VIERTER TEIL Verstehbarkeit

Verwundere dich nicht, werter Freund, wenn ich zu dir von Überirdischem und der Luft Zugehörigem zu sprechen scheine. Ich stelle, kurz gesagt, nur die Umrisse einer Reise dar, die ich kürzlich unternahm.

Lukian von Samosata, Ikaromenippos, ca. 150 n. Chr.

Achtunddreißig

Sie überquerten die Grenze nach Ohio am Ende eines trägen Augustnachmittags.

Auf der letzten Etappe der Reise saß Chris am Steuer, während Marguerite Musik hörte und Tess auf dem Rücksitz döste. Eigentlich waren sie auf dem Weg nach New York, wo Chris eine Reihe von Terminen mit seinem Verleger hatte, aber Marguerite hatte sich dafür stark gemacht, vorher noch ein Wochenende zu Besuch bei ihrem Vater zu verbringen; ein paar Tage sanfte Dekompression, bevor sie in die Welt zurückgeworfen wurden.

Es war beruhigend zu sehen, fand Chris, wie wenig dieser Teil des Landes sich seit den Ereignissen des letzten Jahres verändert hatte. Ein Kontrollpunkt der Nationalgarde stand verlassen an der Grenze von Indiana, ein stummer Zeuge sowohl der Krise als auch ihrer Überwindung; ansonsten sahen sie überwiegend Kühe und Mähdrescher, Raststätten und die Schilder der diversen County-Grenzen. Viele dieser Straßen waren nie automatisiert worden, und es war ein Vergnügen, stundenlang nur mit den eigenen Händen am Steuer zu fahren — ohne Näherungsalarm, Autopilot-Eingriffe oder Anweisungen zur Stauvermeidung, nur Mensch und Maschine, so wie von Gott geplant.

Er stieß Marguerite an, als sie ihr Ziel erreichten.

Sie nahm die Kopfhörer ab und blickte sich um. Sie sei schon zu lange nicht mehr hier gewesen, erzählte sie Chris; sie sei bekümmert über die schäbigen Einkaufszentren, all die zweifelhaften Bars und Vergnügungsstätten, die entlang des alten Highways aus dem Boden geschossen waren.

Aber das Stadtzentrum war noch genau so, wie sie es in Erinnerung hatte: die ein Jahrhundert alte Polizeiwache, die von Kastanien gesäumte öffentliche Grünfläche, die etwas moderneren Windmühlen auf dem Kamm einer entfernten Hügelkette. Die diversen Kirchen, einschließlich der presbyterianischen, der ihr Vater einst vorgestanden hatte.

Inzwischen war ihr Vater im Ruhestand. Er war aus dem Pfarrhaus in ein Holzhaus in der Butternut Street gezogen, südlich des Geschäftsviertels. Chris folgte ihren Hinweisen und parkte schließlich am Kantstein vor dem Haus.

»Wach auf, Tess«, sagte Marguerite. »Wir sind da.«

Tess stieg aus und lächelte, noch etwas angeschlagen, ihrem Großvater entgegen, der mit strahlendem Gesicht die Verandatreppe herunterkam.


Marguerite hatte sich Sorgen gemacht, dass die Begegnung zwischen Chris und ihrem Vater schwierig verlaufen könnte. Diese Befürchtung erwies sich als unbegründet. Mit milder Überraschung beobachtete sie, wie ihr Vater Chris herzlich die Hand schüttelte und ihn ins Haus führte.

Chuck Hauser hatte sich in den drei Jahren seit ihrem letzten Besuch kaum verändert. Er war einer jener Männer, die sich im mittleren Alter auf einem gewissen körperlichen Niveau einpendeln und anschließend, nur unwesentlich von der Zeit berührt, den Siebzigern entgegengleiten — noch immer also hatte er den graugesprenkelten Bart, den Stoppelhaarschnitt, das respektable Bäuchlein, trug noch immer die einfarbigen Baumwollhemden, denen er seit jeher den Vorzug gab, unabhängig von der gerade herrschenden Mode. Hatte die gleichen blauen Augen, trotz einer kürzlich erfolgten Augenlaser-OP.

