Dritter Teil JANUAR

Finde ich keinen Unterschlupf,

Oh, dann werde ich vergehen …

ROLLING STONES

5. Januar 1974

Die Sache, die sich an diesem Tag im Supermarkt ereignete, schien das einzige in seinem Leben zu sein, das wirklich für ihn geplant, für ihn gedacht und nicht bloß zufällig war. Es war, als hätte ein unsichtbarer Finger eine Botschaft auf einen seiner Mitmenschen geschrieben, die ausdrücklich nur für ihn bestimmt war.

Er ging gerne einkaufen, es war eine beruhigende, gesunde Beschäftigung. Und seit seiner Begegnung mit dem Meskalin genoß er es außerordentlich, ganz normale gesunde Dinge zu tun. Er war am Neujahrstag erst spät nachmittags aufgewacht und den Rest des Tages orientierungslos, so als befände er sich außerhalb von Raum und Zeit, ums Haus gewandert. Ab und zu hatte er einen Gegenstand auf-gehoben und ihn betrachtet und dabei war er sich vorgekommen wie Jago, der Yoricks Schädel untersucht. Dieses Gefühl war, etwas abgeschwächt, auch am nächsten Tag noch geblieben, und selbst am übernächsten Tag war es noch nicht ganz verschwunden. Aber in anderer Hinsicht war die Wirkung gar nicht so schlecht. Sein Geist fühlte sich gereinigt und entstaubt, so als hätte eine sauberkeitsfanatische innere Putzfrau das Unterste zuoberst gekehrt und ihn bis in den letzten Winkel geschrubbt und gescheuert. Er betrank sich nicht und mußte demzufolge auch nicht heulen. Als Mary ihn - ganz vorsichtig - am Abend des ersten Januars anrief, hatte er ganz ruhig und vernünftig mit ihr gesprochen. Ihre Positionen schienen sich nicht sehr verändert zu haben. Sie spielten eine Art Schach, bei dem jeder von ihnen eine Figur darstellte, die darauf wartete, daß der andere den ersten Zug tat. Doch dann hatte sie sich gerührt und das Wort Scheidung fallenlassen. Nur die Andeutung einer Möglichkeit, ein winziger Fingerzeig, aber es war ein Zug. Doch das störte ihn nicht. Nein, was ihn während der Nachwehen seines Trips am meisten aufregte, war der eingeschlagene Bildschirm seines Zenith-Farbfernsehers. Er konnte nicht verstehen, warum er das getan hatte. Er hatte sich so viele Jahre lang einen Farbfernseher gewünscht, auch wenn seine Lieblingsfilme die alten, schwarzweißen waren. Es war auch nicht die Handlung selbst, die ihn so verstörte, sondern ihr übriggebliebener Beweis - die verstreuten Glassplitter und die offen-liegenden Drähte. Sie schienen ihn vorwurfsvoll anzusehen: Warum hast du mir das angetan? Ich habe dir treu gedient, und du hast mich einfach zerschlagen. Ich habe dir nichts getan, und trotzdem mußtest du mich kaputtmachen. Ich konnte mich nicht verteidigen. Außerdem war es eine furchtbare Mahnung an das, was man bald seinem Haus antun würde. Schließlich holte er eine alte Decke und legte sie über die Trümmer. Das machte es sowohl besser als auch schlechter. Besser, weil er sie so nicht mehr sehen konnte, schlechter, weil er so das Gefühl hatte, eine verhüllte Leiche im Hause aufzubewahren. Den Hammer warf er weg, als wäre er eine Mordwaffe.

Aber hier im Supermarkt einzukaufen, das war eine gute Sache. So angenehm wie Kaffeetrinken in Benji’s Grill oder den Wagen durch eine Autowaschanlage zu fahren oder kurz an Henry’s Zeitungsstand in der Stadt zu halten, um sich eine Times zu kaufen. Der Supermarkt war riesig, mit breiten Neonröhren an der Decke und voller Frauen, die ihre Einkaufswagen durch die Gänge schoben, ihre Kinder schimpf-ten und mit kritischem Blick die Tomaten musterten, die in durchsichtige Plastikfolie eingepackt waren, so daß man sie nicht richtig drücken konnte. Aus den Deckenlautsprechern tröpfelte diskrete Musik, die so leise und gleichmäßig ins Ohr eindrang, daß man sie kaum wahrnahm.

Heute, an einem Samstag, befand sich eine Menge Wochenendeinkäufer im Laden, und es waren mehr Männer darunter als gewöhnlich. Sie begleiteten ihre Frauen und machten sie mit ihren stümperhaften Einkaufsvorschlägen nervös. Er beobachtete diese Ehemänner, ihre Frauen und ihre diversen Arten von Partnerschaft mit gütigen Augen.

Der Tag war strahlend klar, und das Sonnenlicht, das durch die großen Fensterscheiben fiel, warf warme quadratische Flecken auf die Registrierkassen und ließ ab und zu das Haar von der einen oder anderen Frau in der Warteschlange aufleuchten. Die Dinge wirkten nicht so ernst, wenn ein Tag schön war wie dieser, aber nachts wurde alles wieder schlimmer.

Sein Einkaufswagen war mit der normalen Auswahl von Lebensmitteln, die ein Mann, der sich ganz plötzlich allein versorgen muß, achtlos hineinwirft, gefüllt: Spaghetti, Fleischsoße im Glas, vierzehn TV-Dinners, ein Dutzend Eier und ein Netz Navel-Orangen, um sich vor Skorbut zu schützen.

Er befand sich im Mittelgang und wollte den Wagen gerade zur Kasse fahren, als Gott - vielleicht - zu ihm sprach. Vor ihm stand eine Frau in einer graublauen Hose und einem selbstgestrickten marinefarbenen Pullover. Ihr Haar war sehr blond. Sie mochte so um die fünfunddreißig sein, und ihr Gesichthatte einen offenen, schönen Ausdruck. Plötzlich drang ein eigenartiges, krächzendes Geräusch aus ihrer Kehle und sie stolperte. Die Senftube, die sie in der Hand gehalten hatte, fiel auf den Boden und rollte weg, dabei eine rote Plakette mit der Aufschrift FRENCH’S zeigend.

»Ma’am?« Er lief auf sie zu. »Ist alles in Ordnung?«

Die Frau fiel hintenüber, und ihre linke Hand, mit der sie Halt gesucht hatte, fegte ein ganzes Regal mit Kaffeedosen leer, die auf den Boden kollerten. Auf jeder Dose stand:


MAXWELL HOUSE

Bis zum letzten Tropfen gut




Es ging alles so schnell, daß er gar nicht erst Angst bekam - um sich selbst sowieso nicht -, aber da war eine Sache, an die er später immer wieder denken mußte und die ihn bis in seine Träume verfolgte. Ihre Augen waren plötzlich völlig stumpf und ausdruckslos geworden, so wie Charlies Augen während seiner Anfälle.

Die Frau fiel zu Boden und hustete schwach. Ihre Füße, die in schweren Lederschuhen mit Salzrändern an den Hacken steckten, trommelten auf den Kachelfußboden. Eine Frau, die hinter ihm stand, schrie auf. Ein Angestellter, der gerade einige Suppendosen mit Preisschildern versah, ließ seinen Stempel fallen und rannte den Gang entlang. Zwei von den Kassenmädchen kamen zum Kopfende des Ganges und starrten mit weit aufgerissenen Augen zu ihnen herunter.

Er hörte sich sagen: »Ich glaube, sie hat einen epileptischen Anfall.«

Aber das stimmte nicht. Es war kein epileptischer Anfall, sondern eine Gehirnblutung, und der Arzt, der gerade mit seiner Frau einkaufen war, stellte ihren Tod fest. Der junge Arzt wirkte sehr ängstlich, so als hätte er gerade erst erfahren, daß sein Beruf ihn mit dem Tod in Verbindung brachte wie ein rachsüchtiges Horrormonster. Als er seine Untersuchung beendet hatte, hatte sich eine mittelgroße Menge um die Frau versammelt, die jetzt inmitten der heruntergefallenen Kaffeedosen lag, den letzten Dingen dieser Welt, mit denen sie in Berührung gekommen war. Jetzt war sie in eine andere Welt hineingetreten, und andere Menschen würden für sie handeln. Ihr Einkaufswagen war mit Vorräten für eine Woche angefüllt, und bei dem Anblick der Schachteln, Dosen und eingepackten Fleischwaren fuhr ihm plötzlich ein scharfer, schmerzvoller Stich des Entsetzens durch den Körper.

Er fragte sich, was nun wohl mit ihren Lebensmitteln passieren würde. Ob man sie einfach in die Regale zurückstellte?

Oder würde man sie neben dem Büro des Abteilungsleiters aufbewahren, bis jemand sie bezahlte? Als Beweis dafür, daß die Dame des Hauses mitten aus dem Leben herausgerissen worden war?

Jemand hatte einen Polizisten gerufen, der sich jetzt durch die Menge bei den Kassen drängte. »Vorsicht«, rief er mit wichtigtuerischer Miene. »Machen Sie ihr Luft!« Als ob sie die noch brauchen könnte.

Er drehte sich um und wand sich aus der Menge heraus, wobei er sich mit den Schultern den Weg freibahnte. Die Ruhe, die er während der letzten fünf Tage so genossen hatte, war dahin. Wahrscheinlich für immer. Hatte es je ein deutlicheres Omen gegeben? Sicher nicht. Aber was hatte es zu bedeuten? Was nur?

Als er nach Hause kam, schob er die TV-Dinners ins Gefrierfach und mixte sich einen starken Drink. Sein Herz pochte laut in seiner Brust. Den ganzen Weg vom Supermarkt nach Hause hatte er darüber nachdenken müssen, was sie damals mit Charlies Kleidern gemacht hatten.

Seine Spielsachen hatten sie zu einem Wohltätigkeitsladen in Norton gebracht, und die tausend Dollar von seinem Sparbuch - sein Collegegeld, sie hatten immer die Hälfte von all dem Geld, das er von den Verwandten zu Weihnachten und zu seinem Geburtstag bekommen hatte, trotz Heulens und Protesten seinerseits auf dieses Konto überwiesen - hatten sie auf ihr gemeinsames Konto umbuchen lassen. Sein Bett hatten sie auf Mamma Jeans Rat hin verbrannt. Er hatte damals nicht so ganz eingesehen, warum, aber er hatte nicht den Mut gehabt, sich dagegen aufzulehnen. Eine ganze Welt war um ihn zusammengebrochen, da sollte er um ein paar Sprungfedern und Matratzen kämpfen? Aber die Kleider, das war eine ganz andere Sache. Was hatten sie mit Charlies Kleidern gemacht?

Die Sache beschäftigte ihn den ganzen Nachmittag, bis er ganz nervös wurde. Beinahe hätte er Mary angerufen und sie danach gefragt, aber das wäre wohl das letzte Tüpfelchen auf dem i gewesen. Dann hätte sie nicht mehr raten müssen, in welcher geistigen Verfassung er sich befand.

Kurz vor Sonnenuntergang kletterte er auf den kleinen Dachboden hinauf, den man durch eine Falltür erreichte, welche in die Decke vom Ankleidezimmer des ehelichen Schlafzimmers eingelassen war. Er mußte sich auf einen Stuhl stellen und hochziehen. Schon seit ewigen Zeiten war er nicht mehr da oben gewesen, aber die Hundert-Watt-Birne brannte noch. Sie war dick mit Staub und Spinnweben bedeckt, aber sie brannte.

Er öffnete einen der verstaubten Kartons und entdeckte all seine Highschool-und College-Jahrbücher, die ordentlich darin verstaut waren. Auf jedem Highschool-Jahrbuch waren folgende Worte eingestanzt:


DER ZENTURIO

Boy High School …




Die College-Jahrbücher waren schwerer und besser gebunden. Auf ihrem Deckel war eingestanzt:


DAS PRISMA

Wir wollen uns erinnern …




Er schlug zuerst die Highschool-Jahrbücher auf und blätterte sie schnell bis zu den hinteren, signierten Seiten durch (›In der Oberstadt, in der Unterstadt und um die ganze Stadt herum, ich bin der Kerl, der euer Jahrbuch verdorben hat, hab’ alles falsch herum geschrieben - A. F. A., Connie‹).

Dann folgten die Fotografien ihrer ehemaligen Lehrer lang, lang ist’s her -, die steif hinter ihren Schreibtischen saßen oder neben der Tafel standen und vage in die Kamera lächelten. Danach die Fotos von Klassenkameraden, an die er sich kaum erinnerte. Darunter waren ihre außerschulischen Aktivitäten mit Noten aufgelistet (Rednerclub 1,2; Studentenbeirat 2,3,4; Poe-Gesellschaft, 4) zusammen mit ihren Spitznamen und einem kleinen Slogan. Von einigen kannte er das Schicksal (Armee, Tod bei einem Autounfall, stellvertretender Bankmanager), aber die meisten waren schon lange aus seinem Gesichtskreis verschwunden, und er hatte keine Ahnung, was aus ihnen geworden war.

Im letzten Jahrbuch seiner Abiturklasse stieß er auf das Foto eines jungen Barton George Dawes, der verträumt in die Zukunft blickt. Es war ein retouchiertes Bild, das sie damals im Atelier Cressey hatten machen lassen. Er war erschüttert, wie wenig dieser Junge noch von seiner Zukunft wußte und wie sehr er seinem Sohn ähnelte, dessen Spuren er ja eigentlich hier oben suchen wollte. Dieser Junge da auf dem Bild hatte noch nicht einmal den Samen produziert, aus dem später der Sohn werden sollte. Unter dem Bild stand:


BARTON G. DAWES

›Whizzer‹

(Wanderverein, 1, 2, 3, 4

Poe-Gesellschaft, 3, 4)

Bay High School

Bart, der Klassenclown, hat uns unsere schwere Last leichter gemacht!


Er packte die Jahrbücher in den Karton zurück und stöberte weiter auf dem Dachboden herum. Ein paar alte Vorhänge, die Mary vor fünf Jahren abgenommen hatte. Ein alter Lehnstuhl mit abgebrochenem Arm. Ein kaputter Radiowecker.

Ein Hochzeitsfotoalbum, das er lieber nicht anguckte. Stapelweise Zeitschriften - die muß ich mal raustragen, dachte er. Im Sommer ist das feuergefährlich. Ein alter Waschmaschinenmotor, den er irgendwann mal von der Wäscherei mit nach Hause genommen und vergeblich daran herumgebastelt hatte. Und Charlies Kleider.

Sie waren in drei Pappkartons verstaut, die alle nach Mottenkugeln stanken. Charlies Pullover, Hemden und Hosen und sogar Charlies Unterwäsche. Er nahm alles einzeln heraus und betrachtete die Sachen aufmerksam, wobei er sich vorzustellen versuchte, daß Charlie sie tatsächlich getragen, sich daran bewegt, seine kleine Welt in ihnen erlebt hatte.

Der Gestank der Mottenkugeln vertrieb ihn endlich vom Dachboden. Zitternd stieg er vom Stuhl und zog eine Grimasse. Er brauchte jetzt unbedingt einen Drink. Der Geruch von Dingen, die jahrelang ruhig und nutzlos da oben rumgelegen hatten, die keinen weiteren Zweck erfüllten, als weh zu tun. Er mußte den ganzen Abend an sie denken, bis er so betrunken war, daß er nicht mehr denken konnte.

7. Januar 1974

Um Viertel nach zehn klingelte es an der Haustür, und als er sie öffnete, sah er einen Mann in Anzug und Mantel, der ein wenig gekrümmt vor ihm stand und ihn freundlich anblickte.

Er war sauber rasiert und hatte eine schmale Aktentasche in der Hand. Zuerst glaubte er, daß es sich um einen Vertreter handelte, der seine Proben in der Aktentasche mit sich führte - Amway oder Zeitschriftenexemplare oder vielleicht sogar dieses verräterische Swipe -, und er war bereit, ihn freundlich hereinzubitten, seine Reklamerede aufmerksam anzuhören, Fragen zu stellen und vielleicht sogar etwas zu kaufen.

Abgesehen von Olivia war es sein erster Besucher, seit Mary das Haus verlassen hatte.

Aber der Mann war kein Vertreter. Er war Rechtsanwalt, hieß Philip T. Fenner, und sein Klient war der Stadtrat. Er un-terrichtete ihn von diesen Dingen mit einem scheuen Lächeln.

»Kommen Sie herein«, sagte er seufzend. Er dachte daß dieser Kerl auf eine gemeine Weise tatsächlich ein Vertreter sei. Man könnte sogar sagen, daß er so etwas wie Swipe verkaufen wollte.

Fenner redete drauf los, er schaffte eine Meile pro Minute.

»Ein wunderschönes Haus haben Sie hier. Wirklich wunderschön. Man sieht es ihm doch gleich an, daß es sorgfältig instand gehalten wird. Ich werde Ihre Zeit nicht lange bean-spruchen, Mr. Dawes, ich weiß, Sie sind ein beschäftigter Mann. Aber Gordon Jackson sagte mir, ich solle doch mal kurz reinschauen, da ich sowieso hier vorbeikäme, und Ihnen das Umzugsformular dalassen. Ich denke mir, daß Sie es schon schriftlich angefordert haben, aber in dem ganzen Weihnachtstrubel gehen solche Dinge leicht verloren. Natürlich stehe ich Ihnen auch zur Verfügung, wenn Sie Fragen haben.«

»Ja, ich habe eine Frage«, sagte er, ohne zu lächeln.

Die fröhliche Miene seines Besuchers verschwand für einen Augenblick, und er sah den echten Fenner, der hinter dieser Fassade lauerte, ein kalter, mechanischer Rechner wie eine Pulsar-Uhr. »Was für eine Frage, Mr. Dawes?«

Er lächelte. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«

Und da war er wieder, der leutselige, fröhliche Stadtbote.

»Oh, das wäre sehr nett. Draußen ist es doch ein bißchen kalt, nur um die zehn Grad. Ich finde, die Winter werden immer kälter, meinen Sie nicht auch, Mr. Dawes?«

»Da haben Sie recht.« Das Wasser war noch heiß vom Frühstück. »Ich hoffe, Sie haben nichts gegen Pulverkaffee.

Meine Frau ist für eine Weile zu ihrer Familie gefahren, und deshalb muß ich mich selbst um alles kümmern!«

Fenner lachte gutmütig, und er stellte fest, daß dieser Mann genau über die Situation zwischen ihm und Mary un-terrichtet war. Vermutlich kannte er sich auch genau in seinen Beziehungen zu anderen Personen oder Institutionen aus: Steve Ordner, Vinnie Mason, die Gesellschaft, Gott.

»Nein, nein, Pulverkaffee ist sehr gut. Ich trinke ihn immer. Ehrlich gesagt, ich kann da keinen großen Unterschied feststellen. Darf ich hier ein paar Papiere auf dem Tisch ausbreiten?«

»Nur zu. Nehmen Sie Sahne?«

»Nein, ich trinke ihn schwarz. Schwarz schmeckt er am besten.« Er knöpfte seinen Mantel auf, zog ihn aber nicht aus. Er strich ihn nur unter sich glatt, als er sich hinsetzte, so wie eine Frau ihren Rock glättet, damit er keine Falten bekommt. Bei einem Mann wirkte diese Geste ausgesprochen pingelig. Er öffnete die Aktentasche und zog ein gelochtes Formular daraus hervor, das wie eine Steuererklärung aussah. Er goß Fenner eine Tasse Kaffee ein und reichte sie ihm.

»Danke. Vielen Dank. Trinken Sie keinen?«

»Ich glaube, ich hole mir lieber einen Drink«, antwortete er.

»Aha«, sagte Fenner und lächelte gewinnend. Dann nippte er an seinem Kaffee. »Gut. Sehr gut. Genau das Richtige.«

Er mixte sich einen großen Drink und fragte Fenner:

»Würden Sie mich bitte einen Augenblick entschuldigen? Ich muß jemanden anrufen.«

»Aber natürlich, selbstverständlich.« Er trank einen weiteren Schluck Kaffee und schmatzte mit den Lippen.

Er ging zum Telefon im Flur und ließ die Tür offen. Er wählte die Nummer der Calloways, und Jean nahm den Hörer ab.

»Hier ist Bart«, sagte er. »Kann ich mit Mary sprechen, Jean?«

»Sie schläft.« Jeans Stimme war eisig.

