Erster Teil Der Zähler

Eins

»Nimmst du einen Brief für mich mit?«, fragte Elsa. »Wir sitzen hier bestimmt noch zwei Wochen fest, da macht sich mein Mann sonst Sorgen.«

»Ich an seiner Stelle würde diese Beschäftigung auch nach dem Brief fortsetzen«, frotzelte ich.

Elsa lächelte nur und hielt mir über den Tisch den Umschlag hin. Ihre Kollegen saßen fünf Meter weiter, tranken dunkles Bier und beobachteten uns grinsend. Kein Wunder! Neben Elsa wirkte ich ziemlich farblos. Eine schöne Deutsche, das ist ja ohnehin eine Seltenheit, jedenfalls meiner Meinung nach. Und Elsa Schröder war nicht nur schön, sie trug auch noch ihre prachtvolle Uniform der Lufthansa, in der sie wie eine moderne Walküre aussah. All diese funkelnden Kinkerlitzchen an ihrer Jacke, die lange Reihe silberner Sterne über der linken Brusttasche, das Schiffchen, das ihr wundersamerweise nicht vom Blondhaar rutschte, die beeindruckende Pistole in dem versiegelten Holster ...

»Er wird damit auch weitermachen«, erwiderte Elsa in ernstem Ton. Um ihren Humor war es wesentlich trauriger bestellt als um ihr Russisch. »Was ist nun, nimmst du den Brief mit?«

»Klar.« Ich nahm ihr den Umschlag ab und wollte ihn mir in die Innentasche stecken, doch das Ding zeigte sich widerspenstig. Seufzend beugte sich Elsa über den Tisch zu mir vor, öffnete meine Jacke und verstaute den Brief in der Tasche, in der bereits die Flugroute und die Kerosinbons Platz gefunden hatten.

Wieso kannte sie die Uniform der Transaero eigentlich besser als ich selbst?

»Danke, Peter«, sagte Elsa mit tiefer, weicher Stimme. Anscheinend brachte sie ihre Zuneigung zum Ausdruck, indem sie meinen Namen deutsch entstellte. »Bist ein guter Junge.«

Vor Ärger verschluckte ich mich sogar.

»Sag mal, könntest du vielleicht einen Abstecher in Frankfurt machen und den Brief selbst abgeben?«, fuhr Elsa fort. »Warst du schon mal in Frankfurt? Mein Mann würde sich freuen, dich kennenzulernen.«

Damit wären wir mitten im üblichen Spielchen: Reich jemandem den kleinen Finger ...

»Wir haben einen engen Terminplan, ich bin insgesamt nur drei Tage auf der Erde«, brummte ich.

»Dann eben beim nächsten Mal«, gab Elsa ohne weiteres auf. »Tschüs, Peter ...«

Sie stand auf.

»Wohin fliegt ihr eigentlich?«; erkundigte ich mich noch im letzten Moment.

»Nach Jamaija.« Elsa seufzte. »Wir haben eine Lieferung aufgebrummt gekriegt.«

»Vögel?«

»Wellensittiche und Spatzen.« Die Co-Pilotin der Lufthansa verzog das Gesicht. Ich verstand sie bestens. Tausend lärmende, scheißende und durch die Enge und die ungewohnten Umstände durchgeknallte Vögel irgendwo hinzubefördern war kein Zuckerschlecken.

Elsa kehrte zu ihren Kollegen zurück, ließ mich allein mit meinem unausgetrunkenen Bier. Noch gestern hätte ich mich mit einem einzigen Bierchen nicht zufriedengegeben. Aber heute musste ich fliegen, so dass genau genommen schon dieses eine verboten war.

Verstohlen schaute ich mich in der Bar um. Sie war gut besucht, die Leute saßen dicht in Gruppen zusammen. Den größten und lautesten Pulk bildeten die Amerikaner von Delta und United Airlines, nicht ganz so zahlreich waren die Japaner von JAL und die Engländer von British Airways vertreten. Selbst Australier von Qantas und Spanier von Iberia entdeckte ich. Nur von unseren Leuten ließ sich niemand blicken. In puncto Freizeitgestaltung brauchten wir noch Nachhilfe, ganz gewaltig sogar. Seufzend erhob ich mich. Ich ging zum Tresen und langte nach dem Telefon. Der Barkeeper, ein kräftiger Kerl, reichte es mir mit einem freundlichen Lächeln.

»Ah!«, rief er aus. »Young russian pilot!«

Er erinnerte sich noch von meinem gestrigen Besuch her an mich. Barkeeper lieben Russen. Sie verdienen gut an uns - selbst dann, wenn wir allein kommen.

»Ja, ja, der Pilot ...«, bestätigte ich zerstreut. Ich nahm das Telefon und wählte die Nummer des Kontrollzentrums.

Es dauerte, bis jemand ranging. »Flug 36-18, Transaero. Gibt es ein Startfenster für mich?«

Ehrlich gestanden hoffte ich darauf, dass es mit dem Flug heute nicht klappen würde. Dann könnte ich weiter hier rumsitzen, ein gepflegtes Bierchen trinken und mich in dem gemütlichen Hotelzimmer ausschlafen. Wir kamen nur selten auf diesen Planeten, das Zimmer war in letzter Minute reserviert worden - weshalb ich angenehmerweise eine Luxussuite erhalten hatte.

»Flug 36-18 ...« Am anderen Ende der Leitung hämmerte die Frau auf ihren Computer ein. »Ja, wir haben noch ein Fenster. Um 17.06 Uhr. Bestätigen Sie den Start?«

Ich schaute auf die Uhr. Noch nicht mal drei.

»Ja.«

»Zur Gesundheitskontrolle begeben Sie sich in Zimmer 12, anschließend gehen Sie ins Kontrollzentrum«, informierte mich die Frau freundlich.

Ich legte auf und starrte den Mann hinterm Tresen finster an.

»Away?«, fragte er fröhlich.

Genau, away ...

Ich nickte ihm noch zu, bevor ich zur Tür ging. Da mir eine ganze Traube von Menschen entgegenkam, Chinesen oder Filipinos vielleicht, musste ich mich gegen die Wand pressen. Ich nutzte den kurzen Stau, um den Deutschen zuzuwinken, doch sie bemerkten es nicht.

Es würde heute hoch hergehen im Alten Donald Duck ...


Nach dem Halbdunkel der Bar mit ihren getönten Scheiben und den vorgezogenen Gardinen blendete mich das Licht jetzt natürlich. Ich kniff die Augen zusammen, holte die Sonnenbrille raus und setzte sie auf. Erst dann sah ich mich um.

Sirius-A und Sirius-B brannten den Himmel aus, dass er weiß strahlte. Über mir nichts als Licht. Keine einzige Wolke. Logisch ...

Der Erdsektor nahm den Rand des Kosmodroms ein. Einen beachtlichen Teil davon, aber eben doch nur den Rand. Drei Kilometer von der Siedlung entfernt verliefen die Landestreifen, zwei zartfliederfarbene Bahnen, die weder aus Beton noch aus Stein oder Kunststoff bestanden. Man hatte bereits mehrfach versucht, dieses fliederfarbene Material zu analysieren, war bisher allerdings jedes Mal gescheitert. Vor einem Jahr hatte sich eine englische Fähre bei der Landung überschlagen, als sie mit einem Titankratzer eine Probe vom Landestreifen nehmen wollte. Weiter hinten landete gerade ein Shuttle, der Farbe nach ein amerikanisches. In diesem Sektor kontrollierten sie und die Franzosen praktisch allein den Handel. Transaero und Aeroflot mussten sich mit weniger gastfreundlichen Gegenden abfinden.

Zwischen der Siedlung und dem Landeplatz standen Fähren, die auf den Start warteten. Ich hielt nach meinem Vogel Ausschau. Er wurde gerade zur Startrampe gebracht. Eine zwanzig Meter lange Röhre, über und über mit Antennen bestückt, und eine Kugel an der Basis, mehr war für den Start nicht vorgesehen. Aber wie heißt es bei unserer Linie: »Auf der Erde musst du starten, bei den Fremden musst du landen ...«

Es warteten etwa fünfzig Fähren. Hyxi-43, der achte Planet von Sirius-A, war ein stark frequentierter Ort.

Und der einzige in diesem System, auf dem Menschen lebten.

Ich begab mich zum Hotel, den Kopf in die Schultern gezogen, damit mir die Sonne nicht in den Nacken knallte. Kaum jemand versteht, warum wir Piloten bei unserem Gehalt ungern weiter südlich als im Baltikum Urlaub machen.

Diese Leute sollten mal auf Sirius brutzeln - danach konnte ihnen Hawaii gestohlen bleiben.

Das Hotel unterstand theoretisch der UNO, genau wie der Zentralposten des Erdsektors im Raumhafen. Tatsächlich verwaltete es jedoch das Hilton. Ich zeigte den Marinesoldaten am Eingang im Vorbeigehen meine Papiere, eine unsinnige Regel, eingeführt bei Errichtung des Sektors und bis heute gültig. Doch wem lauerten diese muskulösen Kerle mit der M-16 auf dem Rücken eigentlich auf? Menschen war der Zutritt zum Hotel ohne jede Einschränkung erlaubt, Aliens erkannte man auch, ohne dass sie mit ihren Papieren wedelten.

Einer der Marine Soldaten reagierte überhaupt nicht auf mich, der andere lächelte freundlich. Wir hatten uns gestern Abend in der Bar unterhalten. Die Marines schützte ein verspiegeltes Plastikdach gegen das Licht, hinter jedem der beiden lief außerdem ein Ventilator. Sie litten weniger unter der Hitze als vielmehr unter Langeweile. Was hatten sie schon groß an Abwechslung? Sie konnten die Starts und Landungen beobachten, ein paar Bekannte angrinsen und mit den wenigen Frauen flirten ...


Im Hotelzimmer nahm ich eine kalte Dusche, ohne dabei auf das rationierte Wasser zu achten. Heute Abend würde ich ohnehin keins mehr brauchen. Das Abtrocknen schenkte ich mir, die leicht surrende Klimaanlage hatte die Hitze sowieso nicht vertreiben können. Ich baute mich vorm Spiegel auf und musterte mein Gesicht.

Klar, als cooler Pilot ging ich nur auf der Erde durch -wenn ich durch die Straßen eines Provinznests spazierte. Denn schon in Moskau schenkte man uns Kosmonauten kaum noch Aufmerksamkeit. Bist ein guter Junge ... Als mir Elsas Worte wieder einfielen, stürmte ich wütend rüber ins Wohnzimmer. Wenn wenigstens mein Bart dichter wäre! Aber nein, ich war ein gutmütiger, fünfundzwanzigjähriger Milchbubi mit strohblondem Wuschelkopf und vollen Wangen! Jeder Pilot las mir meine Biographie auf den ersten Blick ab: Luftwaffe, selbständige Flüge, die sich an einer Hand abzählen ließen, Astrokurse im Schnelldurchgang und ein altes Shuttle, für das ein erfahrener Mann zu schade war.

Geschenkt.

Im Großen und Ganzen fielen die Unterschiede zwischen uns Piloten kaum ins Gewicht.

Ich zog mich an und packte meine paar Habseligkeiten in einen Aktenkoffer. Nachdem ich das Zimmer verlassen und die Tür hinter mir zugezogen hatte, händigte ich dem Zimmermädchen der Etage die Schlüssel aus und wartete, bis sie meinen Auszug im Computer eingegeben hatte.

Die Frau war überarbeitet und müde. Alle Weltraumbahnhöfe litten unter Personalmangel. Jeder Arbeitsplatz kostete Unsummen! Steuern für die veratmete Luft, Steuern für die Schuldentilgung des Grundstücks, Steuern für Veränderung der Planetenmasse ... Den Außerirdischen mangelte es in dieser Beziehung nicht an Phantasie. Und das waren ja noch nicht mal die direkten Ausgaben. Von mir aus hätten sie ruhig ein paar von diesen absolut überflüssigen Marinesoldaten entlassen können, statt den Leuten aus dem Kontrollzentrum und dem Dienstpersonal immer noch mehr aufzubürden.

»Wünsche guten Flug«, sagte die Frau mit polnischem Akzent. »Kommen Sie wieder?«

»Glaub schon.«

»Wünsch gute Erholung, Panie.« Die Frau seufzte. »Ach ja ... mein Urlaub ... oi-oi ... muss noch ein halbes Jahr warten.«

Ich schüttelte mitfühlend den Kopf.

»Sie kennen Boris Kossuch? Von Aeroflot?«

»Nein«, antwortete ich. Mit unseren Hauptkonkurrenten hatten wir nicht häufig zu tun. Und zwar nicht, weil unsere Linie eine solche Politik ausgab, sondern einfach, weil unsere Flüge sich selten überschnitten.

»Ein lustiger Mann«, erklärte die Frau. Sie seufzte erneut. »Ich habe gedacht, alle russischen Piloten sind lustig ...«

Mit einem dummen Lächeln ging ich weiter zum Fahrstuhl. Was hatte sie wohl damit sagen wollen? Man konnte ja glauben, ich sei ein alter Trauerkloß!

Da mir noch Zeit blieb, schaute ich auf einen Sprung in der Bar im Erdgeschoss vorbei, um einen starken »intergalaktischen Kaffee« zu trinken, mit Zimt und Ingwer. Nichts vertreibt die Bierfahne besser. In diese Bar kamen niemals Piloten. Irgendwie hatte es sich so ergeben, dass wir das Donald mit Beschlag belegt hatten, die Hotelbar jedoch fest in der Hand der Soldaten vom Bodenpersonal war. Anständigen Kaffee machten sie aber.

Jetzt noch der Arzt.

Die Verwaltungsgebäude lagen ganz in der Nähe. Überhaupt war in den Raumhäfen auf anderen Planeten immer alles konzentriert beieinander. Trotzdem geriet ich ins Schwitzen, während ich über den Betonweg zu den piekfeinen zweistöckigen Häusern stapfte. Ich schlüpfte gleich ins erste, waren die Bauten untereinander doch mit Gängen aus Spiegelglas verbunden, so dass ich mich nicht mehr als nötig zu quälen brauchte. Der Wachtposten nickte mir mitfühlend zu. »Heiß draußen?«

»Und wie«, antwortete ich.

Damit endete unser karges Gespräch wie von selbst. Ich ging durch die Korridore zum Krankenhaus.

Die Tür zu Zimmer 12 stand offen, Stimmen klangen zu mir herüber, auch ein Lachen. Sofort wurde mir leichter zumute: Die Leute unterhielten sich auf Russisch. Ich klopfte gegen den Türpfosten und steckte den Kopf ins Zimmer.

»Ah!« Der Arzt, ein nicht sehr großer, kräftiger Mann in grünem Chirurgenkittel, erhob sich hinter seinem Tisch. »Von der Transaero?«

»Genau.«

»Worauf wartest du noch? Immer rein!« Er klopfte mir zur Begrüßung auf den Rücken. »Kostja!«, stellte er sich vor. »Einfach Kostja.«

Er war um die dreißig, vielleicht etwas älter. Seine Vitalität und die rötlichen Wangen ließen keinen genaueren Schluss zu.

»Petja«, brummte ich.

Die beiden Krankenschwestern, die höchst sittsam auf einer Bank vorm Fenster saßen, brachen in Gelächter aus.

»Einen Monat lang habe ich jetzt keinen Russen zu Gesicht bekommen!«, gestand der Arzt. »Wann fliegst du?«

»In zwei Stunden.«

»Hast du Beschwerden?« Der Arzt versuchte hartnäckig, eine offizielle Miene aufzusetzen. »Ach, was rede ich denn ... Setz dich!«

»Es ist alles in Ordnung.« Als ich nach meiner Flugkarte kramte, hätte ich beinahe Elsas Brief mit herausgerissen. Die Karte hielt ich dem Arzt hin.

»Woher bist du?«

»Aus Moskau.«

»Hmm ... weit weg. Ich bin aus Abakan. Also, raus mit der Sprache, wie viel hast du heute getrunken?«

Anscheinend musste ich Farbe bekennen. »Ein halbes Bier.«

Der Arzt drohte mir mit dem Finger und langte nach dem Alkoholdetektor auf dem Tisch.

»Wenn du mehr als zwei Gläser getrunken hättest, würde ich dich heute nirgendwo hinlassen! Atme aus!«

Gehorsam pustete ich in das Röhrchen.

»Noch mal«, verlangte der Arzt mit einem Blick auf die Skala.

Ich atmete tief aus, wie ein Sprinter nach dem Rennen.

»Sag mal, war dein Bier ein Kefir?«, wollte der Arzt wissen. »Tüchtig! Normalerweise unternehmen unsere Jungs doch alles, um das allgemeine Vorurteil zu bestätigen: Russen besaufen sich vor jedem Start!«

»Gestern ... da habe ich auch etwas übertrieben«, gab ich zu.

»Wie viel?«

»Drei Gläser.«

Die Krankenschwestern und der Arzt sagten kein Wort. Nach einer Weile steckte der Arzt sein Instrument in die Tasche. »Ein interessanter Fall«, bemerkte er nachdenklich. »Wo sind deine Papiere?«

Er drückte einen Stempel auf die Karte, unterschrieb und fuhr mit dem Codierungsring über den Streifen des Magnetindikators. »Bist du schon lange dabei?«, erkundigte er sich.

»Seit zwei Jahren.«

Die eine der beiden Krankenschwestern kicherte ungläubig, die andere schenkte mir ein Lächeln. Was für eine angenehme Frau ...

»Schau ruhig öfter mal bei uns rein«, forderte der Arzt mich auf. »Ich schreibe gerade meine Dissertation, zum Thema ›Der Einfluss extremer extraterrestrischer Bedingungen auf die Verhaltensimperative‹. Dafür brauche ich markante Beispielfälle.«

»Kommt drauf an, was meine Linie entscheidet. Allerdings mag ich diesen Planeten nicht besonders«, gab ich zu. »Es ist zu heiß. Und die Bevölkerung ist ziemlich ... verschlossen.«

»Dass die nicht zu Scherzen aufgelegt sind, ist doch kein Wunder! In einer Woche beginnt für sie die Jahreszeit der kollektiven Euthanasie«, brummte der Arzt. »Die Larven sind inzwischen herangereift, jetzt muss freier Raum her. Gut, lassen wir das ... Petja. Guten Flug.«

»Danke.« Ich zog mich rasch Richtung Tür zurück.

»Hast du wenigstens ein paar Souvenirs gekauft?«, fragte der Arzt.

»Klar«, antwortete ich, indem ich gegen die Tasche meiner Jacke klopfte. Die beiden Krankenschwestern kicherten verlegen.

»Komm wirklich mal wieder vorbei, Petja«, wiederholte der Arzt nach einer kurzen Schweigepause.

»Mach ich, Kostja.« Damit verließ ich den Raum.

Das war’s. Das größte Problem war gelöst, die Erlaubnis hatte ich.

Ich ging rüber zum Gebäude des Kontrollzentrums. Dort wimmelte es von Marinesoldaten, weshalb ich meine Papiere herausholen und sie in der Hand behalten musste. Ich suchte ewig nach einem freien Schalter. Schließlich fand ich einen mürrischen Typ, der meine Daten in den Computer eingab und die letzten Punkte der Erlaubnis abzeichnete. Mein Schiff wurde inzwischen durchgesehen und aufgetankt. Ich händigte dem Typen hinterm Schalter Gutscheine über zweieinhalb Tonnen Kerosin aus und bestätigte, keinerlei Mängel zu beanstanden.

Damit dürfte nun wirklich alles geregelt sein.

Bis zum Start blieben mir noch anderthalb Stunden. Ich hätte zwar um einen Elektrocar bitten können, zog es aber vor, zu Fuß zum Schiff zu gehen. Wer weiß, wann es mich das nächste Mal nach Hyxi verschlug.

Diesmal hatte mich eine einfache und problemlose Fracht hierhergebracht. Bilder. Kleine Dinger, wie sie jeder kennt, fünfzehn mal zehn Zentimeter, in einem Holzrahmen und unter Glas. Jedes zeigte einen Ausschnitt vom Meer mit Bäumen am Ufer, dem Mond am Himmel und einem silbrigen Streifen auf dem Wasser. Die Maler gaben sich alle Mühe, die größtmögliche Abwechslung in sie hineinzubringen, weshalb manchmal ein paar Segel aufblitzten, Vögel am Himmel flogen oder sich Wolken vor den Mond schoben. Dergleichen könnten sie sich getrost sparen, denn der Blick der Hyxoiden ist unserem weit überlegen. Ihnen genügt jene Individualität, die das Bild durch ein aus dem Pinsel herausragendes Haar oder einen Fingerabdruck in der Tempera erhält, vollauf.

Auf dem Rückweg sollte ich sogar eine noch ödere Fracht aufnehmen, nämlich Kortrisonplatten. Anscheinend galten sie bei den Hyxoiden ebenfalls als Ziergegenstand. Auf der Erde stellte man aus ebendiesen Platten jedoch die besten Schusswesten oder Schutzhüllen für neue Schiffstypen her. Die Hyxoiden protestierten nicht gegen diese Verwendung, obwohl sie sich durchaus auf das Gesetz zur Unsachgemäßen Anwendung hätten berufen können. Vermutlich unterstellten sie den Menschen das Bedürfnis, ihre Schiffe so schön wie möglich zu gestalten.

Mein Vogel war einer der ältesten, noch mit einer Keramikverschalung. Es war eine bereits vor fünfzig Jahren entwickelte Spiral, zwanzig Tonnen schwer und mit recht kleinem Frachtraum. Selbst wenn das Schiff inzwischen modernisiert worden war, hatte es sich äußerlich kaum verändert. Den »Latschen« - da konnte man einfach nichts machen, bei der Form würde die Spiral im Volksmund immer so heißen - schickte man inzwischen mit einer alten, wenn auch ebenfalls überholten Proton ins All. Keine sehr angenehme Vorstellung. Aber wie heißt es doch? »Bei den Fremden startet man gern, auf der Erde landet man lieber.«

Am Durchlass zum Flugfeld zeigte ich meine Papiere ein letztes Mal vor, danach steckte ich sie in die Tasche. Geschafft. Höchste Zeit, dass ich wieder nach Hause kam ...

Ich ging um die anderen Schiffe herum zur Startrampe. Die Spiral war bereits in Position gebracht worden, das Personal wuselte aber immer noch um meinen Vogel herum. Ich legte einen Zahn zu. Ein paar Außerirdische unter die Lupe zu nehmen, das fand ich immer interessant.

Es handelte sich um eine gemischte Mannschaft. Zwei gigantische, an die drei Meter große Hyxoide. So eine Art graue Gottesanbeterinnen. Angeblich sind sie trotz ihres robusten Äußeren extrem zerbrechlich. Ich selbst hatte einmal beobachtet, wie ein Hyxoid ausgerutscht und gefallen war und sich eine seiner Stützpfoten gebrochen hatte. Insofern wunderte ich mich nicht, dass sie den gebotenen Abstand zum Schiff hielten. Dieses hatten drei seltsame Wesen bewegt, Gestalten, die wie Schildkröten aussahen, allerdings ohne Panzer, sondern mit faltiger Haut. Ab und an schlängelte sich aus diesen Falten ein langer, dünner Fühler heraus und schob das Schiff sanft ein, zwei Meter weiter.

Einer der Hyxoiden kam mir entgegen. Sein Maul - das Wort »Mund« wollte mir einfach nicht über die Lippen! -öffnete sich weit. »Pilot?«, krächzte der Hyxoid.

Ich nickte und kämpfte gegen den Wunsch an, ihm meine Papiere zu zeigen. Typisch Russe - denn die Hyxoiden interessierten sich überhaupt nicht für Papiere.

Der Hyxoid wich etwas zurück. Ich wartete, bis die »Schildkröten« von der Spiral weggekrochen waren, bevor ich auf die Luke zutrat. Zum Glück hatten die »Schildkröten« auch eine Einstiegsleiter herangeschafft. Ich hantierte an dem eingelassenen Griff und öffnete die Luke. Aus den Augenwinkeln schielte ich zu den mich beobachtenden Hyxoiden hinüber und kletterte ins Schiff.

Je weniger du mit Außerirdischen sprichst, desto weniger Schaden kannst du anrichten. Ansonsten platzt du womöglich mit einer Bemerkung heraus, die völlig harmlos klingt - mit der du aber eine diplomatische Krise auslöst. Wenn du den Hyxoiden in dieser Jahreszeit zum Beispiel Gesundheit und ein langes Leben wünschen würdest, hieße das, sie kolossal zu verhöhnen.

Im Schiff war alles bestens. Und vor allem war es kühl. Eben doch eine erstklassige Wärmedämmung! Es roch nach Leder und Plastik. Und ganz leicht nach Elektrizität. Nicht nach Ozon, sondern nach einem spezifischen Geruch, der von den vielen Elektrogeräten herrührte. Außerdem hing noch ein zarter Hauch von Gewürzen in der Luft, die ich vor zwei Monaten geladen hatte und von denen einige Packungen bei der Landung geplatzt waren und ihren Inhalt im Frachtraum verteilt hatten.

Die Schleuse war winzig. Ein kleines Steuerpult für die Türen, ein Schrank mit dem Raumanzug, den ich seit einem halben Jahr nicht mehr angehabt hatte. Eine Tür führte zum Cockpit, eine in den Frachtraum. Ich aktivierte die Hermetisierung, und während in der Wand die Servomotoren summend die Luke zuzogen und das Schiff hermetisch abschlössen, überprüfte ich die Fracht.

Kortrison ist sehr leicht. Die Platten entsprachen von der Größe haargenau den Bildern, die ich auf dem Herflug geladen hatte, und waren in durchsichtiges Material eingepackt und an den Wänden verzurrt. Auf jeder war akkurat die Masse und das Gewichtszentrum ausgewiesen. Mit Hilfe der Standardtabelle kontrollierte ich, ob das Schiff ausbalanciert war.

Tadellos, da gab’s nichts zu beanstanden. Die pedantischen Hyxoiden, die Individualität nur in der Kunst schätzten, hatten sicherlich zum Beladen einen Zähler hinzugezogen.

Ich verriegelte den Frachtraum, pumpte die Luft ab und begab mich ins Cockpit. Auf dem hufeisenförmigen Pult glommen gelbe Stand-by-Lampen. Nachdem ich den Zentralrechner hochgefahren hatte, schaltete ich auf Empfang und leitete die Systemtests ein. Ich setzte mich und legte die Gurte an.

Rechts von mir hätte sich eigentlich der Sitz für den zweiten Piloten befinden müssen. Stattdessen stand da der Jumper, ein einen Meter hoher Zylinder aus Aluminium. Ich klopfte gegen seine kühle Seitenfläche.

Natürlich ist es dumm, zweihundert Kilogramm Leitungen und Mikrochips wie ein Lebewesen zu behandeln. Da könnte ich ja noch eher meinen Computer begrüßen. Aber jeder hat halt seine eigenen Macken.

»Kontrollzentrum an Flug 36-18, Transaero«, drang eine Stimme aus dem Lautsprecher. »Bist du startklar?«

»Flug 36-18 an Kontrollzentrum, ich bin fast startklar.«

»Die Startrampe gibt dir einen Countdown von zehn Minuten. Plus drei Minuten, um eine Entscheidung zu treffen.«

»Verstanden. Warte auf Bestätigung.«

Ich beobachtete, wie der Rechner den Test der eigenen Verbindungen, Programme, des Reservecomputers und der Systeme des Schiffs beendete. Nach zwei Minuten und vierzig Sekunden schaltete ich wieder auf Empfang. »Flug 36-18 an Kontrollzentrum Hyxi«, meldete ich mich. »Ich bin startklar.«

»Einen guten Start, Pilot.«

Was hatte Gagarin damals gesagt? Los geht’s!

Auf dem Monitor blinkte einsam die Silhouette eines Schiffs, die meine Lage im Raum markierte. Das Shuttle verlor das Gleichgewicht, schaukelte und reckte die Nase in den weißen Himmel.

Ich startete.

Ohne die geringste Beschleunigung. Noch immer spürte ich nur die »0,8 g«, die auf Hyxi herrschten. Die isolierte Gravitationsschwankung mit meinem Vogel mitten drin stieß vor in den Kosmos.

Das erinnerte überhaupt nicht an einen Start. Eher war es, als würde der Planet unter mir weggerissen, als kröche er unter dem Schiff weg, verlöre seine Fläche und verwandle sich in eine Kugel.

»Flug 36-18«, erklang die Stimme des Operators. »Du fliegst bereits.«

»Das merke ich.«

»Einen langen Jump!«

»Vielen Dank, Hyxi.«

Ein zarter Schleier hüllte das Shuttle ein. Also gab es doch Wolken auf Hyxi, nur dass man sie vom Boden aus nicht sah. Dann folgte wieder der klare Himmel, jetzt bereits hellblau, eine Parodie auf den Himmel unserer Erde. Die vordere Spitze des Schiffs bebte und neigte sich zur Seite. Ich wurde entgegen der Drehung des Planeten davongetragen, hinaus in den Orbit. Die Startrampe konnte das Schiff so lange kontrollieren, wie es sich noch in Sichtweite befand. Das genügte völlig, um auf Kreisbahngeschwindigkeit zu beschleunigen.

»Flug 36-18, die Kontrolle des Raumhafens hat die Information für deinen Korridor durchgegeben ...« Der Mann stockte.

»Was ist, Hyxi?«

»Da fliegt ein Raumkreuzer der Alari auf deiner Gleitbahn.«

»Spinnt ihr?«, brüllte ich, während ich auf das Radar linste.

»Das geht nicht auf unser Konto, Transaero. Das musst du uns glauben.« Der Mann stand ebenfalls am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Nur konnte er seine Gefühle besser beherrschen. Was verständlich war - schließlich befand er sich unten, am Boden von Hyxi.

»Kommt es zu einer Kursüberschneidung?«

Alles ging viel zu schnell, als dass ich in Panik geraten konnte.

»Eventuell ...«

»Wie viel Zeit bleibt noch?«

»Plus zweihundert Sekunden bis zum Eintritt in den Orbit. Transaero, wir haben bereits offiziell Protest eingelegt ...«

Ich drückte auf den Knopf, mit dem ich den Lautsprecher abschaltete. Sollte die Gesellschaft doch später entscheiden, ob sie die Flugkontrolle von Hyxi vor ein interplanetares Gericht stellte. Ich musste jetzt meinen Hintern retten.

Das Jumper-Pult war mit einer transparenten Plastikscheibe abgedeckt. Ich klappte sie hoch und setzte den Generator in Betrieb.

Diese Arschgeigen! Diese verdammten Arschgeigen -denen ich nicht mal etwas vorwerfen konnte. Bis zum Jump hatte ich noch zwei Minuten. Aus Sicht der Außerirdischen reichte das vollauf, um dem Raumkreuzer auszuweichen.

Notjump!, gab ich ein. Ausgangspunkt: Hyxi. Zielpunkt: Erde. Selbstbestimmung des Zwischenpunkts. Toleranz ... Einen Moment stockte ich, während ich überschlug, was ich mir da maximal leisten konnte. Null Komma null drei Prozent ... Enter.

