Die Party nach der offiziellen Hochzeitsfeier war verschwenderisch ausgestattet, und die vielen Leute! Tonak kannte die wenigsten. Das sollten alles seine Verwandten sein? Kaum zu glauben.
»Tonak!« Eine tiefe Männerstimme. Tonak drehte sich um, den Teller in der Hand, den er am Buffettisch zu füllen im Begriff war.
Die gewaltige Gestalt Onkel Perets. »Tonak, mein Junge – du bist groß geworden, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe!«
Typisches Verwandtengeschwätz, dachte Tonak. Dasselbe hatte er heute schon mindestens fünf Mal zu hören bekommen, und ihm war immer noch keine geeignete Antwort darauf eingefallen. So sagte er nur: »Hallo, Onkel Peret.«
»Na, wie gefällt es dir bei uns im Amazonas? Du bist das erste Mal hier, nicht wahr?«
»Ja, stimmt.« Tonak sah sich um. Es stimmte, und es stimmte auch wieder nicht. Sein Blick ging über die Terasse, den weitläufigen Park dahinter, die anderen Wohneinheiten, die sich sanft in die Landschaft schmiegten. »Allerdings habe ich mir das Amazonasgebiet immer ganz anders vorgestellt. Anders als bei uns zuhause zumindest.«
Onkel Peret lachte. »Ja, ja, dein Vater hat mir schon von deiner Leidenschaft für die alten Abenteuerbücher erzählt. Aber diese Zeiten sind wirklich sehr, sehr lange her. Heute gibt es keine Wilden und keinen Dschungel mehr, und die gefährlichen Krankheiten sind längst ausgerottet. Auch hier hat die Kultur gesiegt, letzten Endes.«
»Ja, sieht so aus.« Sie waren alle so begeistert davon, alle, die er kannte.
»Kennst du eigentlich schon deine Cousine Gham’bia?« Er bedeutete einem schlaksigen Mädchen, herzukommen. »Gham’bia, ich möchte dir deinen Cousin Tonak aus Europa vorstellen. Er ist mit seinen Eltern erst heute angekommen, gerade noch rechtzeitig zum Fest.«
Sie musterte ihn mit einem Gesichtsausdruck, der deutlich verriet, was sie von dieser Art, ein Gespräch anzubahnen, hielt. »Hallo, Tonak.« Sie gab ihm betont artig die Hand.
Tonak war die Situation unbehaglich. »Hallo, Gham’bia.«
»Tja, ich glaube, ich muß jetzt weiter, meinen Pflichten als Gastgeber nachkommen«, meinte Onkel Peret, wie nicht anders zu erwarten gewesen war. »Unterhaltet euch schön, ihr zwei. Wir sehen uns später, Tonak, ihr seid ja noch ein paar Tage hier.«
Er bedachte sie mit einem Lächeln, das wohl harmlos wirken sollte, aber nur sehr künstlich aussah, und verschwand rasch zwischen den anderen Gästen.
Die Sonne war dabei unterzugehen, und Dämmerung senkte sich über die Landschaft. Ein sanfter Wind strich durch die Bäume, fremdartiges Zirpen ertönte von irgendwoher. Auf den Tischen brannten Kerzen in gläsernen Schalen, und Fackeln beleuchteten das Buffet und die Wege.
»Tut mir leid, Tonak, daß ich gerade so pampig war«, sagte Gham’bia. »Es hat nichts mit dir zu tun. Ich hasse es nur, wie er mich dauernd umherkommandiert – tu dies, tu das! Oh Gott! Und dauernd versucht er, mich zu verkuppeln. Als ob ich wer weiß wie häßlich wäre und trickreich an den Mann gebracht werden müßte.«
»Also häßlich bist du nicht«, entfuhr es Tonak, der fast rot wurde, als ihm die Kühnheit seines spontanen Ausrufs zu Bewußtsein kam. »Entschuldige.«
»Wieso denn, ist doch ein nettes Kompliment«, kicherte das Mädchen belustigt und schlug dann vor: »Magst du ein bißchen mit mir durch den Park spazieren?«
»Ja, gern. Ich muß nur meinen Teller irgendwo hinstellen.«
Als sie die Treppen hinuntergingen, die in den Park führten, betrachtete er sie verstohlen von der Seite. Sie hatte langes schwarzes Haar und ziemlich dunkle, samtene Haut. Vielleicht sechzehn, schätzte er. Sie wirkte irgendwie praktisch und lebenserfahren.