Er hatte eine Mahlzeit vorbereitet: Hackbraten, Erbsen, Mais und Kartoffelbrei, angerichtet auf dem großen Esszimmertisch, an dem (so teilte er Tess mit) Marguerite als Mädchen immer ihre Hausaufgaben gemacht hatte. Das war damals im Pfarrhaus in der Glendavid Avenue gewesen. Jeden Abend nach dem Essen hatte sie an Mathematikaufgaben getüftelt, auf einem Stuhl gleich neben einer großen Pseudo-Tiffanylampe, die, wie sie sich erinnerte, ein buttergelbes Licht warf, fast warm genug, dass man es schmecken konnte.

Das Gespräch bei Tisch nahm keinerlei Bezug auf Crossbank, Blind Lake, Ray Scutter oder die globalen Ereignisse des vergangenen Jahres. Ihr Vater forderte Chris auf, ihn mit »Chuck« anzureden; er und Marguerite schwelgten ausgiebig in Erinnerungen, und als Tess unruhig zu werden begann, erlaubte er ihr, ihren Nachtisch ins Wohnzimmer zu tragen, wo sie das seltsam gerundete alte Videogerät einschaltete und nach Zeichentrickfilmen suchte.

Er kehrte mit einer Kanne Kaffee und drei Bechern zum Tisch zurück. »Bis zu dem Tag im Februar, als ich den Anruf aus Provo erhielt, wusste ich nicht, ob du noch am Leben warst oder nicht.«

Provo, Utah, war der Ort, wo man die Leute aus Blind Lake nach dem Ende der Abriegelung hingeschafft hatte — sechs weitere Monate medizinischer und psychologischer Quarantäne, ein Leben wie als Flüchtling, auf einer stillgelegten Basis der Kontinentalen Streitkräfte. Sechs Monate Warten darauf, für gesund erklärt zu werden, sich bescheinigen zu lassen, nicht kontaminiert zu sein, keine Bedrohung für die übrige Bevölkerung darzustellen. »Es muss schrecklich gewesen sein«, sagte Marguerite, »diese Ungewissheit.«

»Für euch mehr als für mich, kann ich mir vorstellen. Ich hatte es im Gefühl, dass du durchkommst.«

Draußen war der Himmel schon dunkel geworden. Chris trank seinen Kaffee aus und erklärte sich bereit, Tess Gesellschaft zu leisten. Marguerites Vater schaltete eine Stehlampe an, die einen hinter dem Tisch stehenden Bücherschrank aus Eichenholz beleuchtete. Als ein Kind, das sehr gern las, war Marguerite von diesen Regalen sowohl angezogen als auch abgestoßen worden: so viele reizvolle Lederbände, gelbbraun oder bernsteingelb, standen darin, die sich aber bei näherer Untersuchung durchweg als kirchenbezogene oder »der Inspiration dienende« Werke entpuppten. (Immerhin hatte sie sich die Geschichten für Kinder von Rudyard Kipling stibitzt.) Sie bemerkte einige Bücher, die in letzter Zeit hinzugekommen waren — Astronomie- und Kosmologie-Titel, überwiegend in den letzten paar Jahren erschienen. Sogar Sebastian Vogels Gott-und-Wissenschaft-Türstopper befand sich darunter.

Er rückte seinen Stuhl neben den von Marguerite. »Wie wird Tess mit dem Tod ihres Vaters fertig?«

»Eigentlich ganz gut, wenn man die Umstände bedenkt und die Tatsache, dass sie gerade erst zwölf geworden ist. Sie beharrt immer noch darauf, dass er vielleicht gar nicht tot ist.«

»Er ist im Innern des Seesterns verschwunden.«

Bei der Erwähnung dieser populären Bezeichnung für das O/BEK-erzeugte Gebilde zuckte Marguerite zusammen. Wie im Fall der »Hummer« war es ein höchst unpassender Name. Warum musste man alles Fremde mit Dingen vergleichen, die an den Strand gespült werden? »Viele Leute sind auf gleiche Weise verschwunden.«

»Wie diese sogenannten Pilger in Crossbank. Aber sie kommen nicht wieder zurück.«

»Nein«, sagte Marguerite. »Sie kommen nicht wieder zurück.«

»Weiß Tess das?«

»Ja.«

Das und vielleicht noch mehr.

