ZWEITER TEIL Polierte Spiegel aus flüssigem Quecksilber

Die Zehnfüßer, deren Intelligenz von gänzlich anderer Beschaffenheit war als die der Menschen, waren außerstande, die Erdmenschen als denkende Wesen wahrzunehmen. Womöglich war der Mensch für sie nicht mehr als eine neue Tierart; seine Gebäude und seine Industrie hatten nicht mehr Eindruck auf sie gemacht, als das Gemeinschaftsleben der Ameisen Eindruck auf den Durchschnittsmenschen macht — abgesehen vom Staunen des Letzteren über die Ähnlichkeit zwischen dieser Lebensform und seiner eigenen.

Leslie Frances Stone, »The Human Pets of Mars«, 1936

Zehn

»Chris Carmody? Was haben Sie denn gemacht, sind Sie zu Fuß gekommen? Klopfen Sie sich den Schnee ab und treten Sie ein. Ich bin Charlie Grogan.«

Charlie Grogan, Chefingenieur in der Eyeball Alley, war ein stattlicher Mann, eher robust als dick, und an der Hand, die er Chris zur Begrüßung entgegenstreckte, war viel Fleisch. Die stark gelichteten Haare waren ergraut. Er wirkte selbstbewusst, aber nicht aggressiv.

»Ehrlich gesagt, ja«, sagte Chris. »Ich bin tatsächlich zu Fuß gegangen.«

»Kein Auto?«

Kein Auto, und er war ohne Winterkleidung nach Blind Lake gekommen. Selbst diese ungefütterte Jacke war nur geliehen. Ständig fiel einem der Schnee oben in den Kragen.

»Wenn man in einem Gebäude ohne Fenster arbeitet«, sagte Grogan, »gewöhnt man sich dran, Hinweise auf das Wetter draußen zu sammeln. Einen Schneesturm haben wir aber noch nicht, oder?«

»Es kommt ganz schön was runter.«

»Aha. Na ja, wissen Sie, im Dezember, da muss man mit ein bisschen Schnee rechnen in dieser Gegend. Haben noch Glück gehabt, dass wir zu Thanksgiving nicht mehr als ein paar Zentimeter hatten. Hängen Sie Ihren Mantel dorthin. Und ziehen Sie bitte auch die Schuhe aus. Wir haben da diese kleinen Gummislipper, nehmen Sie sich ein Paar aus dem Regal. Das Ding, das Sie da tragen, ist das ein Diktiergerät?«

»Ja.«

»Dann hat das Interview also schon begonnen?«

»Es sei denn, Sie sagen mir, dass ich es ausschalten soll.«

»Nein, ich schätze, deswegen sind wir ja zusammengekommen. Ich hatte befürchtet, Sie würden über die Quarantäne sprechen wollen — darüber weiß ich auch nicht mehr als alle anderen. Aber Ari Weingart meinte, dass Sie an einem Buch arbeiten.«

»An einem längeren Zeitschriftenartikel. Vielleicht wird ein Buch daraus. Kommt drauf an.«

»Darauf, ob wir je wieder nach draußen dürfen?«

»Einmal das, und außerdem darauf, ob es dann noch eine Leserschaft dafür gibt.«

»Es ist, als würde man Wir-tun-so-als-ob spielen, nicht wahr? Wir tun so, als würden wir immer noch in einer normalen Welt leben. Tun so, als hätten wir eine nützliche Arbeit zu erledigen.«

»Betrachten wir es als einen Vertrauensvorschuss.«

»Was ich machen kann — das wäre dann wohl mein Vertrauensvorschuss —, ist, Sie durch die Alley zu führen und über ihre Geschichte zu sprechen. Entspricht das Ihrer Vorstellung?«

»Das ist genau das, was ich wollte, Mr. Grogan.«

»Sagen Sie ruhig Charlie. Sie haben bereits ein Buch geschrieben, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt.«

»Ja, hab ich davon gehört. Ein Buch über Ted Galliano, diesen Biologen. Manche Leute sagen, es wäre Rufmord gewesen.«

»Haben Sie es gelesen?«

»Nein — und nichts für ungut —, ich möchte es auch nicht lesen. Ich bin Galliano mal auf einer Konferenz über Bioquantenberechnung vorgestellt worden. Er war vielleicht ein Genie in Sachen Virostatika, aber er war auch ein Arschloch. Wenn Leute berühmt werden, dann baden sie manchmal gern in diesem Ruhm. Er war nicht glücklich, wenn er nicht mit Medienleuten oder Großinvestoren sprechen konnte.«

»Ich glaube, er hatte das Bedürfnis, sich als Held zu fühlen, ob verdient oder nicht. Aber ich bin nicht hergekommen, um über Galliano zu reden.«

»Ich wollte nur klarstellen, dass ich Ihnen Ihr Buch nicht zur Last lege. Wenn Galliano beschlossen hat, mit seinem Motorrad über die Klippe zu fahren, dann war das sicherlich nicht Ihre Schuld.«

»Danke. Wie steht's denn jetzt mit der Führung?«


Die Eyeball Alley war eine Kopie der Anlage in Crossbank, die Chris ebenfalls besucht hatte. Strukturell waren sie jedenfalls identisch. Die Unterschiede lagen in den Details: Namen an den Türen, Farbe der Wände. Zuletzt waren ein paar halbherzige Versuche gemacht worden, der Jahreszeit entsprechende Dekorationselemente einzuführen: eine Girlande aus grünem und rotem Krepp über dem Eingang zur Cafeteria, einen Papierkranz und eine Menora in der Bibliothek.

Charlie Grogan trug eine Brille, die ihm Dinge zeigte, welche Chris nicht sehen konnte, kleine lokale Datenquellen, die ihm mitteilten, wer gerade in welchem Büro war, und als sie an einer Tür mit der Aufschrift ENDOSTATIK vorbeikamen, führte Charlie eine kurze Unterhaltung (über Kehlkopfmikrofon) mit der Person, die sich drinnen befand. »Hallo Ellie … immer beschäftigt … nee, Boomer geht's gut, danke der Nachfrage …«

»Boomer?«, fragte Chris.

»Mein Jagdhund«, sagte Charlie. »Ist schon etwas betagt.«

Sie fuhren mit dem Fahrstuhl mehrere Stockwerke nach unten, tief hinein in die kontrollierte Umgebung des Anlagenkerns. »Wir stecken Sie in einen Anzug und gehen dann ins Magazin«, sagte Charlie, aber als sie sich einer breiten Tür mit der Aufschrift STERILE KLEIDUNG näherten, blinkte dort ein rotes Licht. »Außerplanmäßige Wartungsarbeiten«, erläuterte Charlie. »Keine Touristen. Wären Sie bereit, eine Stunde oder so zu warten?«

»Wenn wir uns so lange unterhalten können.«

Chris folgte dem Chefingenieur zurück in die Cafeteria. Charlie hatte noch nicht zu Mittag gegessen, genauso wenig wie Chris übrigens. Das Essen auf den Warmhalteplatten war das Gleiche, das auch im Gemeindezentrum angeboten wurde, vorgefertigtes Reispilaf, Hühnchencurry und eingewickelte Sandwiches, Woche für Woche angeliefert von immer demselben schwarzen Laster. Der Ingenieur schnappte sich ein Roggensandwich mit Schinken; Chris, der nach dem Fußmarsch zur Alley immer noch ein bisschen fror, gab dem heißen Essen den Vorzug. Die Luft in der Cafeteria war angenehm feuchtwarm, der Geruch aus der Küche intensiv und beruhigend.

»Ich bin schon ziemlich lange dabei in diesem Geschäft«, sagte Charlie. »Nicht, dass es irgendwelche Anfänger gäbe am Lake, abgesehen von den Examensstudenten, die wir hier immer wieder haben. Hat Ari Ihnen erzählt, dass ich am Berkeley Lab bei Dr. Gupta war?«

Tommy Gupta hatte Pionierarbeit im Bereich sich selbst entwickelnder neuronaler Netze und Quantenschnittstellen geleistet. »Sie müssen damals selbst noch Student gewesen sein.«

»Jawoll. Und danke, dass Sie's gemerkt haben. Das war zu der Zeit, als wir Butov-Chips als Logikelemente verwendet haben. Interessante Zeit, wenn auch keiner sich vorstellen konnte, wie interessant es noch werden würde.«

»Die astronomische Anwendung«, sagte Chris, »waren Sie da auch noch dabei?«

»Ein kleines bisschen. Aber das kam natürlich alles ganz unerwartet.«

Eigentlich benötigte Chris diese Rückschau nicht. Die Geschichte war bekannt, und jeder Journalist, der im Bereich von allgemeiner Astronomie und Populärwissenschaften arbeitete, hatte sie in den letzten Jahren in dieser oder jener Version bereits erzählt. Im Grunde, dachte er, war es nur das letzte Kapitel im ewigen Streben der Menschheit, das Unsichtbare zu sehen, ausgeschmückt mit der Technologie des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Begonnen hatte es, als die erste Generation der von der NASA ins All geschickten Beobachtungsstationen, die sogenannten Terrestrischen Planetenfinder, drei vermutlich erdähnliche Planeten entdeckten, die um nahe sonnenähnliche Sterne kreisten. Die TPFs wurden von den hochauflösenden Interferometern beerbt und diese wiederum von dem größten aller Projekte um optische Interferometer, dem Galileo-Array, sechs kleinen, aber komplexen automatisierten Raumschiffen, die alle außerhalb der Umlaufbahn des Jupiters operierten, miteinander vernetzt, um ein virtuelles Teleskop mit einer ungeheuren Auflösung zu bilden. Das Galileo-Array, so wurde seinerzeit gesagt, könne die Umrisse der Kontinente auf Welten nachzeichnen, die hunderte von Lichtjahren entfernt sind.

Und es hatte funktioniert. Für eine Weile. Dann begann die Telemetrie aus dem Array sich zu verschlechtern.

Das Signal wurde über Monate hin langsam, aber unaufhaltsam schwächer. Nach intensiven Nachforschungen lokalisierte die NASA als Ursache des Versagens einige wenige Zeilen fehlerhaften Codes, die jedoch so tief ins Bordgefüge der Galileo-Raumschiffe eingebettet waren, dass sie nicht überschrieben werden konnten. Dies war ein Risiko, mit dem die NASA von Beginn an hatte leben müssen. Das Array war sowohl hochkomplex als auch vollkommen unzugänglich. Es konnte nicht vor Ort repariert werden. Ein epochaler Triumph der Technik stand im Begriff, zu einem irrsinnig teuren Witz zu werden.

»Die NASA hatte damals keinen O/BEK-Prozessor«, sagte Charlie, »aber Gencorp bot ihnen Zugang zu ihrem Prozessor an.«

»Sie haben bei Gencorp gearbeitet?«

»Als Babysitter für die Hardware, ja. Gencorp erzielte gute Ergebnisse mit ihrer Proteomik. Man konnte das Gleiche natürlich auch mit einer normalen Quantenanordnung machen. Viele Ingenieure pflegten die O/BEKs für unnötig kompliziert und unberechenbar zu halten, hochgestochener Murks sozusagen — wie ein Staubsauger mit Anhängsel, hieß es damals. Aber gegen Ergebnisse lässt sich schwer anstinken. Gencorp erzielte schnellere Resultate mit der O/BEK-Maschine, als das MIT sie aus ihren Standard-BEK-Geräten herauslocken konnte. Unheimliche noch dazu.«

»Unheimliche?«

»Unerwartete. Kontraintuitive. Jeder, der mit adaptiver Selbstprogrammierung arbeitet, wird Ihnen sagen, dass es anders ist, als wenn man reine BEKs betreibt, und schon die können mitunter ganz schön seltsam sein. Ein O/BEK — und das kann ich im Grunde gar nicht sagen, weil ich ein vernünftiger, an Fakten orientierter Typ bin — denkt schlicht und einfach merkwürdig. Aber diese Erklärung ist so gut wie jede andere, weil letzten Endes niemand weiß, warum ein BEK-Prozessor mit einer offenen organischen Struktur besser denken kann als ein einfacher BEK-Prozessor. Das ist der beschissene Geist in der Maschine, entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise. Und wenn wir dann im Einsatz sind, dann haben wir es nicht nur mit Ampere und Volt zu tun. Wir kümmern uns um etwas, das nahezu lebendig ist. Es hat seine guten und seine schlechten Tage …«

Charlie verstummte, als würde ihm bewusst, dass er die Grenzen der Ingenieursschicklichkeit überschritten hatte. Er möchte nicht, dass ich das zitiere, dachte Chris. »Sie sind also mit dem O/BEK-Prozessor zur NASA gegangen?«

»Die NASA hat am Ende ein paar Zylinder von Gencorp gekauft. Mich haben sie gleich mitgekauft. Aber das ist eine andere Geschichte. Sehen Sie, im Grunde genommen war das Problem Folgendes: Je schwächer der Output des Galileo-Arrays wurde, desto schwieriger wurde es, das Signal vom Rauschen zu trennen. Unsere Aufgabe war es, dieses Signal zu orten, es einzufangen und es von dem ganzen Funkmüll zu isolieren, den das Universum wahllos ausrülpst. Die Leute fragen immer wieder: ›Und wie haben Sie das gemacht?‹ Und ich muss ihnen dann sagen, wir haben es nicht gemacht, niemand hat es gemacht, wir haben nichts anderes getan, als das Problem den O/BEKs vorgelegt mit der Zielvorgabe, sie vorläufige Antworten produzieren und diese sich im Erfolgsfall vermehren zu lassen … hunderttausende von Generationen pro Sekunde, eine natürliche Auslese à la Darwin im großen Maßstab, ›Survival of the Fittest‹, wobei ›Fittest‹ sich als Erfolg beim Einfangen eines Signals aus einem rauschenden Input definiert. Code schreibt Code, schreibt wieder Code, und der Code verkümmert und stirbt. Mehr Generationen, als je Menschen auf der Erde gelebt haben, ja fast mehr Generationen, als es Leben auf der Erde gibt. Zahlen, die sich wie DNA selbst komplexifizieren. Die Schönheit des Ganzen liegt in der Unvorhersehbarkeit, verstehen Sie?«

»Ich glaube, ja«, sagte Chris. Ihm gefiel Charlies Redelust. Es war immer gut, wenn ein Interviewpartner Leidenschaft an den Tag legte.

»Ich meine, wir produzierten etwas, das schön war und geheimnisvoll. Sehr schön. Sehr geheimnisvoll.«

»Und es funktionierte«, sagte Chris. »Signale wurden aus dem Rauschen herausgefiltert.«

»Die ganze Welt weiß, dass es funktionierte. Natürlich waren wir uns dessen selber gar nicht sicher, nicht während die Sache im Gange war. Wir hatten da einige Schwellenereignisse, wie wir es nannten. Es gab Momente, da hätten wir alles beinahe verloren. Wir hatten ein schönes sauberes Bild und plötzlich schwindet es, ein Pixel nach dem anderen, kann man fast sagen. Sieg des Rauschens, Verlust der Verständlichkeit. Aber jedesmal holten die O/BEKs es zurück. Ohne unser Zutun, verstehen Sie. Die Mathematiker sind fast verrückt geworden, weil es da offensichtlich eine Stufe gibt, wo man definitiv kein sinnvolles Signal mehr einfangen kann, weil es einfach zu viel Verluste gibt, aber die Maschinen zaubern trotzdem welche hervor, wie ein Kaninchen aus dem Hut, presto. Bis eines Tages …«

»Bis eines Tages?«

»Bis eines Tages ein Mann im Anzug ins Labor kam und sagte: ›Jungs, es ist gerade von oben bestätigt worden, das Array hat jetzt ganz aufgehört zu senden, es kommt überhaupt nichts mehr, und ihr könnt euch darauf einstellen, den Laden zu schließen und nach Hause zu gehen.‹ Und meine Chefin zu der Zeit — das war Kelly Fletcher, sie ist jetzt in Crossbank —, die dreht sich von ihrem Monitor um und sagt: ›Nun, das kann ja sein, aber Tatsache ist, wir kriegen weiterhin Daten rein.‹«

Charlie aß sein Sandwich auf, wischte sich den Mund ab, stieß seinen Stuhl zurück. »Wir können jetzt wahrscheinlich ins Magazin rein.«


In Crossbank hatte Chris die O/BEK-Führung von der Galerie aus bestreiten müssen. Ins eigentliche Getriebe war er nicht eingeladen worden.

Der sterile Schutzanzug war so bequem, wie solche Dinger eben sein können — kühle Luft wurde hineingeleitet, man hatte ein weites transparentes Visier —, aber Chris fühlte sich dennoch ein wenig klaustrophobisch darin. Charlie führte ihn durch eine Zugangstür in die beklemmend stille O/BEK-Kammer. Die weiß emaillierten Zylinder hatten jeweils die Größe eines Kleinlasters. Sie waren auf Isolationsplattformen befestigt, die imstande waren, jede vom Boden ausgehende Erschütterung bis zu einem mittleren Erdbeben abzufedern. Seltsame, heikle Maschinen. »Es könnte jederzeit zu Ende gehen«, murmelte er.

»Was war das?«

»Das hat ein Ingenieur in Crossbank zu mir gesagt. Er sagte, ihm gefiele der Druck, an einem Prozess zu arbeiten, der jederzeit zu Ende gehen könne.«

»Da ist sicherlich was dran. Dies ist ja eine völlig neue Art von Technologie.« Er stieg über ein Bündel von teflonisolierten Kabeln. »Diese Maschinen halten nach Planeten Ausschau, aber zehn Jahre nach jener ersten NASA-Verbindung wissen wir immer noch nicht, wie sie das machen.«

Oder ob sie es machen, dachte Chris. Es gab einen harten Kern von Skeptikern, die glaubten, dass es keine echten Daten hinter den Bildern gebe: dass die O/BEKs lediglich … nun ja, träumen würden.

»Im Grunde«, sagte Charlie, »haben wir also zwei Forschungsprojekte gleichzeitig laufen: die Leute in der Plaza, die versuchen, aus den Daten schlau zu werden, und wir hier, die wir versuchen herauszufinden, wie wir die Daten bekommen. Aber wir können auch nicht zu genau hinsehen. Wir können die O/BEKs nicht auseinandernehmen oder sie mit Röntgenstrahlen oder anderen invasiven Mitteln durchleuchten. Wenn du's messen willst, machst du's kaputt. Blind Lake hat die Crossbank-Anlage nicht einfach kopiert; wir mussten unsere Maschinen durch den gleichen Entwicklungsprozess schicken, nur dass wir die alten HD-Interferometer statt des Galileo-Arrays benutzt und dann die Signalstärke ganz bewusst Stück für Stück runtergefahren haben, bis die Maschinen den Trick beherrschten — was auch immer das für ein Trick sein mag. Es gibt nur zwei derartige Anlagen auf der Welt, und alle Versuche, eine dritte zu installieren, sind immer wieder gescheitert. Wir balancieren auf einer Stecknadel. Das ist es, was Ihr Gesprächspartner in Crossbank meinte. Etwas vollkommen Seltsames und Wunderbares passiert hier, und im Grunde verstehen wir es nicht. Wir können nichts weiter tun, als es zu hegen und zu pflegen, so gut wir können, und ansonsten zu hoffen, dass es nicht müde wird oder die Lust verliert und sich abschaltet. Es könnte jederzeit zu Ende gehen. Klar. Und aus allen möglichen Gründen.«

Er führte Chris an dem letzten der O/BEK-Zylinder vorbei, dann durch eine Reihe von Kammern bis zu einem Raum, wo sie sich ihrer Schutzanzüge entledigten.

»Sie müssen sich immer vor Augen führen«, sagte Charlie, »dass wir diesen Maschinen nicht vorgegeben haben, das zu tun, was sie tun. Es gibt da keinen linearen Prozess, kein aus A folgt B und daraus folgt C. Wir haben sie einfach nur in Bewegung gesetzt. Wir haben die Ziele definiert und sie in Bewegung gesetzt, und was dann kam, das war höhere Gewalt.« Er faltete den sterilen Anzug ordentlich zusammen und legte ihn zur Reinigung auf einen Ständer.


Danach führte ihn Charlie durch den geschäftigsten Abschnitt der Alley, zwei riesige, mit Videobildschirmen gleichsam tapezierte Säle, in denen zahlreiche hochkonzentriert arbeitende Männer und Frauen an veränderbaren Desktops saßen. Chris fühlte sich an die alten NASA-Einrichtungen in Houston erinnert. »Sieht aus wie ein Bodenkontrollzentrum.«

»Aus gutem Grund«, sagte Charlie. »Die NASA hat das Galileo-Array seinerzeit mit solchen Interfaces kontrolliert. Als die Probleme nicht mehr zu bewältigen waren, haben sie dieses Zeugs durch die O/BEKs geschickt. Hier an dieser Stelle kommunizieren wir mit den Zylindern über Ausrichtung, Tiefenschärfe, Vergrößerungsfaktoren und so weiter.«

Bis ins kleinste Detail. Ein Monitor an der Wand gegenüber zeigte unbearbeitete Videobilder. Hummerhausen. Elaine hatte allerdings vollkommen recht. Es war ein absurd unangemessener Name. Die Eingeborenen sahen nicht annähernd aus wie Hummer, allenfalls vielleicht, was die raue Beschaffenheit ihrer Haut betraf. Demgegenüber hatte Chris schon oft gedacht, dass sie eher etwas Kuhartiges hätten, wenn man sich ihre träge Gleichgültigkeit betrachtete, diese großen leeren Billardkugelaugen.

Das Subjekt befand sich zum Essen in einem geschlossenen Raum, tief im Innern eines schwach beleuchteten Nahrungsmittellagers. Moosartiger Bewuchs und Gemüsehülsen überall, und durch den feuchten Abfall krochen larvenähnliche Gebilde. Diesen Wesen beim Essen zuzusehen, dachte Chris, konnte einem zuverlässig den Appetit verderben. Er wandte sich um zu Charlie Grogan.

»Ja«, sagte Charlie, »es könnte jederzeit zu Ende gehen, das ist wahr. Sie haben Ihr Quartier im Gemeindezentrum, hab ich von Ari gehört?«

»Vorläufig jedenfalls.«

»Soll ich Sie mitnehmen? Ich bin hier im Großen und Ganzen fertig für heute.«

Chris sah auf seine Uhr. Fast fünf. »Klingt besser, als zu Fuß zu gehen.«

»Vorausgesetzt, dass sie die Straße geräumt haben.«


Reichliche fünf Zentimeter Neuschnee waren gefallen, während Chris sich in der Alley aufgehalten hatte, und der Wind war stärker geworden. Chris fuhr zusammen, als er nach draußen trat. Er war in Südkalifornien geboren und aufgewachsen, und obwohl er lange Zeit im Osten gelebt hatte, waren diese strengen Wintertage noch immer ein Schock für ihn. Es war ja nicht lediglich schlechtes Wetter, dieses Wetter konnte tödlich sein. Man brauchte nur den falschen Weg einzuschlagen, sich verirren, und man wäre noch vor Sonnenaufgang an Unterkühlung gestorben.