»Was ist das für ein Mann, den deine Schwester geheiratet hat?« fragte er, mehr aus dem Wunsch heraus, als gewandter Gesprächspartner zu erscheinen als aus wirklichem Interesse.
»Bjoot?« Sie gluckste. »Diese blasse Type? Dieser zum Erbrechen langweilige Kleiderständer? Dieser Inhaber der einzigen vakuumgefüllten Hirnschale auf diesem Planeten? Er arbeitet in irgendeiner Verteilungsbehörde, und wahrscheinlich rechnet er sich jetzt Karrierechancen aus, weil seine Schwiegermutter im Rat der Regierung sitzt.«
»Du kannst ihn wohl nicht leiden?«
»Ach, merkt man das? Nein, ich kann ihn nicht ausstehen. Der Junge, mit dem Alaina die ganzen Jahre vorher zusammen war, der war wirklich nett. Den hätte sie nehmen sollen. Aber mit dem gab es genetische Probleme; die beiden hätten keine Genehmigung für Kinder bekommen.«
»Deswegen hätte sie ihn aber doch heiraten können.«
»Zufällig ist Alaina verrückt danach, Kinder zu kriegen. Und Bjoot muß, so blöd er auch aussieht, der Träger geradezu phantastischer Gene sein. Mit ihm hat sie die Konzession für zwei Kinder gekriegt.« Gham’bia seufzte. »Jedenfalls hoffe ich, daß sie ihn wenigstens aus diesem Grund geheiratet hat und nicht, weil sie an galoppierender Geschmacksverirrung erkrankt ist.« Sie sah ihn keck von der Seite an. »Und du bist also der Tonak, der die ganzen alten Bücher liest.«
»Jeder scheint hier über mich Bescheid zu wissen«, wunderte sich Tonak. Er wußte nicht so recht, ob er sich geschmeichelt oder unwohl fühlen sollte.
»Ich glaube, meine Mutter und deine Mutter telephonieren ziemlich viel miteinander. Und am Eßtisch verkündet sie dann immer die neuesten Nachrichten aus Europa«, erklärte Gham’bia. »Das mit den Büchern finde ich echt interessant. Woher bekommst du die denn? Ich wüßte gar nicht, wo ich hier Bücher auftreiben sollte. Wenn mich etwas interessiert, frage ich es aus der Datenbank ab; das ist doch viel praktischer.«
»Bei uns im Wohnbereichszentrum gibt es eine Bibliothek; dorthin gehe ich immer zum Lesen«, erzählte Tonak.
