Erster Teil NOVEMBER

Gestern Nacht Schlug der Regen an mein Fenster Ich ging durch das dunkle Zimmer und glaubte im Licht der Straßenlampe Den Geist unseres Jahrhunderts auf der Straße zu sehen Der uns sagte, daß wir alle am Rande des Abgrunds stehen.

AL STEWARD

20. November 1973

Er tat immer wieder Dinge, über die nachzudenken er sich nicht gestattete. So war es sicherer. Es war, als hätte er eine Sicherung im Kopf, die immer dann heraussprang, wenn etwas in seinem Gehirn ihn fragten wollte: Warum tust du das?

Dann wurde es sofort dunkel. He, Georgie, wer hat das Licht ausgeschaltet? Huch, das war ich. Wahrscheinlich ein Kurz-schluß. Eine Sekunde, ich dreh’ schnell die Sicherung wieder rein. Die Lichter gehen wieder an. Aber die Frage ist verschwunden. Alles in bester Ordnung. Machen wir weiter, Freddy - wo sind wir stehengeblieben?

Er ging gerade zur Bushaltestelle, als ihm das Schild in die Augen sprang:


Ammo Harveys Waffengeschäft Ammo

REMINGTON WINCHESTER COLT SMITH & WESSON

Jäger sind herzlich willkommen


Es schneite ein wenig, und der Himmel war grau. Es war der erste Schnee in diesem Jahr, und die Flocken fielen wie weißes Backpulver auf den Asphalt, wo sie sofort schmolzen. Ein kleiner Junge mit einer roten Pudelmütze ging mit weit geöffnetem Mund an ihm vorbei und versuchte, mit der Zunge eine Schneeflocke einzufangen. Sie wird sofort schmelzen, Freddy, dachte er, als er das Kind beobachtete, aber der Kleine bog den Kopf noch weiter in den Nacken und ging, mit dem Gesicht zum grauen Himmel weiter.

Vor dem Waffengeschäft blieb er stehen, zögerte aber einzutreten. Neben der Tür stand ein Zeitungsständer, in dem die Spätausgabe der Tageszeitung steckte. Die Schlagzeile lautete:


UNSICHERER WAFFENSTILLSTAND HÄLT AN


Auf dem Kasten mit den Zeitungen klebte ein schmuddeliges weißes Schildchen:


BITTE BEZAHLEN SIE IHRE ZEITUNG!

DER HÄNDLER MUSS FÜR SEINE VERLUSTE SELBST

AUFKOMMEN!


Drinnen war es warm. Der Laden war ein langer, nicht sehr breiter Raum. Links neben der Tür stand eine Glasvitrine mit Munitionsschachteln. Die .22 Patronen erkannte er sofort wieder, denn er hatte als kleiner Junge in Connecticut ein .22-Kaliber-Gewehr besessen. Drei Jahre lang hatte er um das Gewehr gebettelt, und als er es endlich bekam, hatte er nicht mehr gewußt, was er damit anfangen sollte.

Eine Weile lang hatte er damit auf Konservenbüchsen geschossen und dann auf einen Eichelhäher. Das war kein sauberer Schuß gewesen. Der Häher hatte, umgeben von einem rosaroten Blutfleck, im Schnee gesessen und langsam den Schnabel auf und zu gemacht. Danach hatte er das Gewehr an den Nagel gehängt, wo es weitere drei Jahre geblieben war, bis er es für neun Dollar und einen Karton Comichefte an einen Freund verkauft hatte.

Die andere Munition war ihm weniger vertraut. Dreiunddreißiger, sechsunddreißiger Kaliber und etwas, das wie Haubitzenpatronen aussah. Welche Tiere tötet man denn damit? fragte er sich. Tiger? Dinosaurier? Aber sie faszinierte ihn, wie sie da so in der Vitrine lag, wie Bonbons in den großen Glasbehältern eines Gemischtwarenladens.

Der Verkäufer oder Geschäftsinhaber unterhielt sich gerade mit einem dicken Mann in einer grünen Hose und einem grünen Flanellhemd. Das Hemd hatte zwei Brusttaschen mit dreieckigen Klappen. Sie verhandelten über eine Pistole, die in ihre Einzelteile zerlegt auf der Glasplatte einer weiteren Vitrine lag. Der Dicke hatte mit dem Daumen den Sicherheitshahn zurückgedrückt, und jetzt blinzelten beide mit zusammengekniffenen Augen in den geölten Pistolenlauf. Der Dicke ließ eine Bemerkung fallen, und der Verkäufer oder Geschäftsinhaber lachte.

»Was, Automatikpistolen klemmen immer? Das hast du von deinem Vater, Mac, gib’s zu.«

»Harry, du steckst voller Blödsinn; bis zum Rand voller Blödsinn.«

Du steckst auch voller Blödsinn, Fred, bis zum Rand. Ist dir das klar, Fred?

Fred antwortete, daß ihm das klar sei.

An der rechten Wand stand ein Glasschrank, der die gesamte Länge des Ladens einnahm. Er war voller Pistolen und Gewehre, die fein säuberlich nebeneinander in den Regalen aufgereiht waren. Er kannte die doppelläufigen Flinten, aber alle anderen waren für ihn ein großes Geheimnis. Und doch gab es Menschen - zum Beispiel die beiden da hinten am Ladentisch -, die über diese geheim nisvollen Dinge mit der gleichen Selbstverständlichkeit sprachen, mit der er seine Buchführungskurse am College absolviert hatte.

Er ging weiter in den Raum hinein und betrachtete die Pistolen in der Glasvitrine. Er entdeckte ein paar Luftgewehre, einige .22er, eine -38er mit einem Holzschaft. Einige -45er und eine -44er Magnum, das Ding, mit dem Dirty Harry in dem gleichnamigen Film herumgelaufen war. Er hatte zugehört, wie Ron Stone und Vinnie Mason sich in der Wäscherei einmal über den Film unterhalten hatten. »Die würden einen Bullen doch niemals mit so einem Gewehr in der Stadt rumrennen lassen«, hatte Vinnie gesagt. »Mit so einem Ding kannst du einem Mann über eine Meile Entfernung ein Loch in den Bauch pusten.«

Der Dicke und der Verkäufer oder Geschäftsinhaber - Harry, wie in Dirty Harry - hatten die Pistole wieder zusammengesetzt.

»Ruf mich an, wenn die Menschler da ist«, sagte Mac.

»Mach’ ich … aber dein Vorurteil gegenüber den Automatikpistolen ist einfach blöd«, antwortete Harry. (Harry mußte doch der Geschäftsinhaber sein. Ein Verkäufer hätte einen Kunden niemals blöd genannt.) »Mußt du die Cobra unbedingt schon nächste Woche haben?«

»Das war mir sehr recht«, antwortete Mac.

»Ich kann nichts versprechen.«

»Das kannst du nie … aber du bist eben, verdammt noch mal, der beste Waffenhändler in der Stadt, und das weißt du auch.«

»Klar weiß ich das.«

Mac streichelte noch einmal die Pistole auf dem Ladentisch und wandte sich um, um zu gehen. Dabei rempelte er ihn an - Paß auf, wenn du das tust, Mac, lächle! - und verschwand durch die Ladentür. Unter seinem Arm klemmte eine Zeitung, und er las:


UNSICHERER WAF …


Harry wandte sich nun lächelnd und gleichzeitig kopfschüttelnd an ihn: »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ich hoffe es. Aber ich muß Sie im voraus warnen, ich habe von Gewehren keine Ahnung.«

Harry zuckte die Achseln. »Gibt es ein Gesetz, daß man die haben müßte? Soll es ein Geschenk für jemanden sein? Zu Weihnachten vielleicht?«

»Ja, genau das«, antwortete er, den Gedanken sofort aufgreifend. »Ich habe nämlich einen Cousin - er heißt Nick. Nick Adams. Er wohnt in Michigan, und er hat einen richtigen Gewehrfimmel. Sie kennen das sicher. Er ist ganz verrückt auf die Jagd, aber irgendwie steckt noch mehr dahinter.

Es ist so etwas wie …«

»Ein Hobby?« fragte Harry und lächelte.

»Ja, genau.« Er hatte Fetisch sagen wollen. Er senkte den Blick, und seine Augen fielen auf einen Aufkleber, der an der Registrierkasse befestigt war:


WENN GEWEHRE UNGESETZLICH SIND

WERDEN NUR UNGESETZLICHE GEWEHRE TRAGEN


Er lächelte und sagte zu Harry: »Wissen Sie, das ist wirklich wahr.«

»Ja, sicher«, antwortete Harry. »Und Ihr Cousin …«

»Tja, das ist so eine Sache. Ich würde ihm gern eine Nasenlänge voraus sein. Er weiß, wie gern ich Boot fahre, und jetzt hat er mir doch tatsächlich letztes Jahr zu Weihnachten einen Evinrude-Motor geschenkt. Sechzig PS. Er hat ihn mir per Expreß geschickt. Und was habe ich ihm gegeben? Eine Jägerjacke. Ich bin mir vorgekommen wie ein Arschloch.«

Harry nickte mitfühlend.

»Vor ungefähr sechs Wochen habe ich dann einen Brief von ihm gekriegt. Er klingt so aufgeregt wie ein kleiner Junge, der eine Freikarte für den Zirkus bekommen hat. Sieht so aus, als hätte er sich mit ein paar Kumpels zusammengetan und eine Reise zu diesem Ort in Mexiko gebucht. Muß so eine Art freies Jagdgebiet sein …«

»Sie meinen, ein Reservat mit uneingeschränkter Jagderlaubnis?«

»Ja, so was.« Er schmunzelte. »Man kann dort soviel Wild abknallen, wie man will. Es wird dort gezüchtet, wissen Sie. Rehe, Antilopen, Bisons, Bären, einfach alles.«

»Boca Rio vielleicht?«

»Ich kann mich einfach nicht so recht erinnern. Aber ich glaube, der Name war etwas länger.«

Harrys Augen hatten einen verträumten Glanz angenommen. »Der Mann, der gerade hier war, und noch zwei andere und ich, wir sind 1965 in Boca Rio gewesen. Ich habe ein Zebra geschossen. Verdammt noch mal, ein Zebra! Ich hab’ es ausstopfen lassen und zu Hause in meinem Hobbyraum aufgestellt. Das war die schönste Zeit, die ich je erlebt habe. Ich beneide Ihren Cousin.«

»Also, ich hab’s mit meiner Frau besprochen«, sagte er.

»Sie meint, wir sollten es so machen. Wir hatten ein sehr gutes Jahr in der Wäscherei. Ich arbeite in der Blue-Ribbon-Wäscherei drüben im Westend.«

»Ja, die kenne ich.«

Er hatte das Gefühl, als könnte er den ganzen Tag lang so mit Hany plaudern. Bis zum Jahresende könnte er so weitermachen und Wahrheit und Lügen zu einem wunderschönen, glänzenden Teppich verweben. Sollte die Welt sich weiterdrehen. Scheiß auf die Ölkrise und die hohen Fleischpreise und den unsicheren Waffenstillstand. Laß uns hierbleiben und immer weiter über Cousins reden, die nie existiert haben, nicht wahr, Fred? Nur weiter so, Georgie.

»Wir haben dieses Jahr das Zentralkrankenhaus dazugekriegt und die Nervenheilanstalt und noch drei weitere Motels.«

»Gehört das Quality Motor Court an der Franklin Avenue zu den Firmen, für die Sie arbeiten?«

»Ja.«

»Da hab’ ich ein paarmal übernachtet«, erzählte Harry.

»Die Laken waren immer sehr sauber. Komisch, man macht sich nie Gedanken darüber, wer eigentlich die Wäsche wäscht, wenn man in einem Motel übernachtet.«

»Wir hatten also ein recht gutes Jahr, und da habe ich mir gedacht, daß ich Nick ein Gewehr und eine Pistole schenken könnte. Ich weiß, daß er sich schon immer eine -44er Magnum gewünscht hat, darüber habe ich ihn oft reden hören.«

Harry holte die Magnum heraus und legte sie behutsam auf die Glasvitrine. Er hob sie auf. Sie lag gut in seiner Hand. Es fühlte sich nach Geschäft an.

Er legte sie auf die Glasplatte zurück.

»Also, die Kammer in dieser Pistole …« fing Harry an.

Er lachte und hob abwehrend die Hand. »Sie brauchen sie nicht anzupreisen, ich bin schon überredet. Ein Ignorant läßt sich leicht überzeugen. Wieviel Munition werde ich wohl dafür brauchen?«

Harry zuckte die Achseln. »Zehn Schachteln vielleicht? Er kann sich ja dann selbst mehr besorgen. Der Preis beträgt zweihundertneunundachtzig plus Mehrwertsteuer, aber ich würde sie Ihnen für zweihundertachtzig einschließlich der Munition lassen. Wie war’s?«

»Super«, antwortete er und meinte es ernst. Und als ob die Situation noch mehr erforderte, fügte er hinzu: »Es ist ein sehr schönes Stück.«

»Wenn er wirklich nach Boca Rio fährt, wird er sie gut gebrauchen können.«

»Und nun das Gewehr.«

»Was für eines hat er denn schon?«

Er zuckte mit den Schultern und breitete ratlos die Hände aus: »Tut mir leid, das weiß ich wirklich nicht. Zwei oder drei Flinten und etwas, das er einen automatischen Lader nennt.«

»Remington?« fragte Harry so eilig, daß er einen Schreck bekam. Es war, als wäre er durch hüfttiefes Wasser gewatet und nun plötzlich auf einem glatten Stein ausgerutscht.

»Ich glaube, das war’s, aber ich kann mich auch täuschen.«

»Remington stellt die besten her«, erklärte Harry und nickte bedächtig, was ihn wieder etwas beruhigte. »Wieviel wollen Sie denn ausgeben?«

»Nun, ich will nicht lange drum herumreden. Der Motor hat ihn wahrscheinlich an die vierhundert gekostet. Ich möchte mindestens fünfhundert Dollar ausgeben. Sechshundert wären das höchste.«

»Sie verstehen sich wirklich gut mit Ihrem Cousin, was?«

»Wir sind zusammen aufgewachsen«, berichtete er mit aufrichtiger Miene. »Ich glaube, ich würde für Nick meinen rechten Arm hergeben, wenn er es von mir verlangte.«

»Ich werde Ihnen etwas zeigen«, sagte Harry einladend und suchte einen Schlüssel aus seinem schweren Schlüssel-bund, während er auf einen der Glasschränke zuging. Er öffnete die Tür, kletterte auf einen Stuhl und nahm ein langes, schweres Gewehr von seinem Ständer. Der Schaft war mit eingelegtem Emaille verziert. »Die kommt zwar etwas teurer, als Sie sich vorgenommen haben, aber es ist ein wundervolles Gewehr.« Harry reichte es zu ihm hinunter.

»Was ist das?«

»Das ist eine vierhundertsechziger Weatherbee. Sie braucht stärkere Munition, als ich sie im Augenblick vorrätig habe, aber ich kann Ihnen ohne weiteres welche in Chicago bestellen. Soviel Sie wollen. Es wird höchstens eine Woche dauern. Ein fantastisch austariertes Gewehr. Die Mündungsenergie von dem Baby beträgt über achttausend Pond … das wäre soviel, wie wenn Sie jemanden mit einer Flughafenlimousine umfahren. Wenn Sie einen Bock damit am Kopf treffen, müssen Sie sich den Schwanz als Trophäe aufhängen.«

»Ich weiß nicht so recht«, wandte er ein, obwohl er schon beschlossen hatte, daß er dieses Gewehr wollte. »Ich weiß, daß Nick sehr viel an Trophäen liegt. Das gehört sozusagen dazu.«

»Natürlich«, antwortete Harry und nahm ihm die Weatherbee.aus der Hand, um den Lauf aufzuklappen. Das Loch wirkte groß genug, um darin eine Brieftaube zu verstauen. »Niemand fährt nach Boca Rio, um seinen Fleischtopf aufzufüllen. Ihr Cousin schießt also in die Eingeweide.

Mit diesem Baby brauchen Sie sich keine Sorgen mehr zu machen, daß das Wild sich zwölf Meilen weit durchs Hochland quält. Sie brauchen ihm nicht mehr lange nachzuspüren, um dann womöglich noch das Abendessen zu verpassen. Dieses Baby wird seine Eingeweide in einem Umkreis von zwanzig Metern verspritzen.«

»Wie weit?«

»Ich sag’s Ihnen, wie’s ist, ich kann das Ding hier in der Stadt nicht verkaufen. Wer braucht schon so ein Panzerabwehrgerät, wenn es weit und breit nichts anderes zu schießen gibt als Fasane? Und wenn man die auf den Tisch bringt, schmecken sie nur noch nach Abgasen. Im Einzelhandel kostet es neunhundertfünfzig, im Großhandel sechs-hundertdreißig Dollar. Ich könnte es Ihnen für siebenhundert geben.«

»Das macht dann … beinahe tausend Mäuse.«

»Bei Einkäufen über dreihundert geben wir zehn Prozent Rabatt. Dann wären es nur noch neunhundert.« Er zuckte die Achseln. »Wenn Sie Ihrem Cousin dieses Gewehr schenken, gehen Sie sicher, daß er noch keins von dieser Sorte besitzt. Das garantier’ ich Ihnen. Und wenn er es doch schon haben sollte, kaufe ich es Ihnen für siebenhundertfünfzig wieder ab. Das gebe ich Ihnen schriftlich, so sicher bin ich mir da.«

»Ehrlich?«

»Absolut. Aber natürlich, wenn es Ihnen zu teuer ist - wir können uns noch ein paar andere Gewehre ansehen. Aber das hier ist einfach Spitze. Ich hab’ sonst nichts da, was er nicht schon besitzen könnte.«

»Ich verstehe.« Er machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Haben Sie ein Telefon?«

»Klar, im Hinterzimmer. Wollen Sie noch einmal mit Ihrer Frau darüber reden?«

»Ich halte es fast für besser.«

»Natürlich, kommen Sie.«

Harry führte ihn in ein vollgestopftes Hinterzimmer. Er sah eine Bank und einen narbigen Holztisch, auf dem Waffenteile, Federn, Reinigungsflüssigkeit, Prospekte und diverse Fläschchen mit Bleikügelchen verstreut waren.

»Da ist das Telefon«, sagte Harry.

Er setzte sich, nahm den Hörer ab und wählte eine Nummer, während Harry in den Laden zurückging, um die Magnum einzupacken.

»Wir danken Ihnen für Ihren Anruf beim WDST-Wefter-auskunftsdienst«, ertönte ein helle Tonbandstimme.

»Leichte Schneefälle am heutigen Nachmittag, die am späten Abend in Schneeschauer übergehen.«

»Hallo, Mary?« rief er in den Hörer. »Ich bin gerade in einem Laden, der sich Harveys Waffengeschäft nennt. Ja, genau, wegen Nicky. Die Pistole hab’ ich gekriegt, wie besprochen, das war kein Problem. Sie lag gleich im Schaukasten. Aber dann hat er mir ein Gewehr gezeigt.«

»… Aufklarung bis morgen nachmittag. Tiefsttemperaturen heute nacht um null, Tageshöchsttemperaturen um sieben Grad. Mit Niederschlägen heute nacht ist zu rechnen.«

»… also, was soll ich tun?« Harry stand hinter ihm in der Tür; er konnte seinen Schatten am Boden sehen.

»Ja«, sagte er, »das ist mir klar.«

»Wir danken Ihnen für Ihren Anruf beim WDST-Wetter-auskunftsdienst. Beachten Sie bitte auch Bob Reynolds Nachrichtendienst an jedem Wochentag in den Sechs-Uhr-Nachrichten, um auf dem laufenden zu bleiben. Auf Wiederhö-

ren.«

»Meinst du wirklich? Ich weiß, es ist eine Menge Geld.«

»Wir danken Ihnen für Ihren Anruf beim WDST-Wetter-auskunftsdienst. Leichte Schneefälle am heutigen Nachmittag.«

»Bist du sicher, Liebling?«

» … in Schneeschauer übergehen …«

»Na gut.« Er drehte sich auf der Bank und lächelte Harry zu, wobei er den Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand zu einem V spreizte. »Doch, das ist ein netter Kerl. Er hat mir versichert, daß Nick bestimmt noch kein solches Gewehr hat.«

»… bis morgen nachmittag. Tiefsttemperaturen heute nacht …«

»Ich hab’ dich auch lieb, Mary, Wiedersehen.« Er legte auf.

Jesus, Fred, das war ‘ne tolle Nummer. Das war es, Georgie, das war’s wirklich.

Er stand auf. »Sie sagt, ich soll’s tun, wenn mir das Gewehr gefällt. Und es gefällt mir.«

Harry lächelte. »Was werden Sie tun, wenn er Ihnen einen Thunderbird schenkt?«

Er lachte. »Ich werde die Sendung ungeöffnet zurückschicken.«

Als sie in den Laden zurückgingen, fragte Harry: »Scheck oder bar?«

»American Express, wenn es Ihnen recht ist.«

»So recht wie Gold.«

Er holte seine Scheckkarte heraus. Auf dem Spezial-Streifen auf der Rückseite stand:


BARTON GEORGE DAWES


»Sind Sie sicher, daß die Patronen rechtzeitig hier eintreffen, so daß ich Fred alles zusammen schicken kann?«

Harry blickte von der Kreditkarte auf: »Fred?«

Er lächelte breit: »Nick ist Fred und Fred ist Nick«, erklärte er. »Nicholas Frederick Adams. Ein alter Scherz aus unserer Kindheit.«

»Oh.« Harry lächelte höflich, wie man es eben tut, wenn man einem Insiderwitz nicht versteht. »Würden Sie bitte hier unterschreiben?«

Er unterschrieb.

Harry holte ein dickes Buch unter dem Ladentisch hervor.

Es war mit einer Stahlkette am Tisch befestigt, die durch die linke Ecke gezogen war. »Und hier bitte Ihren Namen und Ihre Adresse, für die Behörden.«

Seine Finger krampften sich um den Kugelschreiber. »Nun sehen Sie sich das an«, lachte er. »Zum ersten Mal in meinem Leben kaufe ich eine Waffe, und gleich drehe ich durch.« Er schrieb seinen Namen und seine Adresse ins Buch:

BARTON GEORGE DAWES, 1241 CRESTALLEN STREET

WEST

»Die stecken ihre Nase aber auch in alles rein«, bemerkte er.

»Das ist noch gar nichts im Vergleich dazu, wie es früher war.«

»Ich weiß. Wissen Sie, was ich neulich in den Nachrichten gehört habe? Sie wollen jetzt ein Gesetz, daß Motorradfahrer einen Mundschutz tragen sollen. Einen Mundschutz, ich bitte Sie! Geht das die Regierung etwas an, wenn ein Kerl sich seine teuren Zahnbrücken ruinieren will?«

»Das hat mit meinem Buch nichts zu tun«, erwiderte Harry und legte es wieder unter den Ladentisch.

»Oder denken Sie nur an den neuen Autobahnanschluß, den sie drüben im Westend bauen. Kommt so ein hochnäsiger Landvermesser daher und beschließt: ›Hier wird gebaut‹, und die Regierung schickt einem dann jede Menge Briefe, in denen steht: ›Tut uns leid, wir werden die 784-Autobahn genau hierhin bauen. Sie müssen sich eine neue Bleibe suchen‹«

»Ja, es ist eine gottverdammte Schande.«

»Genau das ist es. Was hat das Wort ›Staatsdomäne‹ schon für eine Bedeutung für jemanden, der über zwanzig Jahre in dem verdammten Haus gelebt hat? Der dort seine Frau geliebt, seine Kinder großgezogen hat und von jeder Reise dorthin zurückgekehrt ist? Das ist doch bloß ein Begriff aus dem Gesetzbuch, das sie nur erfunden haben, um einen besser reinlegen zu können.«

Aufpassen, aufpassen! Die Sicherung war ein bißchen zu niedrig eingestellt, und jetzt war einiges durchgesickert.

»Ist alles in Ordnung?« fragte Harry besorgt.

»Ja. Ich habe ein paar von diesen fürchterlichen italienischen Sandwiches zum Lunch gegessen; ich werd’ einfach nicht klüger. Davon bekomme ich immer Blähungen.«

»Versuchen Sie mal eine von diesen«, sagte Harry und zog ein Tablettenröhrchen aus seiner Brusttasche. Auf dem Aufkleber stand:

ROLAIDS

»Danke.« Er nahm eine Tablette und steckte sie in den Mund.

Sie schmeckte ein bißchen nach Pfefferminz. Seht her, ich bin in einem Werbespot. Ich konsumiere siebenundvierzigmal mein eigenes Gewicht an Tabletten gegen überhöhte Magensäure.

»Bei mir wirken sie immer«, erklärte Harry gutmütig.

»Zu den Patronen …«

»Ja, klar. Wird ‘ne Woche dauern, höchstens zwei. Ich bestelle Ihnen siebzig Stück.«

»Sagen Sie, könnten Sie die Waffen hier für mich aufbewahren? Kleben Sie ein Schild mit meinem Namen drauf oder so. Ich bin wohl etwas überängstlich, aber ich hätte sie nicht gern bei mir zu Hause. Reichlich dumm, nicht wahr?«

»Jeder nach seinem Geschmack«, erwiderte Harry gleichmütig.

»Gut. Ich schreibe Ihnen meine Büronummer auf. Wenn die Kugeln da sind …«

»Patronen«, berichtigte Harry. »Patronen, nicht Kugeln.«

»Also gut, Patronen«, wiederholte er lächelnd. »Rufen Sie mich an, wenn sie da sind. Dann hole ich die Sachen ab und bereite alles vor, um sie zu verschicken. Mit der Post - das wird doch gehen, oder?«

»Selbstverständlich. Ihr Cousin wir nur den Empfang be-stätigen müssen. Das ist alles.«

Er schrieb seinen Namen auf eine der Geschäftskarten, die folgendermaßen bedruckt war:


Harold Swinnerton

849 – 6330

HARVEYS WAFFENGESCHÄFT

Munition Antike Waffen


»Sagen Sie mal, wenn Sie Harold sind, wer ist dann Harvey?« fragte er.

»Harvey war mein Bruder. Er ist vor acht Jahren gestorben.«

»Oh, das tut mir leid.«

»Es hat uns allen sehr leid getan. Er kam eines Tages hierher, öffnete den Laden, schloß die Kasse auf und fiel tot um. Herzschlag. Er war der netteste Kerl, den man sich denken kann. Er erledigte einen Rehbock über zweihundert Meilen Entfernung.«

Er langte über den Ladentisch, und sie schüttelten sich die Hände.

»Ich werde anrufen«, versprach Hany.

»Passen Sie gut auf sich auf.«

Er ging wieder in den Schnee hinaus, vorbei an UNSICHERER WAFFENSTILLSTAND HÄLT AN. Es schneite jetzt stärker, und er hatte seine Handschuhe zu Hause gelassen.

Was hast du eigentlich da drinnen gemacht, George?

Päng, die Sicherung sprang raus.

Als er die Bushaltestelle erreicht hatte, war der Vorfall nur noch eine Erinnerung an etwas, das er irgendwo irgendwann einmal gelesen hatte. Weiter nichts.

Die Crestallen Street war eine lange, kurvige Straße, die einen Hügel hinab führte. Früher hatte man von dort eine schöne Aussicht auf den Park und einen herrlichen Blick auf den Fluß gehabt, bis der Fortschritt in Form von Hochhäusern alles kaputtgemacht hatte. Vor zwei Jahren hatte man die Westfield Avenue regelrecht damit zugekleistert.

Nummer 1241 war ein kleines Farmhaus mit einem Zwischenstock und einer Garage für einen Wagen. Der große Vorgarten war jetzt kahl und wartete auf den Schnee - richtigen Schnee -, der ihn bald bedecken sollte. Die Auffahrt war im letzten Frühjahr frisch asphaltiert worden.

Er ging hinein und hörte schon an der Tür den Fernseher, ein neues Modell, das sie sich im letzten Sommer angeschafft hatten. Auf dem Dach befand sich eine automatische Antenne, die er selbst dort oben installiert hatte. Sie war auf Grund dessen, was nun bald passieren würde, dagegen gewesen, aber er hatte darauf bestanden. Wenn sie dort oben angebracht werden konnte, so hatte er argumentiert, konnte man sie ebensogut wieder abbauen, wenn sie dann umzögen. Bart, sei nicht dämlich. Das sind doch bloß Sonderausgaben … und für dich ist es eine überflüssige Arbeit. Aber er war stur geblieben, und schließlich hatte sie nachgegeben.

›Um ihn bei Laune zu halten.‹ Das sagte sie immer bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen ihm eine Sache wichtig genug war, daß er ihr Lamento über sich ergehen ließ. »Diesmal gebe ich nach, Bart, um dich bei Laune zu halten.«

Im Augenblick lauschte sie Merv Griffin, der sich mit irgendeiner Berühmtheit unterhielt. Es war Lome Green, der sich über seine neue Polizeiserie Griff ausließ. Lome versicherte Merv, wieviel Spaß ihm diese neue Arbeit machte.

Bald würde eine schwarze Sängerin (nerviger Negersingsang, dachte er), von der noch nie jemand gehört hatte, auftreten und vermutlich »I left My Heart in San Francisco« singen.

»Hallo, Mary«, rief er.

»Hallo, Bart.«

Auf dem Tisch lag Post. Er blätterte sie durch. Ein Brief an Mary von ihrer leicht verrückten Schwester in Baltimore.

Eine Benzinrechnung - dreiundachtzig Dollar. Ein Kontoauszug: 49 Abhebungen, 9 Eingänge, Kontostand 954 Dollar und 47 Cents. Wie gut, daß er im Waffengeschäft mit seiner American-Express-Karte bezahlt hatte.

»Der Kaffee ist noch heiß«, rief Mary. »Oder möchtest du lieber einen Drink?«

»Einen Drink«, antwortete er. »Ich mach’ ihn mir selber.«

Drei weitere Postsachen: eine Mahnung von der Stadtbibliothek, Facing the Lions von Tom Wicker. Wicker hatte vor einem Monat bei einem Mittagessen im Rotary Club einen Vortrag gehalten. Es war die beste Rede gewesen, die sie seit Jahren gehört hatten.

Eine persönliche Notiz von Stephan Ordner. Ordner war einer der hohen Tiere im Management von Amroco, der Gesellschaft, der das Blue Ribbon jetzt so gut wie ganz gehörte.

Er lud ihn für Freitag abend ein, um das Waterford-Geschäft mit ihm zu besprechen - falls er nicht vorhabe, über Thanksgiving zu verreisen. Wenn dies der Fall sei, möge er bitte anrufen. Wenn er kommen könne, sollte er Mary mitbringen.

Carla freue sich immer, Mary zu sehen und mit ihr ein wenig zu plaudern und blah-blah, etc., etc.

Und wieder ein Brief von der Straßenbaubehörde.

Er stand lange da und betrachtete ihn im fahlen Abendlicht, das durch die Fenster fiel. Dann legte er die gesamte Post auf die Kommode. Er machte sich einen Scotch on the Rocks und ging damit ins Wohnzimmer.

Merv plauderte immer noch mit Lome. Die Farben auf ihrem neuen Zenith-Fernseher waren besser als gut; sie waren phantastisch. Wenn unsere Interkontinentalraketen so gut sind wie die Farben auf unserem Fernseher, wird es eines Tages einen riesigen Knall geben, dachte er. Lomes Haar schimmerte silbern, der unwahrscheinlichste Silberton, den man sich vorstellen konnte. Junge, eines Tages erwische ich dich mit einer Glatze, dachte er und schmunzelte. Das war ein Lieblingsspruch seiner Mutter gewesen. Er konnte selbst nicht sagen, warum ihm die Vorstellung eines glatzköpfigen Lome Greene so komisch vorkam. Vielleicht eine verspätete hysterische Reaktion auf die Episode im Waffengeschäft.

Mary blickte lächelnd zu ihm auf. »Ein Witz?« fragte sie.

»Nein, nichts«, antwortete er. »Bloß so ein Gedanke.«

Er setzte sich neben sie und kniff sie liebevoll in die Wange.