Entweder blieb ich unter den drei Hundertsteln, oder mir würde ein lustiges kosmisches Bockspringen bevorstehen.

Die Startrampe steuerte mich immer noch und gab mir die letzten Prozente orbitaler Geschwindigkeit. Hyxi dehnte sich zu einem gelb-weißen Hügel aus. Um mich herum gab es nichts als Dunkelheit und Sterne.

Der Sitz sackte unter mir weg, mein »Gravitationsindikator« - ein mit einer Angelschnur befestigtes Mäuslein aus weichem synthetischen Fell - schwebte durch die Luft. Die Rampe hatte sich abgeschaltet, und die Schwerelosigkeit nahm das Schiff in die zärtlichste Umarmung der Welt. Das war’s. Ich befand mich im freien Flug. Und -was am wichtigsten war - außerhalb der Atmosphäre. Jetzt konnte ich den Jumper einschalten, ohne mir darüber Sorgen zu machen, dass ein Teil des Planeten zusammen mit meinem Schiff auf Reisen ging. Abermals blickte ich auf das Radar.

Ein winziger Punkt leuchtete am äußersten Bildschirmrand. Ein großer Raumkreuzer. Ein sehr großer. Die kleinen, possierlichen Alari liebten gigantische Schiffe ...

»Komm schon!«, beschwor ich meinen Rechner. Die Meldung »Berechne Jump« auf dem Monitor flößte mir kein sonderliches Vertrauen ein. Manchmal dauerte eine solche Berechnung bis zu einer halben Stunde.

Der Punkt kam näher. Ich schätzte die Richtung ab, riss den Kopf herum und schaute nach vorn, in Flugrichtung. In dem Moment erspähte ich den fernen Schimmer über dem gebogenen Horizont.

Meine Fähre würde kaum so unglücklich fliegen, dass sie den Kreuzer frontal rammte. Aber das war auch gar nicht nötig. Näherte ich mich ihm bis auf acht Kilometer, würde mich der Energieschild des Kreuzers einfach zermalmen. Vielleicht würde ich auch bloß in den Bereich des gekrümmten Raums abdriften und die nächste Viertelstunde im Kielwasser des Kreuzers festhängen. In dem Fall würde das Shuttle bersten wie ein morsches Boot unter den Peitschenschlägen eines Tsunamis.

»Komm schon, du Miststück!«, schrie ich den Jumper an. Er schien mich irgendwie zu verstehen.

Berechnung beendet.

Ich guckte mir die Kursdiagramme gar nicht erst an. Den Blick fest auf den Raumkreuzer gerichtet, diese inzwischen mit bloßem Auge erkennbare Scheibe, entfernte ich die Verriegelung und drückte den Starter. Der Jumper fuhr sich leise surrend hoch.

Der alarische Kreuzer war wunderschön. Die Scheibe hatte einen Durchmesser von achthundert Metern und war mit Türmen bestückt, deren Funktion sich mir nicht erschloss. Vielleicht handelte es sich um Waffenstationen, vielleicht auch um Wohneinheiten. Welcher Mensch konnte sich schon damit brüsten, je auf einem Kreuzer der Alari gewesen zu sein? Falls mich mein Gedächtnis nicht im Stich ließ, war die Scheibe fünfzig Meter dick und wies an der Unterseite drei Gitter von Gravitationstriebwerken auf. Jetzt mussten sie mit einem fliederfarbenen Licht blinken, denn der Raum, welcher die Gigawatt Energie nicht ertrug, die in den Kosmos strömten, riss auf. Möge Gott verhüten, dass ich dieses Licht je sah!

Die Alari galten nicht als sonderlich kriegerische Rasse. Dennoch waren ihre Kreuzer hervorragend ausgestattet. Ich erinnerte mich an einen Dokumentarfilm, der uns während der Ausbildung gezeigt wurde: Zwei alarische Kreuzer, die einen Planeten in Staub verwandelten. Ein graziöser Tanz in den Umlaufbahnen, zarte Strahlen, die Streifen auf die Planetenoberfläche warfen, und matt orangefarbene Feuerwellen, die über die Kontinente wogten. Als die Alari irgendwann die Triebwerke des Schiffs dem Planeten zudrehten, hatte eine fliederfarbene Flamme den Bildschirm eingenommen. Danach gab es nur noch Staub und Asteroidenschwärme, in die sich der Planet verwandelt hatte. Steinbrocken, die an den Kraftschilden der Kreuzer verbrannten. Ein Inferno, geschaffen binnen weniger Minuten.

Wir wussten nicht mal, um welchen Planeten es sich handelte. Ob er bewohnt war oder nicht. Die Alari hatten uns die Aufzeichnung einfach so zur Verfügung gestellt, zur Kenntnisnahme.

Und wir hatten sie zur Kenntnis genommen.

Sahen sie mich jetzt, die Alari? Bestimmt. Ich schaute auf die Maus, die über dem Pult tanzte. Sie könnte als leicht verkleinerte Kopie eines Alari durchgehen. Wie komisch der Kosmos war - er hatte uns gelehrt, vor Mäusen Angst zu haben. Vor zwanzig Kilo schweren bepelzten Nagern, deren Kreuzer Planeten zerlegen.

Was ging ihnen durch den Kopf, wenn sie eine dieser Nussschalen von uns Menschen erblickten? Wenn ihnen diese Schiffe mit ihren Flüssigkeitsraketentriebwerken entgegenkamen? Erwarteten sie dann ein Feuerwerk? Jetzt leiteten sie jedenfalls kein Manöver ein. Seit ein paar Monaten schon krochen sie auf Hyxi zu, brachen sie sich stur durch den Raum. Nun träumten sie bloß noch davon, endlich festen Boden unter die Füße zu bekommen.

»Macht’s gut, Mäuse«, sagte ich, während ich den Knopf für den Jump drückte.

Der Jumper fiepte leise, als die Kondensatoren die angesammelte Energie auf die Antenne jagten. Anscheinend sollte ich das Glück haben, das Nichts zu sehen.

Der Raum um das Schiff öffnete sich und nahm meinen Vogel in sein Inneres auf.

Der Jump.

Schon richtig, wir waren die rückständigste Rasse in dieser Welt. Die primitivste.

Ein Jump. Das hieß gut zwölf Lichtjahre überwinden, die Strecke war konstant, blieb immer gleich, unabhängig davon, wie der Jumper konstruiert war oder welche Masse das Schiff hatte. Hier kam etwas zum Tragen, das in der Natur des Raumes selbst verankert und unveränderlich wie die Gravitationskonstante oder die Zahl Pi war. Deshalb sprang ich nicht Richtung Erde, denn die lag zu dicht an Sirius. Mein Shuttle driftete seitlich weg, verschwand in eine Gegend des Weltalls, von der aus die Entfernung zur Erde eben »gut zwölf Lichtjahre« betrug.

Der Jump.

Keine Zeit, keine Wahrnehmung. Nur Freude brachte er. Euphorie in Reinform. Funkelnde Dunkelheit, absolute Sicherheit und Ruhe. Sex, Drogen und Alkohol können abstinken im Vergleich zum Jump. Total.

Nur schade, dass ich nicht vor Glück stöhnen konnte.

Beim Jump existiert nämlich keine Zeit. Wir bewegen uns außerhalb des gewohnten Raums, und kein Chronometer ist in der Lage, jenen Zeitausschnitt einzufangen, in dem das Schiff die »gut zwölf Lichtjahre« zurücklegt. Subjektiv betrachtet dauert der Jump endlos.

Eine süße Ewigkeit lang ...

Und genau das ist es, was uns wieder und wieder ins All treibt. Nicht Geld und Orden locken uns, die von den Fluglinien und Regierungen großzügig verteilt werden.

Nicht die Exotik fremder Welten - denn die existiert im Grunde für uns gar nicht, da niemand den Raumhafen verlassen darf.

Nein, uns lockt die süße Ewigkeit des Jumps. Jene Euphorie, mit der sich kein terrestrisches Vergnügen vergleichen lässt.

Das Nichts wich der Dunkelheit, die Glückseligkeit dem Schmerz. Keinem konkreten Schmerz, denn der Jump hat keinerlei schädliche Folgen. Doch im Vergleich zur abgeklungenen Euphorie bedeutet jeder Zustand Schmerz.

Ich lag im Sitz, von Gurten gegen das weiche Polster gepresst. Die Schwerelosigkeit kam mir wie Beschleunigung vor. Bleiplatten gleich lastete meine Kleidung auf meiner Haut. Meine Lider waren rau wie Schmirgelpapier und schnitten mir bei jedem Blinzeln in die Augen.

Macht nichts. Halb so wild - denn es würde noch einen Jump geben ...

Stöhnend öffnete ich die Augen. Im Schiff herrschte völlige Dunkelheit. Nur durch die Frontfenster schienen die Sterne herein. Hier sind sie blendend hell und nadelspitz. Doch heller wird es davon nicht.

Der Jumper knisterte leise und kühlte ab. In meinen Ohren rauschte es, winselte ein feiner Ton. Ansonsten war es totenstill. Dem Schiff war jede Energie entzogen, wie immer nach einem Jump. Mit zitternden Fingern knöpfte ich meine Tasche auf, holte das Leuchtröhrchen heraus und knickte es. Die Flüssigkeit im Innern schäumte auf und erstrahlte in kaltem blauen Licht. Die erloschenen Bildschirme an den Pulten und das Panzerglas glänzten.

»K-knapp«, kommentierte ich das Geschehen für mich selbst. »Na, Petja, was meinst du? War das knapp?«

Immer noch summte es in meinen Ohren. Ich löste die Gurte, hängte sie über den Sitz, klammerte mich an den Armstützen fest und behielt das über dem Pult schwebende Leuchtröhrchen im Auge. Es verging eine Minute, dann eine weitere, bis schließlich am Pult die ersten Lämpchen zart aufleuchteten. Die Akkumulatoren überwanden allmählich den Schock des Jumps. Das System der Havarieventilation, das auf simpelsten Elektroschaltkreisen beruhte, schaltete sich ein. Um zu funktionieren, brauchte es lediglich Spannung. Schließlich meldete sich auch der Rechner zurück, ein paar Zeilen flackerten auf, bis er plötzlich wieder verstummte. In den Speichern gab es keine Informationen. Alle Datenträger, die während des Jumps unter Spannung gestanden hatten, waren komplett gelöscht worden. Eine kleine Unannehmlichkeit für den Piloten - und ein enormes Glück für die Menschheit.

Aus dem Container unter der rechten Armstütze holte ich die erste CD und schob sie ins Laufwerk des Pults. Gut, fangen wir wieder bei null an ... Die Scheibe rotierte, der Rechner verleibte sich gierig das Betriebssystem, die Lebenserhaltungsprogramme und die Testprogramme ein. Na, mach schon, Kumpel, sieh zu, dass du wieder auf Touren kommst! Ich stieß mich vom Pult ab, glitt über den Sitz und schnappte mir im Flug das Leuchtröhrchen. Ich musste das Schiff inspizieren. Dabei hätte ich viel lieber zum Fenster rausgeguckt. Und zwar sofort, solange sich die Beleuchtung noch nicht wieder zugeschaltet hatte, solange der Computer die Hauptsysteme des Schiffs nicht wieder aktiviert und das zarte Surren der Ventilation dem üblichen Dröhnen den Vortritt gelassen hatte.

Nach wie vor hallte dieses Geräusch in meinen Ohren ...

Ich hing vorm Fenster auf der rechten Seite und spähte in den Kosmos. Da war er, Sirius, einer der Heimatsterne der Hyxoiden. Ein grellweißer Stern. Wenn ich den Kopf so weit wie möglich herumdrehte, sah ich einen kleinen, von der Nase des Schiffs fast verdeckten Stern: die Sonne.

Der Rechner fiepte leise, nachdem er die erste Disc eingelesen hatte. Ich stieß mich von der Wand ab, segelte zum Pult, wechselte die CD und starrte auf den Monitor. Alles in Ordnung, die Hauptverbindungen standen bereits wieder, jetzt liefen die Systemtests. Woher kam dann nur dieses seltsame Gefühl, etwas stimme nicht? Was ließ meine inneren Alarmglocken schrillen? Was?

Die Beleuchtung schaltete sich wieder an, die kleine Kabine erstrahlte im Licht. Das Shuttle musste von außen ziemlich komisch aussehen, dieser strahlende Punkt inmitten der endlosen Leere. Wenn ich wollte, könnte ich den Raumanzug anziehen und nach draußen gehen, zum Beispiel unter dem Vorwand, die Fracht zu kontrollieren, und dann ein paar Photos schießen. Aber meine Nerven waren nicht stark genug, um außerhalb der Kabine rumzuschweben, Auge in Auge mit den Sternen und der Leere.

Mir war sowieso schon ziemlich mulmig zumute. Woran lag das bloß?

Ich drehte den Kopf, schaute auf die Bildschirme der sich wieder einschaltenden Pulte sowie auf die Havariemelder und versuchte durch das Fiepen in meinen Ohren hindurch wenigstens ein einziges Alarmsignal wahrzunehmen.

Verdammt!

Es rauschte gar nicht in meinen Ohren! Das Geräusch kam aus dem kleinen Schrank mit den Werkzeugen und den Lebensmitteln.

Na, super!

Ich knöpfte das Holster auf und holte die Pistole heraus. Ich entriegelte die Sperrvorrichtung, und der Kondensator aus der Patrone schoss ins Bodenstück. Die »Laserpeitschen« der russischen Fluggesellschaften verfügten über einen gewaltigen Vorteil: man konnte sie auch in der Kabine eines Raumschiffs abfeuern. Der Strahl war zu schwach, um das Gehäuse zu verbrennen. Diese Waffe war insofern mit der Spiral verwandt, als sie ebenfalls noch für das Mondprogramm entwickelt worden war.

Nur dass wir immer noch nicht auf dem Mond gelandet waren.

Stattdessen waren wir zu den Sternen geflogen. Zu diesen unwirtlichen Funken am Himmel, die uns nicht gehörten.

Und nie gehören würden.

Auf keinen Fall durfte ich jetzt Zweifel aufkommen lassen. Wenn ich auch nur eine Minute über mein Tun nachdenken würde, verließe mich der Mut, den Schrank zu öffnen. Ein durchgedrehter Hyxoid ... Nein, ein Hyxoid würde nicht in diesen kleinen Schrank passen ... Aber wer auch immer da drin stecken mochte - von mir aus sogar eine alarische Maus ohne Panzeranzug -, so oder so würde dieses Wesen den Verstand verloren haben - und bliebe damit ein gefährlicher Feind.

Ich stieß mich mit den Beinen vom Pult ab und schwebte zum Schrank. Nachdem ich die Waffe entsichert hatte -die Pistole schimmerte jetzt im grünen Licht -, riss ich die Tür auf.

Im unteren Fach zitterte zwischen den durch Gurte festgeklemmten Beuteln mit meiner Kleidung eine leise wimmernde, geschuppte graue Kugel.

Ein Zähler!

Ich flog ein kleines Stück vom Schrank weg, behielt die winselnde Kugel dabei aber fest im Blick.

Na prima ...

Was hast du denn hier verloren, Reptiloid? Sicher, für dich war es kein Problem, die Codeschlösser zu knacken. Was sind schon eine Million Kombinationsmöglichkeiten für ein Wesen, das weitaus schneller rechnet als jeder Computer der Erde und das in der Lage ist, sich direkt an die elektrischen Schaltkreise anzuschließen? Aber warum um alles in der Welt hast du dich dem Wahnsinn in die Arme geworfen?

Denn nur für uns, für die Menschen, bedeutet der Jump eine süße Ewigkeit.

Aber kein einziger Außerirdischer ist in der Lage, den Sprung durch das Innere des Raums zu verkraften, ohne dabei den Verstand zu verlieren. Das wurde bereits vor zwanzig Jahren festgestellt, als eine Patrouille der Hyxoiden ein amerikanisches Schiff beim Sirius festhielt und damit den lang ersehnten Kontakt herstellte.

Genau das hatte die Menschheit gerettet.

Wir besetzten jene seltsame Nische, die in der galaktischen Hierarchie der Rassen noch frei war. Wir stellten die Teeklipper des Weltalls ... Für Aliens dauerte der Weg von Stern zu Stern Monate. Für uns Stunden oder Minuten. Natürlich reißt sich niemand um die Rolle des Fuhrmanns ...

Immerhin garantiert sie unsere Freiheit.

Der Reptiloid stöhnte immer noch und zitterte in seiner Embryonalstellung. Was er wohl gerade durchmachte? Ich hatte keinen blassen Schimmer. Was wussten wir schon über die Psyche der Nicht-Menschen - ganz zu schweigen vom Wahnsinn der Nicht-Menschen? Mich beruhigte allerdings, dass die Zähler zu den schwächsten und hilflosesten Wesen im Kosmos gehören.

Ich streckte die Hand aus und berührte die weichen, fast samtartigen Schuppen. Der Reptiloid zuckte unter meiner Hand zusammen, machte sich flach und streckte die kleinen Pfote aus.

»Du Blödian, du bist echt bescheuert ...«, murmelte ich.

Der Zähler vibrierte leicht und rollte herum. Er ähnelte einer großen Wassereidechse ... nein, eher einem Gürteltier. Ein warmblütiges, angeblich eierlegendes Wesen ... Viel wussten wir nicht über unsere himmlischen Nachbarn.

»Verrat mir mal, was ich jetzt mit dir machen soll«, sagte ich. Hinter mir fiepte der Rechner und verlangte nach einer neuen CD. Er würde sich gedulden müssen. Mit den lebenswichtigen Informationen hatte ich ihn bereits gefüttert.

Endlich reckte der Reptiloid seinen kurzen Hals und hob den kleinen, dreieckigen Kopf, den er bisher auf dem Bauch gebettet hatte. Er blinzelte und hob die graue Nickhaut.

Die Augen des Zählers waren von zartem Blau und geschlitzt.

»Dir kann das völlig egal sein«, brachte ich heraus, wobei ich versuchte, woanders hinzusehen. »Aber mir droht ein Prozess. Wegen Entführung eines Aliens. Wer wird mir denn glauben, dass du selbst ins Schiff gekrochen bist?«

Der schmale Mund des Reptiloiden öffnete sich und entblößte gleichmäßige Kauplatten.

»Ni-ni-ni ...«, zischelte der Zähler.

Ein Krampf packte mich. Ich zuckte und schlingerte, bremste erst an der Decke ab, hing über dem Schrank und richtete die Pistole auf den Reptiloiden.

»Nicht töten ...« Das Wesen, das hätte wahnsinnig sein müssen, klammerte sich mit den Pfoten an dem Beutel mit meiner Paradeuniform fest. Knisternd zerriss das Polyäthylen. »Mensch, nicht mich töten, es ist für uns bei-de wich-tig.«

Was kosteten den Reptiloiden diese Worte, bei seiner winzigen Lunge und den nicht entwickelten Stimmbändern? Sie kommunizierten normalerweise ausschließlich mit Elektroimpulsen, diese Zähler. Diese lebenden Computer des Alls. Auch sie waren Diener, genau wie wir.

Nur dienten sie schon länger.

»Ich bit-te dich, Mensch ...«

Für ihn stellten diese Worte einen Schrei dar. Einen gequälten Aufschrei, ausgestoßen in einem ihm völlig fremden Kommunikationssystem. Verfügte er über ein Gehör, um meine Antwort zu verstehen?

Und was konnte ich ihm überhaupt antworten?

Was uns James McNamara, der Captain der Explorer beim Einführungsvortrag für die Astrokurse erzählt hatte? Jener Mann, der den ersten Kontakt hergestellt hatte ...? Wie er uns etwas erzählt hatte, das alle bereits wussten? Nämlich dass die Hyxoiden nach dem Jump den Verstand verlieren und die Alari ins Koma fallen ... Dann hatte er jedoch noch etwas hinzugefügt, das er niemals in der Öffentlichkeit gesagt hätte: »Wir haben befürchtet, diese Reaktionen würden den Tod der Menschheit bedeuten. Vielmehr hat sich jedoch herausgestellt, dass genau darin ihre Rettung lag. An dem Tag, an dem die Außerirdischen es gelernt haben, den Jump zu ertragen, verliert die Erde ihre Unabhängigkeit.«

Nun war es da, dieses Ende der Unabhängigkeit. Vor mir kauerte ein Zähler - der nach dem Jump nicht verrückt geworden war.

»Ich bin ein Freund ...«, zischelte der Reptiloid. »Ich bin ein Freund. Ich bin ein Freund ...«

Zwei

Das Komplizierteste im Raum ist nicht der Flug. Das Komplizierteste ist die Orientierung. Selbst im erdnahen Orbit ist das eine sehr verantwortungsvolle Prozedur. Was sollte man da erst vom interstellaren Raum sagen?

Mein Vogel orientierte sich an sechs Sternen. Zunächst stellte ich den Sensor grob auf Sirius ein, und der Rechner glich sein Spektrum penibel mit den Normweiten ab und stimmte schließlich dahingehend mit mir überein, dass es sich hier um Sirius handelte. Anschließend richtete ich die Fähre mit ein paar Stößen der Steuerungstriebwerke auf Fomalhaut aus. Von jetzt an würde der Computer allein zurechtkommen. Sechs Orientierungspunkte. Und Berechnungen - Millionen, Milliarden von Operationen, um jene Kette von Sprüngen zu ermitteln, die meine Spiral ins Sonnensystem bringen würden, und zwar zur Erde.

Wenn meine Fähre nach dem Sprung irgendwo in der Nähe des Mars herauskommen würde, gäbe es für mich wahrscheinlich noch Rettung. Brächte mich der lump in die Nähe des Pluto, würde ich einen Wiederholungssprung versuchen müssen, dergleichen passiert relativ häufig. Aber manchmal versiegt die Energie oder der Sauerstoff, bevor das Schiff wieder in die Erdatmosphäre eintritt. Mitunter fallen die Piloten nach einer Sprungserie auch in eine Hyperraumeuphorie. Und leiten endlose Sprünge ins Nichts ein, einen Jump um des Jumps willen, bis ihre Energie völlig verbraucht ist ...

Ich drehte mich im Sitz um und betrachtete den Reptiloiden. Der Zähler hockte auf dem Zylinder des Jumpers, eine unheimliche Gestalt, fast so was wie ein kleiner, lebendiger Wasserspeier.

»Wie soll ich dich nennen?«, fragte ich.

Ich glaube, er dachte erst darüber nach, dies jedoch verdammt schnell, denn die Antwort hatte er quasi sofort parat.

»Nenn mich Karel.«

»Das ist ein Menschenname.«

»Stimmt. So hieß der erste ...« Eine Pause, der Reptiloid atmete tief ein, um den Satz zu Ende bringen zu können. »... Vertreter eurer Rasse ... zu dem wir Beziehungen aufgebaut haben.«

»Und du glaubst, das reicht als Grundlage, um diesen Namen anzunehmen?«

»Ja. Oder etwa nicht?«

»Was spielt das schon für eine Rolle?« Ich zuckte mit den Achseln.

Die warmblütige, eierlegende Echse namens Karel sah mich mit durchscheinenden, hellblauen Augen an. Und zwar erwartungsvoll.

»Ich bin Pjotr.«

»Ist dieser Name deinen religiösen Überzeugungen geschuldet?«

»Was? Nein, das ist einfach ein Name.«

»Gut.«

Das Shuttle bebte erneut, als es sich drehte. Eine behäbige und ungelenke Kursänderung. Das redete man nicht schön, das Steuerungssystem hatte nun mal sein halbes Jahrhundert auf dem Buckel. Gewiss, es war kontinuierlich entwickelt und verbessert worden - doch egal, wie sehr man sich anstrengt, aus einem Shiguli macht niemand einen Mercedes.

»Brauchst du Hilfe?«, wollte der Reptiloid wissen, wobei seine Worte nur ansatzweise eine fragende Intonation färbte.

»Welcher Art?«

»Bei den Berechnungen.«

»Danke, ich komme schon klar.«

»Ich würde mich aber gern nützlich machen.«

Na, herrlich! Da hatte ich mir ja einen schönen Co-Piloten aufgehalst!

»Ich brauche dich nicht. Was zum Teufel hast du überhaupt auf meinem Schiff verloren?«

Der Zähler zog den dreieckigen Kopf ein, als sei er verlegen.

»Pjotr, ich bringe wichtige Informationen.«

»Wichtig - für wen?«

»Für die Menschen.«

Ich nickte. Präziser ging’s ja nicht. »Und von wem stammen die Informationen?«

»Von den Zählern.«

»Du hältst mich doch nicht etwa für einen Einfaltspinsel? Ihr seid schließlich kein völlig unbeschriebenes Blatt für uns.«

»Was soll das heißen?«, zischelte der Reptiloid.

»Eure Stimme ist im galaktischen Konklave nicht ausschlaggebend. Verschiedene Planeten haben kollektiv die Vormundschaft über euren übernommen, das Sagen haben bei euch vor allem Hyxi und Daenlo. Was solltet ihr der Menschheit da schon bieten können?«

»Stärke und Macht.«

Die zarte Stimme des Reptiloiden klang gleichmütig und monoton. Anscheinend bereitete es ihm Schwierigkeiten, Gefühle hineinzulegen.

»Du lügst doch, Zähler.«

»Karel.«

»Von mir aus. Du lügst, Karel. Die Menschheit braucht keine Hilfe.«

»Euer Planet genießt im Konklave auch nur Beobachterstatus. Ihr seid verpflichtet, Hyxi und Daenlo zu konsultieren. Die starken Rassen glauben, diese Lösung sei bequemer, als die Erde unter ihr Protektorat zu stellen, und profitabler, als sie zu vernichten. Ihr habt das Recht, Kolonien zu gründen, aber nur, nachdem alle Rassen mit ausschlaggebender Stimme auf den zur Debatte stehenden Planeten verzichtet haben. In den letzten zwanzig Jahren ist nicht ein von Menschen entdeckter Planet der Erde zugesprochen worden.«

»Noch reicht uns unser Platz.«

»Noch. Aber man wird euch nie erlauben, in der Galaxis zu expandieren. Euren Status werdet ihr nie los. Ihr werdet Frachten termingerecht abliefern - bis man irgendwann eine Alternative zum Jump gefunden hat.«

Der Computer fiepte. »Die Berechnung des Jumps ist beendet«, informierte er mich mit sanfter weiblicher Stimme. »Ich warte auf weitere Befehle.«

Unter dem hartnäckigen Blick des Zählers streckte ich die Hand zum Pult aus und gab über die Tastatur den Code ein. Eine der Klappen auf dem Pult bewegte sich und gab eine kleine Vertiefung frei, in der drei Tasten lagen. Das Fach erstrahlte in rotem Licht.

»Was ist das?«, fragte der Reptiloid.

»Das Todespult, Karel.«

Vorsichtig ließ ich die Finger über die Knöpfe gleiten. Es brauchte einige Kraft, sie zu drücken, widerspenstig wie sie waren; davon hatten sich während unserer Ausbildung alle Kursteilnehmer überzeugt.

»Unser Eid, Karel, enthält eine Zeile ...« Ich beobachtete ihn aus den Augenwinkeln heraus, versuchte, selbst die geringste Bewegung von ihm mitzubekommen. »Als höchster Wert werden mir die Interessen der Menschheit gelten. Um jeden Preis werde ich sie gegen jedwede Gefahr verteidigen, von wem auch immer diese ausgehen möge.«

»Das ist ein vernünftiges Versprechen«, bestätigte der Reptiloid.

»Ich könnte das Shuttle eine Reihe von Jumps vollführen lassen, den Jumper abbrennen oder die Treibstofftanks sprengen. In jedem Fall wäre das unser beider Tod.«

»Wozu, Pjotr?«

»Damit niemand erfährt, dass ihr den Jump verkraftet.«

Das war mehr oder weniger gelogen. Ehrlich gesagt war ich mir selbst nicht darüber im Klaren, ob ich einen dieser Knöpfe drücken könnte. Aber der Zähler fasste meine Worte für bare Münze auf.

»Dazu besteht kein Anlass, Pjotr. Nicht der geringste Anlass. Das ist absolut nicht nötig.«

»Dann beweis es mir!« Ich legte den Finger auf den Knopf für den Serienjump.

»Die anderen Rassen wissen nicht, dass wir Zähler in der Lage sind, den Jump auszuhalten.«

»Sie können es herauskriegen.«

»Das würde nichts ändern, Pjotr. Unsere Methode taugt nur für uns. Sie ist einmalig.«

»Und worin besteht sie?«

»Das werde ich auf der Erde darlegen.«

»Was hast du den Menschen anzubieten?«

»Das werde ich auf der Erde darlegen.«

»Warum erst da?«

»Wir wissen nur wenig von dir, Pjotr. Wir sind uns nicht darüber einig, ob wir dir vertrauen dürfen. Meine Informationen sind sehr wichtig, wenn sie zu den Starken Rassen durchsickern, würde das großen Schaden anrichten.«

Erst nach einer Weile begriff ich seine Anspielung.

»Willst du etwa behaupten, ich könnte die Erde verraten und das, was du mir zu sagen hast, den Außerirdischen hinterbringen?«

»Ja.«

Warum wunderte ich mich eigentlich über diese Einstellung? Hatte ich Evelyn Raksh von der Explorer etwa schon vergessen, diesen »Fluch des Feminismus«? Diese »Schande der Afroamerikaner«? Jene schwarze Quoten-Pilotin, die der Crew von der NASA aufs Auge gedrückt worden war? Diese junge, nette Frau, die bei den Hyxoiden ohne Folter und Drohung absolut alles ausgeplaudert hatte? Was ein Jump ist, wie man ein Schiff lenkt, wo die Erde liegt ... Natürlich hätten die Aliens all das auch ohne ihre Hilfe herausgekriegt. Aber Fakt bleibt Fakt.

Ich kannte die Videoaufzeichnung von den Verhören, die auf der Erde stattgefunden hatten. Raksh wusste keine Erklärung für ihr Verhalten. Da ihr Anwalt die Verteidigung seiner Klientin auf der nicht verifizierten Behauptung ihrer psychischen Manipulation durch die Hyxoiden aufgebaut hatte, war Evelyn lediglich aus dem Raumfahrtprogramm herausgenommen worden. Sie hatte ihren Namen ändern und nach Kanada ziehen müssen, wo sie ein halbes Jahr später Selbstmord beging. Vielleicht hatte sie sich tatsächlich vom Balkon gestürzt, vielleicht hatte aber auch jemand nachgeholfen, ich weiß es nicht ...

»Und wem würdest du vertrauen? Dem Direktor der Transaero? Der UN-Vollversammlung? Dem russischen Präsidenten?«

»Andrej Chrumow.«

Ich schwieg lange. Damit hatte mich der Zähler nun wirklich schachmatt gesetzt.

»Du weißt, wer das ist?«

»Ein Psychologe und Teilnehmer an den ersten Kontaktgesprächen zwischen der Erde und dem galaktischen Konklave. Der Autor des Manifests der Verdammten

»Und sonst?«

»Dein Vorfahr in der männlichen Linie.«

»Er ist mein Großvater.«

»Richtig«, bestätigte der Zähler.