»Und dort gibt es so alte Bücher? Dreihundert Jahre alt?«
»Ja. Manche sind sogar über vierhundert Jahre alt. Man darf sie nur in einem speziellen Lesesaal lesen, weil sie unerhört wertvoll sind.«
»Ist ja witzig. Ich muß mich glatt mal erkundigen, ob es sowas bei uns nicht auch gibt.«
»Bestimmt.«
»Und was für Bücher liest du da? Abenteuerromane, sagt meine Mutter, aber ich kann mir darunter nichts vorstellen.«
Tonak holte tief Luft. »Das sind spannende Erzählungen aus den Zeiten, als die verschiedenen Gegenden der Erde entdeckt und erstmals bereist wurden. Marco Polo… Jack London… Robinson Crusoe… Karl May… über die Konquistadoren, die Wikinger, die Ritter, die Großwildjäger…«
»Merkwürdig. Und das gefällt dir?«
»Ja, es ist einfach aufregend. Ich versuche immer, mir vorzustellen, was das für Zeiten gewesen sein müssen, als jemand zu einem anderen Erdteil aufbrechen konnte, über den er so gut wie nichts wußte. Manche zogen los und fanden sagenhafte Schätze, oder unbekannte Völker, oder sie entdeckten Tiere, die bis dahin unbekannt gewesen waren…«
»Das muß ziemlich gefährlich gewesen sein, oder?«
»Ja natürlich, das ist ja das Abenteuerliche daran: daß sie sich in Gefahr begaben und sie doch bewältigten, mit ihrer eigenen Kraft und Klugheit. Heutzutage ist das überhaupt nicht mehr möglich. Heute sieht es überall auf der Welt gleich aus, die ganze Erde ist eine Art Parklandschaft geworden, sauber, gepflegt und ungefährlich. Das ganze Leben läuft in seinen geregelten Bahnen.«
»Ich glaube, du bist ein ganz schöner Träumer, Cousin«, meinte Gham’bia. »Das war doch klar: wenn deine Abenteurer ständig ausziehen und die Welt erforschen, dann muß logischerweise der Tag kommen, an dem alles vollständig erforscht ist. Und so ist das eben heute. Vielleicht gibt es heute keine solchen Gefahren mehr, aber dafür muß niemand mehr hungern oder Angst um sein Leben haben.«
Tonak nickte betrübt. »Ja, sicher. Das weiß ich alles auch. Aber ist das denn das ganze Leben? Daß man zu essen hat und eine Wohnung, eine Arbeit, eine Familie… und weiter nichts?«
»Das ist doch schon eine ganze Menge«, meinte Gham’bia. »Was willst du denn außerdem noch?«
»Ich weiß nicht«, gab Tonak zu. »Ich habe nur irgendwie das Gefühl, daß das nicht genug ist.«
Gham’bia schüttelte den Kopf in einer Art, die etwas Mütterliches an sich hatte, trotz ihrer Jugend. »Ich glaube, du bist gerade in einer Umbruchsphase. Die Schule geht zu Ende, und du weißt noch nicht so recht, was kommt. Wenn du dich erst auf deinem Platz eingelebt hast, wirst du anders über das alles denken.«
Eine Umbruchsphase? Tonak seufzte innerlich. Wenn das eine Phase war, dann dauerte sie schon verflixt lange. Sein ganzes Leben lang.
Wahrscheinlich stimmte irgendwas mit ihm nicht.
»Liest du eigentlich nur solche alten Abenteuerromane?« fragte Gham’bia. »Sonst nichts? Das ist vielleicht ein bißchen einseitige Kost.«
Tonak dachte nach. Plagte ihn diese Sehnsucht, weil er so viele dieser Bücher las, oder las er so viele dieser Bücher, weil ihn diese Sehnsucht plagte – woher auch immer sie kommen mochte?