Sie war eine hochgewachsene, mittlerweile achtunddreißigjährige Frau, bei der man noch nicht wußte, in welche Richtung sich die Schönheit ihrer Jugendjahre im mittleren Alter entwickeln würde. Ihre Haut war makellos und ihre Brüste klein und fest. Sie aß ziemlich viel, aber ihr aktiver Stoffwechsel hielt sie schlank. Sie würde noch lange nicht bei dem Gedanken zittern, sich im Badeanzug am öffentlichen Strand sehen zu lassen, egal, was die Götter sonst mit ihrer äußerlichen Erscheinung vorhatten. Er wurde sich plötzlich seines eigenen Bauchansatzes bewußt. Zum Teufel, Freddy, jeder Geschäftsmann hat heutzutage einen Bauchansatz. Das ist ein Erfolgssymbol, genau wie ein Delta 88. Du hast recht, George. Paß nur auf dein altes Herz auf und sieh zu, daß du keinen Krebs kriegst, dann wirst du achtzig Jahre alt.

»Wie war’s heute?« erkundigte sie sich.

»Ganz gut.«

»Hast du dir die neue Fabrik in Waterford angesehen?«

»Heute nicht.«

Er war seit Ende Oktober nicht mehr draußen in Waterford gewesen. Ordner wußte das - ein kleiner Vogel mußte es ihm zugezwitschert haben -, daher die persönliche Notiz. Das , Gelände für ihre neue Fabrik war eine verlassene alte Textilmühle, und der kleine, schlaue Makler rief ihn immer wieder deswegen an. Wir müssen den Handel endlich abschließen, lag er ihm in den Ohren. Schließlich seid ihr nicht die einzigen im Westend, die an dem Projekt interessiert sind. Ich tue, was ich kann, beschwichtigte er ihn immer wieder. Sie müssen sich schon gedulden.

»Was ist mit dem Haus in Crescent?« fragte sie. »Dem roten Ziegelgebäude?«

»Kommt für uns nicht in Frage«, antwortete er. »Die wollen dafür achtundvierzigtausend Dollar.«

»Für den Schuppen?« meinte sie entrüstet. »Das ist ja der reinste Nepp.«

»Ja, das ist es.« Er nahm einen großen Schluck Scotch.

»Was schreibt die gute alte Bea aus Baltimore?«

»Das Übliche. Sie ist jetzt in einer bewußtseinserweitern-den Hydrotherapiegruppe. Ist das nicht ein Ding? Bart …«

»Ja, das ist es wohl«, sagte er schnell.

»Bart, wir müssen in dieser Sache endlich was unternehmen. Der zwanzigste Januar rückt immer näher, und eines Tages stehen wir auf der Straße.«

»Ich tue ja, was ich kann«, sagte er gereizt. »Wir müssen uns einfach gedulden.«

»Das kleine Kolonialhaus an der Union Street …«

» … ist schon verkauft«, fiel er ihr ins Wort und trank sein Glas leer.

»Das ist es ja, was ich meine«, rief sie wütend. »Es wäre für uns beide gerade richtig gewesen. Mit dem Geld, das die Stadt uns für unser Haus und das Grundstück gibt, hätten wir es leicht bezahlen können.«

»Es hat mir nicht gefallen.«

»In letzter Zeit scheint dir überhaupt nicht mehr sehr viel zu gefallen«, bemerkte sie mit einem überraschend bitteren Unterton. »Es hat ihm nicht gefallen!« fuhr sie den Fernseher an. Der nervige Negersingsang hatte angefangen.

»Mary, ich tue wirklich, was ich kann.«

Sie wandte sich zu ihm um und sah ihm ernst in die Augen.

»Bart, ich weiß, was dieses Haus dir bedeutet …«

»Nein, das weißt du nicht«, unterbrach er sie. »Du hast keine Ahnung!«

21. November 1973

Über Nacht hatte sich eine dicke Schneedecke auf der Erde gebildet, und als die Bustüren sich öffneten und er auf den Bürgersteig trat, konnte er die Spuren der Menschen verfol-gen, die vor ihm dort entlanggegangen waren. Er bog um eine Ecke und ging die Fir Street hinunter, während er den Bus mit seinem leichten Tigerbrummen weiterfahren hörte.

Johnny Walker fuhr an ihm vorbei. Er war auf dem Weg, seine zweite Wäscheladung an diesem Morgen abzuholen.

Johnny winkte ihm aus der Kabine seines blauweißen Lieferwagens zu, und er grüßte zurück. Es war kurz nach acht.

Der Arbeitstag in der Wäscherei begann um sieben Uhr in der Frühe, wenn Ron Stone, der Meister und Dave Radner, der die Aufsicht im Waschraum hatte, eintrafen und die Boiler einschalteten. Die Mädchen, die die Hemden bügelten, trudelten gegen halb acht ein, und die Mädchen, die die Schnellbügler bedienten, kamen gegen acht. Er haßte das Untergeschoß mit der Wäscherei, in dem die stumpfsinnige Arbeit gemacht wurde, in dem die Ausbeutung stattfand, aber aus irgendeinem unverständlichen Grund mochten die Männer und Frauen, die hier arbeiteten, ihn gerne. Sie sprachen ihn mit seinem Vornamen an, und bis auf ein paar Ausnahmen konnte auch er sie gut leiden.

Er betrat das Gebäude durch den Lieferanteneingang und bahnte sich seinen Weg durch etliche Wäschekörbe, die noch vom letzten Abend rumstanden, weil die Wäsche noch nicht gebügelt war. Über alle Körbe war eine Plastikplane festge-zurrt, um den Staub fernzuhalten. Weiter vorn befestigte Ron Stone gerade den Treibriemen einer altmodischen Waschmaschine, während Dave und sein neuer Gehilfe, ein gewisser Steve Pollack, der sein Studium abgebrochen hatte, die riesigen neuen Maschinen mit Hotelwäsche füllten.

»Hallo, Bart!« begrüßte Ron Stone ihn brüllend. Er brüllte immer, anstatt zu sprechen. Während der dreißig Jahre Unterhaltung über das Getöse von Trocknern, Büglern, Hemdenpressen und Waschmaschinen hinweg war ihm das Brüllen in Fleisch und Blut übergegangen. »Diese Scheißmaschine gibt bald ihren Geist auf. Das Programm ist jetzt so durcheinander, daß Dave sie mit der Hand bedienen mußte. Und die Schleuder fällt ständig aus.«

»Wir haben schon eine neue Kilgallon bestellt«, beschwichtigte er ihn. »Noch zwei Monate …«

»In der Waterford-Fabrik?«

»Na klar«, sagte er leichthin.

»Noch zwei solche Monate, und ich bin reif fürs Irrenhaus«, meinte Stone düster. »Und dieser Umzug … das wird schlimmer als eine polnische Armeeparade.«

»Ich nehme an, die Aufträge werden zurückgehen.«

»Zurückgehen! In den ersten drei Monaten werden wir nicht aus den roten Zahlen rauskommen. Und dann ist’s schon Sommer.«

Er nickte, ohne näher auf das Thema einzugehen. »Was kommt heute als erstes dran?«

»Holiday Inn.«

»Packt jeweils hundert Pfund Handtücher in jede Ladung. Du weißt ja, wie die immer nach Handtüchern schreien.«

»Ja, sie schreien nach allem.«

»Wieviel ist es denn?«

»Sie haben sechshundert Pfund eingetragen. Das meiste kommt von den Shriners. Ist noch vom letzten Montag übriggeblieben. Die dreckigste Wäsche, die ich je gesehen habe.

Die Laken starren vor Dreck.«

Er nickte zu dem neuen Gehilfen Pollack hinüber. »Wie macht der Junge sich?« Die Blue Ribbon hatte einen großen Verschleiß an Aushilfen im Waschraum. Dave nahm sie hart an die Kandare, und Rons Brüllerei machte sie zuerst nervös, dann wütend.

»Bis jetzt ganz gut«, antwortete Stone. »Kannst du dich noch an den letzten erinnern?«

Und ob er das konnte. Der Junge hatte es gerade drei Stunden ausgehalten.

»Ja. Wie hieß er doch gleich?«

Ron Stone zog die Augenbrauen zusammen. »Ich weiß es nicht mehr. Baker? Barker? Irgend so etwas. Ich habe ihn letzten Freitag vor dem Supermarkt gesehen. Hat dort Flugblätter über einen Salatboykott verteilt. Das ist ein Ding, was? Wenn so ein Kerl es nicht an einer Stelle aushallen kann, zieht er gleich los und erzählt jedem, wie schlimm es sei, daß es in Amerika nicht so wie in Rußland sein kann. Es bricht mir das Herz.«

»Kommt als nächstes Howard Johnson dran?«

Stone warf ihm einen beleidigten Blick zu. »Den nehmen wir doch immer als erstes.«

»Um neun?«

»Da kannst du deinen Hintern drauf verwetten.«

Dave winkte ihm zu, und er grüßte zurück. Dann ging er nach oben, durch die chemische Reinigung, durch die Buchhaltung und in sein Büro. Er setzte sich auf seinen Drehsessel hinter seinem Schreibtisch und holte alje Papiere aus dem Eingangskorb, um sie durchzulesen. Auf dem Schreibtisch klebte eine Plakette:

DENK NACH!

Es könnte eine neue Erfahrung für dich sein.

Er mochte das Schild nicht besonders, aber er ließ es da, weil Mary es ihm geschenkt hatte. Wie lange war das jetzt her?

Fünf Jahre? Er seufzte. Die Vertreter, die in sein Büro kamen, fanden es außerordentlich witzig und lachten sich halb tot.

Aber wenn man einem Vertreter Bilder von verhungernden Kindern oder von Hitler beim Geschlechtsverkehr mit der heiligen Jungfrau zeigte, lachte er sich ebenfalls halb tot.

Vinnie Mason, der kleine Vogel, der zweifellos Steve Ordners Ohren vollgezwitschert hatte, hatte einen Aufkleber auf seinem Schreibtisch, auf dem DEMK! stand. Nun, was hatte das schon für eine Bedeutung? DEMK!

Darüber würde nicht einmal ein Vertreter lachen, nicht wahr, Fred? Richtig, George - kooo - rrrekt. Er hörte draußen vor dem Fenster einen schweren Dieselmotor vorbeidröhnen und drehte den Sessel, um hinauszuschauen. Die Straßen-bauleute begannen ihren neuen Arbeitstag. Ein langer Tieflader mit zwei Bulldozern fuhr an der Wäscherei vorbei. Hinter ihm folgte eine Schlange ungeduldiger Autofahrer.

Vom dritten Stock aus, über der chemischen Reinigung, konnte man den Fortgang der Straßenbauarbeiten beobachten. Ein langer brauner Einschnitt zog sich durch die Geschäfts- und Wohnviertel des Westends wie eine tiefe Operationsnarbe, die mit Schlamm verpflastert worden war. Sie hatte schon die Guilder Street überquert und grub sich in den Park an der Hebner Avenue, in den er immer mit Charlie gegangen war, als er noch ganz klein … eigentlich ein Baby … gewesen war. Wie hieß dieser Park noch mal? Ich glaube, einfach nur Hebner Avenue Park, Fred. Es gab dort einen kleinen Fußballplatz und ein paar Wippen und einen kleinen Ententeich mit einem Vogelhaus in der Mitte. Im Sommer war das Dach des Häuschens immer voller Vogeldreck. Auch ein paar Schaukeln hat es dort gegeben. Charlie hat seine ersten Schaukelerfahrungen im Hebner Avenue Park gesammelt. Wie findest du das, Fred, altes Haus? Zuerst hat er fürchterliche Angst gehabt und geschrien wie am Spieß, und dann, als es Zeit war, nach Hause zu gehen, hat er geheult, weil ich ihn von der Schaukel runternehmen wollte. Auf dem Heimweg hat er dann den Vordersitz vollgepinkelt. War das alles wirklich schon vierzehn Jahre her?

Ein weiterer Tieflader fuhr mit einem Bagger vorbei.

Vor vier Monaten hatten sie den Garson Block abgerissen, der nur drei Häuserblocks von der Hebner Avenue entfernt stand. Ein paar Bürohäuser, in der einige Kreditanstalten untergebracht gewesen waren, einige Banken, Zahnärzte, Chi-ropraktiker und Fußärzte. Die waren ihm weniger wichtig, aber, Himmel, es hatte ihm weh getan, das alte Grand Theater in sich zusammenstürzen zu sehen. Dort hatte er sich Anfang der fünfziger Jahre seine Lieblingsfilme angesehen. Dial M for Murder mit Ray Milland oder The Day the Earth Stood Still mit Michael Rennie. Der war vor kurzem im Fernsehen wiederholt worden. Er hatte ihn sich unbedingt ansehen wollen, war dann aber vor dem blöden Fernseher eingeschlafen und erst bei der Nationalhymne wieder aufgewacht. Er hatte seinen Drink dabei verschüttet, und Mary hatte ihm am nächsten Morgen anständig den Marsch geblasen.

Das alte Grand, ja, das war noch etwas gewesen. Heute gab es ja nur noch diese neumodischen Filmtheater in den Vorstädten, diese aufgeplusterten Gebäude inmitten von riesigen Parkplätzen. Kino I, Kino II, Kino III, Vorführraum, Kino MCMXLVII. Er war mit Mary einmal zu so einem Palast nach Waterford hinausgefahren, um sich The Godfather anzusehen, und hatte sage und schreibe 2 Dollar 50 pro Karte bezahlt. Und drinnen hatte es dann ausgesehen wie in einer Bowlingbahn. Keine Empore. Das alte Grand hatte noch einen Marmorfußboden in der Eingangshalle gehabt, eine große Empore und einen liebenswerten, altmodischen, fettverschmierten Popcornautomaten, bei dem die große Packung nur einen Dirne kostete. Der alte Mann an der Tür, der die Karten abgerissen hatte (die damals nur sechzig Cents kosteten), hatte eine rote Uniform getragen. Er hatte darin wie ein Portier ausgesehen und war mindestens sechshundert Jahre alt gewesen. Immer wieder hatte er denselben Satz vor sich hin gekrächzt: »Ich hoffe, daß Ihnen der Film gefällt.«

Und drinnen sah man dann den großen Kronleuchter über dem Parkett. Niemand wollte direkt unter ihm sitzen, denn wenn er einmal runterfallen sollte, könnte man vermutlich nur noch mit einem Taschenmesser vom Boden abgekratzt werden. Das Grand war …

Er blickte schuldbewußt auf seine Armbanduhr. Jetzt hatte er schon fast vierzig Minuten vertrödelt. So ein Quatsch. Dabei hatte er noch gar nicht mal viel nachgedacht. Nur über den Park und das Grand Theater.

Ist etwas nicht in Ordnung mit dir, Georgie?

Könnte sein, Fred. Ich glaube, du hast recht.

Er rieb sich mit einem Finger über die Wange und die Augen und stellte fest, daß er naß war. Er hatte geweint.

Er ging nach unten, um mit Peter zu reden, der die Aufsicht über die Auslieferungen hatte. Die Wäscherei lief jetzt auf Hochtouren. Die Heißmangeln dampften und zischten, als die ersten von Howard Johnsons Laken hindurchgezogen wurden. Die Waschmaschinen stampften und ließen den Boden vibrieren, und die Hemdenpressen klapperten und säuselten, während Ethel und Rhonda die Oberhemden einlegten.

Peter berichtete ihm, daß die erste Ladung in ihrem Lastwagen Nr. 4 verstaut sei, und fragte ihn, ob er sie noch anschauen wolle, bevor sie ans Geschäft ausgeliefert würde.

Das wollte er nicht, sondern fragte Peter statt dessen, ob die Holiday-Inn-Wäsche schon rausgegangen sei. Peter antwortete, daß sie gerade aufgeladen würde und daß der Dummkopf, der das Hotel leitete, schon zweimal angerufen und nach den Handtüchern gefragt hätte.

Er nickte und ging nach oben in die chemische Reinigung, um Vinnie Mason aufzusuchen. Phyllis erklärte ihm, daß Vinnie und Tom Granger in das neue deutsche Restaurant gegangen seien, um einen Auftrag wegen der Tischtücher zu ergattern.

»Würden Sie ihn bitte in mein Büro schicken, wenn er zurückkommt?«

»Das werde ich, Mr. Dawes. Ach ja, Mr. Ordner hat angerufen und bittet um Ihren Rückruf.«

»Danke, Phyllis.«

Er ging zurück in sein Büro und nahm die neuen Sachen aus dem Eingangskorb, um sie durchzugehen.

Eine Firma bot ihm ein neu entwickeltes Bleichmittel namens Yello-Go an. Wo hatten die bloß immer diese blöden Namen her, fragte er sich, und legte den Zettel für Ron zur Seite.

Ron liebte es, Dave mit den neuen Produkten zu ärgern, besonders, wenn er dabei fünfhundert Pfund umsonst für Testläufe herausschlagen konnte.

Ein Dankesschreiben von ihrer Gewerkschaftskasse. Er legte es zur Seite, um es später am schwarzen Brett neben der Stechuhr auszuhängen.

Ein Werbeprospekt über eine Büromöbelgarnitur aus Fichtenholz. In den Papierkorb.

Ein Werbeprospekt über einen Anrufbeantworter, der Nachrichten weitergeben und eingehende Telefonanrufe bis zu dreißig Sekunden Dauer registrieren würde, wenn man nicht im Hause war. Ich bin nicht da, Dummkopf. Leg auf!

In den Papierkorb.

Ein Beschwerdebrief von einer Dame, die sechs Hemden ihres Mannes in die Reinigung gegeben und zwei mit ver-branntem Kragen zurückerhalten hatte. Seufzend legte er ihn auf den Stapel, um sich später darum zu kümmern. Ethel hatte ihr Mittagessen wohl wieder einmal getrunken.

Ein Wassertestbericht von der Universität. Den würde er mit Ron und Tom Granger nach dem Mittagessen durchgehen. Auf den Stapel.

Ein Werbeprospekt von einer Versicherungsgesellschaft.

Ein Art Linkletter erzählte einem da, wie man achtzigtausend Dollar verdienen könnte. Alles, was man dafür tun müsse, sei zu sterben. In den Papierkorb.

Wieder ein Brief von dem kleinen, schlauen Makler, der die Waterford-Fabrik verkaufen wollte. Er schrieb, daß eine Schuhfabrik an dem Projekt interessiert sei, immerhin keine geringere als die Tom-McAn-Schuhfabrik, also kein kleiner Fisch, und er erinnerte daran, daß die neunzig Tage Bedenk-zeit für das Blue Ribbon am sechsundzwanzigsten November ausliefen. Aufgepaßt, kleiner Wäschereigeschäftsführer! Die Stunde naht! In den Papierkorb.

Noch eine Vertreternotiz für Ron. Diesmal sollte eine neue Reinigungsmaschine mit dem verräterischen Namen Swipe an den Mann gebracht werden. Er legte sie zum Yello-Go.

Er drehte sich gerade wieder zum Fenster um, als seine Sprechanlage summte. Vinnie Mason war aus dem deutschen Restaurant zurückgekehrt.

»Schicken Sie ihn rein.«

Vinnie kam sofort hereinmarschiert. Er war ein hochgewachsener fünfundzwanzigjähriger Mann mit olivbrauner Haut und einer üppigen dunklen Haarmähne, die er wie immer zu salopper Unordentlichkeit zurechtgekämmt hatte. Er trug ein dunkelrotes Sportjackett und eine dunkelbraune Hose. Dazu eine Fliege. Sehr flott, findest du nicht auch, Fred? In der Tat, Georgie, in der Tat.

»Wie geht es dir, Bart?« fragte Vinnie.

»Gut«, antwortete er. »Was habt ihr in dem deutschen Restaurant erreicht?«

Vinnie lachte. »Du hättest dabei sein sollen. Der alte Kraut wäre vor Dankbarkeit faßt auf die Knie gefallen, so glücklich war er, uns zu sehen. Wir werden die Universal ausschalten, wenn wir erst mal in der neuen Fabrik sind, Bart. Sie haben noch nicht mal einen Werbeprospekt hingeschickt, geschweige denn einen von ihren Leuten. Dieser Kerl kam gar nicht mehr damit zu Rande, die Tischtücher in seiner Küche zu waschen, glaube ich. Aber du solltest mal sehen, was für ein Lokal der hat. Eine richtige Bierhalle. Er wird die Konkurrenz vernichten. Dieses Aroma … hmmmm!« Er wedelte mit seinen Händen vor dem Gesicht, um das Aroma anzudeuten, und holte dann eine Schachtel Zigaretten aus einem Sportjackett. »Wenn das Geschäft richtig angelaufen ist, werde ich Sharon mal dorthin ausführen. Mit zehn Prozent Rabatt natürlich.«

In einer seltsamen Art von Rückblende hörte er plötzlich Harry, den Waffengeschäftsinhaber, sagen: Bei Einkäufen über dreihundert Dollar geben wir zehn Prozent Rabatt.

Mein Gott, dachte er. Habe ich diese Gewehre gestern tatsächlich gekauft? Habe ich das wirklich getan?

Dieser Bereich seines Gehirns verdunkelte sich plötzlich.

He, Georgie, was hast du …

»In welcher Größenordnung belaufen sich die Aufträge?« fragte er. Seine Stimme klang etwas belegt, und er räusperte sich.

»Vier- bis sechshundert Tischtücher pro Woche, wenn der Laden richtig läuft. Und die Servietten. Alles echt Leinen. Er möchte sie elfenbeinfarben. Ich hab’ ihm gesagt, das sei kein Problem.«

Vinnie nahm jetzt eine Zigarette aus der Schachtel, langsam, so daß er das Etikett lesen konnte. Das war etwas, was er an Vinnie Mason nun wirklich nicht ausstehen konnte: seine Vorliebe für verflucht starke Zigaretten. Auf dem Etikett stand:

PLAYER’S NAVY CUT

ZIGARETTEN

MEDIUM

Also, wer um alles in der Welt außer Vinnie Mason rauchte Player’s Navy Cut? Oder Kind Stano? Oder English Ovals?

Oder Marvels oder Murads oder Twists? Wenn jemand eine neue Marke namens Scheiße-am-Stiel oder Schwarze Lunge auf den Markt brächte, Vinnie würde sie rauchen.

»Ich hab’ ihm gesagt, daß wir jeweils zwei Tage für eine Ladung brauchen werden, solange wir noch in der alten Wäscherei sind«, sagte Vinnie und ließ ihn noch einen Blick auf die Zigarettenpackung werfen, bevor er sie wieder in seiner Jacke verstaute. »Wann ziehen wir nach Waterford um?«

»Darüber wollte ich gerade mit dir reden«, erwiderte er.

Soll ich ihm den Marsch blasen, Fred? Klar, zeig’s ihm, George.

»Tatsächlich?« Vinnie zündete sich mit einem schmalen vergoldeten Feuerzeug die Zigarette an und musterte ihn wie ein englischer Charakterschauspieler mit hochgezoge-nen Augenbrauen durch den aufsteigenden Rauch.

»Ich habe gestern einen Brief von Ordner erhalten. Er möchte, daß ich ihn am Freitag abend besuche, um ein bißchen über den Waterford-Handel zu plaudern.«

»Oh?«

»Und heute morgen bekam ich einen Anruf von Ordner, während ich kurz mal runtergegangen war, um etwas mit Peter Wasserman zu bereden. Mr. Ordner möchte, daß ich zurückrufe. Hört sich so an, als sei er fürchterlich gespannt darauf, etwas Neues zu erfahren, nicht wahr?«

»Das nehme ich an«, sagte Vinnie und setzte sein zweites Lächeln - Achtung, verschmutzte Fahrbahn! Fahren Sie vorsichtig! - auf.

»Was ich gerne wissen möchte ist, warum Ordner auf einmal so verdammt neugierig geworden ist. Das würde ich gern mal erfahren.«

»Tja …«

»Laß das, Vinnie, spiel mir nicht das verschüchterte Zimmermädchen vor. Es ist schon zehn Uhr, und ich muß mit Ordner telefonieren. Ich muß mit Rone Stone reden und mit Ethel Gibbs, die mal wieder ein paar Hemdkragen verbrannt hat. Hast du etwa hinter meinem Rücken aus dem Nähkästchen geplaudert?«

»Na ja, Sharon und ich waren Sonntag abend bei St- bei Mr. Ordner zum Abendessen eingeladen und …«

»Und da hat es sich zufällig ergeben, daß du eine Bemerkung über Bart Dawes gemacht hast. Du hast ihm gesagt, daß Dawes die Waterford-Verhandlungen verzögert, während der Ausbau des 784-Zubringers immer näher rückt, nicht wahr?«

»Bart!« protestierte Vinnie. »Es war alles sehr nett. Es war …«

»Ich bin sicher, daß es sehr nett war. Auch sein Brief,, der mich vor den Richterstuhl zitiert, ist sehr nett. Darum geht es nicht. Es geht darum, daß er dich und deine Frau in der Hoffnung, daß du etwas ausplaudern würdest, zum Abendessen eingeladen hat, und wie ich sehe, ist er nicht enttäuscht worden.«

»Bart …«

Er hob seinen Zeigefinger vor Vinnies Gesicht. »Hör mir mal gut zu, Vinnie. Wenn du noch mehr solche Fallen aufstellst, in die ich hineintappen soll, dann kannst du dich nach einem neuen Job umsehen. Das kannst du mir glauben.«

Vinnie saß wie versteinert da. Seine Zigarette qualmte un-beachtet zwischen seinen Fingern.

»Ich will dir mal etwas sagen, Vinnie«, fuhr er mit normaler Stimme fort. »Ich weiß, daß ein junger Kerl wie du schon tausend Vorträge von alten Kerlen wie ich darüber gehört hast, wie wir die Welt auf den Kopf gestellt haben, als wir noch so jung waren wie ihr. Aber diesen Anschiß hast du verdient.«

Vinnie öffnete den Mund, um zu protestieren.

»Ich glaube nicht, daß du mir in den Rücken fallen wolltest«, sagte er mit abwehrend erhobener Hand, um Vinnies Protest zuvorzukommen. »Wenn ich das angenommen hätte, hätte ich dich gleich zur Rede gestellt, als du hereinmarschiert bist. Ich glaube nur, du hast dich ziemlich dämlich benommen. Du bist in dieses großartige, eindrucksvolle Haus gekommen und hast vor dem Abendessen drei Drinks angeboten gekriegt, und dann hat es eine Suppe gegeben und einen Salat mit einer vorzüglichen Salatsauce und danach etwas Leckeres als Hauptgang, und all das ist von einem Dienstmädchen in einer schwarzen Uniform serviert worden, und Carla hat ihre Rolle als Hausdame gespielt ohne dabei auch nur im geringsten herablassend zu sein -, und es hat Erdbeertörtchen oder Heidelbeerkompott mit frisch geschlagener Sahne zum Nachtisch gegeben und danach dann noch Kaffee mit Cognac oder Tia Marias, und dann hat sich deine Zunge wie von selbst gelöst. Ist es so gewesen?«

»Ja, so ähnlich war’s«, flüsterte Vinnie. Sein Gesicht zeigte eine Mischung von drei Teilen Scham und zwei Teilen ab-grundtiefen Hasses.

»Er begann mit der Frage, wie es Bart ginge. Du hast geantwortet, Bart ginge es gut. Er sagte, daß Bart ein verdammt guter Mann sei, aber ob es nicht schön wäre, wenn er sich endlich mal zusammenreißen und das Waterford-Geschäft etwas vorantreiben würde. Und du hast geantwortet, daß das in der Tat sehr schön wäre. Und er sagte, ach, übrigens, wie steht’s denn damit? Und du hast geantwortet, alles, was ich weiß, ist, daß er den Handel noch nicht abgeschlossen hat.

Ich hab’ gehört, daß die Tom-McAn-Leute an dem Projekt interessiert sind, aber das ist vielleicht nur ein Gerücht. Daraufhin hat er gesagt, na ja, ich bin sicher, Bart weiß, was er tut, und du hast darauf erwidert, klar; und dann hat er dir noch einen Cognac angeboten und dich gefragt, ob du glaubst, daß die Mustangs es in dieser Playoff-Runde schaffen würden, und dann seid ihr wieder nach Hause gefahren, Sharon und du, und weißt du, wann er dich das nächste Mal einladen wird, Vinnie?«

Vinnie sagte nichts.

»Du wirst wieder eingeladen werden, wenn Steve Ordner den nächsten Hinweis braucht.«

»Es tut mir leid«, sagte Vinnie schmollend und wollte aufstehen.

»Ich bin noch nicht fertig.«

Vinnie setzte sich wieder und blickte zornig in eine Zimmerecke.

»Vor zwölf Jahren habe ich deinen Job ausgeführt, weißt du das eigentlich? Zwölf Jahre, das kommt dir wahrscheinlich sehr lange vor. Aber ich weiß kaum, wo die Jahre geblieben sind. Doch ich kenne den Job gut genug, um zu wissen, wie sehr es dir gefällt. Und ich weiß, daß du ihn gut machst. Die Neuorganisation der chemischen Reinigung … dieses neue Nummernsystem … das war ein Meisterstück.«

Vinnie starrte ihn verblüfft an.

»Ich habe vor zwanzig Jahren in der Wäscherei angefangen«, fuhr er fort. »1953, da war ich zwanzig Jahre alt. Meine Frau und ich waren jungverheiratet. Ich hatte gerade zwei Jahre Betriebswirtschaft studiert, und Mary und ich wollten eigentlich noch ein bißchen warten, aber wir haben die Interruptionsmethode angewandt. Eines Tages waren wir in der Stadt in einem Hotel, und unter uns hat jemand eine Tür zugeschlagen. Ich bekam einen Schreck und einen Orgasmus.

Davon ist sie schwanger geworden. Immer wenn ich heute mal besonders schlaue Anwandlungen kriege, brauche ich mich bloß an diesen einen Türschlag zu erinnern und daran, daß er für meine heutige Position verantwortlich ist. Es ist demütigend. Damals gab es noch kein so freizügiges Abtreibungsgesetz. Wenn man ein Mädchen schwängerte, dann heiratete man es oder man ließ es sitzen. Man hatte keine andere Wahl. Ich hab’ sie geheiratet und den ersten Job angenommen, der sich mir bot. Und das war hier in der Wäscherei. Waschraumaushilfe, genau der Job, den dieser Pollack-Junge da unten jetzt erledigt. Damals mußten wir noch alles mit der Hand machen. Wir mußten die nasse Wäsche aus den Maschinen zerren und sie in große Stonington-Schleudern packen, die fünfhundert Pfund von dem schweren Zeug faßten. Wenn man so eine Schleuder falsch belud, konnte sie einem den Fuß ausreißen. Nun ja, Mary hat das Kind im siebten Monat verloren, und der Arzt sagte, daß sie nie wieder eins haben könne. Ich machte den Aushilfejob drei Jahre lang und brachte für fünfundfünfzig Arbeitsstunden genau fünfundfünfzig Dollar pro Woche nach Hause. Dann hatte Ralph Albertson, der damals Aufseher im Waschraum war, einen Auffahrunfall und starb auf der Straße an einem Herzinfarkt, während er noch mit dem anderen Kerl seine Versicherungsnummer austauschte. Er war ein guter Mann gewesen. Zu seiner Beerdigung hatte der ganze Betrieb geschlossen.

Nachdem er anständig begraben war, bin ich zu Ray Tarkington gegangen und hab’ mich um seinen Job beworben. Ich war mir ziemlich sicher, daß ich ihn bekommen würde. Ich wußte alles, was man im Waschraum wissen mußte, denn Ralph hatte mir alles beigebracht.

Damals war das hier ein Familienbetrieb, Vinnie. Ray und sein Vater, Don Tarkington, haben ihn geleitet. Don hatte ihn von seinem Vater übernommen, der ihn 1926 gegründet hat.

Die Arbeiter waren nicht in der Gewerkschaft organisiert, und ich nehme an, daß die Gewerkschaftsleute die drei Tarkingtons als patriarchalische Ausbeuter bezeichnet haben, die sich an ungebildeten Arbeitern und Arbeiterinnen berei-cherten. Und das waren sie auch. Aber als Betty Keeson auf dem nassen Fußboden ausgerutscht war und sich den Arm gebrochen hatte, haben die Tarkingtons ihr die Kranken-hausrechnung bezahlt und zehn Dollar Unterhaltskosten pro Woche, bis sie wieder arbeiten konnte. Und jedes Jahr Weihnachten haben sie in der Halle ein großes Weihnachtsbankett aufgebaut - der beste Huhnauflauf, den du je gegessen hast, mit Preiselbeeren und Brötchen und Pfefferminz- oder Schokoladenpudding zur Auswahl als Nachtisch. Don und Ray schenkten jeder Frau ein Paar Ohrringe, und wir Männer bekamen jeder eine neue Krawatte. Ich habe meine neun Krawatten immer noch bei mir zu Hause im Schrank hängen.