»Es gab Zeiten«, sagte Chuck Hauser, »da habe ich diesen Mann verabscheut dafür, wie er dich behandelt hat. Als du dich von ihm hast scheiden lassen, war das für mich eine größere Erleichterung, als ich je zu erkennen gegeben habe. Aber ich glaube, dass er Tess wirklich geliebt hat, jedenfalls soweit er überhaupt fähig war, einen Menschen zu lieben.«

»Ja«, sagte Marguerite. »Ich glaube, das ist wahr.«

Er nickte. Dann räusperte er sieh, ein schleimiger Husten, der sie daran erinnerte, wie alt er inzwischen tatsächlich war.

»Scheint heute eine klare Nacht zu werden«, sagte er.

»Klar und kühl. Man käme kaum auf die Idee, dass wir August haben.«

Er lächelte. »Komm mal mit nach hinten in den Garten, Marguerite. Ich möchte dir etwas zeigen.«


Tess hatte im Videoangebot etwas Passendes für sich gefunden: einen jener Schwarzweißfilme aus dem zwanzigsten Jahrhundert, die sie so sehr mochte. Eine Komödie. Die Witze waren nach Chris' Gefühl entweder bizarr oder unverständlich, aber Tess lachte pflichtschuldig, und sei es nur über die Gesichter, die die Schauspieler machten.

Chris blätterte sich durch einen Stapel von Zeitschriften, die Marguerites Vater in einem Ständer neben dem Sofa abgelegt hatte. Es waren alles Nachrichtenmagazine, und das älteste datierte vom September vergangenen Jahres.

Es war ein Rückblick auf das Jahr in Kurzfassung. Die Burbank-Morde, militärische Rückschläge in Lesotho, die Abwertung des kontinentalen Dollars, die Panarabische Allianz — und natürlich, vor allem anderen, die reißerischen Schlagzeilen über Crossbank/Blind Lake.

Alles, was er während der Abriegelung verpasst hatte, Geschichte wie im Schaufenster betrachtet.


REGIERUNG SCHLIESST ASTRONOMISCHE ANLAGE GRÜNDE IM DUNKELN GELASSEN


Keine gesicherten Einzelheiten, dafür jede Menge Spekulationen über die O/BEK-Zylinder. In einer Zusatzspalte wurde erläutert, wie die Prozessoren in Crossbank sich von den üblichen Quantencomputern unterschieden: Qubits, Exzitone und selbstentwickelnder Code.

Eine andere Ausgabe, eine Woche später:


SEESTERNGEBILDE ÄHNELT LETZTEN BILDERN AUS DEM QUANTENSICHTGERÄT IN CROSSBANK


Crossbank hatte ein offensichtlich künstliches Gebilde auf der wasserreichen Welt von HR8832/B entdeckt. Daraufhin hatte der Crossbank-Prozessor eine annähernd exakte Kopie des Gebildes hervorgebracht, die ihn wie eine dornenbesetzte Rüstung einhüllte.

War das Verseuchung oder Fortpflanzung? Infektion oder Reproduktion?

Sowohl Crossbank als auch Blind Lake waren sofort unter Quarantäne gestellt worden.


VERWIRRUNG IN CROSSBANK:

EINIGE FORSCHER SOLLEN IM INNERN DES GEBILDES VERSCHWUNDEN SEIN


Verschiedenartige Untersuchungen ergaben, dass das labyrinthische Innere des »Seesterns« von Crossbank ein äußerst sonderbarer Ort war. Menschliche Freiwillige zogen sich in höchster Verwirrung zurück; Roboter verschwanden; ferngesteuerte Messungen ergaben unverständliche Ergebnisse.


EXKLUSIV: FOTOS DES PHÄNOMENS VON CROSSBANK


Das inzwischen wohlbekannte Bild. Aus der Luft aufgenommen, die sechs sternförmig angeordneten Arme; vom Boden aus die irisierenden Bögen und schwammartigen Höhlungen. Im Text wurde vermerkt, dass das Material, aus dem das Phänomen bestand, »maßstabsinvariant« sei — »unter dem Mikroskop sieht jedes Teilstück annähernd genau so aus, wie das Ganze dem menschlichen Auge erscheint.« Chris blätterte weiter:


ZWEITER »SEESTERN« HUNDERTE KILOMETER VON CROSSBANK ENTFERNT AUFGETAUCHT.

