"Gentechnisches Labor IV" stand auf dem kleinen Plastikschild neben der Tür.
Es war still in den kahlen, verlassenen Korridoren, in denen jedes Wort, jeder Schritt raunenden Widerhall erzeugte. Alles lag verlassen. Wir schienen die einzigen zu sein, die sich so spät in der Nacht noch in den Universitätsgebäuden herumtrieben, und ich wurde das Gefühl nicht los, etwas Verbotenes zu tun – als seien wir Einbrecher und ganz unerlaubt hier.
Jarmusch ahnte nichts von meinen Ängsten. Er bewegte sich so unbekümmert, als sei er hier zu Hause – was wohl auch nicht ganz falsch war -, angelte geräuschvoll ein gewaltiges Schlüsselbund aus den Tiefen seiner Hosentasche und schloß mit ohrenbetäubendem Klappern und Rasseln auf.
Als in dem Raum dahinter die Neonröhren angingen, beleuchteten sie eine kolossale Anhäufung von Gläsern, Kolben und kompliziert aussehenden Apparaten, die durch Röhren, Schläuche und Stromleitungen miteinander verbunden waren und den Raum fast vollständig ausfüllten.
"Meine Diplomarbeit", sagte Jarmusch mit einer wegwerfenden Handbewegung und schloß die Tür hinter uns. "Kannst du ignorieren; funktioniert ohnehin alles nicht so, wie der Herr Professor sich das vorgestellt hat."
"Aha."
Ich folgte ihm vorsichtig, bemüht, nirgends anzustoßen und nichts umzuwerfen. Jarmusch zwängte seine massige Gestalt durch das Dickicht des Versuchsaufbaus hindurch zu einer mannshohen grünen Maschine, schaltete sie ein, drückte Knöpfe.
"Das ist der HXG", sagte er.
Ein feines Surren wurde hörbar und vertrieb die Stille aus dem Raum.
"Damit bastelst du also an Genen herum?" fragte ich.
"Ja. Nicht gerade der letzte Schrei, aber ganz brauchbar. Vor allem hat es ein Interface zu einem Personalcomputer – das heißt, man kann all die herrlichen illegalen Programme damit ausprobieren, die es so gibt."
Er lachte verschwörerisch und zog sich den einzigen Stuhl im Raum vor den Tisch, auf dem der Computer stand.
Mit einer lässigen Handbewegung betätigte er den Einschaltknopf auf der Rückseite des Geräts. Während der Bildschirm langsam hell wurde, förderte Jarmusch aus seiner Aktentasche eine Diskettenschachtel zutage, die er aufgeklappt neben den Rechner stellte. Es waren zwölf Disketten darin, die er eine nach der anderen dem Computer verfütterte. Nach der ersten erschien ein buntes Bild auf dem Schirm, das in einem kleinen Kästchen die folgenden Disketten mitzählte.
Das Programm hieß GEISHA, und als Hersteller firmierte eine Forbidden Love Inc.
"Brandneu, das Ding. Ich hab’s mir von einem Bekannten am Max-Planck– Institut kopiert, der es letzte Woche aus den USA mitgebracht hat. Drüben sind sie in solchen Dingen einfach weiter als wir, in jeder Hinsicht."
Er holte einige zerknitterte Fotokopien hervor, wohl die Bedienungsanleitung für das Programm – oder das, was Jarmusch davon hatte ergattern können. Er versuchte, sie in der richtigen Reihenfolge zu ordnen. Ich setzte mich auf eine freie Tischkante, so gut es ging, und wartete ab, was nun geschehen würde.
"Zunächst wird abgefragt, welches Ausgangsmaterial wir nehmen wollen", erläuterte Jarmusch und betrachtete den Bildschirm. "Das heißt, ich drücke jetzt… hmm?"
Er konsultierte die Anleitung. Es war mehr ein Selbstgespräch, das ich mit anhören durfte.
"Ah ja, F6 für Schimpanse. So. Jetzt… nein, das ist wohl die Abfrage der Interferenzstruktur. Was schreiben die denn? Ja, genau. Die geben wir als gespeichert vor. Alles klar."
Alles klar? Mir war überhaupt nichts klar.
Auf dem Bildschirm erschien eine Zeichnung, die grob die Körperumrisse einer Frau andeutete. Rechts und links davon wurden lange Listen von Schlüsselworten angezeigt, die wohl nur ein Gentechniker verstand.
Jarmusch warf mir einen triumphierenden Blick zu. "Das ist jetzt der Hauptarbeitsbereich. Die haben das hier echt professionell gemacht; du hast alle Möglichkeiten, die dir nur einfallen. Kein Vergleich zu Programmen wie HORI oder SLAVE… kennst du die?"