»Es ist schlimm dieses Jahr«, gab Charlie zu. »Man sagt, es würde an den schrumpfenden Polkappen liegen, wegen all dem kalten Wasser, das in den Pazifik fließt. Das sind jetzt diese aufgeladenen kanadischen Kaltfronten, die über uns hinwegziehen. Man gewöhnt sich nach einiger Zeit dran.«

Kann schon sein, dachte Chris. So wie man sich daran gewöhnt, im Belagerungszustand zu leben.

Charlie Grogans Auto stand auf dem überdachten Parkplatz, angeschlossen an eine Ladebuchse. Chris glitt dankbar auf den Beifahrersitz. Es war ein Junggesellenauto: der Rücksitz voller alter Fachzeitschriften und Hundespielzeug. Sobald Charlie vom Parkgelände heruntersetzte, geriet der Wagen auf dem verdichteten Schnee erst einmal ins Schlingern, bevor die Reifen griffen. Grell schimmernde Schwefellampensäulen markierten den Weg zur Hauptstraße wie Wachposten, in Schneewirbel gehüllt.

»Es könnte jederzeit zu Ende gehen«, sagte Chris. »Ein bisschen so wie die Quarantäne. Die könnte auch aufhören. Tut sie aber nicht.«

»Haben Sie Ihren kleinen Recorder schon ausgeschaltet?«

»Ja. Sie meinen, ob dies für die Öffentlichkeit bestimmt ist? Nein, es ist nur Konversation.«

»Wenn ein Journalist so etwas sagt …«

»Ich arbeite nicht für die Boulevardpresse. Ehrlich, ich rede nur so vor mich hin. Wir können uns auch weiter über das Wetter unterhalten, wenn Ihnen das lieber ist.«

»Sollte keine Beleidigung sein.«

»Ist auch nicht so aufgefasst worden.«

»Sie haben sich mit dieser Galliano-Sache ein bisschen die Finger verbrannt, stimmt's?«

Na, wer wird denn jetzt persönlich? Er hatte aber das Gefühl, dass er diesem Mann eine ehrliche Antwort schuldete. »Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann.«

»Wenn man unschmeichelhafte Sachen über einen Nationalhelden sagt, geht man ein gewisses Risiko ein, nehme ich an.«

»Es war nicht meine Absicht gewesen, seinen Ruf zu beschädigen. Dass es so gekommen ist, hat er sich großenteils selbst zuzuschreiben.« Ted Galliano war vor zwanzig Jahren landesweit bekannt geworden, als er eine neue Familie von antiviralen Breitbandmedikamenten hatte patentieren lassen. Außerdem hatte er ein Vermögen gemacht, indem er einen neuartigen Pharmakonzern gründete, der diese Patente vermarktete. Galliano war der Prototyp des Wissenschaftlerunternehmers des 21. Jahrhunderts — so wie Edison oder Marconi im neunzehnten, auch sie Produkte des geschäftlichen Umfelds ihrer Zeit, auch sie brillant und clever. Ebenso wie Edison oder Marconi war er zu einem Helden der Öffentlichkeit geworden. Er hatte die besten Leute aus der Genomik und Proteomik für sich angeworben. Ein Kind, das heute im Continental Commonwealth geboren wurde, hatte eine Lebenserwartung von hundert oder noch mehr Jahren, und dies war zu nicht geringen Anteilen Gallianos antiviralen und antigeriatrischen Medikamenten zuzuschreiben.

Was Chris aufgedeckt hatte, war die Tatsache, dass Galliano ein rücksichtsloser und mitunter auch skrupelloser Geschäftsmann war — wie seinerzeit Edison. Er hatte in Washington antichambriert, um sich umfassenden Patentschutz zu sichern; er hatte Konkurrenten aus dem Markt verdrängt oder sie im Zuge von dubiosen Fusionen und undurchsichtigen Übernahmen geschluckt; schlimmer noch, Chris hatte diverse Quellen aufgetan, die davon überzeugt waren, dass Galliano sich an offensichtlich illegalen Aktienmanipulationen beteiligt hatte. Sein letztes großes Geschäftsprojekt war ein genomischer Impfstoff gegen arteriosklerotische Plaque gewesen — noch unausgereift, aber viel diskutiert, und die Aussicht darauf, wie übertrieben sie auch sein mochte, hatte Gallianos Aktien in Schwindelerregende Höhen getrieben. Am Ende war die Blase geplatzt, doch nicht bevor Galliano und seine Freunde äußerst profitabel verkauft hatten.

»Konnten Sie irgendetwas davon beweisen?«

»Letzten Endes nicht. Wie auch immer, ich hatte das Ganze gar nicht als Enthüllungsbiografie aufgefasst. Er war einglänzender Wissenschaftler. Als das Buch erschien, ist es zunächst recht gut aufgenommen worden, zum Teil sicherlich nur aus Schadenfreude — reiche Leute haben Neider und Feinde —, aber es gab auch viele abgewogene Urteile. Dann hatte Galliano seinen Unfall oder beging Selbstmord, je nachdem, wen man dazu befragt, und seine Familie hat das Buch damit in Zusammenhang gebracht. Revolverjournalismus treibt Wohltäter in den Tod. Daraus lässt sich auch eine gute Story machen.«

»Sie standen vor Gericht, oder?«

»Ich habe im Rahmen einer Kongressuntersuchung ausgesagt.«

»Meinte doch, so was gelesen zu haben.«

»Man drohte mir, mich wegen Missachtung des Kongresses ins Gefängnis zu bringen, weil ich meine Quellen nicht nennen wollte — was sowieso nichts genützt hätte. Meine Quellen waren durchweg bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und als die Untersuchung stattfand, hatten sie alle bereits Erklärungen abgegeben, in denen sie sich auf die Seite von Gallianos Erben stellten. In den Augen der Öffentlichkeit war Galliano inzwischen zu einem Heiligen geworden. Und niemand will eine Autopsie am Leichnam eines Heiligen vornehmen.«

»Pech für Sie«, sagte Charlie. »Oder schlechtes Timing.«

Chris betrachtete den Schneevorhang hinter dem Beifahrerfenster, den Schnee, der sich auf den offenen Flächen des Autos absetzte oder sich hinter den Spiegeln fing. »Oder ich war einfach schlecht beraten. Gegen eine der größten Windmühlen auf dem Planeten anzukämpfen. Ich hatte naive Vorstellungen darüber, wie so etwas funktioniert.«

»Hmm.« Charlie schwieg eine Weile. »Diesmal haben Sie aber was Gutes zu fassen. Die Story über die Quarantäne von Blind Lake, aus der Innenperspektive erzählt.«

»Vorausgesetzt, dass irgendeiner von uns je Gelegenheit haben wird, sie zu erzählen.«

»Soll ich Sie vor dem Gemeindezentrum absetzen?«

»Falls es kein zu großer Umweg für Sie ist.«

»Ich hab's nicht eilig. Obwohl Boomer inzwischen wahrscheinlich Hunger hat. Ich dachte, dass man euch gestrandete Tagesgäste alle bei Einheimischen unterbringen wollte.«

»Ich bin auf der Warteliste. Und morgen habe ich tatsächlich einen Vorstellungstermin.«

»Zu wem sollen Sie geschickt werden?«

»Zu einer gewissen Dr. Hauser.«

»Marguerite Hauser?« Charlie lächelte undurchsichtig. »Wollen wohl alle Parias zusammenstecken.«

»Parias?«

»Ach nee, vergessen Sie's. Ich sollte nicht über Plaza-Politik reden. He, Chris, wissen Sie, was das Gute an Boomer ist, meinem Hund?«

»Was denn?«

»Er hat keine Ahnung von der Quarantäne. Er weiß nichts davon und es kümmert ihn nicht, solange er nur regelmäßig sein Fressen kriegt.«

Glücklicher Boomer, dachte Chris.

Elf

Tessa erwachte um sieben Uhr, ihre übliche Zeit unter der Woche, doch noch bevor sie die Augen aufschlug, wusste sie, dass heute keine Schule sein würde.

Es hatte gestern den ganzen Tag geschneit, und als sie zu Bett ging, war immer noch Schnee gefallen. Und jetzt, heute Morgen, brauchte sie nicht einmal den spitzenbesetzten Vorhang zurückzuziehen, der ihr Fenster bedeckte, denn sie konnte den Schnee hören. Hören, wie er gegen das Glas rieselte, ein Geräusch so sanft und leise wie Mäusegeflüster, und sie konnte auch die Stille hören, die es umgab. Keine über die Auffahrten scharrenden Schaufeln, keine Autos mit knirschenden Reifen, nur ein über allem liegendes weißes Nichts. Mit anderen Worten, richtig viel Schnee.

Sie hörte ihre Mutter unten in der Küche hantieren und dabei vor sich hinsummen. Also auch dort keine Eile, keine Dringlichkeit. Wenn Tess jetzt wieder einschlief, würde ihre Mutter sie wahrscheinlich einfach im Bett bleiben lassen. Es war wie Wochenende, dachte Tess. Kein ruckartiges Erwachen, sondern man konnte die Welt langsam einsickern lassen. Langsam, bedächtig öffnete sie die Augen. Das Tageslicht in ihrem Zimmer war trüb und fast flüssig.

Sie setzte sich auf, gähnte, zupfte ihr Nachthemd zurecht. Der Teppich war kalt unter den nackten Füßen. Sie schob sich am Bett entlang zum Fenster und zog den Vorhang zurück.

Die Fensterscheibe war vollkommen weiß, eine undurchsichtige weiße Fläche. Schnee türmte sich eindrucksvoll auf dem äußeren Sims und innen hatte die kondensierte Feuchtigkeit frostige Filigranmuster gebildet. Tess streckte sofort die Hand aus, berührte das eisige Fenster jedoch nicht, sondern fühlte die Kälte aus einigen Zentimetern Abstand. Es war fast, als würde das Fenster die Kälte ins Zimmer atmen. Sie achtete sorgsam darauf, die zarten Eislinien nicht zu beschädigen, die zweidimensionalen Schneeflockenmuster, die wie die Straßenkarte einer elfenhaften Stadt anmuteten. Das Eis war auf der Innenseite des Fensters, nicht außen. Der Winter hatte richtiggehend durchs Glas gegriffen, dachte Tess. Der Winter hatte seine Hand in ihr Zimmer gesteckt.

Lange starrte sie auf die Eismuster. Sie waren wie geschriebene Worte, die ihre Bedeutung nicht preisgeben wollten. Vergangene Woche hatte Mr. Fleischer im Unterricht über Symmetrie gesprochen. Er hatte von Spiegeln und Schneeflocken erzählt. Er hatte der Klasse gezeigt, wie man ein Blatt Papier falten und mit einer Schere Muster in die Falte schneiden konnte. Wenn man dann das Papier wieder auseinanderzog, sahen die aufs Geratewohl gesetzten Schnitte plötzlich wunderschön aus. Waren zu geheimnisvollen Masken und Schmetterlingen geworden. Das Gleiche konnte man auch mit Farbe machen. Einen Klecks auf das Papier setzen und es dann, solange die Farbe noch nass war, in der Mitte falten. Wieder aufklappen und die Kleckse hatten sich in Augen, Motten, Gewölbe oder gezackte Regenbogen verwandelt.

Die Frostmuster auf dem Fenster waren eher wie Schneeflocken, so als hätte man das Papier nicht einmal gefaltet, sondern zweimal, dreimal, vier … aber niemand hatte das Glas gefaltet. Woher wusste das Eis, welche Muster es machen sollte? Hatte es eingebaute Spiegel innen drin?

»Tess?«

Ihre Mutter stand an der Tür.

»Tess, es ist schon nach neun. Heute ist keine Schule, aber willst du nicht aufstehen?«

Nach neun? Tess blickte auf ihren Nachttischwecker. Tatsächlich, neun Uhr acht. Aber war es nicht gerade eben erst sieben gewesen? Kurz entschlossen streckte sie die Hand vor und hinterließ einen schmelzenden Abdruck auf der Fensterscheibe. »Ich komme!« Ihre Hand war augenblicklich kalt geworden.

»Was möchtest du essen?«

»Frühstücksflocken!« Fast hätte sie Schneeflocken gesagt.


Beim Frühstück erinnerte die Mutter Tessa daran, dass sie heute einen Übernachtungsgast erwarteten — »Vorausgesetzt, die Straßen sind bis Mittag geräumt.« Dies fand Tessa ungeheuer interessant. Tessas Mutter arbeitete heute zu Hause, wodurch alles noch mehr wie Wochenende war, abgesehen eben von der Möglichkeit, dass diese neue Person ins Haus kam. Ihre Mutter hatte ihr erklärt, dass einige der Besucher und der nicht hier wohnenden Angestellten noch immer in der Sporthalle des Gemeindezentrums übernachteten, was nicht sehr bequem war, und dass die Leute, die in ihren Häusern ein Zimmer frei hatten, gebeten worden seien, dieses zur Verfügung zu stellen. Tessas Mutter hatte ihre Fitnessgeräte, einen Crosstrainer und ein Ergometerfahrrad, aus dem kleinen, mit Teppich ausgelegten Zimmer im Keller, gleich neben dem Wasserkessel, geräumt. Jetzt stand ein Klappbett darin. Tess fragte sich, wie es wohl sein würde, einen Fremden im Keller zu haben. Einen Fremden, der beim Essen mit am Tisch saß.

Nach dem Frühstück ging Tessas Mutter nach oben in ihr Arbeitszimmer. »Komm und sag Bescheid, wenn du mich brauchst«, sagte sie, doch Tatsache war, dass Tess in den letzten Tagen weniger von ihrer Mutter gesehen hatte als üblich. Irgendetwas passierte gerade bei ihrer Arbeit, es hatte etwas mit dem Subjekt zu tun. Das Subjekt verhielt sich seltsam. Einige Leute meinten, das Subjekt sei vielleicht krank. Dieses Problem nahm ihre Mutter vollauf in Anspruch.

Nach wie vor im Nachthemd, blieb Tess noch eine Weile im Wohnzimmer sitzen und las. Das Buch hieß Aus dem Sternenhimmel. Es war ein Kinderbuch über die Sterne, darüber, wie sie sich gebildet hatten, wie aus alten Sternen neue entstanden, wie Planeten und Menschen aus ihrem Staub herauskondensierten. Als ihre Augen müde wurden, legte sie das Buch weg und sah zu, wie der Schnee sich an der Glasschiebetür auftürmte. Die Mittagszeit kroch heran, aber der Himmel war noch immer dunkel und verschleiert. Sie hätte sich ein Sandwich zum Lunch machen können, aber sie befand, dass sie keinen Hunger hatte. Sie ging nach oben, zog sich an und klopfte an die Tür ihrer Mutter, um ihr zu sagen, dass sie für eine Weile nach draußen gehen wolle.

»Dein Hemd ist schief geknöpft.« Ihre Mutter kam in den Flur und machte sich an ihrer Kleidung zu schaffen. Schließlich zerzauste sie Tessa ein bisschen die Haare. »Geh nicht zu weit weg.«

»Ist gut.«

»Und klopf deine Stiefel ab, bevor du wieder reinkommst.«

»Mach ich.«

»Schneehosen, nicht nur die Jacke.«

Tess nickte.

Sie fand es aufregend, nach draußen zu gehen, auch wenn sie dafür erst einmal im warmen Flur stehen und sich schwitzend in ihren Schneeanzug zwängen musste. Der Schnee war so tief, so gewaltig, dass sie das dringende Bedürfnis empfand, ihn von Nahem zu sehen und zu fühlen. Über Nacht, dachte Tess, war die Welt vor der Haustür ein anderer und viel seltsamerer Ort geworden. Als sie ihre Stiefel fertig zugeschnürt hatte, trat sie nach draußen. Die Luft selbst war nicht so kalt, wie sie erwartet hatte. Es fühlte sich gut an, sie tief in die Lunge zu saugen und anschließend in Dampfwolken wieder auszustoßen. Aber der frisch fallende Schnee war nun klein und hart, überhaupt nicht mehr sanft. Er biss in die Gesichtshaut.

Häuserreihen zogen sich rechts und links von ihr die Straße entlang. Nebenan war Mrs. Colangelo dabei, ihre Auffahrt freizuschaufeln. Tess tat so, als würde sie sie nicht bemerken, sie befürchtete, Mrs. Colangelo könnte sie bitten, ihr zu helfen. Aber Mrs. Colangelo achtete gar nicht auf Tessa und schien, mit rotem Gesicht und zusammengekniffenen Augen, ganz in ihre Tätigkeit versunken, als wäre der Schnee ihr höchstpersönlicher Feind. Weiße Wolken stoben vom Schaufelblatt und zerstreuten sich im Wind.

Der unberührte Schnee auf dem Rasen vor dem Haus reichte fast bis zu Tessas Schultern. Ich bin klein, dachte sie. Ihr Kopf ragte nur so gerade eben über die aufgehäuften Dünen hinaus, sodass sie das Gefühl hatte, nicht größer zu sein als ein Hund. Hundeaussicht. Sie unterdrückte einen Impuls, ins Weiße hineinzuspringen, ganz einzutauchen. Sie wusste, dass der Schnee in den Kragen ihrer Jacke rutschen würde, und sie müsste dann viel schneller wieder ins Haus gehen.

Stattdessen stapfte sie in großen schwerfälligen Mondschritten bis zum Gehsteig. Die Hauptstraße war geräumt worden, doch hatte sich bereits eine dünne Decke Neuschnee über den Asphalt gelegt. Die Schneepflüge hatten Wälle zusammengeschoben, die so hoch waren, dass man nicht hinübersehen konnte. Der Baum im Vordergarten war derart mit Schnee beladen, dass die durchhängenden Äste an Kirchenbögen erinnerten. Tess duckte sich unter ihnen hindurch und fand sich zu ihrem großen Vergnügen in einer Art durchlöcherten Schneehöhle wieder. Es wäre das perfekte Versteck gewesen, wenn nicht schon nach kurzer Zeit eisige Luft unter ihren Schneeanzug gekrochen wäre, sodass sie vor Kälte zitterte.

Sie stand unter dem Baum, als sie einen Mann auf der Straße — die Gehsteige waren unpassierbar — in Richtung Haus kommen sah. Tess vermutete sofort, dass dies der Übernachtungsgast war. Er war nicht sehr warm angezogen. Zwischendurch blieb er stehen, um die von Schnee überkrusteten, nur halb lesbaren Nummern der Reihenhäuser zu entziffern. Er ging weiter, bis er vor Tessas Haus angelangt war, dann nahm er die Hände aus den Taschen, bahnte sich einen Weg durch die Schneewälle und stakste auf die Haustür zu. Tess zog sich in die Deckung des verschneiten Baums zurück, damit er sie nicht sehen konnte. Als er die Klingel erreichte, war seine Jeans bis über die Knie mit Schnee bedeckt.

Tessas Mutter kam an die Tür. Sie schüttelte dem Fremden die Hand. Der Mann klopfte sich den Schnee ab und trat ein. Tessas Mutter blieb noch einen Moment lang an der Tür stehen, verfolgte Tessas Fußspuren. Dann entdeckte sie Tessa unter dem Baum und zielte mit dem Finger auf sie, wie mit einer Pistole. Hab dich erwischt, Cowgirl, sagte Tessas Mutter immer bei solchen Gelegenheiten. Diesmal formte sie die Worte mit den Lippen.

Tess blieb eine Weile unter dem schützenden Baum stehen. Sie sah Mrs. Colangelo beim Schneeschippen zu, bis sie fertig war. Sie beobachtete einige Autos, die vorsichtig die Straße entlangschlichen. Sie kam zu dem Schluss, dass verschneite Wintertage ihr gut gefielen. Alle Oberflächen, sogar das große Frontfenster des Hauses, waren undurchsichtig und strukturiert, spiegelten kein bisschen. Und angesichts dieses Mangels an Spiegelflächen brauchte sie keine Angst zu haben, plötzlich Mirror Girl zu erblicken.

Mirror Girl gab sich oft als Spiegelbild von Tess aus. Tess wurde dann überrumpelt, sah plötzlich Mirror Girl aus dem Badezimmer- oder Schlafzimmerspiegel starren, nicht zu unterscheiden von Tessas eigenem Spiegelbild, außer an den Augen, die sie fragend anblickten, drängend, aufdringlich. Mirror Girl stellte Fragen, die niemand sonst hören konnte. Idiotische Fragen manchmal; manchmal aber Erwachsenenfragen, die Tess nicht beantworten konnte, manchmal Fragen, die ihr unangenehm waren und sie beunruhigten. Erst gestern hatte Mirror Girl sie gefragt, warum die Pflanzen im Haus grün und lebendig seien, die draußen aber alle braun und ohne Blätter. (»Weil Winter ist«, hatte Tess aufgebracht gesagt. »Geh weg. Ich glaube nicht an dich.«)

An Mirror Girl zu denken, verursachte Tess Unbehagen.

Sie machte sich auf den Weg zurück ins Haus. Der Rasen davor war noch immer ein unberührtes, jungfräulich weißes Schneefeld. Tess blieb stehen und zog ihre Handschuhe aus. Ihre Hände waren schon kalt geworden, aber da sie sowieso reingehen wollte, machte das nichts. Sie stieß beide Hände in den heilen, papierweißen Schnee. Die Abdrücke waren makellos, Spiegelbilder ihrer Hände. Symmetrisch, dachte Tess.

Als sie zur Tür kam, hörte sie Stimmen von innen, laute, erhobene Stimmen, die zornige Stimme ihrer Mutter. Tess schlüpfte ins Haus und machte leise die Tür hinter sich zu. Von ihren Stiefeln fiel klumpenweise vereister Schnee auf den Läufer im Flur. Ihre Wollmütze juckte plötzlich unangenehm. Sie riss sie sich vom Kopf und ließ sie auf den Boden fallen.

Ihre Mutter und der Übernachtungsgast waren in der Küche, unsichtbar. Tess lauschte aufmerksam. Der Gast sagte gerade: »Hören Sie, wenn das ein Problem für Sie ist …«

»Es schafft ein Problem für mich.« Tessas Mutter klang gleichzeitig empört und unsicher, defensiv. »Ray — dieses Schwein!«

»Ray? Entschuldigung — wer ist Ray?«

»Mein Ex.«

»Was hat er mit dieser Angelegenheit zu tun?«

»Ray Scutter. Ist Ihnen der Name bekannt?«

»Natürlich, aber …«

»Sie glauben, dass es Ari Weingart war, der Sie hierhergeschickt hat?«

»Er hat mir Ihren Namen und Ihre Adresse genannt.«

»Ari meint es gut, aber er ist nur Rays Marionette. Oh, Scheiße. Entschuldigen Sie. Nein, ich weiß, Sie verstehen gar nicht, was los ist.«

»Sie könnten es mir erklären«, sagte der Gast.