PANIK BRICHT AUS


Das zweite Gebilde hatte sich über Nacht in einem Sojabohnenfeld südlich von Macon, Georgia, manifestiert. Von der Zerstörung einiger Hektar Brachfläche abgesehen, richtete es keinen Schaden an und tötete niemanden (allerdings verschwand ein neugieriger Farmarbeiter in seinem Innern, bevor die örtliche Polizei das Gelände absperren konnte). Dennoch flüchtete eine große Anzahl von Einwohnern aus ihren Häusern und verbreitete Unruhe im ganzen Südosten.

(Seither waren fünf weitere »Seesterne« in abgeschiedenen Gegenden rund um den ganzen Globus aufgetaucht, offenbar gewissen Kraftlinien im Magnetfeld der Erde folgend. Wie sich erwies, stellte keiner von ihnen eine Gefahr dar, solange niemand so unklug war, ihn betreten zu wollen.)


BUNDESREGIERUNG RUFT ZUR RUHE AUF. SIEHT »KEINEN HINWEIS AUF FEINDSELIGE ABSICHTEN«


Dies waren die Wochen gewesen, in denen die Panik ihren Höhepunkt erreichte. Verkündigungen des Weltuntergangs, Gründung neuer Sekten, Auftreten politischer Falken und der sogenannten Pilger, die gesperrten Straßen.


PRIVATFLUGZEUG ÜBER BLIND LAKE ABGESCHOSSEN


Auftritt von Adam Sandoval, 65, Besitzer eines Haushaltswarengeschäfts in Loveland, Colorado, der inzwischen seine Absicht gestanden hatte, sein Flugzeug direkt in die O/BEK-Anlage von Blind Lake (auch genannt die »Alley«) zu steuern, um eine weitere Erscheinung wie die, deren Lockungen seine Frau erlegen war, zu verhindern. (Sandovals Frau war eine Pilgerin gewesen, verschwunden und mutmaßlich zu Tode gekommen, nachdem sie mit einer Gruppe Gleichgesinnter in das Crossbanker Artefakt eingedrungen war.)

Chris hatte Adam Sandoval während des sich an die Abriegelung anschließenden Arrests in Provo kennengelernt. Sandoval hatte sich von seinem Koma und den Verbrennungen erholt, wenn auch seine Haut an den Stellen, wo sie wiederhergestellt worden war, noch schrecklich rosa aussah. Er hatte sich zerknirscht über den verhinderten Selbstmordversuch gezeigt, bewahrte aber eine aggressive Einstellung, was das Verschwinden seiner Frau betraf.

Als ihm eines Abends bei einem zufälligen Zusammentreffen in Provo Sebastian Vogel vorgestellt wurde, weigerte sich Sandoval, Sebastian die Hand zu schütteln. »Meine Frau hat Ihr Buch gelesen«, sagte er, »kurz bevor sie beschloss, loszuziehen und nach Transzendenz zu suchen, was immer dieses beschissene Wort bedeuten soll. Denken Sie eigentlich nie daran, was aus den Leuten wird, denen Sie Ihren Blödsinn verkaufen?«

Vergangene Woche hatten Sebastian und Sue Provo verlassen, um einen gemeinsamen Hausstand in Carmel zu gründen, wo ein Bekannter Sue eine Stellung in einem Immobilienbüro angeboten hatte. Sebastian verweigerte sich allen Interviewanfragen und verkündete, dass es keinen Folgeband zu Gott & das Quantenvakuum geben werde.