»Ich lese ziemlich viel, das stimmt«, gab er zu. »Und meistens Abenteuerromane. Manchmal auch Zukunftsromane.«
»Zukunftsromane?« wunderte sich Gham’bia. »Was ist denn das?«
»Das sind Erzählungen, wie sich die Leute früher ihre Zukunft vorstellten – also unsere Zeit heute. Fast alle waren davon überzeugt, daß wir über eine weitentwickelte Raumfahrt verfügen würden. Ich habe viele Romane gelesen, die beschreiben, wie Menschen der Zukunft mit Raumschiffen in die Tiefen des Weltraums vorstoßen, ferne Planeten erkunden und fremden Lebewesen begegnen.«
»So ein Unsinn. Was hätten wir denn davon?«
»Muß man denn immer etwas davon haben?« Tonak zeigte hinauf zum Nachthimmel, dessen funkelnde Sterne ihn auszulachen schienen. »Irgendwo dort draußen ist der Mars, mit seinen endlosen, roten Staubwüsten. Der Saturn, mit seinen grandiosen Ringen. Und unermeßlich viele weitere Wunder, von denen wir nicht einmal wissen. Wozu das alles, wenn niemals jemand dort oben stehen und das alles sehen soll?«
»Raumfahrt würde die Atmosphäre verschmutzen, und irgendwelche Raketen, die durchs All fliegen, kann man nicht mehr recyclen«, erklärte Gham’bia. »Meine Mutter hat mir das genau erklärt; sie sitzt schließlich auch im Forschungskontrollausschuß der Vereinten Nationen. Wir können uns keine Raumfahrt leisten, nur weil jemand die Ringe des Saturn sehen will.«
»Aber wozu sind wir denn geschaffen, wenn nicht, um alles anzuschauen, was es gibt?«
»Wir sind nicht geschaffen, wir sind entstanden. Und zufällig sind auch die Ringe des Saturn entstanden. Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Und wenn jemand den Saturn anschauen will, soll er ein Teleskop benutzen.«
Tonak wußte nicht, was er darauf sagen sollte. Alles, was er gelernt und erfahren hatte, bestätigte ihm, daß Gham’bia recht hatte.
Sie hatten den Rundgang über den Parkweg gerade vollendet. »Komm«, forderte Gham’bia ihn auf, »setzt dich ein wenig zu uns an den Tisch.«
An dem Tisch herrschte eine ausgelassene Stimmung. Den Löwenanteil der Unterhaltung bestritt eine hochgewachsene blonde Frau mit dem Erzählen von Anekdoten. Das mußte Tante Vataia sein. Tonak wußte, daß sie seit einiger Zeit der Regierung von Südbrasilien angehörte und in allerlei wichtigen Gremien mitwirkte.
»…Die Bolivianer waren harte Burschen, wirklich hart. Da war harter Widerstand. Aber dann hatte jemand aus unserer Delegation die geniale Idee, die Berechnungen für die Umweltverträglichkeit des Sonnenkraftwerks auf dem Illampu nachzuprüfen, und siehe da – Fehler über Fehler! Das war der entscheidende Durchbruch. Der nahm den Falken buchstäblich die Waffen aus der Hand.«
»Bolivien!« warf eine untersetzte ältere Frau ein. »Ich weiß noch, wie entsetzt ich auf meiner ersten Reise dorthin war. Die klotzen ihre Häuser einfach in die Landschaft, und manchmal ihre Fabriken gleich daneben. Schrecklich. Wirklich tiefstes zwanzigstes Jahrhundert, möchte man meinen.«
Eine kleine Weckuhr, die Tante Vataia an einer silbernen Kette um den Hals trug, gab einen melodischen Ton von sich. Sie sah auf das Zifferblatt, dann erhob sie sich und klatschte in die Hände. »Liebe Gäste, darf ich kurz um eure Aufmerksamkeit bitten? Die Wetterkontrolle hat für zehn vor elf Regen angekündigt. Wir verlegen die Feier deswegen jetzt nach drinnen. Bitte seid so gut und helft alle, die Sachen hineinzutragen!«
Ein großes und lautstarkes Tischerücken, Stühleschleifen und Schüsseltragen brach los. Unter Gekicher und Geschnatter wurden Türen geöffnet, Vorhänge aufgezogen, Tischdecken zusammengefaltet und Anrichteplatten leergescharrt. Tonak überließ die klirrenden Getränkekisten den anderen und half den Frauen, die Kerzen von den Tischen einzusammeln und nach drinnen zu bringen.
Als er zwei der Kerzen auf eine Vitrine stellte, fiel sein Blick auf einen gerahmten Druck, der darüber an der Wand hing. Es war eine kunstvoll gestaltete Landkarte Südbrasiliens. Sie zeigte die Aufteilung des Landes in Wohnbereiche, Erholungsgebiete, Arbeitsareale und landwirtschaftliche Nutzflächen, die Straßen, Flüsse und Flughäfen. Er wollte sich schon wieder abwenden, als sein Blick an einem weißen Fleck auf dieser Karte hängenblieb, auf dem stand: Wildnis.