Tess begriff, dass ihre Mutter von ihrem Vater sprach. Normalerweise hörte Tess nicht zu, wenn das passierte. So wie früher, wenn sie sich stritten. Sie dachte einfach an was anderes. Aber das hier war interessant. Jetzt hatte es etwas mit dem Übernachtungsgast zu tun, der einen neuen und faszinierenden Status einfach dadurch angenommen hatte, dass er Gegenstand des Zorns ihrer Mutter war.

»Es liegt nicht an Ihnen«, sagte Tessas Mutter. »Ich meine, sehen Sie, es tut mir leid, ich kenne Sie ja überhaupt nicht … es ist nur so, dass Ihr Name recht häufig fällt.«

»Vielleicht sollte ich wieder gehen.«

»Wegen Ihres Buches. Das ist der Grund, warum Ray Sie hergeschickt hat. Ich habe momentan keinen sehr guten Stand in Blind Lake, Mr. Carmody, und Ray gibt sich alle Mühe, den Halt, den ich noch habe, zu untergraben. Wenn es sich herumspricht, dass Sie hier ein Zimmer haben, wird man viele falsche Vorstellungen bestätigt sehen.«

»Alle Parias hocken am selben Ort.«

»Sozusagen. Na ja, es ist eine unangenehme Situation. Verstehen Sie, ich bin nicht sauer auf Sie, es ist nur …«

Tess malte sich aus, wie ihre Mutter die Hände zu einer Was-kann-ich-tun?-Gestein die Luft warf.

»Dr. Hauser …«

»Bitte, nennen Sie mich Marguerite.«

»Marguerite, ich suche im Grunde nichts weiter als eine Unterkunft. Ich spreche mit Ari und werde sehen, ob er etwas anderes arrangieren kann.«

Es folgte eine längere Pause von der Art, wie sie Tess ebenfalls mit der periodisch wiederkehrenden Traurigkeit ihrer Mutter in Verbindung brachte. Dann fragte sie: »Sie übernachten immer noch in der Sporthalle?«

»Ja.«

»Aha. Na ja, setzen Sie sich doch. Wärmen Sie sich wenigstens ein bisschen auf. ich koche einen Kaffee, wenn Sie mögen.«

Der Gast zögerte. »Wenn's nicht zu viel Umstände macht.«

Küchenstühle scharrten über den Fußboden. Leise stieg Tess aus ihren Stiefeln und hängte ihren Schneeanzug in den Schrank.

»Haben Sie viele Koffer?«, fragte Tessas Mutter.

»Ich reise mit ziemlich leichtem Gepäck.«

»Tut mir leid, wenn ich einen feindseligen Eindruck gemacht habe.«

»Ich bin daran gewöhnt.«

»Ich habe Ihr Buch nicht gelesen. Aber man hört so einiges.«

»Ja, man hört eine Menge. Sie sind Leiterin der Abteilung Beobachtung und Interpretation, nicht wahr?«

»Es ist eher eine abteilungsübergreifende Kommission.«

»Und was hat Ray gegen Sie?«

»Lange Geschichte.«

»Manchmal sind die Dinge nicht so, wie sie auf den ersten Blick scheinen.«

»Ich maße mir kein Urteil über Sie an, Mr. Carmody. Wirklich.«

»Und ich bin nicht hier, um Sie in eine schwierige Lage zu bringen.«

Es gab eine weitere Pause. Löffel klirrten in Kaffeetassen. Dann sagte Tessas Mutter: »Es ist ein Kellerraum. Nichts Besonderes. Allerdings wohl besser als die Turnhalle, glaube ich. Vielleicht können Sie so lange dort bleiben, bis Ari etwas anderes arrangiert hat.«

»Ist das ein echtes Angebot oder eins aus Mitleid?«

Tessas Mutter, jetzt nicht mehr wütend, ließ ein kurzes Lachen hören. »Vielleicht aus einem Schuldgefühl heraus. Aber ehrlich gemeint.« Wiederum Schweigen.

»Dann nehme ich es an«, sagte der Fremde. »Danke.« Tess ging in die Küche, um sich bekannt machen zu lassen. Insgeheim war sie begeistert. Ein Übernachtungsgast! Noch dazu einer, der ein Buch geschrieben hatte! Das war mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte.


Tess schüttelte dem Gast die Hand; er war ein sehr großer Mann, der lockige dunkle Haare hatte und sie ernst und höflich begrüßte. Der Gast trank weiter Kaffee und plauderte mit Tessas Mutter fast bis Sonnenuntergang, als er aufbrach, um seine Sachen zu holen. »Wir werden wohl, jedenfalls für kurze Zeit, Gesellschaft haben«, sagte Tessas Mutter zu ihr. »Ich glaube nicht, dass Mr. Carmody uns groß stören wird. Er wird vielleicht auch gar nicht lange hier sein.«

Tess sagte, das ginge in Ordnung.

Sie spielte bis zum Abendessen in ihrem Zimmer. Es gab Spaghetti mit Tomatensoße aus der Dose. Der schwarze Laster lieferte jede Woche Lebensmittel, und diese wurden über den Supermarkt, wo die Leute vor der Quarantäne eingekauft hatten, nach einem Rationenpunktesystem verteilt. Das bedeutete, dass man sich nicht das aussuchen konnte, was man besonders gern mochte. Jeder bekam die gleiche wöchentliche Zuteilung von Obst und Gemüse, Konserven und Gefrierkost.

Aber Tess hatte nichts gegen Spaghetti. Außerdem gab es Brot mit Butter und Käse dazu und zum Nachtisch Birnen.

Nach dem Abendessen rief Tessas Vater an. Seit Beginn der Quarantäne konnte man nicht mehr nach draußen telefonieren oder E-Mails schicken, aber über Blind Lakes zentralen Server war es immerhin möglich, innerhalb des Zaunes zu kommunizieren. Tess nahm den Anruf auf ihrem eigenen Apparat entgegen, einem rosa Mattel-Handy aus Plastik, ohne Display und nennenswertem Speicher. Aus diesem Spielzeugtelefon klang die Stimme ihres Vaters mickrig und weit entfernt. Das Erste, was er sagte, war: »Geht's dir gut?«

Er fragte immer das Gleiche, jedes Mal, wenn er anrief. Tess antwortete wie immer: »Ja.«

»Bist du sicher, Tessa?«

»Ja.«

»Was hast du heute gemacht?«

»Gespielt«, sagte sie.

»Im Schnee?«

»Ja.«

»Hast du auch schön aufgepasst?«

»Ja«, sagte Tess, obwohl sie nicht recht wusste, worauf sie denn hätte aufpassen sollen.

»Wie ich höre, hattet ihr heute Besuch.«

»Der Übernachtungsgast«, sagte Tess. Sie fragte sich, wie ihr Vater so schnell davon erfahren hatte.

»Richtig. Wie findest du das, einen Besucher zu haben?«

»Ist okay. Ich weiß nicht.«

»Kümmert sich deine Mutter auch ordentlich um dich?«

Wieder eine wohlvertraute Frage. »Ja.«

»Das will ich hoffen. Weißt du, wenn es je Probleme dort gibt, brauchst du mich nur anzurufen. Ich kann dich dann abholen.«

»Ich weiß.«

»Na, jedenfalls nächste Woche bist du dann ja wieder bei mir. Kannst du noch eine Woche warten?«

»Ja«, sagte Tess.

»Und bist bis dahin ein braves Madchen?«

»Ist gut.«

»Ruf mich an, wenn es ein Problem mit deiner Mutter gibt.«

»Ist gut.«

»Hab dich lieb, Tessa.«

»Ich weiß.« Tess steckte das rosa Telefon in ihre Tasche zurück.


Der Übernachtungsgast kehrte am Abend mit einem Matchbeutel zurück. Er sagte, er hätte schon zu Abend gegessen, und ging dann in den Keller, um etwas zu arbeiten. Tess ging in ihr Zimmer.

Die Eisstickerei auf der Fensterscheibe war tagsüber geschmolzen, hatte sich nach Sonnenuntergang jedoch neu gebildet, mit neuen und andersartigen Symmetrien, die wie ein eigener Garten wuchsen und sich fortentwickelten. Tess stellte sich Kristallstraßen und Kristallhäuser vor und kristallene Wesen, die sie bewohnten: Eisstädte, Eiswelten.

Es hatte aufgehört zu schneien, und die Temperatur war gefallen. Der Himmel war ganz klar, und als sie das Eis weggerieben hatte, konnte Tessa massig viele Wintersterne hinter den schneebeladenen Baumästen und den Türmen der Hubble Plaza sehen.

Zwölf

Chris traf Elaine zum Abendessen im Restaurant Sawyer's im Einkaufszentrum. Ari Weingart hatte seinen Einfluss geltend gemacht, um trotz der Rationierung die örtlichen Restaurants weiter geöffnet zu halten, als Versammlungsort und um die Moral der Stadt zu stärken. Warme Mahlzeiten ausschließlich zum Lunch, nach drei Uhr nachmittags nur Sandwiches, keine alkoholischen Getränke, keine Nachschläge, aber auch keine Rechnungen: Da niemand mehr für seine Arbeit bezahlt wurde, wäre es sinnlos gewesen, hätte man die lokale Wirtschaft weiter auf Geldbasis betreiben wollen. Der Belegschaft war zugesichert worden, dass die Gehälter zusammengerechnet und nach Ende der Quarantäne ausbezahlt würden, und Kunden mit Bargeldbeständen wurde anheim gestellt, Trinkgelder zu geben, soweit es ihnen angemessen schien.

An diesem Abend waren Chris und Elaine die einzigen Gäste — der Schneefall vom Vortag hielt die Leute zu Hause fest. Die einzige Kellnerin, die zum Dienst erschienen war, ein in Teilzeit beschäftigter Teenager namens Laurel Brank, saß die meiste Zeit in einer entlegenen Ecke des Saals, las Bleak House auf einem Pocket-Display und naschte Chips aus einer Schüssel.

»Hab gehört, Sie sind einquartiert worden«, sagte Elaine.

Eine Kaltfront war dem Tiefdruckgebiet gefolgt. Die Luft war klar und schneidend, der Wind hatte zugelegt, schichtete den gestern gefallenen Schnee um und rüttelte an den Fenstern des Restaurants. »Ich bin da in etwas reingeraten, das ich nicht völlig verstehe. Weingart hat mich einer Frau namens Marguerite Hauser zugewiesen, die mit ihrer Tochter in der Siedlung im Westen der Stadt wohnt.«

»Ich kenne den Namen. Sie ist vor Kurzem aus Crossbank gekommen, leitet jetzt Beobachtung und Interpretation.« Elaine hatte alle wichtigen Kommissionsleute von Blind Lake interviewt; Interviews, die Chris infolge seines Rufes tendenziell nicht gewährt wurden. »Ich habe nicht mit ihr persönlich gesprochen, aber sie scheint nicht viele Freunde zu haben.«

»Feinde?«

»Nicht direkt Feinde. Sie ist einfach ein Neuankömmling und immer noch eine Art Außenseiterin. Der große Knackpunkt bei ihr ist …«

»Ihr Exmann.«

»Genau. Ray Scutter. Wenn ich recht sehe, hat es da eine ziemlich erbitterte Scheidung gegeben. Scutter redet schlecht über sie. Er meint, sie hätte nicht die Qualifikation, eine Kommission zu leiten.«

»Glauben Sie, dass er recht hat?«

»Kann ich nicht beurteilen, aber ihr beruflicher Werdegang ist makellos. Sie war nie die große Überfliegerin wie Ray und sie hat nicht die gleichen akademischen Zeugnisse, aber sie hat auch noch nie so spektakulär danebengelegen wie Ray. Kennen Sie die Diskussion über kulturelle Intelligibilität?«

»Einige Leute glauben, dass wir die Hummer irgendwann verstehen werden. Andere glauben das nicht.«

»Wenn die Hummer uns beobachten würden, auf wie viel von dem, was wir tun, könnten sie sich einen Reim machen? Pessimisten sagen, auf gar nichts — oder sehr wenig. Sie könnten vielleicht unserem System des ökonomischen Tausches auf die Spur kommen und ein bisschen auch unserer Biologie und Technologie, aber wie sollten sie Picasso interpretieren können, oder das Christentum, die Burenkriege, Die Brüder Karamasow oder auch nur den Gefühlsgehalt eines Lächelns? Wir kommunizieren unaufhörlich miteinander, und die Zeichen, die wir dafür verwenden, basieren auf allen möglichen spezifisch menschlichen Eigenarten, von der äußeren Physiologie bis hin zur Gehirnstruktur. Das ist der Grund, warum über die Hummer in diesen seltsamen Kategorien der Verhaltensforschung gesprochen wird — das Teilen der Nahrung, ökonomischer Tausch, Symbolschöpfung. Es ist wie bei einem Europäer aus dem neunzehnten Jahrhundert, der das Verwandtschaftssystem der Kwakiutl zu erforschen versucht, ohne die Sprache zu erlernen oder zu irgendwelcher Kommunikation imstande zu sein … nur dass dieser Europäer fundamentale Bedürfnisse und Triebe mit den Indianern gemeinsam hat, während wir mit den Hummern überhaupt nichts gemeinsam haben.«

»Es ist also sinnlos, es zu versuchen?«

»Ein Pessimist würde die Frage bejahen — er würde sagen, lasst uns unsere Informationen sammeln und sortieren und daraus lernen, aber begraben wir die Vorstellung von der grundsätzlichen Verstehbarkeit. Ray Scutter gehört zu diesen Leuten. In einem Vortrag hat er die Idee des exokulturellen Verständnisses einmal als ›romantischen Wahn, vergleichbar dem viktorianischen Fimmel für Spiritismus und Tischerücken‹ bezeichnet. Er versteht sich als eingefleischter Materialist.«

»Nicht alle Leute in Blind Lake teilen diese Sicht«, sagte Chris.

»Natürlich nicht. Es gibt auch eine andere Denkschule. In der Rays Ex zufällig Gründungsmitglied ist.«

»Optimisten.«

»Könnte man so sagen. Sie argumentieren, dass die Hummer zwar einzigartige physiologische Verhaltensvoraussetzungen aufweisen, diese aber seien beobachtbar und prinzipiell verstehbar, denn Kultur sei nichts anderes als erlerntes Verhalten, modifiziert durch Physiologie und Umwelt — erlernbar und daher auch nachvollziehbar. Wenn wir nur genug über das Alltagsleben der Hummer wissen, so glauben sie, dann würde das Verstehen sich zwangsläufig einstellen. Sie sagen, dass alle Lebewesen gewisse Dinge gemeinsam hätten, etwa das Verlangen, sich fortzupflanzen, die Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme und des Ausscheidens von Exkrementen und so weiter — und das seien genügend Gemeinsamkeiten, um die Hummer eher als entfernte Verwandte denn als grundlegend Fremde anzusehen.«

»Interessant. Was glauben Sie?«

»Was ich glaube?« Elaine schien ein wenig erschrocken über die Frage. »Ich bin Agnostikerin.« Sie legte den Kopf schief. »Sagen wir, es ist 1944. Sagen wir, irgendein E.T. erforscht die Erde, und nehmen wir an, er landet zufällig in einem Vernichtungslager in Polen. Er beobachtet, wie die Nazis den toten Juden das Gold aus den Zähnen brechen, und er fragt sich, ob das ein ökonomiegeleitetes Verhalten ist, ob es etwas mit der Nahrungskette zu tun hat oder was? Er versucht den Sinn zu erkennen, aber er kann es nicht. Wird es nie können. Denn manche Dinge haben keinen Sinn. Es gibt verdammt noch mal Dinge, die man einfach nicht erklären kann.«

»Das ist es, was zwischen Ray und Marguerite steht, diese philosophische Meinungsverschiedenheit?«

»Es ist alles andere als nur philosophisch, jedenfalls soweit es die Blind Laker Politik betrifft. Über diese Frage werden Karrieren gemacht und zerstört. Das Bedeutsame an UMa47 war die Entdeckung einer lebendigen, intelligenten Zivilisation, und folglich wird ein Großteil der Zeit und der Aufmerksamkeit darauf verwendet. Falls aber die Hummerkultur statisch und letzten Endes nicht verstehbar ist, wäre das vielleicht nicht gerechtfertigt. Es gibt Planetologen, die lieber die Geologie und das Klima studieren würden, und es gibt sogar Exozoologen, die sich die örtliche Fauna gern mal etwas genauer ansehen würden. Um diese merkwürdigen Wesen anstarren zu können, ignorieren wir vieles andere — zum Beispiel die anderen fünf Planeten in dem System. Keiner von ihnen ist bewohnbar, aber alle sind neu und unbekannt. Astronomen und Kosmologen fordern seit Jahren eine Erweiterung des Programms.«

»Das heißt, Marguerite befindet sich in der Minderheit?«

»Nein … bisher jedenfalls haben diejenigen, die Hummerhausen weiter erforschen wollen, noch die Meinungshoheit, aber die Unterstützung ist längst nicht mehr die, die sie mal war. Und Ray Scutters Bemühungen gehen dahin, einen Meinungsumschwung zugunsten einer Diversifizierung zu bewirken. Er will nicht an einen einzigen Gegenstand gefesselt sein, während Marguerite genau daran gelegen ist.«

»Aber alles das ist im Grunde sekundär, nicht wahr — seit der Isolierung, meine ich.«

»Es nimmt jetzt nur eine andere Gestalt an. Einige Leute plädieren seit Neuestem dafür, das Auge ganz abzuschalten.«

»Wenn man es abschaltet, gibt es keine Garantie dafür, dass es jemals wieder funktionieren wird. Das müsste selbst Ray klar sein.«

»Bisher wird darüber nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen. Aber die Logik dahinter sagt, wir sind wegen dem Auge abgeschottet, weil irgendjemand Angst hat, dass wir etwas sehen, was wir nicht sehen sollten. Wir müssen nur das Auge abschalten, dann hat sich das Problem erledigt.«

»Wenn die Leute draußen wollten, dass wir abschalten, könnten sie die Stromversorgung unterbrechen. Ein Wort an Minnesota Edison, das würde reichen.«

»Vielleicht sind sie bereit, uns weitermachen zu lassen, einfach um zu sehen, was passiert. Wir kennen das Kalkül nicht. Das Argument lautet: Vielleicht sind wir Versuchskaninchen. Vielleicht sollten wir dem Auge den Saft abdrehen und schauen, ob sie dann den Käfig wieder aufmachen.«

»Es wäre ein unfassbarer Verlust für die Wissenschaft.«

»Aber für die Tagesarbeiter und das Zivilpersonal spielt das nicht unbedingt die entscheidende Rolle. Die wollen nur ihre Kinder sehen oder ihre sterbenden Eltern oder ihre Verlobten. Selbst innerhalb des Forschungsstabes fangen die Leute an, sich über »Optionen« zu unterhalten.«

»Ray eingeschlossen?«

»Ray behält seine Meinung für sich. Aber er wurde erst spät zur Sache der Astrobiologie bekehrt. Früher hat er an ein unbewohntes, steriles Universum geglaubt. Er ist auf den fahrenden Zug aufgesprungen, als es karrieretechnisch sinnvoll schien, aber mein Verdacht ist, dass ihm im Grunde all dieses chaotische organische Zeug noch immer missfällt. Meinen Quellen zufolge hat er sich mit keinem Mucks für ein Abschalten des Auges ausgesprochen. Aber er hat auch kein Wort dagegen gesagt. Er ist der perfekte Politiker. Wartet wahrscheinlich erst einmal ab, woher der Wind weht.«

In diesem Moment ließ eine Bö die Fenster erzittern. Elaine lächelte.

»Er weht von Norden«, sagte Chris. »Und wie. Ich sollte lieber sehen, dass ich zurückkomme.«

»Da fällt mir ein. Ich hab was für Sie.« Sie griff in die Tasche zu ihren Füßen. »Ich hab die Fundsachenkiste im Gemeindezentrum durchwühlt.«

Sie zog einen braunen Wollschal hervor. Chris nahm ihn dankbar entgegen.

»Um Ihnen den Wind vom Hals zu halten«, sagte Elaine. »Hab gehört, Sie sind zur Alley rausgewandert und haben mit Charlie Grogan gesprochen.«

»Ja.«

»Also arbeiten Sie wieder?«

»Ein bisschen.«

»Gut. Sie sind zu talentiert, um hinzuschmeißen.«

»Elaine …«

»Nein, keine Sorge. Ich bin schon fertig. Halten Sie sich warm, Chris.«

Er gab Trinkgeld für sie beide und trat in die Nacht hinaus.


Marguerite hatte ihm keinen Schlüssel gegeben. Als er den Weg vom Sawyer's erfolgreich zurückgelegt hatte, klingelte er an der Tür des Reihenhauses. Es war überaus schätzenswert, dass Elaine ihm den Schal gegeben hatte, doch der Wind war tückisch, fiel ihn von immer neuen Seiten an. Sterne pulsierten am brutal klaren Nachthimmel.

Er musste zweimal klingeln, und dann war es nicht Marguerite, die ihm schließlich aufmachte, sondern Tessa. Das Mädchen sah ihn mit feierlichem Ernst an.

Er sagte: »Kann ich reinkommen?«

»Ich glaube schon.« Sie hielt die innere Tür ein Stück auf.

Er machte sie hastig hinter sich zu. Seine Finger brannten in der warmen Luft. Er streifte seine Jacke ab, dann seine mit Schnee überzogenen Schuhe. Bedauerlich, dass Elaine nicht auch ein Paar Stiefel für ihn ergattert hatte. »Deine Mutter ist nicht zu Hause?«

»Sie ist oben«, sagte Tessa. »Arbeiten.«

Das Mädchen war niedlich, aber wenig mitteilsam, ein bisschen pummelig und eulenäugig. Sie erinnerte Chris an seine jüngere Schwester Portia — abgesehen davon, dass Portia immer sehr viel, praktisch ununterbrochen, geredet hatte. Sie sah genau zu, wie Chris seine Jacke in den Schrank hängte. »Es ist kalt draußen«, sagte sie.

»Das kann man wohl sagen.«

»Sie sollten sich wärmere Sachen besorgen.«

»Gute Idee. Meinst du, ob deine Mutter etwas dagegen hätte, wenn ich einen Kaffee koche?«

Tess zuckte die Achseln und folgte Chris in die Küche. Er schüttete abgezählte Teelöffel Pulver in den Filterkorb, dann setzte er sich, während der Kaffee durchlief, an den Tisch und ließ ein wenig Wärme in seine Glieder zurückkriechen. Tess nahm sich einen Stuhl ihm gegenüber.

»War heute Schule?«, fragte Chris.

»Nur nachmittags.« Das Mädchen stützte die Ellbogen auf den Tisch, das Kinn auf die Hände. »Sind Sie Schriftsteller?«

»Ja«, sagte Chris. Wahrscheinlich. Vielleicht.