»Karel, mein Großvater wird dich umbringen, wenn er dich erwischt.«

»Ich bewege mich sehr langsam.«

»Er ist auch nicht mehr der Schnellste, schließlich ist er schon über siebzig. Aber er wird sich alle Mühe geben. Hast du dich auf mein Schiff geschlichen, weil du meinen Großvater treffen willst?«

»Das ist einer der Gründe«, gab der Zähler zu.

»Ich hätte nie gedacht, dass deine Rasse so wahnsinnig ist, Karel. Wie könnt ihr Hilfe und Unterstützung von einem Mann erwarten, der alle Außerirdischen hasst und einer der berüchtigtsten Chauvinisten ist?«

»Wer sagt dir, dass wir keine Chauvinisten sind?«

Ich sah dem Reptiloiden in die Augen. Langsam öffnete er den Mund und verzog ihn zu einem Lächeln. Na großartig! Besaßen diese lebenden Computer jetzt etwa auch einen Sinn für Humor?!

»Das alles schmeckt mir nicht«, gestand ich. »Mist! Dann bin ich also nur wegen meines Großvaters in diese Geschichte reingerasselt? Erst hatte ich seinetwegen beim Studium ständig Scherereien, dann wollte mir niemand eine Stelle geben und jetzt ... was ist das nun schon wieder für ein Schlamassel?«

»Das lässt sich nicht ändern. Das ist nun mal das Problem aller Rassen, deren Bürger ihre Eltern nicht wählen können«, erklärte der Zähler.

Ich schloss die Klappe vom Todespult wieder. Wenn ich mich nicht irrte, atmete der Zähler daraufhin erleichtert auf.

Die Navigationsberechnungen wären am Ende beinahe vergeblich gewesen. Ich hatte mich zu lange mit dem Zähler unterhalten, ihn mit dem Todespult erschreckt -und darüber fast den Moment verpasst, wo ich eine Entscheidung treffen musste. Die Sterne bewegten sich auf ihrer Umlaufbahn, und mit jeder Sekunde schwanden meine Chancen für einen erfolgreichen Jump.

»Pass auf, es geht los«, informierte ich den Zähler. Der begriff sofort, worum es ging, straffte sich und hielt sich am Gehäuse des Jumpers fest, wobei er mit den Krallen über das Metall ratschte und die Augen verdrehte.

Wie wollte er den Jump überstehen?

Vier Sekunden, bevor die Navigationsberechnungen automatisch gelöscht wurden, drückte ich den Jump-Knopf, und der Raum kehrte sein Inneres nach außen.

Ah!

Mehr! Mehr davon!

Wenn dieser Augenblick doch nie enden wollte! Sollte sich der Zähler ruhig in Panik winden! Sollte die Erde doch weiter vergeblich um ihre Gleichberechtigung kämpfen und die Starken Rassen ihre Erwachsenenspielchen spielen! Scheiß drauf - wenn nur dieser Augenblick anhielt, sich in alle Ewigkeit ausdehnte ...

Ich öffnete die Augen.

Mich empfingen Dunkelheit und das Winseln des Zählers.

Wie schwer es war, in die Realität zurückzukehren.

Die chemische Leuchtröhre in meinen Händen flimmerte auf. Ich sah den dünnen Faden meines Speichels, der in der Luft hing und sich langsam zu einer Kugel aufrollte. Ich wischte ihn mit dem Ärmel weg. Dann hielt ich nach dem Reptiloiden Ausschau. Wie schwer mir jede Bewegung fiel ...

Der Zähler schlingerte am vorderen Fenster, neben der Spielmaus. Offenbar hatte ihm der Jump diesmal stärker zugesetzt. Ununterbrochen schüttelten den geschuppten Körper leichte Krämpfe.

»Zähler!«, rief ich ihn. »Karel!«

Wie in Zeitlupe hob der Reptiloid den Kopf vom Bauch. »Entschuldige bitte ...«, zischelte er.

»Wie schaffst du das?«, fragte ich in scharfem Ton. »Wie hältst du den Jump aus?«

»Ich ...« Pause. »Das erkläre ich später ...«

Ich streckte den Arm aus, fasste nach seiner Vorderpfote und zog ihn runter zum Pult. Der Zähler kletterte behände auf seinen angestammten Platz.

Er war bereit, alles zu erklären, aber erst später. Ob es dann zu spät war? Würde die Erde mein Verhalten billigen? Oder würde sie mich an den Eid und das Todespult erinnern? Keine Ahnung. Erst mal musste ich nach Hause zurück.

Ich löste die Gurte und glitt zum Fenster auf der linken Seite. Hier gab’s nichts Besonderes zu sehen, bloß Sterne. Anscheinend die gewöhnliche, nicht verzerrte Anordnung der Sternbilder.

»Sind wir da?«, wollte der Zähler wissen.

»Ja. Nur wo?« Ich stieß mich ab und flog durchs Cockpit. Doch als ich durch das andere Fenster spähte, entdeckte ich ebenfalls nichts Außergewöhnliches. Gut, wartete ich also ab. Das Schiff drehte sich langsam um die eigene Achse, irgendetwas würde ich wiedererkennen.

Der Rechner piepte, die Instrumente meldeten sich zurück.

»Soll ich einen Datenträger einlegen?«, erkundigte sich der Zähler. Ich schaute zu ihm hinüber. Inzwischen war er in den Sitz umgezogen und tastete mit der Pfote unter der rechten Armstütze herum. Er hatte sich gut vorbereitet und wusste, wo was lag.

»Kannst du das denn?«

»Ich glaube schon.«

Eine halbe Minute mühte sich der Zähler mit dem Schloss. Die drei langen Finger an den Pfoten waren zwar recht beweglich, es fehlte ihnen jedoch an einem Gegenspieler. Schließlich öffnete er das Fach mit beiden Pfoten und holte eine Laserdisc heraus.

»Sieh zu ... Karel«, brummte ich. Der Wortschatz des Zählers ließ nichts zu wünschen übrig, er verstand mich auf Anhieb.

Die nächsten Minuten starrte ich in das kalte Leuchten des Kosmos, während der Reptiloid am Pult hantierte, jedes Mal leise zischend, wenn sich die für Menschen gedachten Tasten seinen Anstrengungen widersetzten.

»Kann ich mich direkt an das System anschließen?«, fragte der Zähler nach einem besonders wilden Kampf mit der CD-ROM. Ich antwortete nicht, weil mir die nächste Drehung des Schiffs ein wirklich schönes Bild bescherte.

»Karel!«, rief ich ihn leise.

Der Reptiloid schwebte langsam zu mir rüber.

»Guck mal!«

Der Saturn sah aus wie auf einer Abbildung in einem Kinderbuch. Der Ring war uns im spitzen Winkel mit der flachen Seite zugekehrt, das Sonnenlicht ließ ihn reliefhaft und besonders schön hervortreten. Von der gelbbraunen Kugel des Planeten, der irgendwie flach und nicht sonderlich beeindruckend wirkte, hob sich der Ring geradezu körperhaft und massiv ab ... ein Steinfluss, der durch den Kosmos sprudelte.

»Ist das nicht schön?«, hauchte ich, selbst über meine Frage erstaunt. Was für einen Schönheitsbegriff hatte diese fremde Rasse schon?

»Ja.« Der Zähler atmete schwer und schnell. »Das ist ... wie unser Zuhause.«

»Wie dein Planet?«

»Ja ...«

Oha! In unserem Nachschlagewerk fehlten jegliche Angaben über den Heimatplarteten der Zähler. Jetzt konnte ich da getrost eintragen: Von einem Ring umgeben ...

»Ist das der Saturn?«, erkundigte sich der Zähler. »War der Jump erfolgreich?«

»Das ist der Saturn. Aber das gibt uns keinen Anlass zur Freude.«

Der Reptiloid starrte mich an.

»Karel, mein Schiff arbeitet mit Flüssigkeitsraketentriebwerken. Du weißt doch, was das ist?«

»Tinnef«, urteilte der Zähler erbarmungslos.

»Richtig. Und um zur Erde zurückzugelangen, dürfte das Schiff nicht weiter als fünfhunderttausend Kilometer von ihr entfernt sein, es müsste sich irgendwo in der Ekliptik befinden und sich mit höchstens vierzig Kilometer pro Sekunde relativ zur Umlaufgeschwindigkeit des Planeten bewegen.«

»Tinnef ...«, wiederholte der Zähler. »Habt ihr viele Todesfälle zu beklagen?«

Ich antwortete nichts, sondern genoss den Anblick des Saturns, der langsam aus meinem Blickfeld entschwand. Am Rand des Fensters loderte ein blendender Lichtreflex auf: Jetzt strahlte uns die Sonne in die Augen.

»Du brauchst Hilfe, Mensch«, befand der Zähler. »Du brauchst dringend Hilfe ...«

»Versuchen wir es mit einem erneuten Jump.«

Der Zähler verkrampfte sich. »Gibt es hier denn keine menschlichen Siedlungen?«, fragte er.

»Auf dem Saturn? Witzbold. Auf Io ... das ist einer der Monde des Planeten ... will man eine Forschungsstation einrichten. Vielleicht gelingt das ja, in zwei Jahren oder so.«

»So viel Zeit haben wir nicht.« Der Zähler drehte den Kopf vom Fenster weg.

Ich sparte es mir, ihn daran zu erinnern, dass wir im Schiff nicht mal genug Sauerstoff für eine Woche hatten. Stattdessen half ich ihm, zum Pult zu kommen, und legte die nächste Disc ein.

»Mach dich an die Arbeit. Ich hab derweil was zu erledigen.«

Ich überließ den Reptiloiden sich selbst und schwebte zu dem kleinen Schrank mit den Sanitärutensilien. Mit dem Rücken zum Zähler langte ich nach dem Flexschlauch und knöpfte meine Hose auf.

»Musst du Ausscheidungsprodukte ableiten?«

Herr im Himmel!

Selbstverständlich verkniff ich mir jede Erwiderung. Ich stellte den Saugapparat an und versuchte, den neugierigen Blick des Reptiloiden, der sich mir in den Rücken bohrte, zu ignorieren. Ich hasste diese kleinen Alltagsprobleme. Aber was willst du machen, ohne künstliche Gravitation?

»In Zukunft spar dir bitte jeden Kommentar zu meinen Bedürfnissen, ja?«

»Entschuldige«, meinte der Zähler. »Ich habe mich mit Xenobiologie befasst, und das ist ein höchst interessanter Aspekt ...«

»Denk lieber an die nächsten beiden Jumps.«

»Wenn du es mir erlauben würdest, zusammen mit dem Rechner zu arbeiten ...«

»Ja?«

»Dann würde ich das Schiff mit maximaler Präzision zur Erde bringen.«

Dergleichen hatte es noch nie gegeben. Das war derart irrsinnig, dass unsere Vorschriften es nicht mal ausdrücklich verboten. Im Gegenteil, ich könnte mich durchaus auf den Punkt zur Zulässigkeit einer Inanspruchnahme von Hilfe seitens der Außerirdischen bei den Kursberechnungen berufen.

Warum hatte Gott bloß keinen Beamten an meine Stelle gesetzt ...?

»Gut«, antwortete ich, wobei ich spürte, wie ich eine unsichtbare Grenze überschritt. »Wie willst du das anstellen?«

»Ganz einfach.« Der Reptiloid kroch vom Sitz und überließ mir den Platz des Piloten, während er über dem Pult schwebte. »Wir arbeiten häufig mit Computern.«

»Aber nicht mit denen von Menschen ...«

»Funktioniert er mit Binärcode?« Der Zähler fuhr mit der Pfote übers Pult. Sanft drückte er auf die Schnittstellen des Rechners, die unter einer transparenten Abdeckung lagen.

»Soll ich die wegnehmen?«, fragte ich.

Der Zähler antwortete nicht, der Monitor erlosch aber langsam.

Es wäre idiotisch gewesen, mich da einzumischen. Deshalb beobachtete ich einfach, wie der Reptiloid den Rechner ausschaltete, wie der Computer neu startete, sich jedoch aufhing, ohne das Betriebssystem hochgefahren zu haben. Das Lämpchen der Festplatte flackerte, doch die Information verschwand irgendwohin. Anscheinend in das kleine dreieckige Köpfchen.

Wie das wohl war - direkt mit einem Rechner zu interagieren? Sollte das tatsächlich die normale Kommunikationsform der Zähler sein?

Und wenn ja, wie schafften sie es dann, Wesen mit Emotionen zu bleiben? Irgendwo hatte ich mal gelesen, jedes Lebewesen, das in der Lage sei, Informationen auf dem Niveau einzelner Bytes zu verarbeiten, sei emotional unterkühlt, zumindest in unserem Verständnis. Die Zeit verläuft dann nämlich mit ganz anderem Tempo.

»Eine höchst interessante Programmlösung ...«, meinte der Reptiloid, als er die Pfote vom Pult nahm. Der Computer startete sich daraufhin nicht, die Monitore schimmerten immer noch schwarz, obendrein verlosch nun auch noch das Betriebslämpchen für die Festplatte.

»Was für eine Lösung?«

»Das Navigationssystem. Für einen derart leistungsschwachen Rechner ist eine solche Genauigkeit und Schnelligkeit ganz außerordentlich. Haben Menschen das entwickelt?«

»Selbstverständlich.«

»Ihr seid sehr begabt«, lobte der Reptiloid gönnerhaft.

»Du wolltest die Koordinaten des Jumps berechnen.«

»Ich bin gerade dabei.«

»Und gleichzeitig unterhältst du dich mit mir?«

»Beides findet auf unterschiedlichen Ebenen des Bewusstseins statt, Pjotr. Wir haben ein externes und ein internes Bewusstsein. Mit dem einen verarbeiten wir riesige Datenmengen. Mit dem anderen realisieren wir eine äußerlich erkennbare Tätigkeit.«

»Und beide Ebenen funktionieren parallel?«

»Wenn es sein muss, ja. Jetzt zum Beispiel. Wenn ich zu Hause bin, in meinem Nest, dann schalte ich das externe Bewusstsein ab. Wenn ich keinen Informationszugang habe, schalte ich das interne Bewusstsein ab.«

»Und welches Bewusstsein ist wichtiger für dich?«

»Das ist eine sinnlose Frage«, erwiderte der Reptiloid.

»Aber was hat sich bei euch eher herausgebildet, Karel?«, verbiss ich mich in das Thema. »Das interne oder das externe Bewusstsein?«

»Bist du ein Xenobiologe?«

»Nein, es interessiert mich nur.«

»Das interne. Das externe haben wir künstlich entwickelt.« Anscheinend rückte der Zähler nur widerwillig mit der Sprache raus.

Was mich nicht wunderte. Abermals hatte er mir damit Informationen über seine Heimat gegeben - etwas, das jede Rasse gern vermeidet. Ich versuchte mir eine Welt vorzustellen, in der eine solche Lebensform entstand. Eine Welt, in der es nicht nötig war, gegen Feinde zu kämpfen, sich um Nahrung zu kümmern, sich gegen Unwetter zu schützen oder Arbeitsgeräte zu entwickeln. Eine Welt, in der das Überleben von der Schnelligkeit und Genauigkeit der Informationsverarbeitung abhing.

Irgendwie war das unvorstellbar.

Aber die Natur bringt keine absurden Lebensformen hervor. Jedes Wesen passt in idealer Weise in seine ökologische Nische. Die zerbrechlichen und gigantischen Hyxoiden waren die Könige der heißen und windlosen Steppen des Siriusplaneten. Die alarischen Mäuse eine Schöpfung der hügeligen Ebenen einer Welt bei Fomalhaut, die sich in den Labyrinthen tiefer Bauten herausgebildet hatten, für sie kam es auf Beweglichkeit und geringe Maße an.

Wie musste da der Planet aussehen, der die Zähler aus dem Nichts hatte entstehen lassen? Eine Welt, die wie der Saturn mit einem Ring umgeben war, eine Welt, in der tagein, tagaus Informationen verarbeitet und ausgetauscht werden mussten, noch dazu Informationen in elektronischer Form ...

»Ich habe die Berechnung beendet«, teilte mir der Reptiloid mit. Ich hatte den Eindruck, er messe mich mit einem ironischen Blick. Als wüsste er genau, worüber ich gerade nachgedacht hatte.

»Dann lass es uns überprüfen.«

Der Zähler stieß ein leises Knirschen aus. Ich begriff nicht auf Anhieb, dass es sich dabei um Lachen handelte.

»Pjotr, ich habe alle Daten, die es auf deinem Computer gibt, ausgewertet. Ich habe die ideale Gleitbahn für die Landung ermittelt und das bequemste Kosmodrom. Dabei habe ich sogar die Gravitationsfaktoren und die Bewegung der Sterne berücksichtigt, von denen Menschen nicht einmal ahnen. Ich habe die Ressourcen des Schiffs kontrolliert.«

Er legte eine Pfote aufs Pult, und das Lämpchen der Festplatte flackerte auf.

»Du hast noch nie so einen idealen Kurs gehabt.«

Der Hauptbildschirm sprang an, die Kurstabelle erschien.

»Die Berechnung des Jumps ist beendet«, informierte mich der Computer mit einem Stolz, der völlig fehl am Platze war. »Ich warte auf weitere Anweisungen.«

Unter dem amüsierten Blick des Zählers klickte ich im Menü die »Details« an.

»Jump Erde - Erde«, teilte der Rechner mir mit. »Toleranz: ein Millionstel Prozent.«

»Zufrieden?«, fragte der Zähler.

Blöde Frage! Ein Hundertstel wäre ein exzellentes Ergebnis, ein Tausendstel ein seltener Glücksfall und die Garantie für einen erfolgreichen Jump.

»Pass auf, es geht los«, warnte ich den Zähler, während ich mich setzte. Und ob ich es wollte oder nicht - insgeheim wünschte ich mir, dem Zähler wäre ein Fehler unterlaufen.

Natürlich war das nicht der Fall.


Auf den Jump folgte die halbe Stunde, in welcher das Leben ins Schiff zurückkehrte. Ich aß etwas, der Reptiloid lehnte das Menschenessen jedoch entschieden ab. Etwas anderes hatte ich allerdings auch nicht erwartet, denn im Kosmos hat jede Rasse einen eigenen Stoffwechsel. Der zweite Jump brachte uns zur Erde.

Ich brauchte nicht mal die Lampe anzuzünden, da wir über der Tagesseite wieder in den realen Raum zurückgelangt waren und der Planet wie ein gigantischer Scheinwerfer sein Licht in das Schiff schickte. Wir waren sehr, sehr dicht an der Erde, ich bekam sogar Angst. Bevor der Computer sich wieder hochfuhr, konnte die Erdanziehung uns auf eine nicht berechnete Bahn abdrängen.

Diese Befürchtung erwies sich jedoch als überflüssig. Das Schiff kam nach dem Jump auf einer normalen stabilen Umlaufbahn heraus. Ich schielte zum Zähler rüber, der zischte und zitterte, sich aber allmählich vom Jump erholte. Ich wollte ihn schon fragen, ob er das wirklich alles genau so geplant hatte. Aber dann ließ ich es bleiben.

Natürlich hatte er das alles so geplant.

»Bist du zufrieden, Pjotr?«, wollte der Reptiloid wissen.

»Ein astreiner Jump«, räumte ich ein. »Ich ... hätte die Flugbahn niemals so exakt berechnen können.«

Der Zähler gab einen Schmatzlaut von sich. »Das war kein Kinderspiel, Pjotr. Ich habe diese Art der Berechnung lange geübt. Wir haben nämlich jede Wendung der Ereignisse einkalkuliert ... selbst die, dass ich selbst das Schiff steuern muss.«

»Dann bereitet ihr euch schon lange auf dieses Unternehmen vor?«, fragte ich beiläufig.

»Drei Jahre, nach menschlicher Zeitrechnung.«

Darauf sagte ich kein Wort. Die Zivilisation der Zähler hatte ein paar Jahre darauf verwendet, diesen Erdbesuch vorzubereiten. Sie mussten ernsthafte Motive haben ...

»Pjotr, du musst mir glauben, dass wir nur Gutes wollen ... für unsere und für eure Zivilisation. Vier Zähler haben ihr Leben geopfert, um mein Eindringen in dein Schiff zu decken. Das ... das sind sehr viele. Wir sind nur eine kleine Rasse.«

Er hatte sich bereits an die Schwerelosigkeit gewöhnt, denn er glitt geschickt vom Jumper auf den Boden, hielt sich mit den Krallen an dem weichen Belag fest und stellte sich vor mich hin. »Wir wollen nur Gutes, Pjotr!«, wiederholte er, wobei er den Kopf in meine Richtung reckte.

»Für die Hyxoiden ist kollektive Euthanasie eine gute Sache. Für die Cood-Deldo Kannibalismus. Wie könnt ihr da für uns entscheiden?«

»Wir haben eure Geschichte studiert! Eure Gesellschaft, eure Träume, Religionen und Ideale. Wir haben alle Zufallsfaktoren ausgeschieden und die wesentlichen Punkte herausgefiltert. Jetzt machen wir euch ein Angebot, das ihr nicht ablehnen könnt.«

Ich winkte ab. Sollten sie ihr Angebot machen. Schließlich würde nicht ich darüber entscheiden müssen. Eine halbe Stunde nach der Landung würden diverse Präsidenten, die Experten für Außerirdische und die Generäle der Weltraumsicherheit Kopfschmerzen bekommen ...

Ich schaltete den Hauptsender ein und sandte ein Signal. Es verstrichen zehn Sekunden, bevor mir geantwortet wurde - und zwar auf Russisch, mit leichtem englischen Akzent. Offenbar hatten sie meinen Code bereits entschlüsselt und wussten, wer am anderen Ende saß.

»Hier Orbitalkontrolle, wir sehen Sie.«

»Hier Transaero, Flug 36-18. Ich komme von Hyxi zurück, vom Sirius.«

Eine Pause.

»Eine gute Flugbahn. Wie ist der Flug?«

»Hervorragend.« Ich wartete geduldig. Das Schiff musste bereits auf den Radarschirmen aufgetaucht sein - und vielleicht nicht nur da, wer wusste denn schon, welches der Märchen über die Weltraumsicherheit der Wahrheit entsprach und welches eine Lüge darstellte. Natürlich war der Gedanke, ein Dutzend ihrer Satelliten und ein paar Orbitalstationen könnten einem außerirdischen Raumschiff Widerstand leisten, lächerlich. Trotzdem bezahlten alle ohne zu murren die Steuern für den Geheimdienst des Kosmos. Angeblich leisteten sogar die russischen Oligarchen, die sonst jeder Steuerzahlung entkamen, anonyme Spenden.

Wir haben den Himmel immer gefürchtet. Sie liegt uns Menschen im Blut, diese Angst vor der unendlichen Weite, durch welche die Erde treibt. Die Menschen sind bereit, irgendeinen Scheiß zu fressen und sich in hundsmiserablen Krankenhäusern behandeln zu lassen, solange sie nur wissen, dass über ihnen, in diesem unendlichen Himmel, ein paar Eisenkörner mit Röntgenlasern kreisen ...

»Es ist alles in Ordnung, Transaero. Wir übergeben dich an die Russen.«

»Transaero an Wesi, bis bald.«

Der diensthabende Offizier schaffte es entweder nicht mehr zu antworten oder hielt das für überflüssig. An seiner Stelle meldete sich jetzt eine andere Stimme: »Willkommen zu Hause, Transaero! Das Kontrollzentrum ist auf Empfang.«

»Hallo, Erde!«, erwiderte ich, während ich auf die weißlich-blaue Ebene über mir schaute. Ich flog gerade über Afrika hinweg, die Verbindung musste also über ein russisches Schiff vom Weltraumnachrichtenverkehr oder über eine Relaisstelle der USA realisiert werden. Wir arbeiteten jetzt ja sehr eng mit ihnen zusammen ... anders ging es nicht.

»Du kommst gut runter«, lobte mich der unsichtbare Operator. »Ich bin Maxim, und ich bringe dich bis zum Kosmodrom. Du wirst in Swobodny landen.«

»Warum nicht in Baikonur?« Ich linste auf den Navigationsschirm, auf dem sich ein Globus drehte, der mit einem Netz überzogen war, welches meine Umlaufbahn symbolisierte. Die Flugbahn schien eine Landung in Baikonur durchaus zuzulassen ...

»Baikonur ist besetzt. Beide Landestreifen. Wenn du unbedingt willst, bringen wir dich auf dem Reservestreifen von Saratow runter. Aber wozu die Mühe?«

»Okay, Erde.« Jeder Widerspruch war zwecklos. Wenn es nicht nötig war, versuchte man eine Landung in China nun mal zu vermeiden, schließlich bedeutete sie nur Steuern in die Kasse eines fremden Staates. Und der Reservelandestreifen in der Nähe von Saratow - das künftige Juri-Gagarin-Kosmodrom - taugte nicht viel. Ich selbst war da zwar noch nie gelandet, meine Kollegen hatten mir jedoch davon erzählt.

»Du hast noch fünfundzwanzig Minuten, um eine zu rauchen sozusagen. Der Funkkontakt bricht gleich ab, wir nehmen ihn dann am Apogäum wieder auf, über Alaska, und leiten sofort den Bremsvorgang ein.«

»Ist mit dem Schiff alles in Ordnung?«, wollte ich wissen. Die Telemetriedaten wurden jetzt automatisch vom Schiff aus übertragen, und die Leute im Kontrollzentrum konnten weitaus besser abschätzen, wie mein Vogel den Jump verkraftet hatte.

»Alles bestens«, beruhigte mich Maxim. »Entspann dich. Bis zur Funkstille bleiben dir noch dreißig Sekunden.«

»Ich hab euch auch was mitgebracht ...«, brummte ich, während ich zum Zähler rüberschielte.

»Na, ich will doch hoffen, dass du nicht mit leerem Frachtraum anschwirrst«, meinte der Operator lachend. »Deine Fluggesellschaft löchert uns schon mit ihren Fragen. Es geht da um irgendeinen Vertrag ...«

Die Stimme riss so abrupt ab, als sei sie mit einem Messer gekappt worden. Die Automatik regelte das immer schwächer werdende Signal bis zum letzten Moment aus, dann unterbrach sie die Verbindung einfach. Wenn ich wollte, konnte ich mich mit der Wesi in Verbindung setzen, ihre Stationen deckten den ganzen Horizont ab. Aber wozu?

»Wenn ihr wüsstet, was ich euch mitgebracht habe ...«, sagte ich in die Leere hinein. »Mach dich auf was gefasst, Karel«, warnte ich den Zähler. »Sobald wir unten sind, wird ...«

»Das ist doch nicht nötig«, fiel mir der Reptiloid ins Wort. »Darauf können wir doch verzichten! Meine Mission zielt wahrlich nicht auf eine Begegnung mit Vertreten des Staates ab!«

»Ach nein?«, amüsierte ich mich. »Worauf hoffst du eigentlich, Zähler?«, fragte ich kopfschüttelnd.

»Karel, nicht Zähler!« Der Reptiloid machte eine energische Kopfbewegung. »Das Wort Zähler ist beleidigend, Pjotr!«

»Warum? Das haben nicht wir uns ausgedacht, alle Aliens nennen euch so.«

»Und die Menschen nennen sie Fuhrleute.« Der Reptiloid wies mit seiner kurzen Pfote demonstrativ auf mich. »Eine enge Funktion, Pjotr, stempelt dich immer ab! Sie bedeutet Rettung für die Schwachen Rassen - ist aber gleichzeitig ihr Fluch. Wer den Rahmen, in den ihn die Natur gespannt hat, nicht sprengt, bleibt immer ein Diener!«

»Entschuldige.« Ich schämte mich wirklich. »Gut ... Karel. Wie du meinst. Aber ich muss der Erde doch von dir Mitteilung machen.«

Der Reptiloid ließ sich die Sache offenbar durch den Kopf gehen. »Wir haben nur zehneinhalb Erdtage«, teilte er mir nach einer Weile mit. »Im Laufe dieser Zeit müssen unsere Rassen einen Haddsch unternehmen.«

»Was?«

»Einen Haddsch. Eine Wallfahrt. Eine Heldentat. Eine Messe. Das ist ein ausgesprochen komplexer Begriff, der schwer mit einem einzigen Wort zu übersetzen ist.« Er überschlug sich jetzt fast beim Sprechen, als sei er nervös. »Pjotr! Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich Andrej Chrumow treffen muss. Du kannst an diesem Gespräch teilnehmen. Dann wirst du alles verstehen. Die offiziellen Kanäle sind zu langsam!«

»Natürlich sind sie langsam! Aber woher soll ich bitte schön wissen, was du wirklich willst? Vielleicht hat man dich ja hier hergeschickt, um meinen Großvater zu ermorden!«

»Nein! Wir töten nicht! Niemals!« Der Zähler erschauderte allein bei dem Gedanken. »Pjotr, du hast mir erlaubt, das Schiff zu lenken - und alles ist gut gegangen. Vertraue mir noch einmal!«

»Ob ich dir vertraue oder nicht, spielt keine Rolle.«

»Warum nicht?«

»Zum Beispiel wegen der Black Box. Alle Gespräche an Bord werden aufgezeichnet. Sie werden sie abhören und erfahren, dass ich nicht allein geflogen bin.«

»Die Aufzeichnungen kann ich ändern«, erklärte der Zähler lakonisch. Ich wollte schon einwenden, das sei unmöglich, schließlich lasse sich ein Aufnahmegerät mit Stahldraht, das in einem hermetischen Kasten steckte, nun mal nicht von außen manipulieren ... brachte dann aber kein Wort heraus.

Was heißt hier: von außen? Die magere Pfote würde sich auf die Stahlverkleidung legen - und der Motor würde anspringen. Die Spulen würden sich zurückrollen. All unsere Gespräche würden gelöscht werden, stattdessen würden ein paar harmlose Geräusche aufgenommen, dazu ab und an ein Ausruf, von dem Piloten, der in seiner Langeweile mit sich selbst quatschte.

Das würde der Zähler hinkriegen, nahm ich jedenfalls an.

»Kannst du dich auch unsichtbar machen?« Das meinte ich nicht mal ironisch. Mir fielen nur gerade die Kontrolle und die Untersuchung ein. Das »Röntgentor«, die Wärmedetektoren, das Scannen der Netzhaut und der ganze andere Kram, der uns im Kosmodrom nach einer Reise in fremde Welten erwartete.

Selbst einen Zähler von der Größe einer Katze könnte ich an dieser Kontrolle nicht vorbeischmuggeln.

»Unsichtbar? Nein. Aber die Kontrolle werden wir überwinden.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Pjotr, meine Rasse hat sich seit drei Jahren auf diese Mission vorbereitet. Es wird klappen!«

Aus unerfindlichen Gründen hätte ich ihm gern geglaubt ...

