bemerkt hatte. Er blieb stehen und ließ mir den Vortritt.

War das Höflichkeit oder eine Falle?

Ich trat durch die Tür.

Ein gemütliches Zimmer.

Weicher Teppich auf dem Fußboden. Ein Bildschirm in der Wand, aber ohne Terminal natürlich. Ein kleiner Tisch, ein breites Sofa und zwei Sessel. Ein Schrank, der verschlossen war, und nicht, wie hier sonst üblich, weit offen stand. Eine Spiegeldecke.

Nach allem, was ich über den Alltag der Geometer wusste, stellte das hier nahezu den Gipfel des Luxus dar. Sogar in der Freiheit.

»Was ist das?«, fragte ich Tarai. Er kam ebenfalls herein, schloss akkurat die Tür hinter sich und stellte die Becher auf den Tisch.

»Das Zimmer zur psychologischen Entlastung.«

»Und wer entlastet sich hier?«

»Kley Harter und sein Schatz.«

Ich nickte. Wenn Tarai erwartet hatte, dass ich schockiert sei, hatte er sich getäuscht. Nur Nik Rimer, der noch irgendwo in mir lebte, zuckte angewidert zusammen.

»Jetzt hält man dich bestimmt für den Schatz des neuen Bosses.«

»Nein, Nik, so krank siehst du nicht aus ...« Agard lachte leise und strich sich über die grindige Glatze.

»Woher hast du das?«, fragte ich.

»Mich hat ein Wendiger Freund geküsst.« Agard lächelte finster. »Ich war ein Idiot, als ich hierhergekommen bin ... vor zehn Jahren.«

Ich erschauderte. Zehn von ihren Jahren - das waren fast zwanzig Jahre auf der Erde!

»Und weshalb bist du hierhergekommen?«

»Weil ich falsch über die Straße gegangen bin ...«, erklärte Agard ironisch. Er nahm in einem der Sessel Platz und langte nach seinem Becher. »Danke für die Abreibung, die du Kley verpasst hast. Dieses Stück Dreck hat schon lange eine ordentliche Lektion verdient.«

»Alle Ausbilder scheinen Dreck zu sein«, bemerkte ich mürrisch. Ich nahm meinen Becher und schnupperte daran. Heißer Fusel. Herr im Himmel, mit dem Busfahrer Kolja hatte ich nach der Landung auf der Straße ja schon echten Mist getrunken - aber selbst das Zeug war noch besser gewesen.

»Nun mach mal halblang!« Agard schüttelte den Kopf. »Ich will gern glauben, dass du guten Grund hattest, deinem Ausbilder eine zu semmeln. Aber sogar die Ausbilder haben Kley ohne jedes Mitleid hierhergeschickt. Insofern ... solltest du nicht so kategorisch urteilen, mein Junge.«

Ich setzte mich aufs Sofa und nippte an dem heißen Selbstgebrannten. Immerhin - er schmeckte weitaus besser, als er roch. Anscheinend verlangte mein Körper danach, gehörig durchgerüttelt zu werden ...

In der aufgenommenen Flüssigkeit sind Aldehyde, Fuselöl, Methyl- und Äthylalkohol enthalten. Soll ich eine Entgiftung vornehmen?

Ja, von allem, bis auf den Äthylalkohol, befahl ich dem Cualcua. Ich schüttelte den Kopf. Gott behüte, dass diese Symbionten je das Recht erhalten, auf der Erde zu leben. Das würde sämtlichen Onkel Koljas der Welt die Möglichkeit geben, sich absolut unbekümmert volllaufen zu lassen.

»Also, weshalb bist du nun hier?«, fragte ich.

»Ich bin Historiker. Genauer gesagt, ich war Historiker ...« Agard trank einen Schluck aus dem Becher. »Du hast doch sicherlich schon mal gehört, dass Geschichte die wichtigste aller Wissenschaften ist?«

»Ich erinnere mich nicht mehr daran. Aber ich glaube dir aufs Wort.«

Agard nippte erneut an dem Fusel. Er würde morgen keinen leichten Tag haben ...

»Sie ist die wichtigste, weil sie die gefährlichste ist.« Er lächelte bitter. »Denn manchmal ... manchmal ist es gefährlich, zu tief zu graben. Vor allem, wenn man anschließend über das spricht, was man ausgegraben hat.«

Ich wartete auf eine Konkretisierung dieser Worte, doch Agard hatte nichts dergleichen vor. Grinsend schaute er ins Nichts, als bereite ihm das Wissen, das ihn in den Frischen Wind gebracht hatte, selbst heute noch Vergnügen.

»Verstehe. Wenn du willst, erzähl - wenn nicht, dann nicht«, sagte ich.

»Wer bist du, Nik?«

»Ein Regressor. Ein Pilot der Fernaufklärung.«

»Ich habe von dir in den Nachrichten gehört«, bemerkte Tarai nachdenklich. »Vor langer Zeit allerdings ... Wir müssen uns täglich die Abendnachrichten angucken ... Ich glaube, du warst einer der Aufklärer, die den Raum vor dem Aufbruch ausgekundschaftet haben?«

»Vielleicht. Aber ich erinnere mich nicht daran. Ich leide wirklich unter Amnesie, Agard.«

»Dann werde ich es dir erzählen«, ereiferte sich Tarai. »Mein Gedächtnis funktioniert noch ... so überraschend das auch klingt ... Du warst einer von drei Aufklärern, die als erste in dieses Raumgebiet aufgebrochen sind.«

Der schwarze Abgrund des Kosmos. Lichtblitze, dann Schiffe, die aus dem unendlichen Nichts kommen ...

»Ich weiß nicht, was für mich gilt, aber mein Schiff war mit Sicherheit unter diesen drei«, räumte ich ein.

»Spaßvogel.«

Tarai genoss seine neue Stellung fraglos. Ein voller Becher mit Fusel in der Hand, eine Unterhaltung, die Deklassierung des bisherigen Barackenbosses ...

Und wer war ich denn, den einstigen Historiker zu verurteilen? Wenn man Jahr um Jahr hier lebt, stellt vermutlich jede Änderung des gewohnten Trotts einen Segen dar.

»Du schläfst besser hier«, erklärte Agard, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Sonst wäre diese Nacht deine letzte. Entweder würde Kley dich umbringen oder seine Freunde.«

»Und du?«

»Man würde es erst wagen, mich umzubringen, wenn du schon tot bist«, behauptete Tarai. »Du hast heute eine Vorstellung geliefert, die alle ins Grübeln bringen wird. Alle, bis auf Kley. Zwei Anführer kann es nicht geben. Selbst in einem Rattenschwarm kommandieren nicht zwei Nager, und wir ... wir sind nur wenig besser als Ratten.«

Cualcua?

Deine Sicherheit wird ständig überwacht. Ich brauche keinen Schlaf.

»Ich werde in der Baracke schlafen«, stellte ich klar. »Mach dir keine Sorgen deswegen. Demjenigen, der es wagen sollte, mich heute Nacht anzugreifen, wird das nicht gut bekommen.«

Tarai sah mich zweifelnd an. »Du musst es ja wissen, Regressor. Ich kenne schließlich nicht alle eure Tricks. Ich könnte dir höchstens sagen, wie ein Regressor vor hundert Jahren gewesen ist. Von denen heute ...«

»Erzähl mir, was es mit dem Aufbruch auf sich hat.«

»Was?«

»Was es mit dem Aufbruch auf sich hat.«

»Du weißt das wirklich nicht?«

»Ich leide an Amnesie«, wiederholte ich müde. »Einiges konnte ich rekonstruieren. Sehr vieles jedoch nicht.«

»Bei den Göttern der Alten!«, rief Tarai begeistert aus. »Ich, seit zehn Jahren ein Patient des Sanatoriums, kann jemandem etwas Neues mitteilen!«

»So ist es, Agard. Und ich werde dir sehr dankbar sein.«

»Du wirst dich doch noch daran erinnern, dass Das Mütterchen früher in einem anderen Himmel geleuchtet hat? Dass es früher so viele Sterne gab, dass sich die Nacht kaum von einem bedeckten Tag unterschied?«

»Gehen wir davon aus, dass ich mich daran erinnere. Obwohl ich es eigentlich gelesen habe.«

»Das ist doch nicht möglich!« Tarai fuchtelte mit der Hand, die den Becher hielt, so dass der wertvolle Schnaps überschwappte. Traurig betrachtete er die betropfte Wattejacke und fuhr fort: »Ihr seid schwer auf die Nase gefallen! Ihr, unsere geliebten Regressoren! Indem ihr sie, eure Nase, vor zwölf Jahren dorthin gesteckt habt, wohin ihr sie nie hättet stecken dürfen! Ihr wolltet Freundschaft herstellen - und habt eins auf die Finger gekriegt!«

»Und das freut dich?«, fragte ich erstaunt.

»Ja!«, antwortete Tarai in provokantem Ton. »Freilich, die Jungen, die gestorben sind, tun mir leid. Natürlich. Aber früher oder später musste so etwas passieren! Man kann nicht ohne Ende die eigene Ethik ins Universum hinaustragen, selbst wenn sie absolut richtig ist. Die Sterne brauchen unsere Liebe nämlich nicht, Nik!«

»Und was brauchen sie dann? Wenn nicht Liebe?«

Es war nicht so, dass ich nicht mit ihm übereinstimmte. Im Gegenteil, sein leiser Aufstand gefiel mir ... mir, dem Weltraumfuhrmann Chrumow, nicht dem Regressor Nik.

»Was sie brauchen? Ich weiß es nicht, Nik.« Agard breitete die Arme aus. »Ich bin nur Historiker. Kein Prädiktor, kein Philosoph oder Ausbilder ... Vielleicht Respekt?«

»Anstelle von Liebe?«

»Vor der Liebe. Falls sie sich denn einstellen sollte, natürlich. Die Liebe, das ist eine komische Sache ...« Tarai lachte. »Weißt du, wie viele Bedeutungen dieses Wort früher hatte? Und wie viele sind heute davon noch übrig? Na? Wenn man dir von klein auf die Freundschaft mit einem Mädchen erlaubt und dir ständig erzählt, dass ihr ein Paar seid, wie geschaffen füreinander, ist das dann wirklich noch Liebe?«

»Nein«, antwortete ich. Dann stellte ich mir Katti vor und korrigierte mich: »Ich weiß es nicht.«

»Du bist ein kluger Junge, Nik. Nur wenige bringen das überhaupt zustande, zu sagen: Ich weiß es nicht.« Tarai seufzte. »Also, der Aufbruch. Ich bin abgeschweift... Wir sind geflohen, Nik. Wir sind in beschämender und erniedrigender Weise geflohen, als wir vor der Wahl standen, uns zu verkrümeln oder vernichtet zu werden. Die vielzitierte Lüge von dem Wunsch, Opfer vermeiden zu wollen ... das ist nichts anderes als euer geliebtes Prinzip der Umkehrbarkeit der Wahrheit ...«

Er lachte aus vollem Hals - bis er abrupt verstummte. Er sah mich entsetzt an, als begriffe er, dass er zu viel gesagt hatte.

»Ich bin ja auch der Meinung, dass die Umkehrbarkeit der Wahrheit nicht der klügste Gedanke ist«, sagte ich und erhob mich. »Ich gehe jetzt schlafen. Es war ein langer Tag.«

»Und wenn ich die Nacht hier verbrächte ...?«, fragte Tarai zaghaft.

»Wie du willst.«

Ich berührte die Tür, und sie öffnete sich. Es war dunkel, nur eine einzige Lampe brannte. Konnte man das Licht selbst regulieren, oder wurde es automatisch abgeschaltet? In der Baracke herrschte völlige Stille, nur draußen pfiff der Wind. Entweder schliefen alle oder sie taten so, als ob.

»Agard, du scheinst kein schlechter Mensch zu sein«, sagte ich leise. »Wie hast du es geschafft, hier zu überleben?«

Als er schwieg, brachte ich die Tür mit einer Berührung dazu, sich zu schließen.

»Ich bin ein Plappervogel, Nik«, sagte Agard da. »Ein Geschichtenerzähler. Die Abende sind lang, das Leben langweilig. Und ich erinnere mich an vieles aus den früheren Zeitaltern. Und noch mehr kann ich mir ausdenken.« Agard zwinkerte mir zu: »Allerlei Unsinn ... aber was kann man von einem kranken Historiker schon verlangen?«

»Das habe ich fast vermutet«, erwiderte ich. »Gute Nacht, Agard.«


Das war schwieriger als alles andere: einzuschlafen.

Schlaf ist wie eine Heldentat, eine gute Anwendung der Kräfte.

Der fast von mir erfundene, fast wieder zum Leben erwachte Nik Rimer, Pilot und Regressor, glitt langsam ins Nichtsein hinüber.

»Die Cualcua haben seinen Körper untersucht, Pjotr. Sie werden mit deinem Fleisch verschmelzen, werden eine Körperhülle erschaffen, die absolut identisch ist mit der des Piloten der Geometer. Bis hin auf die Ebene des Genoms.«

»Wie ist das möglich, Kommandant?«

»Frag sie selbst, Mensch. Wenn du die Antwort verstehen kannst, werde ich dich für den Rest meines Lebens beneiden ...«

Armer Nik Rimer. Ich glaube, du warst ein anständiger Kerl. Du hast mit deinem Schiff gesprochen, und die bedauernswerten Elektronenhirne, die der Zähler später ausgeweidet hat, haben deine Intonation und deine Denkweise, deinen Wortschatz und deine Standardreaktionen bewahrt ...

»Petja, ich bestehe nicht darauf Glaube mir, du bist kein Werkzeug für mich ...«

»Ich möchte dir gern glauben, Großpapa.«

»Jemand muss es tun. Und du hast die besten Chancen, zu ihnen durchzukommen. Das ist keine Frage des Alters oder des Körperbaus, diese beschissenen Amöben könnten jeden Körper nachbilden. Das Wichtigste ist die Seele. Du bist ihm wirklich ähnlich.«

»Großpapa, das ist fast eine Kränkung. Einem Geometer ähnlich zu sein ...«

»Aber genau darin liegt unsere Chance ...«

Ich erinnerte mich an alles. An mein wahres Zuhause. An meinen falschen Großvater. An die Ingenieurin Mascha.

Die alte Bettlerin vor dem Jelissejew. Den Jungen namens Aljoschka. An Danilow, den FSB-Oberst und Liebling der Transaero. Und an den wilden, maßlosen Streit mit meinem Großvater auf dem Flaggschiff der Alari.

Aber zum Teufel, ein Cualcua, der in meinen Körper kriecht - wenn das kein Grund ist, wütend zu werden!

Ich fuhr mit der Hand über die Brust. Wo begann mein Fleisch, wo das Bioplasma des Aliens? Nicht einmal Gott im Himmel würde es wissen! Wo begann mein Körper, wo der von Nik Rimer? Was stellte die Grenze dar, wenn selbst mein Verstand aus den Nervenzentren des Cualcua neu gespeist worden war? Mein Gedächtnis war wie ein komischer Kinkerlitz im ungeheuerlichen Bewusstsein des Zählers gelandet. Es war dem Cualcua zur Aufbewahrung übergeben worden und zurückgekehrt, als die Situation aus ihrer Sicht kritisch wurde ... Ich war das Spielzeug, den Außerirdischen übergeben.

Wir mischen uns nicht ein, Pjotr Chrumow. Wir dienen nur. Es fällt dir schwer, das zu glauben, aber wir sind nicht darauf angewiesen, deinen Geist zu steuern. Die freiwillige Einwilligung ...

Was habt ihr davon?

Ein Abenteuer. Wir sind Teil eines Ganzen, Pjotr. Wir leben fremde Leidenschaften, wandern von einem Körper zum nächsten. Die Welt ist doch interessant. Man kann sie aus eigener Kraft umgestalten. Oder man kann Teil einer fremden Kraft werden. Es ist wirklich aufschlussreich, ein ewiger Beobachter auf einer endlosen Reise zu sein. Wir dienen allen und niemandem. Die Starken Rassen lassen uns in ihre Körper eindringen. Die Schwachen Rassen träumen davon. Du willst die Wahrheit wissen? Die ganze Welt würde uns gehören, wenn wir uns dieses Ziel setzten. Aber wozu? Sie gehört uns doch sowieso schon. Ohne jede Gewalt und Aktivität. Wir beobachten ... beobachten ...

Ich stöhnte.

Die Cualcua haben es leicht. Ihr Schicksal ist die Symbiose, und durch meinen Körper zu gleiten ist für sie in keiner Weise unangenehm. Aber ich lehne ein solches Leben ab. Was in mir gehört jetzt wem?

Von klein auf habe ich einen fremden Platz eingenommen. Ich wuchs auf und hörte auf einen Namen, der mir nicht gehörte. Ich genoss die Annehmlichkeiten und die Achtung, die für einen anderen Menschen bestimmt waren ... einen kleinen Menschen, der hatte nicht groß werden dürfen. Bis mir die Rechnung präsentiert wurde. Die Schulden konnten gestundet werden, aber bezahlt werden musste. Die alte Göttin der Gerechtigkeit hatte den antiken Staub abgeklopft und mir mein eigentliches Schicksal zugemessen. Doch ich hatte mich nicht damit abfinden wollen und war - beinahe - zu Niki Rimer geworden. Ich hatte seinen Platz unter den Sternen eingenommen. Daraufhin hatte die Nemesis kopfschüttelnd ihre Greifen gesattelt und war zurückgekehrt, um mich mit einem Peitschenschlag zur Besinnung zu bringen.

Vielen Dank, Tochter der Nacht. Inzwischen habe ich mein Los akzeptiert. Ich bin nicht Pjotr Chrumow, und ich bin nicht Niki Rimer. Ich bin einfach ein Mensch, der anfängt, von neuem zu leben.

Die Sterne brauchen meine Liebe nicht. Aber auch ich würde ohne die Liebe weiterleben.

Ich war in die Welt der Geometer gelangt, eine Welt, die wie das Paradies aussah. So vertraut, dass sie mir wie meine eigene vorkam. Wie oft war sie durch die menschlichen Träume gegeistert, diese Welt der guten Menschen und der gerechten Entscheidungen, diese Welt ohne Angst und Erniedrigung! Und der Weg, den sie gegangen war, schien ebenfalls richtig und überzeugend zu sein. Erziehung. Ausbildung. Effizienz. Gerechtigkeit. Liebe.

Nur den Respekt, den hatte man stets vergessen.

Recht zu haben ist eine Versuchung. Gutes zu wollen ein Verbrechen.

Denn wieder und wieder kollidiert deine Güte mit der eines anderen. Mit all deinen Kräften und deiner Güte möchtest du helfen, möchtest die Last fremder Fehler auf die eigenen Schultern nehmen.

Was soll schließlich schlecht daran sein, wenn man den Menschen auf der Suche nach ihrer Bestimmung jede Mühe erspart?

Was soll schlecht daran sein, wenn man den Rassen auf der Suche nach Freundschaft jede Mühe erspart?

Die Starken Rassen wollen für die Erde ja nichts anderes. Auch sie wollen eine ruhige und glückliche Zukunft. Eine friedliche und satte Menschheit, die Waren durch die Galaxis transportiert und dem Konklave damit die Möglichkeit gibt, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Sie werden uns im Gegenzug alles geben, keine Frage! Die Erde wird Gravitationstriebwerke und Raumschiffe mit Mesonenreaktoren haben. Eine Wetterkontrolle, Medizin gegen Krebs und monomolekulare Fäden, alles das bekommt sie. Das Gesetz zur Unsachgemäßen Anwendung wird aufgehoben. Man wird uns erlauben, Kolonien zu gründen. Es wird Erde-2 und Erde-22 geben ... Alles wird es geben. Wir müssen uns nur gedulden. Zwei, drei Generationen müssen heranwachsen, ohne Ambitionen und Aggressionen.

Wenn wir uns allerdings den Schwachen Rassen anschließen ... wessen Schuld ist das dann? Das ist eben unsere Natur. Wir beherrschen nun mal nicht viel mehr als den Jump ...

Was ist dann aber den Geometern vorzuwerfen? Sie predigen das Prinzip der Effizienz nicht nur gegenüber ihren Freunden, sondern wenden es auch auf sich selbst an. Der Junge Nik Rimer, der so gern Gedichte schrieb, wurde Regressor. Weil der Ausbilder dies für die beste Anwendung seiner Fähigkeiten hielt. Er setzte Niki ein Konzentrat der Weltdichtung vor, stukte den Jungen mit der Nase in die Werke reifer und anerkannter Lyriker ...

Wie hatte er es ausgedrückt? »Tausenden Vögeln die ertrinken.« O nein, man hätte Nik nicht erlauben dürfen, Dichter zu werden. Auf gar keinen Fall.

Aber ich erinnere mich! Erinnere mich noch an andere Gedichte von ihm! Denn er wollte nicht einfach klein beigeben, dieser Niki Rimer! Er trug die Gedichte dem Steuerungssystem seines Schiffs vor, dem treuesten Zuhörer und Bewunderer. Sein Gedächtnis kehrt zu mir zurück, genau wie mein eigenes, durch die Vermittlung des Zählers und des Cualcua.

Jetzt, da ich nicht mehr er bin, kenne ich ihn viel besser als zuvor. Den Regressor und Poeten Nik Rimer ...


Gegen meinen Willen eingestellt in der Ideenfabrik boykottiere ich die Stechuhr. Gegen meinen Willen eingezogen desertiere ich.

Das stimmt nicht, Niki, du hast dich geduckt. Du konntest weder boykottieren noch desertieren. Du hast Freunde nach dem Vorbild und in Analogie zu deiner Rasse geformt. Deiner mächtigen und unglücklichen Heimat. Und nur in der Stille deines Schiffs, in der Leere der Kabine, hast du dir die Worte gestattet, die du sagen wolltest.


Große Dinge habe ich nie begriffen

Große Dinge gibt es nicht

kleine auch nicht

Sondern nur andere

Andere Dinge

nämlich zu lieben wen ich will

und zu machen was ich will.


Nik Rimer, ich habe mich nicht geschämt, deinen Namen zu tragen. Doch es war ein wenig niederträchtig.

Denn ich bin ein anderer.

Und ich muss mein eigenes Schicksal finden.

Ich weiß nicht, was die Ethik des Konklave und der Geometer ersetzen kann.

Ich weiß nicht, was stärker als Effizienz und Liebe ist. Wenn der Verstand und das Herz zum selben Schluss kommen, was soll man ihnen dann noch entgegensetzen?

Noch weiß ich es nicht.

Mein angenommener Großvater, Andrej Chrumow, du wolltest, dass ich zum Maß aller Dinge werde. Zu meinem eigenen Maßstab.

Ich werde es versuchen.

Zwei

Der Morgen begann mit Sirenengeheul.

Ein langgezogener Ton drang von draußen herein, von der weißen Wüste, die rund ums Sanatorium lag. Die Fenster wurden durchscheinend, trübes Licht ergoss sich in die Baracke. Vor der unteren Hälfte der Scheiben türmten sich Schneewehen, an der oberen klebte eine feste Schneekruste.

Niemand hatte in der Nacht versucht, mich umzubringen. Immerhin ein gutes Zeichen.