»Haben Sie ein Buch geschrieben?«

Die Frage war arglos. »Ich schreibe hauptsächlich für Zeitschriften. Aber einmal habe ich auch ein Buch geschrieben.«

»Kann ich es sehen?«

»Ich habe kein Exemplar bei mir.«

Tess war sichtlich enttäuscht. Sie schaukelte auf ihrem Stuhl, ihr Kopf machte rhythmische Nickbewegungen. Chris sagte: »Vielleicht solltest du deiner Mom sagen, dass ich hier bin.«

»Sie mag nicht gestört werden, wenn sie arbeitet.«

»Arbeitet sie immer so lange?«

»Nein.«

»Vielleicht sollte ich mal Hallo sagen.«

»Sie mag nicht gestört werden«, wiederholte Tess.

»Ich klopf nur mal kurz an die Tür. Vielleicht möchte sie auch einen Kaffee.«

Tess blieb achselzuckend in der Küche sitzen.

Marguerite hatte tags zuvor eine Hausführung mit ihm gemacht. Die Tür zu ihrem Arbeitszimmer stand einen Spalt weit offen, und Chris machte sich durch ein Räuspern bemerkbar. Marguerite saß an einem vollgepackten Schreibtisch. Sie kritzelte Notizen auf ein Handgerät, aber ihre Aufmerksamkeit war ganz auf den Bildschirm an der Wand gegenüber gerichtet. »Hab gar nicht gehört, dass Sie reingekommen sind«, sagte sie, ohne aufzusehen.

»Tut mir leid, wenn ich Sie beim Arbeiten störe.«

»Ich arbeite nicht. Jedenfalls nicht offiziell. Ich versuche nur herauszufinden, was da vorgeht.« Sie drehte sich zu ihm um. »Gucken Sie mal.«

Auf dem Bildschirm war das sogenannte Subjekt dabei, im Lichte einiger Wolframglühbirnen eine nach oben ansteigende Rampe zu erklimmen. Der virtuelle Blickpunkt schwebte hinter ihm her, richtete sich stets auf seinen Oberkörper aus. Von hinten, dachte Chris, sah das Subjekt aus wie ein Catcher in einer roten Lederburka. »Wo will er hin?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Ich dachte, er hätte ziemlich regelmäßige Gewohnheiten.«

»Wir sollen keine geschlechtsbezeichnenden Pronomen verwenden, aber unter uns gesagt, ja, er ist ein Wesen mit sehr regelmäßigen Gewohnheiten. Nach seiner Uhr sollte er jetzt eigentlich schlafen — falls ›schlafen‹ das ist, was sie tun, wenn sie im Dunkeln liegen und sich nicht bewegen.«

Dies war die nüchtern distanzierte, rundum abgesicherte Ausdrucksweise, die Chris inzwischen vom Personal in Blind Lake gewöhnt war.

»Wir beobachten das Subjekt nun seit mehr als einem Jahr«, sagte Marguerite, »und es ist nie mehr als ein paar Minuten von seinem Stundenplan abgewichen. Bis vor Kurzem. Vor einigen Tagen hat es zwei Stunden in einer Essensklausur gesessen, die normalerweise eine halbe Stunde dauert. Seine Ernährung hat sich verändert. Seine soziale Interaktion nimmt ab. Und heute Abend scheint es unter Schlaflosigkeit zu leiden. Setzen Sie sich und sehen Sie selbst, falls es Sie interessiert, Mr. Carmody.«

»Chris«, sagte er. Er räumte einen Stapel des Astrobiological Review von einem Stuhl.

Marguerite ging zur Tür und rief: »Tess!«

Von unten: »Ja?«

»Zeit für dein Bad!«

Schritte kamen die Treppe hochgetapert. »Ich glaube nicht, dass ich ein Bad brauche.«

»O doch. Kannst du es selbst einlassen? Ich habe immer noch zu tun.«

»Glaube schon.«

»Ruf mich, wenn es so weit ist.«

Wenig später war das Rauschen von einlaufendem Wasser zu hören.

Chris beobachtete, wie das Subjekt einen weiteren gewundenen Gang emporstieg. Es war völlig allein, was an sich schon ungewöhnlich war. Die Eingeborenen agierten meistens in größeren Gruppen, teilten allerdings nie die Schlafgemächer miteinander.

»Diese Burschen sind außerdem hauptsächlich tagaktiv«, sagte Marguerite. »Also auch da eine Abweichung. Was die Frage betrifft, wo es hinwill — he, sehen Sie.«

Das Subjekt gelangte an einen offenen Torbogen und trat hinaus in die sternenklare fremdartige Nacht.

»Hier ist es noch nie gewesen.«

»Wo hier?«

»Eine Balkonplattform ganz oben auf seinem Wohnturm. Mein Gott, dieser Blick!«

Das Subjekt ging zu dem niedrigen Geländer am Rande des Balkons. Der virtuelle Blickpunkt schwebte ihm nach, sodass Chris die Hummerstadt sehen konnte, die sich hinter dem gemaserten Rumpf des Subjekts ausbreitete. Die langgestreckten Pyramidentürme waren an den Eingängen und den Balkonen von Lampen auf den öffentlichen Gehwegen beleuchtet. Ameisenhügel und Schneckengehäuse, dachte Chris, mit Goldgirlanden. Als Chris klein war, pflegten seine Eltern ein- oder zweimal im Jahr den Mulholland Drive bei Nacht entlangzufahren, um unter sich die Lichter von Los Angeles zu sehen. Das hatte damals so ähnlich ausgesehen wie jetzt. Fast ebenso riesig. Fast ebenso einsam.

Der kleine, schnelle Mond des Planeten war voll, man konnte einiges von den Trockengebieten jenseits der Stadt erkennen, auch die flachen Berge weit im Westen sowie ein hohes, von starken Winden vorangetriebenes Wolkenriff. Elektrostatisch aufgeladener Staub rollte in Spiralen über die bewässerten Felder, löste sich, riesigen Geistern gleich, ebenso schnell auf, wie er sich gebildet hatte.

Er sah, dass Marguerite beim Zugucken ein wenig erschauderte.

Das Subjekt näherte sich dem zerfressenen Balkongeländer. Wie zögernd stand es da. Chris sagte: »Will er sich vielleicht umbringen?«

»Ich hoffe nicht.« Sie war angespannt. »Wir haben noch kein selbstzerstörerisches Verhalten beobachtet, aber wir sind schließlich neu hier. Gott, ich hoffe nicht!«

Aber das Subjekt stand bewegungslos da, wie in sich versunken.

»Er bewundert die Aussicht«, sagte Chris.

»Könnte sein.«

»Was sonst?«

»Das wissen wir nicht. Deshalb machen wir keine Motivationszuschreibungen. Wenn ich dort stehen würde, würde ich die Aussicht genießen, aber das Subjekt genießt vielleicht den Luftdruck oder es hat gehofft, dort jemanden zu treffen, oder es ist irgendwie verwirrt. Dies sind komplexe intelligente Wesen mit Lebensgeschichten und biologischen Zwängen, die niemand zu verstehen auch nur vorgibt. Wir wissen nicht einmal mit Sicherheit, wie gut ihr Sehvermögen ist — möglicherweise sieht es nicht das, was wir sehen.«

»Trotzdem«, sagte Chris. »Wenn ich eine Wette abgeben müsste, würde ich sagen, dass er die Aussicht bewundert.«

Das trug ihm ein flüchtiges Lächeln ein. »Wir dürfen solche Dinge denken«, gestand Marguerite. »Aber wir dürfen sie nicht sagen.«

»Mama!«, kam es aus dem Bad.

»Ich komme gleich. Trockne dich schon mal ab!« Sie stand auf. »Zeit, Tess ins Bett zu bringen, fürchte ich.«

»Was dagegen, wenn ich noch ein bisschen weitergucke?«

»Ich glaube nicht. Rufen Sie mich, wenn etwas Aufregendes passiert. All das wird natürlich aufgezeichnet, aber es geht doch nichts über eine Liveübertragung. Kann aber sein, dass es einfach gar nichts macht. Wenn sie still stehen, bleiben sie oft stundenlang so.«

»Kein großer Partyplanet«, sagte Chris.

»Es wäre nett, wenn wir uns seinen statischen Zustand zunutze machen und einen Blick über die Stadt werfen könnten. Aber das Auge darauf zu trainieren, dass es ständig einem einzelnen Individuum folgt, war ein kleines Wunder für sich. Falls wir jetzt anderswohin gucken, könnten wir ihn verlieren. Erwarten Sie einfach nicht zu viel.«

Sie hatte recht mit ihrer Bemerkung über das Subjekt: Er stand absolut regungslos vor dem weiten nächtlichen Ausblick. In der Ferne sah Chris gewaltige, körperlose Staubteufel, die über die mondbeschienene Ebene jagten. Er fragte sich, welche Geräusche sie in der relativ dünnen Atmosphäre jener Welt machten. Er fragte sich, ob die Luft warm oder kühl war, ob das Wesen überhaupt eine Empfindung für Temperaturen besaß. Anomales Verhalten auf ganzer Linie, aber keine Möglichkeit, die Gedanken zu erahnen, die in diesem perfekt abgebildeten, jedoch vollkommen undurchdringlichen Kopf kreisten. Was bedeutete die Einsamkeit für Geschöpfe, die niemals allein waren, außer in der Nacht?

Er hörte die angenehme Geräuschkulisse aus Tessas Zimmer, die leise Unterhaltung, während Marguerite ihre Tochter ins Bett brachte. Lautes Gelächter zwischendurch, dann erschien Marguerite wieder in der Tür.

»Hat es sich bewegt?«

Der Mond hatte sich bewegt. Die Sterne hatten sich bewegt. Nicht aber das Subjekt. »Nein.«

»Ich koche Tee, falls Sie eine Tasse möchten.«

»Danke«, sagte Chris. »Würde ich gerne. Ich …« Aber da ertönte das unverkennbare Geräusch von zersplitterndem Glas, gefolgt von Tessas lautem, schrillem Schrei.


Chris stürmte gleich hinter Marguerite ins Zimmer des Mädchens.

Tess stieß noch immer hohe, langgezogene, schluchzende Schreie aus. Sie saß auf ihrer Bettkante, die rechte Hand in die Mitte ihres Flanellnachthemds gepresst. Blutspritzer waren auf der Tagesdecke zu sehen.

Die untere Scheibe des Zimmerfensters war zerbrochen. Glasreste mit gezackten Rändern steckten noch im Rahmen und bitterkalte Luft wehte herein. Marguerite kniete sich aufs Bett, hob Tessa weg von dem Scherbenhaufen. »Zeig mir deine Hand«, sagte sie.

»Nein!«

»Doch. Ist schon gut. Zeig sie mir.«

Tessa wandte den Kopf ab, drückte die Augen fest zu und hielt ihre geballte Faust ausgestreckt. Blut sickerte zwischen ihren Fingern hervor und rann über die Knöchel. Ihr Nachthemd war mit frischem rotem Blut befleckt. Marguerites Augen weiteten sich vor Entsetzen, aber mit Entschlossenheit schälte sie Tessas Finger von der Wunde weg. »Tess, was ist passiert?«

Tess saugte genug Luft an, um antworten zu können. »Ich habe mich gegen das Fenster gelehnt.«

»Du hast dich dagegen gelehnt?«

»Ja!«

Chris begriff, dass das eine Lüge war und Marguerite sie als solche hinnahm, so als wüssten sie beide, was wirklich passiert war. Womit sie weiß Gott mehr gewusst hätten als er. Er knüllte eine Decke zusammen und stopfte sie in das Loch in der Scheibe.

Mehr Blut strömte aus Tessas geöffneter rechter Innenhand — ein kleiner Springquell. Diesmal konnte Marguerite nicht verbergen, wie ihr vor Schreck der Atem stockte.

Chris sagte: »Ist noch Glas in der Wunde?«

»Ich kann's nicht erkennen … nein, ich glaube nicht.«

»Wir müssen draufdrücken. Sie wird auch genäht werden müssen.« Neuerlich geschockt, heulte Tess auf. »Das ist nicht schlimm«, versuchte Chris sie zu beruhigen. »Meiner kleinen Schwester ist mal das Gleiche passiert. Sie ist mit einem Glas in der Hand hingefallen und hat sich böse geschnitten — schlimmer noch als du jetzt. Später hat sie damit angegeben. Meinte, sie sei die Einzige gewesen, die keine Angst gehabt hätte. Der Arzt hat sie wieder zusammengeflickt.«

»Wie alt war sie?«

»Dreizehn.«

»Ich bin elf«, maß Tess ihren Schneid an diesem neuen Standard.

»Im Badezimmerschrank ist Verbandszeug«, sagte Marguerite. »Können Sie es holen, Chris?«

Er brachte Gaze und eine braune elastische Binde. Marguerites Hände zitterten, daher drückte Chris die Gaze in Tessas Hand und wies sie an, eine feste Faust drumherum zu machen. Die Gaze wurde sofort leuchtend rot. »Wir müssen sie in die Ambulanz fahren«, sagte er. »Geben Sie mir doch Ihren Autoschlüssel; dann starte ich den Wagen schon mal, während Sie ihr was anziehen.«

»Ist gut. Die Schlüssel sind in meiner Handtasche, in der Küche. Tess, kannst du gehen? Pass auf die Scherben auf dem Fußboden auf.«

Auf dem ganzen Weg die Treppe hinunter hinterließ sie Blutstropfen auf dem Teppich.

Im Medical Center von Blind Lake, an der Ostseite der Hubble Plaza gelegen, war die Ambulanz die ganze Nacht hindurch geöffnet. Die am Empfang diensttuende Schwester warf nur einen kurzen Blick auf Tess, dann brachte sie das Mädchen und Marguerite schleunigst in ein Behandlungszimmer. Chris saß im Empfang und blätterte in sechs Monate alten Reisezeitschriften, während sanfte Popmusik aus den Deckenlautsprechern rieselte.

Nach Augenschein zu urteilen, war Tessas Verletzung eher geringfügig und die Ambulanz für eine angemessene Versorgung sicherlich ausgerüstet. Es war besser, nicht daran zu denken, was hätte passieren können, wenn die Verletzung schwerwiegender gewesen wäre. Die Ambulanz war recht gut ausgestattet, aber sie war kein Krankenhaus.

Tess hatte sich gegen das Fenster »gelehnt«. Aber so ein Fenster geht nicht entzwei, wenn man sich dagegenlehnt. Tess hatte gelogen und Marguerite hatte die Lüge durchschaut. Aber nicht darüber sprechen wollen in Anwesenheit eines Fremden. Es gab da offenbar irgendein schon länger bekanntes Problem mit ihrer Tochter, vermutete Chris. Wut, Depression, Scheidungstrauma. Aber das Mädchen hatte keinen wütenden oder depressiven Eindruck gemacht, als sie sich in der Küche unterhalten hatten. Und er hörte noch das entspannte Lachen aus dem Schlafzimmer, wenige Momente vor dem Unfall.

Es geht mich nichts an, sagte er sich. Zwar erinnerte ihn Tess ein bisschen an seine Schwester Portia — sie war von der gleichen arglosen Liebenswürdigkeit —, aber deswegen betraf ihn die Sache noch lange nicht. Er hatte es aufgegeben, die Geplagten trösten und die, die nicht bei Trost waren, plagen zu wollen. Er konnte das einfach nicht. Alle seine Kreuzzüge hatten böse geendet.

Marguerite kam aus dem Behandlungszimmer, mitgenommen und vom Blut ihrer Tochter beschmiert, aber offenbar beruhigt. »Sie haben die Wunde gesäubert und genäht«, teilte sie Chris mit. »Sie war dann doch sehr tapfer, als der Arzt kam. Die Geschichte von Ihrer Schwester hat ihr geholfen, glaube ich.«

»Das freut mich.«

»Danke für Ihre Hilfe. Ich hätte sie auch selbst fahren können, aber das wäre sehr viel komplizierter gewesen. Und Tess hätte noch mehr Angst gehabt.«

»Keine Ursache.«

»Sie hat ein Schmerzmittel bekommen. Der Arzt sagt, wir können nach Hause fahren, sobald es zu wirken beginnt. Sie wird die Hand allerdings für ein paar Tage absolut ruhig halten müssen.«

»Haben Sie ihren Vater schon verständigt?«

Marguerite wirkte sofort mutlos. »Nein, aber das sollte ich wohl. Ich hoffe nur, dass er nicht gleich ausflippt. Ray ist …« Sie brach ab. »Sie wollen nicht mit meinen Problemen behelligt werden.«

Nein, ehrlich gesagt nicht. Sie sagte: »Entschuldigen Sie«, und ging mit ihrem Telefon in eine entfernte Ecke des Wartezimmers.

Trotz bester Absichten konnte Chris nicht umhin, einen Teil des Gesprächs mitzuhören. Die Art, wie sie mit ihrem Mann redete, war aufschlussreich. Zunächst bewusst beiläufig, eine schonende Darstellung des Unfalls, Herunterspielen, dann das Zusammenzucken ob seiner Reaktion. »In der Ambulanz«, sagte sie schließlich. »Ich …« Eine Pause. »Nein. Nein.« Pause. »Das ist nicht nötig, Ray. Nein. Du übertreibst maßlos.« Lange Pause. »Das ist nicht wahr. Du weißt, dass das nicht stimmt.«

Sie beendete das Gespräch, ohne sich zu verabschieden, und brauchte ein wenig Zeit, um sich zu sammeln. Dann kam sie durchs Wartezimmer, zwischen dem üblichen Krankenhausmobiliar hindurch, die Lippen zusammengekniffen, die Haare zerzaust, die Kleidung blutbefleckt. Es lag eine steife Würde in ihrer Haltung, eine stillschweigende Zurückweisung dessen, was Ray Scutter zu ihr gesagt haben mochte.

»Tut mir leid«, sagte sie, »aber würden Sie bitte schon mal das Auto starten? Ich hole Tess. Ich glaube, zu Hause ist sie besser aufgehoben.«

Eine weitere höfliche Lüge, jedoch von einer unausgesprochenen Dringlichkeit. Er nickte.

Auf dem Gehsteig zwischen Ambulanz und Parkplatz war es kalt und windig. Er war ganz froh, in Marguerites kleines Auto steigen zu können und den Motor anzulassen. Warme Luft blies aus den Fußbodenauslässen. Die Straße war leer, übersät von gewundenen Linien aufstiebenden Schnees. Er blickte zu den Lichtern der Plaza, des Einkaufszentrums. Die Sterne blinkten immer noch hell, und am südlichen Horizont konnte er die Positionslichter eines weit entfernten Düsenflugzeugs erkennen. Irgendwo flogen nach wie vor Flugzeuge; irgendwo ging die Welt noch immer ihren Geschäften nach.

Ungefähr zehn Minuten später kam Marguerite mit Tess aus der Ambulanz, aber sie waren noch nicht am Auto angelangt, da donnerte ein weiteres Fahrzeug auf den Parkplatz und kam mit quietschenden Reifen zum Halten.

Ray Scutters Auto. Marguerite beobachtete mit sichtlicher Besorgnis, wie ihr Exmann ausstieg und mit schnellen, aggressiven Schritten auf sie zukam.

Chris überzeugte sich davon, dass die Beifahrertür nicht verschlossen war. Eine Konfrontation sollte besser vermieden werden. Ray legte einen gewissen Wütender-Stier-Habitus an den Tag. Doch bevor Marguerite es bis zum Auto geschafft hatte, griff schon Rays Hand nach ihrer Schulter.

Marguerite hielt den Blick unentwegt auf ihren Exmann gerichtet, schob aber Tess hinter sich, stellte sich schützend vor sie. Tess hatte die verletzte Hand in ihre Schneejacke geschoben. Chris konnte nicht verstehen, was Ray sagte. Alles, was er über das Geräusch des Motors hinweg hören konnte, waren ein paar bellend hervorgestoßene Konsonanten.

Zeit, Courage zu zeigen. Er hasste das. Das war es, was die Leute über sein Buch gesagt hatten, jedenfalls vor Gallianos Selbstmord. Wie couragiert von Ihnen, so etwas zu schreiben. Courage hatte ihm noch nie etwas eingebracht.

Er stieg aus dem Auto und öffnete die Hintertür, damit Tess einsteigen konnte.

Ray sah ihn erschrocken an. »Wer, zum Teufel, sind Sie denn?«

»Chris Carmody.«

»Er hat mir geholfen, Tess herzubringen«, sagte Marguerite hastig.

»Und jetzt muss sie schnell wieder nach Hause«, sagte Chris. Tess war bereits auf den Rücksitz geschlüpft, rasch und geschmeidig, trotz der Behinderung durch die verbundene Hand.

»Offensichtlich«, sagte Scutter, die zusammengekniffenen Augen auf Chris gerichtet, »ist sie dort nicht sicher.«

»Ray«, sagte Marguerite, »wir haben eine Vereinbarung …«

»Eine Vereinbarung, die vor der Isolierung aufgesetzt wurde von einem Scheidungsanwalt, den ich nicht erreichen kann.« Ray beherrschte den Tonfall testosterongeschwängerter Ungeduld, herrisch, gleichzeitig aber auch greinend. »Ich kann dir unmöglich meine Tochter anvertrauen, wenn du zulässt, dass solche Dinge passieren.«

»Es war ein Unfall. So etwas kommt vor.«

»Unfälle passieren, wenn Kinder nicht beaufsichtigt werden. Was hast du gemacht, wieder das Scheißsubjekt angestarrt oder was?«

Marguerite fand nicht gleich eine Antwort, daher sagte Chris: »Es ist passiert, nachdem Tess zu Bett gegangen war.« Er gab Marguerite einen unauffälligen Wink, ins Auto einzusteigen.

»Sie sind doch dieser Boulevardreporter — was wissen Sie denn darüber?«

»Ich war da.«

Marguerite hatte die Aufforderung verstanden und stieg ein. Ray wirkte frustriert und doppelt wütend, als er die Tür zuschlagen hörte. »Ich nehme meine Tochter mit zu mir«, sagte er.

»Nein, Sir«, sagte Chris entschieden. »Tut mir leid, aber heute nicht.«

Er behielt Blickkontakt mit Ray, während er hinters Steuer glitt. Auf dem Rücksitz begann Tess leise zu weinen. Ray lehnte sich gegen die Wagentür, aber was immer er rufen mochte, es war nicht zu hören. Chris legte den Gang ein und fuhr an, worauf Scutter noch schnell einen Tritt gegen die hintere Stoßstange richtete.

Marguerite beruhigte ihre Tochter. Chris fuhr vorsichtig, auf vereiste Stellen Acht gebend, vom Parkplatz herunter. Ray hätte in sein eigenes Auto springen und die Verfolgung aufnehmen können, entschied sich aber offenbar dagegen. Kurz bevor Chris ihn im Rückspiegel aus dem Blick verlor, stand er noch immer in ohnmächtiger Wut dort, wo sie ihn zurückgelassen hatten.