»Karel, es ist nicht so, dass ...«

»Ich füge niemandem Schaden zu!«

»Darum geht es nicht. Das ist ein Verbrechen, verstehst du? Selbst wenn du nicht lügst, wird man mich vor Gericht bringen.«

»Sieger werden nicht verurteilt, Pjotr.« Der Zähler stieß sich vom Jumper ab, glitt geschmeidig zu mir herüber und landete auf meinen Knien. Er brachte seinen Kopf ganz nah an mein Gesicht. »Vertraue mir«, wiederholte er flehend. »Vertraue mir. Das Schicksal der Galaxis liegt jetzt in deinen Händen!«

Ich schüttelte energisch den Kopf. »Das sind nur Worte ...«

»Das ist die Wahrheit! Pjotr, wenn du dich weigerst, wird es in einem Monat keine Erde mehr geben! Und es wird ... auch meinen Planeten nicht mehr geben!«

Drei

Über Alaska nahm das Kontrollzentrum den Funkkontrakt wieder auf.

»Transaero, wir fangen jetzt an«

»Gut, Erde.«

»Alles klar?«

Ich löste meinen Blick von dem Reptiloiden, bevor ich antwortete: »Ja.«

Auf diese Weise wird man also zum Verräter. Indem man einem Alien glaubt. Ganz egal, ob das ein Mensch in einer außerirdischen Uniform ist oder eine sprechende Echse. Hinter einem Verrat stehen nicht Angst oder Gier - sondern nur die besten Absichten.

Am Ende hatte der Zähler allerdings sowieso keine Chancen. Er machte sich kein Bild davon, was es mit dem Sicherheitssystem eines Raumhafens auf sich hatte ... Ich selbst wusste kaum etwas darüber. Gerade mal so viel, um zu begreifen: die Posten trickst du nicht aus.

Das Schiff vibrierte und drehte sich. Die Erde schob sich unter uns. Jetzt flog die Spiral mit den Düsen voran und bereitete sich darauf vor, einen Impuls ans Bremssystem weiterzuleiten.

»Nummer eins«, kündigte der Operator an. Es zog mich aus dem Sitz, als das Triebwerk sich in Gang setzte. Es lief sieben Sekunden lang, bevor eine Pause eintrat.

Während der Computer die neue Flugbahn berechnete, schielte ich zum Zähler rüber. Wir durften uns jetzt nicht mehr unterhalten, denn er hatte die Aufzeichnung der Black Box bereits »korrigiert«, übrigens genauso, wie ich vermutet hatte. Er hatte einfach seine beiden Pfoten auf das Pult gebettet ... Selbst jetzt saß er noch in dieser Position da, zur Sicherheit mit einem feinen Seil an die Bügel auf dem Gehäuse des Jumpers gebunden. Dynamische Operationen sind etwas anderes als ein Start auf einem Gravitationsstrahl der Außerirdischen oder ein Sprung durch das Innere des Raums. Hier ist die Beschleunigung unvermeidlich.

»Transaero, wir wiederholen das Ganze jetzt«, teilte mir der Operator mit.

Kam es mir nur so vor, oder klang seine Stimme anders?

»Wie ist die Flugbahn, Maxim?«

»Ein wenig ungewöhnlich ...« Ohne Frage, er zögerte. Noch blieb genug Zeit, in eine stabile Umlaufbahn zurückzukehren. »Wir korrigieren das. Der zweite Impuls erfolgt in neun Sekunden und dauert drei Komma eins fünf Sekunden ...«

Der Zähler blickte mich an. Langsam und unter Aufbietung seiner Kräfte zwinkerte er mir mit einem seiner grauen Lider zu.

Was führte er bloß im Schilde ...?

Das Schiff schaukelte, das Triebwerk heulte. Dann trat Stille ein.

»Maxim ...« Ich gab mir alle Mühe, ruhig zu klingen. »Mein Pult gibt mir einen Impuls von drei Komma vier Sekunden an. Das Schubmoment ist berechnet.«

Der Mann schwieg runde fünf Sekunden. »Transaero«, meldete er sich dann, »wir haben die gleichen Werte. Wir berechnen es noch mal!«

»Die Flugbahn!«

»Keine Panik! Du bist immer noch im Landekorridor.«

Wenigstens das. Ich würde also weder verbrennen noch von der Atmosphäre abprallen. Ich streckte die Hand aus, um den Zähler sanft anzustupsen. Besser, er hielt sich bereit. Eventuell würde ich auf seine Fähigkeiten noch zurückgreifen müssen.

»Pjotr!« Der Operator sprach mich unvermittelt mit meinem Namen an. »Du trittst ganz normal in die Atmosphäre ein.«

Ich atmete geräuschvoll aus.

»Du kriegst aber Probleme beim Landen. Du ... kommst nicht auf der Bahn runter.«

Die Landung ...

Von mir aus konnten die Journalisten ruhig über dahingleitende Raumschiffe schreiben, die voll beladen zur Landung ansetzten. Fakt ist jedoch, dass ein Schiff mit der Eleganz eines gusseisernen Bügeleisens landet. Selbst ein Passagierflugzeug ist zum freien Fall verdammt, wenn die Triebwerke versagen - und das hatte noch ganz normale Flügel. Mit meinen ausklappbaren Trageflächen dagegen konnte ich den Flug gerade mal ein wenig korrigieren, mehr nicht ...

Wir würden abstürzen. Nicht fliegen, sondern, wie ich es mal in einem Zeichentrickfilm gehört hatte, »wunderschön bauchlanden«. Direkt auf die idealen, mit einem halben Meter Beton ausgegossenen Landestreifen des Kosmodroms. Wir würden abstürzen - und damit die Kinetik der Orbitalgeschwindigkeiten in eine Art Flug verwandeln.

»Wie weit daneben?«

In dem Moment, da ich die Frage stellte, zeigte mir mein Computer das traurige Ergebnis seiner eigenen Berechnungen.

»Etwa hundert Kilometer, Pjotr«, bestätigte der Operator die Angabe.

Ich schluckte. »Ich warte auf weitere Befehle, Erde«, sagte ich.

»Du kannst schon nicht mehr in eine stabile Umlaufbahn zurück. Das Wichtigste ist jetzt, Ruhe zu bewahren, Pjotr. Wir holen dich da runter.«

»Und wo setzt ihr mich ab? Bei den Chinesen? Damit die ein Andenken an uns haben?«

»Du ... landest bei Blagoweschtschensk ...«

»Ich stürze bei Blagoweschtschensk ab! Oder ist in dieser Woche da ein neuer Weltraumbahnhof gebaut worden?«

»Pjotr, verlier jetzt nicht die Nerven. Wir suchen nach anderen Lösungen.«

»Verstanden.«

Ich wartete. Der Landevorgang lief bereits. Ich musste runter zur Erde, denn der Treibstoffvorrat der Spiral ist äußerst begrenzt. Das Einzige, was ich noch tun konnte, war, die Flugbahn leicht zu korrigieren.

»Transaero, wir übernehmen jetzt die Steuerung. Halte durch.«

Abermals heulte das Triebwerk, wenn auch nur kurz, dann war es leer, hatte mit dem letzten Impuls die Reste des Treibstoffs geschluckt. Es blieb nur noch ein winziger Vorrat, gerade genug für ein paar Manöver im atmosphärischen Flug.

»Pjotr?«

Ich schaute auf den Monitor. Der angekündigte Landepunkt hatte sich verschoben, von Blagoweschtschensk nach Swobodny ... besser gesagt: in die Richtung des Weltraumbahnhofs.

»Wir haben die Flugbahn korrigiert ...«

»Und?«

Eine Pause. »Du wirst nicht über der Stadt abstürzen«, kam die erbarmungslose Antwort.

»Vielen Dank«, hauchte ich.

»Pjotr, wir schicken dir Hubschrauber ...«

»Vielen Dank«, wiederholte ich.

Das Schiff zitterte erneut, als es sich mit der Spitze nach vorn drehte. Mich hatten sie von dem Manöver erst gar nicht in Kenntnis gesetzt.

»Pjotr, du musst den Vogel manuell runterbringen. Hör mir jetzt gut zu ...« Der Operator sog die Luft ein. »Dein Landeanflug bringt dich zu einer Autobahn ...«

Ich lachte los. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Klar, wenn’s weiter nichts ist, bring ich meinen »Latschen« von zwanzig Tonnen auf einer miserablen Asphaltstraße runter ...

»Das ist eine gute Autobahn, Pjotr ...«

Als ob ich unsere Straßen nicht kennen würde!

»Einen anderen Ausweg gibt es nicht, Pilot.«

Natürlich nicht. Die Spiral verfügte über kein Notlandungssystem. Warum sollte man das Schiff damit belasten, wo es doch so viele Freiwillige gibt, die auf den Platz des Piloten scharf sind, und jedes Kilogramm extraterrestrischer Scheiße Unsummen kostet?

Das Schiff fing leicht zu vibrieren an. Die erste, noch zärtliche Berührung der Atmosphäre.

»Leckt mich doch alle!«

Sie hatten diese letzte, diese wahnsinnige Kurskorrektur absichtlich vorgenommen und mir damit praktisch jede Möglichkeit geraubt, das Schiff zu steuern. Um die Stadt vor einer Katastrophe zu bewahren. Damit mir nichts anderes übrig blieb, als mein Raumschiff auf einer Straße voller Schlaglöcher zu landen.

»Wir sperren die Autobahn ab, in einer halben Stunde ist sie leer.«

Wie krampfhaft er sich bemühte, ausschließlich von »Autobahn« zu sprechen, dieser mir unbekannte Typ aus dem Kontrollzentrum! Unweigerlich tauchte vor meinem inneren Auge eine dieser funkelnden, pfeilgeraden Autobahnen aus dem Westen auf.

»Die Verbindung bricht jetzt ab. Halte durch, Pjotr.«

Um das Schiff herum flammte die ionisierte Luft auf. Die Nase des Schiffs hob sich langsamem den Hauptschlag des Plasmas mit dem gepanzerten Bauch abzufangen. Trotzdem züngelten über das ultrabruchsichere, hitzebeständige Glas des vorderen Fensters ein paar Feuerschlangen.

»Da haben wir uns was eingebrockt, Kumpel«, meinte ich, indem ich mich zum Zähler umdrehte.

Aber so spielt das Schicksal nun mal.

Und vermutlich hatte es recht. Es bügelte meine Fehler aus, meinen schwachen Charakter. Es erlaubte dem Feind, der es geschafft hatte, einen unerfahrenen Piloten nach seiner Pfeife tanzen zu lassen, nicht auf der Erde zu landen ...

Der Zähler lächelte. Als ob ihn weder der Feuersturm um uns herum noch die unvermeidliche Tragödie bei der Landung oder der entsetzliche Fehler in den sonst so zuverlässigen Landeprogrammen erschreckten ...

Der Fehler in den Programmen?

»Du Dreckskerl!«, brüllte ich und wirbelte im Sitz herum. »Du Vieh!«

Die simpelste Möglichkeit, an der Kontrolle in einem Weltraumbahnhof vorbeizukommen, war natürlich die, gar nicht in ihm zu landen.

Wenn ich in dem Moment hätte aufstehen können, hätte ich den Zähler mit bloßen Händen in Stücke gerissen. Aber die Beschleunigung machte sich bereits bemerkbar, wollte mich aus den Gurten zerren und gegen das zerbrechliche Innere des Pults schleudern.

Trotzdem würde er mir nicht entkommen.

Bestimmt nicht.

Worauf hoffte er denn bloß, dieser geschuppte Außerirdische namens Karel? Der Schlag bei der Landung würde viel zu stark sein, als dass ...

Aber woher wollte ich eigentlich wissen, welche Beschleunigung sein Körper aushielt?

Eingehüllt in ein explodierendes Feuergewand schoss die Spiral auf die Erde zu.

Der Zähler linste zu mir rüber. Seine Bedingungen waren längst nicht so gut wie meine, saß er doch nicht in einem bequemen anatomischen Sessel mit breiten Gurten, sondern musste mit einem Stahlseil um die Taille vorliebnehmen ...

Der Monitor funkelte mit einem orangefarbenen, Aufmerksamkeit heischenden Licht auf. Ich schaute auf den Schirm. Oberhalb der Berechnungen für die Flugbahn liefen langsam ein paar Zeilen dahin: Pjotr, es ist alles in Ordnung. Sag etwas, aber sprich mich nicht an. Uns bleibt keine Zeit, die Aufzeichnungen noch einmal zu löschen.

Warum, wüsste ich nicht zu sagen, doch ich kam der Aufforderung nach. »Das Schiff kann nicht außerhalb des Kosmodroms landen«, brachte ich heraus.

Du schaffst es.

»Nein, das ist einfach unmöglich!«

Du bist ein guter Pilot.

»Zwanzig Tonnen! Dafür braucht man einen speziellen Landestreifen!«

Hör auf damit! Schweig!

Ich sagte kein Wort mehr. Das Schiff vibrierte, nicht sehr stark, eigentlich wie sonst auch. Feuer peitschte gegen die Fenster. Normalerweise bist du in diesen Minuten leicht rieben der Spur. Obwohl die Wärmedämmung sicher ist, sind bereits zwei Shuttles bei der Landung verreckt. Irgendein Teil war durchgebrannt oder eine Keramikplatte abgesprungen, so dass der Plasmastrahl ins Schiff schoss.

Mir drohte momentan jedoch eine weitaus realistischere Gefahr.

Noch nie in der Geschichte der Raumfahrt musste ein Schiff auf einer nicht dafür vorgesehenen Piste landen. Immer nur auf speziellen Streifen, bei einer Notlandung nur in den besten Militärflughäfen, immer nur auf von der Natur selbst geglätteten Flächen ausgetrockneter Salzseen.

Aber niemals auf einer Straße.

Eine Komödie, ein alter Film noch aus Sowjetzeiten, fiel mir ein, in dem ein Passagierflugzeug auf einer Chaussee runterging. Die Szene war auf einem Flugplatz gedreht worden - der normale Straßenbelag hätte den Vogel nicht verkraftet.

Wovon ich mich gleich in der Praxis überzeugen würde.

Was für seltsame Dinge heutzutage passieren! Interstellare Flüge und fremde Zivilisationen sind für uns Realität geworden. Aber nichts - nichts! - hat sich deswegen geändert! Die Straßen, über die Kamas-Laster und Shigulis brettern, sind so löchrig wie eh und je, im Fernsehen laufen nach wie vor dieselben Seifenopern, die Wasserleitungen sind undicht, und jeder Frühling bringt Rotznasen.

Die Zukunft hatte die Gegenwart berührt, ihr herablassend auf die Schulter geklopft und sich schlafen gelegt.

Zwanzig Prozent der Erdbevölkerung arbeiten im Kosmosbereich. Sie bauen Raumschiffe, bereiten den Treibstoff auf, errichten lächerliche orbitale Festungen und versuchen eine Ökologie, die seit dem Raketenboom verrückt spielt, in den Griff zu kriegen.

Und ich musste auf unter sengender Hitze aufgedunsenem Asphalt landen.

»Leb wohl«, sagte ich zum Zähler. Der reagierte nicht, gab keinen Ton von sich, schloss sich nicht an den Rechner an.

Na schön.

Der Feuersturm ums Schiff legte sich bereits, jetzt glitten wir durch die Stratosphäre, in einer Höhe von gut zwanzig Kilometern, genau wie jedes andere Überschallflugzeug auch ... nur halt mit ausgefallenen Triebwerken. Ich schaltete die Automatik ab und griff nach dem Steuerrad. Ich bewegte das Schiff ein wenig hin und her ... so schlecht sprach es nicht auf das Steuer an, schließlich gleicht bei dieser Geschwindigkeit der Druck der anströmenden Luft die geringe Dichte aus.

Wäre in den Tanks wenigstens noch die normale Brennstoffreserve gewesen, hätte ich versucht, zu manövrieren und doch noch im Kosmodrom zu landen. Aber die Tanks waren fast leer.

Innerhalb von nur zehn Minuten erreichten wir die Wolkendecke. In dem Moment stand auch die Funkverbindung wieder.

»Transaero, antworte!«, wiederholte der Operator müde.

»Ich höre euch.«

»Flug 36-18! Wir sehen dich!«

»Freut mich ungemein«, sagte ich.

»Die Hubschrauber sind in der Luft, Pjotr. An dem Punkt, wo du runterkommst, ist die Straße frei. Du fliegst direkt auf sie zu, deine Chancen stehen nicht schlecht.«

Ich verzichtete darauf, mir diese Chancen in Prozenten angeben zu lassen. Zum Fluchen war das nicht gerade der beste Zeitpunkt.

»Was ratet ihr mir, Erde?«

»Pjotr, hier kommt Alexander Danilow«, informierte mich der Operator. Gleich darauf schaltete sich eine zweite Stimme ins Gespräch. Ich kannte sie flüchtig. Danilow, den besten Piloten der Transaero, hatte ich vielleicht drei Mal gesehen. Er flog jetzt eine Buran, angefangen hatte er aber ebenfalls auf einer Spiral.

»Wir haben keine Zeit für Beileidsworte, Pjotr«, kam er gleich zur Sache. »Außerdem geben wir uns alle Mühe, dass sie überhaupt nicht nötig sind. In zehn Minuten überfliegst du das Kosmodrom. Zwei Minuten später bist du etwa fünf Kilometer über der Straße.«

Wenigstens verzichtete er auf den Ausdruck »über der Autobahn«.

»Die Straße ist beschissen«, bemerkte Danilow in schonungsloser Offenheit. »Ich bin da schon mit dem Auto langgefahren. Aber das Stück, an dem du auf null Meter runtergehst, ist relativ intakt ... Chinesische Händler nehmen sie öfters, die haben den Belag ausgebessert. Hoffe nicht auf die Automatik. Wie steht’s mit deiner Flugerfahrung?«

»Zwei Flüge mit meinem Ausbilder, sieben allein. Alle auf der Spiral.« Ich schluckte, bevor ich fortfuhr: »Alle Landungen mit Automatik ...«

»Das weiß ich. Militärische Einsätze?«

»Neun Flüge.«

»Womit?«

»Mit einer Suchoi, einer S-37.«

»Gut. Vergiss nicht, dass sich die Spiral wirklich manuell steuern lässt. Sie reagiert bei der Landung sehr träge aufs Steuer, aber unmöglich ist es nicht. Ich selbst bin zwei Mal ohne Automatik gelandet.«

»Ist die Straße breit?«, wollte ich wissen. Die ruhige, kräftige Stimme Danilows hatte etwas Hypnotisierendes.

»Fünf Meter. Könnte schlimmer sein. Wenn du präzise runtergehst, landen die Räder nicht im Graben. Rolle mindestens hundert Meter aus, um die Geschwindigkeit zu drosseln. Dann hast du Chancen, es zu überstehen, wenn du von der Straße abkommst.«

»Sind da noch Leute unterwegs?«

»Nein. Die Straße ist frei, mach dir darum keine Gedanken.«

»Sascha ...« In meiner Nervosität vergaß ich jeden Respekt. »Habe ich wirklich eine Chance?«

»Eine kleine, aber die ja. Ich bin jetzt im Hubschrauber ... Ja, ich sehe dich! Schau nach unten ... Scheiße, du hast kein Rundumblick ... Siehst du das Kosmodrom?«

Das tat ich. Vor mir - und sehr weit unten.

Bei keiner Landung in Swobodny war ich in dieser Höhe über den Weltraumbahnhof geflogen. Natürlich nicht ...

»Du kommst gut runter«, tröstete mich Danilow. »Der Vogel wird noch ein Weilchen fliegen. Hast du die Kursdaten?«

»Ja«, antwortete ich mit einem Blick auf den Monitor. »Zwei Korrekturen?«

»Eine, damit du auf die Achse der Straße kommst, die andere vorm Aufsetzen.«

»Mein Treibstoff reicht aber nur für eine.«

»Dann mach nur die erste«, entschied Danilow nach einer Schweigesekunde. »Ansonsten landest du völlig ab vom Schuss. Und dann setze auf.«

»Verstanden.«

»Na, dann los«, munterte mich Danilow auf. »Es ist praktisch windstill, die Sicht ideal. Ich bin auf Empfang, störe dich aber nicht weiter. An alle: Ab jetzt wird geschwiegen!«

Ich schaute noch einmal auf das rechter Hand liegende Kosmodrom. Vier Hauptstartrampen für die Raumschiffe, dazu drei kleinere für Sputniks. Zwei exzellente, breite und mit allen Finessen ausgestattete Landebahnen. Am Himmel entdeckte ich einen winzigen Punkt: den Hubschrauber. Innerlich winkte ich Danilow zu.

Der Zähler hüllte sich in Schweigen, fuhr lediglich mit der Pfote über das Gehäuse des Jumpers. Das leise Scharren irritierte mich. Als ich den Reptiloid böse anguckte, hörte er damit auf. Allem Anschein nach hatte er verstanden.

Die Berechnung der letzten Kurskorrektur war bereits im Computer. Eigentlich wird die Nutzung des Haupttriebwerks in der Atmosphäre nicht empfohlen. Ich hatte jedoch eh nichts mehr zu verlieren.

Nachdem ich das Manöver bestätigt hatte, schaltete sich ein paar Sekunden später das Triebwerk automatisch ein. In der Atmosphäre arbeitete es irgendwie schwerfällig und gluckernd ... aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Es folgte ein Impuls von zwei Sekunden, das Schiff ruckte kurz, als fiele ihm ein, dass es ja gelernt hatte, selbstständig zu fliegen, dann setzte es seinen Fall fort.

Zumindest flogen wir tatsächlich direkt über der Straße. Herr im Himmel, sollte man in Russland etwa gelernt haben, Straßen gerade zu führen - und sie nicht um jedes Hügelchen herumzuleiten? Oder stammte die hier noch aus Zeiten des Zaren?

Inzwischen hatte sich die Höhe auf einen Kilometer reduziert. Vor mir blitzten am Straßenrand winzige Autos auf. Immerhin, die Straße hatten sie tatsächlich geräumt ...

Blieb die Geschwindigkeit, mein Hauptfeind. Gut dreihundert Stundenkilometer sind nach Weltraummaßstäben absolut lächerlich. Für eine normale Straße lagen sie jedoch weit über dem, was ihr zuzumuten war.

Ich bewegte das Schiff leicht zur Seite, um zu sehen, wie es mir gehorchte. Erstaunlich gut. Auf dem Computerschirm spaltete sich eine gelbe Linie - meine Flugbahn - von einer grünen ab. Ich brachte die Spiral wieder auf die Achse der Straße. Die idiotische Hoffnung, es doch irgendwie zu schaffen, schien auf einmal nicht mehr ganz so idiotisch. Das Kontrollzentrum hatte mich derart tadellos zu dieser Straße gebracht, als sei das Manöver seit langem erprobt.

Der Zähler fing schon wieder an, über das Gehäuse zu kratzen. Jetzt blieb mir jedoch keine Zeit, mich mit ihm zu beschäftigen. Die Straße lag nur noch hundert Meter unter uns, und die Höhe schmolz rasant. Ich versuchte herauszukriegen, ob ich mittig runterkam, aber der Rechner erwies sich inzwischen als nutzlos, und die Sicht aus dem Cockpit der Spiral konnte sich noch nie ihres Panoramas rühmen. Im letzten Moment riss ich das Schiff ein wenig nach rechts.

Genau in dieser Sekunde, als sich der Vogel vornüber neigte, registrierte ich zwei Dinge auf einmal. Erstens, meine Intuition hatte mich nicht getäuscht, ich wäre tatsächlich im Graben gelandet, hätte ich dieses letzte Manöver nicht vorgenommen. Die zweite Neuigkeit war weniger erfreulich: Einen halben Kilometer vor mir machte die Straße eine scharfe Kurve, um einen nicht sehr hohen, mit Bäumen bewachsenen Hügel zu umrunden. Als ob das nicht reichte, kam mir auch noch ein Auto entgegen!

In welches der beiden Hindernisse ich reinjagte, machte übrigens für mich keinen Unterschied. Noch sechs Sekunden, dann ...

Das Schiff rumpelte, als das Fahrgestell auf der Straße aufsetzte. Es geriet sofort ins Schleudern, genau wie ein Auto auf Glatteis, und schlitterte mit dem linken Flügel vorneweg weiter. Von blindem Eifer getrieben, versuchte ich, das Schiff unter Kontrolle zu bringen. Der klotzige, alte Ikarus vor mir machte eine Kehrtwende. Als der Fahrer das auf ihn zurasende Raumschiff erblickt hatte, war er so geistesgegenwärtig gewesen, auf die Bremsen zu steigen und zu wenden.

Herr im Himmel, was für ein Albtraum! Das Schiff schoss schaukelnd über die Straße, hatte es aber bisher fertiggebracht, weder im Graben zu landen noch sich bei einer der zahllosen Unebenheiten zu überschlagen. Der Autobus vor mir suchte das Weite, mit allem, was der Motor hergab. Worauf hoffte der noch? Ich war so oder so schneller als er und würde ihn einholen! Wenn der Fahrer wenigstens herausspringen, wenn er die Menschen rauslassen würde ... nein, das würde er nicht schaffen ... aber wenn er wenigstens von der Straße runterfahren würde, dann bliebe vielleicht jemand am Leben ...

Daraufhin setzte ich alles daran, die Spiral von der Straße zu bekommen. Von mir aus konnte ich im Graben landen oder gegen den Hügel knallen - Hauptsache, ich raste nicht in den Autobus! In meinem Kopf dröhnte plötzlich die durchdringend tragische Stimme einer halb in Vergessenheit geratenen Sängerin: »Und die ganze Stadt, die glaubt, das war ein Übungsflug ...«

Das Raumschiff teilte meine Bereitschaft zur Selbstaufopferung ganz entschieden nicht. Inzwischen polterte es nicht mehr über die Straße, sondern schoss über sie dahin, fand sich mit dem Asphalt unter seinen Rädern ab. Die russischen Raumschiffe sind die zuverlässigsten der Welt!

Der Bus beschleunigte auf eine halsbrecherische Geschwindigkeit, der Abstand verringerte sich so langsam, dass ich sogar das Kennzeichen entziffern konnte: 06-31. Auch den Auspuff erkannte ich klar und deutlich, der dichten, graublauen Rauch ausstieß, einen zerbeulten Eimer, der hinten festgemacht war, und ein Schild: »Schlechte Sicht - nicht überholen«.

O nein, überholen würden wir den Bus nicht. Wir würden voll in ihn hineinkrachen ...

Selbst angeschnallt warf es mich hin und her, das Schiff erbebte und bäumte sich auf. Die mit Keramik verkleidete Spitze der Spiral erwies sich als solider als das verrostete Eisen. Die Fähre steckte halb im Bus, als die Flügel die geschossartige Bewegung stoppten. Ein paar Sekunden fuhren wir als bizarres Tandem weiter, rasierten die wenigen Betonpfeiler ab und nahmen uns den Hügel vor. Ungefähr nach dem zehnten Baum kapitulierten sowohl der Bus wie auch das Raumschiff vor den Barrieren und blieben stehen.

In dem Moment krachte es so gewaltig, dass ich kurz in Ohnmacht fiel. Als ich meine Augen wieder aufkriegte, stellte ich überrascht fest, dass ich noch lebte. Die Nase der Spiral war plattgedrückt, das Cockpit zusammengequetscht wie ein Akkordeon. Absurderweise war aber kein einziges Fenster zersprungen, und die Beleuchtung funktionierte auch noch. Auf dem umgestürzten Jumper hockte der Zähler und band sich das Seil ab, das ihn gesichert hatte. Wie hatte er es bloß geschafft, nicht zerfetzt zu werden?

Indem ich den Kopf schüttelte, versuchte ich den blutigen Rotz aus meinen Augen zu vertreiben.

Bis plötzlich alles in mir eiskalt wurde.

Das Blut war nicht in meinen Augen. Alle Scheiben der Spiral waren mit blutrotem Matsch verschmiert.

Gütiger Gott!

Ich riss die Gurte ab, rappelte mich aus dem Sitz und torkelte zur Schleuse. Der Zähler, der sich auf dem Gehäuse des Jumpers aufgerichtet hatte, klatschte mir die Pfote auf den Arm, als wollte er mich aufhalten, doch ich kümmerte mich nicht weiter um ihn. Das Schiff zitterte, offenbar rutschte es den Hang runter. Die Tür zur Schleuse gab erst beim dritten Ruck nach, anschließend zerrte ich am Hebel des Notausgangs. Die Luke ging nicht sofort auf, schließlich schaffte ich es aber doch - meine Panik verlieh mir Kraft.

Die Luft war kalt und feucht, von der glühend heißen Verschalung stieg Dampf auf. Um mich herum richtete sich das lädierte Kiefernwäldchen wieder auf, der Ikarus, der starr vor mir aufragte, verströmte Brandgeruch. Ich sprang aus zwei Metern Höhe zu Boden, rutschte im nassen Gras aus, stolperte und torkelte zum Bus. Ein Teil der Scheiben war ebenfalls noch intakt und lediglich mit einem Spinnennetz aus Rissen überzogen, durch die ich genau den gleichen purpurroten Brei ausmachte.

Bitte, lass es keine Kinder gewesen sein! Ein Kloß schnürte mir die Kehle zu. Mit zitternden Händen öffnete ich das Holster. Ich würde mich erschießen, wie es sich für einen Offizier gehört ...

Quietschend öffnete sich die Tür des Busses, und ein ausgemergelter, unrasierter Mann in Trainingsanzug sprang heraus. Kopfschüttelnd betrachtete er erst den zerquetschten Bus, dann mich. Er stand auf. In der einen Hand hielt er ein Brecheisen.

»Du bescheuerter Kosmonaut!«, brüllte er. »Fliegen in der Weltgeschichte rum, die Arschlöcher!«

»Wie viele?«, konnte ich nur fragen. Meine Beine trugen mich nicht mehr, Mütterchen Erde forderte mich tadelnd zum Hinlegen auf. »Wie viele ...? Da drin?«

Ich nickte in Richtung des zusammengedrückten Autobusses und versuchte, jeden weiteren Blick auf die verschmierten Fenster zu vermeiden.

»Achtzig!«, polterte der Fahrer. Alles in mir drin zerbrach. Die Kinder, die hatte ich auf dem Gewissen ...

»Achtzig Kisten, du Mistkerl! Wie soll ich die jetzt bezahlen?«

Noch bevor ich diese Worte bewusst wahrnahm und mir vergegenwärtigte, dass Menschen nicht in Kisten transportiert werden, hatte der Fahrer mit seinem Brecheisen mich auch schon beinahe erreicht.

»Halt!«, schrie ich und riss die Pistole heraus. »Ich bin Major der russischen Luftwaffe! Pjotr Chrumow! Ich habe das Recht, von der Waffe Gebrauch zu machen! Nicht näherkommen!«

Der Fahrer ließ das Brecheisen fallen, sackte auf die Böschung und heulte los, den Kopf in beide Hände gestützt und sich wiegend. Ich schnappte etwas von chinesischen Vertragsbauern auf, die Tomaten anbauten, über die Einwohner von Chabarowsk, die sich ohne diese Tomaten kein Leben vorstellen konnten, über den armen Ikarus, der den Fahrer ernährt hatte und der jetzt nur noch für den Schrottplatz taugte. Mir fehlte jedoch die Kraft, um Mitleid mit ihm zu haben. Tomaten! Achtzig Kisten! Und selbst wenn es die ganze chinesische Jahresernte gewesen wäre!