Ihm war, als setze sein Herz einen Schlag lang aus. Unmöglich konnte Christopher Kolumbus anders empfunden haben, als damals tatsächlich Land am Horizont auftauchte in einer Richtung, in der alle anderen nur das Ende der Weltenscheibe erwartet hatten.
Wildnis! Gab es also noch Überreste des legendären Amazonas-Dschungels, ungezähmt gebliebene Relikte des ungeheuren Urwalds, der diesen Kontinent einmal überwuchert haben mußte?
Er hob mit bebender Hand eine der beiden Kerzen und sah genauer hin. Kein Zweifel. »Wildnis« stand da, und rings um den weißgebliebenen Fleck auf der Karte menschlichen Einflusses war eine gestrichelte Linie gezogen: die Grenzbefestigungen markierend, mit denen die Zivilisation sich das Ungezähmte, Unheimliche vom Leib hielt. Tonak studierte die Namen der Wohngebiete, die Namen der Strassen und Flüsse. Sein Herz machte einen weiteren Satz – irrte er sich auch nicht? Spielte ihm sein sehnlichster Wunsch auch keinen Streich? Er vergewisserte sich wieder und wieder, aber es schien ihm ganz so, als befänden sie sich hier, in diesem Haus, in unmittelbarer Nähe dieses weißen Flecks, in direkter Nachbarschaft zum Urwald.
Er suchte und fand seine Cousine. »Gham’bia, stimmt das, daß hier ganz in der Nähe die Wildnis beginnt?«
»Der Dschungel?« Sie sah ihn mit großen, verständnislosen Augen an. »Ja, der ist auf der anderen Seite des Flusses. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, wir sind hier absolut sicher.«
»Wie kommt man dort hin?«
»Wie meinst du das, wie kommt man dort hin?«
»Wohin muß ich gehen, wenn ich in den Urwald gehen will?«
»In den Urwald?«
»Ja. In den Dschungel. In die Wildnis.«
Völlige Verständnislosigkeit. »Man kann nicht in den Dschungel gehen. Es gibt keinen Weg dort hin. Und selbst wenn es einen gäbe, man braucht eine staatliche Erlaubnis dafür.«
»Ist der Dschungel eingezäunt?«
»Nein, aber es gibt einfach keine Brücke über den Fluß. Tonak, was soll das? Was stellst du mir für komische Fragen?«
Tonak sah sie an. »Vergiß es. Es hat mich nur interessiert.«
Sie musterte ihn von oben bis unten aus ihren unergründlichen schwarzen Augen. »Mach bitte keinen Unsinn, Tonak. Du kennst den Dschungel nur aus Erzählungen, aus Büchern… Es ist wirklich gefährlich dort, weißt du?«
»Ja, natürlich. Es hat mich nur interessiert.« Er machte, daß er fortkam, ehe er noch mehr preisgab von dem, was in ihm vorging.
»Es regnet!« rief jemand. Tonak sah beinahe automatisch auf seine Uhr: zehn vor elf. Pünktlich wie immer. Zuerst nur kleine, glitzernde Punkte auf den großen Glasscheiben und dunkle Flecken auf der Terasse, dann setzte der Regen ein, weich und gleichmäßig niederpladdernd, wie es am besten war für die Pflanzen.
In dieser Nacht fand Tonak keine Ruhe, und das lag nicht nur an dem engen Gästebett. Der Urwald! Ganz in der Nähe! Das letzte Stück ungezähmter Natur auf der ganzen Welt, und er war nur einen Fußmarsch davon entfernt. Er konnte nicht schlafen, wälzte sich wie im Fieber.