»Er hasst es, wenn irgendjemand ihn so erlebt«, sagte Marguerite. »Es tut mir leid, aber ich fürchte, Sie haben sich heute jemanden zum Feind gemacht.«

Zweifellos. Chris konnte die Alchemie nachvollziehen, nach der ein Mann in der Öffentlichkeit liebenswürdig, hinter verschlossenen Türen aber unter Umständen brutal war. Misshandlung als letzte Ausdrucksmöglichkeit von Nähe. Männer schätzten es grundsätzlich nicht, dabei beobachtet zu werden.

Sie fügte hinzu: »Ich muss Ihnen noch einmal danken. Das alles tut mir ehrlich leid.«

»Nicht Ihre Schuld.«

»Falls Sie sich lieber eine andere Unterkunft suchen möchten, hätte ich vollstes Verständnis dafür.«

»Der Keller ist immer noch wärmer als die Sporthalle. Sofern es Ihnen recht ist.«

Tess hustete schniefend. Marguerite half ihr, sich die Nase auszuschnauben.

»Ich denke die ganze Zeit«, sagte Marguerite, »was hätten wir machen sollen, wenn die Verletzung schlimmer gewesen wäre? Wenn wir ein richtiges Krankenhaus gebraucht hätten? Ich hab so die Nase voll von dieser Abriegelung.«

Chris bog auf die Auffahrt des Reihenhauses. »Ich gehe davon aus, dass wir's überleben werden«, sagte er. Marguerite jedenfalls war offensichtlich eine Überlebenskünstlerin.


Tess legte sich, vollkommen erschöpft, in Marguerites Bett schlafen. Das Haus war kalt, eisige Luft strömte durch das zerbrochene Fenster in Tessas Zimmer, und der Ofen konnte kaum dagegenhalten. Chris durchstöberte den Keller, bis er eine schwere Plastikstaubdecke und ein breites Stück Ahornfurnier gefunden hatte. Die Decke befestigte er mit Klebeband an dem leeren Fensterrahmen in Tessas Zimmer, dann heftete er zur Sicherheit noch das Furnier darüber.

Marguerite war in der Küche, als er nach unten kam. »Schlummertrunk?«, sagte sie.

»Klar.«

Sie schenkte ihm frischen Kaffee ein und gab einen Schuss Brandy dazu. Chris sah auf seine Uhr. Nach Mitternacht. Ihm war ganz und gar nicht nach Schlaf zumute.

»Vermutlich sind Sie es langsam leid, dass ich mich ständig bei Ihnen entschuldige.«

»Ich bin mit einer jüngeren Schwester großgeworden«, sagte Chris. »So was passiert nun mal mit Kindern. Das weiß ich.«

»Ja, Ihre Schwester. Portia, nicht wahr?«

»Bei uns heißt sie Porry.«

»Kommen Sie noch öfter mit ihr zusammen? Vor der Abriegelung, meine ich.«

»Porry ist schon vor längerer Zeit gestorben.«

»Oh. Tut mir leid.«

»Also, jetzt müssen Sie wirklich bald mal aufhören, sich zu entschuldigen.«

»Entschul … oh.«

»Was glauben Sie, wie viel Ärger Ray wegen dieser Sache machen wird?«

Sie zuckte die Achseln. »Die Frage ist gut. So viel er kann.«

»Es geht mich natürlich nichts an. Ich wollte nur gewarnt sein, falls Sie damit rechnen, dass er plötzlich mit einem Gewehr vor der Tür steht.«

»Nein, so ist es auch wieder nicht. Ray ist nur … tja, was kann ich über Ray sagen? Er hat gerne recht. Er hasst es, wenn man ihm widerspricht. Er ist immer bereit, einen Streit vom Zaun zu brechen, kann es aber nicht haben, wenn er ihn verliert, und er hat die meisten Auseinandersetzungen in seinem Leben verloren. Es gefällt ihm nicht, das Sorgerecht mit mir zu teilen — er hätte die Vereinbarung gar nicht unterschrieben, wenn sein Anwalt ihm nicht klargemacht hätte, dass das der beste Deal war, den er würde kriegen können — und er droht mir ständig mit irgendwelchen rechtlichen Schritten, um Tess an sich zu nehmen. Er wird den Vorfall von heute Abend als weiteren Beleg dafür nehmen, dass ich als Erziehungsberechtigte ungeeignet sei. Weitere Munition.«

»Das war nicht Ihre Schuld heute Abend.«

»Es ist Ray egal, was wirklich passiert ist. Er wird sich einreden, dass ich entweder direkt verantwortlich war oder mich jedenfalls grob fahrlässig verhalten habe.«

»Wie lange waren Sie verheiratet?«

»Neun Jahre.«

»Hat er Sie misshandelt?«

»Körperlich nicht. Nicht wirklich. Er hat schon mal mit der Faust gedroht, aber nie zugeschlagen. Das ist nicht Rays Stil. Aber er hat klar zu erkennen gegeben, dass er mir nicht vertraut, und er hatte weiß Gott immer etwas an mir auszusetzen. Ich hab alle fünfzehn Minuten einen Anruf gekriegt: wo ich bin, was ich mache, wann ich nach Hause komme, und wehe, ich komme zu spät. Er mochte mich nicht, aber ich durfte mich auch für niemand anders interessieren als für ihn. Zuerst habe ich mir gesagt, das sei nur eine Schrulle von ihm, eine Charakterschwäche, etwas, das er überwinden würde.«

»Hatten Sie Freunde, Familie?«

»Meine Eltern sind großzügige Leute. Sie sind Ray so lange entgegengekommen, bis ihnen klar wurde, dass Ray keinen Wert darauf legte, dass man ihm entgegenkam. Er mochte es nicht, wenn ich sie besuchte, mochte es auch nicht, wenn ich mich mit Freunden traf. Es sollte nur uns beide geben, keine gegenläufigen Kräfte.«

»Die Art von Ehe, die man gern hinter sich lässt«, sagte Chris.

»Ich glaube, er ist nicht unbedingt der Ansicht, dass es vorbei sei.«

»Leute können leicht zu Schaden kommen in solchen Situationen.«

»Ich weiß«, sagte Marguerite. »Ich kenne die entsprechenden Geschichten. Aber Ray würde mich niemals anfassen.«

Chris ließ es dabei bewenden. »Wie ging's Tess, als Sie ihr gute Nacht gesagt haben?«

»Sie sah ziemlich müde aus. Total erschöpft, das arme Ding.«

»Was glauben Sie, wie es dazu kam, dass sie das Fenster zerbrochen hat?«

Marguerite nahm einen ausgiebigen Schluck Kaffee und schien etwas auf der Tischplatte bemerkt zu haben, das einer näheren Untersuchung bedurfte. »Ich weiß es ehrlich nicht, aber Tess hat in der Vergangenheit ein paar Probleme gehabt. Vor allem mit glänzenden Oberflächen, Spiegeln und dergleichen, die mag sie nicht. Sie muss etwas gesehen haben, das ihr nicht gefallen hat.«

Und deshalb hatte sie mit der Hand durchs Glas gehauen? Chris verstand es nicht, aber es war Marguerite sichtlich unangenehm, darüber zu sprechen, und er wollte sie nicht drängen. Sie hatte heute Abend schon genug durchgemacht.

Er wechselte das Thema und sagte: »Was wohl das Subjekt gerade macht? Schlaflos in Hummerhausen.«

»Ich habe oben alles angelassen, nicht wahr?« Sie stand auf. »Wollen wir mal gucken?«

Er folgte ihr die Treppe hinauf in ihr Arbeitszimmer. Sie gingen auf Zehenspitzen an dem Zimmer vorbei, in dem Tessa schlief.

Marguerites heimisches Büro war genau so, wie sie es zurückgelassen hatten, die Lampen brannten, die Interfaces leuchteten, der große Wandbildschirm folgte noch immer brav den Bewegungen des Subjekts. Aber Marguerite hielt die Luft an, als sie das Bild sah.

Inzwischen war es wieder Tag auf Subjekts Abschnitt von UMa47/E. Das Subjekt hatte die hohe Brüstung verlassen und war auf dem Weg zu einer Straße, die auf Bodenebene verlief. Die Winde der vergangenen Nacht hatten alle Oberflächen mit feinem weißem Sand überzogen, eine neuartige Textur im schräg einfallenden Licht der Sonne.

Das Subjekt näherte sich einem steinernen Torbogen, der fünfmal so hoch war wie es selbst, und schritt in den Sonnenaufgang hinein. Chris sagte: »Wo will der Kerl hin?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Marguerite. »Aber wenn es jetzt nicht umkehrt, verlässt es die Stadt.«

Dreizehn

»Charlie Grogan hat angerufen«, sagte Sue Sampel, als Ray durchs Vorzimmer kam. »Ebenso Dajit Gill, Julie Sook und zwei weitere Abteilungsleiter. Oh, und für zehn Uhr ist Ari Weingart angesagt und für elf Schulgin, außerdem …«

»Leiten Sie mir das Tagesprogramm auf meinen Desktop«, sagte Ray knapp. »Plus alle dringenden Nachrichten. Und keine Anrufe durchstellen.« Er verschwand in seinem Allerheiligsten und machte die Tür hinter sich zu.

Gesegnet sei die Stille, dachte Sue. Allemal angenehmer als der Klang von Ray Scutters Stimme.


Sue hatte eine Tasse mit heißem Kaffee auf seinen Schreibtisch gestellt, in Würdigung seiner zuverlässigen Pünktlichkeit. Sehr gut, dachte Ray. Aber er hatte einen schwierigen Tag vor sich. Seit das Subjekt letzte Woche zu seiner Pilgerwanderung aufgebrochen war, befanden sich die Deutungskommissionen in einem Zustand der Hysterie. Selbst die Astrozoologen waren in zwei Lager geteilt: Die einen wollten sich weiter auf Hummerhausen konzentrieren und einem neuen, repräsentativeren Subjekt folgen, die anderen (zu denen auch Marguerite gehörte) glaubten fest, dass das Verhalten des Subjekts signifikant war und bis zu Ende verfolgt werden sollte. Die Technologie und Artefakten-Leutehatten Angst, ihren urbanen Kontext zu verlieren, aber die Astrogeologen und Klimatologen begrüßten die Aussicht auf einen langen Ausflug in die Wüste und die Berge. Die verschiedenen Kommissionen zankten sich wie die Marktweiber und in Abwesenheit der leitenden Wissenschaftler sowie in Ermangelung einer Verbindung nach Washington gab es keine vorgezeichnete Möglichkeit, den Konflikt zu lösen.

Letzten Endes würde man von ihm, Ray, erwarten, die Richtung zu weisen. Aber er wollte diese Verantwortung nicht ohne ausgiebige Beratung auf sich nehmen. Ganz gleich, welche Entscheidung er traf, er würde sich früher oder später gezwungen sehen, sie zu verteidigen. Und diese Verteidigung sollte wasserdicht sein. Er musste in der Lage sein, Namen und Dokumente anzuführen, und sollten einige von den hitzköpfigeren Parteigängern dieser oder jener Haltung meinen, er würde sich »vor einer klaren Entscheidung drücken« — und eben diese Formulierung war ihm bereits zu Ohren gekommen —, nun, sei's drum. Er hatte alle Seiten gebeten, Positionspapiere zu erstellen.

Da sollte man doch den Tag am besten in positiver Stimmung beginnen. Ray faltete eine Papierserviette auseinander und zückte seinen Schlüssel, um die unterste Schublade seines Schreibtisches aufzuschließen.

Seit Beginn der Abriegelung verwahrte Ray einen Vorrat an DingDongs in dieser Schreibtischschublade. Es war zwar peinlich, es zuzugeben, aber er hatte nun mal eine Vorliebe für Backwaren, und ganz besonders gerne aß er eben DingDongs zu seinem Morgenkaffee, und auf die unvermeidlichen Klugscheißerkommentare von wegen Polysorbat 80 und »leere Kalorien« konnte er ohne Weiteres verzichten. Es war ihm ein sinnliches Vergnügen, die spröde Verpackung aufzureißen, denn er mochte den Geruch nach Zucker und Stärkemehl, der daraus aufstieg; er mochte die klebrige Konsistenz des Gebäcks, die Art, wie der Kaffee den leicht chemischen Nachgeschmack vom Gaumen abzog.

Aber in der wöchentlichen Lieferung des schwarzen Lasters waren keine DingDongs enthalten. Ray war dreist genug gewesen, den verbliebenen Bestand vom örtlichen Lebensmittelhändler und dem Kiosk in der Eingangshalle der Plaza aufzukaufen. So hatte er sich einen Vorrat von einigen Kartons gesichert, doch auch der ging inzwischen zur Neige. Soweit Ray es beurteilen konnte, befanden die letzten sechs DingDongs in der gesamten unter Quarantäne befindlichen Gemeinde von Blind Lake sich gegenwärtig in seiner Schreibtischschublade. Danach — nichts mehr. Kalter Entzug. Sicherlich, dran sterben würde er nicht, aber es fuchste ihn, durch diesen fortlaufenden bürokratischen Murks, diese endlose stumme Abriegelung, zum Verzicht gezwungen zu werden.

Er zog einen DingDong aus der Schublade. Einen wegnehmen, bleiben noch fünf, die Ration einer Arbeitswoche.

Er konnte aber nur vier Päckchen ausmachen, die sich dort im Dunkeln verkrochen hatten.

Vier. Er zählte noch einmal. Vier. Er suchte die Schublade mit der Hand ab. Vier.

Es hätten fünf sein müssen. Hatte er sich verrechnet?

Für einen Moment saß er reglos da, verarbeitete diese unerfreuliche Information, entwickelte eine solide, rechtschaffene Wut. Dann rief er Sue Sampel über den Summer und bat sie in sein Büro.

»Sue«, sagte er, als sie in der Tür auftauchte. »Haben Sie zufällig einen Schlüssel zu meinem Schreibtisch?«

»Zu Ihrem Schreibtisch?« Ihre Überraschung über diese Frage war entweder echt oder sehr gut gespielt.

»Als ich hierher kam, haben die Leute vom technischen Personal mir nämlich versichert, dass meiner der einzige Schlüssel wäre.«

»Haben Sie ihn verloren? Es muss doch irgendwo einen Generalschlüssel geben. Oder man könnte die Schlösser auswechseln lassen, nehme ich an.«

»Nein, ich hab ihn nicht verloren.« Der Ton seiner Stimme ließ sie zusammenzucken. »Ich habe den Schlüssel hier. Es ist etwas gestohlen worden.«

»Gestohlen? Was denn?«

»Es spielt keine Rolle, was gestohlen wurde. Zufällig war es nichts besonders Wichtiges. Worauf es ankommt, ist, dass sich jemand ohne mein Wissen Zugang zu meinem Schreibtisch verschafft hat. Die Bedeutung dieses Vorgangs müsste selbst Ihnen einsichtig sein.«

Sie warf einen verstohlenen Blick auf seinen Schreibtisch. Zu spät erkannte Ray, dass er den heutigen DingDong ungeöffnet neben seiner Kaffeetasse hatte liegen lassen. Sie bemerkte ihn, sah dann Ray mit einem Gesichtsausdruck an, der besagte: Das soll wohl ein Scherz sein. Er fühlte das Blut in seine Wangen schießen.

»Vielleicht sollten Sie mal mit dem Reinigungspersonal sprechen«, sagte Sue.

Jetzt wollte er nur noch, dass sie wieder verschwand. »Ja, na gut, schätze, es ist nicht so wichtig … ich hätte es gar nicht erwähnen sollen …«

»Oder mit der Sicherheit. Sie kriegen ja nachher Besuch von Schulgin.«

Unterdrückte sie ein Grinsen? Konnte es sein, dass sie ihn auslachte? »Danke«, sagte er angespannt.

»Sonst noch etwas?«

»Nein.« Verschwinde, verdammt noch mal! »Schließen Sie bitte die Tür.«

Sie schloss sie sanft. Ray hatte die Vorstellung, ihr Lachen würde hinter ihr herschweben wie ein leuchtend rotes Band.


Ray hielt sich für einen Realisten. Er wusste, dass bestimmte Aspekte seines Verhaltens von denen, die ihm übel wollten (und die Zahl seiner Feinde war Legion), als frauenfeindlich bezeichnet werden konnten. Aber er hasste die Frauen nicht. Ganz im Gegenteil: Er gab ihnen jede Möglichkeit, sich zu rehabilitieren. Das Problem war nicht, dass er keine Frauen mochte, sondern dass er beständig von ihnen enttäuscht wurde. Zum Beispiel Marguerite. (Immer wieder Marguerite, auf ewig Marguerite …)

Um zehn kam Ari Weingart mit einer ganzen Reihe von Vorschlägen zur Stärkung der Moral. Cayti Lane von der PR-Abteilung wollte einen lokalen Videoring für Nachrichten und Gesellschaftliches aufmachen — Blind-Lake-TV sozusagen, mit ihr selbst als Moderatorin. »Ich finde, das ist eine gute Idee«, sagte Ari. »Cayti ist gescheit und fotogen. Was ich außerdem gern tun würde: die jeweiligen Downloads, die die Leute in ihren Hausservern gespeichert haben, in einem großen Pool zu sammeln, damit wir sie neu senden können. Also ein Fernsehprogramm nach festen Zeiten, ohne freie Wahl, so wie früher, im 20. Jahrhundert; das könnte den Zusammenhalt fördern. Oder zumindest den Leuten ein bisschen Gesprächsstoff geben für die Arbeitspausen.«

Schön. Das alles war gut und schön. Ari regte ferner eine Diskussions- und Vortragsreihe an, die Samstagabends im Gemeindezentrum stattfinden könnte. Auch dies völlig in Ordnung. Ari versuchte offensichtlich, die Folgen der Isolation mit den Mitteln der Gemeindearbeit abzumildern. Das sollte er ruhig tun, dachte Ray. Sollte er die jammernden Insassen doch mit Shows und Kokolores ablenken. Letzten Endes war aber dieser ganze Verbesserungseifer furchtbar ermüdend, und so war es eine wahre Erleichterung, als Ari endlich sein Grinsen wieder einpackte und sich verabschiedete.

Ray zählte noch einmal seine DingDongs.

Natürlich konnte es auch Sue gewesen sein, die in seinen Schreibtisch eingebrochen war. Nichts deutete darauf hin, dass sich jemand am Mechanismus zu schaffen gemacht hatte — vielleicht war er so unachtsam gewesen, den Schreibtisch nicht abzuschließen, und sie hatte aus diesem Konzentrationsfehler Kapital geschlagen. Sue hatte oft länger gearbeitet als er, vor allem, wenn Tessa unter seiner Obhut stand; anders als Marguerite ließ er seine Tochter nämlich nach der Schule nicht gern allein im Haus. Ray kam zu dem Schluss, dass Sue die Hauptverdächtige war, wenngleich man auch das Reinigungspersonal nicht gänzlich vom Verdacht freisprechen konnte.

Männer waren im Umgang einfacher als Frauen. Bei Männern kam es nur darauf an, sie laut genug anzureden, um sich ihre Aufmerksamkeit zu sichern. Frauen waren verschlagener, fand Ray, scheinbar nachgiebig, aber man konnte sich nicht drauf verlassen. Ihre Loyalität war nur vorläufig, stand allzu leicht wieder zur Disposition. (Siehe zum Beispiel Marguerite …)

Wenigstens würde Tessa sich nicht zu so einer Sorte Frau entwickeln.

Dimi Schulgin, sehr elegant in einem maßgeschneiderten grauen Anzug, erschien um elf, eine willkommene Ablenkung, obwohl er lauter unheilvolle Neuigkeiten brachte. Schulgin war ein Meister der baltischen Undurchdringlichkeit, sein käsiges Gesicht ließ keinerlei Ausdruck erkennen, als er die Stimmung beschrieb, die unter den Tagesarbeitern und Festangestellten herrschte. »Sie haben die Isolierung so lange ertragen«, sagte Schulgin, »ohne viel Probleme zu machen, wahrscheinlich weil sie gesehen haben, was mit dem unglücklichen Mr. Krafft passiert ist, als er auszubrechen versuchte. Das kann man, glaube ich, im Nachhinein als Segen bezeichnen. Die Leute sind gefügig, weil sie Angst haben, aber die Unzufriedenheit wächst. Die vorübergehend Beschäftigten und das technische Personal sind zahlenmäßig fünfmal stärker als die Wissenschaftler und Verwaltungsleute, wissen Sie. Viele von ihnen fordern Mitsprache im Entscheidungsprozess und nicht wenige würden gern das Auge abschalten und sehen, was dann passiert.«

»Das ist alles Gerede«, sagte Ray.

»Bisher ist alles Gerede, ja. Aber auf lange Sicht — falls die Abriegelung weiter aufrecht erhalten wird —, wer weiß?«

»Wir sollten etwas Positives tun und dafür sorgen, dass alle es mitkriegen.«

»Wenn man den Eindruck erwecken könnte, dass etwas unternommen wird«, sagte Schulgin mit seinem geschwollenen Akzent, der jegliche Ironie zuverlässig kaschierte, »wäre das hilfreich.«

»Wissen Sie«, sagte Ray, »mein Schreibtisch ist kürzlich aufgebrochen worden.«

»Ihr Schreibtisch?« Schulgins raupenartige Augenbrauen zuckten nach oben. »Aufgebrochen? Also Vandalismus, Diebstahl?«

Ray winkte mit einer Geste ab, die Großmut signalisieren sollte. »Eine triviale Sache, bestenfalls Bürovandalismus, aber es hat mich zum Nachdenken gebracht. Wie wär's, wenn wir eine Untersuchung einleiten würden?«

»Eine Untersuchung des Vandalismus an Ihrem Schreibtisch?«

»Nein, um Himmels willen, der Isolierung.«

»Eine Untersuchung? Wie sollen wir das machen? Alle Hinweise befinden sich auf der anderen Seite des Zauns.«

»Nicht unbedingt.«

»Das müssen Sie mir erklären.«

»Es gibt eine Theorie, die besagt, dass wir abgeriegelt werden, weil irgendetwas in Crossbank passiert ist, etwas Gefährliches, etwas, das mit ihren O/BEKs zu tun hat, etwas, das genauso gut hier passieren könnte.«

»Ja, weswegen auch die Forderung immer lauter wird, unsere eigenen Prozessoren abzuschalten, aber …«

»Vergessen Sie mal für einen Moment die O/BEKs. Denken Sie an Crossbank. Falls Crossbank ein Problem hatte, müssten wir dann nicht davon gehört haben?«

Schulgin überlegte. Er rieb sich mit dem Finger über die Nase. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Alle höheren Verwaltungsleute waren in Cancun, als die Tore geschlossen wurden. Sie wären die Ersten gewesen, die es erfahren hätten.«

»Ja.« Sanft trieb Ray den Gedanken auf seine Schlussfolgerung zu. »Aber es könnten Nachrichten auf ihren Personal-Servern eingegangen sein, bevor die Quarantäne in Kraft trat.«

»Dringende Sachen wären weitergeleitet worden …«

»Aber Kopien davon wären noch immer auf den Blind-Lake-Servern, nicht wahr?«

»Na ja … vermutlich. Es sei denn, jemand hätte sich die Mühe gemacht, sie zu löschen. Aber wir können nicht einfach in die Personal-Server des Leitungspersonals reingehen.«

»Nicht?«

Schulgin zuckte die Achseln. »Das würde ich jedenfalls denken.«

»Unter normalen Umständen würde sich die Frage gar nicht stellen. Die Umstände sind freilich alles andere als normal.«

»Die Server knacken, ihre Mails lesen. Ja, das ist interessant.«

»Und falls wir irgendetwas Nützliches finden, sollten wir es auf einer Generalversammlung verkünden.«

»Falls es etwas Verkündenswertes gibt. Außer Voicemails von Ehefrauen oder Geliebten. Soll ich mal mit meinen Leuten reden, mich erkundigen, wie schwierig es wäre, in die Server reinzukommen?«

»Ja, Dimi«, sagte Ray. »Tun Sie das.«

Je mehr er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm das Vorhaben. Als er zum Mittagessen ging, hatte sich seine Laune entschieden gebessert.