Ich schälte mich aus der Decke und zog mich an. Anscheinend schnell, aber alle anderen waren noch weitaus schneller als ich. An der Tür zur Sanitäreinheit hatte sich eine kleine Schlange gebildet, es ging jedoch niemand hinein.

Was sollte das? Gewährte man mir etwa das Recht, in stolzer Einsamkeit zu pinkeln?

»Worauf wartet ihr?«, erkundigte ich mich freundlich, während ich mich den dicht zusammenstehenden Gefangenen näherte.

»Nik, du musst die Arbeit des Sanitärkontrolleurs erledigen«, erklärte Tarai. Er hatte sich inzwischen als meine rechte Hand etabliert, als Vermittler bei den Gesprächen. Die anderen versuchten, meinem Blick auszuweichen. Die drei, die gestern Kley zu Hilfe geeilt waren, hielten sich obendrein auch noch abseits. Nur der blonde Geliebte Harters traute sich, mir mit gesenktem Kopf einen Blick voller Hass zuzuwerfen. Wo steckte eigentlich der entthronte Boss?

»War der Sanitärkontrolleur bisher Kley?«

»Ja, Nik.«

Schweigend ging ich in die Sanitäreinheit.

Kley Harter stand an den Klos und schrubbte mit einer langen Bürste methodisch das weiße Plastik. Es roch nach Chlor. Na so was! Hatten sie also die gleichen Methoden der Desinfizierung wie wir.

»Die Sanitäreinheit ist gesäubert«, sagte er mit gelassener, durch keine Emotionen gefärbte Stimme.

»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte ich.

Kleys linker Arm steckte nach wie vor in dem straffen, durchscheinenden Verband, wie ich jedoch erleichtert registrierte, benutzte er ihn fast uneingeschränkt.

Gäbe es solche Medizin doch auf der Erde!

»Nik Rimer, ich will mit dir reden«, sagte Kley, der sich immer noch nicht zu mir umgedreht hatte.

»Nur zu.«

»Inoffiziell.«

»Habe ich etwas anderes verlangt? Fang an, aber beeil dich, hier wollen noch mehr Leute rein.«

Kley öffnete einen unscheinbaren Schrank in der Wand. Er warf die Bürste in ein Becken mit irgendeiner Lösung. Dann drehte er sich mir zu.

»Wer bist du?«

»Ich habe mich bereits vorgestellt.«

»Du bist kein Regressor«, behauptete er überzeugt. »Vielleicht bin ich ein schlechter Mensch. Aber ich war ein guter Ausbilder. Du bist nicht derjenige, für den du dich ausgibst.«

Genau das hatte mir jetzt noch gefehlt!

»Ich werde nicht versuchen, dich vom Gegenteil zu überzeugen. Ich bin Nik Rimer. Mir gefallen die Zustände in diesem Sanatorium nicht. Das habe ich gestern bereits in aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht. Das ist alles.«

»Es gibt hier zehn Gebäude«, erwiderte Kley leise. »Ich werde dir nicht vorlügen, alle Barackenältesten würden mich lieben. Aber ein derart freches Verhalten werden auch sie nicht durchgehen lassen.«

»Pech für sie.«

Mehrere Sekunden spießte er mich mit seinem Blick auf, bis sich die Härte in ihm verlor.

»Schon möglich ... Keine Ahnung, wie und warum, aber du könntest allein hier die ganze Macht an dich reißen. Glaube ich jedenfalls ...«

»Was sind das für seltsame Reden für einen ehemaligen Ausbilder?«, fragte ich. »Welche Macht? Es sind doch alle gleich!« Ich trat an das funkelnde Klo heran und knöpfte mir die Hosen auf. »Es stört dich doch nicht, wenn ich schon mal mein Geschäft verrichte? Das macht dich doch nicht verlegen? Und erregt dich auch nicht?«

»Du Idiot«, ließ Kley verächtlich fallen. »Unser Essen enthält keine Tranquilizer. Lass ein, zwei Wochen vergehen, dann kommen auch dir komische Gedanken in den Sinn.«

»Ich habe nicht die Absicht, mich so lange hier aufzuhalten«, bemerkte ich beiläufig, nachdem ich seine Worte einer Blitzanalyse unterzogen hatte. So schafften sie das also. Mit Tranquilizern. Die Medizin hatte sich in den Dienst des Fortschritts gestellt. Wozu Energie für Sex vergeuden, wenn ihn Freundschaft und Arbeit ersetzen können?

»Und das erzählst du mir?«, fragte Kley lachend. »Deinem Nicht-Freund? Du erzählst mir, dass du die Absicht hast, dich über die Entscheidung der Ausbilder hinwegzusetzen und das Sanatorium zu verlassen?«

»Ja. Und jetzt sag, wagst du es, das weiterzuerzählen?«

Er bekam einen weiteren Lachanfall. Bis er dann abrupt verstummte. »Woher kennst du eigentlich unsere Gesetze?«

»Diese Gesetze sind überall gleich.«

»Du bist doch ein Regressor ... hast bei den Fernen Freunden gearbeitet ... die nicht zu unseren Freunden wurden ... Ja doch. Ich werde dich nicht verpfeifen, Nik Rimer. Aber es ist sowieso unmöglich. Die nächste Inspektion erfolgt erst in einem Monat. Bis dahin sind wir von der Außenwelt abgeschnitten.«

»Hervorragend.« Ich ging zum Waschbecken.

»Nik, falls du es noch nicht begriffen hast ... das Sanatorium ist umgeben von einer Siedlung der Wendigen Freunde. Sie helfen uns bei der Heilung. Und sie passen auf, dass wir uns an die Regeln halten.«

»Und was soll an diesen Blutegeln schrecklich sein?«, fragte ich.

»Es gibt Momente, da glaube ich, dass du überhaupt nicht unter Amnesie leidest«, meinte er kopfschüttelnd. »Und dann lieferst du mir wieder einen Beweis, dass du dein Gedächtnis verloren hast ... Du hast dir die Antwort doch schon selbst gegeben! Was stand am Anfang der Kontaktaufnahme mit den Wendigen Freunden, Regressor Nik?«

Das Wissen Nik Rimers, sein Bewusstsein, das sich in seinen Worten manifestierte, reagierte schneller als ich.

»Der Äußere Planet. Dünne Luft. Sand. Kälte. Grundwasserseen. Blutegel. Opfer. Razzien. Hinweise auf eine Zivilisation. Regression. Erziehung. Freundschaft ...«

Kley Harter verblüffte diese Wortlawine genauso wie mich selbst.

»Als ob du dich auf eine Prüfung vorbereitet hättest ...«, sagte er.

»Vielleicht habe ich das ja. Also, womit willst du mir Angst machen? Die Wendigen sind unsere Freunde.«

»Die Wendigen sind die Freunde der Menschen. Aber wir sind keine Menschen mehr. Wir sind Kranke. Wir werden behandelt. Das Verlassen des Sanatoriumsgeländes bedeutet den vollständigen Verlust des Verstands. Den Ausschluss aus der Kategorie der Menschen. Beim ersten Mal wird dir noch verziehen, Rimer. Frag nur mal deinen Kumpel, wie das ist. Beim zweiten Fluchtversuch wirst du einfach ausgelöscht.«

Schweigend ließ ich mir das Gesagte durch den Kopf gehen. Ich zapfte mir etwas Flüssigseife aus dem Spender über dem Waschbecken. »Dann wird es eben keinen zweiten Fluchtversuch geben.«

»Ich hätte mich gestern Abend nicht mit dir anzulegen brauchen«, bemerkte Kley. »Ich hätte einfach abwarten sollen. Lange kannst du dich hier nicht halten.«

»Ich glaube, es ist Zeit, die Sanitäreinheit wieder freizugeben«, bemerkte ich.

»Nik! Ich wollte ... ich wollte dich um etwas bitten.«

»Na los.«

»Ich möchte heute zur Arbeit gehen.«

»Wieso? Du bist krank.« Ich deutete mit einer Kopfbewegung auf den verbundenen Arm.

»Ich mache mir Sorgen um ... Tik.«

»Ist das der Blonde?«

»Ja. Ich mache mir Sorgen, dass er eine Dummheit anstellt.«

»Du bleibst trotzdem ein Schwein«, sagte ich. »Aber gut. Arbeite, mir ist das egal.«

Die Menschen vor der Tür begrüßten mein Auftauchen unisono mit einem Seufzer der Erleichterung.

»Es ist frei«, sagte ich.

Alle drängten sich zugleich zur Tür. Selbst die drei treuen Gefolgsleute Kleys. Sogar der arme Tik. Und auch mein neuer Freund Agard. Und auf allen Gesichtern stand Erleichterung und Dankbarkeit geschrieben.

Wie simpel es ist, gut zu sein!

Man muss den Menschen nur vorübergehend ein primitives, aber unvermeidliches Bedürfnis verweigern -und es ihnen dann mit einer gönnerhaften Geste wieder gestatten.

Dafür wird man prompt ehrlich und aufrichtig geliebt.


Nach dem Frühstück zog ich mich um. Tarai brachte mir Kleidung, ähnlich der, die er selbst trug. Eine Wattejacke, um die sich sämtliche KZ-Insassen auf der Erde gerissen hätten, ein recht leichtes und sehr warmes Ding. Dicke, abgesteppte Hosen. Grobe Schuhe, Socken, Handschuhe ...

Zumindest unter der Kälte mussten die Patienten des Sanatoriums nicht leiden.

Von meinem grauen Anzug trennte ich mich leichten Herzens. Er hatte nicht mir gehört, sondern Nik Rimer, der nicht mehr unter den Lebenden weilte.

»Worin besteht unsere Arbeit?«, wollte ich von Agard wissen.

»Wir begradigen den Strand.«

Er stand neben mir und beobachtete, wie ich mich mit der Uniform abmühte. Mehrmals half er mir, mit den ungewohnten Verschlüssen zurechtzukommen. Ihre Kleidung wurde fast ausschließlich geknöpft, zum Reißverschluss hatten sie es anscheinend nicht gebracht, aber die Magnetnähte verwirrten mich anfangs.

»Warum müssen wir ihn begradigen?«

»Seit dem Meereszeitalter«, erklärte Agard seufzend, »also seit die Uferlinien korrigiert wurden und unser Kontinent eine wirklich runde Form erhielt, unterspülen die Wellen das Ufer ...«

»Und wir bessern es dann mit Spaten wieder aus?«

»Ja.«

Ich schüttelte den Kopf. Was für ein Unsinn. Arbeit um der Arbeit willen.

Aber welche Beschäftigung sollte man sonst für Schwerverbrecher in einer hochautomatisierten Welt finden? Ihnen Technik an die Hand zu geben war viel zu riskant. Aber sie ohne Arbeit zu lassen - das verstieße gegen jede Regel.

»Das Sanatorium wechselt in regelmäßigen Abständen seinen Standort«, fuhr Agard fort. »Die Arbeitszone erstreckt sich über etwa zehn Kilometer. Alle zwei Wochen zieht der Frische Wind ein Stück das Ufer entlang.«

»Und so ist es überall?«

»Das weiß ich nicht. In den Zonen mit warmem Klima vermutlich nicht. Dort gibt es viele Internate, Städte, da findet sich immer jemand, der sich um das Ufer kümmert.«

»Wozu ist das gut, Agard?«

»Soll ich dir einen Vortrag halten oder einfach so antworten?«, fragte Agard mit verschlagenem Grinsen.

»Einfach so.«

»Ich weiß es nicht.«


Es herrschten fünfzehn Grad Kälte, um es einmal in Celsiuswerten auszudrücken. Die Geometer gingen von der Temperatur eines gesunden menschlichen Körpers aus, denn sie nahmen den Gedanken, der Mensch sei das Maß aller Dinge, absolut ernst. Mir gefiel das Herangehen des schwedischen Physikers aber besser. Wir sollten uns über unsere Rolle im Universum keinen Illusionen hingeben. Wasser ist älter als Fleisch. Der Himmel hatte sich seit dem Morgen aufgehellt, nur überm Horizont lag noch fahler Rauch. Der Schnee, makellos sauber und blendend weiß, wie man ihn auf der Erde nur in den Bergen sieht, bedeckte alles, so weit das Auge reichte. Die schwarzen, gitterartigen Silhouetten der Wachtürme steckten den Rand des Sanatoriumsgeländes klar ab. Auf der einen Seite fehlten sie allerdings, dort ging der Schnee gleichmäßig und nahezu unmerklich erst in Eismatsch, dann in das hundekalte Wasser des Meers über. Aus der Ferne wirkte das Wasser weiß und dick wie Milch.

Ob es den Wendigen Freunden hier tatsächlich gefiel? Soweit ich mich erinnerte, entsprach der Äußere Planet, ihre Heimat, von seinen Lebensbedingungen her dem Mars. Dort hatten sie es allerdings vorgezogen, in unterirdischen Seen zu leben und jede Kälte so gut es ging zu meiden ...

Aus den Nachbarbaracken tröpfelten die ersten Leute. Genau wie wir waren sie in warme Kleidung gehüllt und mit Spaten und Brecheisen bewaffnet. Ich musterte sie unauffällig, wobei es mir vor allem darauf ankam, ihre Anführer zu identifizieren. Die Aufgabe stellte sich als überraschend leicht heraus. Sie trugen die gleichen Sachen, hatten ebenfalls Spaten in der Hand, aber ... Wölfe behalten auch in Schafspelzen ihre Manieren bei.

Kley sonderte sich von unserer Gruppe ab und lief schnurstracks zu den anderen.

»Du musst ihn aufhalten, Nik«, raunte Agard hinter mir. »Sieh zu, noch vor Kley mit den Barackenältesten zu sprechen. Überzeug sie, dass du ihnen ihren Rang nicht streitig machen willst ...«

»Er hetzt sie nicht gegen mich auf. Im Gegenteil, er bittet sie abzuwarten.«

Agard glaubte mir wahrscheinlich nicht. Trotzdem sagte er keinen Ton.

Die verletzte Hand an die Brust gepresst, sprach Harter mit einem kleinen, fast liliputanerhaften Mann. Ob es sich bei ihm um ein Opfer jener weit zurückliegenden Experimente zur Züchtung kleinwüchsiger Regressoren handelte? Um die beiden scharten sich weitere Männer.

Schweigend beobachtete ich das Treffen der Bosse. Zehn Mann, Kley eingeschlossen. Mit Sicherheit würden sie treue Handlanger finden.

Wie ist es um meine Kampffähigkeit bestellt, Cualcua? Wie viel Männer können wir ausschalten?

Viele. Soll die Kampftransformation erfolgen?

Warte noch.

Kley kam zurück. Er hielt auf mich zu, ich wartete geduldig.

»Nik Rimer, wir arbeiten heute im ersten Ufersektor«, teilte er mir ruhig, ja, sogar höflich mit. »Wenn es genehm ist, zeige ich dir den Weg.«

»Gut«, willigte ich ein.

Kley ging vor. Die Gefangenen folgten uns, mal mich ansehend, mal ihn.

Alle Achtung, das hatte er gut eingefädelt. Die Situation gewann eine gewisse Doppeldeutigkeit. Es war nicht mehr klar, wer hier eigentlich der Anführer war. Gestern Abend schien ich diesen behaglichen Posten innegehabt zu haben, aber heute führte Kley die Gruppe wie gehabt zur Arbeit und sprach mit allen anderen. Wenn ich von hier verschwände, würde Kley seine Macht problemlos zurückgewinnen.

Sollte er. Ich hatte nicht die Absicht, lange hierzubleiben. In einem einzelnen Konzentrationslager für Ordnung zu sorgen und die lichte Zukunft aufzubauen - das war nicht meine Mission.

»Pjotr, vergiss nie, dass du nicht einer Landetruppe angehörst. Du sollst ihre Welt nicht umkrempeln ... allein schon, weil das unmöglich wäre. Du bist ein Späher. Verstehe ihre Welt. Verschaff dir ein Bild über ihre technische Stärke. Finde die Berührungspunkte und die Wege für Kompromisse heraus. Und dann komm zurück. Versuch ein Schiff zu kapern und komm zurück. Das Geschwader wird einen Monat lang auf dich warten.«

»Und danach? Wenn ich nicht zurückkehre?«

»Dann holen wir dich. Die Alari wollen die Wolchw modernisieren. Wir bekommen anständige Triebwerke, Generatoren für den Schutzschild und Waffen. Wir werden versuchen, in die Welt der Geometer vorzudringen und dich zu finden ...«

Der Schnee knirschte unter meinen Füßen. Frischer, lockerer Schnee mit einer hauchdünnen Harschkruste. Ganz bewusst mied ich die Spuren der anderen. Als ob ich mir den Vorteil nicht zunutze machen wollte.

Jede Nacht fiel hier Schnee. Er bildete eine Decke, verbarg alle Spuren. Tagsüber schmolz er, um nachts abermals den Boden zu überziehen. Der frische Wind pfiff über die frostige Tundra, die Wendigen Freunde achteten auf die Ordnung, die Gefangenen wurden therapiert.

Niemand hatte es sich jedoch zum Ziel gesetzt, ihre Fehler - die echten und die eingebildeten - wegzuerziehen. Man isolierte sie lediglich, schuf eine Müllhalde am Rande der Welt. Weitaus schlimmer wäre es jedoch, wenn es einen solchen menschlichen Schrottplatz nicht gäbe, wenn der gesamte Planet der Geometer steril-glücklich wäre. Aber glücklicher- oder unglücklicherweise war dergleichen unmöglich ...

Langsam näherten wir uns den schwarzen Hochständen. Der äußerste stand schon im Wasser. Das Branden der Wellen war nun zu hören, ein grollendes, gleichmäßiges Geräusch. Eismatsch staute sich am Ufer, auch ganze Eisschollen trieben an. Eine schlug gerade gegen das Gerüst des Hochstands, in einem methodischen und erfolglosen Kampf gegen das Metall. Der Stand erinnerte eher an den Mast für eine Hochspannungsleitung, nur dass statt der Isolatoren an der Spitze ein weißes, schneebedecktes Nest thronte, das aus faserartigem Material wie Algen oder Schnüren gefertigt war. Ein kleines Nest, in das ein Wendiger allerdings bequem hineinpasste.

»Sind sie auf Posten?«, fragte ich Agard, wobei ich mit dem Kopf Richtung Hochstand deutete.

»Sie sind immer auf Posten.«

»Wie nehmen die Wendigen die Welt wahr? Mit den Augen? Dem Gehör?«

»In erster Linie durch Vibrationen. Sie nehmen das Geräusch des Auftretens wahr.« Agard verstummte. Dann packte er mich bei der Schulter: »Hör mal, Nik!«

»Was?«

»Komm ja nicht auf dumme Gedanken!« Er zog seine Mütze vom Kopf und demonstrierte mir seinen grindigen Schädel. »Siehst du das? Da hat mich ein Wendiger geküsst. Er hat seine Mundfläche über meinen Kopf gestülpt. Ihr Speichel ist extrem ätzend, Nik.«

»Wie schnell bewegen sie sich?«

Tarai schlug die Hände überm Kopf zusammen. »Wach auf, Junge! Ich bitte dich, komm zur Besinnung!« Der ehemalige Historiker wirkte zu Tode erschrocken. »Wir werden hier einiges ändern. Gestern konnte ich lange nicht einschlafen, da habe ich über alles nachgedacht. Die ganze Idee mit dem Sanatorium ist pervers, aber du hast Kraft, du besitzt einen moralischen Rückhalt! Deshalb können wir alles von Grund auf ändern! Das würde uns nicht nur helfen zu überleben, das würde unser Schicksal in eine neue Bahn lenken! Die Inspektoren werden den positiven Effekt erkennen, sämtliche Entscheidungen und Urteile werden überdacht. Lass ein, zwei Jahre vergehen, dann werden wir in ein anderes Sanatorium gebracht, mit nicht ganz so harten Bedingungen. Es hat schon Präzedenzfälle gegeben! Und am Ende, wer weiß ...«

Er tat mir leid. Sehr leid. Vielleicht glaubte er gar nicht unbedingt an seine Worte, aber ich verstand sehr gut, wie angenehm es gestern Abend für Tarai gewesen sein musste, sich seinen Träumen zu überlassen, bei einem Becher Schnaps, entzückt, vom Possenreißer zum Berater aufgestiegen zu sein.

Ohne mich wird er kaputtgehen. Kley wird ihm das Leben zur Hölle machen.

Also würde ich Tarai mitnehmen müssen ... noch ein Problem mehr ...

»Wie schnell sind die Wendigen ...«

»Viel schneller als ein Mensch! Und sie sind nahezu unermüdlich, außerdem sind die Bedingungen hier optimal für sie.«

»Mach dir keine Sorgen, Agard«, bat ich. »Ich lasse dich nicht im Stich. Wir fliehen zusammen.«

Entsetzt starrte er auf den Hochstand. Ob die Wendigen in der Lage waren, unsere Worte zu verstehen, sie aus den Vibrationen der Schritte und dem Branden der Wellen herauszufiltern?

»Ich habe nicht die Absicht, unüberlegt zu handeln«, versicherte ich. »Warten wir noch ein bisschen und sehen ... was sich ergibt ...«

Das schien ihn ein wenig zu beruhigen. »Überstürze nichts, Nik«, bat er. »Versprichst du mir das?«

»Ja.«

Ich sagte die Wahrheit. Ich glaubte in dieser Minute selbst daran.

Man kann einfach nie alles einkalkulieren.


Die Arbeit war schwer, sinnlos und verlangte absolut keinen Gehirneinsatz. Eine typische Arbeit für Gefangene. Einen halben Kilometer von uns entfernt schuftete eine andere Gruppe, noch weiter weg die nächste. Dunkle Flecken im Schnee, Menschen, die sich an der Brandungslinie abmühten und Steine zum Wasser schleppten.

Zunächst fanden wir drei Punkte, wo die Wellen und das Eis das Ufer weggespült hatten. In Zweierpaaren fingen wir an, die Steine, die wir unter dem Schnee freigelegt hatten, ans Ufer zu tragen. Wir setzten sie ins zischende Wasser und bedeckten sie mit Kieseln und Sand.

Das war Wahnsinn. Eine Sisyphusarbeit.

»Bald gibt es Mittag«, flüsterte Agard schwer atmend. »Du wirst sehen, es tut gut, etwas Heißes zwischen die Zähne zu kriegen ...«

Zum Mittagessen mussten wir in die Baracken zurück. Eine weitere ärgerliche Idiotie. Warum müssen wir durch den Schnee hin und zurück stapfen? Warum konnten wir nicht morgens Thermoskannen oder Heizgeräte mitnehmen?

Wahrscheinlich lag darin ein geheimer höherer Sinn der Arbeitstherapie, der sich mir nicht erschloss.

»Gibt es außer den Wendigen noch andere Wachtposten?«, fragte ich, während ich eine weitere Schaufel von diesem frostigen Matsch ins Wasser warf.

»Wer käme denn da überhaupt noch in Frage? Die Kleinen Freunde? Die würden hier sofort krepieren ...«

Dass auch Menschen die Aufgabe von Aufpassern übernehmen könnten, war für ihn undenkbar.

Nur gut.

Cualcua, ist es möglich, einen Wendigen zu töten?