Wann würde eine solche Chance einmal wiederkehren in seinem Leben? Das war leicht auszurechnen: nie. Er stand am Ende seiner Ausbildungszeit, Beruf und Familiengründung warteten auf ihn, und dann… nichts weiter. Das war es dann.
Tonak schlug die Decke zurück und setzte sich auf. Es war nackter Wahnsinn, was er vorhatte, das wußte er. Aber in ihm war ein Verlangen, ein brennendes Sehnen, das stärker war als er und alle vernünftigen Argumente. Er zog sich rasch und geräuschlos an und schlüpfte aus dem Zimmer.
Das Haus lag dunkel und still. Später sollte er sich daran erinnern, daß er sich nie vorher und nie mehr danach so sehr lebendig gefühlt hatte wie in diesem Moment, als er mit verhaltenem Atem und leise wetzenden Schritten durch die dunklen Korridore schlich.
Er fand eine der Kerzen, die von der Party übrig geblieben waren, und zündete sie an. In der Küche und im Keller fand er einiges von dem, was er suchte. Er verließ das Haus durch eine der Terassentüren.
Die Nacht war kühler, als er erwartet hatte. Er marschierte entschlossen los, inständig hoffend, daß er sich richtig orientiert hatte. Er stapfte voran, so schnell es ging, und ihm wurde rasch warm.
Er erreichte den Fluß nach ungefähr anderthalb Stunden. Die letzte halbe Stunde hatte er querfeldein gehen müssen, weil kein Weg und keine Strasse zum Flußufer führte. Schließlich kam er bei den Bäumen an, die den Fluß säumten, stolperte die Böschung hinab und stand am Ufer.
Da floß er, träge glitzernd, ein breiter Flußlauf, der die Zivilisation vor dem letzten Dschungel schützte wie ein Burggraben. Tonak hockte sich hin und steckte die Hand ins Wasser. Es war eiskalt.
Darin besteht das Abenteuer, dachte er. Die Herausforderung anzunehmen. Er begann, sich auszuziehen und seine Kleider in den Plastiksack zu stopfen, in dem er seine hastig zusammengesuchte Ausrüstung mit sich trug.
Schließlich war er nackt. Schlotternd knotete er den Beutel zu, wobei er ein kurzes Seil mit einflocht, dessen anderes Ende er sich um den rechten Oberarm schlang. Er zerrte kräftig an dieser Befestigung, aber sie hielt. Um keinen Preis durfte er diesen Sack verlieren.
Und nun ins Wasser. Er tat zitternd und bebend einen Schritt vor in den Schlamm des Flusses, so daß das Wasser seine Knöchel umspülte. Es war beißend kalt. Noch nie hatte er derartige Kälte am eigenen Leib gespürt. Hätte man ihm das befohlen, was er aus eigenem Entschluß zu tun im Begriff war, er hätte sich mit aller Kraft geweigert. Aber nun stieg ein nie gekanntes Gefühl von Freiheit in ihm auf, einer Freiheit, die auf nichts anderem beruhte als auf seinen eigenen Kräften und Fähigkeiten, eine Freiheit, die ihm niemand geben mußte, sondern die immer sein eigen gewesen war und die er nun endlich entdeckt hatte.
Schritt um Schritt watete er weiter in den Fluß hinein, mit zusammengebissenen Zähnen und am ganzen Leib fröstelnd. Der Strom zerrte gewaltig an ihm, als ihm das Wasser bis zu den Oberschenkeln reichte, und als es tiefer und tiefer wurde, mußte er schließlich ganz eintauchen, was ihm nicht ohne einen Schrei gelang, und loslassen, sich forttragen lassen von der Strömung.
Er schwamm mit kräftigen, gleichmäßigen Zügen. Die Kälte raubte ihm fast den Atem, umschloß ihn mit erbarmungslosem Griff. Aber er spürte eine animalische Wildheit in sich erwachen, eine rohe Entschlossenheit, das andere Ufer zu erreichen, und wenn es das Letzte sein sollte, was er im Leben tun würde. Diese Kraft setzte sich der Kälte entgegen und ließ ihn weiter kraftvoll ausholen.