»Dann weck sie bitte auf. Es ist sehr wichtig.«

»Das wette ich. Ich wette, daß es wichtig ist. Ich hab’ neulich mit Lester darüber gesprochen. Es wird Zeit, daß wir uns eine geheime Telefonnummer besorgen, hab’ ich zu ihm gesagt, und er war damit einverstanden. Wir finden beide, daß du völlig verrückt geworden bist, Bart, und das ist die ungeschminkte Wahrheit.«

»Tut mir leid, das zu hören. Aber ich muß jetzt wirklich …»

Oben im Schlafzimmer wurde der Hörer abgenommen, und Mary sagte: »Bart?«

»Ja. Mary, hat dich ein Rechtsanwalt namens Fenner aufgesucht? So ein kleiner Schleimscheißer, der versucht, sich wie James Stewart zu geben?«

»Nein«, antwortete sie. Scheiße, daneben. Dann fügte sie hinzu: »Er hat mich angerufen.« Volltreffer! Fenner stand jetzt mit dem Kaffee in der Tür und trank ihn in aller Seelenruhe.

Der halb scheue, halb fröhliche, ach so gewinnende Ausdruck war jetzt völlig aus seinem Gesicht verschwunden. Er wirkte eher genervt.

»Mamma, geh aus der Leitung«, sagte Mary. Jean Calloway legte mit einem höhnischen Schnaufen den Hörer auf.

»Hat er nach mir gefragt?« fragte er Mary.

»Ja.«

»Hat er nach der Party mit dir gesprochen?«

»Ja, aber … ich habe ihm nichts darüber erzählt.«

»Du hast ihm wahrscheinlich mehr gesagt, als du weißt. Er kommt wie ein verschlafenes Hündchen angekrochen, doch in Wirklichkeit ist er die Bulldogge des Stadtrats.« Er warf Fenner ein süßes Lächeln zu. Fenner lächelte spitz zurück.

»Hast du eine Verabredung mit ihm?«

»Eh … ja.« Sie klang überrascht. »Aber er will doch nur über das Haus mit dir reden. Bart …«

»Nein, das hat er dir nur vorgemacht. In Wirklichkeit will er etwas über mich erfahren. Ich habe den Verdacht, daß diese Kerle meine Zurechnungsfähigkeit überprüfen wollen.«

»Sie wollen … was?« Sie schien jetzt völlig durcheinander zu sein.

»Ich hab’ ihr Geld nicht genommen, also muß ich komplett verrückt sein. Mary, erinnerst du dich noch daran, worüber wir bei Handy Andy’s gesprochen haben?«

»Bart, ist dieser Mr. Fenner gerade bei dir?«

»Ja.«

»Der Psychiater«, sagte sie benommen. »Ich hab’ ihm gesagt, daß du einen aufsuchen wolltest … oh, Bart, es tut mir so leid.«

»Das ist schon in Ordnung«, sagte er leise und meinte es auch so. »Es kommt alles in Ordnung, Mary, ich schwöre es dir. Vielleicht geht sonst alles schief, aber das hier nicht.«

Er legte auf und drehte sich zu Fenner um. »Soll ich Steve Ordner anrufen?« fragte er ihn. »Oder Vinnie Mason? Ron Stone oder Tom Granger brauche ich gar nicht erst zu belästigen, sie hätten so einen billigen Gauner wie Sie sofort erkannt, noch bevor Sie Ihren Aktenkoffer geöffnet hätten.

Aber Vinnie ist zu dumm, und Steve Ordner würde Sie mit offenen Armen empfangen. Er hat es auf mich abgesehen.«

»Das ist nicht nötig«, antwortete Fenner. »Sie haben mich völlig mißverstanden, Mr. Dawes. Und Sie verstehen auch meine Klienten ganz offensichtlich falsch. Diese Sache ist überhaupt nicht persönlich. Es ist niemand darauf aus, Ihnen eins auszuwischen. Aber wir haben in letzter Zeit festgestellt, daß Sie eine Abneigung gegen die 784-Autobahn zu haben scheinen. Letzten August haben Sie einen Leserbrief an die Zeitung geschrieben …«

»Letzten August«, wiederholte er nachdenklich. »Ihr Kerle sammelt wohl alle Zeitungsausschnitte, was?«

»Selbstverständlich.«

Plötzlich beugte er sich vor, hielt sich den Bauch und verdrehte die Augen. »Mehr Zeitungsmeldungen! Mehr Rechtsanwälte. Ron, geh mal raus und seif die Reporter ein! Wir sind von Feinden umzingelt! Mavis, bring mir meine Pillen!«

Er richtete sich wieder auf. »Verfolgungswahn? Scheiße, ich hab’ schon gemerkt, daß ich nicht gut war.«

»Schließlich haben wir eine Presseabteilung«, sagte Fenner steif. »Wir verhandeln hier nicht über Pfennige und Fünfer, Mr. Dawes, es geht um ein Zehn-Millionen-Dollar-Projekt.«

Er schüttelte angewidert den Kopf. »Sie sollten die Leute von der Straßenbaubehörde auf ihre Zurechnungsfähigkeit überprüfen lassen und nicht mich.«

Fenner sagte: »Ich werde Ihnen alle meine Karten offen auf den Tisch legen, Mr. Dawes.«

»Wissen Sie, meiner Erfahrung nach ist dies genau der Zeitpunkt, an dem ein Kerl mit den kleinen Schwindeleien aufhört und anfägt, mir die richtig dicken Lügen aufzuti-schen.«

Fenner wurde rot. Endlich war er wütend. »Schließlich haben Sie an die Zeitung geschrieben. Sie haben die Verhandlungen um eine neue Fabrik für die Blue-Ribbon-Wäscherei verzögert und sind deswegen gefeuert worden …«

»Das stimmt nicht. Ich habe eine halbe Stunde, bevor sie mich an die Luft gesetzt haben, gekündigt.«

»… und Sie haben unseren gesamten Briefwechsel in bezug auf dieses Haus ignoriert. Wir sind uns darin einig, daß Sie vermutlich so etwas wie eine öffentliche Demonstration am zwanzigsten im Schilde führen. Die Zeitungen informieren, die Nachrichtensender anrufen werden, damit sie alle hier draußen sind, wenn’s losgeht. Der heroische Hausbesitzer, der von den Gestapoleuten der Stadt schreiend und um sich schlagend von seinem Heim und Herd weggezerrt wird.«

»Und das macht Ihnen Kummer, nicht wahr?«

»Natürlich machen wir uns Sorgen! Die öffentliche Meinung ist sehr sprunghaft. Sie dreht sich im Wind wie eine Wetterfahne …«

»Und Ihre Klienten sind gewählte Volksvertreter.«

Fenner sah ihn ausdruckslos an.

»Also, was ist nun?« fragte er ungeduldig. »Machen Sie mir jetzt das große Angebot, das ich nicht ablehnen kann?«

Fenner seufzt. »Ich verstehe wirklich nicht, worüber wir hier streiten. Die Stadt hat ihnen sechzigtausend Dollar für das Haus angeboten und …«

»Es waren dreiundsechzigtausendfünfhundert.«

»Ja, gut. Die bekommen Sie für das Haus und das Grundstück. Eine Menge Leute haben wesentlich weniger gekriegt. Und was bekommen Sie für das Geld? Keinen Ärger, keine Schwierigkeiten, keinen Streß. Das Geld ist praktisch steuerfrei, denn Sie haben Vater Staat die Steuern ja schon von dem Geld bezahlt, mit dem Sie das Haus gekauft haben. Das einzige, was Sie versteuern müssen, ist der Wertanstieg. Nun, halten Sie dieses Angebot etwa nicht für fair?«

»Fair genug«, antwortete er und dachte an Charlie. »Soweit es die Dollars und Cents betrifft, ist es fair. Es ist vermutlich sogar mehr Geld, als ich auf dem offenen Markt dafür herausschlagen würde, wenn ich es selbst verkaufen wollte.

So wie die Preise heutzutage stehen …«

»Also, worüber streiten wir uns dann?«

»Wir streiten ja gar nicht«, erwiderte er und nippte an seinem Drink. Doch, es stimmte, er hatte einen Vertreter im Haus. »Haben Sie ein eigenes Haus, Mr. Fenner?«

»Ja, natürlich«, antwortete Fenner prompt. »Ein sehr schönes Haus in Greenwood. Und wenn Sie mich jetzt fragen, was ich hin oder wie ich mich fühlen würde, wenn ich mich in Ihrer Lage befände, dann sage ich Ihnen frei heraus, ich würde die Stadt ausnehmen, so gut es nur geht, und auf dem Weg zur Bank würde ich mir ins Fäustchen lachen.«

»Ja, das würden Sie wohl«, sagte er und lachte leise. Dann mußte er an Don und Ray Tarkington denken. Sie würden den Stadtrat an seinen empfindlichsten Stellen treffen und ihnen den Fahnenmast der Stadtflagge möglichst weit in den Arsch rammen. »Dann glaubt ihr also wirklich, daß ich den Verstand verloren habe?«

Fenner antwortete vorsichtig: »Wir wissen es nicht. Aber Ihre Lösung für das Umzugsproblem der Wäscherei ist wohl kaum normal zu nennen.«

»Hören Sie, ich werde Ihnen mal was sagen. Ich hab’ noch genug Verstand im Kopf, um mir selbst einen Rechtsanwalt zu nehmen, der mit dem Enteignungsgesetz des Staates gar nicht einverstanden ist - einer von der guten alten Sorte, die immer noch an das altmodische Sprichwort glauben, daß das Heim eines Menschen seine Burg ist. Er könnte erst mal einen Aufschub erwirken, so daß Ihnen für ein, vielleicht auch zwei Monate die Hände gebunden sind. Mit etwas Glück und den richtigen Richtern können wir die ganze Sache bis zum nächsten September verzögern.«

Fenner wirkte eher erfreut als beunruhigt, wie er es eigentlich erwartet hatte. Aber Fenner dachte nach. Das ist der Haken, Freddy, gefällt dir das? Ja, George, ich muß zugeben, es gefällt mir.

»Was wollen Sie?« fragte Fenner kurz.

»Wieviel dürfen Sie mir geben?«

»Wir erhöhen den Preis fürs Haus um fünftausend Dollar und keinen Cent mehr. Und niemand wird etwas von dem Mädchen erfahren.«

Alles stand still, war auf der Stelle wie tot.

»Wie bitte?« flüsterte er.

»Das Mädchen, Mr. Dawes. Das, mit dem Sie gebumst haben. Es hat vom sechsten auf den siebenten Dezember bei Ihnen übernachtet.«

Innerhalb von wenigen Sekunden wirbelte ihm ein Strudel von Gedanken durch den Kopf. Davon waren einige ganz vernünftig, aber die meisten waren mit einer grünen Patina aus Angst überzogen und daher unglaubwürdig. Doch hinter den vernünftigen Gedanken und seiner Furcht verspürte er eine unheimliche Wut. Am liebsten wäre er über den Tisch gesprungen, hätte diesen Tick-Tack-Mann am Kragen gefaßt und ihn so lange geschüttelt, bis ihm sein Uhrwerk zu den Ohren herausfiel. Aber das durfte er nicht tun; vor allem das nicht.

»Geben Sie mir eine Nummer«, sagte er.

»Nummer … ?«

»Eine Telefonnummer. Ich rufe Sie heute nachmittag an und sage Ihnen, wie ich mich entschieden habe.«

»Es wäre aber viel besser, wenn wir die Dinge gleich jetzt erledigen könnten.«

Das könnte Ihnen so passen, wie? Schiedsrichter, verlängern Sie diese Runde bitte um dreißig Sekunden. Der Mann hängt schon in den Seilen.

»Nein, das finde ich nicht. Bitte, verlassen Sie mein Haus.«

Fenner zuckte gelassen die Achseln. »Hier ist meine Karte.

Die Telefonnummer steht drauf. Ich werde zwischen halb drei und vier in meinem Büro zu erreichen sein.«

»Ich werde Sie anrufen.«

Fenner ging. Er beobachtete durch das kleine Seitenfenster neben der Haustür, wie er durch den Vorgarten ging, in seinen blauen Buick stieg und davonfuhr. Dann knallte er mit aller Wucht seine Faust gegen die Wand.

Er mixte sich noch einen Drink und setzte sich an den Küchentisch, um die Lage zu überdenken. Sie wußten also von Olivia. Und sie würden diese Information als Ansatzhebel benutzen. Als Ansatzhebel, um ihn aus dem Haus zu werfen, war er allerdings nicht sehr gut. Sie konnten damit zweifellos seine Ehe beenden, aber die war ja sowieso schon in Auflösung begriffen. Schlimmer war, daß sie ihn ausspioniert hatten.

Die Frage war bloß, wie?

Wenn ihn einige Männer unter Beobachtung hätten, dann hätten sie doch sicher auch von dem berühmten Krach-Krach-Bumm-Bumm gehört. Und wenn das der Fall wäre, dann hätten sie das doch schon längst gegen ihn verwendet.

Warum sollten sie sich mit so einer schäbigen Ehebruchssache abgeben, wenn sie den aufsässigen Hausbesitzer gleich wegen Brandstiftung ins Gefängnis sperren konnten? Also hatten sie sein Telefon abgehört. Als ihm jetzt einfiel, daß er im Suff drauf und dran gewesen war, Magliore das Verbrechen am Telefon zu gestehen, traten ihm kleine, kalte Schweißperlen auf die Stirn. Gott sei Dank, hatte Magliore ihn sofort unterbrochen. Krach-Krach-Bumm-Bumm war schon schlimm genug.

Er wohnte also in einem Haus voller Wanzen, und die Frage war, wie er nun auf Fenners Angebot und Fenners Ver-tretermethoden reagieren sollte.

Er schob fürs Mittagessen ein TV-Dinner in den Herd und setzte sich mit einem weiteren Drink an den Tisch, um darauf zu warten. Sie hatten ihm also nachspioniert und versucht, ihn zu bestechen. Je mehr er darüber nachdachte, desto wütender wurde er.

Er holte sein TV-Dinner aus dem Herd und aß es. Dann wanderte er im Haus umher und betrachtete seine Habseligkeiten. Langsam nahm eine Idee in einem Kopf Gestalt an.

Um drei Uhr rief er Fenner an und sagte, er solle ihm das Formular schicken. Er würde es unterzeichnen, wenn Fenner die beiden Dinge erledigte, über die sie gesprochen hätten.

Fenner klang sehr erfreut, ja beinahe erleichtert. Er sagte, er würde sich gern um diese Dinge kümmern und dafür sorgen, daß er das Formular spätestens am nächsten Tag im Haus hätte. Er sei sehr froh, daß er sich entschieden habe, Vernunft anzunehmen.

»Ich habe aber noch ein paar Bedingungen«, sagte er.

»Bedingungen?« wiederholte Fenner und klang sofort wieder mißtrauisch.

»Keine Angst, es ist nichts, womit Sie nicht fertig werden könnten.«

»Lassen Sie hören«, sagte Fenner. »Aber ich warne Sie, Dawes, Sie haben schon alles aus uns rausgepreßt, was möglich ist.«

»Sie schicken mir bis morgen das Formular ins Haus«, fuhr er ungerührt fort. »Ich bringe es Ihnen Mittwoch ins Büro zurück. Ich erwarte, daß Sie dann einen Scheck über achtundsechzigtausendfünfhundert Dollar für mich bereitliegen haben. Einen Barscheck. Ich gebe Ihnen dieses Formular nur gegen den Scheck.«

»Mr. Dawes, auf dieser Basis können wir keine Geschäfte machen …«

»Vielleicht dürfen Sie das nicht, aber Sie können es. Sie dürfen ja schließlich auch keine Wanzen in mein Telefon einbauen, und Gott weiß was noch alles. Kein Scheck, kein Formular. Dann gehe ich statt dessen zu meinem Rechtsanwalt.«

Fenner schwieg. Er konnte ihn beinahe denken hören.

»Also gut. Was noch?«

»Nach Mittwoch möchte ich von Ihnen nicht mehr belästigt werden. Ab dem zwanzigsten gehört das Haus Ihnen. Bis dahin bleibt es meins.«

»Gut«, sagte Fenner sofort, denn das war natürlich überhaupt keine Bedingung. Nach dem Gesetz blieb das Haus bis Mitternacht des neunzehnten in seinem Besitz, eine Minute später ging es unweigerlich in die Hände der Stadt über.

Wenn er das Formular unterzeichnet und die Entschädigung der Stadt einkassiert hatte, konnte er sich die Lunge rausbrüllen, keine Zeitung und kein Nachrichtensender würde auch nur einen Funken von Mitleid für ihn aufbringen.

»Das ist alles.«

»Sehr schön«, sagte Fenner, der jetzt ausgesprochen fröhlich klang. »Ich bin froh, daß wir die Angelegenheit endlich auf eine vernünftige Weise regeln konnten, Mr. …«

»Leck mich«, sagte er und legte auf.

8. Januar 1974

ET war nicht zu Hause, als der Kurier den dicken braunen Umschlag mit dem 6983-73-74-Formular (blauer Aktenordner) durch seinen Brief schlitz warf .Er war in den finstersten Teil von Norton hinausgefahren, um mit Sal Magliore zu reden. Magliore war nicht gerade erfreut, ihn zu sehen, aber während er sprach, wurde er immer nachdenklicher.

Das Mittagessen wurde hereingebracht - Spaghetti, Fleischsauce, eine Flasche Rotwein. Ein wundervolles Mahl.

Als er zu dem Punkt mit den fünftausend Dollar Bestechung, und Fenners Information über Olivia kam, hob Magliore eine Hand. Er griff zum Telefonhörer und sprach kurz mit einem Mann am anderen Ende. Er gab ihm die Adresse der Crestallen Street West durch. »Nehmt den Lastwagen«, sagte er dann noch und legte wieder auf. Er wickelte noch mehr Spaghetti um seine Gabel und nickte ihm zu, damit er mit der Geschichte fortfahre.

Als er zu Ende erzählt hatte, sagte Magliore: »Haben Sie ein Glück, daß man Sie nicht beschattet hat. Sie säßen sonst schon längst im Knast.«

Er war so satt, daß er beinahe platzte; er konnte keinen Bissen mehr runterbringen. Seit fünf Jahren hatte er nicht mehr so gut gegessen. Das sagte er Magliore mit einem Kompliment. Magliore lächelte.

»Einige meiner Freunde essen keine Pasta mehr. Sie müssen ihr Image pflegen. Also essen sie jetzt nur noch in den Steakhäusern, französischen Restaurants, schwedischen Lokalen, oder was weiß ich. Und was haben sie davon? Magenschmerzen. Und warum das? Weil ein Mann nichts anderes sein kann, als er ist.« Er goß die Spaghettisauce aus dem fettigen Karton, in dem das Essen geliefert worden war, auf seinen Teller und wischte sie mit dem Knoblauchbrot auf. Dann hielt er inne und blickte ihn mit seinen eigenartig vergrößerten Augen über den Tisch hinweg an. »Sie bitten mich, Ihnen dabei zu helfen, eine Todsünde zu begehen«, sagte er ernst.

Er starrte ihn verdutzt an, unfähig, seine Überraschung zu verbergen.

Magliore lachte verärgert. »Ich weiß, was Sie denken. Ein Gauner wie ich dürfte eigentlich nicht über Sünde reden. Ich hab’ Ihnen ja erzählt, daß ich einen Kerl umgebracht habe.

Mehr als einen, wenn man’s genau nimmt. Aber ich habe nie einen Menschen getötet, der es nicht verdient hätte. Ich sehe das so: Ein Kerl, der stirbt, bevor Gott es für ihn vorgesehen hatte, erlebt so etwas wie ein Fußballspiel, das wegen Regen abgebrochen wird. Die Sünden, die er begangen hat, zählen nicht. Gott muß ihn einfach zu sich ins Paradies lassen, denn der Kerl hatte ja gar nicht mehr die Zeit zu bereuen, so wie Er es für ihn geplant hatte. Wenn ich also einen umbringe, erspare ich ihm dadurch die Qualen der Hölle. Auf diese Art tue ich sogar mehr für ihn, als der Papst selbst es je tun könnte. Ich glaube, daß Gott das weiß. Aber das ist nicht meine Sache. Ich kann Sie gut leiden. Sie haben Mut. Für dieses Ding mit den Benzinbomben haben Sie eine Menge Mut gebraucht. Aber das hier, hmm, das ist etwas völlig anderes.«

»Ich bitte Sie ja nicht darum, irgend etwas zu tun. Es geschieht aus meinem eigenen, freien Willen.«

Magliore verdrehte die Augen. »Jesus! Maria! Und Joseph, der Zimmermann! Warum können Sie mich eigentlich nicht in Ruhe lassen?«

»Weil Sie das haben, was ich brauche.«

»Ich wünschte bei Gott, ich hätte es nicht.«

»Werden Sie mir helfen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ich hab’ jetzt das Geld. Das heißt, ich werde es bald haben.«

»Es geht hier nicht ums Geld. Es geht ums Prinzip. Ich habe noch nie mit so einem Spinner wie Sie Geschäfte gemacht. Ich muß erst mal darüber nachdenken. Ich werde Sie anrufen.«

Er sah ein, daß es keinen Sinn hatte, ihn weiter zu bedrängen, und ging.