Und als Don Tarkington im Jahre 1959 starb, habe ich eine davon auf seiner Beerdigung getragen. Sie paßte überhaupt nicht zum Anzug, und Mary hat mir deswegen die Hölle heiß gemacht, aber ich habe sie trotzdem getragen. Der Arbeits-platz war dunkel, und die Stunden waren lang, und die Arbeit war eine stumpfsinnige Plackerei, aber damals haben die Chefs sich noch um uns gekümmert. Wenn die Schleuder zu-sammenbrach, dann standen Don und Ray zusammen mit uns anderen mit aufgerollten Hemdsärmeln im Waschraum und halfen, die Wäsche mit der Hand auswringen. So war das damals in einem Familienbetrieb, Vinnie.

Als Ralph also gestorben war und Ray Tarkington mir sagte, daß ich seinen Job nicht kriegen könne, weil er ihn schon jemand anderem gegeben hätte, da hatte ich keine Ahnung mehr, was eigentlich los war, und dann sagte Ray plötzlich zu mir: Mein Vater und ich möchten, daß du wieder aufs College gehst. Und ich sage, großartig - und wovon?

Busmarken? Und er gibt mir einen Scheck über zweitausend Dollar. Ich schau’ ihn mir an und kann kaum glauben, was ich sehe. Ich sage, was ist das? Und er antwortet, ich weiß, das reicht nicht, aber ich bezahle deine Studiengebühren, dein Zimmer und deine Bücher. Den Rest kannst du dir dann im Sommer hier verdienen, einverstanden? Und ich frage ihn, ob es eine Möglichkeit gibt, ihm dafür zu danken. Und er antwortet, ja, drei Möglichkeiten. Erstens den Kredit zurückzahlen, zweitens die Zinsen bezahlen, drittens das, was ich gelernt habe, wieder in den Betrieb einbringen. Ich habe den Scheck mit nach Hause genommen und Mary gezeigt, und sie hat geweint. Hat einfach die Hände vors Gesicht geschlagen und geweint.«

Vinnie sah ihn jetzt völlig verdutzt an.

»Also bin ich 1955 wieder auf die Schule gegangen und habe 1957 meinen Abschluß gemacht. Danach bin ich zurück in die Wäscherei, und Ray machte mich zum Chef der Fahrer. Da habe ich dann neunzig Dollar die Woche verdient. Als ich meine erste Kreditrate abbezahlte, hab’ ich ihn gefragt, wie hoch die Zinsen seien. Er antwortet, ein Prozent. Was? frage ich, und er sagt, du hast richtig gehört. Hast du nichts zu tun? Daraufhin sage ich, doch, ich glaube, ich gehe mal lieber in die Stadt und hole einen Arzt, um deinen Kopf untersuchen zu lassen. Ray bekommt einen Lachanfall und sagt, ich soll zusehen, daß ich aus seinem Büro verschwinde. Die letzte Rate habe ich 1960 bezahlt, und weißt du was, Vinnie? Er hat mir eine Uhr geschenkt. Diese Uhr hier.«

Er zog seine Manschette zurück und zeigte Vinnie seine Bulova mit einem goldenen Stretcharmband.

»Er nannte es ein verspätetes Geschenk zürn, Collegeab-schluß. Ich habe nur zwanzig Dollar Zinsen für meine Ausbildung bezahlt, und der Teufelskerl schenkt mir eine Uhr im Werte von achtzig Dollar. Auf der Rückseite ist eine Gravur: Die besten Wünsche von Don & Ray. Die Blue Ribbon Wäscherei.

Don war damals schon ein Jahr tot.

1963 hat Ray mir dann deinen Posten zugeteilt. Ich sollte ein Auge auf die chemische Reinigung haben, ein neues Buchhaltungssystem einführen und die Zweigstellen beauf-sichtigen - doch damals waren es nur fünf, nicht elf. Das machte ich bis 1967, bis Ray mir meinen jetzigen Job gab. Vor vier Jahren mußte er dann verkaufen. Du kennst die Geschichte, du weißt, wie die Scheißkerle ihn unter Druck gesetzt haben. Es hat ihn zu einem alten Mann gemacht. Heute gehören wir also zu einer Gesellschaft, die außer uns noch ein Dutzend weitere Eisen im Feuer hat - Schnellimbißrestaurants, den Ponderosa-Golfclub, diese drei Schandflecken, die Discountsupermärkte, die Tankstellen und all dieser Mist. Und dieser Steve Ordner ist nichts weiter als ein hochgejubelter Vorarbeiter. Irgendwo in Chicago oder Gary gibt es einen Verwaltungsrat, der sich vielleicht eine Viertelstunde pro Woche mit dem Blue Ribbon befaßt. Denen ist es scheißegal, was es heißt, eine Wäscherei zu leiten. Sie haben nicht die geringste Ahnung davon. Alles, was sie verstehen, ist der Bericht des Buchhalters. Und dieser Bericht sagt ihnen, hört zu, Leute, der 784-Zubringer, der im Westend gebaut wird, führt direkt über die Wäscherei und die Hälfte des dortigen Wohnbezirks. Und die Direktoren antworten, ah, ja? Wieviel zahlt die Stadt für das Grundstück? Und das war’s dann. Himmel, wenn Don und Ray Tarkington noch am Leben wären, würden sie die verdammten Stadtabgeordneten vor Gericht zerren und ihnen so viele Beschränkungen auferlegen, daß sie erst im Jahr 2000 mit den Verhandlungen fertig sein könnten. Sie würden ihnen mächtig einheizen. Kann sein, daß sie ein paar gottverdammte, patriarchalische Bastarde gewesen sind, aber sie hatten wenigstens noch Sinn für den Betrieb, Vinnie. Und das kann man aus einem Buchhalterbericht nicht herauslesen. Wenn sie noch am Leben wären und jemand ihnen erzählte, daß die Straßenbaubehörde plant, eine achtspurige Asphaltwüste aus ihrer Wäscherei zu machen, dann hätten sie einen Schrei ausgestoßen, den man bis zum Rathaus gehört hätte.«

»Sie sind aber tot«, bemerkte Vinnie.

»Ja, sie sind tot.« Er fühlte sich plötzlich müde und frustriert. Was immer er Vinnie hatte klarmachen wollen, irgendwo war es im Wust seiner persönlichen Erinnerungen untergegangen. Er war verlegen. Sieh ihn dir an, Freddy, er versteht überhaupt nicht, wovon ich rede. Hat nicht die geringste Ahnung. »Gott sei Dank sind sie nicht hier, um das mitansehen zu müssen.«

Vinnie antwortete nichts.

Mit aller Kraft riß er sich zusammen. »Ich versuche die ganze Zeit, dir zu sagen, daß sich hier zwei Gruppen gegenüberstehen, Vinnie. Auf der einen Seite sind wir, die Wä-

schereileute. Das ist unser Geschäft. Auf der anderen sind die Buchhalter. Das ist ihr Geschäft. Sie schicken uns von oben ihre Befehle herunter, und wir haben sie auszuführen.

Aber das ist auch alles, was wir zu tun haben. Hast du mich verstanden?«

»Klar, Bart«, sagte Vinnie, aber es war ihm anzusehen, daß er überhaupt nichts verstand. Er war sich nicht einmal sicher, ob er selbst noch wußte, worum es ging.

»In Ordnung«, sagte er, »ich werde mit Ordner reden.

Nur zu deiner Information, Vinnie, die Waterford-Fabrik ist genauso gut wie unser jetziges Gebäude. Ich werde den Vertrag am kommenden Dienstag unter Dach und Fach bringen.«

Vinnie lächelte erleichtert. »Jesus, das ist großartig.«

»Ja, ich habe alles unter Kontrolle.«

Als Vinnie hinausging, rief er hinter ihm her: »Du sagst mir dann, wie das deutsche Restaurant ist, in Ordnung?«

Vinnie schenkte ihm sein Lächeln Nr. 1, breit und strahlend, volle Kraft voraus. »Aber natürlich, Bart!«

Dann war Vinnie verschwunden, und er betrachtete die geschlossene Tür. Ich hab’s vermasselt, Fred. Ich finde, du warst gar nicht so schlecht, Georgie. Zum Schluß hast du ein bißchen den Faden verloren, aber es passiert nur in Büchern, daß man seine Rede gleich auf Anhieb richtig hinkriegt. Nein, ich habe Scheiße gebaut. Er ist mit dem Gedanken hier rausgegangen, daß bei Barton Dawes ein paar Schrauben locker sitzen. Verdammt noch mal, er hat recht.

George, Ich muß dich mal was fragen. Von Mann zu Mann sozusagen. Nein, schalte mich nicht gleich wieder ab.

Warum hast du dir die Waffen gekauft, George? Warum hast du das getan?

Päng, die Sicherung sprang raus.

Er ging ins Erdgeschoß und gab Ron Stone die Vertretermappe. Als er zurückging, hörte er, wie Ron Dave zubrüllte, er solle mal rüberkommen, vielleicht sei etwas dabei, das sie brauchen könnten. Dave verdrehte die Augen.

Natürlich war etwas dabei. Arbeit.

Er ging wieder in sein Büro und rief Ordner an in der Hoffnung, daß er schon zum Mittagessen sei. Doch heute gab es keine Mittagspause. Die Sekretärin stellte ihn sofort durch.

»Bart!« rief Steve Ordner. »Es ist immer schön, ein bißchen mit Ihnen zu plaudern.«

»Geht mir genauso. Ich habe heute vormittag ein bißchen mit Vinnie Mason geplaudert. Er deutete an, daß Sie sich ein wenig Sorgen wegen der Waterford-Fabrik machen.«

»Großer Gott, nein. Aber ich denke, wir sollten uns vielleicht am Freitag abend über ein paar Dinge unterhalten.«

»Ja, deswegen rufe ich an. Mary kann leider nicht kommen.«

»Oh?«

»Sie hat eine Virusinfektion. Wagt sich keine fünf Meter vom Klo weg.«

»Sagen Sie ihr, wie leid mir das tut.«

Spar dir das, du billiger Heuchler.

»Der Arzt hat ihr Tabletten verschrieben, und es scheint ihr schon wieder besser zu gehen. Aber es könnte vielleicht ansteckend sein.«

»In Ordnung,. Bart, wann können Sie kommen? Um acht?«

»Ja, acht paßt mir gut.«

Na klar, verdirb mir ruhig den Freitagabendkrimi, du Mistkerl.

Was gibt’s sonst noch?

»Wie kommen Sie mit dem Waterford-Geschäft voran, Bart?«

»Ich finde, darüber sollten wir lieber persönlich sprechen, Steve.«

»In Ordnung.« Eine Pause. »Carla läßt grüßen. Und sagen Sie Mary, daß wir beide, Carla und ich …«

Klar, natürlich. Blah, blah, blah.

22. November 1973

Er fuhr völlig verschreckt im Bett hoch und warf dabei das Kopfkissen auf den Boden. Er hatte Angst, daß er vielleicht laut geschrien hätte, aber Mary schlief ruhig weiter. Ein stiller Hügel im anderen Bett. Die Digitaluhr auf dem Nachttisch zeigte 4:23 Uhr.

Mit einem Klick fiel die Ziffer für die nächste Minute herunter. Die liebe alte Bea in Baltimore, die gerade eine bewußtseinserweiternde Hydrotherapie machte, hatte ihnen die Uhr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt. Er hatte nichts gegen sie, aber an das Klicken beim Minutenwechsel hatte er sich nie gewöhnen können. 4:24 Klick, 4:25 Klick, man könnte verrückt dabei werden.

Er ging nach unten auf die Toilette, schaltete das Licht ein und pinkelte. Sein Herz schlug heftig in seiner Brust. In letzter Zeit pochte sein Herz immer wie eine Trommel, wenn er pinkelte. Willst du mir damit vielleicht etwas sagen, lieber Gott?

Er ging wieder ins Schlafzimmer zurück und legte sich ins Bett, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Im Traum hatte er sich herumgewälzt, und die Laken und Decken waren zu einem feindlichen Schlachtfeld geworden. Es gelang ihm nicht, sie wieder zurechtzuziehen. Auch schienen seine Arme und Beine vergessen zu haben, wie sie sich während des Schlafes plazieren sollten.

Den Traum konnte er sich leicht erklären. Keinen Schweißausbruch deswegen, Fred. Solange man wach war, konnte man den Sicherungstrick nur allzu leicht anwenden; man konnte ein Bild entwerfen, es Stück für Stück ausmalen und sich dabei vormachen, daß man das Gesamtbild einfach nicht sehen könne. Man konnte dieses Bild unter dem Boden seines Bewußtseins vergraben, aber dieser Boden hatte eine Falltür. Und wenn man schlief, sprang diese Falltür manchmal auf, und es krochen eigenartige Dinge aus der Dunkelheit hervor. Klick

4:42 Uhr.

Im Traum war er mit Charlie am Strand von Pierce gewesen.

(Komisch, als er Vinnie Mason diesen kurzen Abriß seiner Autobiographie gegeben hatte, hatte er Charlie dabei einfach ausgelassen. Das ist doch komisch, nicht wahr, Fred?

Nein, ich finde das gar nicht komisch, George. Ich auch nicht, Fred. Aber es ist spät. Oder, besser gesagt, es ist früh.)

Er war mit Charlie an dem langen weißen Strand gewesen, und sie hatten sich einen herrlichen Tag dafür ausgesucht - ein strahlend blauer Himmel, und die Sonne hatte wie einer dieser idiotischen SmiJey-Burtons auf sie heruntergelächelt. Die Leute hatten auf bunten Decken gelegen und sich von ebenso bunten Sonnenschirmen beschatten lassen.

Kleine Kinder waren mit ihren Plastikeimern durch die Brandung getrippelt. Auf einem vom Wasser ausgebleich-ten Holzturm hatte ein Rettungsschwimmer gesessen. Seine Haut war von der Sonne tief gebräunt, und seine Geschlechtsteile wurden von der knapp sitzenden weißen Badehose dermaßen betont, als wäre ihre Größe eine notwendige Voraussetzung für seine Aufgabe. Selbstsicher hatte er vor ihnen posiert, als wolle er jedermann wissen lassen, daß ihm nichts passieren könne, solange er da sei. Ein Transistorradio hatte geplärrt, und er konnte sich sogar jetzt noch an die Rock ‘n’ Roll-Melodie erinnern:

Aber ich mag das schmutzige Wasser,

Ohhh, Boston, du bist meine Heimat.

Zwei Mädchen waren in ihren Bikinis vorbeigeschlendert.

Sie schienen sich in ihren hübschen, frühreifen Körpern, die nie für ihn, sondern immer nur für ihre imaginären Freunde bestimmt waren, wohl und sicher zu fühlen. Beim Vorbeigehen wirbelten sie mit ihren Zehen den feinen Sand auf.

Es war ganz seltsam, Fred, denn die Flut kam. Aber in Pierce gibt es keine Flut, denn der Ozean ist über neunhundert Meilen weit entfernt.

Er baute mit Charlie zusammen eine Sandburg. Aber sie hatten zu nahe an der Brandung mit ihrem Bau angefangen, und die Flutwellen kamen näher und näher.

Wir müssen die Burg nach hinten versetzen, Dad, hatte Charlie gesagt, aber er war stur geblieben und hatte weitergebaut. Als das Wasser den ersten Burgwall erreicht hatte, grub er mit den Fingern eine Mulde und spaltete den nassen Sand wie die Scheide einer Frau. Das Wasser stieg immer höher.

Verdammt noch mal! brüllte er das Wasser an.

Und dann baute er den Wall neu auf. Eine Welle zerstörte ihn wieder. Die Leute um ihn herum fingen an zu schreien.

Einige rannten aufgeregt hin und her. Der scharfe Pfiff des Rettungsschwimmers zerschnitt die Luft wie ein silberner Pfeil. Er mußte die Burg retten. Aber das Wasser war nicht aufzuhalten, es umspülte seine Knöchel, brach einen Turm ein, dann das Dach, die Rückwand der Burg, schließlich fiel alles in sich zusammen. Als die letzte Welle zurückschwappte, ließ sie nur noch den blanken Sand zurück, flach und glatt, braun und schimmernd.

Er hörte noch mehr Schreie. Jemand weinte. Er blickte auf und sah, wie der Rettungsschwimmer Charlie von Mund zu Mund beatmete. Charlies Körper war naß und bleich bis auf seine Lippen und Augenlider. Die waren blau. Sein Brustkorb bewegte sich nicht mehr. Der Rettungsschwimmer gab seine Versuche auf. Er blickte zu ihm auf. Er lächelte.

Er hat bis über den Kopf im Wasser gestanden, sagte der Rettungsschwimmer lächelnd. Wäre es nicht an der Zeit gewesen, daß Sie sich um ihn gekümmert hätten?

Er schrie: Charlie!, und dann war er aufgewacht und hatte Angst gehabt, daß er vielleicht wirklich geschrien hätte.

Lange Zeit lag er im Dunkeln, lauschte auf das Klicken der Digitaluhr und versuchte, nicht an den Traum zu denken.

Schließlich stand er auf und ging in die Küche, um ein Glas Milch zu trinken. Erst als er den Truthahn entdeckte, der auf einem Teller taute, fiel ihm wieder ein, daß heute Thanksgiving war und daß die Wäscherei geschlossen hatte. Er trank seine Milch im Stehen und betrachtete den ausgenommenen Truthahn nachdenklich. Seine Hautfarbe war ebenso bleich wie die Haut seines Sohnes vorhin im Traum. Aber Charlie war ja gar nicht ertrunken. Natürlich nicht.

Als er sich wieder ins Bett legte, murmelte Mary etwas, das er wegen ihrer schlaftrunkenen Stimme nicht verstand.

»Es ist nichts«, sagte er. »Schlaf weiter.«

Sie murmelte noch etwas.

»Schon gut«, sagte er in die Dunkelheit.

Sie schlief wieder ein.

Klick.

Es war jetzt fünf Uhr. Als er endlich einschlief, hatte die Morgendämmerung sich wie ein Dieb ins Zimmer geschlichen. Sein letzter Gedanke drehte sich um den Truthahn, der unter dem kalten Neonlicht auf dem Küchentisch lag und gedankenlos darauf wartete, daß man ihn verzehrte.


23. November 1973

Um fünf vor acht fuhr er seinen zwei Jahre alten LTD Stephan Ordners Auffahrt hinauf und parkte ihn hinter dessen flaschengrünem Delta 88. Das Haus war ein großzügig angelegtes Natursteingebäude, in gebührendem Abstand vom Hen-reid Drive. Es lag teilweise hinter einer hohen Ligusterhecke versteckt, von der allerdings jetzt, Ende Herbst, nur noch das Skelett übriggblieben war. Er war schon öfter hier gewesen und kannte sich drinnen ganz gut aus. Im Erdgeschoß befand sich ein riesiger, aus Feldsteinen gemauerter Kamin, und in den Schlafzimmern im Obergeschoß waren ein paar bescheidenere Feuerstellen, die alle funktionierten. Im Keller stand ein Brunswick-Billardtisch, und im Nebenraum hing eine große Leinwand für Steves Amateurfilme. Die Stereoanlage hatte er im letzten Jahr auf Quadrophonie ausbauen lassen.

Fotos von Ordners Basketballteam aus seiner Collegezeit schmückten die Wände - er war einen Meter sechsundneunzig groß und hielt sich gut in Form. Wenn er durch die Türen ging, mußte Ordner den Kopf einziehen, und vermutlich war er insgeheim stolz darauf. Vielleicht hatte er sogar die Türrahmen absichtlich niedriger machen lassen, damit er sich ducken mußte. Der Eßzimmertisch bestand aus einer gut zwei Meter achtzig langen, auf Hochglanz polierten Eichenplatte. Dazu passend eine wurmstichige Eichenkommöde, deren Oberfläche aufgrund von sechs oder acht Lackschich-ten strahlend glänzte. Am anderen Ende des Eßzimmers stand ein hoher Geschirrschrank, der - was meinst du, Fred? - gut zwei Meter hoch war. Ja, kommt ungefähr hin. Im Garten war ein Grill installiert, auf dem man gut und gerne einen unzerteilen Dinosaurier garen konnte. Und natürlich war da ein kleiner Golfplatz. Allerdings kein nierenförmiger Swimmingpool. Nierenförmige Swimmingspools galten mittlerweile als unmodern und waren ausschließlich der den Sonnengott Ra anbetenden Mittelklasse Kaliforniens vorbehalten. Die Ordners hatten keine Kinder, aber sie unterstützten ein koreanisches und ein südvietnamesisches Kind und be-zahlten einem Studenten aus Uganda die Collegeausbildung als Elektroningenieur, so daß er in sein Heimatland zurückgehen und dort Elektrizitätswerke bauen konnte. Sie waren Demokraten, und sie waren es wegen Nixon.

Er ging über den Plattenweg zur Haustür und läutete. Das Dienstmädchen öffnete ihm.

»Mr. Dawes«, stellte er sich vor.

»Ja, natürlich, Sir. Geben Sie mir bitte Ihren Mantel, Mr. Ordner ist in seinem Arbeitszimmer.«

»Danke.«

Er gab ihr seinen Mantel und ging an der Küche und dem Eßzimmer vorbei durch die Halle. Unterwegs warf er schnell einen Blick auf den riesigen Eßtisch und die Stephan-Ordner-Gedenkkommode. Der Teppich, mit dem die Eingangshalle ausgelegt war, endete vor dem Flur, und seine Schritte hallten jetzt auf dem schwarzweißen, gebohnerten Linoleumbelag wider.

Er erreichte die Tür zum Arbeitszimmer, die sich, wie erwartet, in dem Moment öffnete, als er nach dem Türknauf griff.

»Bart!« begrüßte Ordner ihn. Sie gaben sich die Hände.

Ordner trug eine braune Cordjacke mit Lederflecken an den Ellenbogen, eine olivfarbene Hose und burgunderrote Halbschuhe. Keine Krawatte.

»Hallo, Steve, wie stehen die Finanzen?«

Ordner stöhnte theatralisch. »Fürchterlich. Haben Sie sich in der letzten Zeit mal den Börsenmarktbericht angesehen?«

Er führte ihn ins Zimmer und schloß die Tür. Die Bürowände schmückten Bücherregale. Zu seiner Linken befand sich ein kleiner Kamin, in dem ein künstliches Feuer glimmte. In der Mitte des Raumes stand ein großer Schreibtisch, auf dem nur wenige Papiere lagen. Er wußte, daß sich irgendwo unter der Tischplatte eine elektrische IBM-Schreibmaschine verbarg, die per Knopfdruck wie ein schlüpfrig-schwarzes Torpedo an die Oberfläche gleiten würde.

»Wir rasen dem Abgrund zu«, sagte er.

Ordner verzog das Gesicht. »Das ist noch milde ausgedrückt. Daran ist nur Nixon schuld, Bart. Er findet für alles noch eine Verwendung. Als sie die Dominotheorie in Südostasien endlich zur Hölle geschickt haben, hat Nixon sie einfach übernommen und sie auf die amerikanische Wirtschaft übertragen. Was da drüben überhaupt nicht klappt, funktioniert hier großartig. Was trinken Sie?«

»Scotch on the Rocks.«

»Hab’ ich hier.«

Er ging zu einer versenkbaren Bar hinüber und holte eine Scotchflasche hervor, für die man selbst im Billigmarkt nur eine Handvoll Kleingeld auf seinen Zehndollarschein zurückkriegte. Er goß den Whisky über zwei Eiswürfel in einem Stamper und reichte ihn Bart. »Setzen wir uns doch.«

Sie ließen sich in den beiden Ohrensesseln nieder, die vor den Kamin gezogen waren. Wenn ich meinen Drink da reinschütte, fliegt das ganze Scheißding in die Luft, dachte er und hätte es fast getan.

»Carla kann heute abend leider auch nicht hier sein«, sagte Ordner. »Eine ihrer Gruppen veranstaltet eine Modenschau.

Sie wird dann weiter in irgend so ein Teenagercafé nach Norton gehen.«

»Ist die Modenschau da unten?«

Ordner war verwirrt. »In Norton? Himmel, nein, sie ist drüben in Rüssel. In diesen Slum würde ich Carla nicht einmal mit zwei Leibwächtern und einem Polizeihund gehen lassen.

Es gibt dort einen Priester … Drake heißt er, glaube ich. Ein starker Trinker, aber die kleinen Negerkinder lieben ihn. Er ist eine Art Verbindungsmann, ein Straßenpriester.«

»Oh.«

»Ja.«

Eine Minute blickten sie schweigend ins elektrische Feuer.

Er trank die Hälfte seines Scotch.

»Bei der letzten Aufsichtsratssitzung ist die Frage nach der Waterford-Fabrik aufgetaucht«, begann Ordner. »Mitte November. Ich muß gestehen, daß mir da ein wenig die Knie gezittert haben. Man hat mich … beauftragt herauszufinden, wie die Dinge stehen. Das ist keine Kritik an Ihrem Management, Bart …«

»Habe ich auch nicht angenommen«, unterbrach er ihn und nahm noch einen Schluck. Im Glas war nichts mehr übrig bis auf einen Rest Alkohol zwischen den Eiswürfeln. »Es ist mir immer ein Vergnügen, wenn unsere Arbeitsgebiete zusammenfallen, Steve.«

Ordner lächelte erfreut. »Also, wie sieht’s aus? Vinnie Mason sagte mir, daß der Handel noch nicht abgeschlossen sei.«

»Vinnie Mason muß irgendwo zwischen seinem Kopf und seinen Füßen einen blinden Fleck haben.«

»Dann ist also alles perfekt?«

»Ich bin dabei. Ich denke, daß ich den Vertrag am nächsten Freitag unterzeichnen werde, wenn nichts’ dazwischen kommt.«

»Man hat mir zu verstehen gegeben, daß der Makler Ihnen ein ziemlich günstiges Angebot gemacht hat, das Sie aber ausgeschlagen haben.«

Er sah Ordner an, stand auf und goß sich noch etwas Scotch nach. »Das haben Sie aber nicht von Vinnie Mason, oder?«

»Nein.«

Er kehrte zum Ohrensesssel und dem künstlichen Feuer zurück. »Ich nehme an, Sie werden mir nicht sagen, woher Sie das haben?«

Ordner breitete die Hände aus. »Das gehört zum Geschäft, Bart. Wenn ich etwas höre, muß ich es nachprüfen - selbst wenn meine persönliche und berufliche Kenntnis eines Mannes mir sagt, daß das völlig unsinnig ist. Das ist lästig, aber kein Grund, ein großes Theater daraus zu machen.«

Freddy, außer mir und dem Makler hat kein Mensch davon gewußt. Sieht so aus, als ob der gute alte Geschäftsmann Ordner ein bißchen rumgeschnüffelt hat. Aber das ist kein Grund, daraus ein großes Theater zu machen nicht wahr?

Richtig, George. Soll ich ihm meine Meinung geigen, Freddy? Bleib lieber cool, George. Und sei etwas vorsichtiger mit dem Feuerwasser.

»Das Angebot, das ich ausgeschlagen habe, belief sich auf vierhundertfünfzigtausend«, sagte er. »Nur der Ordnung halber, ist es das, was Sie gehört haben?«

»Ja, so ungefähr.«

»Und das ist für Sie ein vernünftiges Angebot?«

»Nun«, erwiderte Ordner und schlug die Beine übereinan-der, »ja, das ist es. Die Stadt hat die alte Wäscherei auf sechshunderttausend geschätzt, und die Heizkessel können direkt aus der Stadt versorgt werden. Natürlich haben wir da nicht viel Platz, um zu expandieren, aber die Jungs oben sind der Ansicht, daß die Hauptwäscherei sowieso schon ihre optimale Größe erreicht hat. Wir brauchen also keinen Extraplatz. Für mich sah es so aus, als würden wir unser Geld wieder herausbekommen, vielleicht sogar etwas Profit machen … aber das ist nicht die Hauptsache. Wir müssen einen neuen Standplatz finden, Bart, und das verdammt schnell.«

»Vielleicht haben Sie noch etwas anderes gehört?«

Ordner nahm die Beine wieder auseinander und seufzte.

»Ja, das stimmt. Ich habe gehört, daß Sie die vierhundertfünfzigtausend ausgeschlagen hätten und daß Thom McAn daraufhin fünfhunderttausend geboten hätte.«

»Ein Angebot, das der Makler nicht guten Gewissens akzeptierten kann.«

»Noch nicht, aber unsere Option läuft am Dienstag aus. Das wissen Sie.«

»Ja, das weiß ich, Steve. Lassen Sie mich drei oder vier Dinge dazu sagen, in Ordnung?«

»Schießen Sie los.«

»Also erstens, Waterford ist über drei Meilen von unseren Vertragsfirmen entfernt - das ist eine Durchschnittszahl. Unsere Betriebskosten steigen dadurch in schwindelnde Höhen. All unsere Motels liegen draußen an der Staatsautobahn. Aber was noch schlimmer ist, unsere Lieferzeiten werden sich beträchtlich verzögern. Das Holiday Inn und Hojo sitzen uns heute schon ständig im Nacken, wenn wir nur fünfzehn Minuten zu spät liefern. Wie wird das erst aussehen, wenn die Wagen sich drei Meilen durch den dichten Stadtverkehr kämpfen müssen?«

Ordner schüttelte den Kopf. »Bart, sie bauen die Autobahn gerade aus. Das ist doch der Grund, warum wir umziehen müssen, erinnern Sie sich? Unsere Jungs sagen, daß es kaum zu Verzögerungen bei der Auslieferung kommen wird.

Wenn die Ausbaustrecke erst mal fertig ist, wird es sogar noch schneller gehen. Außerdem haben die Motelgesellschaften schon einiges Land in Waterford und Rüssel erworben. Das ist genau dort, wo die neue Autobahn später sein wird. Wir werden unsere Position in Waterford eher verbessern als verschlechtern.«

Jetzt habe ich mir den Zeh angestoßen, Fred. Er sieht mich an, als ob ich völlig den Verstand verloren hätte. Das ist richtig, George. Kooorrreckt.

Er lächelte. »Na gut, den Punkt akzeptiere ich. Aber diese neuen Motels werden erst in einem, vielleicht erst in zwei Jahren fertig sein. Und wenn es mit der Energiekrise so weitergeht wie bisher …«

»Das ist eine politische Entscheidung, Bart«, unterbrach Ordner ihn matt. »Wir sind bloß die Fußsoldaten, die die Befehle ausführen.« Es kam ihm so vor, als wäre darin ein versteckter Vorwurf enthalten.

»Natürlich. Aber ich wollte auch meine Ansicht darlegen, der Vollständigkeit halber.«

»Gut. Aber Sie treffen keine politischen Entscheidungen, Bart. Ich möchte, daß Ihnen das klar ist. Wenn die Ölpipelines wirklich austrocknen und die Motels demzufolge ausfallen, werden wir das genauso hinnehmen wie alle anderen auch. Aber bis dahin überlassen wir diese Sorge lieber den Jungs da oben und machen unsere Arbeit weiter.«

Das war ein Tadel, Fred. Ja, das war es, George.

»Also gut, und jetzt weiter. Ich schätze, wir werden zweihundertfünfzigtausend Dollar in die Renovierung von Waterford stecken müssen, bevor wir auch nur ein sauberes Laken aus einer unserer Waschmaschinen ziehen können.«

»Was?« Ordner setzte sein Glas hart auf den Tisch.

Aha, jetzt habe ich einen wunden Nerv getroffen, Fred.

»Die Wände sind voller Hausschwamm. Das Mauerwerk ist an der Nord- und Ostseite fast zu Staub zerfallen. Und die Fußböden sind so schlecht, daß die erste voll arbeitende Waschmaschine im Keller landen würde.«

»Ist das sicher? Ich meine die zweihundertfünfzigtausend?«

»Ja. Wir brauchen eine völlig neue Außenmauer. Die Fußböden müssen oben wie unten vollkommen erneuert werden. Wir werden mindestens fünf Elektriker brauchen, die gut zwei Wochen beschäftigt sein werden, um die Anschlüsse zu verlegen. Die Fabrik hat nur einen Stromkreis für zweihunderttausend Volt. Wir brauchen aber fünfhundertfünfzig. Und da wir uns genau am entferntesten Ende sämtlicher Zweigstellen der Stadtwerke befinden, werden unsere Strom- und Wasserrechnungen über zwanzig Prozent steigen, das verspreche ich Ihnen. Mit der Stromrechnung können wir leben, aber ich muß Ihnen nicht erst sagen, was ein Anstieg der Wasserkosten um zwanzig Prozent für eine Wäscherei bedeutet.«

Ordner sah ihn entgeistert an.