EREIGNIS IN BLIND LAKE AUSLÖSER FÜR MILITÄREINSATZ UND RETTUNGSAKTION ISOLIERTE AN UNBEKANNTEN ORT VERLEGT, UM UNTER QUARANTÄNE GESTELLT UND BEFRAGT ZU WERDEN


Die »Rettungsaktion« war ein furchterregendes Zusammentreiben gewesen, ins Werk gesetzt, sobald das Auge in Blind Lake sich in das schon vertraute symmetrische Seesterngebilde umzuwandeln begonnen hatte. »Quarantäne« bedeutete sechs weitere Monate Gefangenschaft im Rahmen der frisch verabschiedeten Bestimmungen zur Öffentlichen Sicherheit. Mit »Befragung« war eine Reihe von Verhören gemeint, durchgeführt von gut gekleideten und wohlmeinenden Regierungsvertretern, die alles aufzeichneten und oft ein und dieselbe Frage zweimal stellten.

Ein Großteil der Bevölkerung von Blind Lake zeigte sich kooperationswillig. Jeder, der die Abriegelung durchlebt hatte, wusste etwas zu erzählen.

Die letzte und jüngste Ausgabe von Chuck Hausers Nachrichtenmagazinen enthielt keine reißerischen Schlagzeilen, dafür aber im hinteren Teil einen Gastkommentar:

Was wir wissen und was nicht: Ausblick einer

Überlebenden.

und während die Angst abklingt, können wir mit einer Bestandsaufnahme dessen beginnen, was wir gelernt haben und was uns vorerst noch unverständlich ist.

Etwas Folgenschweres hat sich ereignet, etwas, das sich einem unmittelbaren Begreifen widersetzt. Man sagt uns, mit unseren am weitesten fortgeschrittenen Computern hätten wir etwas geschaffen, das recht eigentlich eine neue Lebensform ist — oder aber wir hätten einer neuen Generation einer sehr alten Lebensform zur Existenz verholfen, einer Lebensform, die vielleicht älter ist als die Erde selbst. Die inzwischen zerstörten Anlagen in Crossbank und Blind Lake haben uns überzeugende Anhaltspunkte dafür geliefert, dass dieser gleiche Prozess sich bereits auf zwei Leben tragenden Welten in der näheren Nachbarschaft unseres Planeten ereignet hat und vielleicht noch häufiger in der gesamten Galaxie.

Doch die »Seesterne« — fällt uns wirklich kein eleganterer Name ein für diese wirklich wundervollen Gebilde? — scheinen wenig Interesse daran zu haben, mit uns in Kontakt zu treten, geschweige denn, sich in unsere Angelegenheiten einzumischen. Auf UMa47/E haben wir das Beispiel einer intelligenten Kultur, die (vermutlich) über Jahrhunderte mit den Seesternen koexistiert hat, ohne wesentliche Interaktion.

Und so gewinnen Überlegungen an Überzeugungskraft, denen zufolge die Seesterne nicht nur eine gänzliche neue Lebensform repräsentieren, sondern auch eine neue Form des Bewusstseins. die nur wenige Schnittstellen mit unserer eigenen aufweist. Wir haben tief in den Himmel hineingeblickt, mit anderen Worten, und sind dabei schließlich an die Grenzen des Verstehbaren gestoßen.

Aber es gibt auch das Gegenbeispiel des HR8832/B, eines Planeten, auf dem diejenigen, die die Quantenkerne der Seesterne entwickelten, ganz und gar verschwunden sind. Vielleicht auf natürlichem Wege, in einem Prozess des Aussterbens, vielleicht auch nicht. Vielleicht haben wir die Wahl. Vielleicht kann eine Gattung, die die Seesterne wirklich begreifen will, dies nur erreichen, indem sie etwas anderes wird als das, was sie ist. Um dem Geheimnis wirklich auf die Spur zu kommen, müssen wir uns ihm vielleicht ganz anheim geben und ihm zugehörig werden. War es nicht Heisenberg, der anmerkte, dass der Beobachter und das Beobachtete untrennbar miteinander zusammenhängen?

Der Artikel erstreckte sich über anderthalb Seiten, und er war gut. Nachdenklich, sorgfältig argumentierend. Als Verfasserin wurde Elaine Coster angegeben, »eine angesehene Wissenschaftsjournalistin, erst kürzlich aus dem Quarantänelager in Utah entlassen.«

Chris blickte zu Tess hinüber, die es sich mit den aufgepolsterten Kissen auf dem Sofa ihres Großvaters gemütlich gemacht hatte und ein wenig vor sich hin gähnte.