Magliores Männer kamen, als er gerade das Formular ausfüllte. Sie fuhren in dem weißen Lastwagen eines Fernsehgeschäftes vor. RAY’S FERNSEHGESCHÄFT UND REPARATUREN stand auf der Seite unter einem aufgemalten, tanzenden Fernseher mit einem lächelnden Gesicht als Bildschirm.

Zwei Männer in grünen Arbeitsanzügen stiegen aus. Sie hatten beide einen großen, bauchigen Werkzeugkoffer in der Hand, der die gesamte Ausrüstung zur Fernsehreparatur und noch einige andere Werkzeuge enthielt. Sie sollten sein Haus ›reinigen‹. Es dauerte eine halbe Stunde. Sie fanden zwei Wanzen in seinem Telefon, eine im Schlafzimmeranschluß, die andere im Apparat, der im Eßzimmer stand. Gott sei Dank, keine in der Garage, was ihn außerordentlich erleichterte.

»Diese Scheißkerle«, sagte er, als er die Wanzen in der Hand hielt. Er ließ sie auf den Boden fallen und zertrat sie mit seinem Schuhabsatz.

Auf dem Weg nach draußen sagte einer der Mechaniker nicht ohne Anerkennung: »Donnerwetter, den Fernseher haben Sie aber ganz schön kleingekriegt. Wieoft mußten Sie da zuschlagen?«

»Nur einmal«, antwortete er.

Als sie in der kühlen Abendsonne davongefahren waren, fegte er die Wanzen auf eine Schaufel und warf ihre zertretenen, blinkenden Überreste in den Abfalleimer. Dann mixte er sich einen Drink.

9. Januar 1974

Nachmittags um halb drei befanden sich nur wenige Kunden in der Bank, und er ging mit seinem Barscheck von der Stadt direkt auf einen der in der Mitte stehenden Tische zu. Dort zog er hinten aus seinem Scheckbuch einen Einzahlungsschein heraus und füllte ihn auf die Summe von $ 34250 aus.

Dann ging er zu einem der Kassenschalter und legte dort den Einzahlungsschein und den Barscheck vor.

Die Kassiererin war ein junges Mädchen mit schwarzen Haaren in einem sündhaft kurzen, roten Kleid. Ihre langen, in glatten Nylonstrümpfen steckenden Beine hätten selbst den Papst umgeworfen. Sie blickte mit gerunzelter Stirn abwechselnd auf ihn und auf den Scheck.

»Stimmt etwas mit dem Scheck nicht?« fragte er freundlich. Er mußte zugeben, daß er die Situation genoß.

»Nnnein … Sie wollen also $ 34250 einzahlen und $ 34250 in bar? Ist das so richtig?«

Er nickte.

»Einen Augenblick bitte, Sir.«

Er nickte lächelnd und ließ seinen Blick auf ihren Beinen ruhen, während sie zum Schreibtisch des Zweigstellenleiters hinüberging, der sich hinter einer Holzbarriere befand. Allerdings stand er nicht in einem Glaskäfig - als sollte damit angedeutet werden, daß auch der Chef ein Mensch wie du und ich ist … oder jedenfalls beinahe. Der Zweigstellenleiter war ein Mann mittleren Alters, der sich aber jünger kleidete. Sein Gesicht wirkte verhärmt und verklemmt, und als er zu der Kassiererin in ihrem roten Minikleid aufblickte, zog er eine Augenbraue in die Höhe.

Sie berieten sich über den Einzahlungsschein, über die Barauszahlung, die darin für die Bank enthaltenen Implikatio-nen und vermutlich auch über das gesamte staatliche Buchungssystem. Das Mädchen hatte sich über den Tisch gebeugt, wodurch ihr Kleid sich am Rücken in die Höhe schob und einen malvenfarbenen Unterrock mit Spitzenrändern enthüllte. Liebe, Liebe, ach du junge, sorglose Liebe, dachte er.

Komm mit mir nach Hause, und wir werden zusammen spielen, bis die Welt untergeht oder bis sie mein Haus demolieren, was immer zuerst kommen mag. Bei dem Gedanken mußte er lächeln. Er hatte eine Erektion … na, wenigstens eine halbe. Er wandte die Augen von ihr ab und blickte sich in der Schalterhalle um. Zwischen dem Safe und den Eingangstüren stand ein Wächter, vermutlich ein pensionierter Polizist. Eine alte Lady füllte mit weit ausholenden Gesten ihren blauen Sozialversicherungsscheck aus. An der linken Wand hing ein riesiges Poster, auf dem die Erde aus der Weltraum-perspektive abgebildet war. Eine große, blaugrüne Kugel, die sich von einem schwarzen Hintergrund abhob. Über dem Planeten stand in groß gedruckten Buchstaben: VERREISEN SIE

Und unter der Erdkugel in etwas kleineren Buchstaben: MIT EINEM FERIENKREDIT DER FIRST BANK

Die schöne Kassiererin kam zu ihm zurück. »Ich muß es Ihnen in Fünfhundertern und Hundertern auszahlen«, erklärte sie.

»Das geht in Ordnung.«

Sie schrieb ihm eine Quittung für die Einzahlung aus und verschwand in den Gewölben der Bank. Als sie zurückkam, hielt sie einen kleinen Aktenkoffer in der Hand. Sie sprach kurz mit dem Wächter, und er kam mit ihr an den Schalter.

Dort musterte er ihn mißtrauisch.

Sie zählte jeweils drei Stapel mit zehntausend Dollar ab, zwanzig Fünfhundertdollarscheine auf jedem Stapel. Dann band sie jeden Stapel zusammen und steckte jeweils einen Kassenbon zwischen die oberste Note und die Banderole.

Auf jedem Kassenbon stand:

$ 10000

Danach zählte sie die zweiundvierzig Hunderter ab, wobei sie die Noten mit der Gummikappe auf ihrem rechten Zeigefinger flink durchblätterte. Auf diesen Stapel legte sie fünf Zehndollarscheine. Dann band sie auch diesen Stapel zusammen und steckte wiederum einen Kassenbon unter die Banderole, auf dem diesmal $ 4250 stand.

Die vier Notenbündel lagen in einer Reihe auf dem Schalter, und alle drei betrachteten sie einen Augenblick nachdenklich. Es war Geld genug, um sich ein Haus zu kaufen oder fünf Cadillacs oder ein kleines Piper-Cub-Flugzeug oder beinahe hunderttausend Packungen Zigaretten.

Dann sagte sie etwas zaghaft: »Ich kann Ihnen eine Tasche mit Reißverschluß geben, wenn Sie …«

»Nein, ich nehme es so.« Er griff mit beiden Händen nach dem Geld und ließ es in seine Manteltasche gleiten. Der Wächter beobachtete dieses Kavaliersdelikt am raison d’etre mit großmütiger Gelassenheit; die schöne Kassiererin war fasziniert (da verschwand ihr Gehalt von mindestens fünf Jahren einfach so in einem ganz gewöhnlichen, von der Stange gekauften Mantel und hinterließ noch nicht einmal eine Ausbeulung). Der Zweigstellenleiter musterte ihn mit unverhohlener Abneigung, denn eine Bank war schließlich ein Tempel, in dem das Geld so diskret und ehrfürchtig wie Gott behandelt werden wollte.

»Sehr schön«, sagte er und stopfte das Scheckbuch zu den Tausendern in die Tasche. »Angenehmen Tag noch.«

Er ging, und sie blickten ihm alle nach. Die alte Lady schlurfte jetzt auf den Schalter zu, um ihren mittlerweile un-terschriebenen Versicherungsscheck einzulösen. Die schöne Kassiererin zahlte ihr zweihundertfünfunddreißig Dollar und dreiundsechzig Cent aus.

Als er nach Hause kam, steckte er das Geld in einen staubigen Bierkrug, der oben auf dem Küchenregal stand. Mary hatte ihn ihm vor fünf Jahren aus Jux zum Geburtstag geschenkt. Er hatte sich nie besonders viel aus dem Geschenk gemacht, denn er trank Bier lieber aus der Flasche. An der Seite des Kruges war das Emblem der olympischen Fackel eingestanzt und darunter stand geschrieben: U. S. SAUFTEAM

Er stellte den Krug mit seinem wertvollen Gebräu auf das Regal zurück und ging nach oben in Charlies Zimmer, in dem jetzt sein Schreibtisch stand. In der unteren Schublade fand er einen braunen, verstärkten Briefumschlag. Er setzte sich an den Schreibtisch und rechnete seinen neuen Kontostand aus. 35053 Dollar und 49 Cents befanden sich jetzt darauf. Er schrieb Marys neue Adresse auf den Umschlag, schob das Scheckbuch hinein und klebte ihn zu. Dann durchstöberte er den Schreibtisch, bis er ein halb aufgebrauchtes Heft mit Briefmarken fand. Er riß fünf Acht-Cent-Marken heraus und frankierte damit den Umschlag. Dann betrachtete er sein Werk eine Weile und schrieb EINSCHREIBEN unter die Adresse.

Den Umschlag ließ er auf dem Schreibtisch liegen, ging nach unten in die Küche und mixte sich einen Drink.

10. Januar 1974

Es war sehr spät, es schneite, und Magliore hatte noch nicht angerufen. Er saß mit einem Drink im Wohnzimmer und hörte sich Platten auf der Stereoanlage an, denn der Fernseher war immer noch zertrümmert. Am Nachmittag hatte er sich zwei Zehndollarscheine aus dem Bierkrug genommen, war in die Stadt gefahren und hatte sich vier Rock-Langspiel-platten gekauft. Eine hieß ›Let It Bleed‹ und war von den Rolling Stones. Er hatte sie auf der Party gehört, und sie gefiel ihm besser als die drei anderen, die er etwas schmalzig fand.

Eine LP mit Crosby, Stills, Nash und Young fand er sogar so schmalzig, daß er sie über seinem Knie zerbrochen hatte.

Aber Lei It Bleed war laut, anzüglich, kraftvoll. Eine einschla-gende, klirrende Musik, die er sehr gern mochte. Sie erinnerte ihn an ›Let’s Make a Deal‹, das Monte Hall einmal aufgenommen hatte. Im Augenblick sang Mick Jagger gerade: Wir brauchen alle jemanden zum Ausweinen, Und wenn du willst, kannst du dich bei mir ausweinen.

Er dachte über das Poster nach, das er in der Bank gesehen hatte. Die große, runde Erde, die aus dieser Perspektive so neuartig und anders wirkte, und darunter die Einladung an den Betrachter zu VERREISEN. Das erinnerte ihn an die Reise, die er am Silvesterabend unternommen hatte. Ja richtig, er war verreist. Sehr weit weg sogar.

Und hatte er es nicht auch genossen?

Der Gedanke ließ ihn einen Augenblick innehalten.

Die letzten zwei Monate war er wie ein Hund herumgelaufen, dessen Schwanz in der Tür eingeklemmt worden ist.

Aber hatte es unterwegs nicht auch einige Entschädigungen gegeben? Er hatte Dinge getan, die er sonst nie hätte tun können. Die Fahrten auf der Autobahn, so gedankenlos und frei wie der Flug der Zugvögel. Das Mädchen und der Sex, das Gefühl ihrer Brüste, die so ganz anders waren als die von Mary. Das Gespräch mit einem Mann, der ein Verbrecher war. Und endlich von diesem Mann akzeptiert und ernst genommen zu werden. Das verbotene Hochgefühl, als er seine Benzinbomben geworfen hatte, und das traumatische Entsetzen, das Gefühl, als würde er ertrinken, als sein Wagen nicht über den Straßenrand zu kommen schien, um ihn von der Baustelle wegzubringen. Das waren intensive Gefühle gewesen, die wie eine finstere antike Religion aus den tiefen Schichten seiner Angestelltenseele aufgestiegen waren, als hätte ein Archäologe sie vorsichtig freigelegt. Er wußte jetzt, was es hieß: am Leben zu sein.

Aber es hatte auch schlimme Dinge gegeben. Zum Beispiel, daß er bei Handy Andy’s die Selbstbeherrschung verloren und Mary angeschrien hatte. Und die nagende Einsam-keit in den ersten zwei Wochen, in denen er allein gewesen war, zum ersten Mal seit zwanzig Jahren allein und nur den furchtbaren, quälenden Schlag des eigenen Herzens zur Gesellschaft. Dann der Schlag, den Vinnie Mason - ausgerechnet Vinnie Mason! - ihm im Kaufhaus aufs Auge verpaßt hatte. Die fürchterliche Angst, die er am Morgen, nachdem er die Baustelle bombardiert hatte, durchmachen mußte. Die blieb in seiner Erinnerung am stärksten.

Aber selbst diese Erfahrungen, so schlimm sie auch gewesen sein mochten, waren etwas Aufregendes, Neues gewesen, so wie der Gedanke, daß er wahnsinnig geworden sei oder wenigstens auf dem besten Weg dazu. Die Spuren, denen er während der letzten zwei Monate durch seine innere Landschaft nachgewandert (oder gekrochen?) war, waren die einzigen, die es gab. Er hatte sich selbst erforscht, und wenn auch das meiste, was er dabei herausgefunden hatte, banal war, so hatte er auch aufregende und schöne Dinge entdeckt.

Seine Gedanken wanderten zu Olivia zurück, wie er sie mit ihrem Schild ›LAS VEGAS… ODER VERPISS DICH!‹ an der Auffahrtrampe zur Autobahn gesehen hatte, das sie trotzig der kalten Gleichgültigkeit ihrer Umwelt entgegenhielt. Und dann dachte er wieder an das Poster in der Bank: VERREISEN SIE. Warum eigentlich nicht? Hier gab es nichts, was ihn hielt, abgesehen von seiner ekelhaften Manie. Keine Frau und nur das Gespenst eines Kindes, keine Arbeit und nur ein Haus, das in anderthalb Wochen keins mehr sein würde. Er hatte eine Menge Bargeld und ein Auto, das ganz und gar ihm gehörte. Warum stieg er nicht einfach ein und fuhr los?

Plötzlich erfaßte ihn Aufregung. Er sah sich schon alle Lichter im Haus ausschalten, in den LTD steigen und mit dem Geld in der Tasche nach Las Vegas abbrausen. Er würde Olivia suchen und »LASS UNS ABHAUEN« zu ihr sagen.

Dann würden sie nach Kalifornien fahren, den Wagen verkaufen und eine Reise in die Südsee buchen. Von dort nach Hongkong, weiter nach Saigon, Bombay und nach Athen, Madrid, Paris, London, New York. Und dann…

Hierher zurück?

Die Welt war rund, und das war die furchtbare Wahrheit.

So war es ja auch Olivia ergangen, die nach Nevada wollte, um endlich aus ihrer Scheiße rauszukommen. Und dann bekifft sie sich und läßt sich in der ersten Nacht auf dem neuen Gleis vergewaltigen! Denn das neue Gleis ist genau wie das alte, nein, es ist das alte, und es fuhrt einen immer nur im Kreis herum, bis man eines Tages so tief drinsteckt, daß man den Absprang endgültig nicht mehr schafft. Dann ist es Zeit, die Garagentür hinter sich zuzumachen, den Zündschlüssel umzudrehen und zu warten… warten…

Der Abend zog sich hin, und seine Gedanken drehten sich immer mehr im Kreis wie eine Katze, die versucht, ihren Schwanz einzufangen und zu verschlucken. Schließlich schlief er auf der Couch ein und träumte von Charlie.

11. Januar 1974

Magliore rief ihn mittags um Viertel nach eins an.

»In Ordnung«, sagte er. »Wir kommen ins Geschäft, Sie und ich. Es wird Sie neuntausend Dollar kosten. Ich nehme an, daß das Ihre Meinung nicht ändern wird.«

»Bargeld?«

»Was denken Sie sich eigentlich? Glauben Sie wirklich, ich würde einen Scheck von Ihnen annehmen?«

»Natürlich nicht. Entschuldigung.«

»Kommen Sie morgen abend um zehn Uhr zur Revel-Lanes-Bowlingbahn. Wissen Sie, wo das ist?«

»Ja, an der Route 7, gleich hinter dem Skyview-Einkaufszentrum.«

»Richtig. Sie werden dort an der Bahn sechzehn zwei Männer in grünen Hemden finden. Auf den Hemdrücken ist in Gold der Name Mariin Avenue Firestone aufgestickt. Sie werden sich zu ihnen gesellen. Während Sie Bowling spielen, wird einer von den beiden Ihnen alles erklären, was Sie wissen müssen. Sie werden zwei oder drei Runden mitspielen, dann nach draußen gehen und die Straße bis zur Town Line Tavern hinunterfahren. Wissen Sie, wo das ist?«

»Nein.«

»Fahren Sie auf der 7 immer nach Westen. Es ist ungefähr zwei Meilen von der Bowlingbahn entfernt, auf derselben Straßenseite. Parken Sie hinter dem Gebäude. Meine Freunde werden sich neben Sie stellen. Sie fahren einen Dodge-Lieferwagen. Blau. Sie werden eine Kiste aus dem Lieferwagen in Ihren Kombiwagen tragen. Dann geben Sie ihnen einen Umschlag. - Ich muß total verrückt geworden sein, wissen Sie das? Hirnverbrannt. Bei dieser Sache fliege ich höchstwahrscheinlich auf. Dann werde ich Zeit genug haben, darüber nachzudenken, warum, zum Teufel, ich mich darauf eingelassen habe.«

»Ich möchte Sie nächste Woche sprechen. Persönlich.«

»Nein. Absolut nicht. Ich bin nicht Ihr Beichtvater. Ich will Sie nie wieder sehen, auch nicht mit Ihnen sprechen. Um ehrlich zu sein, Dawes, ich möchte nicht mal was über Sie in der Zeitung lesen.«

»Es handelt sich um eine simple Geldsache.«

Magliore schwieg einen Augenblick.

Dann sagte er nochmals: »Nein.«

»Es ist eine Sache, mit der Sie niemand in Verbindung bringen kann«, erklärte er Magliore. »Ich möchte ein … ein Treuhandkonto für jemanden einrichten.«

»Für Ihre Frau?«

»Nein.«

»Kommen Sie am Dienstag vorbei«, willigte Magliore endlich ein. »Vielleicht empfange ich Sie. Vielleicht bin ich dann aber auch wieder bei Trost.«

Er legte auf.

Wieder im Wohnzimmer, dachte er an Olivia und an das Leben - die beiden schienen untrennbar zusammenzugehören. Er dachte ans VERREISEN. Er dachte an Charlie und konnte sich kaum noch an sein Gesicht erinnern, nur an seine Fotos. Wie konnte dies alles nur passieren?

Mit einem plötzlichen Entschluß stand er auf und ging zum Telefon. Er blätterte die Gelben Seiten nach den Reisebüros durch und wählte eine Nummer. Doch als sich am anderen Ende eine freundliche Frauenstimme meldete: »Reisebüro Arnold. Können wir Ihnen behilflich sein?« legte er schnell wieder auf und trat unsicher vom Telefon zurück. Auf dem Weg ins Wohnzimmer rieb er sich nervös die Hände.

12. Januar 1974

Die Revel-Lanes-Bowlingbahn war eine langgestreckte, von Neonröhren erleuchtete Halle, die von den unterschiedlichsten Geräuschen widerhallte. Leise Musik aus den Deckenlautsprechern, eine Jukebox, das stotternde Geklingel der Flipperautomaten, das Klicken der Billardkugeln und über allem das dumpfe Rumpeln, wenn die Bowlingkegel umfie-len, und das dröhnende Rollen der schweren schwarzen Bowlingkugeln.