»Vergessen Sie das, was ich über die Steigerung der Betriebskosten gesagt habe, das fällt nicht unter die Renovierungen. Also, wo war ich stehengeblieben? Die Fabrik muß auf fünfhundertfünfzig Volt umgestellt werden. Wir werden eine gute Alarmanlage und eine vollkommene Fernsehüberwachung brauchen. Ein neues Dach und, ach ja, ein neues Drainagesystem. An der Fir Street befinden wir uns auf hohem, trockenem Grund, aber der Grundwasserspiegel an der Douglas Street ist sehr hoch. Wir liegen da direkt in einer Senke. Die neue Drainage wird uns allein zwischen vierzig- und siebzigtausend Dollar kosten.«

»Himmel, warum hat Tom Granger mir nichts davon gesagt?«

»Er ist nicht mit mir hinausgefahren, um die Fabrik zu inspizieren.«

»Warum nicht?«

»Ich hab’ ihm gesagt, er solle in der Wäscherei bleiben.«

»Sie haben was?«

»An dem Tag war die Heizung ausgefallen«, erklärte er geduldig. »Bei uns stapelten sich die Aufträge, und wir hatten kein heißes Wasser. Tom mußte bleiben. Er ist der einzige, der mit diesem Boiler umgehen kann.«

»Verdammt noch mal, Bart, warum sind Sie dann nicht noch einmal an einem anderen Tag mit ihm hinausgefahren?«

Er trank sein Glas leer. »Ich hab’ nicht eingesehen, wozu.«

»Sie haben nicht eingesehen …« Ordner konnte nicht zu Ende reden. Er knallte sein Glas auf den Tisch und schüttelte den Kopf, als hätte er einen Schlag in den Magen gekriegt. »Bart, ist Ihnen klar, was es für Sie bedeutet, wenn Ihre Einschätzung falsch war und wir die Wäscherei aufgeben müssen? Das wird Sie Ihren Job kosten. Mein Gott, wollen Sie es denn wirklich darauf ankommen lassen, mit Ihrem Kopf unterm Arm zu Mary nach Hause zu kommen?

Wollen Sie das?«

Das würdest du nie verstehen, dachte er. Du würdest ja auch niemals einen Schritt tun, ohne mindestens sechsfach abgesichert zu sein und noch drei weitere Eisen im Feuer zu haben. Auf diese Art verschafft man sich vierhunderttau-send Dollar in Aktien und Wertpapieren, einen Delta 88 und eine Schreibmaschine, die wie ein Kastenteufel aus dem Schreibtisch hervorhüpft. Du dämlicher Mistkerl, ich könnte dich die nächsten zehn Jahre lang bescheißen. Vielleicht tu’ ich das sogar.

Er lächelte Ordner ins genervte Gesicht. »Mein allerletzer Punkt, Stew. Der Grund, warum ich mir keine Sorgen mache …«

»Was meinen Sie damit?«

Fröhlich fing er an zu lügen: »Thom McAn hat den Makler bereits wissen lassen, daß er an dem Projekt nicht mehr interessiert sei. Er hatte seine Jungs zur Inspektion rausgeschickt, und die haben Zeter und Mordio geschrien. Ich gebe Ihnen mein Wort, die Fabrik ist keine vierhundertfünfzigtausend Dollar wert. Wir haben also eine Neunzig-Tage-Option, die am Dienstag ausläuft. Und wir haben einen kleinen, schlauen Makler namens Monohan, der versucht hat, uns brutal zu bluffen. Fast war’s ihm gelungen.«

»Was schlagen Sie vor?«

»Ich schlage vor, daß wir die Option auslaufen lassen. Wir werden uns bis Donnerstag ganz ruhig verhalten. Sie werden mit Ihren Jungs von der Buchhaltungsabteilung über die zwanzig Prozent Kostensteigerung reden. Ich rede mit Monohan. Wenn ich mit ihm fertig bin, wird er vor mir auf den Knien rutschen und mir die Fabrik für zweihunderttausend anbieten.«

»Bart, sind Sie sich da ganz sicher?«

»Natürlich bin ich das.« Er lächelte verkniffen. »Ich würde meinen Kopf doch nicht in die Schlinge stecken, wenn ich wüßte, daß jemand sie zuziehen wird.«

George, was machst du da???

Halt die Klappe, laß mich in Ruhe.

»Wir haben hier einen superklugen Makler ohne Käufer vor uns«, fuhr er fort. »Wir können es uns leisten, uns Zeit zu lassen. Jeder weitere Tag, den wir ihn in der Luft hängen lassen, wird uns einen Preisvorteil verschaffen, wenn wir dann wirklich kaufen.«

»In Ordnung«, sagte Ordner gedehnt. »Aber lassen Sie mich eins klarstellen, Bart. Wenn wir die Option nach Ihrem Plan auslaufen lassen, und dann jemand anderer die Fabrik kauft, werde ich Sie aus dem Sattel schießen. Das ist nichts …«

»Ich weiß«, unterbrach Bart ihn. Er fühlte sich plötzlich sehr müde. »Das ist nichts Persönliches.«

»Bart, sind Sie sicher, daß Sie sich nicht Marys Virus aufgeschnappt haben? Sie sehen ein bißchen blaß aus.«

DM bist selber ganz schön blaß, Idiot.

»Mir wird es besser gehen, wenn ich das alles hinter mir habe. Es ist doch ein ganz schöner Streß.«

»Ja, sicher ist es das.« Ordner zauberte eine mitfühlende Miene auf sein Gesicht. »Fast hätte ich vergessen … Ihr Haus steht ja auch mitten in der Schußlinie.«

»Ja.«

»Haben Sie schon was Neues gefunden?«

»Na ja, wir haben so ein, zwei Häuser im Auge. Würde mich nicht überraschen, wenn ich den Waterford-Handel und meine persönliche Sache an ein und demselben Tag regeln würde.«

Ordner grinste. »Das wird wohl der erste Tag in Ihrem Leben sein, an dem Sie zwischen Sonnenauf- und -untergang über gut eine halbe Million Dollar verhandeln werden.«

»Tja, das wird ein ganz gewaltiger Tag werden.«

Auf dem Heimweg redete Freddy ununterbrochen auf ihn ein - er schrie ihn förmlich an -, und er mußte ständig die Sicherung raushauen. Gerade als er in die Crestallen Street einbog, brannte sie mit beißendem Gestank durch. All die lästigen Fragen überschwemmten ihn, und er trat mit beiden Füßen auf die Bremse. Der Wagen kam mit quietschenden Reifen in der Straßenmitte zum Stehen, und er wurde mit solcher Wucht in den Sicherheitsgurt geschleudert, daß es wie ein Schlag in den Magen war und er laut aufstöhnte.

Als er sich wieder unter Kontrolle hatte, ließ er den Wagen langsam an den Straßenrand rollen, schaltete den Motor ab und die Scheinwerfer aus, schnallte den Gurt ab und saß zitternd da. Seine Hände umklammerten das Lenkrad.

Von seinem Platz aus sah er, wie die Straße in einer sanften Kurve verlief und die Straßenlampen einen graziösen Bogen beschrieben. Es war eine hübsche Straße. Die meisten der Häuser waren in der Nachkriegsperiode zwischen 1946 und 1958 gebaut worden, aber auf wunderbare Weise dem eintönigen Baukastensyndrom der fünfziger Jahre entkommen und damit auch den Krankheiten, die dieser Baustil nach sich zog: abbröckelnde Fundamente, verblichene Rasenflächen, abblätternde Farbe, feuchte Garagen, Spielzeugeinrichtun-gen statt anständiger Möbel. Plastikrahmen für die Fenster.

Er kannte seine Nachbarn - warum auch nicht? Mary und er hatten über vierzehn Jahre in der Crestallen Street gewohnt. Das war eine lange Zeit. Die Upslingers in dem Haus neben ihnen; ihr Sohn Kenny hatte die Zeitung ausgetragen.

Die Längs auf der gegenüberliegenden Straßenseite; die Hobarts, die zwei Häuser weiter wohnten (Linda Hobart war Charlies Babysitter gewesen, jetzt studierte sie Medizin im City College); die Stauffers; Hank Albert, dessen Frau vor vier Jahren an einem Lungenemphysem gestorben war; die Darbys und nur vier Häuser entfernt von der Stelle, an der er jetzt saß und zitterte, die Quinns. Und noch ein Dutzend weitere Familien, die Mary und er auf der Straße grüßten - meistens Familien mit kleinen Kindern.

Eine nette Straße, Fred. Und nette Nachbarn. Oh, ich weiß, wie sehr die Intellektuellen diese Vorstädte verhöhnen - es ist hier nicht so romantisch wie in den von Ratten verseuch-ten Altbauwohnungen und nicht so gesund wie auf dem Lande. Aber was soll dieses Zurück-zur-Natur-Zeug? In der Vorstadt gibt es keine großen Museen, keine großen Wälder, keine Herausforderung.

Aber wir haben hier schöne Zeiten erlebt. Ich weiß, was du denkst, Fred, was sind schon schöne Zeiten? Sie beinhalten keine großen Freuden, keine außergewöhnlichen Leiden, einfach so die kleinen Dinge. Grillpartys in der sommerlichen Abenddämmerung, jeder ein bißchen high, aber keiner wirklich betrunken oder ausfällig. Fahrgemeinschaften, um sich das Spiel der Mustangs anzusehen. Diese dämlichen Musties, die es nicht einmal geschafft haben, die Pats zu schlagen, als die am schwächsten waren. Leute aus der Nachbarschaft zum Abendessen einladen oder selber eingeladen werden. Golf spielen drüben auf dem Westside-Golfplatz oder die Frauen in den Wagen packen und mit ihnen nach Ponderos-Pines fahren, um dort Wettrennen mit den kleinen Go-Karts zu veranstalten. Erinnerst du dich noch, wie Bill Stauffer mit seinem Go-Kart direkt durch den Absperrzaun gedüst und beim Nachbarn in den Swimmingpool gefallen ist? Ja, ich erinnere mich, George, wir haben uns vor Lachen alle die Hosen naß gemacht. Aber, George …

Also her mit den Bulldozern, Fred. Sollen sie das alles begraben. Bald, sehr bald, wird es eine neue Vorstadt geben, drüben in Waterford, wo bisher nur leeres, ödes Bauland zu finden ist. Der Lauf der Zeit. Fortschritt im Rückwärtsgang.

Milliarden-Dollar-Projekte. Was findet man also, wenn man’ mal rüberfährt und sich die Sache anschaut? Einen Haufen Kräckerschachteln, die alle mit verschiedenen Farben angemalt sind. Plastikrohre, die jeden Winter einfrieren. Plastikholz. Alles aus Plastik. Und das nur, weil Moe vom Straßenbauausschuß mit Joe von Joes Tiefbaufirma gesprochen hat, und Sue, die in Joes Vorzimmer arbeitet, hat es Lou von Lous Tiefbaufirma erzählt, und nun geht der große Waterford-Bauboom los. Bald werden auf dem Ödland große Wohnanlagen entstehen, Hochhäuser werden sich auftürmen und riesige Einkaufszentren die Gegend verschandeln. Du kriegst ein Haus an der Lilac Lane, die sich im Norden mit der Spain Lane und im Süden mit der Dain Lane kreuzt. Aber du kannst dir auch die Ulmenstraße, die Eichenstraße, die Zypressenstraße oder die Pinienstraße aussuchen. Jedes Haus hat unten ein großes Badezimmer und ein kleines Bad im ersten Stock. Und natürlich gibt es an jeder Ostseite einen falschen Kamin. Wenn du abends betrunken heimkommst, kannst du nicht mal dein eigenes verdammtes Haus wiederfinden.

Aber, George …

Sei still, Fred, jetzt rede ich. Und wo sind deine Nachbarn geblieben? Vielleicht war gar nicht soviel mit ihnen los, diesen Nachbarn, aber du wußtest wenigstens, wer sie waren.

Du wußtest, bei wem du dir eine Tasse Zucker ausleihen konntest, wenn deiner mal ausgegangen war. Wo sind sie nun? Tony und Alicia Lang sind nach Minnesota gezogen, weil er eine Versetzung beantragt und auch bekommen hat.

Die Hobarts sind nach Northside gezogen. Hank Albert hat ein neues Haus in Waterford gekriegt, das ist richtig, aber als er von der Vertragsunterzeichnung zurückkam, sah er aus, als hätte er sich eine fröhliche Maske aufgesetzt. Ich konnte es in seinen Augen sehen, Fred. Er wirkte wie ein Mann, dem man beide Beine abgeschnitten hat und der jetzt jedem vormacht, wie sehr er sich auf seine neuen Plastikbeine freut, weil die keine blauen Flecke mehr kriegen, wenn er sich irgendwo anstößt. Wir ziehen also um, und wo sind wir dann? Was sind wir dann? Zwei Fremde in einem fremden Haus inmitten von fremden Häusern. Genau das werden wir sein. Der Lauf der Zeit, Freddy. So ist das. Vierzig Jahre alt, warten auf die Fünfziger, warten auf die Sechziger. Warten auf ein nettes, sauberes Krankenhausbett und eine nette, saubere Krankenschwester, die einen netten, sauberen Katheter bei dir anbringt. Vierzig ist das Ende der Jugend, Freddy. Na ja, eigentlich ist dreißig das Ende der Jugend, aber mit vierzig hörst du auf, dir selber etwas vorzumachen. Ich will nicht in einem fremden Haus alt werden.

Er hatte wieder angefangen zu weinen. Er saß in seinem dunklen, kalten Wagen und weinte wie ein kleines Kind.

George, es ist doch mehr als nur die Autobahn, mehr als dieser Umzug. Ich weiß, was dir fehlt.

Halt die Klappe, Fred, ich warne dich.

Aber Fred wollte nicht mehr schweigen, und das war schlecht. Wenn er Freddy nicht mehr unter Kontrolle hatte, wie sollte er denn jemals Ruhe finden?

Es geht um Charlie, nicht wahr, George? Du willst ihn nicht noch ein zweites Mal beerdigen.

»Ja, es geht um Charlie«, sagte er laut, mit tränenerstickter Stimme. »Und es geht um mich. Ich kann nicht. Wirklich, ich kann nicht …«

Er senkte den Kopf und ließ den Tränen freien Lauf. Sein Gesicht verzerrte sich, und er preßte beide Fäuste auf die Äugen wie ein kleiner Junge, der durch ein Loch in seiner Hosentasche seinen Bonbongroschen verloren hatte.

Als er endlich weiterfuhr, fühlte er sich völlig erledigt. Ausgetrocknet. Leer, hohl und vollkommen ruhig. Er konnte sogar die dunklen Häuser am Straßenrand betrachten, aus denen die Leute schon ohne großes Geschrei ausgezogen waren.

Wir wohnen jetzt auf einem Friedhof, dachte er. Mary und ich, wir leben auf einem Friedhof. Genau wie Richard Boone in / Bury the Living. Bei den Arlins brannte noch Licht, aber sie würden am fünften Dezember ausziehen. Die Hobarts waren am letzten Wochenende weggegangen. Leere Häuser.

Als er seine eigene Auffahrt hinauffuhr (Mary war schon oben im Schlafzimmer, er sah den schwachen Schein ihrer Leselampe), mußte er plötzlich an etwas denken, das Tom Granger vor ein paar Wochen zu ihm gesagt hatte. Er würde mit Tom darüber reden. Am Montag.

25. November 1973

Er saß vor dem neuen Farbfernseher und sah sich das Spiel Mustangs gegen Chargers an. Er hatte sich dazu seinen Privatdrink gemixt, Southern Comfort mit Seven-Up. Privatdrink deshalb, weil die Leute ihn auslachten, wenn er ihn in der Öffentlichkeit trank. Die Chargers hatten einen Vor-sprung von 27 zu 3 im dritten Viertel. Rucker war dreimal abgefangen worden. Tolles Spiel, was Fred? Kann man wohl sagen, George, ich versteh’ gar nicht, wie du die Spannung aushältst.

Mary war oben und schlief. Übers Wochenende war es wieder wärmer geworden, und draußen fiel ein leichter Nieselregen. Er fühlte sich ebenfalls schläfrig. Er hatte schon drei Drinks gehabt.

Während der Spielpause zeigten sie einen Werbespot. Bud Wilkenson stand vor der Kamera und erzählte, daß die Energiekrise wirklich ein Unglück sei und daß jeder sein Dach ab-dichten, den Dachboden isolieren und die Luftklappe im Kamin immer geschlossen halten sollte, wenn er nicht gerade Marshmallows röstete oder Hexen verbrannte oder so was.

Der Nachspann gab bekannt, welche Firma die Reklame finanziert hatte. Ein glücklicher Tiger blinzelte über das Fir-menzeichen hinweg, auf dem EXXON stand. Eigentlich hätte jeder merken müssen, daß die mageren Zeiten anbrechen würden, als Esso seinen Namen in Exxon änderte, dachte er. Esso glitt einem leicht über die Lippen, ein Klang, der von einem in einer Hängematte ruhenden Mann stammen konnte. Exxon klang eher wie der Name eines Kriegsherren vom Planeten Yurir.

»Exxon fordert euch schwächliche Erdlinge auf, die Waffen fallen zu lassen«, sagte er. »Auf die Knie, ihr schwachen Erdlinge!« Er kicherte und mixte sich einen neuen Drink. Dazu brauchte er nicht aufzustehen; der Southern Comfort, die Limoflasche und ein Plastikschälchen mit Eiswürfeln standen auf einem Beistelltisch neben seinem Sessel.

Das Spiel ging weiter. Die Chargers schössen den Ball hoch. Hugh Fednach, der Fänger der Mustangs, erwischte ihn und rannte damit zum Außenrand des Spielfeldes. Hinter dem Rücken des stahläugigen Generals Hank Rucker, der die Heisman-Trophäe wohl bloß einmal in den Nachrichten gesehen hatte, gewannen die Mustangs sechs Meter. Gene Voreman schoß den Ball aus der Hand. Andy Crocker von den Chargers gab ihn an einen Spieler der Mustangs ab. Ja, so lief das, wie Kurt Vonnegut so raffiniert gesagt hatte. Er hatte alle Kurt-Vonnegut-Bücher gelesen. Sie gefielen ihm hauptsächlich, weil sie witzig waren. Letzte Woche hatte er einen Bericht in den Nachrichten gesehen: Die Schulbehörde einer Stadt in North Dakota, Drake hieß sie wohl, hatte mehrere Ausgaben von Vonneguts Slaughterhouse Five, dem Roman über die Bombardierung von Dresden, verbrennen lassen.

Wenn man darüber nachdachte, konnte man einen witzigen Zusammenhang sehen.

Fred, warum gehen diese Scheißkerle von der Straßenbaubehörde nicht nach Drake und bauen ihre blöde Autobahn da? Ich wette, das würde denen gefallen. Gute Idee, George, schreib doch mal einen Artikel darüber und schick ihn an den Blade! Ach laß mich in Ruhe, Fred!

Die Chargers punkteten und lagen jetzt mit 34 zu 4 vorn.

Einige Cheerleaders tänzelten am Spielfeldrand und wackelten mit ihren Hintern. Er fiel in einen Halbschlaf, und als Fred jetzt über ihn fiel, konnte er ihn nicht mehr abschütteln.

George, da du dir nicht mehr darüber im klaren zu sein scheinst, was du tust, werde ich es dir sagen. Laß mich ein paar Punkte klarstellen, alter Freund. (Hau ab, Fred!) Erstens, das Vorkaufsrecht für die Waterford-Fabrik läuft aus. Das wird Dienstag um Mitternacht der Fall sein. Am Mittwoch wird Thom McAn seinen Handel mit diesem schleimigen Miststück von einem Makler, Patrick J. Monohan, abschließen. Mittwoch nachmittag, spätestens Donnerstag vormittag wird ein großes Schild an der Fabrik auftauchen: VERKAUFT! Wenn das einer von der Blue-Ribbon-Wäscherei sieht, kannst du das Unvermeidliche noch ein wenig hinauszögern, indem du lächelnd sagst: Klar, verkauft an uns. Aber sobald Ordner das nachprüft, bist du geliefert. Vermutlich wird er das nicht tun. Aber (Freddy, laß mich in Ruhe!) am Freitag wird ein neues Schild an der Fabrik hängen:


WIR BAUEN UNSER NEUES WATERFORDWERK AUS

THOM MCAN SCHUHE

AUF GEHT’S, WIR SIND WIEDER DA!!!


Am Montag, am strahlenden, frühen Montagmorgen, wirst du deinen Job verlieren. Ja, so wie ich das sehe, wirst du noch vor deiner Zehn-Uhr-Kaffeepause arbeitslos sein. Dann fährst du nach Hause und erzählst es Mary. Ich weiß nicht genau, wann das sein wird. Die Busfahrt dauert nur eine Viertelstunde. Du könntest also voraussichtlich innerhalb von einer halben Stunde zwanzig Jahre Ehe und zwanzig Jahre erfolgreicher beruflicher Laufbahn beenden. Nachdem du es Mary gesagt hast, folgt die große Erklärungsszene. Du kannst sie noch etwas hinausschieben, indem du dich betrinkst, aber früher oder später …

Fred, ich warne dich!

Oder du sagst ihr, was niemand besser weiß als du, George. Du sagst ihr, daß der Profitspielraum der Blue-Ribbon-Wäscherei in letzter Zeit so eng geworden ist, daß die Buchhaltung einfach nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und sagen werden: Lassen wir das Ganze lieber, Jungs. Nehmen wir einfach das Geld von der Stadt und bauen wir einen neuen Supermarkt in Norton oder einen netten neuen Golfplatz draußen in Rüssel oder Crescent. Wir müssen sonst womöglich zuviel rote Tinte verbrauchen, nachdem dieser Hurensohn Dawes uns die Suppe nun mal so versalzen hat. Ja, das könntest du ihr erzählen.

Ach, fahr zu Hölle!

Aber das ist ja erst der erste Film, und leider sitzen wir in einer Doppelvorführung, nicht wahr? Teil zwei geht über die Leinwand, wenn du Mary erzählst, daß ihr kein Haus habt, in das ihr einziehen könnt, und daß es auch nie eins geben wird. Wie willst du ihr das eigentlich erklären?

Ich tu’ doch gar nichts!

Das stimmt, George, du bist einfach irgend so ein Kerl, der in seinem Ruderboot eingeschlafen ist. Um Gottes willen, George, geh am Montag zu Monohan und mach ihn zu einem unglücklichen Mann. Setz deine Unterschrift auf die gestri-chelte Linie. Du steckst sowieso schon in Schwierigkeiten, nachdem du Ordner am Freitag all diese Lügen aufgetischt hast. Aber du kannst noch mal davonkommen. Du hast dich, weiß Gott, doch auch früher schon oft genug aus der Scheiße gezogen.

Laß mich endlich in Ruhe, ich will schlafen!

Es ist Charlie, nicht wahr? Dies ist eine Art, Selbstmord zu begehen. Aber das ist nicht fair Mary gegenüber, George. Es ist niemandem gegenüber fair. Du bist …

Er fuhr senkrecht im Stuhl hoch und verschüttete seinen Drink. »Niemandem außer vielleicht mir selbst gegenüber.«

Und was ist mit den Gewehren, George? Was soll das?

Zitternd hob er das Glas auf und schenkte sich einen neuen Drink ein.

26. November 1973

Er war zum Mittagessen mit Tom Granger zu Nicky’s gegangen, einem kleinen. Restaurant, das drei Häuserblocks von der Wäscherei entfernt lag. Sie saßen in einer Nische, tranken Bier und warteten auf ihr Essen. Eine Jukebox spielte Good-bye Yellow Brick Road von Elton John.

Tom redete über das Mustang-Charger-Spiel, das die Chargers mit 37 zu 6 gewonnen hatten. Tom war in alle Sportteams der Stadt verliebt, und wenn eins verlor, konnte er sich furchtbar darüber aufregen. Eines Tages, dachte er, während er zuhörte, wie Tom das gesamte Mustang-Team Mann für Mann geißelte, eines Tages wird Tom Granger sich mit einer Rasierklinge ein Ohr abschneiden und es an den Generalmanager der Mannschaft schicken. Ein Verrückter würde sein Ohr wohl an den Trainer schicken, der sich dar-

über kaputtlachen und es am Kleiderspind oder am schwarzen Brett aufhängen würde. Aber nicht Tom, der würde es direkt an den Manager schicken, und der würde lange dar-

über nachgrübeln.

Eine Kellnerin in einem weißen Nylon-Hosenanzug brachte ihnen das Essen. Er schätzte ihr Alter auf dreihundert Jahre, eher noch dreihundertvier. Das gleiche galt für ihr Gewicht. Sie hatte ein kleines Schild über der linken Brusttasche:


GAYLE

Danke für Ihren Besuch

Nicky’s Restaurant


Tom hatte Roastbeef bestellt, das in einer braunen Sauce auf dem Teller schwamm. Er zwei Cheeseburger, die nicht durchgebraten sein sollten; aber er wußte, daß sie es doch sein würden. Er hatte schon öfter bei Nicky’s gegessen. Die 784-Autobahn verfehlte Nicky’s Restaurant um einen halben Häuserblock.

Sie aßen. Tom beendete endlich seine Tirade über das gestrige Spiel und erkundigte sich, wie weit .der Waterford-Handel gediehen und wie sein Gespräch mit Ordner verlaufen sei.

»Ich werde den Vertrag Donnerstag oder Freitag unterzeichnen«, sagte er.

»Ich dachte, die Option läuft am Dienstag aus?«

Er wiederholte noch mal die Geschichte von Thom McAn, der nun plötzlich doch nicht mehr an Waterford interessiert sei. Es machte keinen Spaß, Tom Granger zu belügen. Sie kannten sich schon seit siebzehn Jahren, und Tom war nicht besonders intelligent. Ihn zu belügen, war keine große Herausforderung.

»Oh«, sagte Tom nur, als er fertig war, und dann wurde über das Thema nicht mehr geredet. Tom schob sich ein Stück Roastbeef in den Mund und lächelte verschmitzt.

»Warum essen wir eigentlich hier? Der Fraß ist fürchterlich, und nicht einmal der Kaffee schmeckt. Selbst meine Frau kann besseren Kaffee kochen.«

»Ich weiß auch nicht«, antwortete er und nutzte die Gelegenheit. »Erinnerst du dich noch an das neueröffnete italienische Restaurant? Wir sind mal mit Verna und Mary hinge-gangen.«

»Ja, das war im August. Verna schwärmt heute noch von dem Ricotta … nein Rigatoni. Ja, so heißt das, Rigatoni.«

»Kannst du dich auch noch an den Mann erinnern, der am Nebentisch saß? So ein großer, fetter Kerl.«

Tom kaute nachdenklich und versuchte, sich zu erinnern.

»Groß … dick …« Er schüttelte den Kopf.

»Du hast gesagt, er wäre ein Verbrecher.«

»Ohhh.« Er riß die Augen auf, schob seinen Teller weg und zündete sich eine Herbert Tareyton an. Das Streichholz ließ er auf den Teller fallen, wo es in der Sauce schwamm. »Ja, richtig, Sally Magliore.«

»Heißt er so?«

»Ja, so heißt er. Großer Kerl mit dicken Brillengläsern. Ein neunfaches Kinn. Klingt wie die Spezialität eines italienischen Puffs, nicht wahr? Einäugiger Sally wurde er immer genannt, weil er auf einem Auge den grauen Star hatte. Er hat es vor drei oder vier Jahren in der Mayo-Klinik wegoperieren lassen … den Star, meine ich, nicht das Auge. Ja, mein Gott, er ist ein richtiger Gangster.«

»Was macht er so?«

»Was machen sie alle?« fragte Tom zurück und schnippte die Zigarettenasche auf seinen Teller. »Drogen, Mädchen, Glücksspiel, Schiebung, Kreditwucher. Und sie bringen sich gegenseitig um. Hast du es neulich in der Zeitung gelesen?

Sie haben hinter einer Tankstelle eine Leiche im Kofferraum eines Wagens gefunden. Sechs Schüsse im Kopf und die Kehle durchgeschnitten. Das ist doch nun wirklich lächerlich. Wozu muß ich einem Kerl, dem ich sechs Löcher in den Kopf geschossen habe, noch die Kehle durchschneiden? Organisiertes Verbrechen, das ist es, was der einäugige Sally be-treibt.«

»Hat er auch ein offizielles Geschäft?«

»Ja, ich glaube. Weit draußen im Industriegebiet hinter Norton. Er verkauft Gebrauchtwagen. Magliores Garantiert Neuwertige Gebrauchtwagen. In jedem Kofferraum liegt ‘ne Leiche.« Tom lachte und schnippte noch mehr Asche auf seinen Teller. Gayle kam an ihren Tisch und fragte, ob sie noch mehr Kaffee haben wollten. Beide bestellten noch eine Tasse.

»Ich hab’ heute die neuen Splinte für die Boilertür gekriegt«, sagte Tom. »Sie erinnern mich an mein Ding.«

»Oh, wirklich?«

»Ja, du solltest dir die Biester mal ansehen. Zwanzig Zentimeter lang und gut acht Zentimeter im Durchmesser.«

»Sag mal, du redest doch wohl nicht von meinem Ding, oder?« Sie lachten und redeten weiter übers Geschäft, bis es Zeit war zurückzugehen.

An diesem Nachmittag stieg er schon in der Barker Street aus dem Bus und ging zu Duncan’s, einer kleinen, ruhigen Bar in der Nachbarschaft. Er bestellte ein Bier und hörte sich eine Weile Duncans Gejammer über das gestrige Mustang-Spiel an. Ein Mann kam aus dem Hinterzimmer und informierte Duncan, daß der Flipperautomat kaputt sei. Duncan ging nach hinten, um sich den Schaden anzusehen. Er blieb sitzen, schlürfte sein Bier und schaute in den Fernseher. Eine Seifenoper. Zwei Frauen unterhielten sich mit leiser Weltuntergangsstimme über einen Mann namens Hank. Hank sollte vom College nach Hause kommen, und eine der beide Frauen hatte gerade herausgefunden, daß Hank ihr Sohn war. Das Ergebnis eines eher katastrophalen Experiments, das vor mehr als zwanzig Jahren nach dem Highschool-Abschlußball stattgefunden hatte.

Freddy versuchte, etwas zu sagen, aber er drehte ihm sofort den Hahn ab. Die Sicherung arbeitete wieder perfekt.

Schon den ganzen Tag hatte sie funktioniert.

Das stimmt, du idiotischer Schizo! brüllte Fred, und dann gab George ihm Saures. Kümmer dich um deine eigenen Angelegenheiten, Freddy. Du bist hier eine persona non grata.

»Natürlich werde ich es ihm nicht sagen«, flötete eine der Frauen im Kasten. »Wie kannst du von mir erwarten, daß ich es ihm mitteile?«

»Nun … sag’s ihm einfach«, antwortete die andere.

»Warum sollte ich es ihm sagen? Warum soll ich wegen einer Sache, die vor mehr als zwanzig Jahren passiert ist, sein ganzes Leben auf den Kopf stellen?«

»Willst du ihn etwa anlügen?«

»Ich werde ihm überhaupt nichts sagen.«

»Du mußt es ihm sagen.«

»Sharon, ich kann es mir nicht leisten.«

»Wenn du es ihm nicht sagst, Betty, dann werde ich es tun.«

»Diese bescheuerte Maschine ist total im Eimer«, erklärte Duncan, der gerade aus dem Hinterzimmer zurückkam. »Immer derselbe Ärger, seit ich sie aufgestellt habe. Und was jetzt? Jetzt muß ich diese beschissene Automatenfirma anrufen und zwanzig Minuten warten, bis die bescheuerte Sekretärin mich mit der richtigen Stelle verbindet. Einem Langweiler zuhören, der mir erklärt, wie beschäftigt sie alle gerade sind und daß er versuchen wird, mir bis Mittwoch jemanden herauszuschicken. Mittwoch! Am Freitag taucht dann endlich so ein Kerl bei mir auf, der sein Gehirn zwischen den Arschbacken sitzen hat, säuft für vier Dollar Freibier und erklärt nur, daß ich den Leuten sagen soll, sie sollen mit dem Ding nicht so rabiat umgehen. Und während er den Schaden repariert, macht er ein oder zwei andere Sachen kaputt, damit er in zwei Wochen wieder kommen kann. Die alten Automaten waren viel besser, gingen selten einmal kaputt. Aber das hier ist der Fortschritt. Wenn ich 1980 noch hier bin, werden sie den Flipper rausnehmen und einen Fickautomat aufstellen.