"HORI kenne ich."
"Wahrscheinlich HORI 2.0, oder?"
"Keine Ahnung."
"Wahrscheinlich, das ist das verbreitetste. Das hat zum Beispiel keinen automatischen Fehlerabfang; wenn du nicht aufpaßt, kriegst du die gräßlichsten Mutationen."
"Tatsächlich?"
"Du mußt schon sehr gut Bescheid wissen, nicht nur mit Gentechnik, sondern auch mit den Programmen, weil die Parameter im Handbuch nur ganz unklar beschrieben sind. Und wenn du mit HORI 2.0 eine wirklich gute Doll machen willst, mußt du die Parameter voll ausschöpfen – und noch Glück haben."
"Aber es gibt doch eine Standardeinstellung, oder?"
Jarmusch verzog angewidert das Gesicht. "Einheitskost. Weißt du, die Zeiten, als du jede Doll mühelos losgeworden bist, selbst wenn sie auf Bäume kletterte statt ins Bett, die sind vorbei. Solche Zombies kannst du höchstens noch an arme Studenten verhökern, und dazu sind die Brutkammern echt zu teuer! Die Leute, die für eine Doll heute das große Geld hinblättern, die wollen Qualität, die haben Ansprüche."
"Was kriegt man denn für eine gute Doll?"
Jarmusch wiegte den Kopf. "Sagen wir mal, eine Doll pro Jahr, und dein Studium ist finanziert; eine pro Semester, dann springt auch noch ein dicker Urlaub mit raus. Das ist der Standard." Er grinste. "Die meisten Geningenieure, die ich so kenne, verhökern mindestens jeden Monat eine. Was glaubst du, warum an der Uni fast alle Genbiologen in schicken Klamotten aus flotten Autos steigen und mit teuren Lederköfferchen am Arm in die Vorlesungen rennen?"
"Aber im Grunde ist es doch illegal, oder?"
"Also, legal ist es sicher nicht. Ob’s illegal ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Fällt anscheinend unter das Tierschutzgesetz. Und natürlich finden es viele Leute total unmoralisch. Aber jeder macht es, und jeder weiß, daß es jeder macht. Die niederen Semester können es doch kaum erwarten, daß sie ins Gentechnische Praktikum dürfen. Die haben doch alle schon ihre HORI-Disketten daheim ’rumliegen. Erst mal ist ja auch immer ein Eigenbedarf zu decken, nicht wahr?"
"Fällt denn eigentlich niemandem auf, was da in den Brutkammern heranwächst?"
"Der Trick besteht ja gerade darin, daß zunächst etwas ganz Legales heranwächst; etwas, das aussieht wie ein Versuchstier. Du mußt es natürlich managen, das Tier rechtzeitig in ein Versteck zu schaffen – bevor die Pelzhaare ausfallen, ein zweiter Wachstumsschub einsetzt und das Ganze sich so eindeutig verwandelt, daß selbst ein halbblinder Nachtwächter Stielaugen kriegen würde. Dieser Wachstumsschub findet erst außerhalb der Brutkammer statt. Und heutzutage läßt sich fast auf den Tag genau vorhersagen, wann er beginnt."
Er widmete sich wieder dem Computer. Mit den Befehlsfolgen, die er eingab, gewann die Frauensilhouette in der Mitte des Bildschirms an Farbe und Konturen.
"Körpergröße… wie groß soll sie werden? Sagen wir, einsfünfundsechzig. Die Haare – schwarz oder blond?"
"Grün?"
"Grün geht nicht. Will auch keiner. Sagen wir schwarz. Das Becken ein bißchen breiter… nein, zu breit… so. Den Busen größer; ich mag große Busen – so. Schau, du kannst auch einzelne Körperregionen vergrößert darstellen und detailliert festlegen – das Gesicht, die Hände und so weiter. Das Gesicht ist wichtig. Große Augen soll sie kriegen und lange Wimpern. Der Mund stimmt auch schon fast… na, wie sieht sie aus? Wie aus dem PLAYBOY, oder?"
Ich dachte zurück an meine erste Begegnung mit einer Doll. Gerüchteweise hatte damals jeder schon davon gehört, und es hieß auch, daß viele Studenten heimliche solche künstlichen Tiere besaßen, gerade in den Studentenwohnheimen. Die Wohnheime liegen ziemlich außerhalb der Stadt, und man sieht dort fast keine Frauen.