Er ging an einen Schalter und holte sich ein Paar rotweiß gestreifte Bowlingschuhe, die der Angestellte zeremoniell mit einem Fußdesinfektionsmittel einsprayte, bevor er sie ihm überließ. Dann ging er zu Bahn sechzehn. Die beiden Männer waren schon da. Der eine stand gerade mit einer Kugel in der Hand an der Bahn. Es war der Mechaniker, der am ersten Tag, an dem er Magliores Gebrauchtwagenhandlung aufgesucht hatte, in der Garage einen neuen Auspuff in einen Wagen eingebaut hatte. Der andere, der am Tisch saß und die Ergebnisse aufschrieb, war einer von den beiden, die mit dem Fernsehlastwagen zu seinem Haus gekommen waren. Er trank Bier aus einem Pappbecher. Als er auf sie zu ging, blickten sie beide auf.

»Ich bin Bart«, stellte er sich vor.

»Ich binRay«, antwortete der Mann am Tisch. »Und der da drüben« - der Mechaniker ließ jetzt die Kugel rollen - »ist Alan.«

Die Bowlingkugel glitt aus Alans Hand und donnerte die Bahn entlang. Die Kegel fielen in alle Richtungen, und Alan schnaufte verächtlich. Er hatte die Sieben und die Zehn nicht getroffen: Mit der nächsten Kugel versuchte er, beide auf einmal zu erwischen, indem er sie rechts rüberzog, aber die Kugel lief aus der Bahn und verschwand im Hintergrund. Alan schnaufte noch einmal verächtlich, als die Maschine die zehn Kegel wieder aufstellte.

»Du mußt nur auf einen gehen«, belehrte Ray ihn. »Immer nur auf einen. Für wen hältst du dich? Billy Welu?«

»Ich hatte nicht den richtigen Schwung drauf. Ein bißchen mehr Kraft und Wumm. Hallo, Bart.«

»Hallo.«

Sie schüttelten sich die Hände.

»Gut, daß du da bist«, sagte Alan und wandte sich dann an Ray. »Machen wir eine neue Runde und lassen Bart mitspielen. Bei dieser hier hast du mich ja sowieso schon in die Pfanne gehauen.«

»Klar.«

»Du bist als erster dran, Bart«, forderte Alan ihn auf.

Er hatte seit über fünf Jahren nicht mehr Bowling gespielt.

Er suchte sich eine Zwölf-Pfund-Kugel aus, die sich in seiner Hand gerade richtig anfühlte, und warf sie prompt in die linke Rinne neben der Bahn. Während er ihr nachblickte, fühlte er sich wie ein Versager. Bei der nächsten Kugel warf er sorgfältiger, aber sie traf nur drei Kegel. Ray schaffte alle Zehne. Alan traf neun Kegel und warf mit der zweiten Kugel den letzten um.

Nach dem fünften Durchgang stand das Spiel 89 für Ray, 76 für Alan und 40 für Bart. Aber er genoß den Schweiß auf seinem Rücken und den Einsatz von Muskeln, die er sonst nur selten spürte.

Er war so in das Spiel vertieft, daß er zuerst gar nicht wußte, wovon Ray sprach, als dieser unvermittelt sagte:

»Das Zeug nennt sich Malglinit.«

Er blickte stirnrunzelnd hoch, als er das Fremdwort hörte, doch dann verstand er. Alan stand mit der Kugel vor der Bahn und musterte kritisch Kegel vier und sechs. Er war vollkommen darauf konzentriert.

»Aha«, sagte er.

»Es wird in zehn Zentimeter langen Stäben geliefert. Insge-samt sind es vierzig Stäbe. Jeder hat ungefähr die sechzigfache Explosionskraft eines Dynamitstabes.«

»Oh«, sagte er und hatte plötzlich ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube. Alan warf die Kugel und sprang vor Freude in die Luft, als er beide Kegel getroffen hatte.

Er spielte, traf sieben Kegel und setzte sich wieder hin. Ray warf alle zehne. Alan ging zum Kugelgestell, hob eine Kugel auf und blickte mit gerunzelter Stirn die polierte Bahn hinunter. Er grüßte den Spieler neben sich und nahm mit vier Schritten Anlauf.

»Es sind einhundertzwanzig Meter Zündschnur dabei. Sie brauchen eine große elektrische Ladung, um die Dinger zu zünden. Wenn Sie eine Lötlampe dranhalten, schmelzen sie nur. Es - oh, gut! Sehr gut, AU«

Alan hatte einen Brooklynwurf gesetzt und alle Kegel getroffen.

Er stand auf, warf zwei Pudel und setzte sich wieder. Ray setzte einmal aus.

Als Alan wieder zur Bahn ging, fuhr Ray fort: »Sie brauchen eine Menge Elektrizität, einen Akkumulator. Haben Sie so etwas?«

»Ja«, antwortete er und blickte auf seinen Spielstand. 47.

Sieben Punkte mehr als sein Alter.

»Sie können die Zündschnur auseinanderschneiden und zwei Stäbe zusammenbinden, um eine Simultanexplosion zu erreichen. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja.«

Alan warf noch mal alle zehne.

Als er zum Tisch kam, sagte Ray lachend: »Du kannst dich nicht auf den Brooklynwurf verlassen, mein Junge. Du mußt mehr nach rechts rüberwerfen.«

»Spar dir deine Ratschläge. Ich bin nur noch acht Punkte zurück.«

Er spielte, warf sechs Kegel um und setzte sich wieder. Ray schaffte wieder alle zehne. Nach der siebten Runde lag er mit 116 Punkten vorn.

Als er sich wieder setzte, fragte er: »Haben Sie noch Fragen?«

»Nein. Können wir nach dieser Runde gehen?«

»Klar. Sie würden besser spielen, wenn Sie etwas mehr üben würden. Beim Abwerfen verdrehen Sie immer die Hand, das ist Ihr Fehler.«

Alan warf seinen Brooklyn noch einmal so wie vorher, und ließ die Sieben und die Zehn stehen. Er schnaufte verächtlich. Als ich gekommen bin, war es genauso, dachte er.

»Ich hab’ dir doch gesagt, du sollst dich nicht auf diesen blöden Wurf verlassen«, rief Ray ihm lachend zu.

»Halt die Klappe«, brummte Alan. Er versuchte es wieder mit beiden Kegeln zugleich und warf die Kugel ins Abseits.

»Einige Leute«, sagte Ray kopfschüttelnd, »einige Leute lernen es nie. Kennen Sie-das? Einige Leute sind wie verna-gelt.«

Die Town Line Tavern hatte eine große rote Neonreklame.

Offenbar hatten die Besitzer noch nichts von der Energiekrise gehört. Sie flackerte mit gedankenloser Zuversicht immer wieder an und aus. Darunter hing ein weißes Schild mit der Ankündigung:


HEUTE ABEND BEI UNS

DIE FABULOUS OYSTERS

DIREKT AUS BOSTON


Rechts neben dem Gebäude befand sich ein planierter Parkplatz, der mit den Wagen der Samstagnacht-Schwärmer voll besetzt war. Er fuhr die Auffahrt entlang und entdeckte, daß der Platz sich L-förmig um die Taverne zog. Hinter dem Haus waren noch einige Plätze frei. Er stellte den Wagen so ab, daß neben ihm eine freie Lücke blieb, schaltete den Motor ab und stieg aus.

Die Kälte erfaßte ihn erbarmungslos. Es war eine dieser Nächte, in denen man die Kälte erst spürt, wenn sie einem die Ohren innerhalb weniger Sekunden an der Luft taubgefroren hat. Über ihm funkelten Millionen Sterne, die in der Kälte besonders klar strahlten. Durch die Rückwand der Taverne hörte er die Fabulous Oysters ›After Midnight‹ spielen.

Das Lied hat J. J. Cale geschrieben, dachte er und wunderte sich, wo er diese nutzlose Information aufgegabelt hatte. Es war schon erstaunlich, mit wieviel Abfall sich das menschliche Gehirn im Laufe der Zeit füllte. Er konnte sich daran erinnern, wer ›After Midnight‹ geschrieben hatte, aber das Gesicht seines verstorbenen Sohnes fiel ihm nicht mehr ein. Das kam ihm sehr grausam vor.

Der blaue Lieferwagen fuhr neben seinen LTD; Alan und Ray stiegen aus. Beide hatten jetzt Geschäftsmienen aufgesetzt, sie trugen dicke Handschuhe und hatten schwere Armeeparkas an.

»Sie haben das Geld dabei?« fragte Ray.

Er zog den Umschlag aus seinem Mantel und reichte ihn hinüber. Ray machte ihn auf und blätterte die Noten durch.

Er schien die Summe eher zu schätzen als zu zählen.

»In Ordnung. Machen Sie den Kofferraum auf.«

Er zog die hintere Wagenklappe hoch (in den Werbeprospekten von Ford wurde sie immer die ›Magische Tür‹ genannt), und die beiden schleppten eine schwere Holzkiste herüber und stellten sie hinten im Wagen ab.

»Die Zündschnur liegt auf dem Boden«, erklärte Ray und stieß weiße Atemwolken aus der Nase. »Denken Sie daran, Sie brauchen Saft. Sonst können Sie die Dinger gleich als Geburtstagskerzen verwenden.«

»Ich werde daran denken.«

»Sie sollten mehr Bowling spielen. Sie haben einen ganz schön kräftigen Wurf.«

Sie stiegen wieder in ihren Lieferwagen und fuhren los.

Ein paar Minuten später fuhr er auch weg und überließ die Fabulous Oysters ihrem Schicksal. Seine kalten Ohren prickelten, als sie in der Heizungsluft langsam auftauten.

Zu Hause angekommen, schleppte er die Kiste hinein und öffnete den Deckel mit einem Schraubenzieher. Das Zeug sah genauso aus wie Ray es ihm beschrieben hatte, wie graue Wachskerzen. Unter den Stäben und einer doppelten Lage Zeitungspapier fand er zwei dicke weiße Zündschnurrollen.

Sie wurden von weißen Plastikclips zusammengehalten, die genauso wie diejenigen aussahen, mit denen er seine Müllbeutel verschloß.

Er stellte die Kiste in den Wohnzimmerschrank und versuchte, nicht mehr an sie zu denken. Aber sie schien eine bösartige Strahlung zu verbreiten, die, ausgehend vom Schrank, nach und nach das ganze Haus erfaßte. So, als ob vor langer Zeit in dem Schrank etwas Unrechtes geschehen wäre, das jetzt langsam, aber sicher alles im Haus verdarb.

13. Januar 1974

Er fuhr in die Innenstadt und klapperte auf der Suche nach Drakes Kaffeehaus alle Straßen ab. Alte, belegte Mietshäuser standen Schulter an Schulter am Straßenrand und sahen aus, als würden sie zusammenbrechen, wenn man ihre Nachbarn entfernte. Ein Wald von Fernsehantennen auf den Dächern, die sich wie zu Berge stehende Haare gegen den Himmel abhoben. Bars, die über Mittag geschlossen waren. Ein Auto-wrack in der Mitte einer Seitenstraße. Es hatte keine Reifen mehr, keine Scheinwerfer und kein Chrom. Es sah aus wie ein verblichenes Kuhskelett im Tal des Todes. In der Gosse glitzerten Glasscherben. Alle Pfandhäuser und Getränke-märkte hatten Schiebegitter vor den Schaufenstern. Das haben wir von den Rassenunruhen vor acht Jahren gelernt, dachte er. Wie wir uns vor Plünderungen schützen können.

Als er die Venner Street halb hinuntergefahren war, entdeckte er ein kleines Ladenfenster mit einem Schild, auf dem in altenglischen Buchstaben stand:


DROP DOWN MAMMA KAFFEEHAUS


Er parkte den Wagen, schloß ihn ab und ging hinein. Drinnen waren nur zwei Kunden, ein junger Schwarzer in einer dicken Marinewolljacke, der vor sich hindöste, und ein alter weißer Säufer, der Kaffee aus einem weißen Porzellanbecher trank. Jedesmal, wenn er den Becher zum Mund hob, zitterten seine Hände hilflos. Seine Haut war ganz gelb, und in seinen Augen flackerte ein unheimliches Licht, als wäre dieser Mann in einem stinkenden inneren Gefängnis gefangen. Er saß zu tief drin, um je wieder herauszukommen.

Drake saß hinter der Theke am anderen Ende des Raumes neben einem kleinen Herd mit zwei Kochplatten. Auf der einen stand eine Glaskanne mit heißem Wasser, auf der anderen eine mit schwarzem Kaffee. Auf der Theke war eine aus-gediente Zigarrenkiste, die etwas Kleingeld enthielt. An der Wand hingen zwei Schilder aus Pappe, die mit Kreide beschrieben waren:


SPEISEKARTE:

KAFFEE 15¢

TEE 15¢

SODAWASSER 25¢

BALOGNA 30¢

PB&J 25¢

HOT DOG


Auf dem anderen Schild stand:


BITTE WARTEN SIE, BIS SIE BEDIENT WERDEN!

Alle Mitarbeiter des Drop In sind FREIWILLIGE HELFER, und wenn Sie sich selbst bedienen, fühlen sie sich nutzlos und überflüssig. Bitte warten Sie, und denken Sie daran, daß GOTT SIE LIEBT!


Drake blickte von seiner Zeitschrift, einem zerfledderten National Lampoon, auf, und einen Augenblick lang legte sich ein Schatten über seine Augen, als ginge er mit einem geistigen Finger eine Namensliste in seiner Erinnerung durch, bis er auf den richtigen traf. Dann sagte er: »Mr. Dawes. Wie geht es Ihnen?«

»Danke, gut. Kann ich eine Tasse Kaffee haben?«

»Natürlich.« Er nahm einen der dicken Porzellanbecher von der aufgestapelten Pyramide hinter sich und goß Kaffee hinein. »Milch?«

»Ich trinke ihn schwarz.« Er gab Drake eine Vierteldollar und erhielt ein Zehncentstück aus der Zigarrenkiste zurück.

»Ich wollte Ihnen noch einmal für neulich nacht danken, und ich möchte Ihnen eine Spende geben.«

»Sie haben mir nichts zu danken.«

»O doch. Auf der Party habe ich mich ziemlich schlecht benommen.«

»Das kann bei synthetischen Drogen passieren. Nicht immer, aber manchmal. Letzten Sommer haben ein paar Jungen einen Freund hergebracht, der im Stadtpark LSD genommen hatte. Der Junge hatte einen Schreikrampf, weil er glaubte, daß die Tauben hinter ihm her seien, um ihn aufzufressen.

Klingt wie eine Reader’s Dzgest-Horrorstory, nicht wahr?«

»Das Mädchen, von dem ich das Meskalin hatte, hat mir er-zählt, daß sie eines Tages eine Hand aus dem Abflußrohr in ihrer Küche gezogen hätte. Hinterher wußte sie nicht mehr, ob es wirklich so gewesen war oder nicht.«

»Wer war sie?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete er wahrheitsgemäß.

»Aber egal, hier.« Er legte einen Packen Geldscheine neben die Zigarrenkiste auf die Theke.

Drake betrachtete sie stirnrunzelnd, ohne sie zu berühren.

»Es ist für das Kaffeehaus«, erklärte er. Ihm war klar, daß Drake das wußte, aber er konnte sein Schweigen nicht ertragen.

Drake löste das Gummiband, mit dem die Banknoten zusammengebunden waren, indem er sie mit der linken Hand festhielt und mit der vernarbten Rechten umständlich herumhantierte. Dann lege er das Gummiband zur Seite und zählte die Scheine langsam.

»Das sind fünftausend Dollar«, sagte er.

»Ja.«

»Wären Sie beleidigt, wenn ich Sie fragen würde, woher …«

»… ich es habe? Nein, ich wäre nicht beleidigt. Ich habe mein Haus an die Stadt verkauft. Sie wollen die Straße direkt hindurchbauen.«

»Und Ihre Frau ist damit einverstanden?«

»Meine Frau hat in dieser Angelegenheit nichts zu sagen.Wir leben getrennt und werden bald geschieden. Sie hat die Hälfte des Geldes bekommen und kann damit machen, was sie für richtig hält.«

»Ich verstehe.«

Der alte Säufer fing an zu summen. Es war keine Melodie, sondern einfach nur ein Summen.

Drake tippte mit seinem rechten Zeigefinger auf die Geldscheine und betrachtete sie nachdenklich. Sie bogen sich an den Rändern hoch, weil sie zusammengerollt gewesen waren. Schließlich sagte er: »Das kann ich nicht annehmen.«

»Warum nicht?«

»Erinnern Sie sich noch daran, worüber wir gesprochen haben?«

Er erinnerte sich. »Ich habe in der Richtung keine Pläne.«

»Ich glaube doch. Ein Mann, der mit beiden Füßen auf dem Boden steht, gibt so viel Geld nicht einfach aus einer Laune heraus weg.«

»Das ist keine Laune«, widersprach er fest.

Drake musterte ihn scharf. »Wie würden Sie es dann nennen? Eine Zufallsbekanntschaft?«

»Himmel, ich hab’ schon Leuten Geld gegeben, die ich nie in meinem Leben gesehen habe. Der Krebsforschung. Dem Kinderhilfswerk. Einer Muskelschwundklinik in Boston. Ich bin noch nicht einmal in Boston gewesen.«

»So große Summen?«

»Nein.«

»Und noch dazu in bar, Mr. Dawes. Ein Mann, der für sein Geld noch Verwendung hat, will es nicht sehen, wenn er es ausgibt. Er bezahlt mit Schecks oder unterschreibt irgendwelche Papiere. Selbst beim Pokerspielen benutzt er Chips.

Es ist sozusagen symbolischer. Ein Mann, der in unserer Gesellschaft keine Verwendung für sein Geld mehr hat, hat auch keine Verwendung mehr für sein Leben.«

»Das ist eine verdammt materialistische Einstellung für einen …«

»Einen Priester? Ich bin kein Priester mehr. Nicht mehr, seitdem das hier passiert ist.« Er hielt seine vernarbte rechte Hand in die Höhe. »Soll ich Ihnen sagen, wie ich das Geld zusammenbringe, um das Kaffeehaus in Gang zu halten? Wir sind für diese Schaufensteraktionen der öffentlichen Wohltätigkeit zu spät gekommen. Für den sozialen Staatsfond genauso wie für die städtische Förderung. Die Leute, die hier arbeiten, sind nicht mehr berufstätig. Alte Leute, die die Kinder, die hierherkommen, zwar nicht verstehen, die aber auch nicht einfach nur ein Gesicht sein wollen, das sich im dritten Stock aus dem Fenster lehnt und den ganzen Tag die Straße beobachtet. Ich hab’ hier ein paar Jugendliche auf Bewährung, die für jeden Freitag und Sonnabend eine Band aufgabeln. Die Bands spielen umsonst, aber sie haben so die Möglichkeit, sich der Öffentlichkeit vorzustellen. Wir lassen dann den Hut rumgehen. Aber die meisten Moneten kommen von den Reichen, den oberen Zehntausend. Ich gehe auf Tour, halte meine Reden auf den Teegesellschaften der reichen Ladys. Ich erzähle ihnen von den Kindern auf der Straße und den Rauschgiftsüchtigen, die nachts unter den Brücken schlafen und sich Lagerfeuer aus Zeitungspapier anzünden, um im Winter nicht zu erfrieren. Ich berichte ihnen von dem fünfzehnjährigen Mädchen, das schon seit 1971 auf der Straße lebt und eines Tages zu mir kam. Sie hatte dicke weiße Läuse auf dem ganzen Kopf und in ihrem Schamhaar. Ich erzähle ihnen von der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten in Norton und von den Fischern. Das sind Männer, die sich in den Busbahnhöfen rumtreiben und Jungen auflesen, die von zu Hause weggelaufen sind und die sie dann als Strichjungen anheuern. Ich beschreibe ihnen genau, wie diese Jungen in den Kinotoiletten für zehn Dollar Männer mit dem Mund befriedigen. Wenn sie versprechen, den Samen zu schlucken, bekommen sie fünfzehn Dollar. Fünfzig Prozent sind für sie, fünfzig Prozent kriegen ihre Zuhälter. Und diese Frauen bekommen ganz nasse Augen und schmelzen dahin, und ich wette, ihre Schenkel werden ganz feucht und schlüpfrig, aber sie werden spendabel, und das ist die Hauptsache. Manchmal kann man sich an eine ranhängen, und es kommt mehr dabei heraus als nur eine Zehndollarspende.