Willst du noch ein Bier?«

»Klar.«

Duncan ging, um das Bier zu zapfen. Er legte fünfzig Cents auf die Theke und schlenderte nach hinten zur Telefonzelle, die neben dem kaputten Automaten stand.

Er fand, was er suchte, in den gelben Seiten unter der Rubrik Automobile, neu und gebraucht. Der Eintrag lautete: MAGLIORES GEBRAUCHTWAGEN, Route 16, Norton, 892-4576.

Die Route 16 wurde zur Venner Avenue, wenn man nach Norton hineinfuhr. An diesem Abschnitt der Strecke konnte man alles finden, was die gelben Seiten nicht anboten.

Er steckte einen Zehner in den Schlitz und wählte die Nummer. Beim zweiten Läuten wurde der Hörer abgenommen, und er hörte eine Männerstimme: »Magliores Gebrauchtwagen.«

»Mein Name ist Dawes«, stellte er sich vor. »Barton Dawes. Kann ich Mr. Magliore sprechen?«

»Sal ist beschäftigt. Aber ich würde mich freuen, wenn ich Ihnen helfen kann. Pete Mansey.«

»Nein, ich muß mit Mr. Magliore sprechen, Mr. Mansey. Es geht um die beiden Eldorados.«

»Da haben Sie einen echten Ladenhüter«, wehrte Mansey ab. »Bis zum Jahresende nehmen wir keine großen Wagen mehr ab. Wegen der Energiekrise. Die verkaufen sich überhaupt nicht mehr. Also …«

»Ich will sie kaufen«, sagte er.

»Wie bitte?«

»Zwei Eldorados. Einer Jahrgang 70, der andere 72. Einer in gold der andere beige. Ich habe letzte Woche mit Mr. Magliore darüber gesprochen. Es ist eine geschäftliche Angelegenheit.«

»Oh, ja, richtig. Er ist im Augenblick wirklich nicht hier, Mr. Dawes. Um ehrlich zu sein, er ist in Chicago. Und er wird wohl kaum vor elf Uhr nachts zurück sein.«

Draußen hängte Duncan ein Schild an den Flipperautomaten:


AUSSER BETRIEB


»Wird er morgen da sein?«

»Ja, sicher. Geht es um eine Transaktion?«

»Nein, ich zahle bar.«

»Eine von unseren Spezialitäten?«

Er zögerte einen Moment: »Ja, genau. Wäre vier Uhr in Ordnung?«

»Ja, vier ist gut.«

»Vielen Dank, Mr. Mansey.«

»Ich sage ihm, daß Sie angerufen haben.«

»Ja, tun Sie das.« Er legte vorsichtig den Hörer auf. Seine Handflächen waren schweißnaß.

Merv Griffin plauderte wieder mit seinen Berühmtheiten, als er nach Hause kam. Heute war nichts mit der Post gekommen; ihm fiel ein Stein vom Herzen. Er ging ins Wohnzimmer. Mary trank ein heißes Gebräu mit Rum aus einer Teetasse. Neben ihr lag eine Familienpackung Tempotücher, und das ganze Wohnzimmer roch nach Eukalyptus.

»Bist du krank?« fragte er besorgt.

»Gib mir keinen Kuß«, sagte sie, und ihre Stimme klang wie ein entferntes Nebelhorn. »Ich hab’ mir ‘ne Erkältung geholt.«

»Armes Kind.« Er gab ihr einen Kuß auf die Stirn.

»Ich hasse es, dich darum bitten zu müssen, Bart, aber würdest du wohl heute abend einkaufen gehen? Ich war mit Meg Carter verabredet, aber ich mußte ihr leider absagen.«

»Natürlich. Hast du Fieber?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht. Ein bißchen.«

»Soll ich dir einen Termin bei Dr. Fontaine geben lassen?«

»Weiß nicht. Mach’ ich morgen, wenn’s mir nicht besser geht.

»Du hörst dich richtig verstopft an.«

»Ja. Die Tabletten haben ‘ne Weile geholfen, aber jetzt …« Sie zuckte die Achseln und lächelte traurig. »Ich klinge wie Donald Duck.«

Er zögerte einen Moment und sagte dann: »Morgen abend komme ich etwas später nach Hause.«

»Oh?«

»Ich fahre nach Northside raus, um mir ein Haus anzusehen. Scheint mir ganz gut zu sein. Sechs Zimmer, kleiner Garten, nicht weit von den Hobarts entfernt.«

Freddy sagte laut und deutlich: Na, hör mal, du gemeiner, dreckiger Hurensohn.

Marys Gesicht hellte sich auf. »Das ist ja wundervoll. Darf ich mitkommen?«

»Besser nicht. Mit der Erkältung?«

»Ich bin schon in Ordnung.«

»Das nächste Mal«, sagte er fest.

»Na gut.« Sie lächelte ihm zu. »Gott, bin ich froh, daß du endlich was unternimmst. Ich hab’ mir schon Sorgen gemacht.«

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«

»Ich weiß.«

Sie nahm einen Schluck von ihrem heißen Rumgetränk und kuschelte sich an ihn. Er konnte sie rasselnd ein- und ausatmen hören. Merv Griffin plauderte mit James Brolin über dessen neuen Film Westworld, der anscheinend bald bei aDen Herrenfriseuren des Landes gezeigt werden sollte.

Nach einer Weile stand Mary auf und schob das TV-Dinner in den Herd. Er stand ebenfalls auf und wechselte den Kanal, um sich eine Wiederholung von F Troop anzusehen. Er versuchte, nicht auf Freddy zu hören. Doch Freddy wechselte plötzlich das Thema.

Erinnerst du dich noch daran, wie ihr euren ersten Fernseher bekommen habt, Georgie?

Er lächelte und blickte durch Forrest Tucker auf dem Bildschirm hindurch. Und ob ich mich daran erinnere, Fred.

Sie waren eines Abends von den Upshaws nach Hause gekommen - das war gut zwei Jahre nach ihrer Heirat gewesen -, wo sie sich die Hitparade und Dan Fortune angesehen hatten. Mary hatte ihn gefragt, ob er nicht auch fände, daß Donna Upshaw ein wenig … na ja, ein wenig genervt gewirkt hätte. Heute abend, hier vor dem Fernseher sitzend, erinnerte er sich daran, wie schlank Mary damals gewesen war.

Er hatte ihr zum Sommerbeginn ein Paar weiße Sandalen geschenkt, in denen sie auf bezaubernde Weise größer wirkte.

Sie hatte weiße Shorts angehabt, und ihre langen, fohlenglei-chen Beine hatten so lang ausgesehen, als ob sie wirklich erst an ihrem Kinn enden würden. Es hatte ihn nicht weiter interessiert, ob Donna Upshaw nun genervt gewesen war oder nicht; er hatte mehr Interesse daran gehabt, Mary die Shorts vom Körper zu ziehen. Ja, das war ihm damals viel wichtiger gewesen - auch wenn das nicht sehr fein klingt.

»Vielleicht wird es ihr langsam ein bißchen zuviel, die halbe Nachbarschaft mit Erdnüssen zu versorgen, nur weil sie die einzigen in der Straße sind, die einen Fernseher besitzen«, hatte er ihr geantwortet.

Er nahm an, daß er daraufhin die kleine Falte zwischen ihren Augenbrauen gesehen hatte - diese besondere Linie, die immer bedeutete, daß Mary etwas ausbrütete. Zu dem Zeitpunkt waren sie schon halb die Treppe hinaufgestiegen, und seine Hand hatte sich liebkosend auf Marys engsit-zende Shorts gelegt - wie klein diese Shorts doch damals waren -, und erst viel später - danach - hatte sie zu ihm gesagt:

»Wieviel würde wohl so ein einfaches Tischmodell kosten, Bart?«

Im Halbschlaf hatte er geantwortet: »Hm, ich glaube, wir könnten einen Motorola für achtundzwanzig, vielleicht dreißig Dollar kriegen. Aber ein Philco -«

»Kein Radio. Einen Fernseher.«

Er hatte sich aufgesetzt, die Nachttischlampe angeknipst und sie fragend angesehen. Sie hatte nackt neben^ihm gelegen, die Bettdecke um die Hüfte geschlungen, und obwohl sie ihn angelächelt hatte, war ihm klar gewesen, daß sie es völlig ernst meinte. Es war ein herausforderndes Lächeln gewesen.

»Mary, wir können uns keinen Fernseher leisten.«

»Wieviel kostet ein Tischmodell, Bart? Ein GE oder ein Philco?«

»Neu?«

»Neu.«

Er dachte darüber nach, während er das Licht-und Schat-tenspiel auf ihren sanft geschwungenen Brüsten betrachtete. Sie war damals so viel schlanker gewesen (aber sie ist auch heute kaum dick zu nennen, George, wies er sich vorwurfsvoll zurecht; hab’ ich ja auch nie behauptet, Freddy, alter Junge), sie hatte viel lebendiger gewirkt. Sogar ihre Haare hatten vor Leben gesprüht und die Botschaft ausgesandt: lebendig, wach, offen …

»Um die siebenhundertfünfzig Dollar«, sagte er und nahm am. daß das ihr Lächeln ersticken würde … aber das tat es nicht.

»Sieh mal«, sagte sie und setzte sich in Indianermanier mit untergeschlagenen Beinen im Bett auf.

»Ich sehe«, antwortete er schmunzelnd.

»Das doch nicht.« Aber sie hatte ebenfalls gelacht. Eine sanfte Röte hatte sich über ihr Gesicht und ihren Hals ausgebreitet (aber sie hatte die Bettdecke nicht hochgezogen, wie er sich jetzt erinnerte).

»Worüber denkst du nach?«

»Warum wünschen Männer sich einen Fernseher?« fragte sie. »Um sich die Sportsendungen am Wochenende anzusehen. Und warum möchten Frauen gern einen Fernseher haben? Für die Seifenopern am Nachmittag. Man kann sie nebenbei ansehen beim Bügeln oder beim Ausruhen nach der Hausarbeit. Nehmen wir mal an, daß wir beide eine Beschäftigung finden - eine, für die wir bezahlt werden -, mit der wir die Stunden ausfüllen können, in denen wir sonst nur rumsitzen …«

»Ein Buch lesen, zum Beispiel, oder Liebe machen«, schlug er vor.

»Dafür werden wir immer Zeit finden«, sagte sie lachend und wurde rot. Ihre Augen verdunkelten sich im warmen Lampenlicht, das nun einen halbrunden Schatten auf ihre Brüste warf, und er wußte, daß er ihr nachgeben würde, daß er ihr sogar einen Zenith für fünfzehnhundert Dollar versprochen hätte, wenn er jetzt nur mit ihr Liebe machen könnte, und bei dem Gedanken spürte er, wie er steif wurde, wie die Schlange zu Stein wurde - das hatte Marys mal gesagt, als sie auf der Silvesterparty bei den Ridpaths zu viel getrunken hatte. (Und auch jetzt, achtzehn Jahre später, wurde die Schlange wieder zu Stein - aufgrund einer Erinnerung.)

»Na gut«, hatte er eingewilligt. »Ich werde also an den Wochenenden arbeiten gehen, und du wirst dir an den Nachmittagen etwas verdienen. Aber was, meine liebe/ gar-nicht-mehr-jungfräuliche Mary, werden wir tun?«

Sie hatte sich kichernd auf ihn geworfen, und ihre Brüste hatten sich sanft an seinen Bauch gepreßt (schön flach damals noch, Freddy, noch keine Anzeichen von Fett). »Das ist der Trick bei der Sache«, hatte sie gesagt. »Was haben wir heute? Den achtzehnten Juni?«

»Ja, richtig.«

»Gut. Du suchst dir einen Wochendjob, und am achtzehnten Dezember werfen wir unser Geld zusammen und …«

»… kaufen uns einen Toaster.«

»… kaufen uns einen Fernseher«, beendete sie den Satz feierlich. »Ich bin sicher, daß wir es schaffen, Bart.« Dann kicherte sie wieder. »Und das Lustigste daran ist, daß wir uns gegenseitig nicht erzählen werden, was wir machen. Erst hinterher.«

»Gut, solange ich kein rotes Licht über der Tür sehe, wenn ich morgen nach Hause komme«, kapitulierte er.

Sie umarmte ihn, legte sich auf ihn, fing an, ihn zu kitzeln.

Das Kitzeln ging in Liebkosungen über.

»Gib’s mir, Bart«, flüsterte sie an seinem Hals, griff nach ihm und streichelte ihn mit sanftem, ungeheuer aufregendem Druck, führte ihn zu sich. »Schenk ihn mir, Bart.«

Später, als er im Dunkeln lag, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, da fragte er nochmals: »Und wir werden uns nichts sagen, nicht wahr?«

»Nein.«

»Mary, ‘wie sind wir eigentlich darauf gekommen? War es das, was ich über Donna Upshaw und ihre Unlust, an die halbe Nachbarschaft Erdnüssse zu verteilen, gesagt habe?«

In ihrer Stimme lag kein Lachen mehr, als sie antwortete.

Sie klang eher gepreßt, ernst und ein kleines bißchen angsteinflößend: Ein schwacher Hauch von Winter in dieser warmen Juninacht in ihrer kleinen Wohnung im dritten Stock eines Altbaus ohne Fahrstuhl. »Ich mag nicht bei anderen Leuten schmarotzen, Bart. Und ich werde es nicht mehr tun. Nie wieder.«

Gut anderthalb Wochen hatte er sich Marys schrullige Idee durch den Kopf gehen lassen und sich gefragt, wie, zum Teufel, er seine Hälfte der siebenhundertfünfzig Dollar verdienen sollte (vermutlich sogar dreiviertel der Summe, wie er die Sache einschätzte), was er also während der nächsten zwanzig Wochenenden tun sollte. Er war ein bißchen zu alt dafür, in der Nachbarschaft für einen Vierteldollar den Rasen zu mähen. Und Mary hatte in letzter Zeit so einen bestimmten Blick - sie hatte sich sicher schon eine Arbeit besorgt oder war zumindest schon eifrig auf der Suche. Nimm lieber die Beine unter den Arm, Bart, hatte er zu sich gesagt und lauthals über sich selbst gelacht.

Das waren schöne Zeiten, nicht wahr, Fred? fragte er nun, während Forrest Tucker und die F Troop der Werbung wichen. Eine Cornflakes-Reklame, in der ein fröhlicher Hase allen Kindern predigte, daß diese Produkte nur für sie geschaffen seien. Das war es, George. Es waren verdammt schöne Zeiten.

Eines Tages, während er nach der Arbeit gerade seinen Wagen aufschließen wollte, fiel sein Blick auf den großen Fabrikschlot hinter der chemischen Reinigung, und da kam ihm die Idee.

Er steckte die Wagenschlüssel in die Tasche und ging noch einmal zurück, um mit Don Tarkington darüber zu reden.

Don lehnte sich in seinem Stuhl zurück, musterte ihn unter seinen buschigen Augenbrauen, die damals schon weiß wurden (genau wie die Härchen, die in Büscheln aus seinen Ohren wuchsen und aus seinen Nasenlöchern hervorlugten) und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Den Schornstein streichen«, sagte Don.

Er nickte.

»An den Wochenenden?«

Er nickte wieder.

»Paulschalpreis - dreihundert Dollar.«

Und wieder nickte er.

»Du bist verrückt.«

Er lachte lauthals.

Don lächelte sanft. »Nimmst du vielleicht Drogen, Bart?«

»Nein«, antwortete er. »Ich habe eine kleine Abmachung mit Mary.«

»Eine Wette?« Die buschigen Augenbrauen zogen sich in die Höhe.

»Ein bißchen eleganter als das. Sagen wir einfach, es ist eine Abmachung. Wie dem auch sei, Don, der Schornstein braucht Farbe, und ich brauche dreihundert Dollar. Was hältst du davon? Wenn du eine Firma engagierst, mußt du vierhundertfünfzig Dollar hinblättern.«

»Das hast du nachgeprüft?«

»Das habe ich nachgeprüft.«

»Du verrückter Kerl«, sagte Don und mußte nun auch herzlich lachen. »Du wirst dir den Hals dabei brechen.«

»Ja, das kann passieren«, antwortete er ebenfalls lachend (und heute, achtzehn Jahre danach, saß er vor seinem Fernseher, sah, wie der Werbehase den Nachrichten wich, und grinste wie ein Narr).

Und so kam es, daß er sich am Wochenende nach dem vierten Juli in zwanzig Meter Höhe mit einem Pinsel in der Hand und dem Hintern frei in der Luft hängend auf einem wackeligen Gerüst wiederfand. An einem Sonnabend nachmittag hatte dann ganz plötzlich ein Gewissersturm eingesetzt und mühelos, als handelte es sich um den Bindfaden einer Geschenkpackung, eins der Haltetaue gekappt. Fast wäre er abgestürzt, aber das Sicherheitsseil, das er sich um die Hüfte gebunden hatte, hatte ihn gehalten, und er hatte sich damit vorsichtig aufs Dach hinuntergleiten lassen. Sein Herz hatte geschlagen wie eine Trommel, und es war für ihn abgemacht, daß er nie wieder da hinaufklettern würde. Schon gar nicht für so einen lumpigen Fernseher. Aber er war wieder hinaufgestiegen. Nicht wegen des Fernsehers, sondern wegen Mary. Wegen des weichen Lampenlichtes auf ihren kleinen, aufwärts gebogenen Brüsten; wegen des herausfordernden Lächelns auf ihren Lippen und in ihren Augen - diesen dunklen Augen, die sich manchmal so wundervoll erhellten, die manchmal aber auch so dunkel wirkten wie der sommerliche Himmel vor einem Gewittersturm.

Anfang September war er mit seiner Arbeit fertig. Der Schornstein hob sich strahlend weiß vor dem blauen Himmel ab, ein Kreidestrich auf einer blauen Tafel, schlank und schön. Stolz betrachtete er sein Werk, als er sich die farbverschmierten Hände und Vorderarme mit Terpentin abschrubbte. Don Tarkington bezahlte ihn mit einem Scheck.

»Keine schlechte Arbeit«, war sein einziger Kommentar, »wenn man bedenkt, welcher Stümper sie ausgeführt hat.«

Er verdiente,sich weitere fünfzig Dollar, indem er Henry Chalmers Wohnzimmer mit Holz vertäfelte - Henry war damals Vorarbeiter in der Wäscherei - und Ralph Tremonts alten Bootsschuppen neu anstrich. Am achtzehnten Dezember setzten Mary und er sich wie zwei verfeindete, aber auf seltsame Art miteinander verbündete Pistolenhelden an ihren kleinen Eßzimmertisch, und er legte dreihundertneunzig Dollar in bar vor sie hin - er hatte das Geld auf einem Konto angelegt und noch Zinsen dazugewonnen.

Sie legte ganze vierhundertundsechzehn Dollar daneben, die sie umständlich aus ihrer Schürzentasche zog. Ihr Haufen war viel größer als seiner, denn er bestand hauptsächlich aus Ein- und Fünfdollarnoten.

Er riß die Augen auf und fragte verblüfft: »Himmel, Mary, wie hast du das geschafft?«

Lächelnd antwortete sie: »Ich habe sechsundzwanzig Kleider genäht, bei sechsundvierzig Kleidern den Saum rausgelassen, neunundvierzig Kleider kürzer gemacht; ich habe einunddreißig Röcke genäht; ich habe drei Mustertücher gehäkelt, vier Teppichbrücken geknüpft, fünf Pullover und zwei Decken gestrickt und ein vollständiges Set Leinentisch-tücher genäht; ich habe dreiundsechzig Taschentücher, zwölf Sets Handtücher und zwölf Sets Kopfkissenbezüge bestickt, und wenn ich schlafe, sehe ich immer noch all die Monogramme vor mir.«

Lachend streckte sie ihm ihre Hände entgegen, und zum ersten Mal bemerkte er die Hornhaut an ihren Fingerkuppen, die ihn an die harten Fingerkuppen eines Profigitarristen erinnerten.

»O Himmel, Mary«, sagte er heiser. »Sieh dir bloß mal deine Hände an.«

»Meinen Händen geht es gut«, sagte sie, und in ihren dunklen Augen tanzte ein fröhliches Licht. »Und du hast da oben auf deinem Gerüst unheimlich niedlich ausgesehen. Ich wollte mir schon eine Schleuder besorgen und mal sehen, ob es mir gelingt, dich auf den Hintern zu treffen …«

Er war brüllend aufgesprungen und hatte sie durchs Wohnzimmer ins Schlafzimmer gejagt. Wo wir dann den ganzen Nachmittag geblieben sind, wenn ich mich recht erinnere, Fred, alter Junge.

Sie stellten fest, daß sie nicht nur genug für ein Tischmodell zusammengebracht hatten; wenn sie vierzig Dollar drauflegten, konnten sie sich eine Fernsehtruhe leisten. Der Besitzer von John’s Fernsehgeschäft in der Innenstadt erzählte ihnen, daß RCA in diesem Jahr den Anschluß verpaßt hätte und langsam auf den Bankrott zuschlidderte. (Das Geschäft lag jetzt auch schon lange unter der 784-Autobahn begraben, genauso wie das Grand und all die anderen schönen Gebäude.) Er würde ihnen die Truhe gerne überlassen, wenn sie zehn Dollar wöchentlich …

»Nein«, sagte Mary entschieden.

John sah sie gequält an. »Lady, es handelt sich nur um vier Wochen. Bei solch geringen Raten riskieren Sie wohl kaum Ihren Hals.«

»Einen Augenblick«, sagte Mary und führte ihn in die vorweihnachtliche Kälte hinaus, die von der Weihnachtsmusik sämtlicher benachbarter Läden erfüllt war.

»Mary, er hat recht«, sagte er. »Es ist ja nicht so, daß …«

»Bart, das erste, was wir uns auf Kredit anschaffen, wird unser eigenes Haus sein.« Die schmale Falte zwischen ihren Augenbrauen war wieder erschienen.

Sie waren in den Laden zurückgegangen, und er hatte John gebeten: »Können Sie ihn für uns zurückstellen?«

»Ich denke schon - für eine Weile. Aber denken Sie daran, dies ist unsere Hauptgeschäftszeit, Mr. Dawes. Wie lange?«

»Nur übers Wochenende. Wir kommen Montag abend wieder.«

Dieses Wochenende hatten sie auf dem Land verbracht, in dicke Mäntel eingepackt, um sich gegen die Kälte und den Schnee, der dann doch nicht fiel, zu schützen. Sie waren langsam über die Feldwege gefahren, ein Sechserpack Bier für ihn and eine Flasche Wein für sie auf dem Rücksitz, hatten die Flaschen aufbewahrt und noch etliche mehr gesammelt. Säcke voller Bierflaschen, Sodaflaschen und so weiter.

Die kleinen brachten zwei Cents, die großen jeweils einen Nickel ein. Das ist ein verdammt schönes Wochenende gewesen, dachte Bart jetzt - Mary hatte ihr langes Haar offen hängen lassen, und es flatterte über den Kragen ihres Mantels ans Lederimitation. Ihre Wangen waren herrlich gerötet gewesen. Er sah sie immer noch vor sich, wie sie durch einen Graben voller Herbstlaub stiefelte und auf der Suche nach leeren Flaschen die Bläter aufwirbelte. Es hörte sich an wie das Prasseln eines Buschfeuers … dann das Klick, wenn der Stiefel gegen eine Flasche stieß, die sie dann triumphierend in die Höhe hob, ihm damit über die Straße zuwinkte und fröhlich lachte wie ein kleines Mädchen.

Heute gibt es leider keine Pfandflaschen mehr, George.

Heute heißt das Motto: Ex und hopp.

Am Montag haben sie dann Flaschen im Werte von einunddreißig Dollar zurückgegeben. Sie waren in vier verschiedene Supermärkte gegangen, um den Reichtum gerecht zu verteilen. Zehn Minuten vor Ladenschluß hatten sie dann wieder in Johns Geschäft gestanden.

»Ich habe immer noch neun Dollar zuwenig«, hatte er zu John gesagt.

John hatte schlicht einen Stempel BEZAHLT auf die Rechnung gedrückt und diese an die Fernsehtruhe geklebt.

»Fröhliche Weihnachten, Mr. Dawes. Ich hol’ nur schnell meinen Karren und helf’ Ihnen, das Ding hinauszuschaffen.«

Sie waren nach Hause gefahren, und ein aufgeregter Dick Keller aus dem ersten Stock hatte ihnen geholfen, die Truhe nach oben zu tragen. Dann hatten sie die ganze Nacht vor dem Fernseher gesessen, bis auch auf dem letzten Kanal die Nationalhymne gespielt wurde, und danach hatten sie sich vor dem Testbild geliebt. Beide mit rasenden Kopfschmerzen, weil ihre Augen völlig überanstregt waren.

Fernsehen war seitdem nie wieder so schön gewesen.

Mary kam herein und sah ihn mit dem leeren Scotchglas dasitzen und auf den Bildschirm starren.

»Dein Abendessen ist fertig, Bart«, sagte sie. »Möchtest du hier drinnen essen?«

Er blickte zu ihr hoch und fragte sich, wann er eigentlich das letzte Mal dieses herausfordernde Lächern auf ihren Lippen gesehen hatte … vor allem, seit wann diese schmale Falte zwischen ihren Augenbrauen sich als Dauergast eingestellt hatte, eine Runzel, eine Narbe, die ihr fortschreitendes Alter verkündete.

Man fragt sich ständig Dinge, deren Antwort man, um Himmels willen, niemals erfahren möchte, dachte er.

Warum, zum Teufel, ist das so?

»Bart?«

»Gehen wir ins Eßzimmer«, sagte er, stand auf und schaltete den Fernseher ab.

»Gut.«

Sie setzten sich, und er blickte trübe auf das Essen in seiner Aluminiumschachtel. Sechs kleine Abteile, die jeweils mit einer zusammengepreßten Masse gefüllt waren. Das Fleisch-stück war mit Sauce bedeckt. Er hatte den Eindruck, daß das Fleisch von TV-Dinners immer mit Sauce bedeckt sein mußte. Ohne würde es sich wohl nackt fühlen, dachte er und erinnerte sich an den Witz über Lome Green, der absolut unsinnig gewesen war: Junge, eines Tages erwisch’ ich dich mit einer Glatze.

Aber diesmal amüsierte er ihn nicht. Er jagte ihm eher Angst ein.

»Worüber hast du vorhin im Wohnzimmer gelächelt, Bart?« fragte Mary. Ihre Augen waren gerötet und ihre Nase war von der Erkältung ganz wund.

»Ich weiß es nicht mehr«, antwortete er und dachte einen Augenblick lang: Gleich werde ich schreien. Wegen all dieser verlorenen Dinge. Wegen deines Lächelns. Mary. Verzeih mir, wenn ich den Kopf in den Nacken werfe und lauthals schreie, weil ich nie wieder dein herausforderndes Lächeln sehen werde.

»Du hast sehr glücklich ausgesehen«, sagte sie.

Gegen seinen Willen - denn es war sein Geheimnis, und er glaubte, heute abend seine kleinen Geheimnisse zu brauchen, denn seine Gefühle waren so wund wie Marys Nase -, gegen seinen Willen erzählte er ihr also: »Ich dachte gerade daran, wie wir damals aufs Land gefahren sind und all die alten Flaschen aufgesammelt haben, um den Fernseher zu bezahlen. Die alte RCA-Truhe.«

»Ach das«, sagte Mary und schneuzte sich über ihrem Abendessen ins Taschentuch.

Im Supermarkt traf er zufällig Jack Hobart. Jacks Einkaufswagen war voller Konservendosen, eingefrorener Mahlzeiten und Bierflaschen. Eine Menge Bierflaschen.

»Jack!« sagte er. »Was machst du denn hier, so weit von zu Hause weg?«

Jack lächelte verlegen. »Ich habe mich noch nicht an den neuen Laden gewöhnt, deshalb dachte ich … dachte ich …«

»Wo ist Ellen?«

»Sie mußte nach Cleveland fliegen«, antwortete er. »Ihre Mutter ist gestorben.«

»Oh, das tut mir leid, Jack. Ging es so plötzlich?«

Sie standen im kalten Neonlicht inmitten der anderen Kunden, die einen Bogen um sie machen mußten. Aus versteck-ten Lautsprechern erklang sanfte Musik, altbekannte Schlager, die man doch nie richtig erkennen konnte. Eine Frau quetschte ihren vollen Einkaufswagen an ihnen vorbei. Sie zog ein schreiendes dreijähriges Kind in einem blauen Parka hinter sich her, dessen Ärmel mit Rotz und Tränen verschmiert war.

»Ja, ganz plötzlich«, sagte Jack Hobart. Er lächelte ausdruckslos und blickte in seinen Einkaufswagen hinab auf einen großen, gelben Sack mit der Aufschrift:


KATZENSTREU

Einmal gebrauchen und dann wegwerfen!

Hygienisch!




»Ja, ganz plötzlich. Sie hat sich schon lange ein bißchen schwach gefühlt, aber sie dachte, das käme noch von den Wechseljahren. Doch es war Krebs. Sie haben sie aufge-schnitten, einen Blick hineingeworfen, und sie gleich wieder zugenäht. Drei Wochen später war sie tot. Für Ellen ist das ganz schön hart. Ich meine, sie ist ja nur zwanzig Jahre jünger.«

»Ja.«

»Jetzt bleibt sie erst mal ‘ne Weile in Cleveland.«

»Ja.«

»Ja, ja.«

Sie sahen sich an und lächelten betreten bei dem Gedanken an den Tod.

»Wie ist es denn so da draußen in Northside?« fragte er.

»Ach, ich will dir die Wahrheit sagen, Bart. Die Leute sind nicht gerade freundlich.«

»Nicht?«

»Du weißt doch, daß Ellen in der Bank arbeitet?«

»Ja, klar.«

»Na ja, die Mädchen hatten früher eine Fahrgemeinschaft - Ellen hat jeden Donnerstag meinen Wagen gekriegt, an dem Tag war sie mit Fahren dran. In Northside gibt es ebenfalls eine Fahrgemeinschaft, aber die Frauen gehören alle einem bestimmten Club an. Und Ellen darf diesem Club erst beitreten, wenn sie mindestens ein Jahr in Northside gewohnt hat.«

»Mensch, Jack, das hört sich ja verdammt nach Diskriminierung an.«

»Ach, ich scheiß’ auf sie«, stieß Jack ärgerlich hervor. »Ellen würde diesem verdammten Club nicht beitreten, wenn sie auf Händen und Knien angekrochen kämen und sie darum bäten. Ich hab’ ihr einen eigenen Wagen gekauft, einen gebrauchten Buick. Sie ist ganz begeistert davon. Hätte ich schon vor zwei Jahren tun sollen.«

»Und wie ist das Haus?«

»Ganz in Ordnung.« Jack seufzte. »Aber der Elektrizitätsverbrauch ist groß. Du solltest mal unsere Stromrechnung sehen. Gar nicht so leicht für Leute, die ein Kind auf dem College haben.«

Sie traten unruhig von einem Fuß auf den anderen. Jacks Ärger war verflogen, und das betretene Lächeln kroch wieder in sein Gesicht. Er spürte, daß Jack wahnsinnig froh dar-

über war, jemanden aus der alten Nachbarschaft getroffen zu haben, und den Augenblick so lange wie möglich auskosten wollte. Plötzlich stellte er sich vor, wie Jack allein in dem neuen Haus umherschlich und den Fernseher laut auf-drehte, um wenigstens eine Art von Gesellschaft zu haben, während seine Frau sich über tausend Meilen entfernt um die Beerdigung ihrer Mutter kümmern mußte.