Tess hatte gegenüber den Behörden nichts von Mirror Girl erwähnt. Genauso wenig wie Marguerite und auch Chris. Sie hatten sich nicht vorher abgesprochen, darüber Schweigen zu bewahren. Es war eine Entscheidung, die jeder für sich getroffen hatte und die, jedenfalls was Chris betraf, dem Widerstreben entsprang, von Ereignissen zu berichten, die nur missverstanden werden konnten.

Eine Geschichte, die nicht erzählt werden konnte. Durfte ein Journalist wirklich an so etwas glauben? Aber was er empfunden hatte, war mehr als nur die Angst, sich lächerlich zu machen. Es waren Dinge passiert, die er nicht einmal sich selbst befriedigend erklären konnte, Dinge, die nie in Schlagzeilen erwähnt werden würden.

Ohne auch nur die Augen vom Bildschirm zu wenden, sagte Tess: »Ich bin ein bisschen müde.«

»Ist auch langsam Bettzeit«, sagte Chris.

Er ging mit ihr zu dem kleinen Gästezimmer, in dem sie schlafen sollte. Sie meinte, sie würde vielleicht noch lesen, bis Marguerite käme, ihr gute Nacht zu sagen. Chris sagte, das sei in Ordnung.

Sie streckte sich auf dem Deckbett aus. »Das hier ist dasselbe Zimmer, in dem ich beim letzten Besuch auch geschlafen habe«, sagte Tess. »Vor drei Jahren. Als mein Vater noch da war.«

Chris nickte.

Das Fenster stand ein paar Zentimeter offen, ließ Spätsommerdüfte ins Zimmer ein. Tess machte es nicht zu, zog aber die vergilbende Jalousie ganz bis zur Fensterbank herunter, sodass die Scheibe verdeckt war.

»Du hast sie seit Blind Lake nicht wieder gesehen, oder?«, sagte Chris.

Sie, Mirror Girl.

»Nein«, sagte Tess.

»Glaubst du, dass sie noch da ist?«

Tess zuckte die Achseln.

»Denkst du oft an sie, Tess? Fragst du dich manchmal, wer sie war?«

»Ich weiß, wer sie war. Sie war …« Aber die Worte schienen sich an ihrer Zunge zu verfangen, sie brach ab und runzelte die Stirn.

Während der Ereignisse in Blind Lake hatte Tess Mirror Girl mit den O/BEK-Prozessoren identifiziert. Als hätten die O/BEKs, zu dämmerndem Bewusstsein erweckt, ein Fenster auf die Menschenwelt benötigt, in die sie hineingeboren worden waren.

Und sowohl in Crossbank als auch in Blind Lake hatten sie sich Tess ausgesucht. Warum Tess? Vielleicht gab es darauf letzten Endes keine Antwort, dachte Chris, wie ja auch die Forscher in Blind Lake nicht hätten angeben können, warum sie ausgerechnet das Subjekt aus zahllosen fast identischen Individuen ausgewählt hatten. Es hätte jeder sein können. Irgendjemand musste es sein.

Tess fand die Worte, um die sie gerungen hatte: »Sie war das Auge«, sagte sie ernst. »Und ich war das Teleskop.«


Marguerite folgte ihrem Vater in die kühle Sommernacht im Garten hinter dem Haus in der Butternut Street. Nur die Gartenlampen, leuchtende, zwischen die Buntlippen gepflanzte Röhren, spendeten Licht, und es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.

»Ich nehme an, du weißt, was das hier ist«, sagte Chuck Hauser und trat grinsend beiseite.

Marguerite blieb beinahe die Luft weg. »Ein Teleskop! Mein Gott, wie schön es ist! Wo hast du das denn her?«

Optische Teleskope, die der hobbymäßig betriebenen Sternguckerei dienten, wurden seit Jahren nicht mehr für den Markt produziert. Wenn man heutzutage den Nachthimmel betrachten wollte, schloss man ein Photomultiplier-Objektiv an seinen Hausserver an oder, besser noch, man nutzte eine Verbindung zu einem der öffentlichen Himmelsvermesser. Alte Dobson-Teleskope wie dieses erzielten hohe Preise auf den Antiquitätenmärkten.