Sie lädt dich dann zum Abendessen in ihr Haus in Crescent ein, stellt dich ihrer Familie vor und bittet dich, das Dankgebet zu sprechen, sobald das Hausmädchen den ersten Gang aufgetragen hat. Und du betest, egal wie bitter dir die Worte im Mund schmecken, und du streichst dem Kind des Hauses über den Kopf - es ist immer bloß ein Kind da, Mr. Dawes, nur eines. Sie vermehren sich nicht so wie die lästigen Kaninchen hier in Norton, die den ganzen Stall voller Kinder haben. - Und dann sagst du, was für einen prachtvollen jungen Mann wir doch da haben oder was für ein hübsches Mädchen, und wenn du Glück hast, hat die Lady ihre Freundinnen aus dem Bridgeclub oder aus dem Countryclub eingeladen, um sich so einen komischen Straßenpriester einmal anzusehen, der mit größter Wahrscheinlichkeit die Radikalen unterstützt und den Schwarzen Panthern und der Arabischen Befreiungsfront Gewehre liefert. Sie wollen sehen, wie er seine Pater-Brown-Rolle spielt, vielleicht noch ein bißchen vom alten Blarney hinzufügt und lächelt, bis ihm das Gesicht weh tut. Das Ganze nennt sich ›am Geldbaum schüttehv, und es passiert in der vornehmsten Umgebung, aber wenn du nach Hause kommst, hast du das Gefühl, du hättest selbst den ganzen Tag in einer Kinotoilette gekniet und den hoch-angesehenen Geschäftsmännern den Schwanz geblasen.

Aber was soll’s, das gehört zu meinem Spiel. Es ist ein Teil von meiner ›Buße‹, wenn Sie mir das Wort verzeihen wollen, aber meine Buße umfaßt keine Nekrophilie. Und ich habe das Gefühl, Mr. Dawes, daß Sie mir genau das anbieten. Deshalb muß ich Ihr Geld ablehnen.«

»Wofür büßen Sie?«

»Das«, antwortete Drake mit einem verzerrten Lächeln, »ist eine Sache zwischen mir und Gott.«

»Warum wählen Sie dann diese Finanzierungsmethode, wenn sie Sie so sehr abstößt? Warum holen Sie nicht einfach …«

»Ich mache es so, weil mir nichts anderes übrigbleibt. Ich bin ein Gefangener.«

Mit einem plötzlichen, fürchterlichen Gefühl der Verzweiflung merkte er, daß Drake ihm gerade erklärt hatte, warum er hier arbeitete, warum er das alles tat.

»Geht es Ihnen gut, Mr. Dawes? Sie sehen ein bißchen …«

»Mir fehlt nichts. Ich wünsche Ihnen viel Glück, selbst wenn Sie so nichts erreichen werden.«

»Ich mache mir keine Illusionen«, sagte Drake und lächelte. »Sie sollten sich noch einmal besinnen … und nichts Dramatisches unternehmen. Es gibt Alternativen.«

»Gibt es die?« fragte er lächelnd zurück. »Machen Sie den Laden dicht. Gehen Sie mit mir raus, und wir beide machen zusammen ein Geschäft auf. Das ist ein ernsthafter Vorschlag.«

»Sie wollen mich auf den Arm nehmen.«

»Nein«, antwortete er. »Aber vielleicht gibt es da jemanden, der uns beide auf den Arm genommen hat.« Mit diesen Worten ergriff er die Geldscheine und rollte sie wieder fest zusammen. Der Junge in der Wolljacke war eingeschlafen.

Der alte Säufer hatte seinen halbvollen Becher auf den Tisch gestellt und betrachtete ihn mit leerem Blick. Er summte immer noch vor sich hin. Als er an ihm vorbeiging, ließ er die Geldrolle in den Kaffeebecher fallen. Braune Brühe spritzte auf die Tischplatte. Mit schnellen Schritten verließ er das Kaffeehaus und schloß den Wagen auf. Insgeheim hoffte er, daß Drake ihm folgen würde, um zu protestieren, vielleicht, um ihn zu retten. Aber Drake kam nicht heraus. Vielleicht erwartete er von ihm, daß er zurückkäme und sich selbst rettete.

Aber er stieg in seinen Wagen und fuhr weg.

14. Januar 1974

Er fuhr in die Stadt und kaufte sich bei Sears eine Autobatterie und ein paar Starthilfekabel. Auf der Seite der Batterie stand mit gehöhten Plastikbuchstaben:


EIN ZÄHER BURSCHE


Als er wieder nach Hause kam, stellte er sie zu der Holzkiste im Wohnzimmerschrank. Er versuchte sich auszumalen, was wohl passieren würde, wenn die Polizei mit einem Hausdurchsuchungsbefehl hier auftauchte. Waffen in der Garage, Sprengstoff im Wohnzimmerschrank und eine Un-summe von Geld im Bierkrug auf dem Küchenregal. B. G. Dawes, der verzweifelte Revolutionär. Geheimagent X-g, von einem ausländischen Kartell beschäftigt, das zu geheim ist, um hier genannt zu werden. Er hatte ein Reader’s Digest-Abonnement, und die Hefte waren voll von solchen Geschichten und von den endlosen Kreuzzügen: die Anti-Raucher-Kampagne, die Anti-Pornographie-Kampagne, die Anti-Kriminalitäts-Kampagne. Die Geschichten waren viel spannender, wenn der erwähnte Spion einer aus der Nachbarschaft in der Vorstadt, also einer von uns war. KGB-Agen-ten in Willmette oder Des Moines, die in den Drugstore-Leihbibliotheken Mikrofilme austauschten, in Autokinos den gewaltsamen Umsturz der Republik planten und ihre Big Macs mit einem hohlen Zahn kauten, in dem sie Blausäure aufbewahrten.

Ja, ein Hausdurchsuchungsbefehl, und sie würden ihn kreuzigen. Aber er hatte keine Angst mehr. Dazu waren die Dinge schon zu weit fortgeschritten.

15. Januar 1974

»Sagen Sie mir, was Sie wollen«, sagte Magliore müde.

Draußen regnete und schneite es zugleich; es wa ein grauer, trüber Tag. Ein Tag, an dem die Stadtbusse, wenn sie aus den verhangenen Nebelwolken auftauchten und eine Menge Wasser und Matsch hochspritzten, wie bösartige Ungeheuer aus den Fantasien eines manisch-depressiven Menschen wirkten. Ein Tag, an dem einem allein die Tatsache, daß man am Leben war, etwas psychopathisch vorkam.

»Mein Haus? Meinen Wagen? Meine Frau? Sie können alles haben, Dawes, wenn Sie mich nur meine letzten Jahre in Ruhe und Frieden lassen.«

»Sehen Sie«, antwortete er verlegen. »Ich weiß, daß ich eine Plage bin.«

»Er weiß, daß er eine Plage ist«, sagte Magliore zu den Wänden. Er hob seine Hände und ließ sie auf seine dicken Oberschenkel fallen. »Warum, in Gottes Namen, hören Sie denn nicht endlich auf damit?«

»Es ist meine letzte Bitte.«

Magliore verdrehte die Augen. »Das wäre zu schön«, er-zählte er den Wänden. »Und? Was ist es?«

Er zog ein Bündel Geldscheine aus der Tasche und sagte:

»Ich habe hier achtzehntausend Dollar. Dreitausend sind für Sie. Ein Finderlohn.«

»Und was soll ich für Sie finden?«

»Ein Mädchen in Las Vegas.«

»Sind die fünfzehntausend für sie?«

»Ja. Ich möchte, daß Sie sie in einem von Ihren Geschäften investieren, gut investieren, und ihr die Dividenden zukommen lassen.«

»Sollen es die legalen Geschäfte sein?«

»Etwas, bei dem große Dividenden rausspringen. Ich verlasse mich da ganz auf Ihr Urteil.«

»Er verläßt sich auf mein Urteil«, informierte Magliore die Wände. »Vegas ist eine große Stadt, Mr. Dawes. Es gibt dort eine Menge Durchreisende.«

»Haben Sie keine Kontakte dort?«

»Zufällig habe ich die. Aber wenn es sich um ein halbbackenes Hippiemädchen handelt, das schon längst nach San Francisco oder Denver abgehauen ist …«

»Sie heißt Olivia Brenner. Ich glaube, daß sie sich immer noch in Las Vegas aufhält. Sie hat zuletzt in einem Schnellimbißrestaurant gearbeitet …«

»Wovon es in Las Vegas mindestens eine Million gibt«, unterbrach Magliore ihn. »Jesus! Maria! Und Joseph, der Zimmermann!«

»Sie hat zusammen mit einem anderen Mädchen eine Wohnung, Jedenfalls war es so, als ich das letzte Mal mit ihr gesprochen habe. Ich weiß aber nicht wo. Sie ist ungefähr einen Meter zweiundsiebzig groß, hatte dunkles Haar und grüne Augen. Gute Figur. Sie ist zwanzig Jahre alt, jedenfalls hat sie das gesagt.«

»Und wenn ich diese Bombenfigur nun nicht finde?«

»Dann investieren Sie das Geld trotzdem und behalten die Dividenden selbst. Nehmen Sie es als Belästigungsgeld.«

»Woher wollen Sie wissen, daß ich das nicht sowieso tue?«

Er stand auf und ließ das Geld liegen. »Das kann ich wohl nicht wissen. Aber Sie haben ein ehrliches Gesicht.«

»Hören Sie«, sagte Magliore, »ich werde Sie nicht reinlegen. Sie sind ein Mann, der schon zu oft reingelegt worden ist. Aber mir gefällt die Sache nicht. Es kommt mir so vor, als hätten Sie mich zu Ihrem Testamentsvollstrecker gemacht, der Ihren verdammten letzten Willen ausführen soll.«

»Sagen Sie nein, wenn’s nicht geht.«

»Nein, nein, nein. Sie haben mich nicht verstanden. Wenn sie immer noch unter dem Namen Olivia Brenner in Las Vegas lebt, werde ich sie finden, und drei Riesen sind ein faires Angebot. Es schadet mir in keiner Weise, egal wie die Sache läuft. Aber Sie sind mir unheimlich, Mr. Dawes. Sie sind wirklich festgefahren.«

»Ja.«

Magliore runzelte die Stirn und blickte nachdenklich auf die Fotos von seiner Frau, seinen Kindern und sich unter der Glasplatte auf seinem Schreibtisch.

»In Ordnung«, sagte er schließlich. »Dieses letzte Mal tue ich es, Mr. Dawes. Aber dann ist Schluß. Danach werde ich mich einfach weigern. Wenn ich Sie je wieder sehen oder am Telefon mit Ihnen sprechen sollte, habe ich Sie vergessen.

Das meine ich ernst. Ich hab’ genug Probleme, auch ohne mich ständig um Ihre zu kümmern.«

»Diese Bedingung akzeptiere ich.«

Er streckte seine Hand aus, unsicher, ob Magliore sie ergreifen würde, doch Magliore schüttelte sie.

»Ich begreife Sie nicht«, sagte Magliore. »Warum sollte ich einen Kerl wie Sie mögen, der für mich absolut keinen Sinn ergibt?«

»Es ist eine sinnlose Welt«, antwortete er. »Wenn Sie daran zweifeln, denken Sie einfach an Mr. Piazzis Hund.«

»Ich denke oft an ihn«, erwiderte Magliore.

16. Januar 1974

Er brachte den braunen Umschlag mit dem Scheckbuch zum Briefkasten an der Straßenecke und warf ihn hinein. An diesem Abend ging er ins Kino und sah sich den Exorzisten an, weil Max von Sydow in dem Film mitspielte und er Max von Sydow schon immer bewundert hatte. In einer Filmszene kotzte ein kleines Mädchen einem katholischen Priester direkt ins Gesicht. Einige Leute in den hinteren Reihen lachten und applaudierten.

17. Januar 1974

Mary rief ihn an. Sie klang auf absurde Weise erleichtert, ja richtig fröhlich, und das machte alles viel leichter.

»Du hast das Haus verkauft«, stellte sie fest.

»Richtig.«

»Aber du wohnst immer noch dort.«

»Nur noch bis Sonnabend. Ich hab’ nur ein großes Bauern-haus auf dem Land gemietet. Ich werd’ erst mal rausziehen und versuchen, wieder zu mir selbst zu kommen.«

»Oh, Bart, das ist wunderbar. Ich bin so froh.« Ihm wurde plötzlich klar, warum alles so einfach war. Ihre Fröhlichkeit war nur aufgesetzt. Sie war weder froh noch unglücklich. Sie hatte aufgegeben. »Und das Scheckbuch …«

»Ja?«

»Du hast das Geld genau geteilt, nicht wahr?«

»Ja, das habe ich. Wenn du es nachprüfen willst, kannst du Fenner anrufen.«

»Nein. Oh, nein, das habe ich nicht gemeint.« Er konnte fast sehen, wie sie abwehrend die Hände hob. »Ich wollte fragen… weil du das Geld so geteilt hast… bedeutet das…«

Sie verstummte bedeutungsvoll, und er dachte: Aua, du Hexe, jetzt hast du mich erwischt. Volltreffer.

»Ja, ich glaube, das bedeutet es«, antwortete er. »Die Scheidung.«

»Hast du daran gedacht?« fragte sie mit ernster Stimme. Es klang unecht. »Hast du wirklich…«

»Ich habe sehr viel darüber nachgedacht.«

»Ich auch. Es scheint das einzige zu sein, was wir noch hin können. Aber ich habe nichts gegen dich, Bart. Ich bin dir nicht böse.«

Mein Gott, sie hat all die billigen Romane gelesen. Als nächstes sagt sie mir, daß sie wieder aufs College gehen will. Seine Bitterkeit überraschte ihn. Er hätte gedacht, daß er schon längst darüber hinaus wäre.

»Was wirst du jetzt tun?«

»Ich werde wieder aufs College gehen«, antwortete sie, und jetzt klang ihre Stimme nicht mehr unecht, sondern aufgeregt und hell. »Ich habe meine alten Schulsachen ausgegraben; sie lagen immer noch zusammen mit meinen alten Kleidern auf Mutters Dachboden. Weißt du, daß ich nur noch drei oder vier Scheine für mein Diplom brauche, Bart? Das dauert kaum länger als ein Jahr!«

Er stellte sich vor, wie Mary auf dem Dachboden ihrer Mutter in den alten Sachen rumgekramt hatte, und das Bild über-lagerte sich mit der eigenen Vorstellung, wie er verwirrt und unglücklich vor Charlies Kleidern gesessen hatte. Er verdrängte die Bilder.

»Bart? Bist du noch da?«

»Ja. Ich freue mich, daß dich dein Alleinsein so ausfüllt.«

»Bart«, sagte sie vorwurfsvoll.

Er hatte jetzt keinen Grund mehr, sie anzuschnauzen oder zu verärgern oder ihr ein schlechtes Gewissen zu machen.

Dazu war es zu spät. Mr. Piazzis Hund hatte zugebissen und suchte ein neues Opfer. Den Gedanken fand er komisch, und er kicherte.

»Bart, weinst du?« Sie klang zärtlich. Unecht, aber zärtlich.

»Nein«, antwortete er tapfer.

»Bart, kann ich irgend etwas für dich tun? Wenn ja, dann möchte ich dir gerne helfen.«

»Nein. Ich glaube, es kommt jetzt alles wieder in Ordnung.

Und ich bin froh, daß du wieder aufs College gehst. Hör mal, diese Scheidung - wer soll sie einreichen? Du oder ich?«

»Ich glaube, es wäre besser, wenn ich das tue«, antwortete sie zögernd.

»Ja, ist gut.«

Eine Pause entstand. Plötzlich platzte sie in die Stille hinein, als wären die Worte ihr ohne ihr Wissen oder ihre Zustimmung entschlüpft: »Hast du mit einer anderen Frau geschlafen, seitdem ich dich verlassen habe?«

Er ließ sich die Frage durch den Kopf gehen und über-dachte die verschiedenen Antworten: die Wahrheit, ein Lüge oder eine ausweichende Bemerkung, die sie in der kommenden Nacht nicht schlafen lassen würde.

»Nein«, antwortete er vorsichtig und fügte dann schnell hinzu: »Und du?«

»Natürlich nicht«, entgegnete sie, und es gelang ihr, dabei gleichzeitig schockiert und erfreut zu klingen. »So etwas würde ich nicht tun.«

»Letztendlich wohl doch.«

»Laß uns nicht über Sex reden, Bart.«

»Einverstanden«, sagte er bereitwillig, obwohl sie das Thema angeschnitten hatte. Er suchte angestrengt nach einer liebevollen Bemerkung. Er wollte ihr etwas Nettes sagen, an das sie sich erinnern sollte. Aber ihm fiel partout nichts ein, und außerdem war ihm gar nicht so klar, warum sie sich überhaupt an ihn erinnern sollte, so, wie die Dinge nun mal standen. Sie hatten ein paar gute Jahre zusammen verbracht.

Es mußte so gewesen sein, denn er konnte sich nicht an viele Dinge erinnern, die während ihrer Ehe passiert waren. Abgesehen vielleicht von dieser verrückten Femsehwette.

Plötzlich hörte er sich sagen: »Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem wir Charlie zum ersten Mal in den Kindergarten gebracht haben?«

»Ja. Er hat geweint, und du wolltest ihn wieder mit nach Hause nehmen. Du wolltest ihn nie loslassen, Bart.«

»Und du hast es getan.«

Sie stritt seine Behauptung in einem leicht verletzten Tonfall ab, aber er konnte sich noch sehr genau an die Szene erinnern. Die Frau, die den Kindergarten leitete, war eine Mrs. Ricker. Sie hatte ein Staatsdiplom, und sie servierte allen Kindern ein warmes Mittagessen, bevor sie sie um ein Uhr wieder nach Hause schickte. Die Kindergartenräume befanden sich in einem renovierten Kellergeschoß, und er kam sich wie ein Verräter vor, als sie Charlie zwischen sich die Treppe hinunterführten. Wie ein Bauer hatte er sich gefühlt, der seine Kuh streichelt und sie beruhigt, während er sie zur Schlachtbank führt. Sein Charlie war ein wunderschöner Junge gewesen. Blonde Haare, die später etwas dunkler wurden, blaue, wachsame Augen und geschickte Hände, mit denen er schon als kleines Kind viel anfangen konnte. Und da stand er nun stocksteif zwischen ihnen auf der untersten Treppenstufe und beobachtete die anderen Kinder, die durcheinander-schrien und rumrannten, Papier bekritzelten und mit stumpfen Scheren farbige Kartons ausschnitten. Und es waren so viele. Charlie hatte nie verletzlicher ausgesehen als in dem Augenblick, als er die anderen Kinder anstarrte. Es war weder Angst noch Freude in seinen Augen gewesen, nur diese Wachsamkeit, dieses Gefühl, ein Außenseiter zu sein, und er hatte sich nie so sehr als der Vater seines Sohnes empfunden wie in diesem Augenblick. Nie hatte er sich Charlie so nahe gefühlt. Dann war diese Mrs. Ricker auf sie zugekommen und hatte mit dem Lächeln eines Barrakudas zu ihm gesagt:

»Wir werden hier viel Spaß miteinander haben, Chuck.«

Woraufhin er am liebsten aufgeschrien hätte: »Das ist nicht sein Name!« Als sie dann ihre Hand nach ihm ausstreckte und Charlie sie nicht nahm, sondern sie nur anblickte, hatte sie einfach seine Hand genommen und ihn mit sich zu den anderen Kindern gezogen. Bereitwillig war Charlie zwei Schritte mitgegangen, doch dann war er stehengeblieben und hatte sich nach ihnen umgeblickt. »Gehen Sie nur«, hatte Mrs. Ricker mt ruhiger Stimme zu ihnen gesagt. »Er wird sich hier schon zurechtfinden.« Und dann hatte Mary ihn angestoßen und: »Nun komm schon, Bart!« zu ihm sagen müssen, denn er stand wie angewurzelt da und sah seinem Sohn in die Augen, deren Botschaft er nur allzu gut verstand: Wirst du ihnen wirklich erlauben, mir das anzutun, George? Und seine Augen hatten ihm geantwortet: Ich glaube, das werde ich, Freddy. Dann waren Mary und er die Treppe wieder hinaufgestiegen und hatten ihrem Sohn den Rücken gekehrt. Das war das Fürchterlichste, was man einem Kind in so einem Augenblick antun konnte, und Charlie hatte angefangen zu heulen. Aber Mary hatte nicht einmal gezögert, denn die Liebe einer Frau ist eigenartig und grausam und fast immer sehr scharfsichtig. Eine Liebe die voraussieht, ist immer entsetzlich. Mary wußte, daß Weggehen das einzig Richtige sei, und so war sie gegangen und hatte sein Geschrei als einen weiteren Teil seiner kind-lichen Entwicklung überhört. Es gehörte dazu wie Bauchschmerzen und aufgeschürfte Knie. Doch er hatte einen scharfen Schmerz in seiner Brust gespürt, so stark, daß er ihn fast für einen Herzinfarkt gehalten hatte, aber bald darauf war er einfach verschwunden. Er war erschüttert und unfähig, sich den Schmerz zu erklären, aber heute wußte er, daß es sich um einen ganz prosaischen Abschied gehandelt hatte. Die Rücken von den Eltern waren nicht das Schlimmste auf dieser Welt. Viel schlimmer war die Geschwindigkeit, mit der die Kinder sich aus eigenem Antrieb abkehrten und sich ihren eigenen Angelegenheiten zuwandten - dem Spielen, dem neuen Puzzle, ihrem neuen Freund und schließlich ihrem Tod. Das waren die schrecklichsten Dinge, wie er in der Zwischenzeit erfahren hatte.