Es war am Tag meines Einzugs. Ich suchte den Haussprecher, weil ich von ihm eine Unterschrift auf ein Formular brauchte. In der Gemeinschaftsküche war er nicht, also klopfte ich an die Tür seines Zimmers. Daraufhin raschelte etwas dahinter, und ein Geräusch war zu hören, das ich für eine Stimme hielt. Aber nichts geschah. Ich drückte die Klinke und öffnete die Tür einen Spalt weit.
Zu meinem grenzenlosen Erstaunen sah ich eine nackte Frau mit langen Haaren auf einer Decke am Boden sitzen und Obst und Brot aus einer Schüssel essen. Als sie mich sah, gab sie einen eigenartigen Laut von sich und streckte eine Hand, in der sie eine angenagte Brotrinde hielt, in meine Richtung. Ich muß sie völlig entgeistert angestarrt haben, denn schließlich packte sie Decke und Schüssel und verkroch sich damit unter den Schreibtisch.
Jemand erklärte mir danach, daß das, was ich gesehen hatte, eine ’Doll’ war, ein gentechnologisch erzeugtes Tier, das das Aussehen einer gutgebauten Frau, aber die Intelligenz und das Seelenleben eines Schimpansen besaß.
Die Doll, die ich gesehen hatte, gehörte der Hausgemeinschaft, die sie wiederum einem Gentechnik-Studenten abgekauft hatte, der nur einige Monate im Haus gewohnt hatte. Es wurde sehr gründlich ein Vormerkkalender geführt, in den man sich eintragen konnte, und jeder, der die Doll beanspruchte, mußte einen kleinen Obolus in die Hauskasse entrichten, der zur einen Hälfte zur Abzahlung der Anschaffungskosten, zur anderen Hälfte der Ernährung der Doll diente. Der Haussprecher hatte zu überwachen, daß die Doll regelmäßig gewaschen und gefüttert wurde.
Ich bekam die Doll an diesem Abend gespendet, sozusagen als Willkommensgruß. Sie war ein sehr zutrauliches Wesen, das willig alles mit sich geschehen ließ, und das sich nachher zusammengerollt an mich kuschelte und einschlief, während ich noch wach lag und traurig war, ohne daß ich hätte sagen können, warum.
"Fertig", sagte Jarmusch.
Wir betrachteten das Bild, das nun eine schwarzhaarige Frau von exotischer Schönheit zeigte.
"Jetzt wird das gespeichert und an den HXG weitergegeben, der es in genetischen Code umsetzt. Das dauert eine Weile. Dann geht’s ab damit in den Uterator, dann in die Brutkammer, und in ein paar Wochen ist’s soweit."
Eine rote Leuchtdiode an der Frontseite des Rechners kommentierte den Speichervorgang mit hektischem, unregelmäßigem Blinken, und der große grüne Apparat begann hörbar zu arbeiten.
Später, nachdem er den Computer abgeschaltet und das dünne Glasröhrchen, das die synthetisch erzeugte Zygote enthielt, in den Uterator praktiziert hatte, meinte er: "Weißt du, das Gute an den Dolls ist, daß sie einen unabhängiger machen. Es ist wirklich erstaunlich, wie sich das Verhältnis zu Frauen ändert, wenn man keine unbefriedigten Begierden mehr mit sich herumschleppen muß. Das ist wie ein gebrochenes Monopol, findest du nicht? Man ist nicht mehr auf richtige Frauen angewiesen. Sie interessieren mich kaum noch. Eine Frau muß schon etwas Besonderes bieten, um für mich noch interessant zu sein."
"Hast du eine eigene Doll?" fragte ich.
"Ja, klar, zur Zeit sogar zwei. Die eine ist ein Rasseweib, ein richtiges Meisterwerk. Auch vom Verhalten, vom Temperament her echt gelungen. Ich hab’ auch schon einen Interessenten für sie. Ich probier’ alle meine neuen Dolls aus, weißt du?"
Er starrte eine Weile gedankenverloren aus dem Fenster, über das Lichtermeer der Stadt.
"Die andere ist schon ziemlich alt; fünf Jahre. Meine erste, aus dem Praktikum. Ist mir damals eigentlich ziemlich mißlungen, aber ich hab mich eben an sie gewöhnt. Sie wird’s wohl nicht mehr lange machen, ist dauernd krank, baut ab. Viel älter werden Dolls ja nicht, auch heute noch nicht…"
Ein schmerzlicher Unterton hatte sich in den Klang seiner Stimme geschlichen. Er griff nach der Diskettenschachtel, energisch, als wollte er einen Gedanken oder ein Gefühl abschütteln.
© 1991