»Wieso um alles in der Welt transportierst du in diesem Bus Tomaten?«, fragte ich.

»Worin denn sonst, wenn ich keinen Kamas-Laster habe?«

»Mach dir keine Sorgen, man wird dir deinen Verlust erstatten!«

Der Fahrer hörte prompt mit seinem Geflenne auf und hob den Kopf. »Wirklich?«, hakte er ungläubig nach.

»Wird man!«, versprach ich, während ich zum Bus rüberging. Er bot einen furchtbaren Anblick. Ich bückte mich, klaubte ein wenig von dem purpurroten Brei aus dem Gras und hielt ihn mir unter die Nase, wobei ich mir wie ein frisch initiierter Vampir vorkam. Kein Zweifel, das waren Tomaten ...

»Haben die wegen dir die Straße gesperrt?«, erkundigte sich der Fahrer hinter mir.

Ohne mich zu ihm umzudrehen, nickte ich.

»Mist! Ich hab gedacht, da sind mal wieder bei einem dieser Schrottdinger die Tanks geplatzt ...«, grummelte der Fahrer. »Echt, sobald euer Treibstoff ausläuft, riegeln die die ganze Strecke ab ...«

»Passiert das denn so oft?«, wollte ich wissen.

»Zwei Mal pro Jahr ...«

Klar. Die Trägerraketen flogen mit hochtoxischem Treibstoff. Es gab viele Starts, die Tanks waren alt, ewig fehlten Fachleute ...

»Wenn dein Vehikel nicht gewesen wäre«, brachte ich seufzend heraus, »wäre ich erledigt gewesen ...«

Der Fahrer schielte die Straße runter und kratzte sich die Wange. »Kannst du laut sagen! Du hattest ordentlich was drauf ... zweihundert Stundenkilometer?«

»Die Landegeschwindigkeit liegt bei dreihundertfünfzig.«

Der Fahrer schnalzte mit der Zunge. »Also, mehr als hundert, das trau ich mich hier nicht ...« Sein Ton hatte sich prompt geändert. Jetzt war ich nicht mehr ein abgestürzter Kosmonaut, sondern fast ein Kollege. »Meinen Motor kannst du sowieso vergessen. Aber klar, bei euch sieht das anders aus ...« Er verstummte und starrte zum Schiff rüber, spuckte aus und brummte: »Ich hab gewaltig was auf die Birne bekommen ... Wie heißt du, Kosmonaut?«

»Habe ich doch schon gesagt: Pjotr!«

»Petja ... Ich bin Kolja.«

Automatisch schüttelte ich die Hand, die er mir entgegenstreckte. Man hätte in diesem Moment von uns beiden problemlos ein Photo für ein Agitationsplakat der kommunistischen Partei schießen können: die unverbrüchliche Einheit von Armee und Volk. Nur das Schiff, das seine Nase so vorwitzig in den Bus gebohrt hatte, müsste dann retuschiert werden, andernfalls könnte man auf falsche Gedanken kommen.

»Von wo bist du gestartet?«, erkundigte sich der Fahrer.

»Von Sirius-A-8. Vom Planeten Hyxi.«

»Den kenn ich!«, begeisterte sich der Fahrer. »Sirius habe ich schon mal gesehen! Mein Sohnemann hat ihn mir gezeigt, er ist in einer Astronomengruppe, hat selbst ein Teleskop zusammengebaut, so ein kleines ... Er will auch Kosmonaut werden.«

Er ging näher an das Schiff heran, berührte scheu die Schutzhülle und zog fluchend die Hand zurück. Logisch, die Keramik war noch nicht erkaltet, sondern hatte mindestens hundert, zweihundert Grad.

»Verdammt, ist das heiß!«, schimpfte Kolja. »Mir verschmurgeln ja meine Tomaten. Hilf mir beim Ausladen!«

Ich bedachte Kolja mit einem tadelnden Blick.

»Ach ... schon gut«, winkte er ab. »Vergessen wir’s ... Sag mal, das Ding ist doch nicht verstrahlt?«

»Das Schiff? Nein, keine Sorge. Die Strahlung liegt ganz wenig über dem natürlichen Strahlungshintergrund. Sie ist nicht gefährlich.«

»Was sollten wir nach so einem Knall auch noch fürchten«, meinte der Fahrer. »Petja, das ist, als ob du ein zweites Leben gekriegt hättest!«

»Hm ...«

»Meinst du ... wir sollten das begießen?«

Der Vorschlag brachte mich derart aus dem Konzept, dass ich nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte. Kolja fasste mein Schweigen als Zustimmung auf, zwängte sich in die Fahrerkabine und tauchte kurz darauf mit einer angebrochenen Flasche Wodka, einem Glas und einem in die Literaturzeitung eingewickelten Stück Speck wieder auf.

»Aber nachher, wenn die Streifenhörnchen anrücken, sagst du, dass ich nüchtern war!«, verlangte Kolja, während er die Zeitung im Gras ausbreitete. »Dass wir erst jetzt ... um den ganzen Stress abzubauen ...«

Mich beschlichen leise Zweifel, ob Kolja wirklich nüchtern gewesen war und warum er sich derart auf die Flasche stürzte. Ich sagte jedoch kein Wort. Schließlich hatte sein Autobus mir das Leben gerettet.

Wir setzten uns hin, Kolja drückte mir das Glas in die Hand und goss ein. In dem Moment hörte ich das Rattern eines Hubschraubers.

»Meine Leute kommen«, teilte ich ihm mit und stand auf.

»He, mach schon, trink!«, drängte Kolja. »Hier ... soll ich dir ’ne Tomate holen?«

Er flitzte zum Bus und fischte aus dem Brei unter den Rädern eine unversehrte Tomate. Gerade schob sich der Hubschrauber, der tief über unseren Köpfen flog, ins Blickfeld. Allerdings kamen da keineswegs unsere Retter angeflogen: Aus der offenen Tür lugte das Auge einer Fernsehkamera heraus. Der Kameramann, mit einem Gurt gesichert, machte gierig seine Aufnahmen von dem Unfall.

»Die sind von uns, vom Fernsehen in Chabarowsk ...«, erklärte Kolja, während er mir die Tomate hinhielt. »Hier, für nach dem Wodka!«

Es war mehr ein Reflex, als ich den Wodka trank und in die Tomate biss. Das Gemüse der Chinesen war gut und schmackhaft, der Wodka verbrannte mir aber fast den Hals, das reinste Kerosin.

Kolja entspannte sich umgehend und zwinkerte mir zufrieden zu. »Wir sollten der Verkehrspolizei jetzt nicht in die Hände fallen!«, bemerkte er vertrauensselig. »Wenn bloß deine Leute schon da wären und uns hier wegbringen würden! Schließlich stecke ich voll im Stress und muss mich ausruhen!«

Alles klar ...

»Mach dir um die Polizei keine Sorgen. Damit befasst sich der Föderale Sicherheitsdienst!«, beruhigte ich ihn.

Der Hubschrauber kreiste immer noch über uns, machte aber nicht die geringsten Anstalten, tiefer zu gehen und uns Hilfe anzubieten. Wir spendierten uns ein weiteres Schlückchen, als unsere Retter kamen, zwei leichte Hubschrauber, mit einem orange und einem weißen Streifen, und ein Hubschrauber der Armee, ein Ka-72 mit Tarnanstrich. Die Reporter verdufteten prompt, als befürchteten sie, gleich unter Raketenbeschuss zu geraten. Der Armeehubschrauber zog über dem Hügel seine Kreise, während aus den beiden gelandeten Rettungshubschraubern Leute auf uns zuliefen. Ein paar Ärzte, zwei MPi-Schützen und Oberst Danilow höchstpersönlich. Ich stand auf, wimmelte die Herren Doktoren ab und rapportierte: »Ich melde eine erfolgreiche Notlandung. Keine Opfer, die Fracht ist unbeschädigt. Der Zustand des Schiffs ist zufriedenstellend ...«

Schweigend schloss mich Danilow in die Arme. Er war ein kräftiger, stämmiger Mann aus Sibirien, der mich um einen Kopf überragte.

»Na, Pjotr, da hast du ja ganz schön was ...«, brummte er. »Verdammt, aber du bist gelandet! Gelandet, gelandet!«

»Also ... es war ein Glück, dass der Bus aufgetaucht ist ...«

Als Danilow zum Ikarus rüberschielte, entglitten ihm die Gesichtszüge. »Wie viele?«, wiederholte er meine Frage.

»Da waren Tomaten drin, Genosse Oberst. Es gibt keine Opfer.«

»Petja, hol mich doch ...« Ungläubig starrte Danilow auf das Tomatenpüree, das an den Scheiben klebte. »Das gibt neue Sterne auf den Schulterstücken ...«

Er hatte einen Arm nach wie vor um meine Schultern gelegt und drückte dem plötzlich ganz eingeschüchterten Fahrer die Hand. Anscheinend beeindruckte diesen die militärische Uniform weitaus stärker als mein Pilotenoverall.

»Ich danke Ihnen.«

»Nicht doch ...« Der Fahrer machte mit beiden Händen eine abwehrende Geste. »Ich hab halt gesehen, dass da was angeflogen kommt! Direkt auf den Hügel zu. Pah, denke ich, zum Teufel mit ihnen, mit den Tomaten, meine ich, ein Mensch ist mehr wert! Hab den Stoßdämpfer gespielt ... äh ... also ...«

Er stockte verlegen. Kolja, Kolja!

»Ich werde persönlich veranlassen, dass Sie für eine Auszeichnung vorgeschlagen werden«, versprach Danilow. »Für den Schaden kommen wir auf.«

Der Fahrer strahlte.

»Für euch gibt es hier nichts zu tun!«, wandte sich Danilow an die geduldig wartenden Ärzte. »Habt ihr gehört? Nichts!«

Die Ärzte sahen nicht gerade so aus, als seien sie ob dieser Neuigkeit enttäuscht. Inzwischen schnappte sich der Oberst die Flasche vom Boden, nahm einen Schluck, verzog das Gesicht und erteilte Befehle. Fünf Minuten später entstiegen dem Armeehubschrauber drei weitere Soldaten, die etwas abseits ein Feldfunkgerät aufbauten.

»Sammel deine Sachen ein.« Doch dann winkte Danilow ab. »Ach was, zum Teufel mit ihnen ... Du hast hier nichts mehr verloren. Fliegen wir nach Hause.«

Ich nickte und blickte noch einmal zurück zum Schiff. Was hatte ich schon für Sachen? Ein paar Souvenirs, frische Unterwäsche ...

Und einen Zähler!

Das war wie ein Schlag gegen den Solarplexus.

Als ob sich der Vorhang hob, der mein Bewusstsein abgeschirmt hatte.

Der Zähler!

Wir waren in den Bus geknallt, ich hatte mich durch die Schleuse gezwängt - während der Reptiloid noch mit dem Seil hantierte.

Wo war er?

»Alexander Olegowitsch ...«, flüsterte ich. Danilow schaute mich stirnrunzelnd an. »Alexander Olegowitsch, da im Schiff ...«

Er packte mich am Arm und zog mich wortlos zum Schiff. Unter der offenen Luke stand bereits ein MPi-Schütze, reingeklettert war bisher jedoch noch niemand.

»Weshalb hast du die Leiter nicht runtergelassen?«, fragte er, während er die offene Luke taxierte.

»Ich hab mich beeilt und da ...«, murmelte ich schuld-bewusst.

»Wie heißt es doch so schön: Eile mit Weile ... Mach mir mal eine Räuberleiter!«

Unter dem neugierigen Blick des Soldaten stemmte ich Danilow ein Stück in die Luft, bis dieser sich hochziehen konnte und in der Luke verschwand. Kurz darauf glitt langsam die Leiter heraus.

»Komm rauf ...«, vernahm ich seine Stimme.

Danilow hatte die Schleusenkammer nicht verlassen. Als ich hochkam, öffnete er die Luke zum Frachtraum und betrachtete nachdenklich die aufgestapelten Kortrisonplatten.

»Alexander Olegowitsch, ich muss Ihnen etwas sagen ...«, setzte ich halb im Flüsterton an.

»Du musst überhaupt nichts«,’ fiel mir Danilow ins Wort, ohne sich umzudrehen. »Pjotr, alle Piloten haben mindestens einmal in ihrem Leben irgendwas geschmuggelt. Das verstehe ich doch. Schnapp dir deine Sachen und lass uns gehen.«

»Darum geht es doch gar nicht!«

»Mach jetzt hin!«, blaffte Danilow. »Ich überprüfe die Fracht. Du sammelst deine Sachen zusammen.«

Wie hypnotisiert kletterte ich ins Cockpit.

Am Pult blinkten Lichter. Der zerquetschte Zylinder des Jumpers. Die Tomatenschlieren an den Scheiben der Kabine. Der offene Schrank, aus dem ein Beutel mit frischer Unterwäsche gefallen war.

Sicherheitshalber inspizierte ich alle Fächer des Schranks und den Kühlschrank.

Warum erstaunte es mich überhaupt nicht, dass der Zähler verschwunden war?

Klar, ich hatte unter Schock gestanden - nachdem ich in den Bus gerast war. Und klar, die Erleichterung nach den Worten des Fahrers war noch größer gewesen.

Aber warum hatte ich trotz allem den Zähler so schnell vergessen? Und zwar völlig?

Ich erinnerte mich noch an das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte. Seine bekrallte Pfote hatte mich flüchtig berührt ... jene Pfote, die so mühelos die Festplatte des Computers gelöscht hatte.

Ein Mensch ist kein Rechner. Aber spielte das für einen Zähler eine Rolle? Er hatte mich gezwungen, seine Existenz - wenn auch nur vorübergehend - zu vergessen! Und dann war er, während ich mit dem Busfahrer Wodka trank und chinesische Tomaten aß, abgehauen!

Selbstverständlich wusste ich genau, was ich jetzt zu tun hatte. Ich musste alles Danilow erzählen, damit er die Gegend absperrte. Eine Razzia ... Soldaten, Hunde, Hubschrauber, eine Mobilisierung der Bevölkerung vor Ort. Um den geschuppten Karel zu finden!

Nein, ich bin etwas naiv, das weiß ich selbst. Aber so weit reicht meine Naivität dann doch nicht ...

Wer würde mir denn glauben? In dem Schiff deutete bereits nichts mehr auf die Anwesenheit eines Aliens hin. Wahrscheinlich würde man bei mir sämtliche Hinweise auf eine Gehirnerschütterung und einen Schock feststellen. Pro forma würde man die Gegend durchkämmen - und natürlich niemanden finden. Der Zähler hatte wirklich alles bedacht! Inzwischen konnte er irgendwo im Boden vergraben oder durch irgendeine unvorstellbare Metamorphose das Aussehen eines Keilers, eines Baums oder eines Steins angenommen haben ... Vielleicht schoss er auch gerade die Straße entlang, mit einer Geschwindigkeit von dreihundert Stundenkilometern. Was wissen wir schon über die Außerirdischen? Vor allem über so seltene wie die Zähler?

Mir würden das Krankenhaus und die Entlassung aus dem Flugdienst winken. Für alle Fälle. Eine bescheidene Rente, Arbeit als Armeeausbilder in einer Schule oder als Ingenieur in einer Fabrik oder als Fahrer. Genau, ich würde Fernfahrer, wie Kolja, und finnischen Joghurt oder polnisches Büchsenfleisch transportieren und allen neuen Bekannten Märchen über ferne Welten erzählen.

»Hast du deine Sachen, Petja?« Danilows Hand legte sich mir sanft auf die Schulter. Ich fuhr zusammen.

»Ja-a, fast ...«

Unter seinem nachsichtigen Blick raffte ich meine Jacke und den Beutel mit den Andenken - ganz normales Zeug, bestimmt keine Schmuggelware! - zusammen. In alter Gewohnheit ging ich zum Pult und schaltete alle Systeme des Schiffs ab. Mit ihm würde sich die Bergungsmannschaft beschäftigen.

»Dein Vogel dürfte wohl kaum noch einmal in die Luft aufsteigen«, vermutete Danilow sachlich.

Ich schluckte und schaute mich in dem kleinen Cockpit um. Was auch immer geschehen war, zehn Flüge hatten wir zusammen gemacht ... ich hatte mich an das Schiff gewöhnt ...

»Nimm’s nicht so schwer. Du bist lange genug mit einem ›Latschen‹ geflogen. Ich werde dir helfen. Wenn du willst, kannst du auf meiner Buran als Co-Pilot mitfliegen.«

Der Vorschlag machte mich sprachlos. Danilow bot mir an, Mitglied in seiner Crew zu werden! Die die interessantesten und einträglichsten Routen flog!

»Gehen wir.« Der Oberst stupste mich leicht in Richtung Schleuse. »Der Hubschrauber wartet.«

Etwas hatte ich noch vergessen ...

»Gleich ...« Ich riss die Angelschnur ab, an der die Fellmaus über dem Pult baumelte, steckte das Plüschtier in die Tasche und linste verlegen zu Danilow rüber.

Aber er lachte mich nicht aus.


Als wir abflogen, rückten drei Planwagen mit Soldaten, zwei Pkws und ein Transportpanzer an. Danilow schickte ihnen einen freundlichen Blick hinterher.

»Wie sind die Pläne, Pilot?«, fragte er mich, das Dröhnen der Rotoren übertönend. »Sollen wir eine Pressekonferenz abhalten?«

Ich schüttelte den Kopf. Das hätte mir noch gefehlt, die ganze Welt anzulügen!

»Einverstanden«, stimmte mir Danilow zu. »Die können bis morgen warten ...«

Immer wieder hatte ich gehört, Danilow sei nicht nur der beste Pilot der Transaero und der Stolz der russischen Raumflotte. Mir war aber auch zu Ohren gekommen, er sei Mitarbeiter des Geheimdienstes und halte ein hübsches Aktienpaket der Fluggesellschaft. Vermutlich stimmte das - gar zu leichthin traf er seine Entscheidungen.

»Trink einen Schluck!« Danilow hielt mir eine Glasflasche hin. »Das ist echter Armagnac ... nach dem Fusel von dem Busfahrer ist mir immer noch kotzübel!«

Gehorsam trank ich einen Schluck von dem Brandy.

»War der Busfahrer betrunken?«, erkundigte sich Danilow sachlich. Ich verschluckte mich und zuckte die Achseln. »Gut, lassen wir das, wir bringen ihn nicht vor Gericht! Schließlich hat er dich gerettet!« Der Oberst machte eine wegwischende Handbewegung. »Wir werden ihm sein Vehikel bezahlen, ist eh nur Kleingeld!«

Der Hubschrauber folgte zunächst der Straße, drehte dann ab und flog auf kürzestem Weg Swobodny an. Ich stierte auf den kurz geschorenen Nacken des Piloten und ließ mir durch den Kopf gehen, wie glücklich ich jetzt eigentlich sein müsste.

Die Rückkehr von einer Geschäftsreise, die wundersame Landung, die Beförderung und ein Platz in Danilows Mannschaft ... Zeitungen und Fernsehen würden sich um mich reißen, der Präsident mir einen Orden verleihen ... Und wie sich mein Großvater freuen würde!

Ich stützte meinen Kopf in beide Hände und schaute auf die näher kommenden Gebäude des Kosmodroms. Unter uns erstreckten sich Lagerhallen und ein Schienennetz sowie dreckige, schwarze Teiche. Noch vor einer Stunde war ich über Swobodny hinweggeflogen, von meinem sicheren Tod überzeugt. Jetzt kehrte ich zurück, in mir drin jubilierte es jedoch nicht ...

»Ist alles in Ordnung, Pjotr?« Danilow beugte sich zu mir rüber. »Hast du vielleicht Kopfschmerzen? Oder wird dir schwarz vor Augen?«

Er ist ein anständiger Kerl, ohne Frage. Selbst wenn er für den Geheimdienst arbeitet.

»Es ist alles in Ordnung, Alexander Olegowitsch.«

Danilow nickte und hielt mir noch einmal die Flasche hin. »Ein letztes Schlückchen. Die Ärzte werden dich sowieso durchleuchten, Pjotr, denen entkommst du nicht ... genauer gesagt, sie sind schon da ...«

Der Hubschrauber ging tiefer. Auf dem Landeplatz standen tatsächlich zwei weiße Laster.

»Ich werde dafür sorgen, dass du im Hotel ein ordentliches Zimmer bekommst ...«, dachte Danilow laut.

»Das ist doch nicht nötig, Alexander Olegowitsch. Ich würde lieber nach Hause fahren«, bat ich.

Daraufhin sagte Danilow kein Wort, sondern sah mich nur neugierig an. »Gut«, brach er schließlich sein Schweigen. »Das verstehe ich, Pilot. Aber zunächst erwartet dich die Ärztekommission, anschließend ein Mittagessen. Danach bringen wir dich nach Chabarowsk. Die Abendmaschine nach Moskau erreichst du allemal.«

Vier

Die Ärzte quälten mich eine geschlagene Stunde, Röntgen, Analysen, Enzephalographie und, warum auch immer, Gastroskopie. Als sie mich endlich wieder freigaben, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, mich allzu früh über meine Rettung gefreut zu haben. Das Essen, das Danilow mir angekündigt hatte, stellte sich als kleines Bankett heraus, an dem auch der Leiter des Kosmodroms, General Kisseljow, und ein Dutzend Vertreter niederen Ranges teilnahmen. Die Journalisten, von denen sich Gerüchten zufolge schon rund fünfzig eingefunden hatten, ließ man glücklicherweise nicht zu dem Bankett zu. Dafür traf ich jedoch zwei Amerikaner von Delta, die letzte Nacht von Kerinnari-3 zurückgekehrt waren. Lächelnde, schlanke Menschen mit weißen Zähnen.

»Auf den Heldenmut der russischen Piloten!«, toastete der hagere Alte Kisseljow und stürzte das erste Gläschen hinunter. Die Amerikaner applaudierten. Ich kam nicht umhin, ebenfalls auf ex zu trinken.

Zwanzig Minuten später herrschte in dem kleinen Raum ein ausgelassenes Treiben. Alle hatten sich von ihren Stühlen erhoben, kleine Gruppen gebildet und diskutierten jetzt hitzig über dieses und jenes. Das gepflegte Bankett war zu einem typisch russischen Gelage mutiert. Entsetzt verfolgte ich die Fraternisierung und das Brüderschaftstrinken der amerikanischen Piloten und des russischen Generals. Die Offiziere kippten Wodka oder Kognak in sich hinein und aßen winzige Brotscheiben mit Kaviar oder Schinken dazu. Die Menschen im Raum schienen sich förmlich zu vermehren. Zigarettenrauch stieg zur Decke auf, in einer Schüssel mit Salat, aus der ich mir etwas auftun wollte, entdeckte ich sogar ein paar noch qualmende Kippen.

Für einen Moment löste sich Danilow aus dem Knäuel. Er schaute mich an, passte einen vorbeihuschenden Kellner ab - einen Soldaten in weißem Kittel - und erteilte ihm einen Befehl. Kurz darauf brachte der Soldat mir auf einem Tablett einen Teller Borschtsch.

»Iss nur«, forderte mich Danilow auf, der plötzlich hinter mir stand. »Und achte nicht auf die Leute um dich herum, sie haben sich heute Morgen reichlich Sorgen gemacht ...«

Als ob ich mir keine gemacht hätte!

Das tolle Treiben dauerte noch rund eine halbe Stunde. Ich kauerte mich am Tisch zusammen und wünschte aus tiefstem Herzen, kleiner zu sein. Rasch verschlang ich die Suppe. Einer der Amis näherte sich mir, erstrahlte und zog einen Photoapparat heraus, um ein paar Aufnahmen von mir zu machen. Dabei wählte er die Perspektive so, dass auch einige leere Wodkaflaschen mit ins Bild kamen. Innerlich explodierte ich schon, doch da schlängelte sich abermals Danilow aus der Menge, die inzwischen garantiert auf dreißig Leute angewachsen war, als hätte sich jeder Oberst verdoppelt und jeder General einen Ableger bekommen. Obwohl er nicht weniger als die anderen getrunken zu haben schien, wirkte er völlig nüchtern.

»Rechne mit deinem Portrait im Playboy oder dergleichen«, foppte Danilow mich. »Der russische Held bei der Erholung ... Petja, schlag dich zum Ausgang durch, ich komm gleich nach.«

»Aber was ist ...?«

»Es ist alles in Ordnung, deine Rolle als Ehrengast hast du hervorragend gespielt.« Danilow breitete die Arme aus. »Nur keine falsche Bescheidenheit. Und jetzt zum Ausgang!«

Ich stand auf und kämpfte mich mit verkrampftem Lächeln zum Ausgang durch. Am anderen Ende des Tischs klaubte ein kleinerer, schüchterner Major Schinkenscheiben und roten Fisch von den Broten und verfrachtete beides in eine Plastiktüte.

»Guten Tag, Petja«, begrüßte er mich ein wenig verlegen und streckte mir die Hand hin. »Ich bin Maxim. Maxim Hiller. Ich habe Sie vom Kontrollzentrum aus geleitet ...«

»Vielen Dank, Maxim«, erwiderte ich aufrichtig.

»Ich habe Katzen zu Hause«, erklärte Maxim. »Eine sehr seltene Rasse. Ohne Fell. Kennen Sie die?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich wollte ihnen eine kleine Freude machen ... Damit sie mal etwas Anständiges zwischen die Zähne bekommen, nicht immer bloß ihr Whiskas.«

»Dann nehmen Sie auch noch etwas Käse mit«, riet ich ihm.

Maxim nickte zufrieden. »Das mache ich, nach Käse sind sie nämlich ganz verrückt ...«

Ich quetschte mich an den Kellnern vorbei und schlüpfte ins Vorzimmer von Kisseljow. Den Eingang bewachten zwei Sergeanten mit MPis. Sobald sie mich erblickten, nahmen sie eine stramme Haltung an. Ich ließ mich auf den nächstbesten Stuhl plumpsen und rieb mir die Stirn.

Was für ein Albtraum!

Die Sergeanten mussten die reinsten Haltungswunder sein ...

»Finden hier häufig solche Banketts statt?«, wandte ich mich an die beiden.

Sie wechselten Blicke. »Eigentlich nicht«, antwortete einer der beiden Sergeanten dann mit gedämpfter Stimme. »Vielleicht zwei Mal pro Woche, Genosse Major ...«

»Sind Sie früher noch nie dabei gewesen?«, erkundigte sich der zweite und kühnere Wachtposten.

»Nein«, gestand ich.

... Normalerweise müsste ich mich nämlich jetzt um alle Formalitäten kümmern, was mich einen halben Tag kosten würde. Die Bestätigung für die Übergabe des Schiffs wollte unterzeichnet sein, man würde mir Tickets und Spesengeld für die Reise aushändigen, dann würde ich einen Hubschrauber oder einen Bus in die nächste Stadt mit Flughafen nehmen, um von dort nach Moskau zu fliegen. Gewiss, manchmal trank ich auch ein Gläschen Kognak mit dem Chef der Schicht im Kontrollzentrum oder ein Bierchen mit einem der Piloten ...

Die Tür ging, und Danilow kam ins Vorzimmer. Sofort standen die Sergeanten wieder stramm.

»Ach, hier bist du«, meinte der Oberst zufrieden. »Gut. Gehen wir. Übrigens habe ich Jonathan den Film versaut ...«

»Wirklich?«

»Ich habe mir den Apparat angeschaut und dabei rein zufällig die Rückwand geöffnet ...« Danilow grinste. »Komm jetzt, sonst verpasst du deinen Flieger.«

»Ich muss noch meine Sachen holen ...«

»Dann los!«

Die Rotoren des Hubschraubers kreisten bereits, als wir auf ihn zurannten. Daneben stand ein junger Leutnant, der mit einer Hand die zum Himmel hochstrebende Mütze runterdrückte und mir mit der anderen einen Aktenkoffer mit meinen Sachen entgegenhielt.

»Ich habe noch etwas dazugepackt«, bemerkte Danilow leichthin. »Keine Angst, es ist keine Bombe. Ein Geschenk für deinen Großvater. Ich hätte es ihm selbst gebracht, aber ich hänge hier noch einen Tag fest ... Leutnant, bringen Sie Chrumow direkt bis zum Flugzeug!«

»Zu Befehl!«

Danilow und ich umarmten uns, bevor ich in den Hubschrauber stieg. Der Leutnant folgte mir.

»Ich setze mich in ein paar Tagen mit dir in Verbindung!«, schrie Danilow. »Und grüß deinen Großvater von mir, Petja!«

Natürlich wunderte ich mich, aber es blieb mir keine Gelegenheit nachzufragen, woher Danilow meinen Großvater kannte. Der Hubschrauber stieg bereits in die Luft.

»Das schaffen wir schon«, bemerkte der Leutnant nach einem Blick auf seine Uhr. »Vermutlich ...«


Am Ende hätten wir es doch nicht geschafft, hätte der Transaero-Flug »Chabarowsk-Moskau« nicht eine halbe Stunde Verspätung gehabt. Kaum waren wir aus dem Hubschrauber gesprungen, schoss ein alter Wolga des Flughafens mit der blinkenden Aufschrift »Follow me« auf uns zu. Wir rasten über die Startbahn zur Boeing. Zu spät fiel mir auf, dass ich noch kein Ticket bekommen hatte.

Auf der Gangway standen zwei Stewardessen und der gedankenverloren rauchende Kommandant des Vogels. Der Leutnant führte Danilows Befehl absolut wortgetreu aus - und brachte mich direkt bis zur Gangway, reichte mir den Aktenkoffer und salutierte.

»Freut mich, Sie kennenzulernen!« Der Pilot streckte mir die Hand entgegen. »Ich bin Gennadi.«

Die Stewardessen lächelten und sahen mich mit unverhüllter Begeisterung an.

»Ganz meinerseits ...«, erwiderte ich verlegen. »Pjotr. Da ist etwas schiefgelaufen, mit meinem Ticket ...«

Der Kommandant brach in schallendes Gelächter aus, während er mich mit sich in die Boeing zog.

»Wenn du willst, komm ins Cockpit«, bot er an. »Bist du schon mal eine 707 geflogen? Das ist natürlich kein Raumschiff, aber ...«

»Vielen Dank, aber da lass ich lieber die Finger von.« Ich schüttelte den Kopf. Natürlich hätte es mir gefallen, mal eine Boeing in die Luft zu bringen - aber doch nicht mit Passagieren an Bord!

»Trotzdem, wenn du willst ...«

Man brachte mich in der halb leeren Business-Class unter. In der langweilten sich bereits ein paar Chinesen und Japaner in streng geschnittenen Geschäftsanzügen, ein paar alternde Damen mit gefärbtem Haar sowie einige junge Geschäftsleute in Anzügen aus »Wollbaumwolle« vom Planeten Kennari. Wie auf Befehl richteten sich alle Blicke auf mich. Nach einer Weile stimmten die Japaner ein leises Getschilpe an. Allenthalben flog ein Lächeln in meine Richtung.