»Hör mal, warum kommst du nicht auf einen Sprung zu mir nach Hause?« fragte er. »Wir könnten ein paar Bierdosen aufmachen und uns anhören, was Howard Cosell über die nationale Football-Liga zu meckern hat.«

»He, das war’ großartig.«

»Ich will nur schnell Mary Bescheid sagen, wenn wir hier rauskommen.«

Er rief Mary an, und sie war einverstanden. Sie wollte sogar einen gefrorenen Kuchen in den Ofen stellen und sich dann ins Bett legen, damit sie Jack nicht mit ihrer Erkältung ansteckte.

»Wie gefällt es ihm da draußen?« fragte sie.

»Och, ich glaube, ganz gut, Mary. Ellens Mutter ist gestorben. Sie ist zur Beerdigung nach Cleveland geflogen. Krebs.«

»Oh, nein.«

»Deshalb hab’ ich mir gedacht, Jack könnte etwas Gesellschaft gebrauchen …«

»Ja, natürlich.« Sie zögerte einen Augenblick. »Hast du ihm gesagt, daß wir vielleicht bald wieder Nachbarn sein werden?«

»Nein«, antwortete er. »Das hab’ ich ihm nicht gesagt.«

»Das solltest du tun. Wird ihn vielleicht etwas aufmuntern.«

»Du hast recht. Wiedersehen, Mary.«

»Wiedersehen.«

»Nimm ein Aspirin, bevor du dich hinlegst!«

»Ja, mach’ ich.«

»Tschüs!«

»Tschüs! George.« Sie legte auf.

Er starrte auf das Telefon, und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. George nannte sie ihn nur, wenn sie sehr zufrieden mit ihm war. Fred-und-George war eigentlich ein Spiel, das Charlie sich ausgedacht hatte.

Er fuhr mit Jack nach Hause, und sie sahen sich das Spiel an. Sie tranken eine Menge Bier, aber es schmeckte ihnen nicht so recht.

Als Jack um Viertel nach zwölf in seinen Wagen stieg, um wieder nach Hause zu fahren, lächelte er trostlos zu ihm auf und sagte: »Es ist diese verdammte Autobahn. Die hat das alles kaputtgemacht.«

»Ja, das hat sie.« Er bemerkte, daß Jack plötzlich sehr alt aussah, und es machte ihm angst. Jack war ungefähr so alt wie er.

»Wir bleiben in Verbindung, Bart.«

»Ja, machen wir.«

Sie lächelten sich traurig zu, ein wenig betrunken, ein wenig krank. Er sah Jacks Wagen nach, bis die Rücklichter hinter dem kurvigen Hügel verschwanden.

27. November 1973

Er fühlte sich unausgeschlafen und hatte einen kleinen Kater von seinem gestrigen Gelage mit Jack. Das Rattern der Wäscheschleudern hallte laut in seinen Ohren wider, und beim Zischen der Hemdenpressen zuckte er jedesmal zusammen.

Aber Freddy war noch schlimmer. Er setzte ihm heute zu wie der Teufel selbst.

Nun hör mir mal zu, mein Junge, sagte Freddy zu ihm.

Heute ist deine letzte Chance. Du hast immer noch den ganzen Nachmittag Zeit, um Monohan in seinem Büro aufzusuchen. Aber wenn du bis fünf Uhr wartest, ist es natürlich zu spät.

Die Option läuft erst um Mitternacht aus.

Stimmt schon, aber gleich nach der Arbeit wird Monohan plötzlich das dringende Bedürfnis verspüren, einige Verwandte zu besuchen. In Alaska. Für ihn bedeutet das nämlich den Unterschied zwischen einer Fünfundvierzigtausend-Dollar-Kommission und fünfzigtausend Dollar sichere Einnahmen - der Preis für ein neues Auto. Für diese Art von leichtverdientem Geld braucht man keinen Taschenrechner.

Für diese Art von Geld würde man plötzlich Verwandte im Abwässersystem von Bombay entdecken.

Aber das war nun auch egal. Alles hatte sich schon zu weit entwickelt. Er hatte die Maschine schon zu lange ohne seine Aufsicht laufen lassen. Gebannt wartete er auf die unvermeidliche Explosion, ja, er war ganz begierig darauf. In seinem Bauch brummte und gurgelte es.

Den größten Teil des Nachmittags verbrachte er unten im Waschraum und sah zu, wie Ron Stone und Dave neue Waschmittel testeten. Es war ungeheuer laut hier unten, und der Lärm setzte seinem zarten Schädel ganz schön zu, aber es hielt ihn davon ab, auf seine Gedanken zu hören.

Nach der Arbeit holte er seinen Wagen vom Parkplatz - Mary hatte ihm den Wagen für den einen Tag gern überlassen, da er sich ihr neues Haus in Northside ansehen wollte - und fuhr durch die Stadt hindurch nach Norton hinaus.

In Norton waren viele Schwarze auf der Straße, die in Gruppen vor den Bars und an den Ecken herumlungerten.

Die Restaurants priesen verschiedene Arten von Soul-Essen an. Kinder hüpften und tanzten zwischen den Kreisen und Rechtecken hin und her, die sie mit Kreide auf den Bürgersteig gemalt hatten. Er beobachtete einen Protzwagen - einen riesigen, pinkfarbenen Eldorado -, der vor einem unauffälligen Apartmenthaus hielt. Der Mann, der ausstieg, war ein hochgewachsender Schwarzer mit einem weißen Pflanzerhut und einem weißen Anzug, der mit Perlmuttknöpfen geschmückt war. Dazu trug er flache schwarze Schuhe mit riesigen Goldschnallen an den Seiten, und in der Hand hielt er einen Malakka-Stock mit einem großen Elfenbeinknauf. Langsam und majestätisch schritt er um die Motorhaube seines Wagens herum, auf der ein Karibuge-weih aufmontiert war. Er hatte einen kleinen Silberlöffel an einer Kette um den Hals hängen, der in der schwachen Herbstsonne aufblinkte. Im Rückspiegel beobachtete er, wie die Kinder auf diesen Mann zurannten, um Süßigkeiten zu erbetteln.

Neun Häuserblocks weiter wurde die Besiedelung dünner. Er fuhr an morastigen, unbebauten Feldern vorbei, wo der Boden immer noch weich und matschig war. Zwischen Erdhaufen standen ölige Pfützen, auf deren Oberfläche sich ein trüber Regenbogen widerspiegelte. Zu seiner Linken entdeckte er ein Flugzeug am Horizont, das gerade zur Landung ansetzte.

Jetzt befand er sich auf der Route 16, die durch die Außenbezirke zwischen Innenstadt und Stadtgrenze führte. Er kam an einem McDonalds vorbei, dann an Sheakey’s und Nino’s Steakhaus. Er kam an einer Eisdiele vorbei und am Noddy-Time-Motel, das für diese Saison schon geschlossen hatte. Dann folgte das Nortoner Autokino, dessen riesige Anzeigentafel verkündete:


Frei - Sam - Sonn

RASTLOSE FRAUENZIMMER

EINIGE KAMEN GERANNT PORNO

EIGHT-BALL


Er kam an einer Bowlingbahn vorbei und an einem Golfplatz, der ebenfalls schon geschlossen hatte. Tankstellen - zwei davon hatten Schilder aufgestellt:


TUT UNS LEID, KEIN BENZIN MEHR


Es dauerte noch vier Tage, bis sie ihre Dezemberrationen bekamen. Er empfand kein Mitleid für dieses Land als Ganzes, das in diese Science-fiction-artige Ölkrise geschliddert war - dieses Land hatte seine Benzinvorräte zu lange vergeudet, um von ihm noch Sympathie erwarten zu können -, aber die kleinen Leuten taten ihmn leid, die sich ihren Schwanz plötzlich in der großen Drehtür eingeklemmt hatten.

Eine Meile weiter fand er endlich Magliores Gebrauchtwagenhandlung. Er wußte nicht, was er erwartet hatte, aber irgendwie war er enttäuscht. Der Ort erinnerte ihn an miese Nacht-und-Nebel-Geschäfte. Die Wagen standen aufgereiht mit den Motorhauben zur Straße unter durchhängenden Leinen, an denen bunte Fähnchen - rot, gelb, blau, grün - im Wind flatterten. Die Leinen waren zwischen Laternenpfo-sten gespannt, die den Platz nachts beleuchteten. Die Windschutzscheiben waren mit den Preisen und Werbelogans beschmiert:


795$

LÄUFT NOCH GUT

UND

55$

GUTER TRANSPORTER! und ein staubiger, alter Valiant mit flachen Reifen und zerbrochener Windschutzscheibe:


75$

SONDERANGEBOT


Ein Verkäufer in einem graugrünen Overall stand vor einem Jungen mit einer roten Seidenjacke und nickte und lächelte unverbindlich, während der Kleine auf ihn einredete. Sie verhandelten über einen blauen Mustang, dessen Kotflügel von Krebs zerfressen war. Der Junge wurde heftig und schlug mit der flachen Hand gegen die Fahrertür.

In kleinen Wolken wirbelten Staub und Rost auf. Der Verkäufer zuckte die Achseln und lächelte weiter unverbindlich. Der Mustang stand einfach da und wurde noch ein bißchen älter.

In der Mitte des Platzes befand sich eine Kombination von Garage und Büro. Er parkte den Wagen davor und stieg aus. In der Garage entdeckte er eine Hebebühne, auf der sich im Augenblick ein alter Dodge mit gigantischen Kotflügeln befand. Unter ihm trat gerade ein Mechaniker hervor, der vorsichtig den Auspuff in beiden ölverschmierten Händen hielt, als handelte es sich um einen Kelch.

»Mr., da können Sie nicht parken. Sie stehen direkt in der Ausfahrt.«

»Wo kann ich ihn dann abstellen?«

»Fahren Sie ihn ums Haus herum, wenn Sie ins Büro wollen.«

Er fuhr den LTD auf den Hinterhof, wobei er sich vorsichtig einen Weg zwischen der Wellblechwand der Garage und den abgestellten Wagen bahnte. Hinter der Garage schaltete er wieder den Motor ab und stieg aus. Ein kalter, scharfer Windstoß ließ ihn zusammenfahren. Er kniff die Augen zu sammen, um die Tränen zurückzuhalten.

Hier hinten befand sich der Autofriedhof. Er erstreckte sich meilenweit und bot einen merkwürdigen Anblick. Die meisten Wagen waren ausgeschlachtet und standen auf den nackten Radhalterungen oder auf ihren Achsen. Sie wirkten wie die Opfer einer schrecklichen Seuche, noch zu ansteckend, um in ein Massengrab geworfen zu werden.

Die Fenster starrten ihn mit ihren leeren Scheinwerferfas-sungen verzückt an.

Er ging wieder nach vorn. Der Mechaniker baute gerade den neuen Auspuff ein. Zu seiner Rechten balancierte eine offene Colaflasche auf einem Stapel Autoreifen.

Er rief dem Mechaniker z.u: »Ist Mr. Magliore da?« Wenn er mit Werkstattleuten sprach, fühlte er sich immer wie ein Arschloch. Er hatte sich vor vierundzwanzig Jahren seinen ersten Wagen gekauft, und doch fühlte er sich immer noch wie ein pickeliger Teenager, wenn er mit Mechanikern verhandelte.

Der Mann blickte über seine Schulter, während er weiter mit dem Schraubenzieher hantierte: »Ja, Mansey und er. Sind beide im Büro.«

»Danke.«

»Bitte.«

Er ging ins Büro. Die Wände waren mit Fichtenholzimitation getäfelt, und der Boden war mit schmuddeligen, abwechselnd roten und weißen Linoleumplatten ausgelegt. Zwei alte Stühle standen herum, zwischen denen sich zerfledderte Zeitschriften stapelten - Outdoor Life, Field and Stream, True Argosy. Auf den Stühlen saß niemand. Er entdeckte eine weitere Tür, die vermutlich ins eigentliche Büro führte, und rechts daneben eine kleine Kabine, die wie eine Kinokasse aussah. Drinnen saß eine Sekretärin und arbeitete an einer Rechenmaschine. Sie hatte einen gelben Bleistift im Haar stecken, und vor ihrem flachen Busen baumelte eine Brille, die an einer Kette aus Rheinkieseln hing. Er ging auf sie zu.

Mittlerweile war er nervös geworden und fuhr sich einmal mit der Zunge über die Lippen, bevor er sprach.

»Entschuldigung.«

»Ja, bitte?« Sie blickte auf.

Er spürte plötzlich eine verrückte Eingebung, einfach zu sagen: Ich will den einäugigen Sally sprechen, Puppe, setz mal deinen süßen Arsch in Bewegung.

Statt dessen sagte er: »Ich habe eine Verabredung mit Mr. Magliore.«

»So, haben Sie das?« Sie musterte ihn einen Augenblick mißtrauisch und durchwühlte dann einen Stapel von Zetteln neben ihrer Rechenmaschine. Einen der Zettel zog sie daraus hervor. »Heißen Sie Dawes? Barton Dawes?«

»Ja, richtig.«

»Sie können gleich reingehen.« Sie verzog kurz den Mund zu einem schiefen Lächeln und fing wieder an, auf die Maschine einzuhacken.

Jetzt war er sehr nervös. Bestimmt wußten sie längst, daß er sie angeschmiert hatte. Sie unterhielten hier ein zwielichtiges Geschäft mit’nicht ganz astreinen Wagen, soviel hatte er schon der Art entnehmen können, wie Mansey gestern mit ihm am Telefon gesprochen hatte. Und sie wußten, daß er es wußte. Vielleicht wäre es doch das beste, wenn er auf dem Absatz kehrtmachte und schnurstracks zu Monohans Büro fuhr, bevor dieser dichtmachte und nach Alaska oder Timbuktu oder Gott weiß wohin fuhr.

Na endlich, schaltete Freddy sich ein. Der Mann wird langsam vernünftig.

Er überhörte Freddy, ging zur Tür, öffnete sie und betrat das innere Büro. Drinnen waren zwei Männer. Der eine, ein fetter Kerl mit dicken Brillengläsern, saß hinterm Schreibtisch. Der andere, dünn wie eine Bohnenstange, trug einen lachsfarbenen Sportanzug und erinnerte ihn an Vinnie Mason. Er beugte sich über den Schreibtisch. Die beiden betrachteten einen J.-C.-Whitney-Katalog.

Sie blickten zu ihm auf, und Mr. Magliore lächelte freundlich. Die dicken Brillengläser ließen seine Augen trübe und enorm groß wirken, sie sahen aus wie das Gelb von poschierten Eiern.

»Mr. Dawes?«

»Ja.«

»Schön, daß Sie vorbeikommen konnten. Würden Sie bitte die Tür schließen?«

»Natürlich.«

Er machte die Tür zu. Als er sich umdrehte, lächelte Magliore nicht mehr. Desgleichen Mansey. Sie sahen ihn einfach an, und die Zimmertemperatur schien um zwanzig Grad gesunken zu sein.

»Also gut«, sagte Magliore. »Was soll der Quatsch?«

»Ich wollte mit Ihnen reden.«

»Reden ist umsonst. Aber nicht für so kleine Schnüffler wie Sie einer sind. Sie haben Pete angerufen und ihm irgendeinen Mist über zwei Eldorados vorgequatscht.« Er sprach es wie ›Eldoreedos‹ aus. »Jetzt reden Sie mit mir, Mister. Jetzt werden Sie mir sagen, worauf Sie hinauswollen.«

Immer noch an der Tür stehend sagte er: »Ich habe gehört, daß Sie vielleicht etwas verkaufen.«

»Ja, das stimmt. Autos. Ich verkaufe Autos.«

»Nein«, erwiderte er kleinlaut. »Etwas anderes. Etwas, das …« Er betrachtete verlegen die falsche Holztäfelung.

Gott mochte wissen, wie viele Agenturen dieses Büro heimlich abhörten. »Einfach etwas anderes«, beendete er seinen Satz, aber die Worte kamen auf Krücken heraus.

»Meinen Sie vielleicht Huren oder Drogen oder nicht angemeldete Pferdewetten? Oder wollen Sie vielleicht einen Tot-schläger, um Ihrer Frau oder Ihrem Chef damit eins überzubraten?« Magliore sah, daß er zusammenzuckte, und lachte heiser. »Gar nicht mal so schlecht, Mister, sogar ganz gut für so einen kleinen Schnüffler wie Sie. Das war die ›Und wenn das Büro nun abgehört wird?‹-Szene, nicht wahr? Die Lektion Nummer eins an der Polizeiakademie, wenn ich nicht irre?«

»Hör’n Sie, ich bin kein …«

»Hält’s Maul!« unterbrach ihn Mansey. Er hielt den Katalog jetzt in der Hand, und er sah, daß er manikürte Fingernägel hatte. Er hatte noch nie bei einem Mann manikürte Fingernägel gesehen, abgesehen von den Fernsehreklamen, wenn Männer ein Röhrchen Aspirintabletten oder so was vor die Kamera hielten. »Wenn Sal will, daß du redest, wird er es dir schon sagen.«

Er blinzelte erschrocken und schloß den Mund. Es war wie in einem Alptraum.

»Ihr Typen werdet aber auch von Tag zu Tag dümmer«, fuhr Magliore fort. »Na ja, das ist ganz gut so. Ich verhandle gerne mit Idioten. Ich bin es gewohnt, mit ihnen zu verhandeln. Darin bin ich ganz gut. Also. Nicht, daß Sie das nicht genau wüßten, dieses Büro ist so sauber wie eine Kinderstube. Wir forsten es jede Woche durch. Zu Hause habe ich schon eine ganze Zigarrenkiste voller Wanzen stehen. Kontaktmikrophone, Knopfmikrophone, Druckmikrophone, sogar kleine Sony-Tonbänder, nicht größer als Ihr Handteller. Aber auch das versuchen sie heute schon gar nicht mehr. Heute schicken sie kleine Schnüffler wie Sie bei mir vorbei.«

Er hörte sich sprechen: »Ich bin kein Schnüffler.«

Auf Magliores Gesicht breitete sich ein Ausdruck verärgerter Überraschung aus. Er drehte sich zu Mansey um. »Hast du gehört, was er gesagt hat? Er sagte, er ist kein kleiner Schnüffler.«

»Ja, das habe ich gehört«, antwortete Mansey gedehnt.

»Findest du nicht, daß er wie ein Schnüffler aussieht?«

»Doch, das finde ich«, sagte Mansey.

»Redet sogar wie ein Schnüffler, nicht wahr?«

»Ganz gewiß.«

»Wenn Sie also kein Schnüffler sind«, fuhr Magliore wieder in seine Richtung, »was sind Sie dann?«

»Ich bin …« setzte er an, aber er wußte nicht so recht, was er sagen sollte. Was war er? Fred, wo steckst du, wenn ich dich brauche?

»Nun mal los«, forderte Magliore ihn auf. »Staatspolizei?

Stadtpolizei? Steuerfahndung? FBI? Findest du nicht, daß er wie ein erstklassiger EFF-BIE-EI-Pimpf aussieht, Pete?«

»Doch«, antwortete Pete.

»Nicht einmal die Stadtpolizei würde uns solch einen kleinen Schnüffler wie Sie rausschicken, Mister. Sie müssen vom EFF-BIE-EI oder ein Privatdetektiv sein. Also, was von beidem ist es?«

Langsam wurde er wütend.

»Schmeiß ihn raus, Pete«, befahl Magliore, der das Interesse verloren hatte. Mansey machte ein paar Schritte auf ihn zu. Er hielt immer noch den Katalog in der Hand.

»Sie dämlicher Knallkopf!« brüllte er Magliore plötzlich an.

»Sie sehen wohl schon Polizisten unter Ihrem Bett, so dämlich sind Sie! Sie denken wahrscheinlich, die Bullen sind bei Ihnen zu Hause und vögeln Ihre Frau, während Sie hier rumsitzen!«

Magliore sah ihn fasziniert mit geweiteten Augen an. Mansey erstarrte auf der Stelle und glotzte ihn ungläubig an.

»Knallkopf?« fragte Magliore und drehte das Wort im Mund um wie ein Handwerker ein Werkzeug, das er noch nie gesehen hat. »Hat er mich gerade einen Knallkopf genannt?«

Er war selbst verblüfft über das, was ihm da rausgerutscht war.

»Ich nehm’ ihn mit nach hinten!« sagte Mansey und marschierte auf ihn zu.

»Wart mal einen Augenblick!« hielt Magliore ihn zurück.

Er musterte ihn mit unverhohlener Neugierde. »Haben Sie mich wirklich gerade Knallkopf genannt?«

»Ich bin kein Bulle«, verteidigte er sich. »Und ich bin auch kein Verbrecher. Ich bin ein einfacher Mann, der gehört hat, daß Sie an Leute, die genug dafür bezahlen, etwas verkaufen. Ich habe Geld genug. Ich wußte nicht, daß man hier das Losungswort kennen oder das Geheimsiegel vorzeigen muß oder all das dumme Zeug. Ja, ich habe Sie Knallkopf genannt und ich entschuldige mich sogar dafür, wenn es diesen Kerl davon abhält, mich zusammenzuschlagen. Ich bin …« Er leckte sich über die Lippen und wußte beim besten Willen nicht, was er noch sagen konnte. Magliore und Mansey betrachteten ihn fasziniert, als hätte er sich direkt vor ihren Augen in eine griechische Marmorstatue verwandelt.

»Knallkopf«, wiederholte Magliore leise. »Filz ihn, Pete.«

Pete packte ihn an der Schulter und drehte ihn zur Wand um.

»Leg die Hände an die Wand«, sagte er direkt neben seinem Ohr. Er roch nach einem Desinfektionsmittel. »Spreiz die Beine, so wie in den Krimiserien.«

»Ich seh’ mir keine Krimiserien an«, sagte er, aber er wußte, was Mansey meinte und stellte sich in die richtige Position, um sich durchsuchen zu lassen. Mansey fuhr mit den Händen an seinen Beinen hoch, betastete sein Geschlecht mit der unpersönlichen Miene eines Arztes, schlüpfte mit einer Hand unter seinen Gürtel, klopfte seine Rippen ab und schlüpfte mit einem Finger unter seinen Kragen.

»Sauber«, sagte er.

»Drehen Sie sich um«, befahl Magliore.

Er drehte sich wieder um. Magliore musterte ihn immer noch fasziniert.

»Kommen Sie her!«

Er trat an den Schreibtisch.

Magliore tippte mit den Fingern auf die Glasplatte, unter der er mehrere Schnappschüsse entdeckte: eine dunkelhaarige Frau, die ihre Sonnenbrille in die drahtigen Haare hoch-geschoben hatte und fröhlich in die Kamera lächelte, zwei braungebrannte Kinder in einem Swimmingpool, Magliore selbst in einer schwarzen Badehose am Strand mit einem Cockerspaniel an der Seite. Er sah aus wie König Farouk.

»Auspacken«, sagte er.

»Ha?«

»Alles, was Sie in den Taschen haben. Auspacken.«

Er wollte protestieren, aber dann fiel ihm Mansey ein, der bedrohlich nah hinter seinem Rücken stand. Er packte alles aus.

Aus den Manteltaschen kamen nur zwei abgerissene Kinokarten zum Vorschein. Er war vor kurzem mit Mary in einem Film gewesen. Viel Musik, aber er konnte sich nicht mehr an den Titel erinnern.

Er zog den Mantel aus. Aus der Anzugjacke zog er ein flaches Feuerzeug mit seinen Initialen - BGD. Eine Schachtel Feuersteine. Eine Zigarettenpackung, in der nur noch eine Zigarette war. Eine dünne Folie mit Bittersalztabletten. Eine Rechnung von der A&S-Reifenhandlung, bei der er seine Winterreifen hatte montieren lassen. Mansey betrachtete sie und sagte befriedigt: »Mann, da haben Sie sich ganz schön ausnehmen lassen.«

Dann zog er das Jackett aus. In der Hemdtasche hatte er nichts als ein kleines Stückchen Mull. Er holte seine Autoschlüssel und etwas Kleingeld aus seiner rechten vorderen Hosentasche. Circa vierzig Cents, hauptsächlich in Fünfcentmünzen. Er hatte nie begreifen können, warum er die Fünfcentstücke magnetisch an sich zog. Nie hatte er einen Zehner für die Parkuhr. Zum Schluß legte er seine Brieftasche zu den anderen Sachen auf die Glasplatte von Magliores Schreibtisch.

Magliore nahm sie und las das verblichene Monogramm -

Mary hatte sie ihm vor vier Jahren zu ihrem Hochzeitstag geschenkt.

»Wofür steht das G?« erkundigte Magliore sich.

»George.«

Er öffnete die Brieftasche und breitete den Inhalt wie ein Pokerblatt vor sich aus.

Dreiundvierzig Dollar in zwei Zwanziger-und drei Eindollarscheinen.

Kreditkarten: Shell, Sunoco, Arco, Grant’s, Sears, Carey’s Department Store, American Express.

Führerschein, Sozialversicherungskarte, Blutspenderpaß, Blutgruppe A-positiv. Bibliotheksausweis. Einige Fotos in einer Plastikhülle, eine Fotokopie seiner Geburtsurkunde, einige alte Quittungen, die an den Rändern schon ganz ausge-franst waren, und ein paar alte Kontoauszüge, von denen einige noch bis in den Juni zurückdatierten.

»Mann, was ist denn mit Ihnen los?« fragte Magliore gereizt. »Misten Sie das Ding niemals aus? Es tut einer Brieftasche nicht gut, wenn man sie so vollstopft und dann das ganze Jahr mit sich herumschleppt.«

Er zuckte die Achseln. »Ich mag eben nichts wegwerfen.«

Er fand es seltsam, daß er sich fürchterlich über Magliores Beschimpfungen geärgert hatte, daß ihm aber seine Kritik an seiner Brieftasche überhaupt nichts ausmachte.

Magliore sah sich die Fotos in der Plastikhülle an. Das erste zeigte eine schielende Mary, die der Kamera die Zunge entgegenstreckte. Ein altes Bild, sie war damals noch schlanker gewesen.

»Ihre Frau?«

»Ja.«

»Sieht bestimmt ganz nett aus, wenn sie nicht gerade vor der Kamera steht.«

Er nahm das nächste und lächelte.

»Ihr kleiner Sohn? Meiner ist auch gerade in dem Alter. Trifft er schon einen Baseball? Zack, Zack, ich glaube, er kann’s schon.«

»Ja, das war mein Sohn. Er ist tot.«

»Oh, wie schade. Ein Unfall?«

»Gehirntumor.«

Magliore nickte und betrachtete die restlichen Fotos. Winzige Ausschnitte aus seinem Leben: das Haus in der Crestallen Street; Tom Granger und er im Waschraum; er selbst auf dem Podium bei der Versammlung der Wäschereibesitzer, die in diesem Jahr in ihrer Stadt stattgefunden hatte (er hatte den Hauptredner vorgestellt); eine Grillparty im Garten hinterm Haus, er mit einer hohen Chefkochmütze und einer Schürze, auf der stand: VATI KOCHT UND MAMMI GUCKT ZU.

Magliore legte die Fotos weg, stapelte die Kreditkarten zu einem Haufen und reichte sie Mansey hinüber. »Laß sie fotokopieren«, sagte er. »Und nimm auch ein paar von den Kontoauszügen mit. Seine Frau hält das Scheckbuch sicher genauso hinter Schloß und Riegel wie meine.« Er lachte.

Mansey warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Wollen Sie vielleicht mit dem kleinen Schnüffler Geschäfte machen?«

»Nenn ihn nicht wieder Schnüffler, vielleicht sagt er dann auch nicht mehr Knallkopf zu mir.« Er brach in wieherndes Gelächter aus, das jedoch abrupt aufhörte. »Kümmer dich um deine Angelegenheiten, Pete, und überlaß mir meine.«

Mansey lachte zwar, aber er verließ das Büro mit stolzierenden Schritten.

Als die Tür hinter ihm zufiel, sah Magliore ihn aufmerksam an. Er schmunzelte und schüttelte den Kopf. »Knallkopf«, sagte er nochmals. »Und ich dachte, man hätte mich schon alles genannt.«

»Warum soll er meine Kreditkarten kopieren?«

»Wir besitzen einen Anteil an einem Computer. Er gehört niemandem ganz. Jeder kann ihn zeitweise benutzen. Wenn man den richtigen Code kennt, kann man die Bankcomputer und die Computer von über fünfzig Firmen anzapfen, die in dieser Stadt ihr Geschäft betreiben. Ich werde Sie überprü-

fen. Wir finden es sofort heraus, wenn Sie ein Bulle sind. Wir finden auch heraus, ob Ihre Kreditkarten echt sind. Wir können sogar feststellen, ob die Karten echt sind, aber nicht Ihnen gehören. Aber Sie haben mich eigentlich schon überzeugt. Ich glaube, Sie sind in Ordnung. Knallkopf.« Er schüttelte wieder den Kopf und lachte. »Was hatten wir gestern?

Montag? Mister, Sie können von Glück sagen, daß Sie mich nicht an einem Montag Knallkopf genannt haben.«

»Darf ich Ihnen jetzt sagen, warum ich eigentlich hergekommen bin?«

»Sie dürften, selbst wenn Sie ein Bulle mit sechs Kassettenrecordern wären, dürften Sie, denn Sie könnten mir doch nichts anhaben. So was nennt man die Fallenstellerszene, nicht wahr? Aber ich will jetzt nichts davon hören. Kommen Sie morgen wieder - dieselbe Zeit, derselbe Ort -, und ich sage Ihnen dann, ob ich Sie anhören werde. Selbst wenn Sie in Ordnung sein sollten, werde ich Ihnen vielleicht nichts verkaufen. Und wissen Sie, warum?«

»Warum?«

Magliore lachte. »Weil ich Sie für einen Spinner halte. Sie fahren auf drei Rädern. Sie fliegen im Blindflug.«

»Warum? Weil ich Sie Knallkopp genannt habe?«

»Nein«, antwortete Magliore. »Aber Sie erinnern mich an eine Geschichte, die mir passiert ist, als ich so alt war wie mein Sohn heute. In der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, gab es einen Hund in der Nachbarschaft, Hell’s Kitchen in New York. Noch vor dem zweiten Weltkrieg während der Depression. Dort wohnte auch ein Mann namens Piazzi, und der hatte eine schwarze Hündin, eine Promenadenmischung, die er Andrea nannte. Aber jeder hat sie einfach nur Mr. Piazzis Hund genannt. Er hielt sie die ganze Zeit an der Kette, aber sie wurde niemals böse. Nicht bis zu diesem bestimmten Tag, ein heißer Tag im August. Könnte 1937 gewesen sein. Sie sprang einen kleinen Jungen an, der sie streicheln wollte; er mußte für einen ganzen Monat ins Krankenhaus. Sein Hals mußte mit siebenunddreißig Stichen genäht werden. Und ich hatte gewußt, daß das irgendwann einmal passieren würde. Dieser Hund stand den ganzen Tag lang in der Sonne und das jeden Tag, den ganzen Sommer lang. So um Mitte Juni rum hörte er auf, mit dem Schwanz zu wedeln, wenn die Kinder ihn streichelten. Dann fing er an, die Augen zu verdrehen. Ab Ende Juli knurrte er ganz tief hinten in der Kehle, wenn jemand sich ihm näherte. Als er damit anfing, hab’ ich aufgehört, ihn zu streicheln. Die Leute haben gleich gefragt: ›Was ist los mit dir, Sal? Hast du etwa Schiß?‹ Und ich hab’ gesagt: ›Nee, ich hab’ keinen Schiß, aber ich bin auch nicht blöd. Der Hund da ist böse gewordene Aber alle be-haupteten: ›Stell dich nicht an, Sal. Mr. Piazzis Hund beißt nicht, der hat noch nie jemanden gebissen. Er würde nicht mal einem Baby etwas tun, das den Kopf in seinen Rachen steckt.‹ Und ich hab’ gesagt: ›Streichelt ihn ruhig weiter, es gibt kein Gesetz, das das Streicheln von Hunden verbietet, aber ich werde es nicht tun.‹ Na, und dann sind sie herumgelaufen und haben überall erzählt: ›Sally ist ein Angsthase. Sally ist feige. Sally klammert sich an den Rockzipfel seiner Mutter, wenn er an Mr. Piazzis Hund vorbeigehen muß.‹ Sie wissen ja, wie Kinder sind.«

»Ich weiß«, sagte er. Mansey war mit seinen Kreditkarten zurückgekommen und an der Tür stehengeblieben, um zuzuhören.