Rays Stimmungen waren jedoch höchst unbeständig, und abends, beim Verlassen der Plaza, war er schon wieder reichlich angefressen. Die Sache mit den DingDongs. Sue hatte die Geschichte wahrscheinlich ihren Freundinnen in der Cafeteria weitererzählt. Jeder Tag brachte eine neue Demütigung. Er aß halt gern DingDongs zum Frühstück: Was war daran so verdammt lustig, so zum Lachen anomal? Alles Arschlöcher, dachte Ray wütend.

Er fuhr vorsichtig durch heftige Schneeschauer, versuchte ohne großen Erfolg, die Ampeln an der Hauptstraße abzupassen.

Ja, die meisten Leute waren Arschlöcher, und genau das wollten die Exokulturtheoretiker einfach nicht kapieren, Leute wie Marguerite, blinde kleine Federgewichtsoptimisten. Eine Welt voller Arschlöcher war ihnen noch nicht genug. Sie wollten noch mehr. Sie wollten ein ganzes lebendiges Arschloch von einem Universum, einen glänzend rosafarbenen, organischen Kosmos, einen Zauberspiegel, aus dem ein fröhliches Gesicht strahlt.

Dunkelheit schloss sich wie ein Vorhang um den Wagen. Wie viel sauberer die Welt doch wäre, dachte Ray, wenn sie weiter nichts enthielte als Gas und Staub und gelegentlich mal einen aufflackernden Stern — kalt, aber ohne Makel, wie der Schnee, der die wenigen hohen Türme von Blind Lake einhüllte. Die einzige Lektion, die aus Hummerhausen zu ziehen war, war eine politisch inkorrekte, war die unaussprechliche, aber offensichtliche Tatsache, dass Intelligenz (die sogenannte) nichts anderes war als geballte Irrationalität, ein Ensemble von Verhaltensweisen, von der DNA entworfen, um mehr DNA zu produzieren, frei von jeglicher Logik außer einer keiner Kontrolle unterliegenden Mathematik der Selbstreproduktion. Chaos mit Feedback, z > z2+ c, blind wiederholt, bis das Universum sich selbst aufgefressen und ausgeschissen hatte.

Mich eingeschlossen, dachte Ray. Dieser ätzenden Wahrheit musste man sich stellen. Alles, was er liebte (seine Tochter) oder zu lieben geglaubt hatte (Marguerite), repräsentierte nichts weiter als seine Teilhabe an dieser Gleichung, war nicht mehr oder weniger vernünftig als das nächtliche Bluten der Eingeborenen von UMa47/E. Marguerite zum Beispiel: eine Verkörperung mangelhafter Gencodes, die besitzergreifende, aber ungeeignete Mutter, eine wandelnde Gebärmutter, die auf Gleichheit vor dem Gesetz pochte. Wie penetrant sie sich noch immer in seine Gedanken einschlich. Jede Unverschämtheit, die Ray zu erdulden hatte, war ein Spiegel ihres Hasses.

Das Garagentor rollte auf, als seine Sensoren das Nahen des Wagens registrierten. Er parkte unter dem gleißenden Licht der Deckenlampe.

Er fragte sich, wie es wäre, sich von all diesen biologischen Zwängen zu befreien und die Welt so zu sehen, wie sie wirklich war. Ein einziger Schrecken für unsere Augen, dachte Ray, trostlos und feindlich, aber unsere Augen sind Lügner, ebenso Sklaven der DNA wie unser Herz und unser Verstand. Vielleicht war es das, wozu die O/BEKs geworden waren: ein unmenschliches Auge, fähig, Dinge zu sehen, die niemand als wahr akzeptieren wollte.

Tessa war diese Woche wieder bei ihm. Er rief Hallo, als er das Haus betrat. Sie saß im Wohnzimmer auf dem Sessel neben dem künstlichen Weihnachtsbaum, über ihre Hausaufgaben gebeugt wie ein bildungsbeflissener Zwerg. »Hi«, sagte sie teilnahmslos. Ray blieb einen Moment lang stehen, überrascht von seiner Liebe zu ihr, in Bewunderung der dichten Locken, die ihr Haar um den Schädel flocht. Sie schrieb auf dem Bildschirm eines kleinen Handgeräts, das ihre kindhafte Kritzelei in lesbare Zeichen übersetzte.

Er zog Mantel und Überschuhe aus und ließ die verschneite Dunkelheit draußen hinter den Jalousien verschwinden. »Hast du deine biologische Mutter schon angerufen?«

Die Vereinbarung, die er nach der Schlichtung mit Marguerite geschlossen hatte, sah vor, dass Tess täglich mit dem abwesenden Elternteil telefonierte. Tess sah ihn neugierig an. »Meine biologische Mutter?«

Hatte er das wirklich laut gesagt? »Ich meine, deine Mutter.«

»Ja, hab ich.«

»Hat sie irgendwas Unangenehmes gesagt? Du weißt, du kannst es mir sagen, wenn deine Mutter dir Probleme bereitet.«

Tess zuckte verlegen die Achseln.

»War der Fremde bei ihr, als du angerufen hast? Der Mann, der im Keller wohnt?«

Tess zuckte erneut die Achseln.

»Zeig mir deine Hand«, sagte Ray.

Man musste kein Genie sein, um darauf zu kommen, dass die Probleme, die Tessa in Crossbank gehabt hatte, auf Marguerites Konto gingen, auch wenn der Scheidungsmediator nicht in der Lage gewesen war, das zu erkennen. Marguerite hatte sich überhaupt nicht um Tess gekümmert, hatte sich einzig und allein für ihre geliebten extraterrestrischen Meereslandschaften interessiert, worauf Tess mehrere verzweifelte, in ihrer Motivation unmissverständliche Versuche gemacht hatte, Aufmerksamkeit zu erlangen. Die Furcht erregende Fremde im Spiegel mochte gut und gern Marguerites Subjekt selbst gewesen sein — verstohlen, fordernd und allgegenwärtig.

Bedrückt, den Kopf gesenkt vor Verlegenheit, streckte Tess ihre rechte Hand aus. Die Fäden waren vergangene Woche gezogen worden. Die Narben würden mit der Zeit verschwinden, hatte der Ambulanzarzt gesagt, aber noch sahen sie schrecklich aus, rosafarbene neue Haut zwischen wie ausgehackt wirkenden Mulden, dort wo die Stiche gesetzt worden waren. Ray hatte bereits einige Fotos davon gemacht, für den Fall, dass die Sache jemals vor Gericht relevant würde. Er hielt ihre kleine Hand fest, überzeugte sich davon, dass nichts auf eine Infektion hindeutete. Keine kleinen Lebewesen, die seiner Tochter den Lebenssaft aussaugten.

»Was gibt's zu essen?«, fragte Tess.

»Huhn«, sagte Ray und überließ sie ihren Büchern. Tiefgekühltes Huhn im Gefrierschrank. Die Versuchsperson entnahm aus kalter Lagerung das geschlachtete Fleisch eines am Boden lebenden Vogels und ließ es in einer Pfanne mit kalt gepresstem Pflanzenöl anbraten. Knochlauch und Basilikum, Salz und Pfeffer wurden hinzugefügt. Von dem Geruch lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Tess, davon angelockt, kam in die Küche, um ihm beim Kochen zuzusehen.

»Machst du dir Sorgen, weil du morgen zu deiner Mutter zurückgehst?«

Zu deiner biologischen Mutter. Zur anderen Hälfte deiner genetischen Trickkiste. Zur schlechteren Hälfte, dachte Ray.

»Nein«, sagte Tess. Dann, fast aufsässig: »Warum fragst du andauernd solche Sachen?«

»Tu ich das?«

»Ja. Manchmal.«

»Nun, manchmal ist nicht immer, oder?«

»Nein, aber …«

»Ich möchte nur, dass es dir gut geht, Tess.«

»Ich weiß.« Geschlagen wandte sie sich ab.

»Du bist glücklich hier, nicht wahr?«

»Es ist okay hier.«

»Denn bei deiner Mutter kann man nie wissen, stimmt's? Könnte sein, dass du die ganze Zeit hier wohnen musst, falls ihr irgendetwas passiert.«

Tess kniff die Augen zusammen. »Was sollte ihr passieren?«

»Man kann nie wissen«, sagte Ray.

Vierzehn

Bevor es die Stadt verließ, war Subjekts Leben ein sich immerfort wiederholender Zyklus von Arbeit, Schlaf und Nahrungsaufnahme gewesen. Es hatte Marguerite auf bestürzende Weise an die hinduistische Vorstellung der Kalpas erinnert, des heiligen Kreislaufs, der ewigen Wiederkehr.

Aber das hatte sich jetzt verändert.

Denn aus dem Kreis war etwas anderes geworden: nämlich eine Erzählung, eine Geschichte, dachte Marguerite, mit einem Anfang und einem Ende. Darum war es so wichtig, das Auge weiterhin auf das Subjekt zu richten, ungeachtet dessen, was die mehr zum Zynismus neigenden Mitarbeiter in der Interpretation meinten. »Das Subjekt ist nicht mehr repräsentativ«, sagten sie. Aber gerade das machte den Vorgang so interessant. Subjekt war ein Individuum geworden, etwas, das mehr war als die Summe seiner Funktionen in der Gesellschaft der Eingeborenen. Dies war offenkundig eine Art Krise im Leben des Subjekts, und Marguerite fand die Vorstellung, deren Auflösung nicht mitverfolgen zu können, ganz und gar unerträglich. Selbst wenn diese Auflösung in seinem Tod bestehen sollte. Und das war nicht ausgeschlossen.

Schon bald war ihr die Idee gekommen, die Odyssee des Subjekts aufzuschreiben, nicht analytisch, sondern als das, was daraus geworden war: eine Erzählung, eine Geschichte. Natürlich nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Schließlich würde sie alle Regeln der Objektivität verletzen, sich allen möglichen bewussten und unbewussten Anthropozentrismen hingeben. Außerdem war sie keine Autorin, jedenfalls keine Autorin dieser Art. Sie wollte es ausschließlich zu ihrer eigenen Befriedigung machen … und weil sie glaubte, dass das Subjekt es verdiente. Schließlich war es ein reales Leben, in das sie da eingedrungen waren. In der Privatheit des Schreibens könnte sie ihm die gestohlene Würde zurückerstatten.

Sie nahm das Projekt in einem blauen Schulheft mit Spiralbindung in Angriff. Tess lag im Bett (sie war vor zwei Tagen, nach einem enttäuschenden Weihnachtsfest, von ihrem Vater zurückgekommen) und Chris stellte unten die Küche auf den Kopf oder plünderte ihre Bibliothek. Es war ein kostbarer Moment, den sie schweigend würdigte. Jetzt konnte sie die schwarze Kunst der Empathie ausüben. Jetzt konnte sie offen eingestehen, dass ihr das Schicksal dieses so unerforschlichen und gleichzeitig so intim vertrauten Wesens am Herzen lag.


Subjekts letzte Tage in der Stadt [schrieb Marguerite] waren unruhig und episodenhaft.

Es besetzte zur üblichen Zeit seine Arbeitsstation, aber seine Essklausuren wurden kürzer und flüchtiger. Es stieg die Stufen zum Nahrungsschacht sehr langsam hinunter, und im trüben Licht der Abendklausuren nahm es weniger als die übliche Menge von Feldfrüchten zu sich. Mehr Zeit verwendete es darauf, schimmelartige Gewächse von den feuchten Schachtwänden zu kratzen und sich die Rückstände von den Nahrungsklauen zu saugen.

Normalerweise war dies eine Zeit intensiver sozialer Interaktion; die Schächte waren voll belegt; aber das Subjekt hielt sein Gesicht strikt zur Steinwand gerichtet und die sichtbaren zeichengebenden Bewegungen (Wogen der Flimmerhaare. Kopfgesten) waren minimal.

Auch sein Schlaf war unruhig, was wiederum die kleinen Wesen zu beunruhigen schien, die nachts an seinen Blutnippeln tranken. Der Stellenwert, den diese in den Wänden lebenden Tiere in Subjekts Kultur oder Ökologie einnehmen, ist noch weitgehend unbegriffen. Es könnten Parasiten sein, aber da sie allgemein toleriert werden, handelt es sich vermutlich eher um Symbionten oder gar um eine Stufe im Reproduktionszyklus. Vielleicht stimuliert ihre Fütterung wünschenswerte Immunreaktionen — so lautet jedenfalls eine der Theorien. Kurz vor seinem Aufbruch jedoch schien das schlafende Subjekt die Esser abzustoßen. Sie saugten schmatzend, schwirrten davon, kamen zurück und probierten noch einmal — mit demselben Ergebnis. Unterdessen war das Subjekt ruhelos und bewegte sich im Laufe der Nacht wiederholt in uncharakteristischer Weise.

In seiner letzten Nacht in der Stadt hielt es eine schlaflose Wache auf einem hohen Außenbalkon des Gemeinschaftsturms, in dem es wohnt. Man ist versucht, sowohl Einsamkeit als auch Entschlossenheit in dieses Verhalten hineinzulesen. [Es ist verboten, aber verführerisch, dachte Marguerite.] Subjekts Leben hatte sich eindeutig verändert, und vielleicht nicht zum Besseren.

Dann verließ es die Stadt.

Es sah aus wie ein spontaner Entschluss. Es verließ seinen Bau, verließ seinen Turm und ging geradewegs durch das östliche Tor der Eingeborenenstadt in einen klaren blauen Morgen hinein. Im Sonnenlicht schimmerte seine dicke Haut wie poliertes Leder. Sie war größtenteils dunkelrot, ein Farbton, der an den wichtigsten Gelenken ins Schwarze spielte, und sein orange-gelber Nackenkamm, der beim Gehen aufgerichtet war, strahlte wie eine Flammenkrone.

Die Stadt war von gewaltigen landwirtschaftlichen Nutzflächen umgeben. Kanäle und Aquädukte leiteten Wasser aus den schneebedeckten Bergen auf diese Felder. Dieses System verlor große Mengen von Feuchtigkeit durch Verdunstung in der trockenen dünnen Luft, aber das Rinnsal, das übrig blieb, reichte aus, um kilometerlange Alleen von Sukkulenten zu nähren. Die Pflanzen waren dickhäutig, olivgrün und teilten sich in wenige Grundtypen mit Variationen auf. hatten kräftige Stiele und Blätter so groß wie Suppenteller und so dick wie Pfannkuchen. Höher gewachsen als das Subjekt, warfen sie vielfältige Schattenmuster über seinen Rücken, während es an ihnen entlangwanderte.

Das Subjekt folgte der unbefestigten Straße, einer breiten, von Bewässerungsgräben und üppigen Mittsommerfeldfrüchten umgebenen Allee, zeigte keinerlei soziale Interaktion, weder mit den von Pflanzensaft beschmierten Feldarbeitern noch mit entgegenkommenden Fußgängern. Kurz nachdem es die Stadt verlassen hatte, machte es einen Abstecher in ein bestelltes Feld, wo es, ohne von den Arbeitern beachtet zu werden, mehrere große Blätter von einer gereiften Pflanze abzog, diese in ein noch größeres, flacheres Fächerblatt wickelte und sie in einen an seinem Unterbauch befindlichen Beutel schob. Ein Mittagsimbiss? Oder Proviant für eine längere Reise?

Über weite Teile des Vormittags war das Subjekt gezwungen, auf dem Randstreifen der Straße zu gehen, um dem Verkehr auszuweichen. Nach den Planetenkarten, die verfertigt worden waren, bevor die O/BEKs sich auf ein einzelnes Subjekt einstellten, verlief diese Straße über fast hundert Kilometer nach Osten in ein Trockengebiet, schwenkte dann nach Norden durch eine Reihe von niedrigen Bergen (Vorgebirge einer höheren Kette) und dann erneut nach Osten, bis sie. nach einigen hundert Kilometern durch eine spärlich bewachsene Hochebene, zu einer anderen Eingeborenenstadt führte, die bislang noch nicht namentlich bezeichnete 33°-Breite-42°-Länge-Urbanisation. 33/42 war eine kleinere Stadt als jene, in der das Subjekt zu Hause war, jedoch als Handelspartner bekannt.

Große Laster fuhren in beide Richtungen — riesige Plattformen, die mit einfachen, aber hoch entwickelten und effektiven Motoren ausgestattet waren und sich auf gewaltigen festen Rollen statt auf Rädern bewegten. (Dies mag man als ein Beispiel für hiesige Effizienz nehmen. Die Laster erhalten und pflegen die unbefestigten Straßen einfach dadurch, dass sie auf ihnen fahren.) Und es gab jede Menge Fußgänger, in Paaren, Dreier- oder größeren Gruppen von watschelnden Individuen, aber keine weiteren Einzelgänger. Deutete die einzigartige Reiseform auf ein einzigartiges Reiseziel hin?

Gegen Mittag erreichte das Subjekt das Ende des Ackerlandes. Die Straße wurde breiter, als sie die Sukkulentenwände hinter sich ließ. Geradeaus war der Horizont flach, im Norden gebirgig. Die Berge zitterten in den aufsteigenden Hitzewellen. Als die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte, legte das Subjekt eine Pause ein. Es verließ die Straße, um ein paar hundert Meter zu einer Schatten spendenden Formation von hohen Basaltfelsen zu gehen, wo es ausgiebig auf den sandigen Boden urinierte, dann auf einen der Felsensockel kletterte und nach Norden gewandt stehen blieb. Die Atmosphäre zwischen Subjekt und den Bergen war von schwebendem Staub weiß eingefärbt, und die schneebedeckten Gipfel schienen über dem Wüstenbecken zu kauern.

Vielleicht ruhte es sich aus, oder vielleicht nahm es die Luft in sich auf oder plante die nächste Etappe seiner Reise, jedenfalls stand es fast eine Stunde lang reglos da. Dann ging es zur Straße zurück und nahm, nachdem es aus dem Straßengraben einen Schluck getrunken hatte, seine Wanderung wieder auf.

Es wanderte in stetigem Tempo den ganzen Nachmittag hindurch. Bei Einbruch der Nacht hatte es auch die letzten Anzeichen von Landbau — alte, seit längerer Zeit brachliegende Felder und von Sandstürmen teilweise zugewehte Bewässerungsgräben — hinter sich gelassen und bewegte sich in das Wüstenbecken zwischen den Bergen im Norden und dem weit im Süden gelegenen Meer hinein. Der Verkehr auf der Straße formierte sich nun in Konvois; inzwischen war das Subjekt hinter den letzten Fahrzeugen dieses Tages zurückgeblieben. Es war allein, und sein Tempo ließ mit zunehmender Dunkelheit nach. Es war ein ungewöhnlich klarer Abend. Ein flinker kleiner Mond stieg am östlichen Horizont auf, und das Subjekt sah sich nach einem Schlafplatz um.

Es musste ein paar Minuten suchen, bis es eine sandige Mulde gefunden hatte, die im Windschatten eines Felsvorsprungs lag. Dort rollte es sich in annähernd fötaler Haltung zusammen, sodass seine Bauchregion vor der abkühlenden Luft geschützt war. Sein Körper verfiel in die übliche nächtliche Katatonie.

Als der Mond drei Viertel des Himmels überquert hatte, tauchte eine Anzahl von kleinen insektenartigen Wesen aus einem im Sand versteckten Nest auf. Sie wurden sofort vom Subjekt angezogen, von seinem Geruch vielleicht oder seinem Atemrhythmus. Sie waren kleiner als die nächtlichen Symbionten seiner Heimatstadt. Sie trugen deutlich ausgebildete thorakale Wulste und bewegten sich auf zwei zusätzlichen Beinpaaren. Aber sie nährten sich auf gleiche Weise und ohne zu zögern an den Blutnippeln des Subjekts.

Sie waren noch immer da (gesättigt vielleicht), als das Subjekt im ersten Licht des Morgens erwachte. Einige hingen noch immer an seinem Körper. Vorsichtig, geradezu pingelig, pflückte er sie von sich ab und warf sie von sich. Die Geschöpfe blieben bewegungslos, aber unverletzt liegen, bis die Sonne ihre Körper erwärmte, dann gruben sie sich zurück in den Sand, kopfüber, das hintere Ende wie ein rosa Fächerschwanz emporragend, bevor sie schwungvoll verschwanden.

Das Subjekt folgte weiter der Straße.


Als sie ihren ersten Eintrag noch einmal durchlas, war Marguerite nicht zufrieden mit dem, was sie geschrieben hatte. Nicht weil es unkorrekt gewesen wäre, obwohl es das natürlich in der Tat war — es war ja alles geradezu schreiend falsch. Zuschreibungsfehler, wo man nur hinguckte. Die Sozialwissenschaftler wären entsetzt. Aber sie war der ewigen Objektivität müde. Ihr eigenes Projekt, ihr ganz privates Projekt, sah vor, sich in das Subjekt hineinzuversetzen. Wie sonst verstanden die Menschen sich gegenseitig? »Sieh es mal aus meiner Sicht«, sagte man. Oder: »Wenn ich an deiner Stelle wäre …« Es war ein Akt der Vorstellungskraft, so alltäglich und selbstverständlich, dass man ihn gar nicht mehr wahrnahm. Menschen, die dazu nicht in der Lage waren oder sich weigerten, es zu tun, wurden als Psychotiker oder Soziopathen bezeichnet. Aber wenn wir die Eingeborenen betrachten, dachte Marguerite, sollen wir Indifferenz walten lassen. Eine distanzierte Zurückhaltung, die in ihrer Strenge schon fast puritanisch anmutet. Habe ich mich befleckt, wenn ich eingestehe, dass es mir nicht egal ist, ob das Subjekt überlebt oder stirbt? Die meisten ihrer Kollegen hätten diese Frage bejaht. Marguerite trug sich mit dem ketzerischen Gedanken, dass sie Unrecht haben könnten.