Man kann jedes Lebewesen töten.

Ohne Waffe?

Darüber habe ich nicht genügend Informationen.

Ich schaufelte weiter, als ein schwaches Stimmchen in meinem Bewusstsein zu zischeln anfing. Zum ersten Mal wandte sich der Cualcua von sich aus mit einer Frage an mich: Pjotr, kannst du den Mord an einem Wendigen vor dir eher vertreten als den an einem Geometer?

Sicherlich.

Danke.

Ich wollte ihn nicht anlügen. Aber ist es überhaupt möglich, ein Wesen anzulügen, das in deinem Körper lebt und deine Gedanken liest?

Wie auch immer, jedenfalls war ich froh, dass es keine menschlichen Aufpasser gab ...

Als vom Hochstand ein Geräusch herüberdrang, stellte ich die Arbeit ein. Ich rammte den Spaten in den überfrorenen Sand und schaute zum Turm hinüber. Die anderen folgten meinem Beispiel.

Die Wände des Nests taten sich auf, ein langer, graublauer Körper kam zum Vorschein. Der Wendige ließ einen Teil von sich nach unten baumeln, schaukelte in einer Höhe von zehn Metern ein wenig hin und her und schwenkte das eine Ende seines Körpers in verschiedene Richtungen. Dann löste er sich und fiel mit leichtem Platschen ins Wasser.

Niemand rührte sich. Alle warteten auf etwas.

»Was tut er?«, fragte ich Agard. Dessen Gesicht wirkte mit einem Mal leer und tot.

»Er geht auf Jagd. Hier gibt es viele Fische.«

Das Wasser am Ufer schäumte, der Körper des Wendigen tauchte auf. Das uns zugewandte Körperende hatte sich verändert und - gespalten in drei gleiche Teile - geöffnet. Scharfe Zähne blitzten auf, die einen schwach zappelnden, erschlaffenden Fisch gepackt hielten.

»Sie fressen unsere organischen Stoffe?«, staunte ich.

»Sie fressen alles. Es sind hochangepasste Organismen.«

In Agards Stimme lag keine Wut, sondern nur Schmerz. Der Wendige kroch gemächlich ans Ufer, wobei er im Schnee eine geschlängelte Furche hinterließ. Seufzend griff ich nach dem Spaten. Zeit für die Arbeit ...

»Wendiger Freund!«

Der Schrei ließ mich zusammenfahren. Ein hoher, hysterischer Aufschrei von Kleys Schatz, der die Stille zerriss. Der Mann rannte mit rudernden Armen das Ufer entlang zu dem Alien. »Wendiger Freund!«, schrie er.

Den Alien scherten die Schreie offenbar nicht. Er kroch weiter von uns weg. Kley stürzte seinem Freund hinterher. »Tikki! Bleib stehen, Tikki! Halt!«

Agard packte mich am Oberarm. »Er verlässt die Zone. Rühr dich nicht von der Stelle, Nik!«

»Wendiger Freund! Wir haben einen asozialen Kranken! Einen gefährlichen Kranken! Unternimm was gegen ihn!«

»Bleib stehen, Tikki!«

Etwas Mitleiderregendes und zugleich Tragisches lag in dieser Szene. Das Schwulenpaar liebte sich wirklich.

»Wendiger ...«

Ich bekam den Augenblick nicht mit, als Tikki die Zone verließ, jene Linie zwischen den beiden Hochständen übertrat. Sie war in keiner Weise markiert, diese unsichtbare Grenzlinie. Sie existierte nur in dem nicht-menschlichen Bewusstsein des Wendigen Freunds.

Und der Alien reagierte. Er kroch zurück, ohne sich umzudrehen, sondern indem er mit der Leichtigkeit eines Wesens, das zwei Köpfe hat, die Richtung änderte. Das Ende, das bisher den Schwanz abgegeben hatte, formte sich zu einem dreigeteilten Maul.

Aufheulend blieb Tikki stehen. Vielleicht hätte der Wendige, wenn sich Tikki wieder hinter die Grenze zurückgezogen hätte, die Verfolgung aufgegeben. Aber Tik hatte zu viel Schwung drauf und verfügte nicht über die Fähigkeiten des Aliens. Er fiel auf die Knie, die Strickmütze landete im Schnee. Der Wendige schoss auf ihn zu, presste ihn zu Boden, wand sich um Tiks Körper und riss seinen zweiten Kopf, in dessen Maul immer noch der Fisch hing, in die Höhe. Ein schmatzender Laut war zu hören. Dabei konnte er doch gar keine Töne von sich geben!

»Er verwarnt ihn ...«, flüsterte ich, als wollte ich mich selbst überzeugen.

»Verwarnt worden sind wir längst alle!«, schnauzte Agard.

Im nächsten Moment rannte ich bereits. Der Spaten in meinen Händen störte, ich schmiss ihn weg. Der Wendige schlängelte sich weiter um Tiks Körper, während das zweite Maul, das hoch in den Himmel aufragte, in wenigen Happen den Fisch verschlang.

»Du Mistvieh!«, schrie Kley. Er überholte mich, nicht einmal der gebrochene Arm beeinträchtigte ihn. Mit einem Sprung stürzte er sich auf den Alien.

Die Schuppen des von dem Wendigen ausgespuckten Fischs funkelten auf. Das zweite Maul schlug gegen Kleys Brust, wie gefällt ging er zu Boden.

Kampftransformation!

Der Wendige spürte wahrscheinlich, dass ich mich näherte. Aber solange ich die Grenze nicht überschritt, achtete er nicht auf mich. Er formte einen Bogen und saugte sich mit beiden Mäulern an den krampfhaft zuckenden Körpern fest. Über den graublauen Körper schoss eine bunte Welle, der Wendige, dieser kleine, widerwärtige Regenbogen, erstarrte über seinen besiegten Opfern.

Und dann überschritt ich die unsichtbare Grenze ...

Der zwei Meter lange, glänzende Körper federte sich in die Höhe und katapultierte sich in meine Richtung.

Mit einem Mal verlief die Zeit langsam, unterwarf sich mir.

Ich streckte die Arme aus und fing den Schlag ab. Der Körper des Wendigen war glitschig und elastisch wie ein Gummischlauch. Es gelang mir nicht, ihn zu packen. Doch durch die Handschuhe wuchsen schon lange, spitze Krallen aus meinen Fingern heraus. Der Cualcua schmolz meinen Körper wie Wachs.

Der Wendige erzitterte, als die Krallen ihm die Haut aufritzten. Brauner Eiter floss heraus. Die Enden seines Körpers peitschten auf meine Beine ein. Irgendwann reckte sich ein Maul hoch zu meinem Gesicht, ich musste mich ducken, um den Zähnen zu entkommen. Meine Krallen steckten tief in der Haut des Aliens, und voller Entsetzen begriff ich, dass mich absolut nichts gegen die Mäuler des Wendigen schützte.

Der Kontakt ist hergestellt. Soll ich ihn unterwerfen oder töten?

»Bring ihn um!«, schrie ich, ohne zu erfassen, wovon der Cualcua eigentlich sprach.

Etwas floss aus meinen Händen in den Körper des Wendigen hinein. Etwas, das noch agiler und fähiger war als der Alien. Etwas Amorphes, das die Haut schmolz, die Nervenzentren suchte ...

Den Wendigen schüttelte ein leichter Krampf, und wie ein Schlauch, durch den mit vollem Druck Wasser schoss, wurde er noch straffer. Seine Haut verlor die Farbe, glänzte wieder graublau. Die Kiefer klappten langsam zu.

Nervensystem, Lymphknotenkontur, Herzgefäß, zählte der Cualcua methodisch auf. Er tobte sich jetzt aus, dieser kleine Mistkerl, der ein Teil von mir geworden war und gerade mein Leben rettete. Er erkundete und eroberte den neuen Körper. Vielleicht brauchte er selbst das gar nicht unbedingt, aber jeder Cualcua war bereit, seinem Wirt zu dienen ...

Soll ich die Prozesse seiner Nerventätigkeit unterbinden?

»Ja!«

Der Körper des Wendigen erschlaffte.

Ich lag da, atmete gierig die eisige Luft ein und spürte, wie die Krallen in meinen Körper zurückkrochen. Der Wendige entglitt meinem Griff. Ein paar der weißen Sehnen spannten sich jedoch immer noch von den zerrissenen Handschuhen hinein in sein Fleisch. Sie pulsierten, als ströme etwas durch sie hindurch.

»Komm raus ... komm raus ...«, flüsterte ich.

In zehn Sekunden. Ich habe noch Hunger.

Ich weiß nicht, wie, aber ich hielt diese Sekunden aus, während deren der Cualcua aus dem Körper des Wendigen die Stoffe saugte, die er benötigte.

Und erst als ich sah, dass die Sehnen wieder in mir verschwanden, drehte ich den Kopf zur Seite und erbrach mich, ausschließlich Galle.

»Nik! Nik!«

Agard zappelte an der Grenze, riskierte es aber nicht, sie zu übertreten.

»Nik!«

Ich erhob mich und torkelte zu Tik und Kley. Tik war bereits tot. Seine Wattejacke war an der Brust aufgerissen, die riesige Wunde rauchte im Frost. Die offenen Augen blickten verängstigt und verständnislos gen Himmel.

Kley atmete noch. Er kroch zu seinem Geliebten und ergriff dessen Hand. Der Schnee unter ihm schmolz unter dem heraussprudelnden Blut, und ich war froh, dass der ehemalige Ausbilder auf dem Bauch lag und mir der Anblick seiner Wunde erspart blieb.

»Weshalb?«, flüsterte er.

Ich ließ mich auf die Knie fallen. Es roch nach Blut. In der Kälte nahm der Geruch eine durchdringende Stärke an, abermals würgte es mich.

»Weshalb ... hast du dich da eingemischt?«, wiederholte Kley.

»Ich wollte helfen«, brachte ich die einzige Dummheit heraus - die der Wahrheit entsprach.

»Das hättest du besser nicht getan ... du Dummkopf ... Regressor ...«

Der letzte Funken Leben glühte in seinen Augen auf, bevor er, die Worte gleichsam ausspuckend, hinzufügte: »Für wen bist du ... Regressor?«

Ich erhob mich.

Es gab bereits niemanden mehr, dem ich hätte antworten können.

»Nik! Nik!«, schrie Agard von der Grenze aus. »Nik, dreh dich um!«

... Von allen Hochständen krochen, robbten und glitten Wendige durch den Schnee in unsere Richtung. »Flieh, Nik! Lauf!« Agard fuchtelte unbeholfen mit den Armen. Er hatte seine Worte, wonach die Wendigen viel schneller und ausdauernder sind als Menschen, offenbar vergessen.

Langsam ging ich auf ihn zu.

»Ich danke dir, Tarai«, sagte ich. »Mach dir um mich keine Sorgen.«

Der alte Historiker schluchzte. In seinen Händen hielt er den Spaten. Wollte er sich etwa in ein Handgemenge stürzen? Obwohl er nicht die geringste Chance hatte?

»Sie bringen dich um«, flüsterte er. »Sie bringen dich um, mein Junge.«

»Weshalb hat man dich hierhergeschickt, Tarai?«, fragte ich.

»Was spielt das jetzt ...« Agard schüttelte in stummer Empörung den Kopf. »Ich habe die Archive von Rig dem Stinkenden durchforstet! Ja, er hat der Pestepidemie ein Ende bereitet! Aber er hat sie auch entfesselt! Er hat die Ausbilder mit der Medizin ausgestattet ... und mit dem Erreger!«

Warum wunderte mich das nicht?

Die Geschichte der Geometer hatte sich allzu vage über denjenigen geäußert, der ihre Welt gerettet hatte. Allzu glatt waren auf diesem Planeten die Ausbilder an die Macht gelangt, diese weisen und guten Retter.

»Leb wohl, Agard«, sagte ich. »Halte durch. Vielleicht ... ändert sich irgendwann doch etwas.«

Er schwenkte kämpferisch den Spaten. In seinen Augen blitzte Wahnsinn auf. »Wir ... wir bleiben zusammen.«

Ich schüttelte den Kopf.

Cualcua, leite die Kampftransformation ein.

Ich empfehle, ins Meer einzutauchen, antwortete der Symbiont wie aus der Pistole geschossen.

Ich erzitterte, als ich den weißlichen Brei aus Eis und Wasser sah.

Du brauchst keine Angst zu haben zu erfrieren.

»Das ist das Milieu, an das sie gewöhnt sind«, flüsterte ich, den Blick auf das wogende Eis gerichtet.

Hast du mal darüber nachgedacht, an welches Milieu ich gewöhnt bin?

Selbst wenn die Ironie in diesem Satz zufällig sein sollte, ernüchterte sie mich. In einer Minute würden hier Dutzende von Wendigen auftauchen. Alle würde ich sie nicht besiegen können.

Ich klopfte dem Historiker auf die Schulter und wollte ihm zulächeln - was mir aber nicht gelang. Leider. Dann rannte ich zum Wasser.

»Nik!«, schrie mir Tarai hilflos hinterher. Das Letzte, was ich wahrnahm, waren die erhobenen Hände von zwei »Patienten«. Sie winkten mir zu und wünschten mir Glück.

Drei von zehn - das ist sehr viel. Für diese Welt lohnte es sich noch zu kämpfen.

Ich rannte durch das flache Wasser am Ufer, bis es mir zu den Knien reichte.

Da tauchte ich unter.

Das Eis brannte wie Feuer. Die Wattejacke weichte im Nu durch und hemmte meine Bewegungen. Luft bekam ich nicht mehr, was aber ganz gut war, andernfalls hätte ich geschrien und Wasser geschluckt. Keine Angst, keine Angst ... . flüsterte der Cualcua.


Wenn meine Rezeptoren eine Sekunde später abgeschaltet worden wären, hätte ich das Bewusstsein verloren. Aber der Cualcua schaffte es rechtzeitig.

Die Kälte war verschwunden. Als ich mich erschaudernd von dem Schock erholte, trieb ich an der Wasseroberfläche. Die nasse Kleidung zog mich zum Grund. Ich schälte mich aus der Wattejacke und den Hosen und sah mich um. Die Wendigen waren bereits am Ufer.

Vorwärts.

Ich schwamm gern. Diese Sportart lockt Faulpelze, und ich habe ihr immer meine Reverenz erwiesen. Allerdings waren auch meine Resultate immer danach gewesen. Als ich rund zwanzig Meter vom Ufer weggeschwommen war, hörte ich rhythmisches Platschen: Die Wendigen sprangen ins Wasser.

Ich tauchte wieder unter, drehte mich um und zwang mich, die Augen zu öffnen. Gerade noch rechtzeitig.

Die Wendigen Freunde schössen torpedogleich auf mich zu. Ihre Mäuler standen offen, das Wasser sprudelte und strömte durch den röhrenförmigen Körper. Wie ausgesprochen bequem, sich mit dem Düsenprinzip fortzubewegen.

Ich greife an.

Meine Finger schmerzten, denn der Cualcua beeilte sich zu sehr, als dass er auf meine Befindlichkeit hätte Rücksicht nehmen können. Weiße Fäden wuchsen heraus. den angreifenden Wendigen entgegen. Zehn sich schlängelnde dünne Fäden.

Um den Feind zu besiegen, muss man eins mit ihm werden. Die Japaner wären mit der Methode des Cualcua zufrieden gewesen.

Die Wendigen verfügten über eine ausgezeichnete sensitive Wahrnehmung. Die lebenden Torpedos teilten sich und manövrierten. Drei von ihnen schafften es jedoch nicht rechtzeitig.

Ich bemerkte nicht, wie die Fühler des Symbionten sich in die Wendigen bohrten. Vermutlich hatte ihm der erste Kampf ausgereicht, um sich an den Organismus der Aliens anzupassen, denn diesmal lief alles sehr schnell ab. Die Wendigen erstarrten, doch die Massenträgheit trug sie noch ein paar Meter vorwärts. Ein Körper glitt dicht an mir vorbei und sank allmählich.

Mit den Armen rudernd kämpfte ich mich nach oben. Ich schluckte Luft, die warm und zäh wie Sirup war. Die Menschen am Ufer kreischten auf, als sie mich sahen.

Wieder hinab ...

Die Wendigen umkreisten mich, wagten sich jedoch nicht näher heran. Es waren nur noch fünf oder sechs übrig. Da ich nicht alle zugleich im Auge behalten konnte, blieb mir nur die Hoffnung, mein Symbiont würde sich neben den menschlichen Augen auch der eigenen Sinnesorgane bedienen ...

Ein Schlag traf mich in der Seite, ein abgleitender, abgefederter Schlag. Der mich von hinten attackierende Wendige war bereits in dem Augenblick tot, als wir kollidierten. Aber sein Maul riss trotzdem noch an meinem Körper. Schmerz empfand ich nicht, es gab nur Schwere und eine kleine, matte Blutwolke, die durchs Wasser waberte.

Keine Angst, keine Angst ...

Unter mir sank leicht zitternd der Körper des Wendigen Freundes zum Grund. Die anderen umkreisten mich weiter. Waren sie wie Haie? Griffen sie nur einzeln an?

Das Blut strömte nicht mehr, der Cualcua hatte etwas dagegen unternommen. Dafür wurde mein Körper jetzt schwach. Der Blutverlust und das kalte Wasser - selbst wenn ich es nicht spürte - entzogen mir permanent Kraft.

Ein Platschen. Die Wendigen machten synchron kehrt -aber nicht, um mich anzugreifen. Nein, sie schwammen weg, zurück zum Ufer. Entweder war ihnen klar geworden, dass das Wasser ihnen keinen Vorteil mehr verschaffte, oder sie hatten eingesehen, dass das, was hier geschah, längst weit über eine Flucht hinausging.

Ich tauchte auf. Die Aliens krochen bereits ans Ufer, die Menschen wichen eiligst zurück, um ihnen Platz zu machen. Trotzdem blieb mein Auftauchen nicht unbemerkt. Einige schrien, andere winkten. Was auch immer sie in mir gesehen haben mochten, als ich die ungeschriebenen Gesetze des Sanatoriums übertreten hatte, jetzt war ich ein Mensch, der die Wendigen besiegt hatte.

Nur bedeutet ein Sieg über seinen Feind längst noch nicht, dass man auch sich selbst gerettet hat.

Hinter mir lag die Eiswüste, vor mir das Eismeer.

Die Wendigen würden den Vorfall melden. Ich hatte in der Welt der Geometer nichts bemerkt, was unserer Polizei oder Armee entsprochen hätte, aber dies hieß natürlich nicht, dass es dergleichen nicht gab. Wenn es sein musste, würden Regressoren und Piloten aus der Luft kommen, friedliche Landarbeiter zu Lasersicheln greifen, Arbeiter zu Atomhämmern.

Man würde mich suchen.

Schließlich galt es, den unzurechnungsfähigen Kranken zu retten, der das gemütliche Sanatorium verlassen hatte!

Ich schwamm, weiter und weiter vom Ufer weg. Der Cualcua schwieg, vermutlich hatte ihn der Kampf eben einiges gekostet. Sollte mir recht sein, wenn er schwieg. Ich musste meine Entscheidung selbst treffen. Mich retten oder sterben. Diese Welt besiegen - oder kapitulieren.

Drei

Den Abend erlebte ich auf einer Eisscholle, rund zwanzig Kilometer vom Sanatorium und einen halben Kilometer vom Ufer entfernt. Völlig nackt saß ich da, die Kleidung unter mich gestopft Die Kälte spürte ich nach wie vor nicht, aber so war es irgendwie beruhigender.

Was für ein seltsames Gefühl. Die Geschehnisse kamen mir absolut irreal vor. Die Wunde in der Seite war fast verheilt, es kitzelte nur leicht, wenn ich die neue, rosafarbene Haut berührte. Um mich herum milchig trübes Wasser, Eis, ein farbloser Himmel. Wie auf den Bildern von Rockwell Kent. An einer solchen Landschaft kann man sich jedoch nur dann erfreuen, wenn man zu Hause sitzt, im Warmen. Oder wenn man wenigstens nicht das Schmelzen der Schneeflocken auf der eigenen nackten Haut beobachten muss.

Der Cualcua schützte mich sicherer gegen die Kälte als jeder Pelz. Das brachte allerdings Nebenwirkungen mit sich.

Seufzend hob ich einen frisch gefangenen Fisch vom Eis. Dann würde ich mich mal auf eine Stufe mit den Wendigen stellen ...

Äußerlich ähnelte der Fisch einem Rotbarsch. Rötliche Schuppen, die ein halbes Kilo Fleisch bedeckten.

Ich riss ihm die Flossen ab und machte mich ans Abendbrot. Das rohe Fleisch schmeckte mir nicht, war andererseits aber auch nicht so unangenehm, wie ich befürchtet hatte. Danilow müsste jetzt hier sein, von ihm hieß es ja, er liebe die japanische Küche ...

Irgendwo in meinem Magen bekam der Cualcua seine Portion an Nahrung. Ich selbst hätte es vorgezogen zu hungern, aber mein Symbiont vertrat nach einem sechsstündigen Kampf gegen die Kälte eine andere Ansicht.

Mehr.

»Das war alles«, sagte ich, während ich die jämmerlichen Fischreste wegwarf.

Nein.

»Ich kann nicht mehr.«

Ich kann noch.

Ich legte die Hand auf den Fisch und drehte mich weg. Meine Finger zitterten leicht, aber ich wollte nicht sehen, was da jetzt an meiner Hand passierte.

Jetzt war es alles.

Auf dem Eis lag nur noch ein Fischschwanz. Ich schluckte und kämpfte gegen Würgereiz an. Was die Natur geschaffen hat, ist nicht eklig. Ich schnippte den Schwanz ins Wasser und betrachtete meine Hand. Ich konnte nichts Verdächtiges daran entdecken. Ob der Fisch auch verspeist worden wäre, wenn ich meinen Fuß auf ihn gelegt hätte?

Vermutlich schon.

Ich klaubte eine Handvoll Schnee vom Eis und spülte mein feierliches Mahl runter.

»Was tun wir als Nächstes, Cualcua?«

Ich treffe keine Entscheidungen und gebe keine Ratschläge.

Vielleicht war es ja besser so. Ansonsten würde ich nicht einmal merken, wie ich zu einer wandelnden Behausung für einen fremden Verstand wurde. Der Cualcua musste sich nur um eins kümmern, nämlich mein Überleben sichern. Und das machte er hervorragend. Ich könnte vermutlich den Rest meines Lebens damit zubringen, Fische zu jagen und mich im Schnee zu sonnen.

Wie ich eine Anwendung für das mir geschenkte Leben fand, war mein Problem.

Gut, aber jetzt durfte ich nicht die Nerven verlieren. Wie unwirtlich diese Schneewüste auch anmutete, in ihr musste es Leben geben. Ich konnte mich von allem Möglichen ernähren, obwohl ... stopp, darüber brauchte ich nicht nachzudenken. Schließlich war das hier der Runde Kontinent, auf dem sich die Stadt Dienen befand, die Kosmodrome, die gemütlichen warmen Häuser, die Bergwerke und Fabriken, Wälder und Felder. Ich brauchte mich also nur zu ihnen durchzuschlagen.

»Wir schwimmen ans Ufer«, sagte ich.