Ich lächelte verkrampft zurück, verstaute den Aktenkoffer in der Gepäckablage und machte es mir in dem überbreiten Sitz neben einem dösenden Mann - allem Anschein nach ein Staatsdiener - bequem. Irgendwann schloss ich die Augen und spielte den Schlafenden.

Über mir knisterte es, darauf erklang Gennadis Stimme. »Verehrte Passagiere, die Linie Transaero entschuldigt sich für die aufgrund technischer Probleme eingetretene Verzögerung des Abflugs ...«

Ich rückte ein wenig hin und her, um es mir bequemer zu machen. Eine Stewardess huschte durch den Gang und flüsterte den Passagieren höflich etwas zu. Sie blieb kurz neben mir stehen, legte mir den Gurt an und eilte weiter. Die Boeing zuckelte zum Start.

»Es ist mir ein Vergnügen, an Bord unseres Flugzeugs heute den tapferen Kosmonauten Pjotr Chrumow zu begrüßen, dessen Heldenmut Tausenden von Menschen das Leben gerettet hat ...«, fuhr der Kommandant inzwischen fort. Sämtliche Passagiere der Business-Class spendeten bereitwillig Beifall. Also musste ich die Augen öffnen und noch ein wenig mehr von meinem Lächeln stiften.

Doch die Bürde des Ruhms brauchte ich nicht lange zu tragen. Die Boeing gewann an Tempo, hob schwerfällig ab und beschrieb langsam eine Kurve. Die Passagiere erstarrten in ihren Sitzen und blickten tapfer geradeaus. Ich spähte zum Fenster hinaus auf das Feld des Flughafens, das sich unter uns gleichsam auf die Hinterbeine zu stellen schien, atmete tief durch und entspannte mich.

Bald würde ich zu Hause sein.

Und wenn auch niemandem sonst - aber meinem Großvater müsste ich alles erzählen.

Ein Schauder rieselte mir über den Rücken.


Wie groß ist dieses Land, meine Heimat!

Selbst wenn man in einem amerikanischen Überschallflugzeug darüber hinwegfliegt.

Der Flug dauerte fast sechs Stunden. In der Zeit schlief ich mich aus, einmal aß ich sogar etwas, nachdem mich die zärtliche Stimme der Stewardess geweckt hatte. Es könnte alles so schön sein ... wenn jetzt nicht ein Zähler durch die Lande spazierte. Ein Alien. Ein trickreicher und hinterhältiger Feind, den ich selbst in meine Heimat eingeschmuggelt hatte.

Was hatte ich da bloß angestellt ...?

Im Halbschlaf träumte ich krudes Zeug zusammen. Ein Reptiloid kroch, behängt mit Patronengürteln, über den Kamm eines Staudamms. Seine kleinen Augen funkelten hämisch. Er bereitete alles für einen Terroranschlag vor.

In der Ferne erhoben sich die Antennen der Kommandozentrale der Weltraumsicherheit. Gleich würde der Zähler ein Kraftwerk in die Luft sprengen, die Antennen würden versagen, die ihrer Verteidigung beraubte Erde an die Außerirdischen fallen ...

Vermutlich hatte ich in meiner Kindheit zu viele Spionageromane gelesen. Mein Großvater hatte ein ganzes Zimmer voller Schränke mit Krimis und Actionromanen. Er las diese Bücher übrigens nicht bloß, sondern arbeitete sie regelrecht durch, machte sich mit dem Laptop auf den Knien Notizen ...

»Unsere Maschine setzt zur Landung im Flughafen Scheremetjewoi an. Bitte legen Sie den Gurt an, stellen Sie das Rauchen ein und bereiten Sie sich auf die Landung vor ...«

In Moskau dämmerte es gerade erst. Die Boeing landete und rollte zum Terminal. Meine Nachbarn packten geschäftig ihre Sachen zusammen, hüllten ihre in teuren Anzügen steckenden Körper in nicht minder exquisite Mäntel und Jacken. Eine ältere Dame bedachte mich mit einem rätselhaften Blick, mein schlaftrunkener Sitznachbar bewegte den Kopf hin und her und guckte mich an, als suche er nach einer Erklärung, wie er plötzlich zu einem Nachbarn kam.

»Pjotr ...« Der Kommandant kam aus dem Cockpit. »Ich habe gehört, da würden schon Reporter lauern. Wie stehst du dazu?«

Anscheinend stand die Antwort klar in meinem Gesicht geschrieben.

»Komm mit.«

Zusammen mit dem Kommandanten und einer der Stewardessen verließ ich das Flugzeug. Wir gingen über das Feld zum Personaleingang. Die Luft war feucht und schwer, wie vor einem Regenschauer.

»Wo musst du hin?«, erkundigte sich der Kommandant.

»Nach Hause.«

»Ins Sternenstädtchen?«

»Nein, einfach nach Hause. Zu meinem Großvater, nach Peredelkino.«

»Holt dich jemand ab?«

»Nur die Journalisten.«

»Also ... schön. Mach’s gut. Wenn du noch mal mit uns fliegst, schau im Cockpit vorbei.«

Ich nickte dem Flieger zu und schüttelte ihm die Hand.

»Vielleicht werde ich ja auch irgendwann ...« Der Kommandant lächelte verlegen. »Ich habe einen Antrag auf Aufnahme in die Kosmosgruppe eingereicht.«

»Aber die nimmt doch nur Militärpiloten«, gab ich vorsichtig zu bedenken.

»Die Zeiten sind vorbei. Vor einer Woche haben sie erklärt, jetzt könnten sich alle melden.«

Interessant ...

»Wie ist es da? Bei den Sternen?«, fragte der Pilot. Völlig ernst, ohne jede Ironie.

Ich schaute zur Halle des Flughafens rüber, auf die kreuz und quer kurvenden Busse, auf die einer Perlenkette gleichende Landebahnfeuerung. »Also eigentlich ...«

Damit betraten wir die Halle.

Nach Hause zu kommen ist schön. Selbst die Sehnsucht nach der Euphorie des Jumps gibt dich dann frei. Ich betrat die Flughafenhalle durch die Personaltür, sah mich um und durchquerte sie. Es wimmelte von Menschen, solchen, die abflogen, und solchen, die in der ehemaligen Hauptstadt Russlands ankamen, es funkelten die Schaufenster. Hier scherte sich niemand um einen Kosmonauten, der sich noch vor vierundzwanzig Stunden in der interstellaren Leere herumgetrieben hatte.

Mir sollte das nur recht sein.

Ich hatte mich bereits für ein Taxi entschieden, als ich kurz vorm Ausgang einen Schrei hörte: »Pjotr! Chrumow!«

Der Kommandant der Boeing holte mich ein. »Mist!« Schnaufend blieb er stehen. »Verdammt! Beinahe wärst du mir entwischt.«

»Was ist passiert?«

»Ein Wagen wartet auf dich. Das hätte mich den Kopf kosten können.«

»Wieso das?«

Der Pilot brachte seine Verärgerung lediglich mit einer unwirschen Geste zum Ausdruck. Sobald wir die Halle verließen, empfingen uns schmeichlerische Stimmen: »Spottbillig ... Wohin wollt ihr, Leute? ... Zum Stadtzentrum? ...«

Gennadi bleckte die Zähne in Richtung der Taxifahrer. »Gestern haben sie einen von unseren Leuten ausgeraubt«, erklärte er mir. »Der hatte sich auch ... einfach ins erstbeste Taxi gesetzt. Sie haben ihn zusammengeschlagen und alles mitgehen lassen. letzt hat die Gesellschaft den Befehl ausgegeben, dass wir vom Flughafen einen Dienstwagen nehmen.«

»Und wen hat es erwischt?«

»Keine Ahnung. Aber dir wird man es bestimmt sagen.«

Wir steuerten den Parkplatz für die Dienstwagen an. Gennadi sah sich um. »Da drüben«, rief er aus. »Der graue Volvo. Verdammt, wenn ich dich nicht eingeholt hätte ...«

Ich fuhr relativ häufig mit einem Dienstwagen. Aber früher war es nicht verboten gewesen, eigene Wege zu gehen.

Irgendwie wollte mir nicht in den Kopf, wie man einen Kosmonauten zusammenschlagen und ausrauben konnte. Einen von denjenigen, die der Erde ihren Platz in der Galaxis sichern.

»Viel Glück, Pjotr ...« Der Pilot drückte mir die Hand. »Du bist schon in Ordnung ...«

»Aber?«, fragte ich.

»Was?«, fragte Gennadi irritiert.

»Du bist schon in Ordnung, aber ...«

»Stimmt«, sagte der Pilot, »wahrscheinlich hast du recht. Du bist in Ordnung, aber etwas zu korrekt. Und zu ernst. Also, viel Glück.«

Ich nahm auf dem Rücksitz Platz. Auf dem Beifahrersitz saß ein mürrischer Wachmann vom Sicherheitsdienst der Transaero.

»Chrumow?«, erkundigte sich der Fahrer.

»Ja. Wartet ihr auf mich?«

»Hmm. Wir stehen hier schon seit über einer Stunde. Der Flug hatte Verspätung. Wohin willst du?«

»Nach Peredelkino.«

»Ach ja«, sagte der Fahrer. »Da hab ich dich schon mal hingefahren, weißt du noch?«

Sicherheitshalber nickte ich.

»Die Gauner werden immer unverschämter«, knurrte der Fahrer. Der Wagen schoss vom Parkplatz runter und bog rasant in die Straße ein. »Jetzt müssen wir alle unsere Leute von hier wegbringen.«

Vielleicht eine Minute lang hörte ich mir seine Meinung über das private Kutschiergewerbe an, über die Auswüchse der Kriminalität sowie die üblichen Versprechen seitens des Bürgermeisters Poljankin, ihrer Herr zu werden, dann schlief ich ein, ohne es zu merken.

Als wir zur legendären Datschensiedlung kamen, war es bereits völlig dunkel. Der Fahrer weckte mich, ich zeigte dem Sicherheitsmann an der Einfahrt zur Siedlung meine Papiere. Es war Abend, bereits der zweite Abend, aber weil ich inzwischen geschlafen hatte, meinte ich, der Tag habe sich auf wenige Stunden verdichtet.

»Jetzt nach rechts«, instruierte ich ihn. »An Pasternaks Datscha biegen Sie ab ...«

»Welche ist das?«

»Die da ...«

Der Fahrer legte sich meisterlich in die Kurve. »Pasternak?«, fragte er dann. »Ist das auch einer von uns?«

Ich verschluckte mich und wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.

»Ach nein, der hieß ja Paterny oder so ...«, überlegte der Fahrer laut. »Nein, jetzt hab ich’s! Das ist doch so ein Schriftsteller, oder?«

»Ja«, erwiderte ich kraftlos. »Ein Schriftsteller. Ein Dichter. Ein ziemlich berühmter ...«

Zufrieden ob seiner Bildung fing der Fahrer an, leise vor sich hinzupfeifen. Der steinerne Nacken des Wachmannes zitterte. »Berühmt zu sein gehört sich nicht«, gab er mit überraschend weicher Stimme von sich.

Sie sind schon seltsam, diese zufälligen Begegnungen. Das Auto hielt vor der Datscha meines Großvaters. Beim Aussteigen versuchte ich, das Gesicht des Wachmannes zu erkennen, was mir jedoch nicht glückte, dazu war es einfach zu dunkel im Wagen.

»Vielen Dank, Kollegen«, verabschiedete ich mich. Der Volvo fuhr leicht heulend davon.

Ich blieb zurück, allein mit dem Haus.

Nein, es entspräche nicht der Wahrheit, wollte ich behaupten, ich würde mich vor meinem Großvater fürchten. Selbst als Kind hatte ich keine Angst vor ihm gekannt. Angst hat man normalerweise vor dem Vater - was ja auch gar nicht verkehrt ist. Nur hatte ich nie erfahren, was eine zärtliche Mutter, was ein strenger Vater ist.

Meine Eltern waren tödlich verunglückt. Ich war damals zwei Jahre alt gewesen. Ein Flugzeugabsturz, mit einer dieser dämlichen Tupolews, einer Tu-154. Diesen Typ hätte man schon in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts aus dem Verkehr ziehen sollen. Infolgedessen hatte mich mein Großvater erzogen ... falls man das Erziehung nennen durfte.

Ich trippelte vor der Pforte auf und ab. Sie war nicht abgeschlossen, schließlich wurde die ganze Siedlung in Peredelkino hervorragend bewacht.

Gut, es half nichts, ich musste Rede und Antwort stehen.

Ich stieß die Pforte auf und betrat den Garten. Die Fenster der Datscha schimmerten durch die Bäume hindurch, schwach in der Diele im Parterre, heller im ersten Stock, im Zimmer meines Großvaters.

Erst unmittelbar vor dem Haus schoss hinter den Bäumen ein lautloser schwarzer Schatten hervor und stürzte sich auf mich. Ich blieb stehen und ließ mich von Tyrann beschnuppern.

»Na?«, fragte ich. »Erkennst du mich denn nicht?«

Ein kaukasischer Schäferhund ist ein sich seiner Wichtigkeit bewusster Hund. Folglich inspizierte Tyrann erst fünf Sekunden lang meine Hosen, bevor er sich auf dem Weg hinlegte. Er verlangte Aufmerksamkeit, der durchtriebene Kerl. Ich weiß nicht warum, aber in den ganzen vier Jahren seines Hundelebens hatte er es nicht gelernt, mich als Herrchen anzuerkennen. Eher sah er in mir einen Spielgefährten, mitunter auch ein Instrument des Bauchkraulens. Zumindest las ich in diesem Moment Letzteres in seinen Augen.

»O nein, mein Junge, da hast du dich verrechnet.« Ich stieg über den Hund hinweg, holte den Schlüssel heraus und schloss auf. Tyrann gab unter Aufbietung aller Kräfte vor, nicht enttäuscht zu sein und sich aus purem Ruhebedürfnis auf den Weg gelegt zu haben.

Ich trat ins Haus ein und schloss hinter mir wieder sorgfältig ab. Ein Wachschutz ist schön und gut, der Hund im Garten bekam sein Pedigree auch nicht umsonst -aber ein Schloss war nun mal der zuverlässigste Schutz.

»Bist du müde, Petja?«

Wie angewurzelt verharrte ich in der Diele und schielte nach oben, die hölzerne Wendeltreppe hinauf. Die brüchige Greisenstimme kam aus seinem Zimmer. Mein Großvater musste die Tür offen gelassen haben, damit er hörte, wann ich heimkam.

»Nein, Großpapa!«

»Dann komm rauf.«

Mit einem Anflug von Sehnsucht schaute ich auf meine Zimmertür. Könnte ich doch jetzt in mein Bett schlüpfen, das zwar schon ein wenig durchgelegen war und quietschte, mir dadurch jedoch nur umso vertrauter war ... Ich würde eine CD mit Meeresbrandung abspielen ... oder nein, ich würde das Fenster aufreißen und dem Rauschen im Garten lauschen ...

»Pjotr Danilowitsch!«, brüllte mein Großvater.

»Ich komme!« Ich hechtete die Treppe hoch.

Die Stufen waren recht flach, vermutlich damit die altersschwachen Schriftsteller die russische Literatur nicht um ihren Reichtum brachten, indem sie die Treppe runterstürzten. Ich beschrieb einen ganzen Kreis auf der Wendeltreppe, bevor ich den ersten Stock erreichte. Die Tür zum Zimmer meines Großvaters stand offen, von den anderen Räumen, die längst und zuverlässig verschlossen waren, wehten förmlich Dunkelheit und Einsamkeit herüber. Und düster war es hier ... Wie überstand mein Großvater wohl die Zeit ohne mich?

Andrej Valentinowitsch Chrumow, einst von Beruf Psychologe und Publizist, seinerzeit Teilnehmer an den Verhandlungen zwischen der Erde und dem galaktischen Konklave, der Mann, den man den Himmler des Weltraumzeitalters genannt hatte, ein dicker siebzigjähriger Greis, mein Großvater ...

Er saß in einem alten Ledersessel, der früher mal hellbraun gewesen, inzwischen aber bis ins Falbe ausgeblichen war und den Ton der silbergrauen Haare meines Großvaters zeigte. Schweigend sah er mich an. Auf dem Tisch leuchtete der Schirm seines Laptops, aus der Ecke des Raums, die dem klapprigen Bücherregal gehörte, brummte der laufende Fernseher.

»Was gibt’s denn, Großpapa?«, fragte ich leise.

Mein Großvater stemmte sich langsam hoch, kam auf mich zu und schloss mich in die Arme. Ich überragte ihn um einen Kopf, fühlte mich jetzt aber wieder wie ein kleiner Junge.

»Du Tausendsassa ...«, flüsterte mein Großvater. »Petka ... Bengel ... die haben zunächst durchgegeben, du seist verunglückt ...«

»Wirklich?« Entsetzen packte mich. Wenn ich mir vorstellte, was mein Großvater durchgemacht hatte!

»Es hieß, du habest das Schiff von der Stadt weggelenkt und seist zerschnellt ...«

»Und das hast du geglaubt?«

Mein Großvater trat um die Länge eines ausgestreckten Arms von mir weg. Er blickte mir fest in die Augen. »Ob ich es geglaubt habe? Natürlich. Wäre das nicht typisch für dich gewesen?«

Ich erwiderte kein Wort.

»Eine halbe Stunde lang habe ich auf neue Nachrichten gewartet. Gott und die Welt habe ich angerufen. Dann kam durch, dass das Schiff auf einer Straße notgelandet ist.«

Mein Großvater stieß ein leises, hüstelndes Lachen aus.

»Da habe ich mich wieder beruhigt. Dass du bei dem Versuch, Menschenleben zu retten, verunglückst, das hätte durchaus stimmen können. Aber bei einer Notlandung? Niemals!«

»Warum das denn nicht?«

»Darum nicht!«, blaffte mein Großvater, der damit wieder in seinen üblichen Ton wechselte. »Haben dich die Ärzte durchgecheckt?«

»Selbstverständlich!«

»Gehirnerschütterung, Quetschungen, Knochenbrüche?«

»Dann wäre ich jetzt nicht hier! Nein.«

Mit einem Nicken schlurfte mein Großvater zum Sessel. Ich nahm auf dem harten Wiener Stuhl in der Zimmerecke Platz. Schon in meiner Kindheit hatte ich gern hier gesessen, um still zu beobachten, wie mein Großvater arbeitete. Ab und an hatte er mir erlaubt, meinen Laptop mit herzubringen, den ich auf den Rand des Tischs stellte, um dort meine Hausaufgaben zu erledigen, während er arbeitete. Wenn er in guter Laune war, verbanden wir gegen Abend unsere Notebooks und spielten ein Strategiespiel ...

»Dann erzähl mal«, forderte mich mein Großvater auf, während er es sich im Sessel bequem machte. »Nein ... warte noch.«

Leicht verlegen wich er meinem Blick aus und entnahm einer Schublade seines Schreibtischs einen gewaltigen Kristallaschenbecher, Streichhölzer, eine Pfeife und einen Tabakbeutel. Schon vorhin, beim Betreten des Raums, war mir aufgefallen, dass mein Großvater heute Abend geraucht hatte. Ich hatte ihm jedoch keinen Vorwurf gemacht.

Aber dass er sich in meiner Anwesenheit den Organismus vergiftete, das war lange nicht vorgekommen.

»Bei der Berechnung der Landeflugbahn ...«, setzte ich an, während ich Hilfe heischend auf das Photo an der Wand starrte. Es zeigte meine Mutter, meinen Vater und mich. Ich war damals noch ganz klein, ein Knirps mit hellblonden Locken und einem naiven, beleidigten Gesicht.

»Halt«, unterbrach mich mein Großvater, nachdem er sich seine Pfeife angezündet hatte. »Die Details deiner Landung interessieren mich nicht. Ich will wissen, was auf Hyxi passiert ist.«

Also kein Präludium.

Aber was hätte ich von meinem Großvater anderes erwarten sollen?

»Ich habe die Fracht aufgenommen ... Kortrison ...«

»Petja, mein Junge ... mich interessiert vor allem eins: wer? Die Alari, die Zähler oder die Cualcua? Sprich ganz offen, hier kann uns niemand hören.«

»Die Zähler ...«, hauchte ich.

Mein Großvater blies weißen, eher nach Kräutern als nach Tabak riechenden Rauch an die Decke.

»Ich hätte auf die Alari getippt«, bemerkte er. »Sie haben mit der Sache definitiv nichts zu tun?«

»Ich weiß es nicht ...«, gab ich völlig verwirrt zu. »Sieht so aus, als ob nicht.«

»Petja, wozu habe ich dir beigebracht, dass eine Verneinung niemals eine ausreichende Information darstellt?«

»Eventuell haben sie was damit zu tun.«

»Gut. Und jetzt erzähl alles der Reihe nach.«

»Hyxi. Die Kortrison-Ladung. Ein normaler Start. Beim Eintritt in den Orbit kam mir ein Raumkreuzer entgegen ... ein Kreuzer der Alari ...«

Mein Großvater lächelte selbstzufrieden.

Ich gab alle Versuche, etwas von den Ereignissen zu begreifen, auf, und erzählte schlicht, was mir passiert war. Kurz und knapp, solange es um die Vorgeschichte ging, und detailliert, kaum dass der Zähler die Bühne betreten hatte - falls die winzige Kabine der Spiral als Bühne bezeichnet werden durfte.

»Vorzüglich«, urteilte mein Großvater. »Das ist besser als erwartet.«

»Ich verstehe wirklich nur Bahnhof«, gab ich zu.

»Was begreifst du denn nicht?«

»Was haben die Alari damit zu tun?«

»Was hat dich daran gehindert, vor dem Jump die nötige Kontrolle des Schiffs vorzunehmen?«

»Der Kreuzer ...«

»Na, siehst du. Die Folge deines Notjumps war zum einen, dass du den Zähler zunächst nicht bemerkt hast, zum anderen, dass du deinen Sprung mit einer schlecht berechneten Flugbahn angetreten hast. Das wiederum zwang dich, die Hilfe des Aliens zu akzeptieren.«

»Du meinst, das war alles so geplant? Er hat mich also angelogen?« Ich wunderte mich nicht einmal darüber.

»Was heißt angelogen!«, entgegnete mein Großvater. »Er hat dir lediglich bloß einen Teil der Wahrheit mitgeteilt. An der Operation, auf die Erde vorzudringen, nehmen nicht nur diese lebenden Computer teil, sondern auch noch die kriegerischen Nager.«

»Aber was versprechen sie sich davon?«

»Dich beeindruckt ein Umstand, der allen Kosmonauten bekannt ist, Petja: Die Alari haben die stärksten Kriegsschiffe im Konklave. Aber kommt es dir nicht komisch vor, dass die Alari gezwungen sind, eine solch monströs große und destruktive Flotte zu unterhalten? Nein, Petja, auch sie sitzen in der Falle. Genau wie wir oder die Zähler. Sie sind die Kampfgarde des Konklave. Diese Rolle mag einen Teil der Rasse zufriedenstellen, aber niemals alle Alari. Wenn sie von Natur aus kriegerisch wären, hätten sie einander längst ausgerottet oder sich mit allen anderen Außerirdischen angelegt.«

Mein Großvater hustete, klopfte die Pfeife aus und stopfte sie erneut.

»Damit haben wir es mit einer klassischen Situation zu tun«, meinte er genüsslich. »Wir haben mindestens drei Rassen im Kosmos, denen der gegenwärtige Stand der Dinge missfällt. Drei Rassen, die sich ausgenutzt, versklavt und in eine ihnen missliebige Rolle gedrängt fühlen. Wenn du wüsstest, wie lange ich auf diesen Augenblick gewartet habe!«

»Aber was ist mit dem Zähler? Wie wollen wir ihn finden?«

»Ihn finden? Wozu? Er wird uns schon zu finden wissen. Genauer gesagt mich.«

Wenn ich eins bei meinem Großvater noch nicht bemerkt hatte, dann war das Größenwahn.

»Großvater, du bist weder der Generalsekretär der UNO noch der Präsident Russlands ...«

»Wer braucht denn schon derlei Funktionen?«, schnaubte mein Großvater verächtlich. »Glaubst du, ich würde diesen Sessel gegen den Stuhl von M’bani Montenebo oder Alexej Schipunow tauschen? Pah!«

»Und du glaubst wirklich, der Zähler kommt zu dir?«

»Selbstverständlich! Wie heißt er? Karel? Karel Gott ...« Mein Großvater schüttelte sich vor Lachen. Mir hingegen war absolut schleierhaft, warum er den Zähler als Gott bezeichnete.

»Großpapa ...«, jammerte ich, etwa in dem Ton, den ich angeschlagen hatte, wenn ich als Junge an einer. Aufgabe in Differentialrechnung scheiterte oder partout nicht hinter die Paragraphen des Galaktischen Kodex stieg, mit all den verschwiemelten Kommentaren und dem Gewirr aus Querverweisen ...

»Petja! Du bist müde! Du musst jetzt schlafen. Und ich muss nachdenken.«

Ich erhob mich. Wenn mein Großvater mich ins Bett schickte, war jeder Widerspruch zwecklos. Das hatte ich bereits als Kind begriffen.

»Dann ... bist du mir also nicht böse?«, fragte ich trotzdem noch. »Du hältst mich nicht für einen Verräter?«

Mein Großvater legte die Pfeife ab und schaute mich verblüfft an. »Petja! Du hast dich hervorragend geschlagen! Du hast genau das getan, was notwendig war! Wenn es für Erziehung einen Nobelpreis gäbe, wäre ich ein sicherer Anwärter.«

Daraufhin trat ich eiligst den Rückzug an. Mein Großvater hat nicht viele Schwächen, doch sobald die Rede auf den Nobelpreis kam, gab ich besser Fersengeld. Andernfalls müsste ich mir ein weiteres Mal die Geschichte anhören, wie mein Großvater den Preis nicht bekommen hatte - und zwar einzig und allein wegen der Feigheit der Beamten, die nicht den Mumm hatten, die Auszeichnung dem verdienten Autor des Manifests der Verdammten und der Einführung in die Psychologie der Nicht-Menschen zuzusprechen.


Endlich konnte ich mich ausschlafen. In meinem eigenen Bett, unter dem Rauschen des einsetzenden Regens, das durchs offene Fenster drang. Und vor allem: entlastet durch die Worte meines Großvaters. Wenn er der Ansicht war, ich hätte mir nichts zuschulden kommen lassen, als ich den Zähler mit zur Erde gebracht hatte, dann war alles in Ordnung.

Ich wachte erst spät auf. Vorm Himmel hatte sich eine dichte Wolkendecke zusammengezogen. Es regnete, draußen, irgendwo unter der Vortreppe, winselte Tyrann leise vor sich hin. Er hatte dort eine richtige Höhle, aber anscheinend zog es den Hund gegenwärtig in die menschliche Behausung. Ich stand auf, rieb mir die Augen, ging in die Diele, ließ den Hund rein und legte mich noch einmal hin. Der Schlaf wollte sich jedoch nicht wieder einstellen.

Irgendwann schaltete ich den Fernseher an, lümmelte mich im Bett und hörte mir die neuesten Nachrichten an, die vor einer Stunde aufgezeichnet worden waren.

Eine nie dagewesene reiche Ernte im Nicht-Schwarzerde-Gürtel wurde vermeldet, die man gar nicht einbringen könnte, ein Zollstreit mit Großchina, ein Auftritt des US-amerikanischen Präsidenten Murphy ... Schließlich berichtete man auch noch einmal über mich. Dazu lief eine Computeranimation, mit der die Landung der Spiral veranschaulicht wurde. Ein mir nicht bekannter Spezialist von Roskosmos legte verschiedene Versionen zu den Gründen der unvorhergesehenen Landung dar. Im Anschluss daran wurde ein landendes Shuttle gezeigt, keine Spiral, sondern eine Buran, aber welcher Fernsehzuschauer würde das schon in den drei Sekunden mitkriegen? Dann kam ich ins Bild, wie ich mit dem Fahrer des schrottreifen Ikarus einen lüpfte. Man lobte mich, sogar recht stark. Ich wurde rot und löschte die Aufzeichnung der Nachrichten aus dem Speicher des Fernsehers.

Heute durfte ich vermutlich noch zu Hause bleiben. Die Fluggesellschaft zeigte sich in solchen Situation durchaus großzügig. Morgen würde allerdings die Untersuchung bei Transaero und Roskosmos eingeleitet, dann müsste ich Interviews geben und den Kollegen meine wundersame Rettung erklären ...

Entzückende Aussichten ...

Ich ging aufs Klo und wusch mich, begab mich dann nach oben, aber im Zimmer meines Großvaters herrschte Stille. Daraufhin machte ich mir in der Küche ein paar belegte Brote zurecht, schnappte mir den Teekessel und zog mich in mein Zimmer zurück. Auf dem Tisch lag ein Buch meines Großvaters, Ein Platz unter den Sternen. Zunächst beachtete ich es nicht weiter, bis mir jedoch auffiel, dass das Titelbild etwas anders war. Außerdem fanden sich darin mehr Namen galaktischer Rassen, eingetragen in blutroter Schrift auf schwarzem »kosmischen« Untergrund. Also eine Neuauflage, ergänzt und überarbeitet, ganz wie es sich gehörte.

Ich setzte mich ans Fenster, biss in ein Brot und blätterte das Buch durch. Im Wesentlichen schien alles wie gehabt. Die drei »Postulate Chrumows«, hämischer Spott an die Adresse amerikanischer Astrophysiker und des begeisterten Kontaktaufnehmers Mulder, kurze und unbarmherzig böse Charakteristiken aller den Menschen bekannten Rassen im Kosmos. Ich schlug die Artikel zu den Zählern und den Alari auf.

Seltsam, aber über diese beiden Rassen hatte mein Großvater nahezu hasserfüllt geschrieben! Wollte ich dem Text glauben, handelte es sich bei eben diesen zwei Rassen um unsere Erzfeinde, genauer gesagt: um unsere erbittertsten Konkurrenten ...

Ich schlug das Vorwort auf und las:

»Die galaktische Familie - das ist nicht nur ein Allgemeinplatz. Wir fassen die neun Starken Rassen des Kosmos, die nun bereits seit rund tausend Jahren zusammenleben, völlig zu Recht als Familie auf. Es stellt sich lediglich die Frage, welche Rolle innerhalb dieser Familie die jungen und Schwachen Rassen einnehmen, die Alari, die Menschheit, die Zähler, die Cualcua, die Blinker, die Jentsh, die Unaussprechlichen und die Stäubler. Diese Liste ließe sich verlängern, übersteigt die Zahl der Schwachen Rassen die der Starken doch um ein Vielfaches. Die Unterschiede zwischen den Starken und den Schwachen erschließen sich freilich nicht auf den ersten Blick. Die Schiffe der Alari sind weitaus stärker als die Flotte der Daenlo. Die Zähler sind fraglos intelligentere Wesen als die Hyxoiden. Alle Rassen indes, die wir zu den Schwachen zählen, weisen ein unauslöschliches Stigma auf: ihre enge Spezialisierung.