Charlie hatte schon lange, bevor er krank wurde, zu sterben angefangen. Und es hatte keine Möglichkeit gegeben, dem Einhalt zu gebieten.

»Bart?« fragte sie jetzt. »Bist du noch da, Bart?«

»Ja, ich bin hier.«

»Was hast du davon, die ganze Zeit über Charlie nachzudenken? Es wird dich noch zerfressen. Du bist sein Gefangener.«

»Aber du bist frei«, erwiderte er. »Ja, das bist du.«

»Soll ich nächste Woche zum Rechtsanwalt gehen?«

»In Ordnung.«

»Es wird keine häßlichen Szenen geben, nicht wahr, Bart?«

»Nein, es wird sehr zivilisiert vor sich gehen.«

»Und du wirst deine Meinung nicht ändern und irgendwie Einspruch erheben?«

»Nein.«

»Ich … ich werde dich wieder anrufen.«

»Du hast gewußt, daß es Zeit war, ihn allein zu lassen, und du hast es getan. Ich wünschte bei Gott, ich hätte deinen Instinkt gehabt.«

»Was?«

»Nichts. Auf Wiedersehen, Mary. Ich liebe dich.« Er stellte fest, daß er das erst gesagt hatte, nachdem der Hörer schon wieder auf der Gabel lag. Er hatte es ganz automatisch gesagt, ohne Gefühle oder besondere Betonung. Aber es war kein schlechtes Ende. Nein, das war es ganz und gar nicht.

18. Januar 1974

Die Stimme der Sekretärin fragte ihn: »Wen darf ich melden?«

»Bart Dawes.«

»Einen Augenblick bitte.«

»Ja, danke.«

Sie schaltete die Leitung um, und er stand mit dem Hörer am Ohr wartend da, tippte mit einem Fuß auf den Boden und blickte durch das Fenster auf die Geisterstadt an der Crestallen Street hinaus. Es war ein strahlend klarer, aber sehr kalter Tag. Die Temperaturen bewegten sich um fünf Grad herum, aber es blies ein kalter Wind, so daß man das Ge-fühl hatte, es wären fünf Grad minus. Der Wind trieb Schnee über die Straße auf das Haus der Hobarts zu, das in brütendem Schweigen an der Straße stand. Eine leere Hülle, die auf den Abbruchkran wartete. Sie hatten sogar die Fensterläden mitgenommen.

Ein Klicken in der Leitung, und er hörte Steve Ordners Stimme: »Hallo, Bart, wie geht es Ihnen?«

»Gut.«

»Was kann ich für Sie tun?«

»Ich habe nur angerufen, weil ich wissen wollte, was mit der Wäscherei passiert ist«, antwortete er. »Was hat die Gesellschaft denn nun in bezug auf den Umzug beschlossen?«

Ordner seufzte und sagte dann mit gutwilliger, aber reservierter Stimme: »Dazu ist es doch wohl ein wenig zu spät, oder?«

»Ich habe Sie nicht angerufen, um mich von Ihnen in die Pfanne hauen zu lassen, Steve.«

»Warum nicht? Schließlich habe Sie uns ja alle damit, in die Pfanne gehauen. Aber vergessen wir das. Der Aufsichtsrat hat beschlossen, daß wir uns ganz aus dem industriellen Wäschereigeschäft zurückziehen. Die Waschsalons bleiben natürlich, sie laufen sehr gut. Wir werden den Namen der Kette ändern. In Zukunft heißt sie Handi-Wash.

Wie finden Sie das?«

»Schrecklich«, antwortete er abweisend. »Warum schmeißen Sie Vinnie Mason nicht raus?«

»Vinnie?« fragte Ordner überrascht. »Vinnie macht seine Arbeit ausgezeichnet. Er entwickelt sich zu einem richtigen Mogul. Ich muß schon sagen, soviel Bitterkeit hätte ich bei Ihnen …«

»Na, hören Sie mal, Steve. Vinnies Job hat nicht mehr Zukunft als der Luftschacht einer Mietskaserne. Geben Sie ihm etwas, das sich für ihn wirklich lohnt, oder lassen Sie ihn gehen.«

»Ich glaube kaum, daß Sie das etwas angeht, Bart.«

»Sie haben ihm ein totes Hühnchen um den Hals gehängt; er hat es nur noch nicht bemerkt, weil es noch nicht angefangen hat zu faulen. Er hält es immer noch für sein Abendessen.«

»Soweit ich gehört habe, hat er Sie kurz vor Weihnachten ein wenig zusammengeschlagen.«

»Ich habe ihm die Wahrheit gesagt, und das hat ihm nicht gefallen.«

»Wahrheit ist ein sehr dehnbarer Begriff, Bart. Das sollten Sie doch wohl besser wissen als jeder andere, nach all den Lügen, die Sie mir aufgetischt haben.«

»Das ärgert Sie wohl immer noch, was?«

»Wenn man plötzlich entdecken muß, daß der Mann, den man für einen guten Angestellten gehalten hat, voller Scheiße steckt, ist es nur natürlich, daß einen das ärgert. Ja.«

»Daß einen das ärgert«, wiederholte er. »Wissen Sie was, Steve? Sie sind der einzige Mensch, den ich in meinem Leben kennengelernt habe, der sich so ausdrückt. Daß einen das ärgert! Das klingt so, als bekämen Sie Ihre Sprache in der Konservendose geliefert.«

»Sonst noch etwas, Bart?«

»Nein, eigentlich nicht. Ich wünschte, Sie würden Vinnie nicht mehr reinlegen. Er ist ein guter Mann. Sie verheizen ihn, und das wissen Sie verdammt genau.«

»Ich wiederhole es noch einmal: Warum sollte ich Vinnie ›reinlegen‹?«

»Weil Sie mich nicht in die Finger kriegen.«

»Sie leiden an Verfolgungswahn, Bart. Ich habe kein Verlangen danach, Ihnen etwas anzutun. Ich will Sie nur vergessen.«

»Ist das der Grund, warum Sie mich überprüfen lassen?

Warum Sie nachfragen, ob ich meine Privatwäsche auf Geschäftskosten erledigt hätte oder Sonderverträge mit einigen Motels abgeschlossen hätte? Soweit ich gehört habe, haben Sie sogar die Kassenbons der letzten fünf Jahre untersuchen lassen.«

»Wer hat Ihnen das gesagt?« bellte Ordner los. Er klang erschrocken, aus dem Gleichgewicht geworfen.

»Jemand aus Ihrer Organisation«, log er fröhlich. »Jemand, der Sie nicht ausstehen kann. Jemand, der die Kugel noch gerade rechtzeitig vor der nächsten Aufsichtsratssitzung ins Rollen bringen könnte.«

»Wer?«

»Wiederhören, Steve. Denken Sie über Vinnie Mason nach, und ich werde mir darüber Gedanken machen, mit wem ich als nächstes spreche - oder auch nicht.«

»Verdammt noch mal, hängen Sie nicht einfach ein! Hören Sie …«

Er legte auf und grinste. Dann hatte also selbst Steve Ordner seinen sprichwörtlichen Dreck am Stecken. An wen erinnerte ihn dieser Kerl eigentlich? Stahlkugeln. Geklaute Erdbeereiscreme. Herman Wouk. Captain Queeg. Ja genau, der war’s. Humphrey Bogart hatte ihn in dem Film gespielt. Er lachte laut heraus und sang:

»Wir brauchen alle jemanden zum Aus-Queeg-en, Und wenn du Lust hast, dann Queeg dich doch einfach bei mir aus.«

Ja, ja, es stimmt, ich bin verrückt, dachte er und lachte weiter.

Aber das scheint gewisse Vorteile zu haben. Ihm kam der Gedanke, daß das beste Anzeichen für Verrücktheit wohl ein Mann ist, der ganz allein in einem leeren Haus an einer Straße voller leerer Häuser steht und in die tödliche Stille hineinlacht. Aber der Gedanke konnte seine gute Laune nicht trüben. Er lachte sogar noch lauter, stand neben dem Telefon, schüttelte den Kopf und grinste.

19. Januar 1974

Nach dem Dunkelwerden ging er in die Garage und holte die Gewehre ins Haus. Vorsichtig lud er die Magnum, nachdem er die Anleitung sorgfältig durchgelesen und die Pistole ein paarmal ohne Ladung abgeschossen hatte. Die Rolling Stones dröhnten laut aus der Stereoanlage, sie besangen den Midnight Rambler. Er konnte es einfach nicht fassen, wie toll er diese Platte fand. Schon kam er sich selbst wie so ein Mitternachtswanderer vor, Barton George Dawes, nächtlicher Herumtreiber, Besuche nur nach Ver-einbarung.

Die 460 Weatherbee faßte acht Patronen, die so groß wirkten, als würden sie in eine mittlere Haubitze passen.

Nachdem er das Gewehr geladen hatte, betrachtete er es neugierig und fragte sich, ob es tatsächlich so gewaltig schoß, wie Dirty Harry Swinnerton behauptet hatte. Er beschloß, ganz einfach hinauszugehen und es auszuprobieren. Wer wohnte noch an der Crestallen Street, der die Polizei von nächtlichen Gewehrschüssen informieren würde?

Er zog sich seine Jacke über und stand schon an der Hintertür in der Küche, als er noch einmal umkehrte und sich ein kleines Sofakissen aus dem Wohnzimmer holte. Dann ging er nach draußen und schaltete die 200-Watt-Gartenbeleuchtung ein, die Mary und er im Sommer bei ihren Grillpartys immer benutzt hatten. Hier draußen lag der Schnee genau so, wie er ihn sich vor einer Woche vorgestellt hatte - unberührt, vollkommen jungfräulich. Kein dreckiger Fuß hatte ihn betreten. In den letzten Jahren hatte Don Upslingers Sohn Kenny seinen Hinterhof öfter mal als Abkürzung zu seinem Freund Ronny benutzt. Oder Mary hatte etwas auf der Wäscheleine aufgehängt (meist unaussprechliche Dinge), die er von der Hausecke zur Garage gespannt hatte. Zumindest an Tagen, die so warm waren, daß die Sachen nicht gefroren. Er selbst hatte immer den überdach-ten Durchgang zur Garage benutzt. Diese seltsame Unberührtheit traf ihn wie ein Schock - seit dem ersten Schneefall Ende November hatte niemand seinen Garten betreten.

So wie es aussah, nicht mal ein Hund.

Er spürte plötzlich ein verrücktes Verlangen, in die Mitte seines Gartens hinauszurennen, zu der Stelle, auf der sie im Sommer immer ihren Holzkohlengrill aufgestellt hatten, und einen Schneemann zu bauen.

Statt dessen klemmte er sich das Kissen gegen die rechte Schulter, hielt es einen Augenblick mit dem Kinn fest, und preßte dann den Gewehrkolben der Weatherbee dagegen.

Mit dem rechten Auge spähte er durch das Zielfernrohr, das linke hielt er fest geschlossen und versuchte, sich an die Ratschläge zu erinnern, welche die Schauspieler sich immer in den Kriegsfilmen gaben, kurz bevor die Marinesoldaten den Strand stürmten. Meistens war es ein hartgesottener Kriegsveteran, zum Beispiel Richard Widmark, der einem grünen Anfänger - Martin Milner vielleicht - sagte: Du darfst den Ab-zugshahn nicht verziehen, mein Sohn - ganz langsam DRÜCKEN.

Na gut, Fred, jetzt wollen wir mal sehen, ob ich meine Garage treffen kann.

Er drückte auf den Abzug.

Das Gewehr knallte nicht los. Es gab eine regelrechte Explosion. Zuerst hatte er ein Gefühl, als hätte es ihm beide Hände abgerissen. Doch als der Rückstoß ihn traf, wußte er, daß er noch lebte. Er kam mit solcher Wucht, daß er gegen die Küchentür zurückprallte. Der Knall verhallte in einem rollenden Donner in alle Richtungen. Er klang wie bei einem Düsenjet. Das Kissen fiel in den Schnee. Seine Schulter pochte.

»Donnerwetter, Fred!« sagte er, nach Luft schnappend.

Er blickte zur Garage hinüber und konnte kaum glauben, was er da sah. In die Seitenwand war ein so großes Loch gerissen, daß eine Teetasse hindurchgepaßt hätte.

Er lehnte das Gewehr gegen die Küchentür und stapfte durch den Schnee, ohne Rücksicht darauf, daß er nur seine Halbschuhe anhatte. Eine Minute lang untersuchte er das Loch, kratzte verwirrt mit dem rechten Zeigefinger einige Splitter weg und ging dann nach vorn zur Garagentür.

Drinnen sah er, daß das Austrittsloch noch wesentlich größer war. Er untersuchte seinen Kombiwagen. In der Beifahrertür befand sich ebenfalls ein Durchschlagsloch. Der Lack war abgesplittert, und um den Rand des Durchschlags kam das blanke Metall zum Vorschein. Er konnte zwei Finger hindurchstecken. Als er die Wagentür öffnete und über die Sitze blickte, entdeckte er, daß die Kugel auch die Fahrertür durchschlagen hatte. Das Loch befand sich direkt unter dem Türgriff.

Er ging um den Wagen herum und betrachtete die Stelle von außen. Kleine Metallsplitter ragten um den Lochrand vorwurfsvoll nach außen. Er drehte sich um und untersuchte die gegenüberliegende Garagen wand. Auch hier war die Kugel eingeschlagen und - tatsächlich - durchgegangen. So wie er die Sache einschätzte, flog sie immer noch weiter.

Er hörte wieder, wie Harry, der Waffenhändler, zu ihm sagte: Ah, Ihr Neffe schießt also auf die Eingeweide … na, mit diesem Baby wird er die Eingeweide zwanzig Meter in der Umgebung verstreuen. Was würde es dann einem Menschen antun?

Wahrscheinlich dasselbe. Ihm wurde plötzlich übel.

Er stapfte zur Küchentür zurück, blieb einen Augenblick stehen, um das Kissen aufzuheben, und ging wieder ins Haus. Automatisch trat er sich die Füße ab, um in Marys sauberer Küche keine Schmutzspuren zu hinterlassen. Im Wohnzimmer zog er sich das Oberhemd aus. Trotz des Kissens hatte der Kolben eine rote Stelle an seiner Schulter hinterlassen.

Er ging mit nacktem Oberkörper in die Küche, setzte eine Kanne Kaffee auf und machte sich ein TV-Dinner. Nach dem Essen kehrte er wieder ins Wohnzimmer zurück, legte sich auf die Couch und fing an zu weinen. Er steigerte sich in einen hysterischen Weinkrampf, hörte sich heulen und bekam Angst davor, aber er konnte sich nicht beherrschen. Endlich beruhigte er sich allmählich und fiel in einen schweren Schlaf. Er atmete unruhig. Im Traum sah er sich als alten Mann. Einige der Bartstoppeln auf seinen Wangen waren ganz weiß.

20. Januar 1974

Er wachte auf und fuhr mit einem schuldbewußten Schrecken hoch, aus Angst, daß es schon früh am Morgen und viel zu spät sei. Sein Schlaf war düster und trübe wie abgestandener Kaffee gewesen. Es war diese Art von Schlaf, aus dem man völlig benommen und wie mit einem Brett vor dem Kopf aufwacht. Er sah auf seine Uhr und stellte fest, daß es erst Viertel nach zwei war. Das Gewehr stand noch genauso da, wie er es abgestellt hatte, gemütlich gegen seinen Sessel gelehnt. Die Magnum lag auf dem Tisch.

Er erhob sich, ging in die Küche und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Dann ging er nach oben, um sich ein frisches Hemd anzuziehen. Während er die Treppe wieder hinunterlief, stopfte er sich das Hemd in die Hose. Unten sperrte er alle Türen ab, die nach draußen führten. Aus Gründen, über die er lieber nicht näher nachdenken wollte, wurde ihm das Herz jedesmal, wenn er den Schlüssel umdrehte, ein kleines bißchen leichter. Zum ersten Mal, seit diese verfluchte Frau im Supermarkt vor ihm zusammengebrochen war, fing er an, sich wieder mit sich selbst identisch zu fühlen. Er stellte die Weatherbee vor dem Wohnzimmerfenster auf den Boden und stapelte die Patronenschachteln neben ihr auf. Er öffnete jede Schachtel, bevor er sie hinlegte. Danach zog er den Sessel vors Fenster und legte ihn auf die Seite.

In der Küche verriegelte er alle Fenster. Er holte einen Stuhl aus dem Eßzimmer und klemmte ihn unter die Klinke der Küchentür. Dann goß er sich kalten Kaffee in einen Becher, trank abwesend einen Schluck, verzog das Gesicht und goß ihn in die Spüle. Statt dessen mixte er sich einen Drink.

Er ging wieder ins Wohnzimmer zurück und holte die Autobatterie aus dem Schrank. Er stellte sie hinter dem umgekippten Sessel ab, holte die Starthilfekabel und legte sie daneben.

Danach schleppte er ächzend und stöhnend die Sprengstoffkiste die Treppe hinauf. Oben angekommen, ließ er sie schwer auf den Boden fallen, richtete sich auf und atmete tief durch. Er war für diesen Quatsch einfach schon zu alt. Er hatte zwar noch viele Muskeln aus der Zeit, als er mit seinen Kollegen die vierhundert Pfund schweren Körbe mit der gemangelten Wäsche auf den Lieferwagen gehoben hatte, aber Muskeln oder keine Muskeln, ein vierzigjähriger Mann forderte mit einer solchen Plackerei sein Schicksal heraus. Mit vierzig war es Zeit, sich mit dem Gedanken an einen Herzinfarkt vertraut zu machen.

Er lief von Zimmer zu Zimmer und schaltete alle Lichter ein: Gästezimmer, Gästebad, Schlafzimmer und Arbeitszimmer, das früher Charlies Zimmer gewesen war. Dann stellte er einen Stuhl unter die Falltür zum Dachboden, kletterte nach oben und schaltete auch dort die verstaubte Glühbirne ein. Danach ging er wieder in die Küche hinunter, aus der er sich eine Rolle Isolierband, eine Schere und ein scharfes Messer holte.

Er nahm zwei Sprengstoffstäbe aus der Kiste (sie waren sehr weich, seine Finger hinterließen Dellen, als er sie drückte) und brachte sie auf den Dachboden hinauf. Er schnitt zwei lange Stücke von der Zündschnur ab und schälte mit Hilfe des Messers die weiße Plastikisolierung herunter, um die Kupferdrähte freizulegen. Dann steckte er die nackten Drähte jeweils in eine der Sprengstoffkerzen. Wieder im Umkleidezimmer, stellte er sich unter die Falltür, entfernte die Isolierung von den anderen Enden der Zündschnüre und klemmte vorsichtig zwei weitere Sprengstäbe daran fest. Er umwickelte sie fest mit Isolierband, damit die glatten Drähte sich nicht lösten.

Er summte jetzt vor sich hin, während er die Zündschnur vom Dachboden ins Schlafzimmer verlegte, wo er zwei Sprengstoffkerzen auf den Ehebetten deponierte. Von dort zog er die Zündschnur auf den Flur und installierte einen Sprengstoffstab im Gästebad. Das Gästeschlafzimmer bekam zwei. Als er damit fertig war, schaltete er die Lichter wieder aus. In Charlies Zimmer ließ er gleich vier Sprengstoffkerzen, die er zusammengebunden hatte. Er verlegte die Zündschnür sorgfältig durch die Tür und über den Boden und warf dann die ganze Rolle über das Treppengeländer nach unten. Dann lief er selbst die Treppe hinunter.