Gut. Unterwegs fangen wir Fische.

Ich schluckte.

Schon gut. Meckern nützte nichts.

»Das machen wir«, willigte ich ein.


Die ganze Nacht ging ich am Ufer entlang. Vielleicht trug daran der Cualcua die Schuld, vielleicht spielten aber auch meine Nerven verrückt - jedenfalls fand ich keinen Schlaf. Es schneite, sanft und leicht, ab und zu musste ich mir das steif gefrorene Hemd weichklopfen. Durch meinen Körper liefen immer wieder kurze Krämpfe, und Eisklumpen fielen von meiner Haut ab. Es war dunkel ... Der Planet der Geometer hatte keinen natürlichen Satelliten, und der wundersame Sternenhimmel, der die Navigation verhindert, es jedoch erlaubt hatte, nachts zu arbeiten, war irgendwo weit, weit weg geblieben ...

Ihr seid also geflohen, Geometer. Ihr habt euch vor denjenigen versteckt, denen ihr eure Freundschaft aufpfropfen wolltet. Ihr habt euer ganzes System irgendwo anders hingebracht, zusammen mit eurer Sonne, Dem Mütterchen, zusammen mit den Planeten der Kleinen und der Wendigen Freunde. Doch selbst danach habt ihr nicht klein beigegeben. Denn der Wunsch, Gutes zu schaffen, lässt sich nicht auslöschen.

Aber warum, warum nimmt er immer diese Formen an?

Wir hätten diesen Weg ja auch gehen können. Hätte er uns dann ebenfalls zu einem rationalen, korrekten und zugleich falschen Paradies geführt? Alles um mich herum war mir ja vertraut. Alles passte ins Repertoire der utopischen Träume über die Zukunft. Pieksaubere Städte, eine freiwillig gewählte Askese im Leben, Ausbilder, die Generation um Generation weise zum Glück führen, Freundschaft mit anderen Rassen - all das gehörte auch zu unserem Traum.

Wäre dann auch bei uns alles auf dieses Ende hinausgelaufen? Auf ein Netz aus Lagern für die Abfälle, auf bis an die Zähne bewaffnete friedliche Schiffe, unanfechtbare Autoritäten im Weltrat und jene gegenseitige Verantwortung, die Niks Freunde gezwungen hatte, ihn ins Sanatorium zu eskortieren? Oder hatten die Geometer einfach einen Fehler gemacht, waren sie vom Weg abgekommen, hatten sie irgendwann irgendwo ihre eigenen Prinzipien verletzt? Zum Beispiel, als sie - da war ich mir ganz sicher - einen bakteriologischen Krieg im Mittelalter entfacht und die Armeen der Feudalherren niedergemäht hatten, um dann, indem sie der Welt eine Medizin gegen die Pest schenkten, friedlich und unwiderruflich die Macht zu übernehmen. Um die Stelle der Heiligen einzunehmen. Sicher hatten früher bei den Geometern bestimmte Kulte existiert, Glaubensvorstellungen ...

Oder gab es womöglich keinen anderen Weg? Gab es nur den offenen Zynismus des Konklave oder den schön verpackten Zynismus der Geometer?

Triff eine Wahl, Pjotr Chrumow. Triff eine Wahl, Planet Erde. Auf wessen Seite stellst du dich, wenn die Idee der Freundschaft auf das Gesetzbuch des Konklave trifft?

Zwei Kräfte. Wie sehr hattest du auf diese Konstellation gehofft, Großpapa. Aber wird es dir wirklich gelingen, einen Vorteil daraus zu ziehen? Oder vernichtet das Konklave uns als möglichen Verbündeten der Geometer? Oder werfen uns die Geometer kurzerhand und in gewohnter Manier ins Mittelalter zurück, um uns ihre eigene Ethik aufzupfropfen?

Müßig, darüber zu spekulieren ... Könnten denn die Geometer in einem Kampf gegen das Konklave überhaupt bestehen? Gegen die Kampfschiffe der Alari, gegen die Plasmawesen der Rasse der Torpp, die nicht viele Angehörige zählt, aber in den Sternenkoronen leben kann? Gegen die unzähligen Heerscharen der Hyxoiden und gegen die Daenlo? Gegen die ungeheure Intelligenz der Zähler?

Pah! Natürlich könnten sie. Selbst wenn ihr System lediglich aus drei bewohnten Planeten besteht. Sie sind klug. Ihre Technologie - nicht die augenfällige, sondern dir richtige, verkörpert in Schiffen und Transportkabinen - ist hocheffizient. Und das Wichtigste: Ihre Gesellschaft ist absolut monolithisch. Freilich, es gibt die Lager, aber die stehen halb leer. Ein, zwei Prozent Oppositionelle, das ist nichts. Und selbst diese unglücklichen, mit einer sinnlosen Arbeit beschäftigten Gefangenen sind der Heimat noch treu ergeben. Nicht eine Sekunde würden sie zögern, den Spaten gegen die Waffe einzutauschen.

Mit Gewalt ließe sich die Zivilisation der Geometer nicht bezwingen. Schließlich ist ihr gesamtes Planetensystem ein einziges Raumschiff, imstande zu manövrieren, der Verfolgung zu entkommen und anzugreifen. Die Prinzipien ihrer Fortbewegung im Raum sind uns unbekannt, aber sie sind allem überlegen, was dem Konklave zur Verfügung steht. Welch monströse Kraft die Starken Rassen auch gegen die Geometer aufbringen mochten, diese würden entkommen. Und dann würden sie zurückkehren, denn diese Rasse ist - genau wie die Menschen -außerstande, einen Schritt zurückzugehen. Sie würden Regressoren für die Arbeit auf der Erde züchten, Regressoren, die in die Haut der Zähler schlüpften, sowie Regressoren, die den Hyxoiden glichen.

Und das Konklave, diese an Kränkungen und intern geschürtem Hass reiche Institution, würde zusammenbrechen. Die Starken müssten sich zurückziehen, ihnen bliebe einzig die Möglichkeit, sich zu verteidigen. Die Schwachen dagegen würden die Ideen der Freundschaft annehmen.

Dessen war ich mich absolut sicher.

Vielleicht existierte dort, woher die Geometer kamen, eine Kraft, die sie in Schrecken versetzt hatte. Aber das Konklave würde dergleichen nicht fertigbringen ...

Ich blieb stehen und lauschte. Ich meinte, von vorn ein Geräusch zu hören, ein fernes Knallen, das an Schüsse erinnerte ...

Nein, wahrscheinlich hatte ich mir das eingebildet.

Ich habe auch ein Geräusch registriert.

Ist es weit weg, Cualcua?

Nicht mehr als fünf Kilometer an der begradigten Uferlinie entlang.

Danke.

Nach kurzem Zögern fragte ich: Liest du alle meine Gedanken?

Ja.

Was denkst du über die Verteilung der Kräfte? Wären die Geometer in der Lage, das Konklave zu besiegen?

Eventuell.

Erschreckt dich das nicht?

Nein. Wir verlieren nie.

Wenn es euch egal ist, warum nehmt ihr dann an der Verschwörung gegen die Starken Rassen teil?

Wir? Ich nehme daran teil. Mein bisheriger Wirt, der Alari, wollte das, deshalb bin ich zu dir gekommen. Über die anderen Wesen meiner Rasse kann ich nichts sagen.

Sie lebten ein bequemes Leben. Gelassen. Die Körper ihrer Wirte konnten sterben, Zivilisationen konnten einander vernichten - die Cualcua würden all das nur voller Neugier aus fremden Augen heraus betrachten. Natürlich waren auch sie sterblich, und sollte mich eine Plasmabombe verbrennen, dann zusammen mit der in meinem Körper lebenden Amöbe.

Aber was heißt ein gewaltsamer Tod für eine Rasse, die keinen natürlichen Tod kennt? Die in ewiger Teilung von Körper zu Körper reist? Für die Cualcua konnte der Tod eine schreckliche Tragödie bedeuten - oder eine absolut belanglose Nebensächlichkeit. Wohl eher Letzteres. Schließlich dürften sie nicht ohne Grund in großer Ruhe ihre »Arbeit« in den Sprengköpfen von Raketen verrichten ...

Sie lebten ein bequemes Leben ...

Ich ging weiter. Das Geräusch konnte sich als das Knirschen von Eisschollen herausstellen, das absolut nichts zu bedeuten hatte. Vielleicht lag vor mir aber auch eine Ansiedlung. Ein Bergwerk, ein Fischerdorf, ein Hafen ... oder noch ein Konzentrationslager.

Es half nichts, ich musste abwarten. Fünf Kilometer -das würde ich bis zum Morgen schaffen.


Zwei Stunden später lag ich bis zum Hals im Schnee eingegraben da und spähte in das dämmrige Halbdunkel. Der Schnee half mir, er spendete Licht, ließ die Gebäude vor mir so klar hervortreten wie Scherenschnitte auf einem weißen Blatt Papier.

Ein Turm. Fünfzig Meter hoch, dreißig Meter im Durchmesser. Die Fensterscheiben fingen bereits zu funkeln an.

In einem oder zweien schimmerte schwach Licht. Für ein Bergwerk oder ein technisches Gebäude gab es zu viele Fenster. Es handelte sich bestimmt um ein Wohnhaus ... das übrigens architektonisch durchaus auf die Erde gepasst hätte. So eine phallische Betonkonstruktion, die aus dem Frostboden aufragte.

Der Turm war jedoch keineswegs das interessanteste Bauwerk hier am Ufer. Etwas weiter in der Ferne blitzten zwei Glaskuppeln auf - unter denen ich das Grün von Bäumen auszumachen meinte. Transparente Röhren verbanden die Kuppeln mit dem Turm. Im Hintergrund gab es eine weitere Gruppe kleinerer Bauten.

Bestimmt handelte es sich um irgendein Dorf. Eine Art Siedlung von Bergleuten oder Erdölarbeitern. Die Geometer mussten doch Öl haben, oder? Im Fernsehen hatte ich mal ein Dorf von kanadischen Gasarbeitern gesehen, das in Sibirien gebaut worden war, in einer Gegend, die Russland für neunundneunzig Jahre verpachtet hatte. Die Ähnlichkeit ließ sich nicht von der Hand weisen! Außerdem hatte mein Großvater einen ganzen Schrank voll mit Science-Fiction-Bildbänden, die ich in meiner Kindheit begeistert durchgeblättert hatte. Vor einem halben Jahrhundert hatte man sehr ähnliche Landschaften zu Papier gebracht, als man versuchte, den Kommunismus aufzubauen. Damals musste es unbedingt Gärten unter Kuppeln geben, transparente Laufröhren ... beheizte Klos. Und über all diese Pracht fegte ein Schneesturm hinweg, ohne den geringsten Schaden anzurichten ...

Ich kicherte leise. Zu bedauerlich, dass keiner der Künstler jener Zeit auf die Idee gekommen war, diesem romantischen Ambiente einen nackten Menschen beizufügen, der sich hinter Schneewehen versteckt. Einen Menschen, der aus einem Konzentrationslager geflohen war.

Gut, jetzt hatte ich die Kräfte des Cualcua lang genug strapaziert. Vorwärts! Auf zum Sturm der hiesigen Erdölbasen. Selbst wenn diese Kuppeln durchsichtig waren, konnte man sich in ihnen ausgezeichnet verstecken, wärmen und etwas essen. Und falls ich es dann noch in den Turm schaffte ...

Ich nutzte die letzten Minuten der Nacht und rannte weiter. Mein graues Hemd war inzwischen vereist und mit Schnee bedeckt. Auf meinem Haar lag ebenfalls Schnee. Wenn hier draußen keine Alarmanlage installiert war, dann konnte man mich bei einem zufälligen Blick aus dem Fenster kaum entdecken. Und wenn sie doch eine hatten ... dann ließe sich das nur auf eine einzige Art und Weise feststellen.

Auf dem Weg zum Turm überquerte ich einige festgestampfte, schmale Rinnen. Skispuren? Spuren von einem Wagen? Spazierwege der Wendigen Freunde?

Wenn die Geometer etwas verstanden, dann das: keinen Müll zu hinterlassen. Da stand ein Gebäude mitten in der Tundra - und es fehlte jeder Hinweis darauf, woher es gekommen war, jedes Anzeichen, dass es bewohnt war. Niemand ließ es sich einfallen, einen Apfelrest aus dem Fenster zu werfen oder beim Bau ein paar Betonplatten zu vergessen. Nein, alles musste akkurat sein. Es klingt komisch, doch unterwürfen die Geometer die Erde, würde ihre Ordnung vor allem in Russland auf Missfallen stoßen. Ungeachtet aller Tradition utopischer Träume ...

Im leichten Trab umrundete ich den Turm. Ich entdeckte drei Türen, von denen jedoch keine auf meine Berührung reagierte. Pech. Damit blieben die beiden Kuppeln und die kleineren, abseits gelegenen Bauten. Zunächst lief ich zu den Kuppeln, denn das Grün der solide gegen den Frost abgeschirmten Bäume lockte mich zu sehr. Kurz vor der ersten Kuppel drehte ich mich noch einmal um und warf einen flüchtigen Blick auf den Turm.

Teufel auch!

War ich von Natur aus so klug, oder kam das von der Kälte?

Ein Spion! Ein Späher der Erde! Ein allseitig entwickelter Vertreter der Menschheit!

Die Kette meiner Spuren zeichnete sich absolut deutlich ab. Sie begann an den Schneewehen, umrundete den Turm und führte zur Kuppel. Sobald die Sonne aufgegangen war, würde mein Auftauchen für niemanden mehr ein Geheimnis sein. Es würde schwer sein, sich nicht dafür zu interessieren, wer da nachts barfuß durch den Schnee gelaufen war. Wenn dann noch die Nachricht über die Flucht eines Patienten aus dem nahe gelegenen Sanatorium durchkam ...

Ich jammerte leise auf, als ich mir klarmachte, was ich da angerichtet hatte.

Wenn ich doch wenigstens nicht auch noch um den Turm herumgerannt wäre! Das sah ja aus, als ob ich mich über seine Bewohner lustig machen wollte, damit man unbedingt Jagd auf mich machte!

Natürlich nützte es rein gar nichts, sich jetzt die Haare zu raufen und zu bereuen. Ich hielt den Handteller in die Luft und fing zarte Schneeflocken auf. Ob die Spuren zugeschneit würden? Es bestand zwar nur eine schwache Hoffnung - aber mit irgendwas musste ich mich ja trösten.

Als Erstes erforschte ich den Teil der Kuppel, der an die Röhre grenzte, die zum Turm führte. Die terrestrische Logik hätte an dieser Stelle eine Tür vorgesehen.

Aber nein, ich war nicht auf der Erde.

Die Kuppel hatte einen Durchmesser von einem halben Kilometer. Ich lief an der Glaswand entlang und schaute unwillkürlich auf die dunklen Silhouetten der Bäume. Warm war es dort, warm. Da drinnen würde ich mich wieder wie ein Mensch fühlen, nicht mehr wie eine Schaufensterpuppe in einem Gummianzug ... Bäume, kleine Hügel und Sträucher. Ein sehr lauschiges Wäldchen lag da hinter Glas. Und es war nicht unbewohnt, denn durch das Dickicht drang bläuliches Licht ... Gab es hier etwa ebenfalls keinen Eingang? Ob dieses Dorf vollständig von der Außenwelt abgeschnitten war? Vielleicht war der Turm direkt über einem Bohrloch oder einem Schacht errichtet worden und die Bewohner hatten kein Bedürfnis, in die Schneewüste hinauszugehen?

Jetzt achtete ich darauf, weniger Spuren zu hinterlassen, und rannte dicht am Rand der Kuppel entlang. Hier, an der Schnittstelle der vom Wind zusammengetragenen Schneewehen und der unberührten Schneefläche, dürften meine Abdrücke nicht ganz so stark auffallen.

Es wurde heller und heller. Am Himmel hingen fast keine Wolken mehr, bald würde Das Mütterchen hervorlugen ... wie dieses Wort der Geometer in meinem Gedächtnis haften geblieben war ... Wurde Zeit, dass ich von hier wegkam. Nur noch ein paar Fische im Meer gefangen, den Cualcua gefüttert und dann das Ufer entlangwandern oder -schwimmen.

Ich wechselte in Schritttempo über. Nein, auch in der Kuppel gab es keine Türen. Aber gut zehn Meter von ihr entfernt störte eine einsame Schneewehe von gleichmäßiger Würfelform die ansonsten makellose Schneefläche. Der Wind bringt dergleichen nicht zustande.

Es dauerte lange, bis ich den Schnee weggefegt hatte. Dann jedoch wunderte ich mich nicht, als ich unter dem Harsch glattes Plastik entdeckte. Ein Verschlag von halber Mannshöhe. War den tadellosen Handwerkern also doch ein Fehler bei der Arbeit unterlaufen?

Ich fuhr mit der Hand übers Plastik und versuchte, das Schloss zu ertasten und zu aktivieren. Na, komm schon! Los jetzt!

Die Klinke brachte mich völlig aus dem Konzept. Meine starren Finger stießen gegen sie, und ich bemerkte, wie die Plastikwand leicht zitterte. Aha! Mit neuer Energie fegte ich den Schnee beiseite und legte schon bald eine kleine Klappe frei. Nachdem ich ein paar Mal gerüttelt hatte, ließ sie sich problemlos öffnen, denn der Schnee hatte den Angeln nicht zugesetzt. Aus dem Innern des Verschlags strömte mir feuchte Wärme entgegen. Ich tastete mit der Hand: Eben! Es gab keinen Boden. Irgendwo unten rauschte Wasser.

Bei aller Liebe zu intelligenten Schlössern hatten die Geometer doch darauf verzichtet, jeden Kanaldeckel damit auszustatten.

Damit standen mir drei Wege für mein weiteres Vorgehen offen. Was hatte mein Großvater über die Zahl Drei gesagt? Es sei die Zahl, die für das menschliche Bewusstsein am bequemsten sei? Ich könnte also weiter nach einem normalen Eingang suchen. Oder abhauen. Oder mich Hals über Kopf ins fließende Wasser stürzen.

Die beiden ersten Varianten kamen mir vernünftiger vor, hingen mir inzwischen aber zum Hals raus.

Ich erkundete mit den Beinen das Nichts. Dann schloss ich hinter mir die Klappe und balancierte auf dem schmalen Rand entlang. Bis zum Wasser war es nicht weit, das Plätschern klang ganz nah.

Als ich sprang, stand mir überdeutlich vor Augen, wie eine spitze Stange, die aus dem tosenden Strom herausragte, meinen Körper aufspießte ...

Das Wasser kam mir nur warm vor. Dabei war es normales Meereswasser. Salzig. Das kannte ich inzwischen. Die Strömung erfasste mich und trug mich eine enge, dunkle Röhre entlang. Der Raum über dem Wasser war ganz knapp bemessen, gerade mal meinen Kopf konnte ich herausstrecken.

Eine Wasserleitung, die vom Meer her kam!

Ich schwamm vorwärts, spuckte das Wasser aus, tauchte bald unter, bald wieder auf und sog jedes Mal gierig Luft ein. Es trieb mich Richtung Kuppel. Damit sah ich mich mit einer unermesslichen Zahl von Möglichkeiten konfrontiert. Gitter, Schaufeln, Kühlsysteme von Reaktoren, geschlossene Reservoire.

Nein! Das konnte nicht sein. Die Geometer hatten eine sehr sorgsame Einstellung gegenüber dem Leben. Wenn die Klappe nicht blockiert gewesen war, wenn es keine Warnhinweise und keine Sicherheitsgitter gegeben hatte, dann hieß das, dass einem Menschen, der in den Tunnel fiel, keine Gefahr drohte!

Natürlich war das eine sehr freie Interpretation. Aber sie half mir, jene Minute zu überstehen, als die Strömung mich durch den Tunnel trug. Irgendwann funkelte schwaches Licht vor mir auf, die Strömung ließ nach, und ich ertastete allmählich Boden unter den Füßen. Ein letztes Mal schleuderte es mich herum, dann wurde ich auf ein maschendrahtartiges Metallgitter gespült, das den Boden bildete. An der Decke brannten schwache Lampen. Ich erhob mich. Erst jetzt verspürte ich Angst.

Ein kleiner runder Raum. Der Boden war durchlöchert wie ein Sieb, hier und da hingen Algen und Dreckbrocken darin. Das durch den Tunnel strömende Wasser schäumte, floss auseinander und stürzte nach unten.

Diese Geometer! Ich befand mich mitten in einem Klärwerk. Ausgesiebt mit anderem Dreck.

Auf wackligen Beinen taumelte ich zur einzigen Tür, die aus dem Raum hinausführte. Wenn sie sich nicht öffnen ließ, war ich ein seltener Idiot. Ließ sie sich dagegen öffnen, war ich ein Idiot, der Glück gehabt hatte.

Ich sollte Glück haben. Die Tür ging auf, dahinter lag ein schmaler, nach oben führender Schacht mit in der Wand befestigten Bügeln. Auf dem Boden waren Erdklumpen und fauliger Mulm verteilt. Ohne weiter darüber nachzudenken, kraxelte ich nach oben. Drei Meter über mir gab es eine Metallluke. Was sich wohl dahinter befand?

Die Luke fügte sich meinem Druck, ich klappte sie auf. Das Gemisch, das auch den Boden des Schachts bedeckte, rieselte in leichtem Regen auf mich herab. Von außen war der Ausgang nachlässig mit Erde getarnt.

Ich zog mich durch die Luke hoch und krabbelte nach draußen. So wie ich mich umsah, hätte man glauben können, ich sei noch in der Lage zu fliehen oder zu kämpfen. Doch ich fiel nur noch bäuchlings auf den Boden. Über mir hingen die Äste der Bäume, über diesen die Glaskuppel, noch weiter oben das fahle Dämmerlicht.

Ich hatte es geschafft. Ich war in die Siedlung der Geometer vorgedrungen.

Ob das Grund zur Freude oder zur Klage war, stand allerdings noch nicht fest.


Zwanzig Minuten lag ich einfach da und genoss die Ruhe. Meine Haut fing an zu kribbeln, als das Gefühl in sie zurückkehrte, weil der Cualcua den Schutz aufhob.

Ich musste etwas essen. Als Erstes musste ich die Kräfte des Symbionten wiederherstellen, erst dann durfte ich mich ausruhen ... Der Gedanke war überraschend aufgetaucht, und ich verkrampfte mich prompt. Beeinflusste der Cualcua am Ende doch mein Bewusstsein?

Nein, eigentlich war das eher unwahrscheinlich. Ich spürte keinerlei Gewalt. Eher handelte es sich um jene Fürsorge, mit der ich auf der Erde meinen Hund gefüttert hatte. Und mehr verlangte der Cualcua ja auch nicht.

Es war komisch, über einen Außerirdischen nachzudenken und zu versuchen dahinterzukommen, ob sich in seinen Handlungen Arglist und Verrat verbarg - wenn er jeden Gedanken las. Daran musste man sich nicht nur einfach gewöhnen, solch eine Situation musste man akzeptieren, da musste man vertrauen.

Wenn man über eine Situation keine Kontrolle hat, bleibt nur Ohnmacht. Die nennen wir dann Vertrauen, und schon sind wir zufrieden ...