Und dann langte er auf der anderen Seite an, auf einer flachen Sandbank. Keuchend riß er den Beutel auf und zerrte das Handtuch hervor, um sich damit trockenzureiben, die Glieder seines Körpers wieder ins Leben zurück zu massieren. Er hätte jauchzen können. Er hatte es geschafft. Er hatte es tatsächlich geschafft. Triumphierend blickte er zurück auf die Seite, die er hinter sich gelassen hatte, sah vereinzelte Lichpunkte in weiter, weiter Ferne. Dann drehte er sich um, und da war nur Dunkelheit, reine, finstere Nacht, in der kein Licht außer dem des Mondes existierte. Er hatte es geschafft. Er war ihnen entkommen.
Er war… draußen!
Nachdem er sich wieder angezogen hatte, drang er behutsam in den Wald vor. Fremdartige Gerüche umfingen ihn, süßliche Düfte, ekelerregende Ausdünstungen, Gerüche von Moder und faulendem Holz. Äste knackten unter seinen Füßen und lösten zischelnde Geräusche irgendwo im Dunkel aus, die ihm Schauder über den Rücken jagten. Ab und zu blieb er stehen und lauschte, am ganzen Körper angespannt. Es war still, bis auf fernes Zirpen und Rascheln. Er konnte den Urwald um sich herum spüren wie einen einzigen riesigen Organismus, und er fühlte sich, als marschiere er geradewegs in den Schlund eines kolossalen Ungeheuers.
Er begriff, daß es nicht ratsam war, bei völliger Dunkelheit durch einen Dschungel zu stolpern, von dem er nichts wußte. Er kehrte um und suchte sich einen geschützten Platz am Waldrand. Sein Körper glühte noch immer von dem kalten Wasser, und er spürte alle Lebenskräfte in sich beben und pulsieren, aber er spürte auch bleierne Müdigkeit aufsteigen, die Müdigkeit eines anstrengenden Transatlantikfluges, eines langen Tages und einer ereignisreichen Nacht. Er legte sich nieder, zwischen Moos und raschelnden Blättern, und schlief auf der Stelle ein.
Als er erwachte, war es hell. Er brauchte einen Moment, bis ihm wieder einfiel, was geschehen war. Wäre er an diesem Morgen in seinem Bett erwacht, er hätte das Erlebte bereitwillig als phantastischen Traum akzeptiert. Aber dies war die Wirklichkeit. Mit einem Schlag war er hellwach.
Die Sonne stand schon recht hoch am Himmel und brannte kraftvoll auf ihn herab. Er sah sich blinzelnd um. Bei Tag wirkte alles weit weniger bedrohlich, fast schon gewöhnlich. Da war der Fluß, den er durchschwommen hatte. Und wenn er sich umdrehte, der Wald mit seiner sinnverwirrenden Vielfalt verschiedener Pflanzen, Bäume, Sträucher und Blüten. Tonak nahm sein Bündel und stand auf. Der Dschungel wartete auf ihn. Mit dem großen, scharfen Messer, das er aus Tante Vataias Küche entwendet hatte, arbeitete er sich durch das Unterholz vorwärts. Jetzt war der Wald wach. Um ihn herum, unsichtbar im Dickicht, spektakelte und krakeelte es ohrenbetäubend, war unentwegt von irgendwoher ein Schnattern und Gackern, Zischen und Rascheln, Zwitschern und Gurren zu hören. Das grelle Sonnenlicht brach funkelnd durch das Dach der hohen Bäume und zauberte Schatten und Reflexe in unzählbaren Farben auf die Blätter, Blüten und Zweige ringsherum.