»Der Junge, der am lautesten gebrüllt hat, den hat’s dann schließlich erwischt. Luigi Bronticelli hat er geheißen. Ein kleiner Jude, genau wie ich.« Magliore lachte. »An einem Tag im August, es war so heiß, daß man ein Spiegelei auf dem Bürgersteig braten konnte, ist er zu Mr. Piazzis Hund gegangen und hat ihn gestreichelt. Und seitdem kann er nur noch flüstern. Er hat jetzt ein Herrenfriseurgeschäft in Manhattan, und alle Leute nennen ihn bloß noch den flüsternden Luigi.«

Magliore lächelte ihm zu.

»Sie erinnern mich an Mr. Piazzis Hund. Sie knurren zwar noch nicht, aber wenn jemand Sie streicheln will, verdrehen Sie die Augen. Und Sie haben schon vor langer Zeit aufgehört, mit dem Schwanz zu wedeln. Pete, gib ihm seine Sachen zurück!«

Mansey reichte ihm den Stapel herüber.

»Kommen Sie morgen wieder, und dann werden wir uns weiter unterhalten«, sagte Magliore und sah ihm dabei zu, wie er seine Habseligkeiten wieder in der Brieftasche verstaute. »Sie sollten wirklich mal Ihre Brieftasche ausmisten. Sie ruinieren sie ja sonst völlig.«

»Ja, vielleicht tue ich das«, antwortete er.

»Pete, bring ihn zu seinem Wagen!«

»Klar.«

Er war schon durch die Tür getreten, als Magliore ihm plötzlich nachrief: »Wissen Sie auch, was mit Mr. Piazzis Hund passiert ist, Mister? Man hat ihn vergast.«

Nach dem Abendessen, als John Chancellor ihnen klarmachte, daß die Geschwindigkeitsbeschränkung auf dem Jersey Turnpike vermutlich das Sinken der Unfallrate bewirkt habe, fragte Mary ihn nach dem Haus.

»Termiten«, antwortete er kurz angebunden.

Ihr Gesicht verdüsterte sich schlagartig. »Oh, das ist nicht so gut, wie?«

»Ich fahre morgen noch mal raus. Tom Granger kennt einen guten Kammerjäger, den ich mitnehmen werde. Ich will mir seine Expertenmeinung anhören. Vielleicht ist es ja nicht so schlimm, wie es aussieht.«

»Ich hoffe es sehr. Ein Garten und all das …« Sie verlor sich in ihre Wunschträume.

Na, du bist mir ja ein feiner Kerl, sagte Freddy plötzlich.

Ein veritabler Prinz. Wie kommt es nur, daß du so gut zu deiner Frau bist, George? Bist du ein Naturtalent oder hast du das irgendwo gelernt?

»Hält’s Maul!« sagte er.

Mary sah verblüfft auf. »Was?«

»Oh … dieser Chancellor«, antwortete er schnell. »Ich hab’ langsam die Nase voll von all diesen Beschwörungen und Drohungen von diesem Chancellor und Walter Cronkite und wie sie alle heißen.«

»Du solltest den Boten nicht wegen seiner Botschaft hassen«, sagte sie und warf einen zweifelnden, verwirrten Blick auf John Chancellor.

»Das sollte ich wohl nicht«, sagte er und dachte: Freddy, du bist ein Scheißkerl.

Freddy sagte ihm, daß er den Boten nicht wegen seiner Botschaft hassen solle.

Einen Augenblick sahen sie sich schweigend die Nachrichten an. Dann eine Reklame für eine Medizin gegen Erkältungen. Zwei Männer, deren Köpfe in zwei grüne Klötze aus Rotz eingefroren waren. Als einer von beiden die bestimmte Pille nahm, schmolz der grüne Klotz dahin.

»Deine Erkältung scheint heute abend schon besser zu sein«, bemerkte er.

»Ja. Bart, wie heißt eigentlich der Makler?«

»Monohan«, antwortete er automatisch.

»Nein, nicht der, der dir die Fabrik verkauft. Ich meine den von unserem Haus.«

»Olson«, sagte er prompt, den Namen aus seinem geistigen Mülleimer kramend.

Die Nachrichten gingen weiter. Es folgte ein Bericht über David Ben Gurion, der wohl bald mit Harry Truman im großen Sekretariat im Himmel zusammentreffen würde.

»Wie gefällt es Jack da draußen?« fragte sie beiläufig.

Er wollte ihr sagen, daß es Jack ganz und gar nicht gefiele, aber er hörte sich selber sagen: »Ich glaube, er findet es ganz in Ordnung.«

John Chancellor schloß mit einer Nachricht über fliegende Untertassen, die jemand in Ohio gesehen haben wollte.

Er ging um halb elf ins Bett. Der Alptraum mußte ihn gleich nach dem Einschlafen überfallen haben. Als er aufwachte, zeigte die Digitaluhr

23.22 Uhr.

Im Traum war er in Norton an einer Straßenecke gewesen - die Ecke Venner und Rice Street. Er hatte direkt unter dem Straßenschild gestanden. Etwas weiter die Straße runter hatte ein großer pinkfarbener Wagen mit einem Karibugeweih auf der Motorhaube vor einem Süßwarengeschäft gehalten. Die Kinder waren von den Hausterrassen und Veran-den heruntergesprungen und auf ihn zugerannt.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war ein großer, schwarzer Hund am Verandagelände eines Wohnhauses festgebunden. Ein kleiner Junge ging zutraulich auf ihn zu.

Er wollte laut schreien: Streichet den Hund nicht! Geh und hol dir deine Bonbons! Aber er brachte keinen Ton heraus. Wie in einer Zeitlupenbewegung hatte der protzige Schwarze in seinem weißen Anzug und mit seinem weißen Pflanzerhut sich nach ihm umgedreht. Er hatte beide Hände voller Bonbons.

Auch die Kinder, die ihn umringten, drehten sich langsam nach ihm um. Die Kinder bei dem Mann waren alle schwarz.

Nur der kleine Junge, der auf den Hund zuging, war ein Weißer.

Der Hund sprang ihn an. Er katapultierte sich auf seinen großen Hinterbeinen hoch wie ein stumpfer Pfeil. Der Junge schrie und stolperte zurück. Er hatte sich mit beiden Händen an den Hals gefaßt. Das Blut floß zwischen seinen Fingern hindurch. Als er sich umdrehte, erkannte er, daß es Charlie war.

Dann war er aufgewacht.

Diese Träume. Diese gottverdammten Träume.

Sein Sohn war schon seit drei Jahren tot.

28. November 1973

Als er aufstand, schneite es, aber als er in der Wäscherei ankam, hatte es fast schon wieder aufgehört. Tom Granger kam ihm in Hemdsärmeln entgegengerannt. Sein Atem bildete kleine weiße Wölkchen in der kalten Luft. Er konnte schon an Toms Gesichtsausdruck ablesen, daß es ein mieser Tag werden würde.

»Wir haben Schwierigkeiten, Bart.«

»Schlimm?«

»Schlimm genug. Johnny Walker hatte heute auf seiner ersten Tour zum Holiday Inn einen Unfall. Ein Kerl in einem Ponn’ac hat an der Deakman Street das Rotlicht überfahren.

Er hat ihn direkt in der Seite erwischt. Bang!« Er schwieg und blickte hilflos zum Eingang der Wäscherei zurück, aber da stand niemand. »Die Bullen haben gesagt, Johnny ginge es sehr schlecht.«

»Heiliger Bimbam.«

»Ich bin zwanzig Minuten, nachdem es passiert war, rausgefahren. Du kennst die Kreuzung ja …«

»Ja, sie ist ziemlich gemein.«

Tom schüttelte den Kopf. »Wenn es nicht so verdammt schrecklich wäre, könnte man fast darüber lachen. Sieht aus, als hätte bei einer Waschfrau eine Bombe eingeschlagen.

Überall liegen Handtücher und Bettwäsche vom Holiday Inn rum. Einige Leute haben sich gleich welche gestohlen, diese Arschlöcher. Man möchte kaum glauben, daß die Leute so was tun. Und der Lieferwagen … Bart, von der Fahrertür an ist nicht mehr viel von ihm übrig. Alles schrottreif. Johnny wurde rausgeschleudert.«

»Ist er im Zentralkrankenhaus?«

»Nein, im St. Mary’s. Johnny ist katholisch, wußtest du das nicht?«

»Willst du mit mir rüberfahren?«

»Lieber nicht. Ron brüllt schon den ganzen Morgen, daß der Boiler nicht genug Druck hat.« Er zuckte verlegen die Achseln. »Du kennst Ron ja. Die Show muß weitergehen.«

»Schon in Ordnung.«

Er stieg wieder in seinen Wagen und fuhr zum St. Marys-Krankenhaus. Verdammt noch mal, warum mußte das von allen Leuten auf der Welt ausgerechnet Johnny Walker passieren? Außer ihm war er der einzige, der schon seit 1953 in der Wäscherei arbeitete - Johnny hatte sogar schon 1946 dort angefangen. Der Gedanke schnürte ihm die Kehle zu. Es kam ihm vor wie ein schlimmes Omen. Aus der Zeitung wußte er, daß der Ausbau der 784-Autobahn gerade die gefährliche Deakman-Kreuzung ziemlich überflüssig machen würde.

Er hieß eigentlich gar nicht Johnny. Sein richtiger Name lautete Corey Everett Walker, er hatte ihn oft genug auf den Stechkarten gelesen, um das zu wissen. Aber schon seit zwanzig Jahren nannten sie ihn alle Johnny. Seine Frau war 1956 auf einer Reise nach Vermont gestorben. Seitdem lebte er mit seinem Bruder zusammen, der einen Lastwagen für die städtische Müllabfuhr fuhr. In der Wäscherei gab es Dutzende von Mitarbeitern, die Ron hinter seinem Rücken ›Stoneballs‹ [Schnapsnase. - Anm. d. Übers.] nannten, aber Johnny war der einzige, der es gewagt hatte, es ihm offen ins Gesicht zu sagen, und es war ihm nichts passiert.

Er dachte: Wenn Johnny stirbt, dann bin ich der dienstälteste Mitarbeiter in der Wäscherei. Der einzige, der den Rekord von über zwanzig Jahren gebrochen hat. Na, ist das nicht ein Witz, Freddy?

Freddy fand das gar nicht lustig.

Im Wartezimmer der Unfallstation saß Johnnys Bruder, ein großgewachsener Mann, dessen Gesichtszüge Ähnlichkeit mit Johnny hatten. Sie hatten die gleichen hohen Wangenknochen. Er trug einen olivgrünen Overall und darüber eine dicke schwarze Stoffjacke. In den Händen, die hilflos zwischen seinen Knien hingen, drehte er eine olivgrüne Schirmmütze hin und her. Er blickte vor sich auf den Boden, aber als er Schritte hörte, sah er neugierig auf.

»Sind Sie von der Wäscherei?« fragte er.

»Ja. Und Sie sind …« Er hatte nicht erwartet, daß ihm der Name wieder einfallen würde, doch er erinnerte sich.

»Arnie Walker, nicht wahr?«

»Ja, Arnie Walker.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß nicht, Mr. …?«

»Dawes.«

»Ich weiß nicht, Mr. Dawes, ich hab’ ihn vorhin in einem der Untersuchungsräume gesehen. Er sah ziemlich angeschlagen aus. Er ist ja auch nicht mehr der jüngste. Es steht ziemlich schlimm.«

»Es tut mir sehr, sehr leid«, sagte er.

»Es ist eine schreckliche Kreuzung. Aber ich gebe dem anderen keine Schuld. Er ist einfach im Schnee ins Schleudern gekommen. Es war nicht sein Fehler. Sie sagen, daß er sich die Nase gebrochen hat, sonst nichts. Es ist schon komisch, wie solche Dinge laufen, wissen Sie?«

»Ja, ich weiß.«

»Ich mußte gerade daran denken, wie ich mal einen großen Sattelschlepper nach Hemingway gefahren habe. Das war Anfang der sechziger Jahre. Ich fuhr auf der Indiana-Autobahn, und da sah ich …«

Die Außentür wurde aufgestoßen, und ein Priester kam herein. Er stampfte ein paarmal mit den Füßen auf, um den Schnee abzutreten, und eilte dann den Korridor entlang, er rannte fast. Als Arnie Walker ihn sah, weiteten sich seine Augen und nahmen einen glasigen Ausdruck an, als hätte er einen Schock erlitten. Er stieß einen hohen, wimmernden Ton aus und wollte aufstehen. Er legte seinen Arm um Arnies Schultern und wollte ihn auf den Stuhl zurückdrücken.

»Jesus!« schrie Arnie auf. »Er hatte seine Hostien dabei, haben Sie es nicht gesehen? Er will ihm die letzte Ölung geben … vielleicht ist er sogar schon tot … Johnny..

Es waren noch andere Leute in dem Warteraum: ein Teenager mit einem gebrochenen Arm, eine ältere Frau mit einer elastischen Binde ums Bein, ein Mann, dessen einer Daumen mit einem riesigen Verband umwickelt war. Sie sahen Arnie an und blickten dann verlegen auf ihre Zeitschriften hinunter.

»Beruhigen Sie sich doch«, sagte er tonlos.

»Lassen Sie mich gehn«, rief Arnie. »Ich muß nach meinem Bruder sehen.«

»Hören Sie …«

»Lassen Sie mich gehen!«

Er ließ ihn los. Arnie rannte um die Ecke und verschwand in die Richtung, in die der Priester gegangen war. Er setzte sich auf einen der Plastikstühle und wußte nicht, was er tun sollte. Eine Weile lang blickte er auf den Fußboden, der mit schwarzen, matschigen Fußspuren bedeckt war. Dann sah er zum Empfangsbüro hinüber, wo eine Krankenschwester die Telefonanlage überwachte.. Er blickte aus dem Fenster und stellte fest, daß es nicht mehr schneite.

Plötzlich hörte er ein schluchzendes Geräusch auf dem Korridor. Es kam von den Untersuchungsräumen.

Alle blickten sie auf, und alle hatten sie einen ängstlichen Ausdruck in ihren Augen.

Noch ein Schrei, gefolgt von einem heiseren Ausruf der Trauer.

Alle blickten sie wieder in ihre Zeitschriften. Der Junge mit dem gebrochenen Arm schluckte trocken und erzeugte dadurch ein seltsames Geräusch in der Stille.

Er sprang auf und lief hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.

In der Wäscherei kamen alle auf ihn zugerannt, und Ron Stone hielt sie nicht davon ab. »Ich weiß nichts«, berichtete er ihnen. »Ich konnte nicht herausfinden, ob er noch lebt oder schon gestorben ist. Ihr werdet es bald erfahren. Ich weiß es nicht.«

Er floh in sein Büro. Er fühlte sich seltsam allein und von allem losgelöst.

»Wissen Sie, wie es Johnny geht, Mr. Dawes?« fragte Phyllis ihn. Zum ersten Mal fiel ihm auf, daß Phyllis trotz ihres leicht bläulich gefärbten Haares alt wirkte.

»Es geht ihm schlecht«, antwortete er. »Der Priester war vorhin da, um ihm die letzte Ölung zu geben.«

»Oh, was für eine Schande. Und das so kurz vor Weihnachten!«

»Ist jemand zur Kreuzung rausgefahren, um die Wäsche einzusammeln?«

Sie sah ihn ein bißchen vorwurfsvoll an. »Tom hat Harry Jones rausgeschickt. Er hat sie vor fünf Minuten hergebracht.«

»Gut«, sagte er, aber es war nicht gut. Es war schlecht. Am liebsten wäre er runtergegangen und hätte so viel Reinigungslösung in die Maschinen gepumpt, daß die Wäsche auseinandergefallen wäre - wenn Pollack dann nach dem Schleudergang die Tür öffnete, würde ihm nur ein Haufen eintönig grauer Filzmasse entgegenkommen. Das wäre gut.

Phyllis hatte etwas gesagt, aber er hatte nicht zugehört.

»Wie? Entschuldigen Sie bitte.«

»Ich sagte, daß Mr. Ordner angerufen hat. Er möchte, daß Sie ihn sofort zurückrufen. Und dann hat noch ein Mann namens Harold Swinnerton angerufen und gesagt, daß die Patronen eingetroffen wären.«

»Harold …?« Doch dann erinnerte er sich. Harve/s Waffengeschäft. Nur daß Harvey, genau wie Marley, so tot war wie ein Türnagel. »Ja, danke, in Ordnung.«

Er schloß die Bürotür hinter sich und ging an den Schreibtisch. Die Plakette auf der Tischplatte sagte immer noch: DENK NACH! Es könnte eine neue Erfahrung für dich sein.

Er riß sie herunter und warf sie in den Papierkorb, Kling.

Dann setzte er sich in seinen Drehsessel, nahm alle Eingangspost aus dem Korb und warf sie ungelesen in den Papierkorb. Danach blickte er sich ziellos im Büro um. Die Wände waren holzgetäfelt. An der linken hingen zwei eingerahmte Zeugnisse: das eine war sein Collegediplom, das andere von Wäschereilehrgängen, an denen er 1969 und 1970 teilgenommen hatte. Hinter dem Schreibtisch hing eine Großaufnahme von ihm und Ray Tarkington auf dem Parkplatz der Wäscherei, der gerade frisch asphaltiert worden war. Sie schüttelten sich lachend die Hand. Hinter ihnen war die Wäscherei zu sehen, in deren Ladezone stolz drei Lastwagen standen. Und der Fabrikschlot sah immer noch strahlend weiß aus.

Seit 1967 saß er in diesem Büro, über sechs Jahre. Das war noch vor Woodstock, vor Kent State, vor der Ermordung von Robert Kennedy und Martin Luther King, ja noch vor Nixon.

Jahre seines Lebens hatte er zwischen diesen vier Wänden verbracht. Millionen von Atemzügen und Millionen von Herzschlägen. Er sah sich um und fragte sich, ob er dabei etwas fühlte. Ein schwacher Anflug von Trauer. Das war alles.

Er räumte seinen Schreibtisch aus. Persönliche Aktennoti-zen und seine persönliche Buchhaltung warf er weg. Dann schrieb er seine Kündigung auf die Rückseite eines vorgedruckten Rechnungsformulars und steckte sie in einen Briefumschlag. Die unpersönlichen Bürosachen ließ er liegen - die Büroklammern, Tesafilm, die dicken Scheckbücher, den Stapel leerer Stechkarten, der mit einem Gummiband zusammengehalten wurde.

Er stand auf, nahm die beiden Zeugnisse von der Wand und warf sie in den Papierkorb. Die Glasplatte vom Rahmen des Collegediploms zersplitterte. Die Rechtecke, über denen die beiden Rahmen über Jahre hinweg gehangen hatten, waren etwas heller als die restliche Wand. Und das war alles.

Das Telefon klingelte, und er nahm den Hörer ab in der Erwartung, Stephan Ordner zu hören. Aber es war Ron, der ihn von unten anrief.

»Bart?«

»Ja?«

»Johnny ist vor einer halben Stunde gestorben. Ich glaube, er hatte von Anfang an keine Chance.«

»Das tut mir sehr leid. Ich möchte, daß du den Laden für den Rest des Tages schließt, Ron.«

Ron seufzte. »Ich glaube auch, das ist das beste. Aber kriegst du dann nicht eine Menge Ärger mit deinen großen Bossen?«

»Ich arbeite nicht mehr für die großen Bosse. Ich habe gerade meine Kündigung unterschrieben.« So, jetzt war es draußen. Das machte es real.

Am anderen Ende herrschte einen Augenblick Schweigen.

Er konnte die Waschmaschinen und das Gezische der Heißmangel hören. Den Würger nannten sie sie immer in Anbetracht dessen, was einem passierte, wenn sie einen erwischte.

»Ich hab’ mich wohl gerade verhört«, sagte Ron. »Es hörte sich so an, als hättest du …«

»Genau das habe ich gesagt, Ron. Ich bin hier mit allem fertig. Es war sehr schön, mit dir und Tom zu arbeiten, und sogar mit Vinnie Mason, wenn er mal sein Maul halten konnte.

Aber nun ist’s vorbei.«

»He, hör mal, Bart, reg dich nicht so auf. Ich weiß, wie sehr dich das alles mitgenommen hat, aber …«

»Es ist nicht wegen Johnny«, unterbrach er ihn, aber er wußte selber nicht, ob das stimmte oder nicht. Vielleicht hätte er tatsächlich noch eine Anstrengung unternommen, sich zu retten. Sich und das Leben, das er die letzten zwanzig Jahre lang unter dem beschützenden Schirm der täglichen Routine geführt hatte. Aber als dieser Priester so rasch an ihm vorbeigelaufen, ja fast gerannt war, um noch rechtzeitig zu dem sterbenden Johnny Walker zu gelangen, der vielleicht schon tot war, als er den hohen, wimmernden Ton von Arnie Walker gehört hatte, da hatte er endgültig aufgegeben.

Wie ein Autofahrer, der einen ins Schleudern geratenen Wagen steuert, oder sich jedenfalls einbildet, ihn zu steuern, und dann plötzlich die Hände vom Lenkrad reißt und das Gesicht darin verbirgt.

»Es ist nicht wegen Johnny«, wiederholte er.

»Bart … hör mal … hör mir zu …« Ron klang sehr aufgeregt-

»Ron, wir sprechen später darüber«, besänftigte er ihn, aber er wußte nicht, ob er das wirklich meinte. »Sorg dafür, daß der Laden dichtgemacht wird!«

»Na gut, aber …«

Er legte behutsam den Hörer auf die Gabel.

Dann holte er das Telefonbuch aus der Schublade und suchte in den Gelben Seiten eine Nummer unter WAFFEN.

Er wählte Harvey’s Waffengeschäft an.

»Hallo,Harvey’s?«

»Hier ist Barton Dawes«, sagte er.

»Ah, ja. Die Patronen sind gestern am späten Nachmittag eingetroffen. Ich hab’ Ihnen ja gesagt, daß ich sie noch lange vor Weihnachten bekommen würde. Zweihundert Schuß Munition.«

»Schön. Hören Sie, ich bin heute nachmittag sehr beschäftigt. Haben Sie heute abend noch auf?«

»Jeden Abend offen bis neun, und zwar noch bis Weihnachten.«

»Sehr gut. Ich versuche, so gegen acht bei Ihnen zu sein.

Wenn nicht, komme ich bestimmt morgen nachmittag vorbei.«

»Ist recht. Sagen Sie, haben Sie herausgefunden, ob es Boca Rio ist?«

»Boca …?« Ach ja, Boca Rio, der Ort, wo sein Cousin bald zur Jagd gehen sollte. »Ja, ich glaube, das war’s, Boca Rio.«

»Oh, wie ich ihn beneide. Es war die schönste Zeit in meinem ganzen Leben.«

»Unsicherer Waffenstillstand hält an«, murmelte er in den Hörer. Er hatte plötzlich eine Vision, wie Johnny Walkers Kopf als Trophäe über Stephan Ordners elektrischem Kaminfeuer hing, und darunter eine blankpolierte Bronzeplakette, auf der stand:


MENSCHLICHE WASCHMASCHINE

28. November, 1973

Erlegt an der Deakman-Kreuzung




»Wie bitte?« fragte Harry Swinnerton verwirrt.

»Ich sagte, ich beneide ihn auch«, sagte er und schloß die Augen. Eine Welle von Übelkeit übermannte ihn. Ich drehe durch, dachte er. Das, was ich hier erlebe, nennt man durchdrehen.

»Oh, eh, bis später dann.«

»Ja, bis später. Und vielen Dank noch mal, Mr. Swinnerton.«

Er legte auf, öffnete wieder die Augen und betrachtete sein nacktes Büro. Dann drückte er auf den Knopf seiner Sprechanlage.

»Phyllis?«

»Ja, Mr. Dawes?«

»Johnny ist gestorben. Wir machen zu für heute.«

»Ich hab’ gesehen, wie die anderen weggegangen sind, und hab’s mir schon gedacht.« Phyllis’ Stimme klang, als hätte sie gerade geweint.

»Versuchen Sie bitte, ob Sie Mr. Ordner ans Telefon bekommen, bevor Sie gehen.«

»Ja, natürlich.«

Er schwang seinen Stuhl herum und sah aus dem Fenster.

Draußen rumpelte eine Straßenwalze vorbei. Sie war hellorange gestrichen, und ihre riesigen Walzen stampften über den Asphalt. Es ist alles ihre Schuld, Freddy. Es hat alles ganz gut geklappt, bis diese Kerle von der Stadtverwaltung beschlossen haben, mein Leben zu zerstören. Es ging doch alles ganz gut, nicht wahr, Freddy?

Freddy?

Fred?

Das Telefon klingelte, und er nahm den Hörer ab.

»Dawes.«

»Sie sind verrückt«, sagte Steve Ordner mit müder Stimme. »Sie müssen völlig den Verstand verloren haben.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich will sagen, daß ich heute vormittag um halb zehn persönlich in Monohäns Büro angerufen habe. Die McAn-Leute haben den Vertrag über die Waterfordfabrik pünktlich um neun Uhr unterzeichnet. Was, zum Teufel, ist da geschehen, Bart?«

»Ich finde, das sollten wir lieber persönlich besprechen.«

»Das finde ich auch. Und ich finde, daß Sie sich eine verdämmt gute Entschuldigung ausdenken müssen, wenn Sie Ihren Job behalten wollen.«

»Hören Sie auf, mit mir zu spielen, Steve.«

»Was?«

»Sie haben überhaupt nicht die Absicht, mich zu behalten, nicht mal als Putzfrau. Ich habe schon meine Kündigung geschrieben. Ich hab’ sie zwar versiegelt, aber ich kenne sie auswendig. ›Ich kündige. Unterzeichnet: Barton George Dawes.‹«

»Aber warum denn?« Es klang, als wäre er körperlich verletzt worden. Aber er wimmerte nicht so wie Arnie Walker.

Er bezweifelte, ob Steve Ordner je seit seinem elften Geburtstag mal gejauchzt oder gewimmert hatte. Das war die letzte Zuflucht von Untertanen.

»Um zwei?« fragte er.

»Zwei paßt mir gut.«

»Auf Wiedersehen, Steve.«

Er legte auf und betrachtete ausdruckslos die gegenüberliegende Wand. Nach einer Weile steckte Phyllis noch mal ihren Kopf zur Tür herein. Unter ihrer sorgfältigen Altweiber-frisur wirkte sie verwirrt und unglücklich. Ihren Chef taten-los in seinem kahlen Büro rumsitzen zu sehen, machte sie nicht gerade glücklicher.

»Mr. Dawes, soll ich wirklich gehen? Es würde mich freuen, wenn ich Ihnen …«

»Nein, nein, Phyllis, gehen Sie ruhig nach Hause.«

Sie kämpfte mit sich, ob sie noch etwas sagen sollte, aber er drehte den Stuhl zum Fenster um, um ihnen beiden die Pein-lichkeit zu ersparen. Einen Augenblick später hörte er, wie hinter ihm ganz leise die Tür zugemacht wurde.

Unten jaulte der Boiler noch einmal auf und erstarb dann.

Auf dem Parkplatz sprangen verschiedene Automotoren an.

Er saß in seinem leeren Büro in seiner leeren Wäscherei und wartete, bis es Zeit war, Ordner aufzusuchen. Er nahm seinen Abschied.

Ordners Büro befand sich in einem der Wolkenkratzer in der Innenstadt, die die Energiekrise bald ziemlich überflüssig machen würde. Siebzig Stockwerke reine Glasfassade, schwer zu heizen im Winter, ein horrender Aufwand, sie im Sommer zu klimatisieren. Amrocos Büros befanden sich im fünfund vierzigsten Stock.

Er parkte seinen Wagen in der Tiefgarage, fuhr mit dem Fahrstuhl in die Eingangshalle hoch und marschierte dort sofort auf die Fahrstühle an der rechten Seite zu. Diesmal stand er mit einer Schwarzen im Fahrstuhl, die eine ausladende Afrofrisur trug. Sie hatte ein dunkles Jackett an und hielt einen Stenoblock unterm Arm.

»Mir gefällt Ihr Afro«, sagte er spontan ohne besonderen Anlaß.

Die Frau musterte ihn kühl und sagte nichts.

Stephen Ordners Vorzimmer war mit supermodernen Möbeln ausgestattet. Seine rothaarige Sekretärin saß unter einer Reproduktion von van Goghs ›Sonnenblumen‹. Auch sie trug ein dunkles Jackett, und ihre Haare waren mit einem goldenen Band zusammengebunden. Auf dem Fußboden lag ein austernfarbener Florteppich. Indirektes Licht und indi-rekte Musikberieselung. Mantovani.

Der Rotschopf lächelte ihm zu. »Mr. Dawes?«

»Ja.«

»Sie können gleich reingehen.«

Er öffnete die Tür und betrat Ordners Büro. Ordner saß an seinem Schreibtisch und schrieb irgendwas. Die Tischplatte hatte eine eindrucksvolle Lucite-Auflage. Eine riesige Fen-sterfront hinter Ordner gab den Blick auf den Westteil der Stadt frei. Ordner blickte auf und legte den Füller weg.

»Hallo, Bart«, sagte er ruhig.

»Hallo.«

»Setzen Sie sich.«

»Dauert es so lange?«

Ordner fixierte ihn. »Am liebsten würde ich Ihnen eine kleben«, sagte er. »Wissen Sie das? Ich möchte Ihnen eine kleben, daß Sie quer durchs Büro fliegen. Nicht zusammenschlagen, nur eine einfache Ohrfeige.«

»Das weiß ich«, antwortete er, und das stimmte.

»Ich glaube nicht, daß Sie auch nur eine Ahnung haben, was Sie da heute weggeworfen haben«, fuhr Ordner fort.

»Ich nehme an, daß die McAn-Leute sich an Sie rangemacht haben. Ich hoffe, sie haben Ihnen eine Menge dafür bezahlt.

Denn ich hatte Sie persönlich für einen Posten als leitender Vize-Präsident in unserer Gesellschaft vorgesehen. Das hätte zu Anfang ein Jahresgehalt von fünfunddreißigtausend Dollar für Sie bedeutet. Ich hoffe, sie haben Ihnen mehr bezahlt als das.«

»Ich habe nicht einen Pfennig gekriegt.«

»Ist das wahr?«

»Ja.«

»Aber warum dann, Bart? Warum, in Gottes Namen, haben Sie …«

»Warum sollte ich Ihnen das sagen, Steve?« Er setzte sich auf den Stuhl, der für ihn vorgesehen war, den Bittstellerstuhl auf der anderen Seite des riesigen Schreibtisches mit seiner teuren Lucite- Auflage.

Einen Augenblick lang wirkte Ordner verloren. Er schüttelte den Kopf wie ein Boxer, der einen überraschenden Schlag einstecken mußte.

»Weil Sie mein Angestellter sind. Wie ist das für den Anfang?«

»Das reicht nicht.«

»Was soll das bedeuten?«

»Steve, ich war Ray Tarkingtons Angestellter. Ray war ein wirklicher Mensch. Sie haben sich bestimmt nicht sonderlich für ihn interessiert, aber Sie müssen zugeben, daß er eine echte Persönlichkeit war. Manchmal hat er einen fahrenlassen, wenn man mit ihm sprach, oder gerülpst oder sich das Schmalz aus den Ohren gepopelt. Er hatte echte Probleme.

Manchmal war ich auch eins für ihn. Einmal, als ich eine schlimme Fehlentscheidung bei einer Rechnung für das Motel draußen in Crager Plaza getroffen hatte, hat er mich einfach gegen die Tür geschmissen. Sie sind nicht so wie er. Für Sie ist die Blue-Ribbon-Wäscherei doch bloß Spielzeug, Steve. Es ist Ihnen egal, was aus mir wird. Sie interessieren sich nur für Ihre eigene Karriere. Also quasseln Sie mir hier nicht den Mist mit der Sorge um die Angestellten vor. Tun Sie doch nicht so, als hätten Sie Ihren Schwanz in meinen Mund gesteckt, und ich hätte reingebissen.«

Ordners Gesicht war eine Fassade ohne Risse. Seine Züge gaben einen Ausdruck von gemäßigtem Kummer preis, mehr nicht.

»Glauben Sie das wirklich?«

»Ja. Sie kümmern sich nur um das Blue Ribbon, insofern es Ihre Aufstiegschancen innerhalb der Gesellschaft berührt. Also lassen wir den Quatsch. Hier.« Damit schob er ihm seine Kündigung zu.