Ich erhob mich. Schaute mich um. Der Schacht der Kanalisation hatte mich ins Zentrum der Kuppel gebracht. Bis hoch zur Glasdecke waren es hier rund siebzig Meter, die Bäume wuchsen also völlig ungehindert. Nach terrestrischen Vorstellungen handelte es sich um einen Nadelwald. Allerdings waren die Nadeln der Kiefern einen halben Meter lang und ihre Stämme glatt und weißlich, wie bei Birken.

Ich schloss die Luke und bedeckte sie wieder mit Erde und abgefallenen Nadeln. Geduckt lief ich durch das Wäldchen. Das aufgetaute Hemd umspannte meinen Körper wie eine feuchte Kompresse. Ich hätte es auf dem Gitter des Filters lassen sollen. Oder im Schnee vergraben. Von Nutzen war es sowieso nicht.

Die Glaskuppel über mir gestattete es, mich einigermaßen zu orientieren. Ich lief relativ schnell zur Wand. Hier wuchsen andere Bäume, niedrigere. Wenn ich ihre Bezeichnung wüsste, könnte Rimers Gedächtnis mir soufflieren, ob die Früchte essbar waren ... An der Wand entlang trabte ich in Richtung eines Tunnels. Die Situation wiederholte sich, nur dass ich jetzt in die entgegengesetzte Richtung lief und mich auf dieser Seite der Kuppel befand. Irgendwo hier hatte ich das Licht bemerkt ...

Es war jetzt fast Tag, und das machte alles schwerer. Trotzdem entdeckte ich das fliederfarbene Licht. Ich bog die Büsche auseinander, orientierte mich am Licht und wusste bereits, was ich gleich erblicken würde.

Eine Transportkabine. Eine normale Kabine mit einem Terminal an der Tür. Steig ein - und spring durch den Raum. Nur würde das Steuerungssystem mir den Befehl verweigern. Und zu allem Überfluss würde es auch noch Alarm schlagen.

Ich klopfte mit der Hand auf das warme Plastik und lief weiter, in den Tunnel hinein.

Natürlich wusste ich nicht sehr viel von Der Heimat. Aber ich war an verschiedenen Orten gewesen: auf dem Feld des Kosmodroms, an Tags Arbeitsstelle, in dem Restaurant, im Wohnheim, im Dampfbad, im Geschäft, im Weltrat, im Internat und in diesem Sanatorium genannten Lager. Mein Großvater würde mir sicherlich ein paar kluge Gedanken zu diesem Einblick in die Gesellschaft vortragen können. Doch obwohl ich keine voreiligen Schlussfolgerungen zog, erinnerte mich diese verglaste Wohnanlage an etwas. Ziemlich klar sogar. Zum Beispiel diese Transportkabine mitten im Wald - deren Lage durch keinen logischen Grund zu erklären war. Also musste ich die Logik beiseitelassen.

Einen solch hochkomplizierten Mechanismus in einem Wald aufzustellen hieß, seine Natürlichkeit unterstreichen, seinen alltäglichen Charakter.

Um jemanden daran zu gewöhnen ...

Insofern wunderte ich mich überhaupt nicht, als ich am Ende des Tunnels, über einer breiten, in den Turm führenden Tür ein Schild sah: Weißes Meer.

Das Internat, wohin sie den Ausbilder Fed geschickt hatten, damit er »seine Schuld sühnte«.

Da war ich also gelandet.

Ich setzte mich auf eine der Steinplatten, mit denen der Boden des Tunnels ausgelegt war, und versuchte zu einer Einschätzung der Situation zu gelangen. Ich durfte nicht trödeln, aber trotzdem ...

Vermutlich hatte mein Großvater recht. Alles lief wieder auf drei Möglichkeiten hinaus.

Ein Zufall.

Oder die Geometer kontrollierten mich und hatten mich irgendwie und mit irgendeinem Ziel direkt ins Internat Weißes Meer geführt.

Oder die Orte der »Strafverbüßung« für uns waren eben nicht zufällig gewählt worden, sondern man hatte ein Internat und ein Sanatorium ausgesucht, die nahe beieinander lagen. Selbst wenn ich davon nichts gewusst hatte, dürfte Fed diese Tatsache doch bekannt gewesen sein. Die Güte der Geometer - sie ist sehr eigenwillig. Den Ausbilder Fed dürfte meine »Verrücktheit« wirklich betrüben, das verstand ich jetzt, nachdem ich die erste Wut überwunden hatte. Und wenn der Ausbilder wusste, dass fünfzig Kilometer entfernt ... hundert Kiloschritt entfernt, wie er es ausdrückte ... sein einstiger bester Schützling mit Spaten und Hacke hantierte, würde dies seine Psyche ernstlich belasten.

Was sollte dieser Quatsch! Fehlte ja bloß noch, dass ich über das Schicksal des Ausbilders in Tränen ausbrach!

Ich erhob mich und zupfte überflüssigerweise das schmutzige, feuchte Hemd zurecht. Wie würden die Kinder der Geometer wohl auf das Auftauchen eines unbekannten Mannes in Unterhosen und Hemd, mit einem Dreitagebart und wütendem Blick reagieren?

Wahrscheinlich würden sie mir einen Stuhl anbieten, mir ein Glas mit heißem Tee bringen und den Arzt holen.

Die Ausbilder verstanden etwas von Erziehung. Nur schmeckten mir die Resultate nicht.

Ich stieß leicht gegen die Tür - die ohne weiteres aufging. Schlösser hatte sie nicht.

Die Halle war in einem ganz anderen Stil gehalten als die in Mütterchens Licht. Sie war riesig, nahm das ganze Erdgeschoss ein. Und alles erstrahlte in Weiß, funkelte, die Wände waren uneben, die Decke aus Platten zusammengesetzt. Ich hatte den Eindruck, mich in einer Eishöhle zu befinden. Lampen entdeckte ich nirgends, vielmehr schienen die Deckenplatten selbst zu leuchten. Das war zwar schön - aber wozu diese Einrichtung? Schließlich dachten sich die Geometer bei allem, was sie taten, etwas. An den Wänden standen runde, weiche Sessel, bezogen mit weißem Stoff, auf dem Boden lag ein dicker Teppich. Ich hütete mich, ihn zu betreten, um ja keine Spuren zu hinterlassen. Die müssten die Kinder dann beseitigen, im Rahmen der Vorbereitung-zur-Arbeit ...

Ich trat ein, lehnte die Tür sanft an und lauschte. Alles blieb still. Hier war niemand. Ein Plan für die einzelnen Stockwerke wäre jetzt hilfreich, um zu sehen, wo die Ausbilder wohnten. Dann würde ich zu Fed gehen und sagen: »Du bist mir noch was schuldig, aus unserer Zeit draußen, in Freiheit ...« Aber nein, das würde Fed nicht verstehen. Den Lagerhumor würde er nicht zu schätzen wissen.

Von der Halle führten zwei Treppen weg, eine nach oben, eine nach unten. Gab es hier also noch Untergeschosse? Ein paar Türen ließen mich an Fahrstühle denken, aber auf die verzichtete ich lieber. Drei weitere Türen identifizierte ich sofort als Ausgänge aus dem Turm - und zwar die, an denen ich noch vor kurzem völlig ergebnislos gerüttelt hatte.

Nur gut, dass es keine Wache gab ...

Stopp. In Mütterchens Licht hatte an der Tür eine Ehrenwache gestanden!

Ich drehte mich um, voller Hoffnung, man würde die Kinder nicht zwingen, nachts Wache zu schieben.

Selbstverständlich gab es einen Posten. In einer Nische an der Tür, unter einer riesigen funkelnden Harpune, die an Haken hing. Der Junge war nicht größer als diese Harpune. Jetzt schlief er, friedlich ausgestreckt auf dem Fußboden.

Ich schüttelte den Kopf. Vermutlich lag irgendein höherer pädagogischer Sinn in diesen Posten an der unverschlossenen Tür. Erziehung zu Verantwortung, zum Stolz auf das eigene Internat, auf sein Symbol. Und sie mussten diesen Dienst ja nicht häufig versehen, schließlich gab es in jedem Internat Hunderte von Zöglingen. Trotzdem hielt ich den Schlaf dieses Jungen für weitaus richtiger.

Wenn er älter gewesen wäre, hätte ich nicht an mich halten können. Dann hätte ich die heilige Harpune vom Haken genommen und hinter einem der Sessel versteckt, in bester Tradition meiner Ausbildungszeit. Was konnte es Lustigeres geben, als den Bildersturm auf die hochheiligen Symbole? Aber der Junge war allerhöchstem neun.

Ich blieb kurz stehen und betrachtete das Lächeln, das er im Schlaf zeigte. Am liebsten hätte ich ihm über den Kopf gestreichelt, aber wahrscheinlich wäre er von der außerplanmäßigen Zärtlichkeit aufgewacht. Also schlich ich leise, auf Zehenspitzen, zur Treppe und begab mich nach oben.

Wo könntest du stecken, Ausbilder Fed?

Ich muss dich sehen. Muss dir in die Augen blicken. Dir ein paar Fragen stellen.

Es wurde Zeit für Nik Rimer und seinen geliebten Ausbilder, Tacheles zu reden!

Ich hatte die richtige Treppe gewählt, hier fingen die Wohnetagen an. Ohne lange zu überlegen, ließ ich den ersten und den zweiten Stock hinter mir, denn dort gab es zu viele Türen. Das mussten die Zimmer der Schützlinge sein.

Im dritten Stock blieb ich stehen.

Der runde Treppenabsatz war etwas breiter als unten, die Lampen brannten heller. Und es gab insgesamt nur sechs Türen. Hier könnten die Ausbilder durchaus untergebracht sein.

Ich hätte auch noch die oberen Etagen inspiziert. Man handelte besser erst, wenn man sich ein Gesamtbild verschafft hatte. Aber mein Blick war an einem weißen Stück Stoff hängen geblieben, das achtlos neben einer Tür befestigt worden war.

Ein weißes Band.

Ein Band, wie Katti es mir hatte um den Hals binden wollen.

Das Herz hämmerte mir in der Brust, Schweiß bildete sich auf meinen Händen.

Kampftransformation?

Ich antwortete dem Cualcua nicht. Ich ging zur Tür und berührte das Band. Entweder handelte es sich genau um dasselbe oder um ein sehr ähnliches. Ich befreite es von der Nadel und band es mir sorgsam um den Hals. Bedauerlicherweise gab es keinen Spiegel. Ich hätte zu gern gewusst, wie meine dreckigen Füße, das schmutzige Hemd und das weiße Band zusammenpassten.

Dann klopfte ich an.

»Komm rein, Nik«, erklang leise die Stimme des Ausbilders Fed. »Es ist offen.«

Ich berührte die Tür, und sie glitt in die Wand.

»Guten Morgen, Ausbilder Fed«, begrüßte ich ihn beim Eintreten.


Hier, im Weißen Meer, war Feds Zimmer viel größer. Es war trapezförmig, den ganzen Raum um die Tür herum nahmen einfache Gerätschaften ein. Federn, Gegengewichte und Griffe. Man brauchte keine besonderen Kenntnisse, um zu wissen, dass es sich hier um Sportgeräte handelte. Man hatte sie auseinandergenommen, zur Tür geschleppt, aber noch keine Zeit gefunden, sie aus dem Zimmer zu expedieren. Vermutlich hatte der bisherige Bewohner die körperliche Fitness recht hochgehalten.

»Komm rein, Nik. Setz dich.«

Der Ausbilder Fed sah mich nicht einmal an. Er saß da, mit dem Rücken zu mir, und starrte auf einen Bildschirm, der die Halle zeigte, in der der kleine Wachtposten friedlich schlief.

Die Sessel standen weit weg, und auf das gemachte Bett wollte ich mich nicht setzen. Deshalb nahm ich mit dem Sattel eines Sportgeräts vorlieb, das verdammt an ein Fahrrad erinnerte. Also, ein begnadeter Erfinder würde aus mir in dieser Welt nicht werden, das Fahrrad hatten die Geometer schon selbst erfunden.

»Was soll diese Wache an der Tür, Fed?«, fragte ich. »Kinder sollten nachts schlafen.«

»Kinder müssen zu Verantwortung erzogen werden. Und in erster Linie zu Verantwortung für andere. Dieser Junge ist leider noch weit vom Ideal entfernt.«

Der Ausbilder Fed drehte sich in seinem Sessel um. Er betrachtete mich mit aufmerksamem Blick. Natürlich hatte er mich längst gesehen, auf dem Bildschirm, und in seinen Augen lag keinerlei Neugier.

»Du bist übel zugerichtet, Nik«, sagte er. »Darf ich dich nach wie vor Nik nennen?«

»Warum nicht?«

»Aus dem einfachen Grund, weil du nicht Nik Rimer bist«, antwortete der Ausbilder seufzend. »Du bist nicht mein Schützling.«

Man kann nicht auf ehrliche Weise einen Falschspieler schlagen. Man kann nicht heimlich in eine Zivilisation von Spionen eindringen.

»Wie kommst du darauf, Ausbilder?«

»Deine Reaktion, Junge. Du benimmst dich fast wie Nik ... unter Berücksichtigung der Amnesie, natürlich. Ich bin nicht gleich auf die Idee gekommen, die Archive nach der Operation Schatten zu durchforsten. Erst nachdem ... als ich wieder zu mir gekommen bin. Nik hätte mich nicht geschlagen, Junge. Er hätte frech werden können, weinen, abhauen oder nicht mehr mit mir sprechen können. Mehr nicht. Für die Bewohner des Schattens wäre diese Reaktion jedoch völlig normal gewesen. Ein symbolischer Schlag, als Zeichen der Verachtung.«

»Nicht nur für die Bewohner des Schattens ...«

Waren die Geometer also vor einer weiteren humanoiden Rasse geflohen? Vor Menschen, die fähig waren, so zu handeln wie ich?

»Mag sein, Junge. Der Kern ist groß ...«

Sie waren aus dem Zentrum der Galaxis gekommen! Das hätte ich mir eigentlich gleich denken müssen! Ein Himmel, flammend vor Sternen!

»Wie soll ich dich nennen?«

»Pjotr.«

»Pjor?«, fragte der Ausbilder irritiert zurück.

»Pjotr«, artikulierte ich die Laute so klar wie möglich. In ihrer Sprache war das »t« ganz weich, fast nicht hörbar. Daher war es schwer, etwas aus dem Russischen in der Sprache Der Heimat wiederzugeben.

»Pjoter ...«, brachte Fed heraus und erinnerte mich damit an Elsa von der Lufthansa. Herr im Himmel! Das war weniger als zwei Wochen her! Der Weltraumbahnhof auf Hyxi, das Glas Bier in der Bar ... »Sag mir, Pjoter, lebt Nik Rimer noch?«

»Er ist tot.«

»Hast du ihn umgebracht?«

»Nein. Ich glaube, er war ein guter Mensch, Fed. Ich hätte ihn nicht umbringen können.«

»Und einen schlechten - den schon?«

»Ja«, gab ich ehrlich zu. »Jetzt könnte ich das.«

Der Ausbilder senkte den Blick. Er starrte auf den Boden, wo zwei nicht ausgepackte Taschen standen. In einer von ihnen befanden sich bestimmt die Photos, die an der Wand in seinem alten Zimmer gehangen hatten.

»Du bist ihm wirklich ähnlich ...«, flüsterte Fed. »Aber selbst Nik hätte gegen die Wendigen keine Chancen gehabt ... und wäre nicht halbnackt bis zum Internat gekommen.«

Unbestimmter Schmerz überkam mich. Alles war so hoffnungslos. Gewiss, man konnte den Helden spielen, sich mit Aliens prügeln und den Mistkerlen unter den Menschen die Fresse polieren. Aber eine ganze Welt konnte man nicht täuschen.

»Was erwartet mich jetzt, Fed?«

»Das Sanatorium natürlich nicht. Das Sanatorium ist für Menschen gedacht, sogar wenn diese schlecht sind.«

»Was dann?«

»Wir müssen wissen, wer du bist«, informierte mich Fed sachlich. »Wie du zu uns vordringen konntest. Wie du zu Nik werden konntest.«

Ich fing an zu lachen. »Es ist viel leichter, eine ganze Zivilisation zu verstehen als nur einen einzigen Menschen. Und ich habe nicht einmal das geschafft. Ihr seid wie ein Zerrspiegel. Alles sitzt an der richtigen Stelle - und trotzdem sieht man ausschließlich negative Eigenschaften.«

»Das kommt dir nur so vor, Peter.« Der Ausbilder legte beiläufig die Hand auf den Aktivator des Terminals. »Wirst du dich deiner Festnahme widersetzen, Peter?«

»Ich weiß es nicht.«

»Versuch es lieber gar nicht erst.«

Er hielt mich mit festem, beinahe körperlich spürbarem Blick gepackt.

»Du weißt, was ich jetzt tue?«

»Du rufst eine Einheit von Regressoren.«

Der Ausbilder brach in Gelächter aus. Dann wurde er wieder ernst. »Wetterkontrolle«, sagte er bewusst laut. »Zwei Stunden Schneefall über dem Territorium des Internats. Die Anordnung erteilt der Ausbilder Fed. Das Ziel besteht in einer Unterrichtsstunde zum schlechten Wetter.«

Ich brachte keinen Ton heraus.

»Du weißt, warum ich deine Spuren verbergen will?«

»Um die Kinder nicht zu beunruhigen.«

»Ganz genau, Pjoter. Manchmal benimmst du dich fast wie ein richtiger Mensch ... Natürlich sind die Abdrücke der nackten Füße im Schnee eine gute Sache. Sie stacheln die Phantasie der älteren Kinder an und geben den kleineren Nahrung für ihre Schauermärchen. Aber nicht, wenn in der Nähe ein Sanatorium für Schwerkranke liegt. Irgendwann werde ich selbst einmal durch den Schnee rennen. Wenn das Sanatorium weit, weit weggezogen ist ... und die Spuren niemanden mehr auf falsche Gedanken bringen. Die Kinder sollen sich ruhig wieder an die Legenden von den Eismenschen erinnern, die Nase in ihre Geschichtsbücher stecken und sich auf diese Weise stählen ...«

»Ausbilder Fed«, sagte ich, »du frappierst mich ebenfalls. Du benimmst dich wie ein Mensch. Aber wenn man die Gründe für dein Verhalten freilegt, stinken sie wie Aas.«

»Wer bist du, um über uns zu urteilen?«

»Ein Mensch.«

»Du bist ein fremder Mensch. Du bist ein Regressor des Schattens.«

Erst jetzt verließ mich die Hoffnungslosigkeit: Also irren auch die Geometer.

»Nein, Ausbilder Fed. Ihr fürchtet die Feinde, die ihr hinter euch gelassen habt, dermaßen, dass ihr nicht mehr nach vorn schaut. Hier, am Rand der Galaxis, gibt es einen Planeten namens Erde. Auf ihm leben Menschen ... Menschen wie ihr. Nur betrachten sie die Welt mit etwas anderen Augen.«

Schweigend dachte er über meine Worte nach. »Wenn du die Wahrheit sagst, ist das für Die Heimat umso besser«, bemerkte er schließlich. »Wie sich gezeigt hat, ist die Welt des Schattens uns überlegen. Aber sie ist einmalig. Möglicherweise sind einige Entwicklungslinien identisch, aber die Ergebnisse unterscheiden sich nun mal. Wie sieht es aus, Peter, ist eure Rasse uns überlegen?«

»Nein«, antwortete ich ehrlich.

»Und eure Freunde? Das sind die Alari - und wer noch?«

»Die Alari sind nicht einmal unsere Freunde«, berichtete ich. »Möglicherweise sind es unsere Leidensgenossen. Wir sind nicht ideal.«

»Dann ...«

»Im Unterschied zu euch verstehen wir, dass wir voller Fehler sind.«

»Stopp!« Fed hob die Arme. »Stopp, Pjoter! Du zeigst Kooperationsbereitschaft, das weiß ich zu schätzen. Aber überlassen wir diese Anerkennung dem Weltrat.«

»Es wird keine Anerkennung geben«, erklärte ich müde. »Ich habe nicht die Absicht, mich vor eurer Welt zu rechtfertigen, Ausbilder.«

»Soll das eine Aggression sein?«, fragte Fed höchst gelassen. Er erhob sich aus dem Sessel, müde und sich auf die Armlehne stützend.

»Was heißt hier Aggression?«, erwiderte ich wütend. »Wie lange wollt ihr euch an eure Ideen klammern? Freundschaft - Nicht-Freundschaft ... Niemand auf der Welt braucht eure Liebe! Ihr seid in unsere Welt gekommen, wir haben uns eure angeschaut. Ich habe sie mir angeschaut! Es gefällt mir hier nicht, aber ich habe nicht die Absicht, eure Energiewerke in die Luft zu sprengen oder eure Schützlinge umzuerziehen. Lebt euer Leben! Mir tut der Junge leid, der die ganze Nacht unter einer Holzharpune stehen muss und sich erst am Morgen traut einzuschlafen. Mir tut Katti leid, die es nicht wagt, auch nur ein Wort zur Verteidigung ihres Freundes vorzubringen! Mir tun Tag und Han leid, die ihren Freund ins Sanatorium schleifen! Aber das sind eure Kinder, eure Männer und Frauen. Also lebt euer Leben! Ich verschwinde von hier, Ausbilder. Ich entführe ein Schiff, das kann ich, daran solltest du nicht zweifeln, und verschwinde. Aber wenn ihr eure Freundschaft auch zu uns bringen wollt, dann komme ich wieder.«

»Würde sich deine Welt wirklich der Freundschaft verweigern?«, wollte Fed in sachlichem Ton wissen. »Der Liebe zu allem Lebendigen, der Ordnung und Selbstsicherheit?«

»Sie würde sich nicht verweigern«, räumte ich ein. »Deshalb werde ich es euch ja auch nicht erlauben, zur Erde vorzudringen.«

»Du triffst diese Entscheidung für die ganze Rasse?«

»Ja.«

»Hast du das Recht dazu?«

»In demselben Maß, wie Rig der Stinkende das Recht hatte, eure Welt zu vergiften.«

Ich musste mich davon überzeugen, dass er das wusste. Und ich überzeugte mich, indem ich den Hass in den Augen des Ausbilders wahrnahm.

»Du bist ein Regressor des Schattens«, behauptete Fed. »Du hast gelogen. Du wirst nicht verschwinden. Verteidigung aktivieren!«

Ich hatte mich genau im richtigen Moment vom Heimtrainer erhoben. Ich hatte nicht die Absicht, den Ausbilder zu schlagen, ich wollte einfach verschwinden. Und sei es auf dem Weg, auf dem ich gekommen war, durch die Kanalisation ...

Aber die Luft um mich herum verdickte sich und presste sich mit unsichtbaren Händen um meinen Körper. Ich erstarrte wie eine Fliege in Bernstein.

»Glaubst du wirklich, ich würde einem Nicht-Freund trauen?«, fragte Fed müde. »Ich wusste, dass du hierherkommen würdest. Selbst wenn die Berichte der Wendigen dagegen sprachen, selbst wenn alle Vernunft dagegen sprach. Denn Nik wäre gekommen ... wenn es in menschlichen Kräften gestanden hätte. Und in dir steckt zu viel von Nik.«

Ich vermochte nicht zu antworten. Der Raum um mich herum wurde zu Gummi, fest und elastisch. Ich war außerstande, mich von der Stelle zu rühren.