Und dieses hier war wirklich alt, wie Marguerite bei näherer Betrachtung feststellte: in ausgezeichnetem Zustand zwar, aber definitiv vor der Jahrtausendwende hergestellt. Kein Zusatzgerät für digitale Schwenkfunktionen, nur Manuellschalter und Schneckengetriebe, liebevoll geölt.

»Das Getriebe ist erneuert worden«, sagte ihr Vater. »Neu geschliffene Gläser auf die alte Brille. Ansonsten ist es vollkommen im Originalzustand.«

»Es muss ein Vermögen gekostet haben!«

»Kein Vermögen.« Er lächelte reuevoll. »Nicht ganz.«

»Seit wann interessierst du dich für Astronomie?«

»Sei nicht so begriffsstutzig, Marguerite. Ich habe es nicht für mich gekauft. Es ist ein Geschenk. Gefällt es dir?«

Und ob es ihr gefiel. Sie umarmte ihren Vater. Undenkbar, dass er sich so etwas hatte leisten können. Er musste eine zweite Hypothek aufgenommen haben, dachte Marguerite.

»In deiner Jugend«, sagte Chuck Hauser, »war dieses ganze Zeug für mich ein Rätsel.«

»Welches ganze Zeug?«

»Na, du weißt schon: Sterne und Planeten, alles, wofür du dich so sehr interessiert hast. Heute habe ich das Gefühl, ich hätte vielleicht mal ein bisschen näher hinschauen sollen. Das ist meine Art zu sagen, dass ich bewundere, was du erreicht hast. Vielleicht fange ich sogar an, es ein bisschen zu begreifen. Also — meinst du, du kriegst dieses Ding gut genug verpackt, dass es in dein kleines Auto passt?«

»Das bekommen wir schon irgendwie hin.«

»Hab gesehen, dass du dein Gepäck ins selbe Zimmer gestellt hast wie Chris.«

Sie wurde rot. »Tatsächlich? Hab ich gar nicht drüber nachgedacht — war wohl einfach aus Gewohnheit …«

Was die Peinlichkeit nur erhöhte.

Er lächelte. »Ach, komm, Marguerite. Ich bin doch kein verknöcherter Baptist. Nach allem, was ich von dir höre und was ich selber sehe, ist Chris ein anständiger Mensch. Ihr seid offensichtlich verliebt. Habt ihr schon mal übers Heiraten gesprochen?«

Sie errötete noch mehr und hoffte, er würde es im trüben Licht nicht bemerken. »Noch keine konkreten Pläne. Aber sei im Zweifelsfall nicht überrascht.«

»Er ist gut zu Tess?«

»Sehr gut.«

»Sie mag ihn?«

»Besser noch. Sie fühlt sich sicher bei ihm.«

»Dann freue ich mich für euch. Aber sag mal, gibt mir das Geschenk, das ich dir gemacht habe, die Berechtigung, dir noch einen kleinen Rat mitzugeben?«

»Jederzeit.«

»Ich will gar nicht erst fragen, was ihr drei in Blind Lake alles durchgemacht habt, aber ich weiß, dass es für Tess besonders hart gewesen ist. Sie ist, soweit ich mich erinnere, immer ein bisschen verschlossen gewesen. Es sieht nicht so aus, als hätte sich daran viel geändert.«

»Hat es nicht.«

»Weißt du, Marguerite. Du warst früher genauso. Immer ziemlich schwer von Begriff, wenn es nicht um Dinge ging, die dich interessiert haben. Es war schwer, überhaupt mit dir zu reden.«

»Tut mir leid.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich will nur sagen, es ist leicht, diese Dinge an sich vorbeigleiten zu lassen. Menschen können fast unsichtbar füreinander werden. Ich liebe dich und ich weiß, dass deine Mutter dich geliebt hat, aber ich glaube, dass wir dich nicht immer sehr deutlich gesehen haben, wenn du weißt, was ich meine.«

»Ja, ich weiß.«

»Lass es Tess nicht auch so ergehen.«

Marguerite nickte.