Welche Rolle spielen nun wir in jener galaktischen Familie? Sind wir Kinder oder Stiefkinder?

Betrachten wir die Gesellschaft der Menschen einmal näher, ließe sich folgende Analogie festhalten: Eltern haben das Recht, ihre Kinder so zu erziehen, wie sie es für aussichtsreich erachten. Wir helfen einem Jungen mit absolutem Gehör, Musiker zu werden, während ein Mädchen mit außerordentlicher Gelenkigkeit auf eine Karriere als Ballerina hoffen darf. Wir haben das Recht dazu, denn es sind unsere Kinder, und für gewöhnlich erkennen wir besser, welcher Weg ihnen in ihrem Leben größeren Erfolg beschert.

Die Starken Rassen sind indes nicht unsere Eltern. Und die Rolle der kosmischen Fuhrleute, die uns vor zwei Jahrzehnten aufgezwungen worden ist, verkörpert nicht den Traum der Menschheit.

Wie urteilen wir über eine Menschenfamilie, die hilflose Kinder aufnimmt, um sie zu erziehen, sich dabei jedoch ausschließlich von ihren eigenen Bedürfnissen leiten lässt? Wie stehen wir zu Menschen, die einen physisch kräftigen Jungen zu einem Holzfäller heranziehen, einen wendigen und schlanken zum Schornsteinfeger -ohne ihm dabei eine Chance zu lassen, seinen eigenen Weg im Leben zu wählen? Flexibilität und Universalität bildeten stets die Grundlage der menschlichen Zivilisation, und dies nicht allein auf gesellschaftlicher Ebene, sondern auch auf individueller. Nun jedoch finden wir uns ins Prokrustesbett eingepasst. Noch leben Menschen, welche sich diese oktroyierte Zukunft wahrlich nicht erträumt haben. Doch binnen ein, zwei Generationen schon wird der Prozess irreversibel sein. Dann wird in der Psyche der Menschen auf lange Sicht - wenn nicht gar für immer - die ihnen von den Starken Rassen vorgeschriebene Rolle fest verankert sein ...«

Ich schlug das Buch zu und legte es beiseite. Ich lauschte. Richtig! Im ersten Stock waren Geräusche zu hören. Mein Großvater war aufgewacht.

Er liebte es, mit Vergleichen zu arbeiten. Dabei hatte er mir immer gepredigt: »Traue Vergleichen nicht! Traue den verlogenen Analogien nicht! Sie geben dir einzig über die Persönlichkeit des Autors Auskunft, niemals jedoch über den Kern der Sache!« Er selbst mied sie allerdings nicht. Zumindest nicht in populären Werken wie dem Platz unter den Sternen.

»Petja!«, erschallte es von oben. »Bist du schon wach?«

Als ich ins Zimmer meines Großvaters hinaufging, beendete er gerade ein Telefonat. »Ja, Maschenka ... Vielen Dank, mein Schatz. Johanniskraut? Natürlich, das bring mit! Niemand kennt sich mit Kräutern so aus wie du ... Vergiss auch Oregano nicht. Und Schierling ...«

Mein Großvater äugte leicht verärgert zu mir rüber, fast als hätte er nicht damit gerechnet, mich so schnell, noch vor dem Ende seines Gesprächs, zu sehen. Er nickte in Richtung Stuhl. »Immortellen hast du keine gesammelt?«, fuhr er fort. »Schade ... Aber doch wenigstens Passionsblumen? Mein Augenstern ... Was täte ich bloß ohne dich? Die Passionsblumen werden sich bestimmt gut machen. Hast du schon alles eingepackt? Dann warte ich auf dich. Und ich stelle dir endlich Petja vor. Er sitzt gerade neben mir. Also, bis später.«

Was für ein seltsames Gespräch. Mein Großvater sprach mit dieser mir unbekannten Mascha wie mit seiner Lieblingsenkelin. Nur dass ich keine Schwestern hatte, nicht mal Cousinen.

Außerdem hatte er sich nie mit Heilkräutern beschäftigt, desgleichen machte er sich nichts aus Blumen. Folglich musste es ein verschlüsseltes Gespräch gewesen sein, voller Codewörter, die nur die beiden verstanden. Gerade der letzte Hinweis, ich halte mich im Zimmer auf, hatte mich stutzig gemacht. Als wollte mein Großvater Mascha zu verstehen geben: »Ich kann nicht frei sprechen ...«

Nachdem mein Großvater aufgelegt hatte, schwieg er eine gute Minute. »Das war eine Doktorandin aus dem Zentrum in Petersburg«, stellte er dann klar. »Ein sehr begabtes Mädchen. Ja, ich scheue mich nicht, von einem genialen Mädchen zu sprechen ... in ihrem Bereich, natürlich.«

»In der Pflanzenheilkunde?«, fragte ich scheinheilig.

»So könnte man es auch bezeichnen.« Mein Großvater seufzte. »Heute Abend müssen wir ein ernstes Gespräch führen, Petja. Ein sehr ernstes. Mascha kommt am Nachmittag hierher ... Ihr solltet euch schon lange kennenlernen.«

Mein Gott! Hatte mein Großvater etwa die Absicht, mich zu verkuppeln?

»Leider geht es dabei nicht darum, euch beide unter die Haube zu bringen ...« Wie üblich hatte mein Großvater den Lauf meiner Gedanken erraten. »Hättest du Zeit, in die Stadt zu fahren, Petja?«

»Klar.«

»Kauf ein paar Lebensmittel. Etwas Gutes. Und besorge auch eine Flasche anständigen Sekt. Dann noch Bailey’s und Advokaat. Ein halbes Pfund Kaviar. Drei Suchr Schinken, aber keinen fetten. Und einen Betten mageres Kalbfleisch, falls es welches gibt ...«

Ging das wieder los. Mein Großvater liebte Spaße dieser Art. Zu gern pumpte er mir unendlich lange Listen ins Hirn, wobei er obendrein Gewichte, Größen und Mengen in verschiedenen Systemen der Erde und der Galaxis angab. Als Gedächtnisübung ... Nie würde ich vergessen, wie mich die ganze Klasse ausgelacht hatte, als ich, verwirrt durch die Einkäufe, die ich nach der Schule zu erledigen hatte, meine Klassenarbeit im Zahlensystem der Hyxoiden löste ...

»Ist das alles?«, wollte ich wissen, sobald mein Großvater die Aufzählung beendete.

»Ja. Hast du Geld?«

Ich überschlug, wie viel Bargeld ich noch besaß. »Genug. Was wollen wir denn heute feiern?«

»Deine wunderbare Rückkehr natürlich!«, gab sich mein Großvater erstaunt.

»Natürlich. Entschuldige, Großpapa«, sagte ich verlegen. »Soll ich gleich los?«

»Ja«, entschied mein Großvater mit einem Seufzer. »Vergiss aber nicht, vorher den Tank aufzufüllen. Es heißt, in Moskau gibt es schon wieder kein Benzin.«

Ich nickte und verließ sein Zimmer. Nachdem ich meinen Trenchcoat angezogen hatte, pfiff ich nach Tyrann und trat hinaus in den Regen. Unsere Garage lag etwas ungünstig, ein ganzes Stück vom Haus entfernt, wahrscheinlich war man davon ausgegangen, zum Wagen gehöre unweigerlich ein beflissener und wasserdichter Fahrer.

Während ich, gegen den Regen durch das vorspringende Garagendach geschützt, am Schloss rumhantierte, wuselte Tyrann aufgeregt um mich herum. Bestimmt hoffte er, ich würde ihn mitnehmen. Das kam natürlich nicht in Frage. Zum einen dürfte ich dann den Sitz schrubben, weil er jede Menge Dreck ins Auto schleppen würde. Zum anderen sollte bei dem Übermut, den die Diebe in Moskau an den Tag legten, besser ein zuverlässiger Wachtposten beim Haus bleiben.

»Onkel Petja!«

Von einer drohenden Gefahr überzeugt, fing Tyrann an zu kläffen. Ich packte ihn am Halsband und winkte dem kleinen Jungen zu, der hinterm Zaun aufgetaucht war.

»Sie waren im Fernsehen!«

»Und wie war ich?«

»Cool!«

Aljoschka war der Sohn eines Geschäftsmannes, der eine der Nachbardatschen angemietet oder gekauft hatte. Er war ein netter Junge.

»Und wo waren Sie, Onkel Petja?«

Als ob er das nicht wüsste, der Schlingel. Einen Monat lang hatte er mich bei jeder Begegnung gefragt, wann ich zum Sirius fliegen würde.

»Auf Hyxi-43.«

»Beim Sirius?«

»Hmm.« Endlich kriegte ich das Schloss auf.

»Ob es da schöne Steine gibt?«, fragte Aljoschka gedankenversunken.

Ich grinste. »Wunderschöne. Ich habe dir ein paar mitgebracht.«

»Oh!«, rief Aljoschka aus und fing an herumzuhüpfen. »Vielen Dank, Onkel Petja! Kein anderer Junge hat Steine von Sirius!«

Es musste toll sein, in der Kindheit eine solche Kollektion zusammenzutragen, lauter kleine Stücke von fremden Planeten. Du nimmst sie in die Hand und stellst dir vor, ein unerschrockener Entdecker ferner Welten zu sein. Ich seufzte. Ach ja ... ein Entdecker ... Ob wohl irgendwann der Tag kommen würde, an dem die Erde von einem Planeten als »Erde-2« sprechen durfte?

»Komm nachher mal vorbei«, schlug ich vor. »Jetzt muss ich in die Stadt fahren.«

Aljoschka war zwar eindeutig enttäuscht, versuchte jedoch, sich nichts anmerken zu lassen. »Na gut.«

»Oder willst du ein Stück mitfahren?«, fragte ich.

»Nein, ich hab zu tun ...« Der Junge hob seinen Arm mit einem riesigen Kescher über den Zaun. »Ich bin auf der Jagd.«

»Hast du schon viele Spatzen gefangen?«

»Keinen einzigen. Das sind alles Schisshasen.« Aljoschka seufzte. Ihm durfte es kaum um eine Aufbesserung seines Taschengelds gehen, vermutlich litt er einfach an Jagdfieber. »Onkel Petja ... die Aliens, die essen die Vögel bestimmt nicht?«

»Nein. Extraplanetare organische Stoffe sind giftig für sie.«

»Was soll denn an Spatzen extraplanetar sein?«

»Das bezieht sich doch auf die Außerirdischen, Dämlack.«

Aljoschka klatschte sich gegen die Stirn.

»Flugtiere sind in der Galaxis komischerweise eine enorme Seltenheit«, erklärte ich ihm. »Sie werden wegen ihrer Schönheit gehalten. In großen Volieren, damit sie frei fliegen können. Im Grunde haben es die Vögel bei den Außerirdischen besser als bei uns.«

»Gut«, erwiderte der Junge ernst. »Ich würde sie nicht fangen, wenn sie gefressen werden. Spielen Sie heute Abend was mit mir? Ich habe ein neues Spiel ... mit frucht ... mit einer fruchtalen ...«

»Fraktalen.«

»Genau! Mit einer hochauflösenden Fraktalgraphik. Echt klasse!«

»Mal gucken. Wenn mein Großvater mir das Telefon überlässt, machen wir ein Spielchen.«

Aljoschka nickte wissend. Diese Probleme kannte er ... Ich winkte ihm noch einmal zu, bevor ich den Motor anließ.

Fünf

Mein Großvater hatte recht, was das Benzin anging. Jedenfalls fiel mir auf, dass in den Moskauer Straßen wenig Autos unterwegs waren. Ich fuhr direkt zum Delikatessengeschäft Jelissejew, dann fiel mir jedoch die Bitte Elsa Schröders wieder ein. Glücklicherweise trug ich auch heute meine Transaero-Jacke, in deren Innentasche geduldig der Brief lag. Seufzend bog ich ab, fuhr über die Ogarjowstraße zurück und parkte den alten Shiguli, den mein Großvater aus patriotischen Gründen nicht durch ein anderes Modell ersetzte, gegenüber der Hauptpost.

An die prompte Zustellung durch unsere Post glaube ich nicht. Deshalb gab ich den Brief lieber hier auf, dann würde er wenigstens etwas schneller in Frankfurt sein.

Ich steckte einen Jeton in die Parkuhr am Straßenrand und eilte zur Post. Ein paar Leute schauten mich mit einer gewissen Neugier an, aber anscheinend erkannte mich niemand.

Der Ruhm ist eine unbeständige Sache. Hätte ich dafür gesorgt, dass die Spiral nicht über Moskau abstürzte, hätten mich die Einwohner der ehemaligen Hauptstadt vermutlich noch lange wiedererkannt. Aber so ...

Da der Brief unzureichend frankiert war, musste ich noch etwas nachzahlen. Ich tauschte meine »Spacebucks« gegen Rubel, klebte zwei Marken ä dreißig Kopeken auf den Umschlag und steckte ihn in den Kasten. Mit besten Grüßen, lieber Herr Schröder, du wohlanständiger deutscher Bürger. Deine hübsche Frau sehnt sich nach dir und schickt dir diesen Brief.

Es wäre dumm gewesen, den Parkplatz aufzugeben. Deshalb ging ich die zwei Blöcke zu Fuß, um schließlich ins duftende Innere des Jelissejew einzutauchen.

Die reiche Auswahl an erlesenen Speisen ist schon ein prachtvoller Anblick. Selbst wenn ich gastronomischen Verlockungen recht gleichgültig gegenüberstehe, trieben jetzt uralte Instinkte das Adrenalin durch mein Blut und zischelten: »Nimm alles! Alles - und viel!«

Gegen diese Instinkte ankämpfend, schritt ich die einzelnen Stände ab. Als Erstes entdeckte ich den Schinken, mageres Fleisch, genau das, worum mein Großvater gebeten hatte. Ich nickte der lächelnden Verkäuferin zu. »Siebenhundertzweiunddreißig Gramm Delikatess-Schinken, bitte«, verlangte ich, nachdem ich im Kopf eine kurze Umrechnung angestellt hatte.

Vermutlich hätte ich die Bitte meines Großvaters nach »drei Suchr« nicht derart exakt erfüllen müssen ...

Das Lächeln der Verkäuferin nahm etwas leicht Verkrampftes an, dennoch versuchte sie, meiner Bitte nachzukommen. Um ihre Virtuosität konnte ich sie nur beneiden. Ein rosafarbenes Stück Fleisch landete auf der Waage.

»Siebenhundertdreißig Gramm«, verkündete sie. »Soll’s noch ein bisschen mehr sein?«

»Nein, danke«, antwortete ich, wobei ich mir ziemlich bescheuert vorkam. »Das ... war nur ein Spaß.«

Mit einem gequälten Lächeln wickelte die Frau den Schinken in Folie, ich bezahlte, zuckelte weiter und nahm mir fest vor, zukünftig die gängigen Mengenangaben zu bemühen. Schließlich nahm ich nicht an interstellaren Handelsgesprächen teil, berechnete auch nicht den Jump, sondern befand mich einfach in einem exzellenten Lebensmittelgeschäft.

... Eine Viertelstunde später hatte ich meine Einkäufe erledigt. Sowohl die Liköre als auch den Betten mageren Kalbfleischs hatte ich erstanden. Mit zwei Tüten in den Händen verließ ich das Geschäft und ging die Straße entlang.

»Enkelchen ...«, hielt mich da eine leise Stimme auf.

Die alte Oma stand fünf Meter vom Eingang entfernt. Die Bettlerin hatte sich dort eindeutig mit dem Ziel aufgebaut, dem gestrengen Blick des Wachschutzes vom Jelissejew zu entgehen. Eine typische arme Frau, in sauberer, aber fadenscheiniger Kleidung, uralt ... Mein Großvater behauptete immer, den Bettlern vor den Luxusläden ginge es nicht schlechter als Schullehrern oder Bezirksärzten ... dennoch gab er ihnen stets etwas.

Auch ich blieb jetzt stehen und kramte in meiner Tasche.

Die Alte ließ den Blick zwischen mir und dem Eingang zum Geschäft hin und her schweifen. Ihre Sehkraft schien ungeachtet ihres Alters noch ausgezeichnet zu sein.

Ich hielt ihr einen Einrubelschein hin. Die Münzen aus meinen Taschen zu fischen, nachdem ich gerade Lebensmittel für hundert Rubel eingekauft hatte, wäre mir schäbig vorgekommen.

»Bist du ein Kosmonaut, Jungchen?«, wollte die Frau wissen - allerdings eher in einem feststellenden als in einem fragenden Ton. Meine Jacke sprach nun mal Bände.

»Ja.«

»Sag mal ...« Die Alte schaute sich erneut um und fuhr dann, von der Abwesenheit der Miliz beruhigt, fort: »Warst du dort ...?«

Hatte ich etwa eine Gläubige vor mir?

»Dort, in den fremden Sternensystemen ... Du bist doch nicht nur einfach ein Pilot, oder?«

»Ich bin nur ein Pilot, Großmütterchen. Ein Fuhrmann.«

Etwas hielt mich ab, mich einfach mit diesem Rubel freizukaufen, die Alte stehen zu lassen und weiterzugehen.

»Trotzdem ...« Auf dem faltigen Gesicht kräuselte sich ein schwaches Lächeln. »Ich erinnere mich noch an Gagarin ... als er gelebt hat ... Ich bin im Kommunismus groß geworden.«

Mein Großvater hatte mir beigebracht, echten Kommunismus habe es im letzten Jahrhundert gar nicht gegeben, mit der Bettlerin wollte ich jedoch keinen diesbezüglichen Streit anfangen ...

»Jungchen ...« Eine trockene Hand umschloss zupackend mein Handgelenk. »Du bist ein guter Mensch. Ein anständiger Mensch. Sag einer Alten ... Und du wirst mich doch nicht belügen?«

Ein leichter Regen ging, ich wäre gern so schnell wie möglich im warmen Innern des Shiguli verschwunden, schämte mich dessen aber beim Anblick dieser Alten mit dem ungeschützten grauen Kopf.

»Ich werde nicht lügen.«

»Sag mir, haben wir noch etwas vor uns? Für mich ist das einerlei ...« Ihr Lächeln war kläglich wie Regen im Herbst. »Aber ich habe einen Urenkel ... und einen Enkel, obwohl ich das manchmal selbst bezweifle ...«

»Worauf wollen Sie hinaus, Großmütterchen?«

»Verstehst du das wirklich nicht?«, wunderte sich die Alte. »Dabei hast du so kluge Augen ... Stets hat man uns unsere große Zukunft ausgemalt. Das Glück der Menschheit. Ich habe den Kommunismus mitaufgebaut ... dann den Kapitalismus ... jedenfalls habe ich das versucht ... Deswegen haben wir all das ertragen. Um dieser Zukunft willen. Um dieses Glücks willen ... Jetzt baut ihr die Sternenzukunft auf. Mein Junge, glaubst du an das, was du tust?«

»Ich möchte es glauben«, flüsterte ich.

In dem Moment scherte aus dem über den Gehsteig dahinwogenden Strom von Fußgängern ein Milizionär im grauen Regenumhang aus. Er blieb vor uns stehen, blitzte die Alte kurz an und salutierte vor mir. »Du schon wieder?«, fragte er die Bettlerin.

Die Alte wich zurück.

»Willst du auf der Wache landen?«, fuhr der Milizionär fort.

Nun stürzte die Bettlerin förmlich davon. Der Milizionär wollte ihr nachsetzen, doch da packte ich ihn beim Oberarm. »Lassen Sie sie!«

Gott sei Dank besitzen alle russischen Kosmonauten einen doppelten Status. Wir gehören nicht nur unserer Fluggesellschaft an, sondern auch dem Roskosmos. Und reden wir nicht um den heißen Brei herum: Bei dem handelt es sich um eine militärische Organisation.

Mein Rang als Major der Luftwaffe bedeutete nach dem vor drei Jahren von Präsident Schipunow erlassenen Ukas auch in der Hierarchie des Innenministeriums etwas.

Allerdings wirkte der Milizionär weder bösartig noch enttäuscht.

»Sie sind Kosmonaut«, brachte er überzeugt hervor. »Glauben Sie nicht, dass ich ... einer bin, der ...«

Wie jung er noch war, dieser Moskauer Milizionär! Und anscheinend handelte es sich bei ihm wirklich nicht um eins von diesen Schweinen, die jedem Händler Geld abpressen und die Bettler verjagen.

»Sie ist einfach verrückt, diese Alte ... Ständig drückt sie sich hier herum und belästigt die Kosmonauten. Mit Fragen wie: ›Wie sieht es auf den Sternen aus?‹ und ›Was erwartet uns?‹ Sie ist krank ...«

Ich blickte ihm in die Augen. Ehrliche Augen, nur noch sehr jung. Sogar noch jünger und naiver als meine.

»Aber vielleicht ist sie die einzige Normale unter uns, Sergeant?«, fragte ich.

Aber anscheinend verstand er mich nicht.

... Nachdem ich die Tüten mit den Einkäufen auf den Rücksitz verfrachtet hatte, saß ich eine Minute hinterm Steuer, mit beiden Händen aufs Lenkrad gestützt.

Glaubte ich an unsere Zukunft?

Ich drehte langsam den Kopf und ließ meinen Blick über die Menge schweifen. Wie eine Kamera, die eine Gesamtansicht aufnimmt. Dann schloss ich die Augen und schaute mir das Bild an.

Glaubten diese Menschen an die Sternenzukunft der Menschheit? Brauchten sie, die sie sich mit den Problemen des öffentlichen Nahverkehrs und den nicht funktionierenden Heizungen in ihren Wohnungen, mit dem auf Befehl von oben abgestellten Strom und den exorbitant teuren Lebensmitteln herumschlugen, diese Zukunft? Was gab der Kosmos ihnen - abgesehen von der Angst vor fremden Welten und dem teuer bezahlten Stolz auf den Planeten Erde samt seinen Raumschiffen, die die schnellsten in der Galaxis waren ...?

Der Motor heulte, als ich mit dem Fuß aufs Pedal trat. Ich fuhr über die Ogarjowstraße, mit dem klaren Wunsch, die Stadt so schnell wie möglich hinter mir zu lassen.

Am besten wäre ich nie aus dem Haus gegangen. Peredelkino, das Sternenstädtchen, Swobodny, die Galaxis ... Das war eine höchst zufriedenstellende Route. Aus der Gemütlichkeit der alten Datscha in die akademische Ruhe der Hauptstadt der russischen Weltraumfahrt, von dort ins Gewusel des Kosmodroms - und dann der Jump.

Der Jump! Die sagenhafte Euphorie des Sprungs und die unvorstellbar weiten Welten, die sich nicht einmal der Phantasie erschlossen. Zumindest mir gab der Kosmos eine Menge.

War es denn meine Schuld, dass ausgerechnet ich im Sitz des Piloten saß und die interstellaren Abgründe überwand?


Unter dem dümpelnden, noch unentschiedenen - sollte er nun richtig loslegen oder aufhören - Regen lief ich von der Garage zum Haus. Die Tür war nicht abgeschlossen, in der Diele türmten sich Tüten, Pappkartons und pralle Taschen. Ihrer Anzahl nach zu schließen, stand uns ein einmonatiger Besuch einer Großfamilie bevor. Vielleicht hatte auch eine Expedition von Alpinisten hier vor ihrem Aufstieg zu den Gipfeln der Demokratie haltgemacht. Alle Sachen waren feucht. Folglich waren die geheimnisvollen Gäste gerade erst eingetroffen.

Weniger als drei Stunden war ich fort gewesen - und schon verströmte das Haus etwas Fremdes!

Ich schlängelte mich zwischen den Kartons hindurch in die Küche.

»Petja?«

»Ja, Großpapa«, erwiderte ich wie üblich.

»Stell deine Einkäufe ab und komm rauf!«

Etwas in mir explodierte. Vielleicht reichten mir die Kommandos aus dem ersten Stock einfach, vielleicht fiel mir auch die Alte vor dem Jelissejew wieder ein ... Ich knallte die Tüten auf den Fußboden und ging hoch. Auf halbem Weg wurde mir bewusst, dass ich ohne zu überlegen die Tüte mit dem Fleisch und dem Schinken zuerst hingeworfen hatte und die zweite mit den Flaschen darauf.

Ich brachte es also nicht mal fertig, in einem Wutanfall ein paar Flaschen zu zerdeppern!

Im Zimmer war es frisch, anscheinend hatte mein Großvater erst kürzlich gelüftet. Leise Musik spielte, einer der Komponisten des italienischen Barock, Corelli oder Manfredini. Im Grunde war alles wie sonst auch.

Die erste Überraschung bestand darin, dass mein Großvater auf meinem Platz, auf dem Stuhl, saß. Den Sessel hatte jemand anders in Beschlag genommen, was bereits die zweite Überraschung war. In ihm saß eine Frau um die fünfundzwanzig, die Beine wie ein Mann übereinandergeschlagen. Sie wirkte sehr ernst mit ihrem grobknochigen, hageren Gesicht und den zu einem spillerigen Zopf zusammengebundenen Haaren, den Jeans und dem selbst gestrickten Pullover.

Wenn mich etwas in Verlegenheit bringt, dann sind das hässliche Frauen.

Ich entwickle ihnen gegenüber stets Schuldgefühle. »Es ist hässlich, hässlich zu sein ...« - um es einmal tautologisch und in Anlehnung an einen Dichter auszudrücken. Freilich, mir ist klar, dass nicht jede Frau Mannequin oder Schönheitskönigin sein kann. Aber wenn eine junge Frau demonstrativ auf ihr eigenes Erscheinungsbild spuckt, dann muss jemand daran schuld sein.

Und ich habe immer das Gefühl, dieser Schuldige sei ich.

»Petja, ich möchte dir jemanden vorstellen.« Mein Großvater erhob sich. »Das ist Mascha. Meine beste Mitarbeiterin.«

»Ich habe schon viel von Ihnen gehört.« Ohne sich aus dem Sessel zu bemühen, streckte mir Mascha die Hand hin. Ihr Handdruck war kräftig und kameradschaftlich. Ihre Stimme klang abgehackt und scharf. »Ich glaube, wir werden hervorragend miteinander auskommen.«

»Sehr angenehm ...«, murmelte ich.

Mein Großvater nickte zu seinem Bett rüber, einen anderen Sitzplatz gab es im Zimmer nicht mehr.

»Mir ist nicht klar, wie weit du eingeweiht bist, Pjotr ...«, sagte sie. »Es ist doch in Ordnung, wenn ich dich duze?«

»Klar ...«

»Gut. Ich liebe diese Formalitäten nicht. Also, Andrej Valentinowitsch hat mir die Situation in aller Kürze geschildert ...«, begann Mascha.

»Entschuldigen Sie ...«

Mascha zog eine Augenbraue hoch.

»Entschuldige, bist du Psychologin?«, fragte ich.

Mascha schielte zu meinem Großvater rüber.

»Das ist meine Schuld«, sagte er. »Petja blickt in dieser Situation überhaupt nicht durch. Ich habe erst in sechs Monaten oder einem Jahr mit diesen Ereignissen gerechnet ...«

»Ich bin Technikerin«, teilte mir Mascha mit. »Ich habe Physik studiert, arbeite aber meist als Technikerin. Vor drei Jahren hat mich Andrej Valentinowitsch zu sich geholt ...« Abermals huschte ihr Blick zu meinem Großvater, der ihr zunickte. »Ich befasse mich mit der Ausarbeitung der Methoden und Mittel zur ... äh ... zur Kommunikation mit Außerirdischen.«

»Mit Methoden, sie zu foltern und umzubringen«, stellte mein Großvater traurig klar.

Da machte es bei mir klick. »Schierling? Johanniskraut? Oregano? Passionsblumen? Na, Mascha, hast du auch an alles gedacht?«

Mascha nickte, jedoch in einer Weise, als entginge ihr die Ironie.

»Großpapa!«, japste ich. »Was um alles in der Welt hast du vor?«

Schön, ich konnte mir ohne weiteres vorstellen, dass mein Großvater den Wunsch verspürte, einen Außerirdischen zu töten. Aber nicht in diesem ... in diesem fast industriellen Maßstab!

Er könnte bereits jetzt für einige hundert Jahre hinter Gittern landen, allein für die Vorbereitung dieses Verbrechens!

»Du verpfeifst mich doch nicht, Enkel?«, fragte mein Großvater.

Schweigend richtete ich den Blick auf die Decke und in die Ecken des Zimmers.

»Keine Sorge, hier ist alles sauber«, mischte sich Mascha mit gelangweilter Stimme ein. »Sämtliche Wanzen haben wir schon vor langer Zeit entdeckt und an einen Computer mit Stimmenimitation angeschlossen. Der FSB, das Innenministerium, Roskosmos, der CIA und der Mossad hören Andrej Valentinowitsch ab. Sie glauben jedoch, dein Großvater erzähle uns in diesem Moment etwas über die Heimtücke der Aliens und schimpfe auf die Präsidenten.«

»Du hast ja völlig den Verstand verloren, Großpapa!«, brüllte ich. »Was ist? Hast du vor, den Zähler einzufangen und zu foltern?«

»Einzufangen brauche ich ihn nicht, denn er wird freiwillig zu mir kommen«, konterte mein Großvater. »Und foltern ... das wird sich finden. Das müssen wir abwarten.«

Mascha sah mich neugierig an, und das gab mir meine Selbstbeherrschung zurück.

»Großpapa, du bist im Unrecht«, sagte ich nur. »Du bist ganz und gar im Unrecht. Die Gefühle gehen mit dir durch.«

»Mit mir?« Mein Großvater lachte. »Wie kommst du denn darauf, Petja? Ich kann mir schon seit langem keinen solchen Luxus wie Gefühle leisten. Nur noch Berechnung. Statt hier sinnlos mit mir herumzustreiten, hilf lieber Mascha, den Tisch zu decken. Schließlich sollte man seine Freizeit auf angenehme Weise verbringen.«

Er lächelte uns beide an und beugte sich über seinen Laptop. Als wollte er uns auf diese Weise zu verstehen geben, dass das Gespräch beendet sei. Ein gewisser Gehorsam ihm gegenüber hielt sich immer noch in mir, weshalb ich aufstand und nach Mascha den Raum verließ. So zielbewusst, wie Mascha runter in die Küche ging, blieb kein Zweifel: Sie war schon des Öfteren hier gewesen.

Während ich den terrestrischen Plunder zum Tausch gegen den außerirdischen Kram durch den Weltraum kutschiert hatte ...

Oh, oh, Großvater!


»Das Kochen ist keine Beschäftigung für Frauen«, erklärte Mascha.

Sie hämmerte mit einer solchen Wut mit einem hölzernen Fleischklopfer auf das zukünftige Kotelett ein, als läge vor ihr das Filetstück eines Alien.

»Natürlich ist das keine Beschäftigung für Frauen«, pflichtete ich ihr bei. »Die besten Köche sind schon immer Männer gewesen.«

Mascha linste zu mir rüber, widersprach jedoch nicht. Eine halbe Stunde lang bereiteten wir nun schon gemeinsam, wenn auch in völligem Schweigen, das Essen vor.