»Die ganze Nacht über habe ich Aufputschmittel geschluckt und zum Fenster rausgeschaut«, fuhr Fed fort.

»Die Wendigen schämen sich ihrer Niederlage und wollen mir weismachen, du seist gestorben - das habe ich mir immer wieder vorgebetet. Der Rat will die Gefahr nicht eingestehen und hält dich für einen verrückten Regressor. Aber ich habe alles begriffen, wenn auch zu spät. Du bist ein Außerirdischer im Körper von Nik. Du bist ein Nicht-Freund. Und als ich dich gesehen habe, wie du um den Turm herumgelaufen bist, da habe ich mich nicht gewundert. Als du in den Garten eingedrungen bist, da habe ich mich nicht gewundert ...«

Ich war nicht einmal imstande, ein Wort herauszubringen.

»Ich bleibe hier, im Weißen Meer. In diesem Internat am Rande der Welt. Es ist meine Schuld, dass euch Nik Rimer in die Hände gefallen ist. Aber du, Nicht-Freund, du wirst dem Rat alles erzählen, was du weißt ...«

Soll ich intervenieren?

Ja, Cualcua! Ja!

War denn für meinen Symbionten nicht einmal ein Kraftfeld ein Hindernis?

»Du wirst untersucht werden, Pjotr.« Fed spie die Worte förmlich aus. »Du ...«

Etwas geschah. Feds Gesicht erzitterte, nahm einen seltsamen, einfältigen Ausdruck an. Einen unangenehmen Anblick bot er, dieser korrekte Alte, aus dessen Mund jetzt Speichel tropfte.

»Verteidigung deaktivieren!«, sagte Fed. »Verteidigung abschalten! Verteidigung aufheben ...«

Seine Stimme klang monoton und schwach. Da bewegte nicht sein eigener Wille seine Lippen ...

Der Gummimatsch um mich herum löste sich auf. Schweigend trat ich an Fed heran. Das Gesicht des Ausbilders ergraute zusehends.

»Ich will dir keinen Schaden zufügen«, sagte ich. »Keine Sorge. Ich verschwinde.«

Schweiß trat auf die Stirn des Ausbilders. »Der Schatten ...«, flüsterten seine Lippen.

»Ich bin von der Erde gekommen«, sagte ich. »Beruhige dich ...«

»Der Schatten ...« In seinem Blick lagen nur Hass und Panik. »Ich ... ich ...«

Er taumelte nach hinten.

»Cualcua!«, schrie ich, während ich auf Fed zustürzte.

Das bin nicht ich. Das bin nicht ich. Er hat schwache Gefäße, Eine Hirnblutung.

Ich fing den Körper des Ausbilders auf. Er sah mich in hilflosem Schmerz an.

»Stirb nicht!«, schrie ich. »Du darfst nicht! Bleib am Leben, ich will dir doch nichts Böses!«

Die Augen des Ausbilders schlössen sich kurz.

Das bin nicht ich.

Nik Rimers Ausbilder starb in meinen Armen.

Ich sah in die brechenden Augen. Fed hatte die Angst umgebracht. Die Angst vor einer mir unbekannten Kraft, vor dem Schatten, der die Geometer in die Flucht geschlagen hatte. Als er starb, hatte er nicht den eigenen Tod durchlitten, sondern war an dem Bewusstsein verzweifelt, dass ein Regressor des Schattens, getarnt in Nik Rimers Körper, weiter auf Der Heimat leben würde. Insofern hatte ich ihn in gewisser Weise doch umgebracht. Genauso sicher, als wenn ich ihm ein Messer ins Herz gestoßen hätte.

»Ich will euch nichts Böses!«, schrie ich. »Ich will es nicht!«

Wie ähnlich sich die Blicke von Toten sind! Die Augen des Ausbilders Fed waren ebenso leer und ruhig wie die des perversen Kley, der von einem Wendigen Freund ermordet worden war.

»Ich wollte das nicht ...«, wiederholte ich, während ich den Körper des Ausbilders auf den Boden bettete. »Ich wollte das nicht ...«

Er hat aufgehört zu denken.

Ich trat ans Fenster. Obwohl es mir schwerfiel, den Blick von dem toten Körper zu reißen, starrte ich jetzt in die kalte Tundra hinaus. Es schneite, der vom Ausbilder Fed georderte Schnee. Meine Spuren verschwanden unter ihm. Wahrscheinlich war Das Mütterchen schon am Horizont aufgegangen. Aber hier herrschte Nacht, denn bleigraue Wolken hatten sich vor den Himmel geschoben - woher auch immer sie aufgetaucht sein mochten. Gehören sie zum Unterricht in schlechtem Wetter, Ausbilder Fed?

Irgendwann, vor langer, langer Zeit, hatte ich mit meiner Freundin in einem Cafe gesessen. Am Nachbartisch hatte eine betrunkene Frau ihrem Kavalier wieder und wieder vorgehalten: »Blumen kaufst du für deine Frau ... Blumen ... Blumen, die alles bedecken. Sogar ein Grab.«

Aber Schnee war noch besser als Blumen.

Er verdeckte wirklich alles.

Vier

»Schwöre ... schwöre, dass du ihn nicht ... essen wirst«, verlangte ich.

Was ist ein Schwur? Und was ist Nahrung? Ich brauche Proben seiner Zellen.

»Du nimmst wirklich nur Proben«, stellte ich klar.

Gut.

Ein dünner weißer Faden schlängelte sich aus meiner Hand. Er beleckte das Gesicht des Ausbilders und glitt zurück.

Das ist einfach.

»Dann fang an, Cualcua.«

Im Bad des Ausbilders nahm der Spiegel die ganze Wand ein. Ich stand neben Feds Körper und betrachtete mein Spiegelbild. Ein junger Mann, nackt, mit kalten grauen Augen.

Ich kann den Schmerz nicht vollständig fernhalten.

»Fang an.«

Es war, als schütte man heißes Wasser über mich. Meine Haut rötete sich, jedes Härchen trat klar hervor. Meinen Körper schüttelten leichte Krämpfe.

Das hielt ich aus.

Etwas riss mich nach oben. Machte mich größer. Streckte mich. Dagegen war das mit den Krallen, die der Cualcua schon einmal aus meinen Fingern hatte wachsen lassen, geradezu läppisch gewesen! Ich fiel auf die Knie, mein Körper erschlaffte und sackte auf die Leiche des Ausbilders.

Dieser Schmerz ...

Mein Gesicht wurde von innen durchgeknetet. Meine Augen quollen hervor. Die Schultern rundeten sich. Die Beine wurden krumm.

Dieser Schmerz würde nicht ewig anhalten ...

Ich grub das Gesicht in die schwachen, morschen Knie des Ausbilders Fed. Der verlorene Sohn, der zu seinem guten Vater zurückgekehrt war. Ich habe bereut, Vater. Ich bin einverstanden, bis ans Ende meiner Tage die fetten Viehherden zu hüten. Nur hab Mitleid mit mir, berühre mich mit deiner zärtlichen Hand und schlachte dein gemästetes Kalb etwas schneller. Segne mich mit deiner toten Hand, Ausbilder ...

... Mir schwindelte. Mein Körper war mir fremd geworden. Ein ausgetrockneter, täppischer alter Körper. Ich stand auf und sah mich mit den Augen des Ausbilders Fed an.

Nun war ich ein vollwertiges, wenn auch gestraucheltes Mitglied der Gesellschaft der Geometer.

Der Ausbilder Fed.

Sollte es etwa mein Schicksal sein, ständig die Hülle zu wechseln, von Körper zu Körper zu wandern? Musste ich zum Feind werden, um ihn zu verstehen? Töten - verstehen - nachahmen?

Wollte ich das wirklich?

Der Wahnsinn, mit einer alten Proton zu starten, die Süße des Jumps, die erlaubte Exotik fremder Welten und die Freude der Rückkehr - das war meine Welt. Ekelhaft, wahnsinnig, bar jeder Hoffnung, aber meine.

Wer war ich, über das Schicksal der Welten zu entscheiden? Ich hatte nie auch nur über mein eigenes Schicksal bestimmt!

Aber so hatte es sich gefügt. So lagen die Karten, die vor Jahrtausenden gemischt worden waren, von den Menschen, den Starken Rassen und den Geometern. Am Ende einer alten Geschichte, am Beginn einer neuen gibt es stets jemanden, dessen Aufgabe darin besteht, Verantwortung zu übernehmen. Zu entscheiden. Für alle.

Ohne das Recht, sich zu rechtfertigen. Ohne die Hoffnung auf Mitleid. Jedes Verhalten wird zum Fehler, wenn auf den Waagschalen das Leben und der Tod von Zivilisationen liegen. Ich musste nach Hause zurückkehren. Ich musste berichten, wer die Geometer waren. Und in der Hülle des Ausbilders Fed dürfte mir das gelingen. In ihr konnte ich die Transportkabinen benutzen, mir ein Schiff schnappen und es genau zu dem Punkt im Kosmos bringen, an dem die Flotte der Alari auf mich wartete.

Dann würde es Krieg geben. Das Konklave gegen die Geometer und ihre Freunde.

Ich könnte mich allerdings auch an den Weltrat wenden. Ihm vom Konklave erzählen, vom Planeten Erde, der unter dem Joch der Außerirdischen vegetierte.

Dann würde es Krieg geben. Das Konklave gegen die Erde und die Geometer ...

Ich will diese Entscheidung nicht treffen. Nicht, solange es noch den Schatten einer Hoffnung gibt ... den Schatten ...

Die dritte Kraft.

Jene Kraft, welche die Geometer in Panik versetzt hatte.

Ob in dieser Welt Rettung lag? Ob sie einen Weg bot, der sowohl auf die kalte Logik der Starken Rassen als auch auf die böse Güte der Geometer verzichtete?

Ich verließ das Bad. Mit einer Verzweiflung, als wollte ich wieder in einen dunklen Brunnen springen, schob ich die Hand in den Trichter des Terminals.

»Meine Aufgaben für heute!«

Wecken in siebzehn Minuten ...

Die stumpfsinnige Dienstbarkeit des Steuerungssystems brachte mich zum Lachen. Es überprüfte nicht das Bewusstsein, sondern identifizierte einen Menschen anhand von Fingerabdrücken oder der Genstruktur. Aber ins Allerheiligste, ins eigene Gehirn, lassen die Geometer keine Maschinen hinein.

Kennenlernen der Schützlinge. Unterricht. Vor vierzig Minuten wurde die Entscheidung getroffen, eine Unterrichtsstunde zum schlechten Wetter abzuhalten. Der weitere Arbeitsplan liegt noch nicht vor.

»Ihr werdet eure Lektionen lernen«, kündigte ich an. Selbst meine Stimme klang anders. Rau, zitternd, die gelangweilte Stimme des Ausbilders Fed.

Das Steuerungssystem schwieg.

»Wie kann ich eine größere Menge organischer Stoffe loswerden?«

Im Bad gibt es einen Müllschlucker.

Ich zog die Hand aus dem Terminal. Die Variante gefällt dir nicht, was, Ausbilder Fed?

Wieso eigentlich nicht? Schließlich weiß ich auch nicht, auf welcher Müllhalde mein Weg enden würde ...

Trotzdem brachte ich das nicht fertig.

Unter keinen Umständen.

»Ich kann das Gebäude verlassen?«, fragte ich, indem ich das System abermals aktivierte.

Die Notausgänge befinden sich im Erdgeschoss.

Ich schaute auf den Bildschirm, der mir nach wie vor die Halle im Parterre zeigte. Der kleine Wachtposten schlief noch.

»Noch zehn Minuten, Kleiner«, sagte ich. »Abgemacht? Vielleicht träumst du von einem neuen Planeten oder von Nicht-Freunden, bei denen man schnellstens eine Regression durchführen muss.«

Der Junge schlief weiter, was ich als Zustimmung auffasste.


Als ich ins Internat zurückkehrte, war ich bis auf die Knochen durchgefroren. Der Cualcua hatte mir keine Thermoisolierung angeboten, von mir aus hatte ich ihn nicht darum gebeten.

Schließlich hatte es nicht allzu lange gedauert, den Körper des Ausbilders Fed in einer Schneewehe zu vergraben.

Asche zu Erde.

Eis zu Schnee.

Vor der Tür - vor jener, an die ich vor ein paar Stunden erfolglos gehämmert hatte - klopfte ich meine Sachen ab und brachte die kurze, für irdische Verhältnisse zu knappe Jacke in Ordnung. Die Tür öffnete sich gehorsam. Ich betrat die Halle und fing den erschrockenen Blick des Jungen auf, der unter der vernickelten Harpune hervorkroch.

War er also doch aufgewacht.

»Einen fröhlichen Morgen, mein Junge«, begrüßte ich ihn.

»Einen fröhlichen Morgen, Ausbilder«, antwortete er mit dünner Stimme.

Den Jungen beschäftigte fraglos nur ein einziger Gedanke, nämlich ob ich gesehen hatte, dass er auf seinem Posten geschlafen hatte. Genauer gesagt, welche Schuld er wohl damit auf sich geladen hatte ...

»Als ich klein war«, brachte ich diesen dämlichen Satz heraus, der jedem Erwachsenen über die Lippen kommt, sobald er mit einem Kind spricht, »bin ich auch ein paar Mal während der Wache eingeschlafen. Bei uns im Eingang stand ... äh ... ein alter Pflug. So ein Ding, mit dem man bereits im Burgenzeitalter den Boden gepflügt hat. Neben dem bin ich auch öfters eingeschlafen. Ich glaube, es ist nicht so schlimm, gegen Morgen ein wenig zu schlummern. Meinst du nicht auch?«

»Ja«, antwortete der Junge wie verzaubert.

Verschwörerisch zwinkerte ich ihm zu und ging zur Treppe. Besser, der Junge erinnerte sich daran, dass sein Ausbilder ihm sein Vergehen verziehen hatte - als daran, dass er hinausgegangen war, um im Schneetreiben herumzuspazieren.

»Trifft mich wirklich keine Schuld, Ausbilder?«, fragte er zaghaft hinter mir.

Ich blieb stehen und sah den Jungen an. Nein, die Welt der Geometer war weiß Gott keine Parodie auf die klassenlose Gesellschaft, wie ich zunächst geglaubt hatte. Selbst wenn hier Geld im Umlaufe wäre, hätte das nichts geändert.

Es war eine Welt der Erziehung. Der Ausbildung. Der Instruktion.

Eine Welt, die den Traum eines wahnsinnigen Pädagogen verkörperte.

Eine Welt, in welcher der Lehrer, der Ausbilder, zum höchsten Maß der Gerechtigkeit geworden war.

Aus den Kindern konnten die Ausbilder machen, was ihnen gefiel. Sie konnten ihnen beibringen, Menschenfleisch zu essen oder sich im Schnee zu sonnen. Die Kinder waren formbar wie Knetmasse. Ein idealer Rohstoff, ein ideales Kanonenfutter.

Tragen wir Freundschaft durch die ganze Galaxis!

Ich könnte zu dem Kleinen gehen, ihn umarmen und ihm versichern, niemand auf der Welt sei schuldig. Weder derjenige, der auf seinem Posten schläft, noch derjenige, der durch die Nacht schleicht, nachdem er aus einem Lager mit dem Namen Frischer Wind geflohen ist. Und selbst der Mensch, dessen Körper jetzt in einer Schneewehe steif wurde, war unschuldig. Vielleicht traf nur denjenigen, der vor Jahrhunderten die Verantwortung für die Welt der Geometer auf sich genommen hatte, Schuld, vielleicht waren Rig der Stinkende oder sein Ausbilder schuldig geworden ...

Nur war das eine Sackgasse. Denn jeder Schritt, jedes Wort ändert deine Mitmenschen. Und die Wege in die Hölle sind ausschließlich mit guten Absichten gepflastert, das Prinzip des Kleineren Übels aber, eine der Waffen der Regressoren, ist mitunter so verführerisch und verlockend.

Außerdem durfte ich mir auch nicht den Hauch von Liebe und Zärtlichkeit gestatten. Denn beides war in dieser Welt zur Waffe geworden. Eine nie versagende und todbringende Waffe.

»Ich bin dir überhaupt nicht böse«, sagte ich.

So war es richtig. Der Junge lächelte und reckte sich unter der hölzernen Harpune, mit der die Vorfahren der Geometer die hiesigen Haie erlegt hatten.

Ich ging nach oben.

Das Internat erwachte allmählich. Ich hörte die leisen Geräusche hinter den Türen, die Balgereien und die verschlafenen Seufzer. Die einen wachten von allein auf, andere wurden geweckt. Normaler Kinderlärm. Wieso sollte diese gemütliche kleine Welt auch schlechter sein als die Erde? Schlechter als unsere vernachlässigten Kinder, die ewig betrunkenen Erwachsenen, die Schulen, in denen einem nichts beigebracht wird, die Berufe, die keine Freude bringen?

Nein, sie war schlechter. Wenn ich Zweifel daran zuließ, war ich verloren.

So wie es Andrej Chrumow sich erträumt hatte, war ich zu meinem eigenen Maßstab geworden. Denn der ist frei von allen Zweifeln. Der Meter oder das Kilogramm hängen weder von den Träumen der Verkäufer noch von den Wünschen der Kunden ab.

Mir gefiel die Welt der Geometer nicht!

Also musste ich weitergehen. Auf ihren Spuren, durch die Kehrseite des Raums und durch den Himmel, dem seine Sterne abhandengekommen waren. Bis die Nacht unter Millionen von kalten Funken lodern würde. Bis mir die Welt des Schattens, die die Geometer in die Flucht geschlagen hatte, eine Antwort gab.

Was jedoch dient als Maß, wenn der Verstand versagt und das Herz dich verraten hat?

»Einen fröhlichen Morgen, Fed!«

Ich lächelte der jungen Frau freundlich zu, die aus ihrem Zimmer trat. Sie war Ausbilderin, sah mich jedoch mit Respekt und unbeholfenem Mitleid an. Na klar. Schließlich war Fed gestrauchelt. Und sie hatte nicht die Absicht, Fehler dieser Art zu machen. Vor gar nicht langer Zeit erst hatte man ihr das Gehirn gewaschen, nun hielt sie die ruhmreiche Stafette in Händen.

»Einen fröhlichen Morgen ... äh ...«

»Lori. Ausbilderin Lori.«

Sie trug einen kurzen Rock. Ein winziges Stück Stoff spannte sich über ihre Brust, sie nannten das Frauenband. Das schwarze Haar war zu einem Zopf gebunden. Auf der Erde würde man sich nach ihr umdrehen, wahrscheinlich weil sie gut aussah, weniger wegen ihrer seltsamen Aufmachung. Für meinen Geschmack war sie ein wenig zu füllig, aber über Geschmack lässt sich ja bekanntlich nicht streiten.

Hatte Fed sie gestern kennengelernt, oder war er nicht mehr dazu gekommen?

»Ich wollte Sie zum Frühstück einladen«, sagte die Frau. »Sind Sie hungrig?«

»Ein wenig.«

Der Cualcua in meinem Körper vertrat bestimmt eine andere Ansicht. Vielleicht auch nicht. Schließlich war Nik Rimer weitaus massiver als der Ausbilder Fed. Und wohin war das überflüssige Fleisch eigentlich verschwunden?

»Wollen Sie zu mir kommen?«

In ihrem Verhalten lag nicht die Spur von Erotik. Und zwar nicht, weil der Ausbilder Fed bereits zu alt war. Sondern einfach weil das hier nicht üblich war. Nicht notwendig.

Es lenkte von der Freundschaft ab.

Loris Zimmer war gemütlicher als »meins«. Auch hier hingen Photos von Kindern an den Wänden, aber viel weniger, noch keine zwei Dutzend. Etliche bunte Flickenteppiche bedeckten den Boden, waren an den Wänden aufgehängt, lagen über dem Bett.

»Sehr hübsch!«, sagte ich ehrlich.

Lori blühte auf. »Wirklich, Fed? Ich habe nur geringe Fähigkeiten, aber ich gebe mir Mühe ...«

Nachdem ich mich an den Tisch gesetzt habe, beobachtete ich schweigend, wie die junge Frau das Frühstück vorbereitete. Zwei Tassen wurden aus einer Plastikkanne mit heißem Kaffee gefüllt, winzige Brotscheiben, bestreut mit fein gehackten Kräutern, aufgetragen, Fleischstücke in zwei Porzellanschalen gefüllt.

Ihr Fleisch war künstlich, so viel hatte ich immerhin herausgefunden. Entweder wurde es in Kübeln angesetzt oder synthetisiert. Um der Nahrung willen töteten die Geometer keine Lebewesen.

»Wir haben uns große Sorgen um Sie gemacht, Ausbilder Fed«, sagte Lori. »Wir alle verstehen Ihren Kummer.«

Ich nickte und machte mich über das Essen her. Ich weiß nicht, wie es um den Cualcua stand, aber inzwischen hatte ich wirklich Hunger.

»Sagen Sie ... falls Ihnen das nicht zu nahegeht ... ist Ihr Schützling Nik Rimer unheilbar?«

»Absolut«, antwortete ich, nachdem ich ein Stück Brot und das Fleisch hinuntergeschluckt hatte. »Es gibt keine Hoffnung.«

»Verzeihen Sie, Fed ...«

»Es macht nichts«, versicherte ich übertrieben munter. »Dergleichen passiert.«

Vermutlich hatte ich einen Fehler begangen, indem ich mich als Zyniker aufführte. Lori betrachtete mich mit einem Anflug von Angst. Aber jetzt riss es mich mit.

»Er war immer ein komplizierter Schützling«, fuhr ich wütend fort. »Er hat Gedichte geschrieben, ohne das geringste Talent dafür zu zeigen. Er ist aus dem Fenster geklettert, statt sich auf den neuen glücklichen Tag vorzubereiten. Er hat mit mir gestritten, geheult oder geschwiegen, statt seine Fehler zuzugeben. Ein höchst komplizierter Junge! Und als er sein Gedächtnis verloren hat und mit ihm all das, was ich ihm beigebracht hatte - war der traurige Schluss unvermeidlich!«

Und?

Du hast doch kluge Augen! Du fertigst Teppiche an, obwohl das nicht deine Berufung ist. Sag einem alten Ausbilder, dass er sich irrt!

Oder schweig wenigstens!

»Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen, Fed.« Sie berührte meine Hand. »Niemand wäre imstande gewesen, mit einer solchen Situation zurechtzukommen.«

Man dringt nicht zu ihnen durch.

»Sie übernehmen eine neue Gruppe«, fuhr Lori in zärtlichem Ton fort. »Sie ziehen neue Schützlinge heran, die Rimers Schuld begleichen.«

»Das werde ich«, versicherte ich, während ich schwer an den letzten Fleischstücken schluckte.

Ich musste fliehen. Musste weg von hier. Solange die Schneewehe unter den Fenstern noch nicht geschmolzen war, solange die Wendigen Freunde nicht gestanden hatten, dass Nik Rimer lebend entkommen war, indem er übermenschliche Fähigkeiten an den Tag gelegt hatte.