»So«, sagte ihr Vater. »Bevor wir dieses Ding zusammenpacken, kannst du mir vielleicht mal zeigen, wie es funktioniert?«

Sie spürte für ihn Ursa Majoris 47 im Teleskop auf. Ein Stern, der nichts Besonderes war, nicht mehr als ein Lichtpunkt unter vielen, weniger hell als die Leuchtkäfer, die unter den Büschen am Ende des Gartens blinkten.

»Das ist er, hm?«

»Das ist er.«

»Ich nehme an, du kennst ihn inzwischen so gut, dass es sich manchmal anfühlt, als wärst du dagewesen.«

»Genau so fühlt es sich an.« Sie fügte hinzu: »Ich liebe dich auch, Daddy.«

»Danke, Marguerite. Solltest du nicht aber langsam mal dein kleines Mädchen zu Bett bringen?«

»Das kann Chris machen. Es wäre doch vielleicht nett, noch ein bisschen hier draußen zu sitzen und zu reden.«

»Für August ist es ziemlich kalt.«

»Das macht nichts.«


Als sie schließlich ins Haus zurückkehrte, traf sie Chris in der Küche an, wie er in seinen Pocketserver murmelte — gesprochene Notizen für sein neues Buch. Er arbeitete seit einigen Wochen daran, mitunter geradezu fieberhaft. »Ist Tess schon zu Bett gegangen?«

»Sie ist in ihrem Zimmer und liest noch.«

Marguerite ging nach oben, um nachzusehen.

Das Verstörendste an den Ereignissen von Blind Lake lag für Marguerite darin, dass sie von einer Verbindung zeugten, die eine ungeheure Entfernung mithilfe eines unbegriffenen Mediums überbrückte, eine Verbindung, die es ihr ermöglicht hatte, das Subjekt zu berühren (und von ihm berührt zu werden); das Subjekt, das die ganze Zeit irgendwie gewusst hatte, dass es beobachtet wurde.

Sehen verändert das Gesehene. War Tess auf die gleiche Weise beobachtet worden? Oder sie, Marguerite? Und wenn ja, würde sie das irgendwann ans Ende einer schier unvorstellbaren Pilgerfahrt führen, an einen jener geheimnisvollen, mit den Sternen verbundenen Orte — an Stelle des Todes ein Sturz ins Unendliche?

Noch nicht, dachte Marguerite. Vielleicht nie. Auf alle Fälle aber jetzt noch nicht.

Sie fand Tess vollständig angekleidet auf der Überdecke liegen und schlafen, das Buch noch aufgeschlagen, die Haare zerzaust. Marguerite weckte sie sanft und half ihr, ins Nachthemd zu schlüpfen.

Als Tess dann ordnungsgemäß im Bett lag, war sie wieder hellwach. Marguerite sagte: »Möchtest du etwas? Ein Glas Wasser vielleicht?«

»Eine Geschichte«, sagte Tess sofort.

»Ich kenne wirklich nicht so furchtbar viele Geschichten.«

»Über ihn«, sagte Tess.

Wen? Chris, Ray, ihren Großvater?

»Das Subjekt«, sagte Tess. »Alles, was mit ihm passiert ist.«

Marguerite war verblüfft. Es war das erste Mal, dass Tess Interesse an dem Subjekt bekundete. »Möchtest du wirklich alles darüber hören?«

Tess nickte. Sie legte sich auf den Rücken und stieß mit dem Kopf rhythmisch gegen das Kissen, sanft, etwa einmal pro Sekunde. Sommerliche Luft ließ die Jalousie leicht gegen das Holz der Fensterbank schlagen.

Nun gut. Wo beginnen? Marguerite versuchte sich an die Aufzeichnungen zu erinnern, die sie in Gedanken an Tess angefertigt hatte. Etliche Seiten, die sie vollgeschrieben, aber nie jemandem gezeigt hatte. Unerzählte Geschichten.

Aber sie brauchte gar keine Aufzeichnungen.

»Als Erstes«, sagte Marguerite, »musst du dir klarmachen, dass es eine Person war. Nicht genau so wie du und ich, aber auch nicht völlig anders. Es lebte in einer Stadt, die es sehr liebte, auf einer trockenen Ebene unter einem staubigen Himmel, in einer Welt nicht ganz so groß wie unsere.«

Vor langer Zeit. Weit, weit weg.

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