Ordner schüttelte wiederum mit dem Kopf. »Und was ist mit den Leuten, die Sie dadurch geschädigt haben, Bart? Die kleinen Leute? Mal abgesehen von allem anderen, Sie haben immerhin einen verantwortungsvollen Posten bekleidet.« Er schien diese Floskel auszukosten. »Was geschieht mit den Leuten von der Wäscherei, die nun alle ihre Arbeit verlieren, weil es nun keinen neuen Betrieb geben wird, in dem sie weiterarbeiten können?«

Er lachte heiser und sagte: »Sie blöder Scheißkerl. Sie sitzen schon so hoch auf dem Roß, daß Sie gar nicht mehr runtergucken, nicht wahr?«

Ordner wurde rot. Vorsichtig zischte er: »Das erklären Sie mir besser, Bart!«

»Jeder einzelne Lohnverdiener in der Wäscherei, angefangen von Tom Granger bis runter zu Pollack im Waschraum, hat eine Arbeitslosenversicherung. Sie gehört ihnen. Sie bezahlen dafür. Wenn Ihnen diese simple Überlegung Schwierigkeiten bereitet, stellen Sie sich vor, es ginge auf Geschäftskosten. So wie ein Mittagessen für vier Personen bei Benjamin’s.«

Verletzt sagte Ordner. »Das sind Sozialabgaben und das wissen Sie.«

Er sagte nur noch mal: »Sie blöder Scheißkerl.«

Ordner legte die Hände zusammen und ballte sie zu Fäusten. Er sah aus wie ein kleines Kind, dem man gerade eingebleut hat, wie es sein Vaterunser herunterbeten soll. »Bart, Sie gehen zu weit.«

»Nein, das tue ich nicht. Schließlich haben Sie mich hergebeten. Sie wollten eine Erklärung. Nun, was wollen Sie hören? Daß es mir leid tut, daß ich einen Fehler gemacht habe, daß ich es wieder gutmachen will? Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es tut mir nicht leid, und ich will auch nichts wieder gutmachen. Und wenn ich etwas vermasselt habe, dann ist das eine Sache zwischen mir und Mary. Und sie wird es vielleicht nie erfahren, jedenfalls ist das nicht sicher. Wollen Sie mir etwa weismachen, ich hätte die Gesellschaft geschädigt?

Ich glaube nicht mal, daß Sie zu so einer Lüge fähig wären.

Wenn eine Gesellschaft mal eine bestimmte Größe erreicht hat, kann sie nichts mehr schädigen. Sie ist dann so mächtig wie Gott. Wenn die Dinge gut laufen, macht sie einen riesigen Profit, wenn die Zeiten schlecht stehen, macht sie eben einen kleinen Profit, und wenn alles zusammenbricht, kriegt sie Steuererleichterungen. Das wissen Sie doch selbst am besten.«

Ordner wählte seine Worte sehr sorgfältig. »Wie sieht es mit Ihrer eigenen Zukunft aus, Bart? Was ist mit Mary?«

»Das interessiert Sie doch einen Dreck. Das ist nur ein Hebel, den Sie bei mir ansetzen wollen. Ich will Sie mal was fragen, Steve. Werden Sie unter dieser Sache leiden? Wird man Ihnen deswegen das Gehalt kürzen? Oder Ihre jährliche Dividende? Oder Ihre Altersrente?«

Ordner schüttelte den Kopf. »Gehen Sie nach Hause, Bart.

Sie sind heute nicht ganz bei Trost.«

»Warum? Weil ich von Ihnen und Ihren Kohlen rede?«

»Sie sind krank, Bart.«

»Sie haben ja keine Ahnung«, sagte er, stand auf und knallte seine Faust auf Ordners Schreibtisch. »Sie sind sauer auf mich, aber Sie wissen nicht, warum. Jemand hat Ihnen mal beigebracht, daß Sie in einer Situation wie dieser sauer werden müssen. Aber Sie wissen nicht, wieso.«

Ordner wiederholte langsam: »Sie sind krank, Bart.«

»Sie haben verdammt recht. Und was sind Sie?«

»Gehen Sie nach Hause, Bart.«

»Nein, aber ich werde Sie jetzt alleine lassen. Das ist es doch, was Sie wollen. Beantworten Sie mir nur noch eine Frage. Sein Sie mal für eine Sekunde lang nicht der Manager der Gesellschaft, und beantworten Sie mir diese eine Frage. Macht Ihnen das alles wirklich etwas aus? Hat das Ganze für Sie auch nur einen Funken von Bedeutung?«

Ordner sah ihn lange Zeit ruhig an. Die Stadt, die sich hinter ihm ausbreitete, wirkte wie ein Königreich von hohen Türmen, das in Nebel gehüllt war. Dann sagte er: »Nein.«

»Gut«, sagte er besänftigt. Er musterte Ordner ohne Feindseligkeit. »Ich hab’ es nicht getan, um Sie in Schwierigkeiten zu bringen’. Oder die Gesellschaft.«

»Warum dann? Ich habe Ihre Frage beantwortet, nun beantworten Sie mir auch meine. Sie hätten den Waterford-Vertrag ohne weiteres unterzeichnen können. Danach hätten Sie die Sorgen ruhig anderen überlassen können. Warum haben Sie das nicht getan?«

»Das kann ich Ihnen nicht erklären«, antwortete er. »Ich habe auf mich selbst gehört. Aber innerlich sprechen die Menschen immer eine andere Sprache. Wenn man es laut ausspricht, klingt es wie ein Haufen ungereimter Scheiße.

Aber es war für mich das einzig Richtige.«

Ordner sah ihm in die Augen, ohne mit einer Wimper zu zucken. »Und Mary?«

Er schwieg.

»Gehen Sie nach Hause, Bart«, wiederholte Ordner.

»Was wollen Sie von mir, Steve?«

Ordner schüttelte ungeduldig den Kopf. »Wir sind miteinander fertig, Bart. Wenn Sie eine Seelenmassage brauchen, gehen Sie in die nächste Bar.«

»Was wollen Sie von mir?«

»Nur, daß Sie von hier verschwinden und endlich nach Hause gehen.«

»Was erwarten Sie eigentlich vom Leben? Was bedeutet Ihnen wirklich etwas?«

»Gehen Sie nach Hause, Bart.«

»Antworten Sie mir! Was erwarten Sie?« Er sah Ordner unverschämt ins Gesicht.

Ganz langsam antwortete Ordner: »Ich erwarte das, was jeder Mensch sich erwartet. Gehen Sie nach Hause, Bart.«

Er verließ das Büro, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Und er kam nie wieder dorthin zurück.

Als er zu Magliore hinausfuhr, schneite es stark, und die meisten entgegenkommenden Wagen hatten ihre Scheinwerfer eingeschaltet. Seine Scheibenwischer schlugen in gleichmäßigem Rhythmus hin und her und wischten den Schnee zur Seite, der aufgrund der Entfrostungsanlage sofort schmolz und in Schlieren die Scheibe entlangrann. Wie Tränen.

Er parkte wieder hinter dem Haus und ging nach vorne ins Büro. Bevor er eintrat, betrachtete er sein gespenstisches Spiegelbild in der Türscheibe und wischte sich einen rosa Belag von den Lippen. Die Auseinandersetzung mit Ordner hatte ihn mehr aufgeregt, als er erwartet hätte. Er hatte unterwegs vor einem Drugstore gehalten und sich eine Flasche Pepto-Bismol besorgt. Auf dem Weg hier raus hatte er schon die Hälfte davon runtergeschluckt. Jetzt werde ich wohl wochenlang nicht richtig aufs Klo können, Fred. Aber Freddy war nicht zu Hause. Vielleicht besuchte er Monohans Verwandte in Bombay.

Die Frau in der Kinokasse arbeitete wieder an der Rechenmaschine. Sie schenkte ihm ein nachdenkliches Lächeln und bedeutete ihm, er könne gleich hineingehen.

Magliore war allein und las im Wallstreet Journal. Als er eintrat, warf er die Zeitung quer über den Tisch und in den Papierkorb, wo sie mit einem Rascheln der Blätter landete.

»Wenn das so weitergeht, fahren wir direkt zur Hölle«, sagte er, als führe er einen inneren Dialog fort, der schon früher begonnen hatte. »Die Börsenmakler sind alte Waschweiber, da hat Paul Harvey ganz recht. Wird der Präsident zurücktreten? Wird er’s nicht tun? Will er es überhaupt?

Wird General Electric an dieser Energiekrise bankrott gehen?

Das geht mir alles auf die Nerven.«

»Ja«, sagte er, ohne zu wissen, worin er ihn bestätigte. Er fühlte sich unsicher, denn er wußte nicht so recht, ob Magliore sich überhaupt noch an ihn erinnerte. Was sollte er sagen? Ich bin der Kerl, der Sie gestern einen Knallkopf genannt hat, erinnern Sie sich? Das war wohl kaum ein guter Anfang.

»Schneit es immer noch dräuen?«

»Ja, sogar ziemlich stark.«

»Ich mag keinen Schnee. Mein Bruder fährt jedes Jahr im November nach Puerto Rico und kommt erst am fünfzehnten April wieder zurück. Behauptet, daß er sich da um seine Investitionen kümmern muß. Quatsch. Der kann sich nicht mal um seinen eigenen Arsch kümmern. Was wollen Sie?«

»Ha?« Er zuckte zusammen und fühlte sich schuldig.

»Sie sind zu mir gekommen, damit ich Ihnen etwas besorge. Wie kann ich es Ihnen beschaffen, wenn ich nicht weiß, was es ist?«

Als er so brutal damit konfrontiert wurde, fiel es ihm schwer, darüber zu sprechen. Es war, als weigerten die Worte sich, ausgesprochen zu werden.

Ihm fiel eine Episode aus seiner Kindheit ein, und er lächelte zaghaft.

»Was ist denn so lustig?« fragte Magliore scharf, aber freundlich. »So, wie die Geschäfte im Augenblick laufen, könnte ich eine Aufheiterung vertragen.«

»Ich hab’ mir mal, als ich noch ein Kind war, ein Jo-Jo in den Mund gesteckt«, antwortete er.

»Und das ist lustig?«

»Nein, aber ich bekam es nicht wieder heraus. Das ist lustig. Meine Mutter hat mich zum Arzt gebracht, und der hat es wieder herausgeholt. Er hat mir einfach einen Tritt in den Hintern gegeben, und als ich den Mund aufmachte, um zu schreien, hat er es schnell herausgezogen.«

»Ich werde Sie nicht in den Hintern treten«, bemerkte Magliore trocken. »Was wollen Sie von mir, Dawes?«

»Sprengstoff.«

Magliore starrte ihn an. Er verdrehte die Augen und schien etwas sagen zu wollen, aber statt dessen schlug er sich erst einmal gegen seine Hängebacke. »Sprengstoff?«

»Ja.«

»Ich hab’s ja gewußt, daß er ein Spinner ist«, sagte Magliore zu sich selbst. »Ich hab’s noch zu Pete gesagt, gestern, nachdem Sie gegangen waren. ›Dieser Kerl da wartet darauf, daß ein großer Unfall passiert.‹, hab’ ich zu ihm gesagt.«

Er erwiderte nichts. Das Gerede vom Unfall erinnerte ihn an Johnny Walker.

»Also gut. Sagen Sie mir, wozu Sie Sprengstoff brauchen.

Wollen Sie die ägyptische Handelsausstellung in die Luft jagen? Oder ein Flugzeug entführen? Oder wollen Sie einfach bloß Ihre Schwiegermutter damit in die Hölle schicken?«

»An die. würde ich keinen Sprengstoff verschwenden«, antwortete er steif, und beide mußten lachen. Aber es löste die Spannung zwischen ihnen nicht.

»Also? Was ist es? Wen haben Sie auf dem Kieker?«

»Ich habe niemanden auf dem Kieker«, antwortete er.

»Wenn ich jemanden umbringen wollte, würde ich mir ein Gewehr kaufen.« Dann fiel ihm ein, daß er sich ja schon ein Gewehr gekauft hatte. Zwei sogar. Sein mit Pepto-Bismol gefüllter Magen fing plötzlich an zu grollen.

»Und wozu brauchen Sie nun den Sprengstoff?«

»Ich möchte eine Straße in die Luft jagen.«

Magliore sah ihn ungläubig an. Seine Gefühle schienen ihn zu überwältigen. Sie kamen ihm plötzlich genauso vergrößert vor wie die durch die Lupenwirkung der Brille vergrößerten Augen. »Sie wollen also eine Straße in die Luft jagen. Welche Straße?«

»Sie ist noch nicht gebaut worden.« Langsam fand er einen perversen Gefallen an der Sache. Und natürlich zögerte dies die unvermeidliche Konfrontation mit Mary noch eine Weile hinaus.

»Sie wollen also eine Straße in die Luft sprengen, die noch gar nicht gebaut ist. Ich hab’ Sie falsch eingeschätzt, Mister. Sie sind kein Spinner, Sie sind ein Psychopath. Können Sie mal vernünftig mit mir reden?«

Er wählte seine Worte sorgfältig. »Sie bauen gerade an einer Straße, die als 784-Autobahnzubringer bezeichnet wird.

Wennn sie fertig ist, wird die Staatsautobahn direkt durch die Stadt führen. Aus ganz bestimmten Gründen will ich nicht … kann ich nicht … diese Straße zerstört zwanzig Jahre meines Lebens. Sie ist …«

»Ist es, weil sie die Wäscherei, in der Sie arbeiten, und Ihr Haus aus dem Weg räumt?«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich hab’ Ihnen ja gesagt, daß ich Sie überprüfen lasse.

Glauben Sie, ich hätte das nur so als Spaß gemeint? Ich wußte sogar, daß Sie Ihren Job verlieren würden. Vielleicht noch vor Ihnen.«

»Nein, ich weiß es schon seit einem Monat«, sagte er schnell, ohne sich die Worte zu überlegen.

»Und wie wollen Sie das bewerkstelligen? Werden Sie einfach ein paar Zündschnüre mit Ihrer Zigarre anstecken und die Dynamitstangen aus Ihrem Autofenster werfen?«

»Nein. Sie lassen die Maschinen an jedem Sonn- und Feiertag an der Baustelle stehen. Ich will sie alle in die Luft sprengen. Und die drei neuen Überführungen, die werde ich ebenfalls zerstören.«

Magliore musterte ihn erstaunt. Lange. Dann warf er plötzlich den Kopf in den Nacken und lachte. Sein riesiger Bauch wackelte, und seine Gürtelschnalle hüpfte darauf auf und ab wie ein Holzstück auf einem Wellenkamm. Sein Lachen war laut und voll und herzlich. Er lachte, bis ihm die Tränen über die Wangen kullerten,.und dann zog er aus irgendeiner Tasche ein großes, reichlich komisch wirkendes Taschentuch und wischte sich damit die Augen ab. Er stand einfach da und sah zu, wie Magliore lachte, und plötzlich war er sich sicher, daß dieser fette Mann mit den dicken Brillengläsern ihm den Sprengstoff verkaufen würde. Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. Das Lachen machte ihm nichts aus. An einem Tag wie heute tat es sogar ganz gut.

»Mann, Sie sind mir vielleicht einer«, kicherte Magliore, als er sich wieder etwas beruhigt hatte. »Ich wünschte, Pete wäre da, um sich das anzuhören. Das wird er mir niemals glauben. Gestern noch haben Sie mich einen Knallkopf genannt und heute … heu-heute …« Und wieder brüllte er vor Lachen und wischte sich mit dem riesigen Taschentuch übers Gesicht.

Als der Anfall vorüber war, fragte er: »Und wie wollen Sie dieses kleine Abenteuer finanzieren, Mr. Dawes? Jetzt, da Sie nicht mehr erwerbstätig sind?«

Er fand das eine lustige Formulierung. Nicht mehr erwerbstätig. Wenn man es so ausdrückte, klang es richtig echt. Er war arbeitslos. Und das alles hier war kein Traum.

»Ich habe mir letzten Monat meine Lebensversicherung auszahlen lassen«, erklärte er. »Ich habe über zehn Jahre lang für eine Zehntausend-Dollar-Police gezahlt. Im Augenblick besitze ich um die dreitausend Dollar.«

»Tragen Sie diesen Plan wirklich schon so lange mit sich herum?«

»Nein«, antwortete er aufrichtig. »Als ich mir die Versicherung auszahlen ließ, wußte ich noch nicht so genau, was ich damit anfangen wollte.«

»Damals haben Sie sich wohl noch alle Möglichkeiten offengehalten, was? Sie haben sich gedacht, Sie könnten die Straße verbrennen oder sie mit einem Maschinengewehr zusammenschießen. Oder wollten Sie sie vielleicht erwürgen?«

»Nein. Ich wußte einfach nicht, was ich tun würde. Aber jetzt weiß ich’s.«

»Na gut, aber ohne mich.«

»Was?« Er blinzelte und starrte Magliore verblüfft an. Das stand nicht in seinem Drehbuch. Magliore sollte es ihm schon schwermachen, auf eine gewisse väterliche Art, aber zuletzt sollte er ihm doch den Sprengstoff verkaufen. Und dann sollte er sich aus der Affäre ziehen, etwa folgendermaßen: Wenn Sie sich erwischen lassen, werde ich leugnen, je von Ihnen gehört zu haben.

»Was haben Sie gesagt?«

»Ich sagte nein. N-e-i-n - und das heißt nein.« Er beugte sich vor. In seinen Augen war keine Spur von Humor mehr zu sehen. Sie waren klar und wirkten trotz der Vergrößerung durch die Brillengläser plötzlich klein. Es waren nicht mehr die Augen eines fröhlichen neapolitanischen Weihnachtsmannes.

»Hören Sie«, sagte er zu Magliore. »Wenn man mich erwischt, werde ich leugnen, je von Ihnen gehört zu haben. Ich werde niemals Ihren Namen erwähnen.«

»Einen Dreck werden Sie tun. Sie werden Ihr ganzes Herz ausschütten, und man wird Sie für unzurechnungsfähig erklären. Und ich wäre für den Rest meines Lebens geliefert.«

»Nein, hören Sie …«

»Nein, Sie hören mir jetzt mal zu«, sagte Magliore scharf.

»Bis zu einem gewissen Punkt sind Sie ja ganz komisch, aber dieser Punkt ist jetzt erreicht. Ich habe nein gesagt, und ich meine nein. Keine Waffen, kein Sprengstoff, kein Dynamit, gar nichts. Warum? Weil Sie ein Spinner sind, und ich bin Geschäftsmann. Jemand hat Ihnen erzählt, daß Sie bei mir solches Zeug kriegen können. Das stimmt, ich kann eine Menge Dinge beschaffen. Ich habe schon viele Sachen für viele Leute besorgt. Aber ich habe mir dabei auch selbst etwas eingehandelt. 1946 bekam ich eine Zweihundertfünfzig-Dollar-Strafe wegen heimlichen Tragens einer Waffe aufgebrummt. Das waren zehn Monate Gefängnis. 1952 bekam ich eine Verschwörungsklage an den Hals, die ich abwenden konnte.

1955 eine Klage wegen Steuerhinterziehung. Ich kam auf Kaution frei. 1959 wurde ich wegen Hehlerei gefaßt, und diesmal kam ich nicht mit einer Kaution davon. Das bedeutete achtzehn Monate in Castleton, aber der Kerl, der mich an die Grand Jury verpfiffen hat, liegt jetzt unter der Erde. Seit 1959 habe ich noch dreimal vor Gericht gestanden. Zweimal wurde die Anklage fallengelassen, einmal kam ich mit einer Kaution frei. Die würden mich gerne wieder zu fassen kriegen, denn wenn sie mir was Richtiges anhängen können, gehe ich diesmal für zwanzig Jahre in den Knast. Keine vor-zeitige Entlassung wegen guter Führung. Für einen Mann in meiner Verfassung heißt das, daß von mir höchstens noch die Nieren wieder rauskommen, die dann vielleicht irgendeinem Nigger in Norton eingepflanzt werden. Im Zuge des Wohlfahrtsprogramms für die Schwarzen. Für Sie mag das alles ein Spiel sein. Ein bißchen verrückt zwar, aber ein Spiel.

Für mich ist es bitterer Ernst. Sie glauben zwar, Sie sagen die Wahrheit, wenn Sie behaupten, daß Sie den Mund halten würden. Aber Sie lügen. Sie belügen nicht mich, sondern sich selbst. Also, die Antwort heißt schlicht und einfach - nein.« Er warf die Hände hoch. »Wenn es sich um eine Mieze gehandelt hätte, mein Gott, ich hätte Ihnen gleich zwei besorgt, meinetwegen auch umsonst, wegen der Vorstellung, die Sie gestern hier abgezogen haben. Aber auf solche Sachen lasse ich mich nicht ein.«

»Schon gut«, flüsterte er. Sein Magen rebellierte. Er hatte das Gefühl, daß er sich gleich übergeben würde.

»Dieses Büro ist sauber«, fuhr Magliore fort. »Ich weiß, daß es sauber ist. Außerdem weiß ich, daß Sie sauber sind, aber Sie werden es wohl kaum bleiben, wenn Sie tatsächlich Ihren Plan durchführen wollen. Ich will Ihnen mal was erzählen.

Vor ungefähr zwei Jahren kam einer von diesen Niggern hierher zu mir und verlangte Sprengstoff. Er wollte nicht so etwas Harmloses wie eine Straße in die Luft jagen, er hatte es gleich auf den staatlichen Gerichtshof abgesehen.«

Erzählen Sie mir nichts mehr, dachte er. Ich werde mich gleich übergeben. Sein Magen fühlte sich an, als wäre er voller Federn, die ihn fürchterlich kitzelten.

»Ich hab’ ihm das Zeug verkauft«, sagte Magliore. »Ein biß-

chen hiervon, ein bißchen davon. Wir haben miteinander ge-feilscht. Er hat mit seinen Leuten geredet, ich mit meinen.

Geld wechselte die Hände. Viel Geld. Er nahm das Zeug mit.

Die Bullen haben ihn und zwei von seinen Kumpanen geschnappt, bevor sie überhaupt in die Nähe des Gerichtshofs gekommen sind. Gott sei Dank. Aber ich habe lange Zeit kein Auge zugetan aus Sorge, was er den Bullen oder dem Staats-anwalt oder dem EFF-BIE-EI alles erzählen würde. Und wissen Sie warum? Weil er mit einem Haufen von Spinnern zusammen war, Negerspinnern, und das ist die schlimmste Sorte. Und wenn davon ein ganzer Haufen zusammen ist, ist das noch schlimmer. Ein einzelner Verrückter wie Sie kann nicht viel anrichten. Er brennt einfach aus wie ‘ne Glühbirne.

Aber wenn da dreißig Kerle zusammen sind und drei von ihnen geschnappt werden, versiegeln sie plötzlich alle ihre Lippen und schieben jemand anderem die Schuld in die Schuhe.«

»Schon gut«, sagte er wieder. Seine Augen brannten.

»Sehen Sie«, sagte Magliore etwas ruhiger, »mit dreitausend Dollar hätten Sie das Zeug sowieso nicht bezahlen können. Das hier ist so etwas wie ein Schwarzmarkt, verstehen Sie? Um die Menge Sprengstoff zu kaufen, die Sie benötigen, müssen Sie drei- bis viermal soviel ausgeben.«

Er schwieg. Er konnte nicht gehen, bevor Magliore ihn wegschickte. Es war wie in einem Alptraum, nur daß dies kein Alptraum war. Er mußte immer wieder an sich halten, um nicht vor Magliores Augen irgend etwas Dämliches zu tun. Zum Beispiel sich in den Arm kneifen, um wach zu werden.

»Dawes?«

»Was?«

»Es hätte auch gar keinen Sinn. Ist Ihnen das denn nicht klar? Sie können einen Menschen töten oder ein Denkmal in die Luft jagen oder ein wichtiges Kunstwerk zerstören wie dieser Kerl, der mit einem Hammer auf die Pietä losgegangen ist. Möge ihm die Nase deswegen verrotten. Aber Sie können keine Straße oder kein Gebäude in die Luft sprengen. Das ist es ja, was diese Nigger nicht kapieren wollen. Wenn sie den Gerichtshof in die Luft sprengen, wird der Staat zwei neue bauen - einen, um den alten zu ersetzen, und einen weiteren, um jedes einzelne von diesen schwarzen Arschlöchern zu verknacken, das seine Nase zur Tür hereinstreckt. Wenn man rumläuft und die Bullen abknallt, werden sie sechs neue Bullen für jeden getöteten anheuern. Und jeder dieser Bullen ist auf der Jagd nach schwarzer Haut. Sie können nicht gewinnen, Dawes. Ob weiß oder schwarz. Wenn Sie sich dieser Straße in den Weg stellen, werden Sie mitsamt Ihrem Haus und Ihrer Wäscherei untergepflügt werden.«

»Ich muß jetzt gehen«, sagte er heiser.

»Ja, Sie sehen gar nicht gut aus. Sie müssen sich das aus dem Kopf schlagen. Ich kann Ihnen eine alte Hure beschaffen, wenn Sie wollen. Sie ist alt und dumm, und Sie können sie kräftig zusammenschlagen, wenn Ihnen das hilft. Werden Sie das Gift los. Irgendwie mag ich Sie, deshalb …«

Er rannte, rannte blindlings durch die Tür, durch das Vorzimmer und in den Schnee hinaus. Draußen stand er zitternd und atmete in großen Zügen die kalte Schneeluft ein. Er hatte Angst, daß Magliore plötzlich herausgerannt käme und ihn am Kragen wieder in sein Büro ziehen würde, um bis ans Ende aller Zeiten auf ihn einzureden. Wenn Gabriel in seine Posaune blies, würde er immer noch dastehen und ihm geduldig die Unverletzlichkeit des Systems und den Nutzen einer alten Hure erklären.

Als er nach Hause kam, lag der Schnee schon fast zwanzig Zentimeter hoch. Der Schneepflug war schon vorbeigefahren, und er mußte den Wagen durch einen Wall am Straßenrand steuern, um in seine Auffahrt zu gelangen. Der LTD schaffte das ohne Mühe. Es war ein guter, schwerer Wagen.

Das Haus war dunkel. Er öffnete die Tür und trat auf der Fußmatte den Schnee von den Schuhen. Drinnen war alles still. Merv Griffin plauderte heute abend nicht mit seinen Be-rühmtheiten.

»Mary?« rief er, erhielt aber keine Antwort. »Mary?«

Er hätte gern geglaubt, daß sie nicht zu Hause sei, doch da hörte er ihr unterdrücktes Schluchzen aus dem Wohnzimmer. Er zog seinen Mantel aus und hängte ihn auf einen Bügel in der Garderobe. Unter den Bügeln stand eine kleine Schachtel. Sie war leer. Mary stellte sie jeden Winter dort auf, um die Tropfen aufzufangen. Er hatte sich des öfteren gefragt, wem ein paar Tropfen in der Garderobe etwas ausmachen könnten. Heute fiel ihm die Antwort darauf ein, einfach und deutlich. Mary machte es etwas aus. Das genügte.

Er ging ins Wohnzimmer. Sie saß im Dunkeln vor dem blinden Bildschirm. Sie kauerte auf dem Sofa und weinte.

Sie benutzte kein Taschentuch, und ihre Hände lagen ruhig in ihrem Schoß. Früher hatte sie nur heimlich geweint. Sie war entweder ins Schlafzimmer gerannt und hatte sich in ihrem Bett verkrochen, oder sie hatte das Gesicht in den Händen beziehungszweise in einem Taschentuch versteckt, wenn es sie überraschend traf. Als er sie jetzt so vor sich sah, kam ihm ihr Gesicht nackt und obszön vor. Das Gesicht des Opfers eines Flugzeugabsturzes. Es zerriß ihm das Herz.

»Mary«, sagte er leise.

Sie weinte vor sich hin und blickte nicht einmal zu ihm auf. Er setzte sich neben sie.

»Mary. So schlimm ist es doch gar nicht. Nichts kann so schlimm sein.« Aber da war er sich selbst nicht so sicher.

»Es ist das Ende«, schluchzte sie, und die Worte klangen verzerrt durch ihr Weinen. Seltsamerweise breitete sich gerade in diesem Augenblick des Zusammenbruchs eine Schönheit auf ihrem Gesicht aus, die es vorher nie gehabt hatte. Es leuchtete richtig. In diesem Augenblick der Katastrophe war sie eine begehrenswerte Frau.

»Wer hat es dir gesagt?«

»Jeder hat es mir gesagt!« rief sie. Sie sah ihn immer noch nicht an, aber sie ballte eine Hand zur Faust und schlug damit ziellos in die Luft. Dann ließ sie sie wieder in den Schoß fallen. »Tom Granger hat mich angerufen. Dann hat Ron Stones Frau bei mir angerufen. Danach hat Vincent Mason angerufen. Alle wollten wissen, was mit dir los ist. Und ich hab’s nicht gewußt. Ich hatte keine Ahnung, daß etwas nicht in Ordnung war.«

»Mary«, sagte er und versuchte, ihre Hand zu fassen. Sie zog sie weg, als ob er eine ansteckende Krankheit hätte.

»Willst du mich bestrafen?« fragte sie und sah ihn nun endlich an. »Ist es das, was du vorhast? Willst du mich bestrafen?«

»Nein«, antwortete er bestürzt. »Oh, Mary, nein.« Am liebsten hätte er auch geweint, aber das wäre falsch gewesen.

Das wäre jetzt völlig fehl am Platz.

»Weil ich dir ein totes Kind geboren habe und danach ein Kind mit einem angeborenen Selbstzerstörungsmechanismus? Glaubst du, daß ich deinen Sohn umgebracht habe? Ist das der Grund?«

»Mary, es war unser Sohn …«

»Es war dein Sohn!« schrie sie ihn an.

»Nicht, Mary. Bitte nicht.« Er versuchte, sie zu umarmen, aber sie riß sich los.

»Faß mich nicht an!«

Sie starrten sich gegenseitig an, entsetzt, denn sie entdeckten beide zum ersten Mal, daß es zwischen ihnen mehr gab, als sie je vermutet hätten - riesige weiße Flecken auf ihrer inneren Landkarte.

»Mary, ich konnte nicht anders handeln. Bitte, glaube mir.« Aber das konnte auch eine Lüge sein. Trotzdem stürzte er sich in die Erklärung. »Vielleicht hatte es etwas mit Charlie zu tun. Ich habe ein paar Dinge getan, die ich selbst nicht verstehe. Ich … ich habe mir im Oktober meine Lebensversicherung auszahlen lassen. Das war das erste, meine erste reale Handlung, aber mir sind schon lange vorher solche Dinge durch den Kopf gegangen. Es kam mir eben einfacher vor, etwas zu tun› als darüber zu reden. Kannst du das verstehen, Mary? Kannst du es wenigstens versuchen?«

»Was wird nun aus mir, Barton? Ich habe nichts anderes gelernt, als deine Frau zu sein. Was soll nun aus mir werden?«

»Ich weiß es nicht.«

»Es ist, als ob du mich vergewaltigt hättest.« Sie fing wieder an zu weinen.

»Mary, bitte, hör auf. Bitte … versuch, damit aufzuhören.«

»Hast du auch nur ein einziges Mal an mich gedacht, als du all diese Dinge getan hast? Hast du einmal daran gedacht, daß ich von dir abhängig bin?«

Er konnte nicht antworten. Auf eine seltsame Art kam es ihm vor, als stünde Magliore wieder vor ihm und redete auf ihn ein. Es war, als hätte Magliore ihn nach Hause geschleift, sich mit Marys Kleidern verkleidet und sich ihre Maske aufgesetzt. Was kam als nächstes? Das Angebot mit der alten Hure?

Sie stand auf. »Ich geh’ nach oben und leg’ mich ins Bett.«

»Mary …« Sie fiel ihm nicht ins Wort, aber er stellte fest, daß er nichts mehr zu sagen wußte.

Sie ging aus dem Zimmer, und er hörte sie die Treppe hin-aufgehen. Kurze Zeit darauf hörte er ihr Bett quietschen, als sie sich hinlegte. Danach hörte er sie wieder weinen.

Er stand auf, schaltete den Fernseher ein und drehte den Ton auf volle Lautstärke, um alles andere zu übertönen.

Merv Griffin plauderte wieder mit seinen Berühmtheiten.

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