Wenn nur die geringste Chance dafür bestand, dann musste ich den Weg der Geometer rückwärts gehen. Ich musste zum Kern vordringen, ins Innere der Galaxis, dorthin, wo nicht einmal die Starken Rassen hinkamen. Ich musste den Schatten finden.

Vielleicht hatte ich Glück, und darin lag wirklich unsere Rettung?

»Möchten Sie noch Brot?«, erkundigte sich Lori.

Ihre sanfte Stimme ließ mich leicht zusammenfahren. Du müsstest Köchin sein, Lori. Oder noch besser heiraten, Kinder bekommen und sie selbst erziehen, sie mit Kuchen verwöhnen und mit Milchbrötchen.

»Nein, danke.«

Ich stand auf und schaute aus dem Fenster. Es schneite erbarmungslos. Die Schneeflocken wirbelten und trieben gegen das Fenster. Schwaches Sonnenlicht schimmerte hinter den Wolken, nützte aber nichts.

»Wer hat nur das schlechte Wetter bestellt ...«, fragte Lori nachdenklich.

»Das war ich. Also ... ich wollte das für den Unterricht. Für eine Lektion zum schlechten Wetter.«

»Eine interessante Entscheidung«, versicherte Lori. »Haben Sie sich schon Ihre Schützlinge ausgesucht?«

»Nein.«

»Nehmen Sie die dritte Gruppe der Kleinen, Ausbilder Fed.«

»Gut«, willigte ich ein. War es nicht völlig einerlei, wer mir zugeteilt würde? Schließlich hatte ich ohnehin nicht die Absicht, mich hier länger aufzuhalten.

»Es sind die schwierigsten Kinder ...«, berichtete Lori eifrig. »Da werden Sie sofort in Ihrer Arbeit aufgehen, Fed! Das ist eine hochinteressante Gruppe, aber von uns kommt niemand mit ihr zurecht. Schließlich hat niemand Ihre Erfahrung ...«

Ich lachte lautlos, ohne Lori mein Gesicht zuzukehren.

Vielen Dank für das Vertrauen. Der Ausbilder Fed würde deinen Rat vermutlich schätzen.


Natürlich würde ich diese Farce nicht lange durchhalten können. Der Cualcua konnte mein Äußeres perfekt imitieren, aber ich wäre nie in der Lage, mich wie Fed zu verhalten.

Ich musste Zeit gewinnen. Nur ein paar Stunden, bis die Ausbilder der Arbeit mit ihren Schützlingen nachgehen würden. Dann würde ich eine Kabine benutzen und verschwinden.

Die Weltraumbahnhöfe der Geometer waren praktisch unbewacht. Ich müsste also nur einen Piloten in meine Gewalt bringen, ihn ausschalten und dem Symbionten die Möglichkeit geben, eine Gewebeprobe zu nehmen. Dann würde ich mein Äußeres ändern und zum Schiff vordringen.

Über alles Weitere brauchte ich mir den Kopf jetzt noch nicht zu zerbrechen.

Ich hätte lieber in Feds Zimmer gewartet. Meiner Ansicht hätte das nicht gegen den guten Ton verstoßen, und die Verschlossenheit des frisch eingetroffenen Ausbilders dürfte allen verzeihlich erscheinen. Schließlich hatte er so viel durchgemacht mit seinem wahnsinnigen Schützling ...

Aber ich bekam Besuch. Die gastfreundliche Lori und ein junger Mann, den ich nicht kannte. In seinen Augen lag der gleiche mitleidige Respekt. Wahrscheinlich waren in diesem Internat alle Angestellten noch sehr jung.

»Sollen wir Sie zur dritten Gruppe bringen, Ausbilder Fed?«, erkundigte sich Lori. »Die Kinder warten schon auf Sie.«

Der Mann verzichtete darauf, sich vorzustellen. Offenbar kannten wir uns bereits. Darum nickte ich ihm zu und ging so jedem Gespräch aus dem Weg.

Die Gruppe, mit welcher der Ausbilder Fed nun nie arbeiten würde, wohnte im elften Stock des Turms. Gehorsam folgte ich Lori und dem Unbekannten.

»Wenn Sie wollen, Ausbilder, bleiben wir ...«

»Nein, das ist nicht nötig«, lehnte ich ab. »Ihr habt selbst genug zu tun.«

Beobachter - das hätte mir gerade noch gefehlt!

»Da wären wir«, brachte der Mann seine ersten Worte heraus. »Eine schwierige Gruppe, Ausbilder Fed. Die Kinder zeigen eine ausgeprägte Neigung, alles zu kritisieren. Man muss sie buchstäblich von jeder Kleinigkeit überzeugen.«

»Das werde ich schon schaffen«, versicherte ich. »Keine Sorge.«

Unter dem aufmerksamen Blick meiner beiden Begleiter betrat ich das Zimmer der dritten Gruppe. Die jungen Kollegen des Ausbilders Fed spürten, dass etwas nicht stimmte.

Ich sollte wirklich zusehen, hier wegzukommen.

Bei der Innengestaltung der Räume gestanden die Geometer ihren Schützlingen durchaus Phantasie zu. Vermutlich verflüchtigte sich dieses Bedürfnis mit der Zeit von selbst. Nicht, weil sie nicht nach Schönheit oder Individualität strebten, sondern weil ihr Zuhause - davon hatte ich mich bereits überzeugen können - ihnen lediglich einen Ort zum Schlafen und Schutz gegen schlechtes Wetter bedeutete. Ihre Gesellschaft gab ein faszinierendes Beispiel für eine Zivilisation von Extrovertierten ab. Für eine Welt, die auf Expansion ausgerichtet war. Und dabei absolut glücklich.

Diese Kinder hatten einfach noch kein würdiges Ziel gefunden, auf das sie ihre kleinen Kräfte richten konnten. Sie hatten kein Labor, keine Werkstatt, nur dieses eine Zimmer, das sie für ihr Zuhause hielten. Oder eher für ihre Burg ... wobei sie in ihrer Naivität nicht einmal ahnten, dass der Ausbilder jederzeit, Tag und Nacht, in ihr Zimmer hineinschauen konnte.

Die Wände waren mit einer geriffelten, grauen Folie überzogen, die recht überzeugend Steinquader imitierte. Die Decke hatte eine Folie in Holzimitat erhalten. Auf dem Fußboden lag ein seltsamer Teppich, der an dicht verflochtene Strohbündel denken ließ. Die Lampen, vermutlich elektrische, saßen in nachgedunkelten Kupferschalen, die an Ketten von der Decke herabhingen. Sie spendeten ein trübes Licht, vor dem Fenster hing eine Strickgardine von unbestimmter Farbe. Die Betten waren grob, hölzern, der Tisch, wenn auch tadellos sauber, so doch ordentlich zerkratzt und mit einem in seine Mitte hineingerammten Messer.

Die vier Jungen in der peniblen, nahtlosen Kleidung der Geometer - Shorts und Hemden in Salatgrün - nahmen sich ein wenig fehl am Platze aus. Sie mochten etwa elf oder zwölf sein, im Alterssystem der Erde gesprochen. Die vier saßen direkt auf dem Fußboden, das Gesicht der Tür zugekehrt. Anscheinend hatten sie auf mein Kommen gewartet.

»Hallo«, begrüßte ich sie. »Habt ihr es nicht geschafft, euch Kleidung aus dem Burgenzeitalter zuzulegen?«

»Guten Tag, Ausbilder«, antwortete einer der Jungen ernst. Ein rotblonder Junge, ganz wie Nik Rimers Freund Inka, der im Kern gestorben war. Ein schmächtiger kleiner Kerl. Mit einem wachsamen Blick.

Das heißt, eigentlich hatten alle vier einen wachsamen Blick. Nicht verschreckt, natürlich nicht, wieso sollten die Kinder der Geometer auch ihre Ausbilder fürchten? Sondern einfach aufmerksam, zweifelnd, abschätzend.

»Wir haben Kleidung aus dieser Zeit«, fuhr der Junge fort. »Nur wird uns geraten, sie ausschließlich in der Freizeit anzuziehen. Und jetzt haben wir Unterricht.«

Die Botschaft war angekommen: Misch dich nicht in unsere Spiele ein, verehrter Ausbilder. Lass uns unsere Freiheit.

Ich setzte mich neben die Jungen auf den Fußboden -Teufel auch, wie ungelenk dieser Körper Feds war - und fragte: »Wie heißt ihr, Kinder?«

»Wissen Sie das wirklich nicht, Ausbilder?«, wunderte sich der rotblonde Junge ehrlich. Ein anderer, ein blonder Lockenkopf mit dem Gesicht eines schlaftrunkenen kleinen Engels, ergänzte ebenso langsam wie genüsslich: »Über unsere Gruppe gibt es doch Daten ... jede Menge sogar ...«

Ich hätte gern meine Zeit mit diesen Jungen verbracht. Ich hätte versucht zu verstehen, woher in dieser Welt der Geometer so höfliche, zugleich aber auch so dickschädelige Kinder kamen, die nicht Regressor spielten, sondern Burgenzeitalter ... das letzte Zeitalter der Freiheit auf diesem Planeten. Das wäre eine interessante Aufgabe gewesen. Wenn mir zehn Jahre zur Verfügung stünden, würde ich sie sogar erziehen. So, wie es sein musste ... aus meiner Sicht. Und sie wären ebenfalls Ausbilder geworden ... hätten diese Welt verändert.

Und es hätte eine herrliche Schlacht gegen die Geometer gegeben, ausgetragen mit ihren eigenen Waffen. Dann hätten wir noch die Pest eingeführt, damit ganz gezielt die Ausbilder ausgerottet - und wären endgültig in ihre Fußstapfen getreten.

»Ich habe mir eure Dateien nicht angesehen«, sagte ich. »Das wäre nicht fair, findet ihr nicht auch? Schließlich habt ihr über mich auch keine Informationen.«

Die Jungen schwiegen. Bestimmt hatten sie schon etliche Ausbilder erlebt. Und allerlei Methoden kennengelernt, mit denen warmherzige, freundschaftliche Beziehungen hergestellt werden sollten ...

Ich seufzte. Tut mir leid, Jungs, aber mir stehen diese zehn Jahre nicht zur Verfügung, um euch zu helfen. Leider nicht. Ich habe noch nicht mal zehn Tage, um mich mit euch anzufreunden. Zum Glück nicht.

»Warum habt ihr euch gerade das Burgenzeitalter ausgesucht, Kinder?« Ich ließ meinen Blick durch das Zimmer schweifen. »Warum nicht das Knochenzeitalter oder das Meereszeitalter? Interessieren die euch denn nicht?«

»Weil das Burgenzeitalter einen Wendepunkt in der Entwicklung der Menschheit darstellt, Ausbilder«, teilte mir der rothaarige Junge mit. »Eine Wegscheide.«

»Den Punkt, an dem man sein Schicksal wählt«, ergänzte der Lockenkopf. »Unsere Welt wäre jetzt vielleicht eine andere, wenn es die damaligen Ereignisse nicht gegeben hätte. Sehen Sie das nicht auch so?«

Wie schade, dass mir nicht ein paar Jahre zur Verfügung standen ...

»Das tue ich«, gab ich zu. Ich erhob mich. Der alte Körper knirschte missmutig in den Gelenken. »Habt ihr etwas dagegen, wenn ich das Fenster aufmache, Kinder?«

Sie hatten nichts dagegen. Sie legten es aber auch nicht darauf an, mir zu helfen. Oder mich kennenzulernen. Zwei von ihnen hatten sich nicht einmal zu einem Gespräch mit mir herabgelassen ... diese unerschrockenen kleinen Rebellen.

Ich zog die Gardine zurück. Wie ich erwartet hatte, war das Glas durchsichtig. Zum Einsatz von Technik hatten sich die vier nicht herabgelassen, von ein paar elektronischen Büchern auf ihren Betten vielleicht abgesehen.

Draußen tobte ein trübes Schneegestöber. Der Wetterdienst hatte den letzten Befehl des Ausbilders Fed erfüllt. Der helle Fleck der Sonne ließ sich kaum erkennen. Ich würde diesen fremden Stern nicht länger Mütterchen nennen.

»Kann sich die Welt denn nicht auch jetzt noch ändern?«, fragte ich. »Der Punkt, an dem man sein Schicksal wählt - was ist das denn? Ein mit einem Kreis markierter Tag im Kalender? Eine absolut zufällige Pestepidemie? Eine Entscheidung des Weltrats?«

Die Jungen hinter mir schwiegen. Nach einer Weile sagte der Rotblonde, dessen Stimme ich inzwischen erkannte: »Nein, Ausbilder. Der Punkt, an dem man sein Schicksal wählt, das ist der Tag, an dem die Welt etwas verliert.«

»Aber gewinnt sie nicht auch etwas?«

»Sie gewinnt nur einen Weg. Aber sie verliert Tausende. Wie eine Kugel, die auf der Spitze eines Hügels liegt. Die Kugel kann sich da oben nicht lange halten und rollt runter. Man muss ihr nur einen kleinen Stoß geben. Und wenn sie erst mal rollt, kann man sie so schnell nicht umlenken.«

Jemand schnaubte und flüsterte etwas.

»Du immer mit deinen kindlichen Vergleichen ... au!«

Ich wartete, bis sich der Streit gelegt hatte, dann sagte ich: »Das stimmt. Nur gibt es im Leben keine Hügel und keine Hänge, die für alle gleich sind. Da steht immer einer unten und sieht, wie die Welt auf ihn zurollt, und kann nichts dagegen tun, während ein anderer alles von oben betrachtet und glaubt, die Kugel rolle den einzig richtigen Weg hinunter. Und ein Dritter wiederum ...«

Ich legte eine Pause ein - und natürlich hielt es einer der Jungen nicht aus: »... der steht genau da, wo die Kugel rollt?«

»Richtig.« Ich drehte mich um und sah ihn an. Es war ein absolut unauffälliger Junge, dunkelhäutig, dunkelhaarig, mit einer leichten Andeutung von Schlitzaugen. Auf der Erde hätte man ihn für einen Asiaten gehalten. »Ganz recht. Jemand steht genau auf dem Weg, den die Welt nehmen könnte. Und er sieht, dass die Welt eigentlich unbeweglich ist. Dass sie nur erstarrt ist und gleich abstürzt. Und dieser Mensch kann die Hand ausstrecken und der Welt einen Stoß in die nötige Richtung geben. Wenn er sich das traut, natürlich nur. Denn richtige Richtungen gibt es nicht.«

»Und wie kommt man an diesen Punkt?«, fragte der Lockenkopf da plötzlich.

»Dafür braucht man sich nicht einmal besonders anzustrengen«, antwortete ich achselzuckend. »Die Welt kommt ... von selbst zu dir. Hauptsache, du verstehst, dass du jetzt an der Reihe bist, die Hand auszustrecken und sie anzustupsen ... Also, Kinder, ihr solltet doch jetzt eigentlich Unterricht haben!«

»Ich denke, wir haben schon damit angefangen, Ausbilder Fed«, sagte der rotblonde Junge. »Ich heiß Till, Ausbilder.«

Nein, eigentlich sprach sich sein Name etwas anders aus. Aber in dem Jungen steckte wirklich etwas von einem Till Eulenspiegel. Als ich lächelte, musste ich das Gesicht des Ausbilders Fed mühevoll dazu bringen, meinen Willen auszuführen. Er hatte nicht das Lächeln, an das ich gewöhnt war. Mit Niks Körper hatte es diese Probleme nicht gegeben.

»Ich heiße Grik ...« Das war der Lockenkopf.

»Und ich Laki ...« Der »Asiate«.

»Und ich Fal ...«, brachte der Junge heraus, der bis jetzt geschwiegen hatte.

Sogar der Blick hatte sich bei ihnen allen verändert. Er war nicht mehr so wachsam. Er war jetzt ... wie bei herrenlosen Welpen, die auf der Straße einem Fremden zulaufen. Aufgrund ihrer Jugend glauben sie fest daran, nicht getreten zu werden, auch wenn sie schon ahnen, dass sie sich nicht an jeden Fremden werden schmiegen dürfen.

Sie werden euch kleinkriegen, Kinder. Mit all euren Zweifeln, eurer Neugier und der großen Bereitschaft, Kritik zu üben. Ihr könnt euch dem nicht entziehen, wenn sich ein Ausbilder wie Fed der Sache annimmt. Vielleicht geht dabei das Potenzial, über das ihr verfügt - eure Fähigkeit, aus der Reihe zu tanzen, Fragen zu stellen und Antworten zu finden - nicht einmal verschütt.

Und irgendwann werdet ihr an den gemütlichen Tischen im Weltrat sitzen und in der gemütlichen, fast heimeligen Atmosphäre entscheiden, wohin eure Welt rollt ...

Von der Tür war ein gedämpftes, dumpfes Dröhnen zu hören, fast als schlüge eine Glocke.

Die Jungen wechselten Blicke.

»Es ist jemand gekommen, Ausbilder Fed«, teilte Grik mir mit. »Da sind Fremde am Tor!«

»Sie wollen zu mir«, teilte ich ihnen ohne den Hauch eines Zweifels mit. »Öffne bitte die Tür.«

Vielen Dank, dass ihr mich habt mitspielen lassen, Kinder. Aber jetzt ist das Spiel aus.

Grik, der komisch auf allen vieren über das »Stroh« krabbelte, sprang auf und klatschte mit der Hand gegen die Tür. Garantiert ließ sich ihre Tür nicht ordentlich abschließen, und jeder Ausbilder konnte ungefragt hereinkommen. Aber noch bewahrten sich die Kinder die Illusion, sich an einem geschützten Ort zu befinden.

Vor der Tür stand Katti.

Ich wunderte mich nicht einmal darüber. In meinem Innern hätte ich es akzeptiert, hinter ihr auch Tag und Han mit einem medizinischen Paralysator in der Hand zu sehen. Oder auch eine ganze Einheit. Und zu hören: »Das Spiel ist aus, Regressor des Schattens!«

»Hallo, Kinder ... Guten Tag, Ausbilder Fed.« Sie legte dem Jungen die Hand auf die Schulter und sah mich an. Mich, den gemeinen Spion, der erst in den Körper ihres Freundes, dann in den ihres Ausbilders geschlüpft war. Sie blickte traurig und treu ergeben.

»Guten Tag, Katti«, sagte ich.

»Ausbilder, verzeihen Sie, dass ich ihren Unterricht störe. Aber ich muss dringend - sehr dringend - mit Ihnen reden. Ich ... werde warten ...«

»Ich rede jetzt sofort mit dir«, erwiderte ich. Ich sah Grik, der die Berührung ihrer Hand genoss und seinen Gefährten Grimassen schnitt, und die anderen Jungen an. »Tschüs, Kinder. Ihr habt mir sehr gefallen.«

»Kommen Sie bald wieder, Ausbilder Fed?«, fragte Till mit schwacher Stimme, als ich zur Tür ... zum Tor ihrer kleinen, umzingelten und dem Untergang geweihten Burg ging.

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich mit der Lüge, die der Wahrheit am nächsten kam.

Im Gang ergriff Katti meine Hand. Ohne uns darüber abzustimmen, gingen wir die Treppe hinunter. Irgendwo im vierten Stock brachte Katti mit schiefem Lächeln heraus: »Sie sind schon richtig in Sie verliebt, Ausbilder. Für die schwierigste Gruppe ist das erstaunlich.«

»Sie sind die normalsten von allen«, erwiderte ich.

»Und sie sind genauso begeistert vom Burgenzeitalter ... wie Nikis Gruppe ...«

Ihre Stimme zitterte.

»Was ist passiert, Mädchen?«

Katti brach plötzlich in Tränen aus und klammerte sich mit aller Kraft an mich. »Ausbilder Fed ... bitte, verzeihen Sie Niki, Ausbilder!«

Fünf

Wir gingen durch den Park, der geschützt unter einem Glashimmel angelegt worden war, und Katti sagte, noch immer schluchzend: »Ich verstehe es ja ... verstehe es, Ausbilder ... Er hat sich fürchterlich benommen. Aber er ist doch krank.«

»Nik ist aus dem Sanatorium geflohen«, teilte ich ihr mit. »Weißt du das?«

Sie nickte schweigend.

»Ich bin nicht böse auf ihn«, fuhr ich fort, angesichts der widerlichen Falschheit, die sich jetzt in meinen Worten verbarg, zusammenzuckend. Aber mir fehlte die Kraft für die Wahrheit! »Ich bin nicht böse auf Niki.«

Der Ausbilder Fed hätte übrigens genau dasselbe gesagt.

»Das liegt alles an seinem Gedächtnis«, behauptete Katti überzeugt. »Wenn wir unser Gedächtnis verlieren, bleibt nur noch das Wesen. Die Seele. Sie wissen doch, wie impulsiv er früher gewesen ist. Wie aufbrausend. Er hat stets sehr emotional reagiert. Sie haben ihm geholfen, sich selbst zu überwinden, Fed. Ein normaler Mensch zu werden. Aber jetzt ist sein Wesen wieder durchgebrochen! Wenn die Erziehung wegbricht, wenn das wegbricht, was die Gesellschaft einem beigebracht hat, dann ... Nik stand ... plötzlich mit nacktem Herzen da. Vor uns, den Klugen und alles Verstehenden ... Ich bin hierhergekommen, weil ich verstanden habe, dass ich nicht länger ... dass ich mit Ihnen reden muss. Sie müssen Niki verstehen, Ausbilder.«

»Was kann ich denn tun, Katti?«, fragte ich, mich hinter der Maske Feds versteckend. »Er hat das Sanatorium verlassen. Er hat die Wendigen Freunde angegriffen. Momentan weiß niemand etwas über sein Schicksal.«

Wir standen in der Nähe der Transportkabine. Ruhig war es hier, in diesem kleinen Park des polaren Internats. Nicht einmal im Gebüsch schien sich jemand zu verstecken, der die Libellen beobachtete oder zufälligen Besuchern auflauerte.

»Als die Entscheidung getroffen worden ist, hätte man Niks Zustand berücksichtigen müssen«, erklärte Katti mit fester Stimme. »Sie wären dazu verpflichtet gewesen. Sie hätten auf einer anderen Strafe bestehen müssen. Oder ... oder den Vorfall vertuschen müssen.«

»Du klagst mich an?«, fragte ich verwirrt. Oder war das nicht ich? Sondern der Ausbilder Fed, der sich in mir eingenistet hatte? Der Ausbilder Fed, der bereit war, die Geometer mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, die fünfte Kolonne in den schneeigen Weiten zu erziehen, zu lügen und zu lehren - um der hehren Ziele willen?

»Ja«, antwortete Katti seelenruhig. »Ich klage Sie an, Ausbilder. Und ich kann das gern vorm Weltrat wiederholen.«

Nein, diese Welt war kein hoffnungsloser Fall. Sie war nicht einmal statisch. Sie rollte den Hang hinunter, aber jetzt stand ich auf dem Weg. Ich konnte sie ebenso gut hochwerfen wie fallen lassen, für mich bedeutete das keinen Unterschied. In jedem Fall brauchte ich bloß die Hand auszustrecken und ihr einen Schubs zu geben.