Dennoch fehlte der Erzählung etwas. Es war schwer zu entscheiden, was zu sagen und, das vor allem, wie es zu sagen war. Für wen schrieb sie? Nur für sich oder hatte sie eine Leserschaft im Sinn?


Einige Wochen waren vergangen, seit das Subjekt die Stadt verlassen hatte — zur gleichen Zeit, als Tess sich ihre Hand so schlimm verletzt hatte. Wenn sie in diesem Stil weitermachte, gab es noch sehr viel mehr zu schreiben. Marguerite war allein in ihrem Arbeitszimmer, über ihr Heft gebeugt, doch beim Gedanken an Tess hob sie den Kopf und machte eine Bestandsaufnahme der spätabendlichen Geräusche im Haus.

Chris war unten noch zugange. Chris hatte sich seine eigenen Räume im Haus geschaffen. Er schlief im Keller, war tagsüber meistens abwesend, nahm sein Abendessen bei Sawyer's ein und benutzte die Küche und das Wohnzimmer in der Regel erst, wenn Tessa zu Bett gegangen war. Seine Anwesenheit war unaufdringlich, meistens sogar tröstlich. (Da: das Geräusch der zuklappenden Kühlschranktür, das Klirren von Geschirr.) Chris wirkte immer bekümmert, wenn er arbeitete, wie jemand, der sich verzweifelt bemüht, einen Gedankengang zu rekonstruieren, der ihm entglitten ist. Aber oft hörte er gar nicht mehr auf zu arbeiten, saß dann bis spät in die Nacht.

Und er war eine Hilfe gewesen, was Tess betraf — mehr als nur eine Hilfe. Chris war keiner jener Erwachsenen, die Kinder herablassend behandeln oder sie zu beeindrucken versuchen. Er schien sich wohl zu fühlen im Umgang mit Tess, sprach offen und ohne Hemmungen mit ihr und nahm keinen Anstoß, wenn sie gelegentlich gar nichts sagte oder eingeschnappt war. Und er hatte keinen Wind um Tessas Probleme gemacht.

Sogar Tess wirkte ein bisschen zufriedener, seit Chris im Haus war. Aber der Unfall mit ihrer Hand war beunruhigend gewesen. Tess beharrte zunächst darauf, dass sie sich einfach nur zu doll gegen das Fenster gelehnt habe, aber Marguerite wusste Bescheid: Ein Fenster am Abend in einem Zimmer mit Licht ist so gut wie ein Spiegel. Und es war nicht der erste Spiegel, den Tess zerbrochen hatte. In Crossbank waren es drei gewesen. Der Therapeut hatte von »unausgedrückter Wut« gesprochen, aber Tess hatte Mirror Girl nie als feindselig oder Furcht erregend beschrieben. Sie zerbrach die Spiegel, sagte sie, weil sie es leid war, dass Mirror Girl immer wieder unangekündigt darin auftauchte — »Ich möchte mich sehen, wenn ich in den Spiegel gucke«. Mirror Girl war aufdringlich, kam oft zum unpassenden Zeitpunkt und konnte einen ziemlich verärgern, aber dass sie geradezu ein Albtraum gewesen wäre, konnte man auch nicht sagen. Es war das Blut, das die Sache diesmal so unheimlich gemacht hatte.

Marguerite hatte sie auf den Vorfall angesprochen, am Tag, nachdem sie in der Ambulanz gewesen waren. Von den Schmerzmitteln war Tess ein bisschen schläfrig und verbrachte den ganzen Nachmittag im Bett, hin und wieder ein Buch zur Hand nehmend, aber insgesamt zu zerstreut, um lange zu lesen. Marguerite setzte sich auf ihre Bettkante. »Ich dachte, damit wären wir durch gewesen«, sagte sie. »Dinge zu zerbrechen.« Nicht vorwurfsvoll. Nur neugierig.

»Ich hab mich gegen das Fenster gelehnt«, wiederholte Tess, aber sie musste Marguerites Skepsis wohl gespürt haben, denn schließlich seufzte sie und sagte ein wenig kleinlaut: »Sie hat mich einfach überrascht.«

»Mirror Girl?«

Nicken.

»Ist sie in letzter Zeit wieder öfter da gewesen?«

»Nein«, sagte Tess; dann: »Nicht viel. Deswegen hat sie mich ja überrascht.«

»Hast du daran gedacht, was Dr. Leinster damals in Crossbank gesagt hat?«

»Mirror Girl ist nicht real. Sie ist irgendwie ein Teil von mir, den ich nicht sehen möchte.«

»Glaubst du, dass das stimmt?«

Tess zuckte die Achseln.

»Na ja, sag ruhig, was du wirklich glaubst.«

»Ich meine, wenn ich sie gar nicht sehen will, warum kommt sie dann immer wieder?«

Gute Frage, dachte Marguerite. »Sieht sie immer noch so aus wie du?«

»Genau gleich.«

»Woher weißt du dann, dass sie es ist?«

Tess zuckte die Achseln. »Ihre Augen.«

»Was ist mit ihren Augen?«

»Zu groß.«

»Was will sie, Tess?« Sie hoffte, dass ihre Tochter die Panik in ihrer Stimme nicht hörte, das Stocken ihres Atems. Mit meinem Mädchen ist etwas nicht in Ordnung. Mein Baby.

»Ich glaube, sie will einfach, dass ich Acht gebe.«

»Worauf, Tess? Auf sie?«

»Nein, nicht nur auf sie. Auf alles. Alles, die ganze Zeit.«

»Weißt du noch, was Dr. Leinster dir beigebracht hat?«

»Mich beruhigen und warten, dass sie weggeht.«

»Funktioniert das noch?«

»Glaub schon. Manchmal vergess ich's halt.«

Dr. Leinster hatte Marguerite mitgeteilt, dass Tessas Symptome zwar ungewöhnlich seien, aber doch längst nicht bis zu einer systematischen Wahnvorstellung reichten, die auf Schizophrenie hindeuten könnte. Keine drastischen Stimmungsschwankungen, kein aggressives Verhalten, gute zeitliche und räumliche Orientierung, der Gemütsausdruck etwas gedämpft, aber durchaus im Rahmen, sie zeigt Einsicht in ihr Problem, keine offensichtlichen neurochemischen Gleichgewichtsstörungen. All dieser psychiatrische Quark, der letzten Endes auf Dr. Leinsters banale Zusammenfassung hinauslief: Wahrscheinlich wird es mit zunehmendem Alter besser werden.

Aber Dr. Leinster hatte nicht Tessas blutgetränkten Pyjama waschen müssen.

Marguerite schaute wieder in ihr Tagebuch. Ihr klammheimlicher Verstoß gegen das Verbot des Geschichtenerzählens. Noch längst nicht auf dem aktuellen Stand: Da war zum Beispiel noch nichts über die Ruinen an der Straße nach Osten … aber für heute Abend reichte es.

Unten, stellte sie fest, waren die Lichter noch an. In der Küche saß Chris bequem zurückgelehnt, die Füße auf einen anderen Stuhl gelegt, und aß Roggentoast, wahrend er im Astrogeological Review vom letzten September blätterte. »Ich wollte mir nur noch einen Schlummertrunk machen«, sagte Marguerite. »Kümmern Sie sich gar nicht um mich.«

Orangensaft mit einem Schuss Wodka, das Mittel der Wahl, wenn sie sich zu ruhelos fühlte, um schlafen zu können. So wie heute. Sie zog einen dritten Stuhl unter dem Küchentisch hervor und legte ihre in Pantoffeln steckenden Füße neben denen von Chris ab. »Langer Tag?«, fragte sie.

»Ich habe mich noch mal mit Charlie Grogan drüben im Auge getroffen«, sagte Chris.

»Wie nimmt Charlie denn die ganze Sache auf?«

»Die Isolierung? Ach, das kümmert ihn nicht übermäßig, obwohl, er meinte, er müsste Boomer inzwischen Rinderhack zu fressen geben. Der Laster liefert kein Hundefutter. Hauptsächlich macht er sich Sorgen um das Auge.«

»Was ist mit dem Auge?«

»Es gab wieder eine kleine Kaskade von technischen Störungen, während ich da war.«

»Tatsächlich? Ich habe gar keine Mitteilung darüber bekommen.«

»Charlie meint, es seien nur die üblichen Unregelmäßigkeiten, aber sie treten in letzter Zeit häufiger auf — Überspannungen und eine etwas ausgefranste Ein-/Ausgabe. Was ihm aber wirklich zu schaffen macht, glaube ich, ist die Möglichkeit, dass jemand den Stecker ziehen könnte. Er hat diese O/BEKs so lange betreut, dass sie fast so etwas wie Kinder für ihn geworden sind.«

»Das ist doch alles Blödsinn«, sagte Marguerite, »dieses Gerede vom Abschalten«, doch es klang nicht sehr überzeugend, nicht einmal für sie selbst. Sie machte einen unbeholfenen Versuch, das Thema zu wechseln. »Normalerweise reden Sie nicht viel über Ihre Arbeit.«

Sie hatte ihren Drink schon halb ausgetrunken und fühlte, wie der Alkohol sich lächerlich schnell durch ihren Körper arbeitete, sie schläfrig machte, aber auch leichtsinnig.

»Ich versuche, sie von Ihnen und Tess fernzuhalten«, sagte Chris. »Ich bin dankbar, überhaupt hier sein zu können. Da will ich nicht auch noch meine Probleme auftischen.«

»Ach, nicht doch. Wir kennen uns jetzt, wie lange, mehr als einen Monat? Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht wahr ist, was immer die Leute über Ihr Buch sagen. Sie kommen mir nicht verlogen oder boshaft vor.«

»Verlogen oder boshaft? Das ist es, was die Leute sagen?«

Marguerite wurde rot.

Aber Chris lächelte. »Hab ich alles schon gehört, Marguerite.«

»Ich würde das Buch gerne mal lesen.«

»Seit der Abriegelung kann man es nicht mehr downloaden. Vielleicht wirkt sich das für mich vorteilhaft aus.« Sein Lächeln verlor ein wenig an Überzeugungskraft. »Ich kann Ihnen aber ein gedrucktes Exemplar geben.«

»Da würde ich mich freuen.«

»Und ich freue mich über das Vertrauensvotum. Marguerite?«

»Ja?«

»Was würden Sie davon halten, mir ein Interview zu geben? Über Blind Lake, die Belagerung, wie Sie damit umgehen?«

»O Gott.« Die Frage war nicht das, was sie erwartet hatte. Aber was hatte sie erwartet? »Na ja, nicht heute Abend.«

»Nein, nicht heute Abend.«

»Das letzte Mal, dass mich jemand interviewt hat, das war für die Schülerzeitung an der Highschool. Über mein Naturwissenschaftsprojekt.«

»Gutes Projekt?«

»Erster Preis. Stipendium. Es ging um mitochondrische DNA, damals wollte ich noch Genetikerin werden. Ziemlich heftiges Zeug für die Tochter eines Geistlichen.«

Spontan — oder vielleicht auch ein wenig betrunken — legte Marguerite ihre Hand auf den Tisch, mit der Innenfläche nach oben. Es war eine Geste, die er ohne Weiteres ignorieren konnte. Und es würde kein Schaden entstehen, wenn er sie ignorierte.

Chris sah die Hand an, vielleicht ein paar Augenblicke zu lange, dann legte er seine obenauf. Tat er es gerne? Widerstrebend, unwillig?

Es war angenehm, seine Hand zu spüren. Kein männlicher Erwachsener hatte ihre Hand gehalten, seit sie Ray verlassen hatte — nicht dass Ray ein großer Händchenhalter gewesen wäre. Sie stellte fest, dass sie Chris nicht in die Augen sehen konnte. Ein wenig noch ließ sie den Augenblick sich dehnen, dann zog sie, verlegen grinsend, ihre Hand zurück. »Ich muss ins Bett«, sagte sie.

»Schlafen Sie gut«, sagte Chris.

»Sie auch«, antwortete sie und fragte sich, worauf sie sich da einließ.


Bevor sie in ihr Schlafzimmer ging, warf sie noch kurz einen Blick auf die Direktübertragung aus dem Auge.

Es tat sich nicht viel. Das Subjekt setzte seine seit zwei Wochen andauernde Odyssee fort. Es war schon weit auf der nach Osten führenden Straße gekommen, und gerade wanderte es unverdrossen in einen neuen Morgen hinein. Seine Haut schien immer grauer zu werden, aber das lag wahrscheinlich nur am Staub. Seit Monaten hatte es nicht mehr geregnet, was allerdings typisch war für die Sommermonate in diesen Breiten des Planeten.

Selbst die Sonne schien ihr trüber als sonst, bis ihr auffiel, dass ein ungewöhnlich dichter Dunst herrschte, und besonders dicht im Nordosten, fast wie eine heranziehende Unwetterfront. Wahrscheinlich könnte sie die Meteorologie mal dazu befragen. Morgen.

Bevor sie schließlich endgültig zu Bett ging, spähte Marguerite noch einmal in Tessas Zimmer.

Tess schlief fest. Die kaputte Fensterscheibe neben ihrem Bett war noch immer durch Chris' Plastik-und-Furnier-Konstruktion geschützt, sodass das Zimmer behaglich warm war. Dunkelheit draußen und drinnen. Keine Spiegelungen zu befürchten. Nichts zu hören außer Tessas leises Atmen.

Und plötzlich, in der Stille des Hauses, begriff Marguerite, für wen sie ihre Erzählung schrieb. Nicht für sich selbst. Schon gar nicht für andere Wissenschaftler. Und auch nicht für die Öffentlichkeit.

Sie schrieb sie für Tess.

Die Erkenntnis setzte einen Energieschub frei, verjagte die Aussicht auf Schlaf. Sie ging zurück in ihr Büro, machte die Schreibtischlampe an und holte ihr Heft hervor. Sie schlug es auf und schrieb:


Vor mehr als fünfzig Jahren gab es, auf einem Planeten in so großer Entfernung, dass kein lebender Mensch je hoffen darf, dort hinreisen zu können, eine Stadt aus Fels und Sandstein. Die Stadt war ähnlich groß wie die größeren unserer Städte und ihre Türme ragten hoch hinauf in die dünne trockene Luft jener Welt. Die Stadt war auf einer staubigen Ebene erbaut worden, im Angesicht hoher Berge, deren Spitzen sogar während des langen Sommers von Schnee bedeckt waren. Jemand lebte dort, jemand, der nicht ganz ein Mensch war, aber doch auf seine eigene Art eine Persönlichkeit, sehr verschieden von uns, doch in vieler Hinsicht auch ähnlich. Der Name, den wir ihm gaben, lautete »Subjekt« …

Fünfzehn

Sue Sampel begann wieder Gefallen an den Wochenenden zu finden, trotz der weiter fortdauernden Abriegelung. Eine Zeit lang war es eine Regen-Traufe-Situation gewesen: die Wochentage mit Arbeit gefüllt, aber getrübt durch die seltsamen Anfälle und die allgemeine Unfreundlichkeit ihres Chefs; die Samstage und Sonntage dagegen waren sehr ruhig und melancholisch, weil sie nicht ins Auto springen und nach Crossbank fahren konnte, um sich zu amüsieren. Zuerst hatte sie sich an den Wochenenden mehr oder weniger zugekifft, um sich gegen die innere Unruhe zu wappnen, aber irgendwann waren ihre Vorräte zur Neige gegangen (auch dies ein Artikel, der im Lieferumfang des schwarzen Lasters nicht enthalten war). Dann lieh sie sich eine Handvoll Romane von Tiffany Arias von einer Kollegin in der Plaza aus, fünf dicke Schwarten über eine Kriegskrankenschwester in Shiugang, die zwischen ihrer Liebe zu einem Aufklärerpiloten der Airforce und einer heimlichen Affäre mit einem dem Alkohol verfallenen Waffenschmuggler hin und her gerissen ist. Sue fand die Bücher ganz okay, doch sie waren nur ein unzulänglicher Ersatz für Cannabis der Marke Green Girl Canadian (regelmäßig, aber illegal importiert aus dem Nördlichen Wirtschaftlichen Protektorat), von dem sie noch sieben Gramm in einer Keksdose in ihrer Sockenschublade aufbewahrte.

Dann aber stand plötzlich Sebastian Vogel vor ihrer Tür, mit einem Einquartierungsnachweis von Ari Weingart und einem verbeulten braunen Koffer. Auf den ersten Blick wirkte er nicht sehr vielversprechend. Ganz niedlich vielleicht, so auf die Weihnachtselfenart, schon auf die sechzig zugehend, ein bisschen übergewichtig, auf dem glänzend kahlen Kopf Reste eines grauen Haarkranzes, ein buschiger rotgrauer Bart. Er war offensichtlich schüchtern — stotterte, als er sich vorstellte —, und, schlimmer noch, Sue gewann den Eindruck, dass er irgendeine Art Geistlicher oder pensionierter Pastor war. Er versprach, er werde »keinerlei Umstände machen«, und sie befürchtete, dass er vermutlich genau das tun würde.

Am Tag darauf hatte sie Ari nach ihm befragt. Ari sagte, Sebastian sei Akademiker im Ruhestand, kein Priester, und derzeit Teil einer Dreiergruppe von Journalisten, die in Blind Lake gestrandet seien. Sebastian habe ein Buch geschrieben mit dem Titel Gott & das Quantenvakuum — Ari lieh ihr ein Exemplar. Das Buch war sehr viel trockener als ein Roman von Tiffany Arias, allerdings auch ein ganzes Stück gehaltvoller.

Dennoch blieb Sebastian Vogel nicht viel mehr als ein stiller Teilhaber im Haushalt, bis zu jenem Abend, als er sie dabei ertappte, wie sie sich auf dem Küchentisch einen Joint drehte.

»Na, so was«, sagte Sebastian von der Tür her.

Es war zu spät, die Keksdose oder das Zigarettenpapier zu verstecken. Schuldbewusst versuchte Sue, einen Witz daraus zu machen. »Ähm«, sagte sie, »möchten Sie einen mitrauchen?«

»O nein, ich möchte nicht …«

»Schon gut, ich verstehe vollkommen …«

»Ich möchte nicht Ihre Gastfreundschaft ausnutzen. Aber ich hätte da noch fünfzehn Gramm in meinem Gepäck, falls Sie Lust haben, mit mir zu teilen.«

Danach wurde es besser.


Er war fünfzehn Jahre älter als Sue und sein Geburtstag war am neunten Januar. Als der näher rückte, teilte sie bereits ihr Bett mit ihm. Sue mochte ihn sehr — und man hatte viel mehr Spaß mit ihm, als sie je vermutet hätte —, aber sie wusste auch, dass das Ganze wahrscheinlich eine »Abriegelungsromanze« war, eine Bezeichnung, die sie in der Betriebs-Cafeteria aufgeschnappt hatte. In der ganzen Stadt schossen Abriegelungsromanzen aus dem Boden. Die Gefühlskombination aus Beengtheit und ständiger Angst erwies sich als echtes Aphrodisiakum.

Sein Geburtstag fiel auf einen Samstag, und Sue plante schon seit Wochen darauf hin. Eigentlich hatte sie ihm einen Geburtstagskuchen besorgen wollen, aber es gab keine Backmischungen im Laden, und aus der hohlen Hand einen Kuchen selber backen zu wollen, kam nicht infrage.

Also war sie auf die zweitbeste Lösung verfallen. Und hatte auf ihren Einfallsreichtum zurückgegriffen.

Sie trug den Kuchen ins Wohnzimmer; eine einzelne Kerze steckte darin. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte sie.

Es war kein besonderer Kuchen. Aber er hatte symbolischen Wert.

Sebastians kleiner Mund kräuselte sich zu einem nur teilweise vom Schnäuzer verdeckten Lächeln. »Das ist ja zu … zu nett! Sue, ich danke dir!«

»Ach, ist doch nichts weiter«, sagte sie.

»Doch, es ist toll!« Er bewunderte den Kuchen. »Ich hab schon seit Wochen keine solchen Luxusartikel mehr gesehen. Wo hast du ihn her?«

Es war eigentlich gar kein Kuchen. Sondern ein DingDong mit einer Geburtstagskerze darin. »Das willst du doch gar nicht wissen«, sagte Sue.


Für Samstag hatte Sebastian sich bereit erklärt, mit seinen Freunden im Sawyer's zu Mittag zu essen. Er bat Sue, mitzukommen.

Sie war einverstanden, wenn sie auch Zweifel hegte. Sue hatte vor ungefähr zwanzig Jahren einen Bachelor-Abschluss gemacht, aber der hatte ihr nicht mehr eingetragen als diese bessere Büroarbeit in Blind Lake. Sie war aus zu vielen fachlichen Diskussionen ausgeschlossen worden, um Vergnügen an einer einschlägigen Unterhaltung zwischen Wissenschaftsjournalisten finden zu können. Sebastian versicherte ihr, dass es nichts dergleichen werden würde. Seine Freunde seien Schriftsteller, keine Wissenschaftler. »Offen und direkt, aber nicht snobistisch.«

Schon möglich, sagte sie sich, vielleicht aber auch nicht.

Sue fuhr Sebastian, der kein eigenes Auto zur Verfügung hatte, zu Sawyer's, wo sie bei leichtem Schneetreiben parkten. Der Wind war frisch, die Sonne lugte nur hin wieder aus den Wolkenschluchten hervor. Im Restaurant herrschte eine schläfrige Wärme und Feuchtigkeit.

Sebastian machte sie mit Elaine Coster bekannt, einer mageren, säuerlich dreinblickenden Frau, die nicht viel älter war als Sue selbst, sowie mit Chris Carmody, Letzterer erheblich jünger, groß und etwas grimmig, aber auf zerzauste Weise gut aussehend. Chris war freundlich, Elaine hingegen sagte nach einem schlaffen Händedruck: »Na, Sebastian, in Ihnen steckt ja mehr, als wir gedacht hätten.«

Sue wunderte sich über die Feindseligkeit, ja den Hohn in der Stimme der Frau und über Sebastians offenbar gleichmütige Reaktion.

Serviert wurde das seit der Abriegelung unvermeidliche Mittagessen: Suppe und Sandwiches. Sue gab höfliche Laute von sich, beschränkte sich aber ansonsten darauf, dem Gespräch der anderen zu lauschen. Sie politisierten über Blind Laker Angelegenheiten, unter anderem mit Bezug auf gewisse Spekulationen Ray Scutter betreffend, und machten sich Gedanken über die immer wiederkehrende Frage der Belagerung. Sie tauschten Erinnerungen aus über Leute, von denen Sue noch nie gehört hatte, sodass sie schließlich das Gefühl gewann, das man sie gar nicht mehr auf der Rechnung hatte, obwohl Sebastians Hand die ganze Zeit auf ihrem Schenkel unter dem Tisch lag und sie zur Bestärkung von Zeit zu Zeit drückte.