Tonak verspürte Hunger, und das in nicht geringem Maß. Er konnte sich kaum erinnern, jemals derart hungrig gewesen zu sein. Sein Blick fiel auf einige Beeren. Sie mochten eßbar sein oder das pure Gift, er wußte es nicht. Mißtrauisch pflückte er einige der Beeren und roch daran, zerquetschte eine zwischen den Fingern und schnupperte wieder. Sie roch nicht gut, faulig und stechend. Er warf die restlichen Beeren weg und setzte seinen Weg fort.
Er würde nicht umhin kommen, ein Tier zu töten, um es zu essen. Vorsichtshalber hatte er die Schußwaffe mitgenommen, die er im Keller in einer Schublade gefunden hatte und von der er vermutete, daß sie Onkel Peret gehörte. Es würde eine Weile dauern, bis er sich eine eigene Waffe, einen Bogen etwa, gebaut hatte und gelernt, damit umzugehen. Vordringlich mußte er eine Stelle finden, an der er ein ständiges Nachtlager errichten konnte und an der ihm frisches Wasser zur Verfügung stand.
Diese Überlegungen machten ihn beinahe trunken vor Ekstase. Nie hätte er zu hoffen gewagt, einmal tatsächlich Abenteuer zu erleben vergleichbar jenen, von denen er all die Jahre in dem unterirdischen, muffigen Lesesaal unter dem wachsamen Auge des Bibliothekars gelesen hatte. Und nun war es geschehen. Er war hier. Dies war die Erfüllung seines Lebens. Was immer jetzt noch kommen mochte, dies konnte ihm keiner mehr nehmen.
Und dann war da plötzlich das Tier. Eine große Raubkatze, die unvermittelt zwischen den Bäumen stand wie hingezaubert und ihn aus glühenden Augen musterte.
Tonaks Herz schien mit einem Mal groß und pochend seinen gesamten Brustkorb auszufüllen. Blitzartig wurde ihm klar, daß diese Situation gemeint gewesen war, wenn in den alten Büchern vom ’Gesetz der Wildnis’ die Rede gewesen war. Einer würde jetzt das Frühstück des anderen werden – es war nur noch nicht klar, wer.
Die Katze starrte ihn unverwandt und, wie es schien, unschlüssig an, während sie langsam und unhörbar näherkam. Offenbar konnte sie ihren Gegenüber noch weniger einordnen als dies umgekehrt der Fall war. Tonak griff mit einer langsamen, hoffentlich unauffälligen Bewegung nach dem Revolver in seiner Tasche. Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, die Waffe zu entsichern, dann hob er den Lauf und feuerte.
Das Tier zuckte zusammen und wich fauchend zurück. Tonak feuerte erneut, und die Bestie jaulte auf. Es war nicht so leicht, zu töten, wie Tonak sich das vorgestellt hatte. Er hielt den Atem an und zielte zwischen die Augen, und gerade als die Katze zum Sprung ansetzen wollte, schoß er ein drittes Mal. Das Tier fiel um wie von einer Axt gefällt.
Mit einem nie zuvor erlebten Gefühl der Befriedigung blickte er auf das tote Tier herab. Sein Herz schlug ihm immer noch bis zum Hals.
In den Protokoll der Polizei, das er später unterschreiben mußte und aufgrunddessen er angeklagt wurde wegen »unbefugten Eindringens in ein Naturreservat, unerlaubten und artfremden Tötens eines geschützten Tieres und vorsätzlicher Beschädigung staatlichen Eigentums«, erfuhr er, daß sich dieser Kampf im Planquadrat 234/9 zugetragen hatte. Davon wußte er in diesem Augenblick nichts. Er setzte das Messer an, um seiner Beute den Bauch aufzuschlitzen, sie zu zerlegen in eßbare Teile. Mitten im Schnitt blieb die Klinge an etwas Metallischem hängen, und als er nachsah, fand er eine kleine implantierte Plakette mit der Aufschrift:
»Staatl. Wildnisverwaltung, Inventar-Nr. 32/00072/14200278«.
© 1994