Vier Stäbe kamen auf die Küchentheke gleich neben seine Southern-Comfort-Flasche. Vier Stäbe fürs Wohnzimmer, vier fürs Eßzimmer und vier für den Flur.

Ein bißchen außer Atem ging er jetzt mit der Zündschnur ins Wohnzimmer. Aber er mußte noch einmal nach oben, um die Kiste zu holen, die jetzt allerdings beträchtlich leichter war. Es waren nur noch elf Stäbe übrig. In der Kiste waren früher mal Apfelsinen transportiert worden. Er sah es an der verblichenen Schrift auf der Seite: POMONA

Neben dem Wort war eine Apfelsine mit einem grünen Blatt am Stengel aufgemalt.

Er trug die Kiste zur Garage hinaus, diesmal den überdachten Durchgang benutzend, und stellte sie auf dem Rücksitz seines Wagens ab. Dort verband er jeden der elf Stäbe mit einem kurzen Stück Zündschnur und wickelte dann alle elf Enden mit dem Isolierband an dem langen Zündkabel fest. Vorsichtig verlegte er das lange Kabel ins Haus zurück, wobei er es sorgfältig unter der Seitentür, die zum Durchgang führte, durchzog. Danach schloß er die Tür wieder ab.

Im Wohnzimmer schloß er das Hauskabel mit dem Garagenkabel zusammen. Er arbeitete jetzt sehr konzentriert, immer noch vor sich hin summend. Mit dem Messer schnitt er nochmals ein Stück Zündschnur von der Rolle und klebte sie mit seinem Isolierband an den beiden Kabelenden fest.

Das andere Ende führte er zur Autobatterie hinüber, wo er ebenfalls die Isolierung herunter schälte.

Er pulte die Kupferdrähte auseinander und flocht die losen Enden zu zwei kleinen Zöpfen zusammen. Dann holte er das Starthilfekabel und brachte die schwarze Krokodilklemme an einem der beiden Zöpfe an. Der andere erhielt die rote Klemme. Mit den beiden anderen Klemmen ging er zur Batterie und schloß die schwarze an dem Pol, der mit POS markiert war, an. Die rote Klemme ließ er lose neben dem Pol NEG liegen. Dann stellte er seine Stereoanlage an und legte die Platte mit den Rolling Stones auf. Es war fünf Minuten nach vier. Er ging in die Küche, machte sich einen Drink und nahm ihn mit ins Wohnzimmer. Jetzt hatte er nichts mehr zu tun.

Auf dem Kaffeetisch fand er eine Ausgabe der Zeitschrift Good Housekeeping. Sie enthielt einen Artikel über die Kennedy-Familie und ihre Probleme. Er las ihn. Danach folgte ein Artikel über Frauen und Brustkrebs, der von einer Ärztin geschrieben war.

Sie kamen kurz nach zehn Uhr. Die Glocken der fünf Häuserblocks entfernten Kongregationskirche hatten soeben die volle Stunde geschlagen, um ihre Gemeinde zur Morgen-messe zu rufen, oder wie das bei den Kongregationisten heißen mochte.

Er sah einen grünen Sedan und einen schwarzweißen Polizeiwagen. Sie parkten am Straßenrand, und aus dem Sedan stiegen drei Männer aus. Einer war Fenner. Die beiden anderen kannte er nicht. Alle drei hatten Aktenkoffer bei sich.

Aus dem schwarzweißen Polizeiwagen stiegen zwei Polizisten und lehnten sich lässig dagegen. An ihrer Haltung war abzulesen, daß sie keine Schwierigkeiten erwarteten. Sie unterhielten sich sorglos, an die Motorhaube ihres Wagens gelehnt, und ihre Worte kamen mit weißen Puffwölkchen aus ihren Mündern.

Dann blieb alles stehen.

20. Januar 1974, Stillstand

also fred ich glaube jetzt ist’s soweit jetzt wird geschossen oder das maul gehalten ja ich weiß in gewisser weise ist es schon zu spät das maul zu halten schließlich habe ich das ganze haus mit Sprengstoff verziert wie mit einer geburtstagsdekoration habe ein gewehr in meiner hand und eine pistole im gürtel stecken ich komme mir vor wie john dillinger verdammt noch mal was sagst du denn dazu das ist meine letzte entscheidung als ob ich immer höher auf einen bäum klettere erst diese astgabel besteige dann die nächste und noch eine und noch eine (die männer draußen wie auf einer fotografie erstarrt ein paar Sekunden stillstand fenner in einem grünen anzug circa fünfzig Zentimeter vom bordstein entfernt gute schuhe in modische niedrige gamaschen eingehüllt wenn es so etwas wie modische gamaschen überhaupt gibt sein grüner mantel aufgeknöpft er sieht aus wie ein rechtsanwalt auf kreuzzug in einer fernsehserie sein köpf ist leicht nach hinten gedreht und zu dem mann hinuntergeneigt der hinter ihm steht der mann hat offenbar was gesagt und er hat den köpf geneigt um ihn besser zu verstehen der mann hat eine weiße wölke vor dem mund er trägt einen blauen blazer und eine dunkelbraune hose und sein mantel flattert ebenfalls offen im wind ein mantelschoß ist genau mitten im flattern festgehalten der dritte mann wendet sich gerade vom wagen weg und die bullen lehnen gegen die schwarzweiße motorhaube die köpfe einander zugewandt und unterhalten sich über alles mögliche ihre ehen oder einen zähen kriminalfall oder die miese saison die die mustangs dieses jähr hatten oder die Verfassung ihrer geschlechtsteile und da bricht genau über ihren köpfen die sonne durch die grauen wölken und ein strahl trifft auf eine einzige patrone in dem gürtel der zur ausrüstung des einen polizisten gehört eine kleine patrone die in einer der vielen kleinen lederlaschen in diesem gürtel steckt und der andere bulle trägt eine Sonnenbrille und die sonne spiegelt sich genau im rechten brillenglas er hat dicke sinnliehe lippen die genau in dem moment festgehalten sind als sie zu lächern beginnen: soweit die fotografie) ich fange jetzt an freddy mein junge gibt es noch etwas das du mir zu diesem feierlichen anlaß gerne sagen würdest an diesem punkt an dem die dinge so weit fortgeschritten sind ja sagt fred du wirst so lange durchhalten bis die nachrichtenreporter eingetroffen sind nicht wahr darauf kannst du gift nehmen sagt george ich weiß daß die worte und die aufnahmen und die filme nur zur veranschaulichung dienen aber ist dir schon aufgefallen fred wie einsam es hier ist in der Stadt und in der ganzen weit essen und scheißen die leute jetzt sie ficken sich und kratzen sich ihre ekzeme auf und tun all die dinge über die dann bücher geschrieben werden während wir das hier ganz allein erledigen müssen ja daran habe ich schon gedacht george und wenn du dich erinnerst habe ich auch schon versucht dich davor zu warnen aber wenn es dich tröstet kommt mir die sache jetzt genau richtig vor im augenblick scheint dies das wahre zu sein denn wenn du dich nicht mehr bewegen kannst kannst du ihnen ihre baustelle ruhig lassen aber bitte george bring niemanden um nein nein nicht mit absieht fred aber du verstehst wenigstens die läge in der ich mich befinde ja ich begreife und ich verstehe es aber george ich habe verdammt schiß ich habe solche angst hab keine angst fred ich werde die sache jetzt in die hand nehmen und ich habe mich völlig unter kontrolle es geht los

20. Januar 1974

»Es geht los«, sagte er laut, und die Dinge gerieten wieder in Bewegung.

Er stemmte das Gewehr gegen die Schulter, zielte auf den rechten Vorderreifen des Polizeiwagens und drückte ab.

Der Kolben schmetterte mit voller Wucht gegen seine Schulter und die Mündung sprang nach oben, nachdem die Kugel abgefeuert war. Das große Wohnzimmerfenster zersplitterte. Im Rahmen blieben nur einzelne Zacken wie impressionistische Glaspfeile hängen. Der Vorderreifen wurde nicht einfach flach; er explodierte mit einem lauten Knall.

Der ganze Wagen zitterte wie ein Hund, den man im Schlaf getreten hat. Die Radkappe flog durch die Luft und kollerte dann ziellos über den gefrorenen Asphalt der Crestallen Street.

Fenner blieb wie angewurzelt stehen und starrte zum Haus hinüber. Auf seinem Gesicht spiegelte sich das blanke Entsetzen wider. Der Mann im blauen Blazer ließ seine Aktentasche fallen. Der dritte Typ schien bessere Reflexe zu haben - vielleicht war sein Selbsterhaltungstrieb besser entwickelt. Er machte auf dem Absatz kehrt, rannte geduckt hinter den grünen Sedan und verschwand aus dem Blickfeld.

Die beiden Bullen rannten links und rechts um ihren Wagen herum. Wenige Augenblicke später tauchte der mit der Sonnenbrille hinter der Motorhaube auf, den Revolver in beiden Händen, und schoß dreimal in seine Richtung. Im Vergleich zu dem massiven Knall der Weatherbee gab die Waffe nur ein harmloses Geknatter von sich. Er ließ sich hinter seinen Sessel fallen und hörte die Kugeln über seinen Kopf hinwegpfeifen - man konnte sie tatsächlich hören, wie sie mit einem Ssssssitt durch die Luft zischten. Sie schlugen über dem Sofa in die Wand ein. Das Geräusch erinnerte ihn an Faustschläge, die auf den schweren Ledersack im Boxerstudio treffen. Und er dachte: Genauso hört es sich wahrscheinlich an, wenn sie mich treffen.

Der Bulle mit der Sonnenbrille schrie Fenner und den anderen Typen an: »Geht in Deckung, verdammt noch mal!

Geht in Deckung! Der Kerl hat eine gottverdammte Haubitze da drinnen!«

Er hob seinen Kopf ein wenig über den Sessel, um besser sehen zu können, aber der Bulle hatte ihn gleich entdeckt und feuerte zweimal auf ihn los. Die Kugeln donnerten in die Wand. Eine traf Marys Lieblingsbild, ›Hummerfischer‹ von Winslow Homer. Es fiel von der Wand, landete auf der Couch und rutschte auf den Fußboden. Das Glas zersplitterte.

Er hob wieder den Kopf; er mußte ja sehen, was da draußen vor sich ging (warum hatte er nicht daran gedacht, sich ein Kinderperiskop zu besorgen?). Er mußte feststellen, ob - sie versuchten, um das Haus herumzuschleichen. Auf die Art nahmen Richard Widmark und Martin Milner - jedenfalls in den Spätfilmen - die kleinen japanischen Schachtelhäuser ein. Und wenn sie es versuchten, dann mußte er einen der Bullen anschießen. Aber die beiden befanden sich immer noch hinter ihrem Straßenkreuzer. Fenner und der andere Typ waren jetzt hinter den grünen Sedan gekrochen. Der Aktenkoffer des Mannes im blauen Blazer lag wie ein kleines totes Tier auf dem Bürgersteig. Er visierte ihn an, zuckte in Erwartung des Rückstoßes schon vorher zusammen und schoß.

KRRRACHH! Der Aktenkoffer zersprang in zwei Teile, wirbelte hoch in die Luft und entließ einen Stoß Papiere in den Wind, der sie mit einem unsichtbaren Finger durchblätterte.

Er schoß gleich noch mal, diesmal auf den rechten Vorderreifen des Sedan, der sofort explodierte. Hinter dem Wagen schrie einer der Männer in hohen, entsetzten Tönen auf.

Er blickte zum Polizeiwagen hinüber und entdeckte, daß die Fahrertür halb offenstand. Der Bulle mit der Sonnenbrille lehnte sich halb liegend auf den Vordersitz und bediente seine Funksprechanlage. Bald würden alle Partygäste hier eintreffen. Sie würden ihn auseinandernehmen, ein kleines Stückchen für jeden, der eins wollte, und die ganze Angelegenheit war dann nicht mehr seine persönliche Sache. Er empfand eine bittere Erleichterung. Egal, aus welchen Gründen er es getan hatte, welche krankhafte Trauer ihn hierher, auf den höchsten Ast.dieses hohen Baumes getrieben hatte, jetzt war er nicht mehr allein. Jetzt war er nicht mehr der einsame Mann, der mit sich selbst sprach und insgeheim weinte. Er hatte sich selbst entlarvt und sich dem großen Strom der Wahnsinnigen angeschlossen. Bald konnten sie ihn und seine Handlungen auf eine ungefährliche Schlagzeile reduzieren - UNSICHERER WAFFENSTILLSTAND IN DER CRESTALLEN STREET HÄLT AN.

Er legte das Gewehr hin und kroch auf Händen und Füßen über den Wohnzimmerboden, wobei er darauf achtete, sich nicht an den Glassplittern des Bilderrahmens zu verletzen. Er holte sich ein kleines Kissen von der Couch und kroch zum Fenster zurück. Der Bulle war nicht mehr im Wagen.

Er hob die Magnum auf und feuerte zwei Schüsse über die Straße. Die Pistole bockte heftig in seinen Händen, aber der Rückstoß war erträglich. Seine Schulter pochte wie ein kranker Zahn.

Einer der beiden Bullen, diesmal der ohne Sonnenbrille, tauchte hinter dem Kofferraum des Straßenkreuzers auf, um sein Feuer zu erwidern, aber er zielte zweimal auf die Rück-scheibe, die zu einem verzerrten Spinnennetz von Splissen zersplitterte und dann nach innen fiel. Der Bulle duckte sich wieder, ohne einen Schuß abgefeuert zu haben.

»Hört auf damit!« brüllte Fenner. »Laßt mich mit ihm reden!«

»Nur zu!« rief einer der Bullen.

»Dawes!« schrie Fenner kreischend. Er hörte sich an wie ein Polizist in den letzten Szenen eines James-Cagney-Filmes.

(Das Blaulicht flackert unruhig über die Vorderfront eines schäbigen Mietshauses im Slumviertel, in dem der ›verrückte Hund‹ Dawes mit einer rauchenden .45-Automatik in jeder Hand zu Boden gegangen ist. Der ›verrückte Hund‹ liegt hinter einem umgekippten Sessel, sein T-Shirt ist zerrissen, und er knurrt.) »Dawes, können Sie mich hören?«

(Der ›verrückte Hund‹ Dawes verzieht trotzig das Gesicht - obwohl seine Augenbrauen naß vor Schweiß sind - und brüllt hinaus:)

»Kommt doch rein und holt mich, ihr dreckigen Bullen!« Ei lehnte sich über den Sessel und feuerte eine ganze Salve aul den grünen Sedan ab. Die gesamte Wagenlänge überzog sich mit einer Zickzacklinie von Einschußlöchern.

»Jesus!« schrie jemand. »Oh, Jesus, der Kerl ist wahnsinnig!«

»Dawes!« brüllte Fenner.

»Ihr werdet mich niemals lebend kriegen!« brüllte er närrisch vor Freude zurück. »Ihr dreckigen Scheißkerle habt meinen kleinen Bruder umgebracht! Bevor ihr mich kriegt, sehen wir uns in der Hölle!« Mit zitternden Fingern lud er die Magnum neu und füllte das Magazin der Weatherbee wieder auf.

»Dawes!« schrie Fenner wieder. »Wie war’s mit einem Handel?«

»Und wie war’s mit einer heißen Bleiladung, du Idiot!« rief er in Fenners Richtung zurück, aber er behielt den Polizeiwagen im Auge. Als der Bulle mit der Sonnenbrille vorsichtig seinen Kopf über die Motorhaube streckte, schickte er ihn mit zwei Schüssen sofort wieder auf Tauchstation. Eine Kugel zerschlug das Wohnzimmerfenster der Quinns, die in dem Haus auf der anderen Straßenseite gewohnt hatten.

»Dawes!« brüllte Fenner wichtigtuerisch.

»Ach, halten Sie doch das Maul!« schnauzte einer der Bullen ihn an. »Sie ermutigen ihn ja nur!«

Eine verlegene Stille entstand, in der noch weit entfernte Polizeisirenen zu hören waren. Er legte die Magnum weg und nahm wieder das Gewehr zur Hand. Die rasende Freude hatte ihn verlassen. Er fühlte sich nur noch müde, sein Körper schmerzte, und er,mußte dringend aufs Klo.

Bitte, laß die Übertragungswagen schnell kommen, betete er. Laß sie bald mit ihren Fernsehkameras dasein.

Als der erste Polizeiwagen mit kreischenden Reifen um die Ecke raste, als probe er eine Aufnahme für The French Connection, war er bereit. Zuerst feuerte er zwei seiner Haubitzenkugeln auf den parkenden Kreuzer ab, damit die beiden unten blieben, dann nahm er den Kühlergrill des fahrenden Wagens aufs Korn und drückte wie der erfahrene Kriegsveteran Richard Widmark ab. Der Kühlergrill explodierte, und die Motorhaube flog durch die Luft. Der Wagen schlidderte circa vierzig Meter am Randstein entlang und knallte gegen einen Baum. Die Türen flogen auf, und vier Bullen stiegen mit gezogenen Pistolen und völlig verblüfften Mienen aus. In der Aufregung stießen zwei von ihnen zusammen. Dann eröffneten die beiden Bullen hinter dem Kreuzer (seine Bullen, dachte er mit einer Art von Besitzerstolz) das Feuer auf ihn, und er duckte sich hinter seinen Sessel, während die Kugeln über ihn hinwegsausten. Jetzt war es siebzehn Minuten vor elf. Er glaubte, daß sie bald versuchen würden, hinters Haus zu gelangen.

Er reckte den Kopf hoch, weil es einfach sein mußte, und eine Kugel zischte dicht an seinem Ohr vorbei. Von der anderen Seite der Crestallen Street rasten zwei weitere Polizeiwagen mit dröhnenden Sirenen und Blaulicht heran. Zwei der Bullen aus dem Unfallwagen versuchten, über den Staketenzaun um das Grundstück der Upslingers zu klettern, und er feuerte drei Schüsse auf sie ab. Er wollte sie nicht treffen, sie sollten nur zu ihrem Wagen zurückkehren, was sie auch taten. Holzsplitter von Wilbur Upslingers Zaun (der im Sommer mit Efeu überwachsen war) flogen in alle Richtungen.

Ein Teil des Zaunes krachte tatsächlich zusammen und fiel in den Schnee.

Die eben herangekommenen Straßenkreuzer blieben stehen und bildeten ein V, um die Straße auf der Höhe von Jack Hobarts Haus zu blockieren. Die Polizisten verkrochen sich in dem V-Winkel der beiden Wagen. Einer sprach über sein Walkie-Talkie mit einem der Bullen aus dem demolierten Wagen. Kurz darauf gingen die Neuankömmlinge in Deckung und schössen, was das Zeug hielt. Er mußte sich wieder ducken. Kugeln schlugen in die Haustür und die Vorderfront des Hauses ein; sie trafen vor allem das Wohnzimmerfenster.

Der Flurspiegel zerbarst in tausend kleine, glitzernde Stücke.

Eine Kugel sauste durch die Decke über dem zertrümmerten Fernseher, und die Decke tanzte einen Augenblick in der Luft.

Er kroch wieder auf Händen und Knien durchs Wohnzimmer, richtete sich vor dem schmalen Fenster hinter dem Fernseher auf und spähte hinaus. Von dort konnte er genau in den Vorgarten der Upslingers sehen. Zwei Polizisten versuchten erneut, ihn von der Seite zu überfallen. Einer blutete aus der Nase.

Freddy, ich glaub’, ich muß einen von ihnen erschießen, damit sie das bleiben lassen.

Tu das nicht, George, bitte, tu das nicht.

Er stieß mit dem Kolben der Magnum das Fenster ein und verletzte sich dabei an der Hand. Die beiden Bullen blickten bei dem Geräusch auf, entdeckten ihn und schössen. Er erwiderte das Feuer und sah, wie zwei Kugeln in die neue Aluminiumbeschichtung an Wilburs Hauswand einschlugen. (Ob die Stadt ihn wohl auch dafür entschädigt hatte?) Dann hörte er, wie die Kugeln in seine Hauswand einschlugen, hauptsächlich unterhalb und zu beiden Seiten des Fensters. Eine Kugel erfaßte pfeifend den Fensterrahmen, und Holzsplitter flogen ihm ins Gesicht. Er rechnete jeden Augenblick damit, daß eine Kugel ihm den Kopf rasieren würde. Er konnte nicht abschätzen, wie lange der Schußwechsel dauerte. Plötzlich schrie einer der Polizisten laut auf und griff sich an den Arm.