Was für eine süße Versuchung - einen Moment lang an sich selbst zu glauben!

»Niki hat ein Gedicht geschrieben«, sagte Katti leise. »Vor langer Zeit hat er es mir vorgetragen. Er schien förmlich geahnt zu haben, was mit ihm passieren würde ... dieses Unglück ...«

Ich schwieg, unterbrach sie nicht. Sie war nicht hierhergekommen, um den Ausbilder Fed anzuklagen oder um für den im Schnee vermissten und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit toten Nik Rimer zu bitten. Sie brauchte jemanden, mit dem sie über Niki reden konnte.

Und Tag und Han taugten dafür nicht. Vielleicht, weil sie es fertiggebracht hatten, mir die Arme auf den Rücken zu drehen?


»Gestern Abend stopfte ein Fremder mit

Gedächtnisschwund

all meine Erinnerungen in eine große goldene Kugel«,


brachte Katti nachdenklich hervor.

Und ich, versteckt im Körper des Ausbilders Fed, erzitterte, weil ich mich an Nikis Gedicht erinnerte.

An diese seltsamen Zeilen über einen Menschen, der nur eins wollte, nämlich nach Hause kommen, und nicht wusste, dass in seinem Haus ein fremdes Gedächtnis auf ihn lauerte.


... und die Kugel rollte einen Korridor entlang

kullerte die Treppe runter

und warf

direkt vor der Wohnung der Portiersfrau

einen Herrn um

gerade als er beim Nachhausekommen seinen Namen

sagen wollte

Und die Kugel hat ihm all meine Erinnerungen in denKopfgepfropft so dass er meinen Namen sagte statt seinen und siehe da

jetzt habe ich ein Weilchen Ruhe


Nik-Nik-Niki ... du Junge einer fremden, fernen Erde, die unserer Erde so ähnlich ist ... Es war unser Schicksal, uns zu begegnen - auch wenn du zum Zeitpunkt unserer Begegnung schon tot warst. Trotzdem sitzt du in mir, und etwas von dir lebt noch in mir. Im Unterschied zum Ausbilder Fed, von dem nichts übrig bleiben wird.

Du wirst leben, solange ich lebe. Vielleicht wirst du das erste Mal im Leben ruhig sein. Wenn auch nur für ein Weilchen.

Und Katti trug das Gedicht weiter vor, leicht und mühelos, sie kannte es auswendig, und ich verkrampfte mich, weil ich wusste, was sie gleich sagen würde:

»Er hat sich alles einverleibt

ich erinnere mich an nichtsund erging weinen am Grab meines Großvaters väterlicherseits jenes gescheiten Heuschreckenzüchters der nicht viel taugte der aber vor nichts Angst hatte und der malvenfarbene Hosenträger trug. Seine Frau nannte ihn großes Faultier oder vielleicht auch großes Maultier ja ich glaube großes Maultier oder sonst wie was weiß ich woran erinner ich mich denn schon All das Nichtigkeiten Kram in Schubfächern Krümel meines Gedächtnisses Ich kenne das letzte Wort der Geschichte nicht mehr«


»Er war ein guter Dichter«, sagte ich. »Er war ein echter Dichter, Katti.«

»Ich kann es noch weiter«, sagte Katti.

Auch ich konnte das. Deshalb fuhr ich fort:


»Und das Gedächtnis

wie ist es beschaffen das Gedächtnis

wie sieht es aus

wie wird es später aussehen

das Gedächtnis«


»Ich wusste gar nicht, dass Niki Ihnen das Gedicht vorgetragen hat, Ausbilder«, brachte Katti nachdenklich und vielleicht sogar verlegen heraus. »Er hat es erst vor drei Monaten geschrieben. Wussten Sie wirklich, dass Nik weiterhin Gedichte geschrieben hat, Ausbilder?«

Ich schwieg. Für mich gab es nichts mehr zu sagen.

»Sie haben das Gedicht sehr gut vorgetragen, Ausbilder Fed.« Katti hielt den Blick, der immer verständnisloser wurde, fest auf mich gerichtet. »Fast wie Niki. Wie Niki.«

Und nun bist du aufgeflogen, Petja Chrumow.

Es gibt da ein Ding namens Seele, und das lässt sich nicht so leicht fälschen wie die Gesichtsform oder der Genotyp.

»Wasser ...«, bat ich, während ich mich auf den Boden sacken ließ. »Katti, bring mir Wasser. Mir ... mir ist schlecht. Ich brauche Wasser!«

Eine Sekunde kämpften in ihr Verwirrung sowie ein vager Verdacht gegen die Bereitschaft zu helfen. Dann stürzte Katti zum Tunnel, der ins Gebäude des Internats führte.

Ich sprang mit aller Behändigkeit, die mir der alte Körper zugestand, hoch und rannte zur Transportkabine.

Das war’s. Die Atempause war vorbei. Jetzt begann die Flucht.

Und trotzdem danke ich dir, Nik Rimer, ich danke dir für deine Gedichte!

Ich rammte die Faust in den quecksilbrigen Brei im Trichter des Terminals.

Der Augenblick, bis die Steuerungssysteme der Geometer, diese gestutzten Elektronengehirne, mit meinem Bewusstsein in Kontakt traten, zog sich lange und peinigend dahin. Ich war aufgeflogen. Hatte mich enttarnt.

Und ich hatte die Chance eingebüßt, Luft zu holen, ein, zwei Tage in dem warmen Innern des Internats abzuwarten ...

Zielort?

»Ausbilder!«

Ich drehte mich um und hakte mich an Kattis Blick fest. Sie war zurückgekommen. Wie angewurzelt stand sie am Rand des Felds, starrte Fed an, der sich gerade noch ans Herz gegriffen hatte - und sich jetzt davonschleichen wollte.

In mir steckt zu wenig vom Ausbilder Fed! Nur das Fleisch.

Seine Seele war mir fremd.

Und Katti hatte gespürt, dass etwas nicht stimmte.

Präzisieren Sie den Zielort!

Wohin sollte ich fliehen? Wo würde man nicht gleich nach mir suchen? Wo konnte ich mich verbergen, mein unbezahlbares Leben retten, meinen zweimal veränderten Körper ...

Welche Kabine?

Ich schaffte es nicht einmal, mich zu freuen. Das Steuerungssystem hatte meine Gedanken gelesen und sie für einen Befehl gehalten. Hervorragend.

»Die erste!«, schrie ich.

Treten Sie ein.

»Ausbilder!«, rief Katti, als ich durch die sich öffnende Tür verschwand. »Ausbilder?«

Sie kam auf die Kabine zugerannt, und ich sah ihr Gesicht durch das milchige Glas, spürte ihre Anspannung, fing den bereits verstehenden Blick auf.

Dann flammte unter mir das hellblaue Licht auf.

Flucht.

Das war alles, was mir noch blieb. Mich verstecken, abtauchen, davonstehlen. Ein Mensch - das ist allzu wenig, um die Welt zu verändern.

Ort des Abschieds. Verlassen Sie die Kabine.

Ich verharrte eine Sekunde, bevor ich die Kabine verließ. Durch das Glas fiel Licht herein, ungleichmäßiges, flackerndes, purpurrotes Licht.

In welche Hölle hatte mich die Kabine gebracht?

Ich trat durch die geöffnete Tür und erstarrte.

Es war dunkel. Nacht herrschte - und aus unerfindlichen Gründen meinte ich, sie währe hier ewig. Und es war heiß. Die Hitze schien zudem ebenso ewig wie die Dunkelheit. Schwere und stickige Luft, geschwängert von Aschegeruch.

Über meinen Rücken strich leichter Wind, doch auch er war heiß und klebrig.

Die Kabine befand sich am Rand einer riesigen Steinschale. Im ersten Moment hielt ich das Ganze für einen Vulkankrater, denn unten, in einer Tiefe von einem halben Kilometer, leuchtete dunkelrotes Lavalicht. Aber der schwarze Stein zeigte einen Spiegelglanz von einer Regelmäßigkeit, zu der sich die Natur nie erbarmen würde, wie sie jedoch den Geometern nur allzu gut gefiel.

Ein schmaler Vorsprung, der am Rand der Schale entlanglief, war förmlich von Transportkabinen gespickt. Alle hundert Schritt ... alle fünfzig Meter ragte ein Zylinder aus dunklem Glas auf, der im fliederfarbenen Widerschein kaum auszumachen war. Sehr, sehr selten und ungeheuer weit voneinander entfernt standen auf diesem Steinrand auch Menschen. Verschwommene Silhouetten, Schatten des roten Feuers, das tief unten loderte.

Wie verzaubert trat ich an den Rand der Schale vor. Eine Absperrung gab es nicht. Keine Lichtsignale, keine Kraftfelder, keine Kante - nichts, was den steinernen Vorsprung vom Abgrund trennte. Faszinierend. Die Geometer liebten das Leben sehr. Was konnte sie dazu veranlasst haben, dergleichen zu bauen?

Diese Schale aus schwarzem Stein mit einem am Boden schwappenden See aus dunkelroten Flammen und flirrender Luft. Eine Säule aus heißer Luft stieg in den dunklen, völlig sternfreien Himmel auf.

Dann die Stille. Eine lebendige, alle Geräusche aufsaugende Stille, nicht einfach die Abwesenheit von Geräuschen, sondern eine Stille, wie sie im Buche steht.

Ich trat mit dem Fuß heftig gegen den Stein. Kläglich und hilflos verlor sich das Geräusch in der Stille.

Ich drehte mich um. Bis auf die funkelnden Konturen der Kabine war nichts hinter mir.

Als ob diese Schale, angefüllt mit dunklem Feuer, außerhalb von Raum und Zeit stünde. Außerhalb der Welt der Geometer. In ewiger Nacht.

Wofür war er geschaffen, dieser dunkle Altar, in dieser rationalen und korrekten Welt Der Heimat?

»Abschied ...«, flüsterte die Nacht. Eine Stimme aus dem Nichts, aber mit Sicherheit eine Stimme, kein telepathisches Signal.

Ich drehte mich der Schale zu - gerade noch rechtzeitig! - und sah, wie über dem Steinkrater, über den roten Flammen, für den Bruchteil einer Sekunde ein winziges dunkles Sandkorn entstand. Zu weit weg, als dass ich die Umrisse eines menschlichen Körpers hätte erkennen können ...

»Hars Aignon, Operator des Cybersystems, Abschied ...«

Das Sandkorn fiel in die Tiefe, bis es sich in einen weißen Rauchfaden auflöste, den Feuersee berührte das Fleisch nämlich nicht - auf halbem Wege wurde es zu Rauch und stieg wieder auf, hinauf in den dunklen Himmel.

»Abschied ... Rini Sacco, weiblicher Schützling, Abschied ...«

Ein weiterer Körper segelte nach unten, verwandelte sich in Rauch und stieg hoch zum Firmament der Geometer.

»Abschied ... Dange Krin, Operator der Quarksreaktoren, Abschied ...«

Ich stand über der Schale eines Krematoriums. Über dem größten und seltsamsten Krematorium, das man sich vorstellen kann.

Vermutlich gab es hier viele solcher Friedhofsvulkane. Selbst in einer dermaßen komfortablen und gefahrlosen Welt müssen öfter Menschen sterben.

Aber mir reichte bereits diese Szene. Bis ans Ende meiner Tage. Die Dunkelheit, die lediglich durch die von Menschenhand geschaffene Gehenna am Boden des Kraters erhellt wurde, die fliederfarbenen Funken der Kabinen, die wenigen Silhouetten von Menschen und jene die Stille zerreißende, gleichmütige Stimme.

»Abschied ... Hati Lene, Kind, Abschied ...«

Um das Leben von Fremden zu verstehen, muss man sich ihren Tod anschauen.

Vielleicht ist es ja richtig, wenn sich das Fleisch in Asche verwandelt und in den Himmel aufsteigt, damit es auf die Erde rieseln kann und in Form von Gras und Bäumen neu erwächst?

Trotzdem brauchte man noch etwas anderes als diese sterilen Feueröfen und diese Balkons für die leidgeprüften Freunde.

Und sei es ein grober Zementobelisk in der Nähe eines Trichters mitten in der endlosen sibirischen Taiga. Ein provisorischer Obelisk, der aber immer noch nicht durch eine Granitstele ersetzt worden ist. Immer noch steht er dort, in jener anderen Welt, in meiner Heimat. Und man kann ihn aufsuchen, die Stirn gegen die raue, bröckelnde Kante pressen und flüstern: »Ich bin gekommen ...«

Mir war nicht einmal bewusst, dass ich mit mir selbst gesprochen hatte.

»Abschied ...«

»Fed?«

Ich drehte mich um und bemerkte erst jetzt, dass ich mich weiter und weiter über den Rand gebeugt hatte. Noch ein, zwei Sekunden - und ich wäre zu einem Teil der Welt der Geometer geworden. Auf einfachem, direktem und sicherem Weg.

Kattis Stimme war gerade rechtzeitig erklungen.

»Wer bist du?«, fragte sie.

Sie stand neben der Kabine, eine Hand auf die Glaswand in ihrem Rücken gelegt. Vermutlich hatte sie Angst.

Und sei es vor den eigenen Schlussfolgerungen.

»Katti, ich möchte allein sein«, sagte ich mit der Stimme des Ausbilders Fed.

»Wer bist du?«

Ich schwieg.

Was hätte ich sagen können? Ich bin ein Mensch von dem Planeten Erde. Ich bin Pilot der Fluggesellschaft Transaero. Ich bin derjenige, der in Niks Körper geschlüpft ist. Derjenige, der den Ausbilder Fed umgebracht hat.

»Niki?«, flüsterte sie. »Niki, bist du das? Ich weiß es doch! Niki, was ist mit dem Ausbilder? Was ist mit dir, Niki? Niki?«

Etwas in mir zerbrach unter dem Blick dieser gepeinigten Frau mit ihrer ekelhaften Igelfrisur, diesem winzigen lebendigen Rädchen in der Welt der Geometer. Einer Fremden für mich, aber einer Vertrauten für Niki Rimer.

Mein Gesicht weichte auf, zerfloss.

»Abschied ...«

Ihr versteht es nicht zu leben, Geometer. Ihr, in eurer gut eingerichteten Welt, mit den auf ein Minimum reduzierten Bedürfnissen und den gekappten Emotionen, mit eurem Bedürfnis, die ganze Welt zu beglücken, ihr seid schon lange, sehr lange tot. Und selbst wenn die Ausbilder den Leichnam noch lange galvanisieren können - es ist kein Leben mehr darin.

Wenn der Tod sich in ein Spektakel verwandelt, dann stimmt etwas nicht.

»Ich bin Pjotr Chrumow«, sagte ich und machte einen Schritt auf Katti zu. Mein Gesicht brannte, als sei es vom Feuer erfasst. Jetzt war es das Gesicht von Niki Rimer, und für einen kurzen Moment loderte in Kattis Augen Freude auf, vermischt mit Entsetzen. Dann veränderte ich mich jedoch erneut, es stülpte mein Inneres nach außen, die Muskeln schwollen an, der Körper gewann in den Schultern an Breite, die Wangenknochen wurden breiter, die Augen wechselten die Farbe.

»Abschied ...«

»Ich bin ein Fremder«, sagte ich. »Ich bin nicht Niki. Verzeih mir. Woher sollte ich wissen, dass ihn jemand liebt? Niki ist tot.«

Kopfschüttelnd wich sie zurück.

»Niki ist tot«, wiederholte ich. »Fast tot. Nur in mir lebt noch etwas von ihm ... entschuldige ...«

Letzten Endes war es, als schlüpfte ich in alte, eingetragene und vertraute Kleidung. Mein Körper, der Körper von Pjotr Chrumow, kehrte problemlos zu mir zurück, ohne jene entsetzlichen Schmerzen, die es mich gekostet hatte, Nikis oder Feds Äußeres anzunehmen. Vermutlich war ich irgendwo in mir drin ich selbst geblieben. Bis zum Schluss.

Kattis Augen weiteten sich. Sie sah mich an, diesen Fremden, der sich unablässig veränderte und ihr innerhalb von einer Minute zwei vertraute Körper gezeigt hatte. Die Kleidung des Ausbilders Fed platzte an den Schultern. Ich musste wie ein Monster wirken.

Oder war ich schon lange eins?

Der Cualcua, der mein Fleisch gehorsam moduliert hatte, schwieg. Vielleicht hatte er sich vollständig untergeordnet. Oder waren wir bereits so weit verschmolzen, dass wir nicht mehr miteinander reden mussten?

»Der Schatten ...«, hauchte Katti.

Wahrscheinlich kannten sie keine größere Angst und keinen schlimmeren Fluch.

In Kattis Stimme lag verächtlicher Ekel und Entsetzen.

»Ich verschwinde von hier. Du solltest mir nicht folgen.«

Worauf hoffte ich da eigentlich? Auf den ihrem Unterbewusstsein eingebläuten Gehorsam? Darauf, dass ich eben noch in der Hülle des Ausbilders Fed gesteckt hatte?

Auf jenen kurzen Augenblick, als ich Katti wie Niki Rimer vorgekommen war?

Sie schlug mich. Versuchte es, besser gesagt ... Ich fing ihre Bewegung mit jener Leichtigkeit ab, die mir der Cualcua geschenkt hatte. Ich griff nach ihrem Arm, bog ihn nach oben und schuf mir Platz, um zum Schlag auszuholen. Es wäre so einfach, jetzt zurückzuschlagen - und ihr für lange Zeit jede Kraft zu nehmen, mir nachzusetzen.

Stattdessen berührte ich ihre Wange mit dem Handteller. Mit einer leichten und vorsichtigen Zärtlichkeit, schließlich liebte sie jemand anderen. Und die Tatsache, dass dieser andere tot war, seine Asche jedoch nie in den Himmel Der Heimat aufsteigen würde, hatte keine Bedeutung.

Katti erstarrte.

»Ich wollte das nicht«, sagte ich. »Verzeih.«

Sie machte keinen weiteren Versuch, mich aufzuhalten. Ich berührte das Terminal, ohne Katti aus den Augen zu lassen.

Zielort?

Der nächstgelegene Weltraumbahnhof der Fernaufklärung.

Zielort?

Ich musste einen Fehler gemacht haben. Ob ein Kosmodrom keine eigenen Kabinen hatte?

Zur Kabine, die dem Hauptweltraumbahnhof der Fernaufklärung am nächsten liegt ...

Die Pause dauerte auch diesmal viel zu lange. Aber immerhin öffnete sich die Tür.

Ich trat ein und sah Katti an. Wie gebannt beobachtete sie mich. Verzeih mir, Katti ...

»Niki!«, schrie sie laut und wütend. Die Türen schlossen sich, kappten den Schrei, auch wenn Katti weiter schrie und mit den Fäusten auf das dunkle Glas einhämmerte.

Sie würde mir nicht verzeihen.

Wahrscheinlich speichern die Transportkabinen den letzten Bestimmungsort. Wie hätte Katti mir sonst folgen können? Aber diesmal würde sie mir nicht nachjagen. Ihr irrsinniger Verdacht hatte sich bewahrheitet, und es war an der Zeit, Alarm zu schlagen. Hilfe zu rufen.

Warum hatte ich sie nicht ausgeschaltet? Es wäre so leicht gewesen - die Frau in Schlaf zu versenken, sie zu paralysieren, zu betäuben ...

Unter mir flammte es blau auf, und ich dachte kurz darüber nach, dass ich in dem beim Hypersprung entstehenden gespenstischen Licht wie ein Monster aussehen musste. Zerfetzte Kleidung, die mir vom Körper fiel, die Haut von roten Flecken übersät ...

Dann brach durch das dunkle Glas die Sonne.

Ich blieb lange stehen, konnte mich nicht durchringen, durch die offene Tür zu treten. So starr steht ein verwilderter, dreckiger Landstreicher an der Schwelle eines fremden Heims, von der Sauberkeit und Freiheit zurückgehalten. Einer Sauberkeit, die ihm nicht zusteht.

Und dennoch musste ich hinaustreten. Ich verließ die Kabine und stieg die steinernen Stufen eines nicht sehr hohen Postaments hinunter, auf dem sich der Glaszylinder befand. Ein brüchiges Denkmal an einem verlassenen Ufer.

Das letzte Denkmal der Freiheit ...

Das Meer brandete. Ewig und immer gleich, sowohl in der Welt der Geometer als auch auf der Erde. Immer und überall war das Meer frei. Man konnte Gift hineinleiten, man konnte Grenzen in ihm abstecken. Am Ufer konnte man Kosmodrome errichten, von denen Schiffe in den Himmel starteten, um Freundschaft zu bringen.

Das Meer aber lebte.

Das Meer trug nichts nach.

Gleich dem Himmel glaubte es an die Freiheit, gleich dem Himmel duldete es keine Einschränkung. Ich stand im feuchten Sand, die Wellen umspülten meine Füße, und nichts war leichter, als zu glauben, der fremde Stern am Himmel sei meine Sonne, das salzige Wasser die alte Wiege der Menschheit.

Wenn nicht die Uferlinie allzu gleichmäßig gewesen wäre, gerade wie der Horizont - und ebenso unecht. Sollte ich an diesem Ufer entlangwandern, würde sich nie etwas ändern: rechter Hand zögen sich die niedrigen, gleichsam zurechtgestutzten Haine hin, linker Hand würden die Wellen branden. Nur der Sand unter meinen Füßen würde die Farbe wechseln, von Gelb zu Weiß, von Weiß zu Rosa, von Rosa zu Schwarz und zurück. Denn für das Auge unmerklich, beschrieb der Strand einen Bogen nach rechts, Schnee würde ihn bedecken, dann wieder der Sand sich dahinziehen, und irgendwann, nach sehr langer Zeit, würde ich an diesen Punkt zurückgelangen, an dem die Wellen noch immer das Ufer liebkosen würden ...

Ein Mensch ist schon mehr als genug, um die Welt zu ändern.

Ich machte einen Schritt, und das Wasser schoss zischend in meine Fußstapfen.

Die Welt war schon zu klein, um sie in Ruhe zu lassen.

Ob ich es wollte oder nicht, aber Niks Seele würde immer in mir leben. Ein Teil dieser Welt. Nik würde leben. Oder ich würde leben - für ihn.

Allein das Meer und der Himmel kennen die Ruhe. Ich hob die rechte Hand, betrachtete sie - und meine Finger verlängerten sich. Mein Blick formte sie, verwandelte das Menschenfleisch in scharfe, gekrümmte Krallen.

Allerdings: Hatte ich eigentlich noch das Recht, mich als Menschen zu bezeichnen?

Irgendwo weit, weit weg raunte Nik Rimer, der nicht mehr unter den Lebenden weilte:


Und das Gedächtnis

wie ist es beschaffen

das Gedächtnis

wie sieht es aus

wie wird es später aussehen

das Gedächtnis


Woher kenne ich die Antwort, Nik?


Ein Mensch ist schon mehr als genug

um die Welt zu ändern.


Doch ich bin nicht nur ein Mensch.

Nie wieder werde ich nur ein Mensch sein.

Und folglich werde ich etwas zustande bringen.


Lesen Sie weiter in:

Sergej Lukianenko STERNENSCHATTEN

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