»Ich beneide dich, Pjotr«, brachte sie nach einer Weile heraus. »Der Enkel von Andrej Valentinowitsch zu sein, das ist ein Riesenglück.«

»Eigentlich hatte ich ja keine Wahl oder Vergleichsmöglichkeit ...«

»Machst du dich über mich lustig?« Mascha schaute mich misstrauisch an.

»Bestimmt nicht.«

»Ich habe keinen ausgeprägten Sinn für Humor«, gab sie selbstkritisch zu, während sie das Feuer unter der Bratpfanne anfachte. »Das solltest du im Hinterkopf behalten, Petja. Wo wir jetzt zusammenarbeiten, sollten wir jedes Konfliktpotenzial ausräumen ...«

»Ich tu mich schwer damit, mit jemandem zusammenzuarbeiten. In meinem Schiff ist sogar der Sitz des Co-Piloten abgebaut, stattdessen steht da der Jumper.«

Als ich an meine alte Spiral dachte, befiel mich Traurigkeit.

»Hast du schon oft einen Jump erlebt?«

»An die fünfzig Mal.«

»Ist das wirklich mit einem Orgasmus vergleichbar?«

»Nö ... vermutlich nicht.«

»Fehlt dir die Vergleichsmöglichkeit?«

Was für ein Albtraum! Gut, mit ihrem Sinn für Humor stand es nicht gerade zum Besten - dafür hatte sie mit ihrer Direktheit nicht die geringsten Probleme!

»Nein. Aber das ist etwas ganz anderes. Es ist, als würde man dich bitten, den Geschmack von Orangen mit einem Orgelkonzert von Bach zu vergleichen.«

»In dem Fall würde ich immer die Orangen wählen«, erklärte Mascha entschieden. »Gut, lass uns jetzt unsere Fracht löschen.«

Die nächsten zwanzig Minuten packten wir die Kartons und Taschen aus. Wir förderten verschiedene elektronische Apparaturen zutage, Kabelrollen und - sorgfältig, als handle es sich um den Tannenbaumschmuck, in Watte und Papier eingepackt - Detektoren.

»Wenn dein Passagier auftaucht«, sagte Mascha, »erwartet ihn eine Überraschung. Hier ist eine Videokamera mit einer pseudointelligenten Identifizierungseinheit, Magnetsensoren, Infrarotdetektoren, aktive Funksysteme, Geräte, mit denen elektrische Felder gemessen werden können ... Da kommt niemand dran vorbei.«

»Wir haben einen Hund«, gab ich zu bedenken.

»Den sperren wir ein. Obwohl ... nein, das wird nicht nötig sein. Den Hund nehmen wir in die Liste der zugelassenen Objekte auf.«

Ab und an huschte Mascha in die Küche rüber, eine Gelegenheit, die ich jedes Mal nutzte, um mir ihr Wunderwerk genauer anzusehen.

Das war keine Arbeit vom Band, das hatte sie alles selbst angefertigt.

Und zwar höchst akkurat.

Konnte ein Mensch allein das alles herstellen, selbst wenn er fertige Schaltkreise und Bauanleitungen benutzte? Und die weitaus interessantere Frage: Ließ sich diese Arbeit vor den entsprechenden Organen verheimlichen? Die so sehr darum bemüht sind, jede Antipathie den Außerirdischen gegenüber im Keim zu ersticken?

Ich glaube nicht an die genialen verrückten Wissenschaftler!

Aber ich glaube an meinen Großvater. Und der glaubte an Mascha ...

»Ich habe das Gas ausgeschaltet«, teilte Mascha mit, als sie aus der Küche zurückkam. »Lass uns die Detektoren aufstellen.«

Wir gingen in den Regen hinaus und machten uns daran, die Sensoren im Garten der Datscha zu verteilen. Eine einfache Aufgabe, denn alle waren mit Funksendern ausgestattet, so dass wir keine Kabel verlegen mussten. Innerhalb von einer halben Stunde hatten wir im welken Gras, um die Baumstämme, am Zaun und auf den Wegen rund hundert winzige Plastikgegenstände platziert, die wie Steine oder dürre Zweige aussahen. Einige Detektoren deponierte Mascha in einigermaßen abgeschmackten Gehäusen. Es gibt ja diese Läden, die überdimensionale Windeln, »abgehackte Finger«, »echtes Blut« und ähnlichen Unsinn verkaufen, der Fünftklässler und Erwachsene mit schwachem Intellekt begeistert ... Ich musste allerdings zugeben, dass die künstlichen Hundehaufen recht glaubhaft aussahen.

Schließlich ließ sich Mascha mit der Mini-Empfangsstation in der Diele nieder, während ich den verständnislosen Tyrann über das Gelände führte. An die provozierend gestalteten Sensoren verschwendete er nicht die geringste Aufmerksamkeit - sie verbreiteten nicht den richtigen Geruch.

Wir kehrten wieder ins Haus zurück, durchgeweicht und ohne dem Spaziergang irgendein Vergnügen abgewonnen zu haben.

»Perfekt«, urteilte Mascha zufrieden. »Der Hund kann ungehindert übers Gelände streifen.«

Sie streichelte Tyrann ohne jede Furcht über den Kopf, was mir einen weiteren Beweis lieferte, dass die beiden sich schon länger kannten.

»Ich werde mal in deinem Bad verschwinden«, kündigte Mascha an, schnappte sich die kleinste und unscheinbarste Tasche und ging sich waschen. Da mir nichts anderes übrig blieb als zu warten, begab ich mich nach oben.

Mein Großvater saß am Laptop und hämmerte mit der Miene eines Dichters, dem ein seltener Moment der Inspiration zuteil wurde, auf die Tasten ein.

»Wir haben das Sicherheitssystem installiert«, teilte ich ihm mit.

»Sehr schön ...«

»Glaubst du, dass es funktioniert, Großpapa?«

Er sah mich nachdenklich an.

»Der Zähler hat sogar die Blackbox im Schiff umprogrammiert ...«

»Wir sollten davon ausgehen, dass die Außerirdischen nicht allmächtig sind«, erwiderte mein Großvater leicht verärgert. »Ansonsten müssten wir uns nämlich mit dem Status quo abfinden ...«

»Wäre das denn so schlimm?«

»Siehst du das etwa anders?«, fragte mein Großvater erstaunt.

»Nein, im Großen und Ganzen nicht.« Mir fielen die Moskauer Straßen ein, auf denen fast keine Autos gefahren waren, die verschlossenen, grimmigen Gesichter der Fußgänger und die verrückte Bettlerin. »Wenn wir die Wirtschaft des Landes ruinieren ... nein, nicht nur des Landes, sondern des ganzen Planeten. Wenn selbst Spanien, Portugal und Brasilien Kosmodrome einrichten ... ist das eine Situation, die nicht mehr normal ist.«

»Aber?«, forderte mich mein Großvater zu weiteren Überlegungen auf.

»All diese Unglücksfälle ... im Küstengebiet soll die Ökologie bereits völlig vor die Hunde gegangen sein ... Und ja ... es stimmt, wir können mit dem vorgegebenen Tempo nicht mithalten. Aber wenn wir uns zum aktiven Widerstand entscheiden, Großpapa, dann vernichten die Außerirdischen vielleicht die ganze Erde.«

»Niemals. Das Huhn, das goldene Eier legt, landet nicht in der Suppe. Selbst dann nicht, wenn es seinem Herrn in den Finger hackt.«

»Der Vergleich hinkt«, wandte ich ein.

»Gut, er mag hinken. Aber das ändert nichts am Kern der Sache. Eine Gefahr droht nur uns persönlich, Petja. Wenn wir eine Dummheit begehen, kriegen wir einen Schauprozess und werden zum Holzfällen geschickt.« Mein Großvater kicherte, als sehe er sich gerade vor seinem inneren Auge, mit einem Beil in der Hand und bis zu den Knien im Schnee versunken. »Aber unserem Mütterchen Erde wird es nicht schlechter ergehen.«

»Ich hoffe, du weißt, was du tust, Großpapa.«

»Ja.«

»Du hast mich noch nie betrogen, Großpapa. Ich vertraue dir. Aber ich habe Angst.«

Mein Großvater wandte den Blick ab. »Alles wird gut, Petja. Aber ohne deine Unterstützung wird unser Plan scheitern. Also, was ist, hilfst du uns?«

Ich nickte. Was sollte ich auch sonst tun? Mein Großvater hatte diese mehrzügige Kombination auf Jahre im Voraus geplant und gespielt. Es wäre dumm zu versuchen, ihn an einem einzigen Tag von seinem Vorhaben abzubringen.

»Hast du dich schon mit Mascha angefreundet?«

»Also ... ein bisschen.«

»Sie ist ein interessantes Mädchen«, sagte mein Großvater.

»Ja, sehr klug ...«, brachte ich das einzig mögliche Kompliment hervor.

»Und das ist alles?«, fragte mein Großvater, dem die Anspannung in meiner Stimme nicht entgangen war.

»Sie ist ordentlich ...«, meinte ich, während ich dem Rauschen des Wassers im Parterre lauschte.

»Manchmal überraschst du mich, Pjotr«, sagte mein Großvater lachend. »Du mich auch, Großpapa. Kennt ihr euch schon lange?«

»Ja. Ich kenne viele seltsame Leute, Petja.«

»Großpapa ... Danilow lässt dich grüßen!«, fiel mir wieder ein.

»Alexander Olegowitsch?« Mein Großvater riss aufgeregt die Hände hoch. »Ach ja, er hat dich ja abgeholt ...«

»Und ich soll dir nicht nur einen Gruß ausrichten«, druckste ich kleinlaut. »Er hat mir auch was für dich mitgegeben ... Ich hab völlig vergessen, meinen Aktenkoffer auszupacken.«

»Bring ihn her«, befahl mein Großvater. Er wirkte absolut angespannt. »Aber bring ihn ungeöffnet her!«

Ich stürzte nach unten. An der Haustür drückte sich Tyrann rum, der mit der Pfote nach dem Schloss tatzte. Ich öffnete ihm die Tür, und der Hund jagte in den Garten. Sollte er ruhig, schließlich hatte der Regen inzwischen nachgelassen. Vielleicht reagierte ja einer der Sensoren auf ihn - andernfalls würde Mascha allzu selbstgefällig auftreten.

Während ich den Aktenkoffer holte, vernahm ich aus dem Bad Wasserrauschen und Gesang. Mascha hatte ein gutes Gehör. Mit der Stimme verhielt es sich leider nicht ganz so gut.

Mit dem Aktenkoffer in der Hand kehrte ich zu meinem Großvater zurück - und erstarrte.

Mein Großvater stemmte sich aus seinem Sessel hoch und hing sich eine seltsame Plastikpelerine über. Ein durchsichtiges, zweilagiges Stück, wobei sich zwischen den beiden Schichten ein spinnwebfeines Kupfernetz spann. Das Gesicht schützte ein Helm mit Sichtscheibe, die ebenfalls ein Drahtgeflecht aufwies.

In der Hand hielt er ein kleines grün-braunes Metallgerät mit einer kompliziert geformten Antenne, zwei Kippschaltern und einem Display.

»Den Koffer auf den Tisch«, klang die Stimme meines Großvaters barsch unter dem Visier hervor. »Und tritt zurück.«

»Was ist denn das für ein Ding?«, fragte ich.

»Keine Ahnung. Ich bin kein richtiger Schweißer, das habe ich auf einer Baustelle gefunden«, antwortete mein Großvater eindeutig mit einem Zitat. Woher es stammte, wusste ich nicht. »Das ist ein Indikator für organische Stoffe, mein Junge.«

Auf dem Bett lag ein offener Koffer, anscheinend einer von Maschas. Er enthielt eine Unmenge mir unbekannter Gerätschaften.

»Dann schauen wir mal ...«, flüsterte mein Großvater und betätigte einen der Schalter.

Das Display leuchtete rot auf.

»Würde dein Zähler in den Aktenkoffer passen?«, fragte mein Großvater beiläufig.

Alles in mir drin erkaltete. »Nein ... Ich weiß nicht ...«

»Niemand weiß das«, räumte mein Großvater ein. Den Blick fest auf den Aktenkoffer gerichtet, wich er rückwärts zum Bett rüber und entnahm dem Koffer etwas, das verdammt nach einer Waffe aussah: Griff, Abzug und konischer Lauf. Allerdings schien die Waffe nicht mit Kugeln geladen zu werden, denn der Lauf erinnerte eher an eine Antenne.

»Das ist nicht nötig!«, schrie ich. Genau in dem Moment betätigte mein Großvater den Abzug. Daraufhin geschah rein gar nichts, nur in meinen Ohren vernahm ich ein leises Geräusch, das irgendwie keine Quelle hatte.

»Das ist der Prototyp eines Lähmungsstrahlers«, erklärte mir mein Großvater, während er die Waffe beiseitelegte. »Ein Einweggerät. Es funktioniert bei allen terrestrischen Lebensformen.«

»Und was ist mit außerirdischen?«

»Das werden wir gleich sehen.«

Mein Großvater trat an den Tisch heran und öffnete den Aktenkoffer. In ihm fand er mehrere kleine Beutel mit meinen Sachen und mit Souvenirs. Und eine große Tüte.

Vorsichtig und höchst penibel lugte mein Großvater in diese Tüte hinein.

Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ er sich in den Sessel plumpsen und nahm den transparenten Helm ab.

»Sascha hat nicht vergessen, wie gern ich roten Fisch esse ...«, sagte er. »Möchtest du etwas, Pjotr? Das ist guter, eingesalzener ... und inzwischen auch paralysierter Lachs.«

Ich polkte ein Stück ab und kostete es.

Ganz normaler Fisch. Den Geschmack hatte die geheimnisvolle Waffe nicht beeinflusst.

»Ein guter Lachs, Großpapa ...«, bemerkte ich. »Was hast du denn?«

Mein Großvater saß da, den Kopf in beide Hände gestützt, und starrte auf den Aktenkoffer.

»Glaubst du etwa, ich hätte keine Angst, Petja?«, fragte er mich mit traurigem Blick. »Glaubst du, ich hätte nachts keine Albträume? Glaubst du, meine Nerven würden nicht blank liegen, Petja ... Ich habe schon nicht mehr damit gerechnet, diesen Tag zu erleben ... ich habe gefürchtet, nicht durchzuhalten ...«

Auf der Treppe waren Schritte zu hören. Mein Großvater riss sich wieder zusammen.

»Geh dich waschen. Mascha und ich müssen uns unterhalten.«

Ich schlängelte mich an der Frau vorbei, die in der Türfüllung stand. Sie trug nur einen Bademantel und hatte sich ein Handtuch um den Kopf gewickelt.

»Hier hat es ein kleines Gefecht gegeben«, teilte ich ihr freundlich mit.

Ich duschte lange und mit Genuss. Als könnte ich alle Probleme und unangenehmen Überraschungen der letzten Tage von meinem Körper schrubben. Und wieder zu meiner ruhigen und unbeschwerten Gemütsverfassung zurückfinden.

Letzten Endes hatte ich mich daran gewöhnt, an dieses Vertrauen in mich selbst und in den morgigen Tag. Von klein auf wusste ich: Ich war nicht allein, ich hatte meinen Großvater, dessen giftige Formulierungen die Zeitungen auf den Titelseiten abdruckten, meinen Großvater, bei dem sich Abgeordnete und Geschäftsleute Rat holten. Er beschützte mich vor allem und jedem. Nie hatte er mich zu etwas gezwungen. Ich selbst hatte die Kurse gewählt, die ich in der Schule belegte, den Sport, den ich treiben wollte, ich selbst hatte entschieden, Militärpilot zu werden und dann in die Raumfahrt überzuwechseln ... Mein Großvater war jedoch stets bereit gewesen, mir bei allem zu helfen.

Ob es in der Galaktischen Familie auch Enkel gab?

Ich grinste und fing an zu pfeifen, bis mir der schiefe Gesang von Mascha einfiel und ich verstummte.

Mein Großvater hatte in seinem Buch einen anschaulichen Vergleich gefunden, als er von Kindern und Stiefkindern sprach. Einen Vergleich, der kein gutes Licht auf die Menschheit warf. Wenn wir nur endlich lernen würden, solche Kränkungen auch zu empfinden!

Andererseits sind natürlich alle Vergleiche falsch ...

Etwas bedrückte mich. Ein kalter Klumpen lauerte in mir und zerrte mit dünnen Spinnenbeinen an meinen Nerven. Und diese Kälte vertrieb ich nicht mit einer heißen Dusche.

Es war, als hätte ich etwas Wichtiges übersehen. Als hätte ich mich weggedreht, um es nicht zu sehen ...

Halt! Was sollte das? Ich führte mich ja wie der reinste Neurastheniker auf! Dabei war mit mir alles in Ordnung. So weit es ging jedenfalls.

Nachdem ich mich mit dem weichen, alten Handtuch abgerubbelt hatte, nahm ich den Föhn vom Regal und trocknete mein Haar an. Mascha hatte sich entweder nicht getraut, ihn zu benutzen, oder sie hatte ihn übersehen. Wahrscheinlich Letzteres. Ich hätte sie darauf hinweisen sollen. Diese seltsame Frau ...

Ob ich ihr gefiel? Nicht als Enkel des vergötterten Andrej Chrumow, sondern einfach so, als Mensch.

Ich lugte hinaus, ob sich jemand in meinem Zimmer aufhielt, und verließ das Bad. Mascha war eine Frau, die keine großen Umstände machte, ihr war zuzutrauen, dass sie unaufgefordert hereinplatzte. An dergleichen war ich nicht gewöhnt. Etwa mit fünf Jahren hatte ich begriffen: In meinem Zimmer war ich mein eigener Herr. Wenn ich nicht wollte, betrat mein Großvater es nicht. Später hatte ich in einem der Bücher meines Großvaters gelesen, der Verlust des »persönlichen Territoriums« zöge eine anormale Entwicklung sowohl des einzelnen Individuums als auch einer ganzen Nation oder Rasse nach sich. Mein Großvater hatte dabei an die Menschheit gedacht, die nicht mehr das Recht hatte, über die Erde zu bestimmen. Er hatte prognostiziert, wohin das führen würde, indem er einige ausgesprochen kühne Vergleiche zur Geschichte unterschiedlicher Völker gezogen hatte. Vermutlich hatte er seine Überzeugung jedoch auch mir gegenüber walten lassen.

An der Tür klopfte es leise.

»Petja«, rief mein Großvater. »Wenn du dich frisch gemacht hast, dann hilf uns doch, den Tisch zu decken.«

Ich mag diese häuslichen Bankette nicht. Ich sehe keinen Sinn darin. Es ist eine Sache, wenn Gäste kommen und man ihnen eine wahre Festtafel präsentieren will. Mit dem feinen Porzellan des Geschirrs, dem Kristall der Weinkelche, mit Kalbsbraten, in Minzsauce geschmort, und rotem Beaujolais, frisch aus Frankreich importiert ... Denn es ist schön, anderen Menschen ein Vergnügen zu bereiten.

Oder wenn du dir selbst etwas Besonderes gönnen willst, in ein kleines, gemütliches Restaurant gehst ... und dich bei frisch gezapftem Bier über ein Schaschlik aus Hammelfleisch hermachst.

Etwas ganz anderes ist es jedoch, wenn du selbst alles vorbereiten musst, kochen, raffinierte Salate anrichten, ein Tischtuch auflegen, das Besteck verteilen ... nur damit du ein paar Stunden später, sobald alles aufgegessen und ausgetrunken ist, das Geschirr abwäschst und alle Spuren der Feier beseitigst.

Ist dergleichen nicht dumm?

Man könnte doch ebenso gut in der Küche sitzen, eine Pizza in der Mikrowelle aufbacken und für jeden eine Flasche tschechisches Bier aufmachen. Und sich das ganze Brimborium sparen. Sogar eine Kerze, in ein leeres Glas gesteckt, könnte man anzünden und in der Mitte auf den Tisch stellen ...

Während ich zwischen Küche und Esszimmer hin und her schwirrte, registrierte ich, wie sich der Tisch unter Maschas Bemühungen in eine Festtafel verwandelte. Sie hatte sogar irgendwo einen Kerzenhalter aufgetrieben, Servietten mit einem fröhlichen Muster und einen alten Eiskübel aus Neusilber ... Ich wusste nicht mal, dass wir derart viele überflüssige Dinge besaßen. Den Ehrenplatz nahm eine Platte mit dem paralysierten Lachs ein.

Natürlich hatte Mascha auch die Empfangsstation der Alarmanlage nicht vergessen, die einen Platz neben ihrem Teller gefunden hatte. Mascha war halt allzeit auf Posten.

»Wie gefällt’s dir?«, fragte sie mich, als ich stehen blieb und durchatmete. Mit ihrem langen bordeauxfarbenen Kleid und dem hochgesteckten Haar sah sie schon wesentlich hübscher aus.

Oder hatte ich mich inzwischen einfach an ihren Anblick gewöhnt?

»Also ...« Ich traute mich nicht recht, mit der Sprache rauszurücken, und fragte stattdessen: »Kommt noch jemand?«

»Nein. Wieso?«

»Na ja ...«

Am liebsten hätte ich die Nachbardatschen abgeklappert, einen der alten Schriftsteller oder ihrer lausigen Enkel angeschleppt und an die Tafel gesetzt. Sie hätten diese Pracht vermutlich zu schätzen gewusst.

Denn so stimmte das doch hinten und vorn nicht. Als ob wir Geschäftsverhandlungen führen wollten.

Erst eine halbe Stunde später setzten wir uns zu Tisch. Für das Mittagessen war es bereits zu spät, für das Abendbrot noch zu früh. Verstohlen blickte ich zu meinem Großvater hinüber, der reichlich komisch aussah. Er hatte seine Trainingshose und seinen Pullover gegen einen altmodischen Anzug, ein weißes Hemd und eine schmale Krawatte - bestimmt war sie irgendwann mal modern gewesen - eingetauscht. So kleiden sich Rentner, um eine Erhöhung ihrer Rente zu verlangen oder eine Renovierung ihrer Wohnung auf Kosten der Stadt. Fehlte nur noch ein Orden an der Brust ... den mein Großvater allerdings nie erhalten hatte. Denn er war nie beim Militär gewesen. Hatte weder im Kaukasus gekämpft noch während der Krim-Krise.

Ob er gerade deshalb bis heute so kämpferisch war?

»Kinder ...« Mein Großvater hüstelte, sah erst mich an, dann Mascha. »Jungs und Mädels ... es war längst an der Zeit, dass ihr euch kennenlernt.« Was für ein interessanter Anfang.

»Seit fünfundzwanzig Jahren warte ich nun auf den Tag, an dem die Menschheit diese Chance erhält«, fuhr mein Großvater fort. »Ein Vierteljahrhundert. Ein Drittel meines Lebens. Ich habe mich auf diesen Tag vorbereitet. Und vermutlich waren viele meiner Schritte nicht gerade ethisch ... Aber sie waren nun einmal notwendig.«

Er drehte das Schnapsglas in den Händen und schielte zu der Flasche Staraja stoliza rüber, dem besten Wodka Moskaus.

»Heute ist unser Tag gekommen, das spüre ich. Der Tag der ganzen Menschheit. Selbst wenn sie nichts davon weiß ... Petja!«

Schweigend öffnete ich die Flasche, goss meinem Großvater ein volles Glas und mir selbst ein wenig ein. Fragend blickte ich Mascha an.

Unter ihrem unerbittlichen Blick füllte ich das Glas bis zum Rand.

»Auf uns ... Abenteurer.« Mein Großvater stürzte sein Glas auf ex hinunter. »Wenn du keinen Wodka magst, Pjotr, dann nimm dir Mineralwasser.«

Erleichtert goss ich den Inhalt meines Glases in das meines Großvaters und schenkte mir Selters ein.

Mascha musterte mich mit kränkender Neugier. »Du schlägst wohl nie über die Stränge, was, Pjotr?«

»Ist das etwa schlecht?«, antwortete ich mit einer Gegenfrage.

»Es ist ein bisschen langweilig.«

»Das ist mir noch nicht aufgefallen.«

Die nächsten Minuten aßen wir schweigend unser Essen. Maschas Koteletts schmeckten hervorragend. Ich entspannte mich sogar ein wenig. Vielleicht liefen sämtliche Geschäftsverhandlungen ja auf ein paar patriotische Trinksprüche hinaus ...

»Die einzige Chance der Menschheit, eine akzeptable Position in der Galaxis einzunehmen, besteht darin, unersetzlich zu werden«, erklärte mein Großvater unvermittelt.

»Aber wir sind doch schon unersetzlich«, wandte ich ein.

»Wir haben die schnellsten Schiffe ... das stimmt. Und weiter? Wir sind nützlich, Petja. Du darfst Nützlichkeit jedoch nicht mit Unersetzlichkeit verwechseln. Ein Vierteljahrhundert habe ich gewartet. Gehofft und auf eine Situation gewartet, in der die Menschheit etwas tun kann, das sich andere Rassen nicht einmal vorzustellen vermögen ...«

Mein Großvater stieß mit Mascha an, die beiden tranken auf ex. Das Gesicht unserer Besucherin blieb reglos. Offensichtlich wusste sie, wovon mein Großvater sprach. Mich kränkte das ein wenig.

»Ich habe gehofft, dass drei relative junge Rassen, die sich genau wie wir nicht frei entfalten können, ebenfalls darauf warten«, fuhr mein Großvater fort. Seine Augen glänzten zart. »Die Alari, die Zähler und die Cualcua. Kämpfer, Mathematiker und Chamäleons.«

»Wer?«

»Du weißt, dass die Rasse der Cualcua kein beständiges Äußeres hat?«

Ich zuckte mit den Achseln. Klar, in den Filmen, die ich gesehen hatte, sahen die Cualcua jedes Mal anders aus.

»Es sind symbiotische Lebewesen aus Protoplasma, die kein Innen- und kein Außenskelett haben und zwischen einem halben Kilo und zwei Zentnern wiegen.« Mein Großvater lachte lautlos. »Sie sind unverzichtbar für Montagearbeiten und Reparaturen, denn sie können in jede Spalte hineinkriechen und gelangen noch in das winzigste Arbeitsmodul. Oder in einen Raketensprengkopf. Was glaubst du, Petja, gefällt ihnen diese Rolle?«

»Wir wissen nichts über ihre Psychologie, Großpapa. Nicht einmal du weißt etwas darüber.«

»Humbug! Der Überlebenswunsch, der Selbsterhaltungsinstinkt - das sind Konstanten. Rassen, die sich nicht um ihr Überleben scheren, gibt es nicht! Aber das Leben der Cualcua ist heutzutage keinen Pfifferling wert. Wer kriecht denn in einen Reaktor, der in Betrieb ist? Die Cualcua. Wer bringt eine Erkundungssonde auf einen Planeten, ohne die Möglichkeit der Rückkehr zu haben? Natürlich die Cualcua. Wer richtet einen Torpedo auf sein Ziel aus? Jene kleinen genügsamen und intelligenten Lebewesen ... die Cualcua eben.«

Klar, das war eine Schweinerei. Die mir nicht unbekannt war. Ich hatte jedoch noch nie gehört, dass die Cualcua sich über diese Rollenverteilung empörten. Übrigens: Wusste eigentlich ein durchschnittlicher Hyxoid oder Stäubler etwas von der Unzufriedenheit der Menschen?

»Die Zähler sind also auf der Erde gelandet. Und sie haben nur ein Ziel: mich zu treffen.« Mein Großvater langte nach der Wodkaflasche und goss sich sein nächstes Glas selbst ein. »Sie haben alles verstanden ... Sie konnten meine Texte analysieren. Sie wissen, dass ich in der Lage bin, ihnen zu helfen.«

Also echt, mein Großvater wurde langsam alt ... Worauf beruhte dieses Selbstbild? Schließlich stand nichts und niemand hinter ihm, abgesehen von ein paar wissenschaftlichen Zentren, die sich mit Fragen der extraterrestrischen Psychologie beschäftigten. Und abgesehen von einer fanatischen jungen Frau. Aber er kam nicht an Schiffe heran oder an ...

Halt! Ich kam an Schiffe ran!

Mir war zumute, als hätte mich jemand mit kaltem Wasser Übergossen ...

»Und wenn der Zähler gelogen hat, Großpapa?«, fragte ich. »Wenn er nicht zu dir kommt?«

»Er hat die Wahrheit gesagt!«, fuhr mich mein Großvater an.

»Und wenn er unterwegs verreckt? Er muss das ganze Land durchqueren. Er ist fremd hier, hat nicht die leiseste Ahnung von den Bedingungen, ist allein auf einem feindlichen Planeten.«

Mein Großvater senkte den Blick. »Er muss sich darauf vorbereitet haben«, knurrte er nach einer Weile. »Er war verpflichtet, sämtliche Faktoren zu berücksichtigen. Alle Rassen verfügen über Daten zu unserem Planeten. Das Prinzip der informativen Einseitigkeit des Konklave ist dir ja wohl bekannt, oder? Wir dürfen keine Informationen von älteren Rassen verlangen, müssen sie ihnen aber zur Verfügung stellen.«

»Ich weiß, Großpapa. Aber niemand kann sämtliche Faktoren berücksichtigen.«

»Es würde mich nicht wundern, wenn er sogar deinen Autobus mit den Tomaten einkalkuliert hat!«, brummte mein Großvater griesgrämig.

»Fangt jetzt bloß keine Schlägerei an«, bemerkte Mascha, während sie sich Salat auftat.

Darauf verstummten wir. Sie hatte ja recht ...

»Entschuldige, Großpapa«, sagte ich. Mit einem Mal wollte ich auch etwas Alkoholisches trinken. Natürlich keinen Wodka, aber in der Küche musste es Wein geben.

»Du auch, Petja.« Mein Großvater rieb sich die Stirn. »Lass Tyrann rein, er winselt ...«

Ich ging in die Küche und holte die Flasche moldawischen Nigru de Purkai und einen Korkenzieher. Von der Vortreppe klang tatsächlich Hundegejaule herüber. Ob der Regen wieder eingesetzt hatte? Oder hielt der Hund es für seine Pflicht, an unserem Essen teilzunehmen?

Mit der Flasche in der Hand schlenderte ich zur Tür, schaltete in der Diele das Licht an und schloss auf. Tyrann kam aufgeregt angelaufen.

»Was machst du für einen Radau wie eine Ratte im Keller?«, fragte ich. »Wenn du wenigstens anständig kläffen würdest!« Aber kläffen konnte er nicht.

Tyrann stolzierte mit dem Gebaren vollendeter Pflichterfüllung herein, den schlaffen Körper des Reptiloiden über den Fußboden schleifend. Seine starken Kiefer hielten den Hals des Zählers fest umschlossen. Der Hund ließ den Außerirdischen vor mir fallen und stupste mich mit der Schnauze ins Knie.

Lobe mich, mein junger Herr ...

»Großpapa!«, schrie ich. »Großpapa!«

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