Er ließ die Pistole fallen wie ein Kind, dem das Spiel zu langweilig geworden ist, und rannte ein paar Schritte im Kreis.

Sein Kollege faßte ihn am Arm, und die beiden rannten zu ihrem kaputten Straßenkreuzer zurück. Der Unverletzte legte seinem Partner schützend den Arm um die Hüfte.

Er ließ sich wieder auf Hände und Knie fallen und kroch zu seinem Sessel zurück. Auf der Straße waren zwei weitere Polizeiwagen aus beiden Richtungen der Crestallen Street angekommen. Sie parkten vor dem Quinn-Haus, und acht Bullen stiegen aus, die sofort hinter den grünen Sedan und dem ersten Kreuzer in Deckung rannten.

Er duckte wieder den Kopf und kroch in den Flur. Das Haus stand jetzt unter schwerem Beschüß. Er wußte, daß er besser dran wäre, wenn er mit dem Gewehr nach oben ginge.

Von dort hatte er einen viel besseren Schußwinkel und konnte sie vielleicht von ihren Wagen vertreiben, so daß sie in den Häusern Deckung suchen mußten. Aber er wagte es nicht, so weit von seinem Zündkabel und der Autobatterie wegzugehen. Die Fernsehleute konnten jetzt jeden Augenblick eintreffen.

Die Haustür steckte voller Gewehrkugeln. Der Lack war abgesplittert, und darunter kam das rohe Holz zum Vorschein. Er kroch weiter in die Küche. Hier waren alle Fensterscheiben eingeschlagen, und die Glassplitter lagen über den Linoleumfußboden verstreut. Ein Zufallstreffer hatte die Kaffeekanne vom Herd gefegt. Sie lag in einer braunen Kaffeepfütze. Er duckte sich unter das Fenster, wartete einen Augenblick, sprang dann auf und nahm die beiden im V aufgestellten Polizeiwagen unter Beschüß, bis die Magnum leergefeuert war. Der Gegenangriff konzentrierte sich sofort auf die Küche. Zwei Einschußlöcher zerstörten den weißen Emaille-belag seines Kühlschranks, und eine Kugel traf genau auf die Southern-Comfort-Flasche auf der Küchentheke. Sie explodierte und verbreitete Glassplitter und das einladende südliche Aroma um sich.

Als er ins Wohnzimmer zurückkroch, hatte er plötzlich das Gefühl, als hätte eine Wespe ihn in den rechten Oberschenkel direkt unterhalb der Pobacke gestochen. Er faßte mit einer Hand nach der Stelle, und als er sie zurückzog, war sie voll Blut.

Hinter dem Sessel lud er die Magnum und die Weatherbee.

Vorsichtig lugte er über den Sessel und zog sofort den Kopf wieder ein. Die Wildheit, mit der das Gewehrfeuer jetzt auf ihn einprasselte, erschreckte ihn. Kugeln schlugen in die Wand, in die Couch und in den Fernseher, so daß die Decke wie verrückt hin und her tanzte. Wieder hob er vorsichtig den Kopf und schoß auf die Polizeiwagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Bei einem zersplitterte die Fensterscheibe. Und dann sah er … am oberen Straßenende einen weißen Kombiwagen und einen weißen Ford Lastwagen. Auf beiden war in blauer Schrift aufgemalt:


WHLM NACHRICHTEN

KANAL 9


Keuchend kroch er zu dem Fenster hinüber, das auf den Vorgarten der Upslingers hinausging. Die beiden Fernsehwagen fuhren langsam und zögernd die Crestallen Street hinunter.

Plötzlich schnitt ihnen ein neuer Polizeiwagen mit quietschenden Reifen den Weg ab und stellte sich genau vor sie.

Ein Arm in blauer Uniform schob sich aus einem der hinteren Seitenfenster und winkte den Leuten zu, daß sie wegfahren sollten.

Eine Gewehrkugel prallte am Fenstersims ab und pfiff durchs Wohnzimmer.

Er kroch schnell zu seinem Sessel zurück, nahm die Magnum in seine blutige rechte Hand und schrie: »Fenner!«

Die Schüsse ließen ein wenig nach.

»Fenner!« brüllte er nochmals.

»Hört auf!« kreischte Fenner. »Hört mal eine Minute lang auf zu schießen!«

Noch ein paar vereinzelte Schüsse, dann war es ruhig.

»Was wollen Sie?« brüllte Fenner.

»Die Nachrichtenreporter! Die da hinten auf der anderen Straßenseite hinter dem Polizeiwagen! Ich will mit ihnen reden!«

Eine lange Pause.

Dann schrie Fenner zurück: »Nein!«

»Ich höre auf zu schießen, wenn ich mit ihnen reden kann!« Das stimmt wahrscheinlich, dachte er und blickte zweifelnd auf die Autobatterie.

»Nein!« wiederholte Fenner.

Scheißkerl, dachte er hilflos. Ist das wirklich so wichtig für dich? Für dich und Ordner und für die gesamte bürokratische Saubande?

Die Schüsse setzten wieder ein, zuerst vereinzelt, dann immer stärker. Und dann sah er etwas Unglaubliches. Ein Mann in Bluejeans und einem Flanellhemd lief geduckt den Bürgersteig entlang. Er hielt eine kleine Kamera wie eine Pistole vor sich.

»Das ist allerhand!« rief er Fenner zu. »Ich habe jedes Wort mitbekommen! Ich werd’ mir Ihren Namen notieren, Mann!

Er hat angeboten, mit der Schießerei aufzuhören, und Sie haben …«

Ein Bulle schlug ihm mit voller Wucht gegen die Hüfte, und der Mann krümmte sich und ging zu Boden. Seine Kamera flog auf die Straße, und innerhalb von wenigen Sekunden hatten drei Kugeln sie in tausend kleine Stücke zerfetzt.

Die Filmrolle löste sich aus den Überresten und wickelte sich faul von selbst ab. Dann hörte das Feuer wieder für einen Augenblick auf. Unsicherheit verbreitete sich.

»Fenner, lassen Sie sie ihre Ausrüstung aufbauen!« brüllte er zum Fenster hinaus. Sein Hals war rauh und schmerzte, wie sein gesamter Körper. Seine verletzte Hand pochte und von seinem Oberschenkel breitete sich ein tiefer, dumpfer Schmerz aus.

»Zuerst kommen Sie raus!« rief Fenner zurück. »Dann können Sie ihnen Ihren Standpunkt erzählen!«

Bei dieser unverschämten Lüge erfaßte ihn eine ungeheure Wut, die ihn wie eine rote Woge überspülten »VERDAMMT NOCH MAL, ICH HAB’ EIN RIESIGES GEWEHR HIER DRINNEN UND AB JETZT WERDE ICH AUF EURE BEN-ZINTANKS SCHIESSEN, IHR SCHEISSKERLE! WENN ICH MIT EUCH FERTIG BIN, SEID IHR ALLE DURCHGEGRILLT!«

Erschrockene Stille.

Dann fragte Fenner ganz vorsichtig: »Was wollen Sie?«

»Schickt mir den Kerl herein, rien ihr gerade zusammengeschlagen habt! Laßt sie ihre Kameras aufstellen!«

»Kommt gar nicht in Frage! Wir werden Ihnen keine Geisel zuschanzen, mit der Sie den ganzen Tag spielen können!«

Ein Bulle rannte geduckt zu dem grünen Sedan hinüber und verschwand dahinter. Eine Unterredung fand statt.

Dann brüllte eine neue Stimme: »Hinter Ihrem Haus befinden sich dreißig von meinen Männern! Es sind Scharfschützen! Kommen Sie raus, oder ich schicke sie hinein!« Jetzt war es wohl an der Zeit, seinen einzigen, miesen Trumpf auszuspielen. »Das lassen Sie lieber bleiben! Ich hab’ im ganzen Haus Sprengstoff verlegt!«

Er hielt die rote Krokodilklemme vors Fenster.

»Können Sie das sehen?«

»Sie bluffen!« brüllte der Bulle zuversichtlich.

»Wenn ich dieses Ding an die Autobatterie anschließe, die hier neben mir steht, dann fliegt alles in die Luft!«

Schweigen. Wieder eine Beratung.

»He!« schrie plötzlich jemand. »He, schickt uns den Kerl her.« Er lugte vorsichtig über den Sessel und sah tatsächlich den Mann in der Jeans und dem Flanellhemd. Er lief direkt über die Straße, völlig schutzlos. Entweder war er in heroischer Weise von seinem Beruf überzeugt oder einfach nur verrückt. Er hatte langes, schwarzes Haar, das ihm auf den Kragen fiel, und einen dünnen, dunklen Schnurrbart.

Zwei Bullen erhoben sich und wollten um die beiden im V aufgestellten Straßenkreuzer herumschleichen, unterließen es dann aber, als er ihnen eine Kugel über die Köpfe jagte.

»Verdammt noch mal, was für ein Hurensohn!« schrie der eine von ihnen angewidert.

Der Mann im Flanellhemd befand sich jetzt in seinem Vorgarten; seine Schuhe wirbelten kleine Schneewolken auf. Etwas zischte an seinem Ohr vorbei. Dann hörte er einen Knall und bemerkte, daß sein Kopf sich immer noch außerhalb der Deckung befand. Er hörte, wie der Mann an seiner Haustür rüttelte und, als sie nicht aufging, dagegenhämmerte.

Wieder kroch er über den Fußboden, der jetzt mit Dreck und dem Putz von den Wänden übersät war. Sein rechtes Bein tat teuflisch weh, und als er an sich herunterblickte, sah er, daß das rechte Hosenbein vom Schenkel bis zum Knie durchgeblutet war. Er drehte den Schlüssel in der zerborstenen Tür um und schob den Riegel zur Seite.

»In Ordnung«, sagte er, und der Mann im Flanellhemd stürzte ins Haus.

Auch aus der Nähe wirkte er nicht ängstlich, obwohl er heftig keuchte. Er hatte eine kleine Wunde auf der Wange, wohl vom Schlag des Polizisten, und sein linker Hemdsärmel war zerrissen. Nachdem er den Mann hereingelassen hatte, kroch er schnell zu seinem Sessel zurück, nahm das Gewehr und feuerte blind zwei Schüsse durch das Fenster. Dann drehte er sich um. Der Mann stand in der Wohnzimmertür.

Er wirkte unglaublich ruhig. Er hatte einen Notizblock aus seiner hinteren Hosentasche gezogen.

»Also gut, Mann«, sagte er. »Was für eine Scheiße geht hier eigentlich vor sich?«

»Wie heißen Sie?«

»Dave Albert.«

»Haben Sie noch mehr Filmmaterial in dem weißen Laster?«

»Ja.«

»Gehen Sie ans Fenster. Sagen Sie der Polizei, daß das Kamerateam sich auf dem Rasen der Quinns aufstellen soll. Das ist das Haus auf der anderen Straßenseite. Sagen Sie ihnen auch, daß Sie hier in Schwierigkeiten geraten, wenn die Sache nicht in fünf Minuten erledigt ist.«

»Tue ich das?«

»Sicher.«

Albert lachte. »Sie sehen nicht so aus, als kämen Sie gegen die Zeit an.«

»Reden Sie mit ihnen.«

Albert stellte sich ans zersplitterte Wohnzimmerfenster, das ihn für einen Augenblick einrahmte. Er schien die Situation zu genießen.

»Er sagt, mein Kamerateam soll sich auf Ihrer Straßenseite aufstellen!« brüllte er hinaus. »Wenn Sie es nicht erlauben, will er mich umbringen!«

»Nein!« brüllte Fenner wütend zurück. »Nein, nein und noch …«

Jemand hielt ihm offenbar den Mund zu. Einen Augenblick herrschte Schweigen.

»In Ordnung!« Das war wieder die Stimme von dem Bullen, der seinen Sprengstoff zuerst für einen Bluff gehalten hatte.

»Erlauben Sie, daß zwei meiner Männer hinübergehen und sie herholen?«

Er überlegte einen Augenblick und nickte dem Reporter zu.

»Ja«, rief Albert über die Straße.

Eine kurze Pause, und dann rannten zwei Uniformierte unsicher die Straße entlang und auf die Fernsehwagen zu, die noch mit laufendem Motor wartend dastanden. Unterdessen waren zwei weitere Polizeiwagen eingetroffen, und als er sich ganz weit nach rechts beugte, konnte er sehen, daß die Crestallen Street am Fuß des Hügels abgesperrt worden war. Hinter den gelben Barrikaden hatte sich eine Menschenmenge versammelt.

»Na gut«, sagte Albert und setzte sich in die Hocke. »Jetzt haben wir eine Minute Zeit. Was verlangen Sie? Ein Flugzeug?«

»Flugzeug?« wiederholte er verständnislos.

Mit dem Notizblock in der Hand schlug Albert mit den Armen, als wären sie Flügel. »Um wegzufliegen, Mann. Weit, weit weg.«

»Oh.« Er nickte, um zu zeigen, daß er verstanden hätte.

»Nein, ich will kein Flugzeug.«

»Was wollen Sie dann?«

»Ich möchte wieder zwanzig sein«, antwortete er vorsichtig. »Ich möchte alle meine Entscheidungen noch mal fällen dürfen.« Er interpretierte Alberts Blick richtig und fügte deshalb schnell hinzu: »Ja, ich weiß, daß das nicht geht. So verrückt bin ich nun auch wieder nicht.«

»Sie sind angeschossen.«

»Ja.«

»Ist das da das Ding, von dem Sie gesprochen haben?« Albert deutete auf die Batterie und die Zündschnur.

»Ja. Ich hab’ die Kabel im ganzen Haus verlegt. Und in der Garage.«

»Woher haben Sie den Sprengstoff?« Alberts Stimme klang freundlich, aber sein Blick war äußerst wachsam.

»Den hab’ ich unterm Weihnachtsbaum gefunden.«

Albert lachte. »He, das ist nicht schlecht. Ich werde es in meiner Story bringen.«

»Schön. Wenn Sie wieder rausgehen, sagen Sie den Bullen, daß sie sich lieber verziehen sollen.«

»Wollen Sie sich wirklich in die Luft sprengen?« fragte Albert. Er war nur interessiert, sonst zeigte er keine Regung.

»Ich denke darüber nach.«

»Wissen Sie was, Mann? Sie haben zu viele Filme gesehen.«

»Ich bin in letzter Zeit nicht mehr oft im Kino gewesen.

Doch, ich habe den Exorzisten gesehen. Aber ich wünschte, ich wäre nicht hineingegangen. Wie weit sind Ihre Fernsehleute da draußen?«

Albert spähte aus dem Fenster. »Ziemlich weit. Aber wir haben noch eine Minute. Sie heißen Dawes?«

»Haben die Ihnen das gesagt?«

Albert kicherte verächtlich. »Die würden mir nicht mal sagen, wenn ich Krebs hätte. Ich hab’s auf der Türklingel gelesen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu sagen, warum Sie das alles tun?«

»Durchaus nicht. Es geht um die Baustelle.«

»Die Autobahnbaustelle?« Alberts Augen fingen an zu leuchten. Eifrig kritzelte er etwas auf seinen Block.

»Ja, genau die.«

»Sie haben Ihr Haus einkassiert?«

»Sie haben’s versucht. Aber das werde ich jetzt selbst erledigen. «

Albert schrieb sich alles auf, klappte dann den Block wieder zu und steckte ihn in die Hosentasche zurück. »Das ist ziemlich dämlich, Mr. Dawes. Ist es schlimm, wenn ich Ihnen das so offen sage? Warum kommen Sie nicht einfach mit mir hinaus?«

»Sie haben doch schon Ihre Exklusivstory«, antwortete er müde. »Was wollen Sie noch? Den Pulitzerpreis?«

»Den würd’ ich sofort nehmen, wenn man ihn mir anböte.« Er lächelte fröhlich, doch dann wurde er ernst. »Kommen Sie mit mir nach draußen, Mr. Dawes. Ich werde dafür sorgen, daß man sich auch Ihren Standpunkt anhört. Ich werde …«

»Es gibt keinen Standpunkt.«

Albert runzelte die Stirn. »Wie bitte?«

»Ich habe keinen Standpunkt. Darum mache ich das hier ja.« Er spähte über den Sesselrand und blickte direkt in eine Kameralinse, die im Vorgarten der Quinns auf einem Dreifuß aufmontiert war. »Gehen Sie jetzt. Und sagen Sie ihnen, daß sie weggehen sollen;.«

»Wollen Sie das Ding da tatsächlich zünden?«

»Ich weiß es wirklich noch nicht.«

Albert ging zur Wohnzimmertür und drehte sich dann noch einmal um. »Irgendwie kommen Sie mir bekannt vor.

Warum habe ich bloß immerzu das Gefühl, ich würde Sie kennen?«

Er schüttelte den Kopf. Seiner Meinung nach hatte er Albert noch nie im Leben gesehen.

Während er den Nachrichtenreporter beobachtete, der leicht geduckt über die Straße lief, um das Blickfeld der Kamera nicht zu verstellen, fragte er sich, was Olivia wohl in diesem Augenblick machte.

Er wartete eine Viertelstunde. Die Schüsse waren wieder häufiger geworden, aber niemand hatte sein Haus von hinten überfallen. Der Beschüß sollte wohl nur ihren Rückzug in die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite decken.

Das Kamerateam blieb die ganze Zeit an derselben Stelle stehen und drehte gelassen. Dann fuhr der weiße Ford-Laster in den Vorgarten der Quinns, und der Mann hinter der Kamera faltete den Dreifuß zusammen, verzog sich damit hinter den Laster und fing von dort wieder zu filmen an.

Dann flog ein röhrenförmiges, schwarzes Etwas durch die Luft, landete mitten in seinem Vorgarten und verströmte allmählich ein paar Gaswolken. Der Wind griff sie auf, blies sie die Straße hinunter ud verteilte sie gleichmäßig in der Luft.

Eine zweite Bombe flog zu kurz, und eine weitere landete auf dem Dach. Als sie in Marys Begonien hinabfiel, atmete er ein paar Züge von dem Gas ein. Seine Augen und seine Nase füllten sich mit Krokodilstränen.

Noch einmal kroch er auf Händen und Knien durchs Wohnzimmer und betete zu Gott, daß er dem Nachrichtenmann, Albert, nichts gesagt hatte, das man ihm als tiefsinnig auslegen konnte. Auf dieser Welt gab es keinen Platz, an dem man seinen Standpunkt wirklich vertreten konnte. Nehmen wir zum Beispiel Johnny Walker, der bei einem sinnlosen Autounfall ums Leben gekommen war. Wozu war er gestorben?

Damit die Wäsche rechtzeitig ausgeliefert wurde? Oder diese Frau im Supermarkt. Das, was man am Ende herauskriegte, lohnte nie den Einsatz.

Er schaltete die Stereoanlage ein, überrascht, daß sie noch funktionierte. Die Rolling-Stones-Platte lag immer noch auf dem Plattenteller. Er wollte die Nadel vor dem letzten Lied auflegen, traf aber das erste Mal daneben, als eine Kugel in die Decke über dem Fernseher einschlug.

Als er sie richtig aufgesetzt hatte und die letzten Akkorde von ›Monkey Man‹ im Nichts verklangen, lief er zu seinem umgekippten Sessel zurück und warf die Weatherbee aus dem Fenster. Dann hob er die Magnum auf und warf sie hinterher. Leb wohl, Nick Adams.

»Du kannst nicht alles kriegen, was du dir wünschst«, sangen die Rolling Stones, und er wußte, wie wahr das war.

Aber das hielt einen nicht vom Wünschen ab. Eine Tränengasbombe flog im Bogen durchs Fenster und explodierte.

»Aber wenn du es versuchst, dann findest du vielleicht heraus, daß du das kriegst, was du brauchst.«

Na gut, Fred, jetzt wollen wir mal sehen, wie das geht. Er griff nach der roten Krokodilklemme. Jetzt werden wir sehen, ob ich das kriege, was ich brauche.

»In Ordnung«, murmelte er laut und klemmte die rote Klammer am Negativpol fest.

Er schloß die Augen, und sein letzter Gedanke auf dieser Welt war, daß die Explosion nicht um ihn herum sondern in ihm selber stattfand, und obwohl sie verheerende Auswir-kungen hatte, war sie nicht größer als eine mittelgroße Walnuß.

Dann wurde alles weiß.

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