Schließlich kam ein bisschen Klatsch zur Sprache, mit dem sie etwas anfangen konnte. Es stellte sich heraus, dass Chris bei Ray Scutters Ex wohnte, und Ray offenbar vor ein paar Wochen eine kleine Macho-Show vor der Ambulanz abgezogen hatte. Es klang nach einer typischen Kotzbrockigkeit à la Ray Scutter, und Sue enthielt sich nicht, das zu sagen.

Elaine starrte sie auf enervierende Weise an. »Was wissen Sie über Ray Scutter?«

»Ich leite sein Büro.«

Ihre Augen weiteten sich. »Sie sind seine Sekretärin?«

»Leitende Assistentin. Na ja, gut, Sekretärin im Grunde.«

»Hübsch und talentiert«, sagte Elaine zu Sebastian, der darauf nur sein undurchdringliches Lächeln aufsetzte. Sie konzentrierte sich wieder auf Sue, die gegen den Drang ankämpfte, vor dem Laserblick der Frau zurückzuweichen. »Also, was alles wissen Sie über Ray Scutter?«

»Was sein Privatleben betrifft, nichts. Was die Arbeit betrifft, so ziemlich alles.«

»Er redet mit Ihnen darüber?«

»Gottchen, nein. Ray lässt sich nicht gern in die Karten gucken, hauptsächlich, weil er das Ass der Inkompetenz in der Hand hält. Kennen Sie das, wenn Leute, die überfordert sind, sich mit allerlei Routinearbeit beschäftigen, um wenigstens den Anschein zu erwecken, dass sie sich nützlich machen? Nun, das ist Ray. Er teilt mir nichts mit, aber die Hälfte der Zeit muss ich ihm seinen Job erklären.«

»Wissen Sie«, sagte Elaine. »Es gibt Gerüchte über Ray.«

Oder vielleicht, dachte Sue, bin auch ich überfordert. »Was für Gerüchte?«

»Dass Ray sich in die Server der Leitungsebene einhacken will, um deren E-Mails zu lesen.«

»Oh. Na ja, das ist …«

Ein Summen ertönte. Chris Carmody zog sein Telefon aus der Tasche, wandte sich ab und flüsterte in die Muschel. Elaine warf ihm einen giftigen Blick zu.

Als er sich wieder dem Tisch zuwandte, sagte er: »Tut mir leid, Leute, ich muss los. Marguerite braucht jemanden, der auf ihre Tochter aufpasst.«

»Meine Güte«, sagte Elaine, »machen denn jetzt alle auf Häuslichkeit in diesem Scheißkaff? Sind Sie jetzt seit neuestem Babysitter oder was?«

»Eine Art Notfall, sagt Marguerite.« Er erhob sich.

»Na, dann gehen Sie.« Sie verdrehte die Augen. Sebastian nickte freundlich.

»War nett, Sie kennenzulernen«, sagte Chris zu Sue.

»Ebenfalls.« Er schien wirklich ganz nett zu sein, wenn auch ein bisschen unruhig und abgelenkt. Jedenfalls war er eine angenehmere Gesellschaft als Elaine mit ihrem Röntgenblick.

Den Elaine auch sofort wieder auf sie richtete, als Chris sich vom Tisch entfernte. »Dann ist es also wahr? Ray betreibt verbotene Hackerei?«

»Ob verboten, weiß ich nicht. Er hat die Absicht, es öffentlich bekanntzugeben. Die Idee ist, dass Nachrichten, die vor der Abriegelung auf den Servern eingegangen sind, uns Aufschluss über die Ursache geben könnten.«

»Falls irgendwelche Nachrichten vor der Abriegelung eingegangen sind, wieso hat dann Ray keine bekommen?«

»Bevor all die Leitungskräfte zur Konferenz nach Cancun aufgebrochen sind, war er nicht hoch genug platziert auf dem Management-Totempfahl. Außerdem ist er relativ neu hier. Er hatte Kontakte in Crossbank, aber nicht das, was man Freunde nennen würde. Ray schließt keine Freundschaften.«

»Das gibt ihm das Recht, in gesicherte Server einzubrechen?«

»Das glaubt er, ja.«

»Er glaubt es, aber hat er auch entsprechend gehandelt?«

Sue überdachte ihre Lage. Mit der Presse zu reden, wäre ein ausgezeichneter Grund, gefeuert zu werden. Zweifellos würde Elaine ihr vollständige Anonymität zusichern. (Oder Geld, wenn sie danach verlangte. Oder den Mond.) Aber Versprechungen waren wie faule Schecks, leicht auszustellen und schwer einzulösen. Ich mag blöd sein, dachte Sue, aber ich bin nicht annähernd so blöd, wie diese Frau anscheinend glaubt.

Sie dachte an Sebastian. Wollte Sebastian, dass er über diese Dinge redete? Sie sah ihn fragend an. Sebastian saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl, die Hände auf dem Bauch gefaltet; ein Spritzer Senf schmückte seinen Bart. Er tat geheimnisvoll wie eine ausgestopfte Eule. Aber er nickte ihr zu.

Okay?

Okay. Sie würde es für ihn tun. Nicht für Elaine.

Sie leckte sich die Lippen. »Schulgin war gestern im Gebäude, zusammen mit einem Computermenschen.«

»Um die Server zu knacken?«

»Was glauben Sie? Aber ich hab sie nicht auf frischer Tat ertappt oder so.«

»Was haben sie erreicht?«

»Nichts, soweit ich weiß. Sie waren immer noch zugange, als ich am Freitag nach Hause gegangen bin.« Vielleicht sind sie immer noch da, dachte Sue, und durchsieben das Silizium nach Gold.

»Falls sie irgendwas Interessantes finden, würde diese Information über Ihren Schreibtisch gehen?«

»Nein.« Sie lächelte. »Aber über Rays.«

Sebastian wirkte plötzlich beunruhigt. »Ist ja alles sehr interessant«, sagte er. »Aber lass dich nicht von Elaine beschwatzen, irgendetwas Gefährliches zu tun.« Seine Hand lag wieder auf ihrem Schenkel, übermittelte ihr eine Nachricht, die sie nicht entschlüsseln konnte. »Es sind in erster Linie ihre eigenen Interessen, die Elaine am Herzen liegen.«

»Ach, halten Sie die Klappe, Sebastian«, giftete Elaine.

Sue war ein bisschen schockiert. Umso mehr, als Sebastian einfach nur nickte und erneut sein Buddha-Lächeln aufsetzte.

»Könnte sein, dass ich so etwas sehe«, sagte Sue. »Vielleicht aber auch nicht.«

»Falls Sie es tun …«

»Elaine, Elaine«, sagte Sebastian. »Überspannen Sie den Bogen nicht.«

»Ich denk drüber nach«, sagte Sue. »Okay? Reicht das? Können wir jetzt über etwas anderes reden?«


Sie hatten ihre Karaffe mit Kaffee geleert und die Kellnerin war nicht gekommen, um nachzuschenken. Elaine schickte sich an, in ihre Jacke zu schlüpfen. Sebastian sagte: »Übrigens, ich bin gebeten worden, einen kleinen Vortrag im Gemeindezentrum zu halten, im Rahmen von Aris Gesellschaftsabenden.«

»Reklame für Ihr Buch machen?«, fragte Elaine.

»In gewisser Weise. Ari hat Schwierigkeiten, diese Samstagstermine zu besetzen. Wahrscheinlich wird er als Nächstes Sie fragen.«

Sue freute sich zu sehen, dass Elaine dies mit einigem Schrecken hörte. »Danke, aber ich hab Besseres zu tun.«

»Ich überlasse es Ihnen, Ari das mitzuteilen.«

»Ich geb's ihm schriftlich, wenn er möchte.«

Sebastian entschuldigte sich und steuerte die Toilette an. Nach einigen Augenblicken verlegenen Schweigens sagte Sue, noch immer verärgert: »Es mag Ihnen nicht gefallen, was Sebastian schreibt, aber trotzdem verdient er ein wenig Respekt.«

»Haben Sie sein Buch gelesen?«

»Ja.«

»Im Ernst? Wovon handelt es?«

Sue wurde unversehens rot. »Es handelt vom Quantenvakuum. Das Quantenvakuum ist ein Medium für … äh … eine Art Intelligenz …« Und das, was wir als menschliches Bewusstsein bezeichnen, ist nämlich in Wirklichkeit unsere Fähigkeit, einen winzig kleinen Teil von diesem universellen Geist anzuzapfen. Es war jedoch ausgeschlossen, dass sie darüber mit Elaine sprach. Sie kam sich schon jetzt furchtbar töricht vor.

»Nein«, sagte Elaine. »Tut mir leid, aber das ist falsch. Es geht darum, den Leuten etwas ganz Schlichtes und Beruhigendes zu sagen, es aber mit pseudowissenschaftlichem Schwachsinn aufzumotzen. Es handelt von einem Akademiker im Quasiruhestand, der einen Haufen Geld verdient und zwar auf die denkbar zynischste Weise. Oh …«

Sebastian war plötzlich hinter ihr aufgetaucht, und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er alles mitgehört. »Ernsthaft, Elaine, das geht jetzt wirklich zu weit.«

»Spielen Sie nicht den Beleidigten, Sebastian. Hat Ihr Verleger schon mal wegen einer Fortsetzung bei Ihnen angeklopft? Wie soll sie denn heißen? Das Zwölf-Punkte-Programm für das Quantenvakuum? Finanzielle Sicherheit mit dem Quantenvakuum?«

Sebastian öffnete den Mund, sagte aber nichts. Er sah nicht wütend aus, fand Sue. Sondern verletzt.

»Ganz im Ernst«, wiederholte er.

Elaine stand auf, knöpfte ihre Jacke zu. »Amüsiert euch noch, Kinder.« Sie zögerte, dann drehte sie sich um und legte Sue eine Hand auf die Schulter. »Okay, ich weiß, ich bin ein furchtbares Miststück. Tut mir leid. Danke, dass ihr mich ertragen habt. Ich bin Ihnen wirklich dankbar für das, was Sie über Ray gesagt haben.«

Sue zuckte die Achseln — ihr fiel keine Antwort ein.

Auf der Rückfahrt war Sebastian sehr still. Fast eingeschnappt. Sie konnte es gar nicht erwarten, nach Hause zu kommen und ihm einen Joint zu drehen.

Sechzehn

Chris fand Marguerite in ihrem Arbeitszimmer im ersten Stock, sie telefonierte lautstark. Die Direktübertragung aus dem Auge füllte den Wandmonitor aus.

Das Bild sah nicht gut aus. Irgendwie angegriffen — von falschen Linien und flüchtigen weißen Punkten durchzogen. Schlimmer noch, das Subjekt kämpfte sich durch haarsträubend schlechtes Wetter, ocker- und rostfarbene Fetzen, ein Staubsturm von solcher Heftigkeit, dass es darin ganz zu verschwinden drohte.

»Nein«, sagte Marguerite, »es ist mir egal, was sie in der Plaza sagen. Kommen Sie, Charlie, Sie wissen, was das bedeutet! Nein! Ich werde da sein. Bald.« Als sie Chris sah, fügte sie hinzu: »In fünfzehn Minuten.«

Die gleich nach seiner Entdeckung erstellte kartographische Darstellung des Planeten hatte jahreszeitlich bedingte Staubstürme von nahezu marsianischer Intensität gezeigt, vorwiegend in der südlichen Hemisphäre. Dieser Sturm hier musste anomal sein, dachte Chris, denn das Subjekt hatte sich noch nicht weiter als hundertfünfzig Kilometer von Hummerhausen entfernt, und Hummerhausen befand sich ein gutes Stück nördlich des Äquators. Vielleicht aber war es auch ein ganz natürlicher Sturm, Teil eines langfristigen Zyklus, der von der Beobachtung nicht erfasst worden war.

Subjekt schob sich, den Rumpf nach vorn gebeugt, ins Undurchsichtige hinein. Sein Bild verblasste, wurde klarer, verblasste erneut. »Charlie hat Angst, dass sie ihn ganz verlieren«, sagte Marguerite. »Ich fahr hin zum Auge.«

Chris folgte ihr nach unten. Tess saß im Wohnzimmer, verfolgte das Samstagvormittagsprogramm von Blind-Lake-TV. Ein Zeichentrickfilm: Kaninchen mit riesigen Brillen, die in mittelalterlichen Bechern und Destillierapparaten Karotten anbauten. Ihr Kopf schlug in regelmäßigem Rhythmus sanft gegen die Sofalehne.

»Du hast gesagt, wir würden rodeln gehen«, rief Tess.

»Schätzchen, es ist ein Notfall bei der Arbeit. Hab ich dir doch gesagt. Chris ist da und passt auf dich auf, okay?«

»Ich könnte doch mit ihr rodeln gehen«, schlug Chris vor. »Es ist allerdings ein ziemlich weiter Weg.«

»Echt?«, fragte Tess. »Können wir?«

Marguerite schürzte die Lippen. »Ich denke schon, aber ich möchte nicht, dass ihr hin und zurück zu Fuß geht. Mrs. Colangelo hat angeboten, dass wir ihr Auto ausleihen könnten, falls wir es mal brauchen — Chris kann sich darum kümmern.«

Er versprach, dass er nachfragen würde. Tess war beschwichtigt, und Marguerite schlüpfte in ihre Winterjacke. »Falls ich nicht bis zum Abendessen zurück bin, findet ihr im Gefrierschrank, was ihr braucht. Seid kreativ.«

»Wie ernst ist das Problem?«

»Es war eine mühsame und heikle Arbeit, die O/BEKs darauf zu trainieren, sich auf ein einzelnes Individuum zu fixieren. Falls wir das Subjekt im Sturm verlieren, kriegen wir es vielleicht nicht wieder zurück. Schlimmer noch ist, dass es immer wieder zu Signalverfall kommt, und Charlie weiß nicht, was die Ursache sein könnte.«

»Und Sie glauben, dass Sie helfen können?«

»Nicht im technischen Bereich. Aber es gibt Leute in der Plaza, die liebend gern diese Gelegenheit nutzen würden, um sich vom Subjekt zurückzuziehen. Das will ich verhindern. Also mische ich mich ein.«

»Viel Glück.«

»Danke. Und danke, dass Sie Tess Gesellschaft leisten. Egal wie, ich werde zurück sein, bevor sie zu Bett geht.«

Sie eilte aus dem Haus.


Im Interesse der journalistischen Kameradschaft rief Chris Elaine an und berichtete von der sich im Auge entwickelnden Krise. Sie sagte, sie wolle sehen, was sie herausfinden könne. »Die Sache wird merkwürdig«, sagte sie. »Ich kriege dieses Luken-dichtmachen-Gefühl.«

Er musste zugeben, dass er selbst ein bisschen unruhig war. Fast vier Monate Quarantäne inzwischen, und das bedeutete, so hartnäckig man auch versuchen mochte, den Vorgang zu ignorieren oder zu rationalisieren, dass etwas ungeheuer Schwerwiegendes passierte — vielleicht draußen, vielleicht drinnen. Etwas Schlimmes, etwas Gefährliches, etwas derzeit noch Verborgenes, das irgendwann unter dramatischem Getöse ans Tageslicht kommen würde.

Als Geschäftsführerin des Bekleidungsgeschäfts im Einkaufszentrum von Blind Lake befand sich Mrs. Colangelo seit der Abriegelung praktisch im Ruhestand. Sie stellte Chris ihren kleinen limettengrünen Marconi-Roadster zur Verfügung, und Tess packte ihren altmodischen Holzschlitten in den Kofferraum. Die meisten Kinder benutzten Snowtubes oder Schlitten aus Plastik, erläuterte Tess, aber sie hatte dieses Gerät (ein echt originaler Rodelschlitten, wie sie beteuerte) in einem Trödelladen entdeckt und ihre Mutter angefleht, es zu kaufen. Das war noch in Crossbank gewesen, wo es hügeliger war als in Blind Lake, aber auch ziemlich dicht bewaldet — hier konnte man wenigstens nicht gegen irgendwelche Bäume fahren.

Noch immer stellte Tess ein gewisses Rätsel für Chris dar. In vielerlei (vielleicht allzu vieler) Hinsicht erinnerte sie ihn an seine Schwester Portia — der Eigensinn, die Unberechenbarkeit, die gelegentliche Kratzbürstigkeit. Aber Portia hatte viel und gerne geredet, vor allem, wenn sie etwas entdeckt hatte, für das sie sich begeistern konnte. Tess aber sprach nur sporadisch.

Auch jetzt schwieg sie in den ersten fünf Minuten der Fahrt, doch offenbar dachte sie währenddessen auch an Portia. »Ist deine Schwester je rodeln gegangen?«, fragte sie schließlich.

Seit dem Fenstervorfall war sie mehrfach zu ihm gekommen, um weitere Porry-Geschichten zu hören. Als Einzelkind schien Tess fasziniert davon, sich Chris als älteren Bruder vorzustellen — weniger als ein Elternteil, mehr als einen Freund. Sie schien zu glauben, dass Portia ein zauberhaftes Leben geführt habe. Dem war nichts so. Portia lag auf einem verregneten Friedhof in Seattle begraben, Opfer der tödlichen Krankheit des Erwachsenseins in ihrer gravierendsten Ausprägung. Das sagte er Tess natürlich nicht. »Dort wo wir aufgewachsen sind, hat es nicht viel geschneit. Das Einzige in Richtung Rodeln, was wir gemacht haben, war Snowtubing in einem kleinen Ferienort in den Bergen.«

»Mochte Portia das?«

»Zuerst nicht. Zuerst hatte sie ziemliche Angst. Aber nach ein paar Abfahrten fand sie dann doch, dass es Spaß macht.«

»Ich glaube, sie mochte es«, sagte Tessa. »Außer dass man davon anfängt zu frieren.«

»Das stimmt, die Kälte mochte sie nicht so gern.«

Elaine hatte ihm vorgeworfen, er würde bei Marguerite »einen auf Häuslichkeit machen«. Er fragte sich, ob das stimmte. In den letzten Wochen war er in der Tat zu einem nicht ganz unbedeutenden Teil von Marguerite und Tessa Hausers Universum geworden, fast wider Willen. Nein, das war falsch; nicht wider Willen; vielmehr hatte er jeden einzelnen Schritt willentlich und bewusst gemacht. Aber die Schritte hatten sich zu einer so ganz gewiss nicht geplanten Reise summiert.

Noch war er nicht mit Marguerite ins Bett gegangen, aber sämtliche Signale, die er auffing und lesen konnte, zeigten an, dass es genau das war, wo ihn die Reise hinführen würde. Und es ging dabei durchaus nicht um ein nettes kleines, zeitlich begrenztes Geschäft auf Gegenseitigkeit, einen One-Night-Stand oder auch eine offizielle Abriegelungsromanze, einen Austausch von Wärme ohne weitere — ob stillschweigend oder explizit eingegangene — Verpflichtung. Nein, der Einsatz war höher, sehr viel höher.

Wollte er das?

Er mochte Marguerite, er mochte alles an Marguerite. Jede Unterhaltung zu später Stunde — und davon hatte es zuletzt eine Menge gegeben — hatte sie ihm näher gebracht. Sie war eine freigebige Geschichtenerzählerin. Sie sprach offen über ihre Kindheit (sie hatte mit ihrem Vater in einem presbyterianischen Pfarrhaus gelebt, einem siebzig Jahre alten Gebäude mit Holzveranda, in einem Vorort von Cincinnati, einer reinen Schlafsiedlung mit Bahnanschluss), über ihre Arbeit, über Tess; weniger oft und eher zögerlich über ihre Ehe. Ihr bis dahin recht behütetes Leben hatte sie in keiner Weise auf einen Mann wie Ray vorbereitet, der ihr zwar seine Liebe beteuert hatte, der aber in Wirklichkeit nur sein Leben — um der Konvention zu entsprechen — mit einer Frau ausstaffieren wollte, und für den Grausamkeit die letzte Zuflucht der Sexualität war. Solche Männer gab es zwar reichlich auf der Welt, aber Marguerite war vorher nie einem begegnet. Was folgte, war ein neunjähriger Albtraum verspäteter Aufklärung.

Und was sah sie in Chris? Nicht unbedingt den Anti-Ray, aber vielleicht eine gutartigere Version von Männlichkeit, jemanden, dem sie sich anvertrauen, an den sie sich anlehnen konnte, ohne Furcht vor Vergeltung. Diese Sicht auf seine Person schmeichelte ihm, aber sie war naiv. Nicht dass er liebesunfähig gewesen wäre. Er hatte seine Arbeit geliebt, er hatte seine Familie geliebt, er hatte seine Schwester Portia geliebt, aber alles, was er liebte, war ihm tendenziell in den Händen zerbrochen, zerstört durch sein ungeschicktes Bemühen, es zu beschützen.

Er würde sie niemals so verletzen, wie Ray es getan hatte, aber auf die Dauer mochte er sich als ähnlich gefährlich für sie erweisen.

Tess hatte ihm gesagt, wo das beste Rodelgebiet war, bei den niedrigen Hügeln einen halben Kilometer hinter Eyeball Alley, wo die Zufahrtsstraße in einer gepflasterten Sackgasse endete. Die Kühltürme der Alley erhoben sich links von der Straße, dunkle Wächter in einer weißen Landschaft. Wieder brach Tess das Schweigen: »Hatte Portia Probleme in der Schule?«

»Klar. Die hat doch jeder, hin und wieder.«

»Ich hasse den Sportunterricht.«

»Ich bin nie am Seil hochgekommen«, gestand Chris.

»Seilklettern machen wir noch nicht. Aber wir müssen so bescheuerte Sportklamotten tragen. Hatte Portia je Albträume?«

»Manchmal.«

»Was waren das für welche?«

»Tja — sie hat nicht gern darüber geredet, Tess, und ich habe versprochen, sie nicht weiterzuerzählen.«

Tess sah ihn prüfend an. Sie überlegte, ob sie ihm vertrauen konnte, dachte Chris. Tess teilte ihr Vertrauen mit Zurückhaltung aus. Das Leben hatte sie gelehrt, dass nicht jeder Erwachsene vertrauenswürdig war — eine bittere Lektion, aber nützlich und hilfreich.

Doch wenn er Portias Geheimnisse nach so langer Zeit noch bewahrte, dann würde er vielleicht auch Tessas bewahren. »Hat meine Mama dir von Mirror Girl erzählt?«

»Nö. Wer ist Mirror Girl?«

»Das ist das, was mit mir nicht stimmt.« Ein weiterer Blick von der Seite. »Du wusstest, dass irgendwas mit mir nicht stimmt, oder?«

»Ich hab mich schon ein bisschen gewundert an dem Abend, als wir in die Ambulanz mussten.«

»Ich sehe sie in Spiegeln. Deswegen nenne ich sie Mirror Girl.« Sie machte eine Pause. »An dem Abend hab ich sie im Fenster gesehen. Sie hat mich total überrascht. Da bin ich wohl wütend geworden.«

Chris spürte die Gewichtigkeit des Geständnisses. Er fühlte sich geschmeichelt. Tess war von ganz allein darauf zu sprechen gekommen. Er nahm den Fuß ein wenig vom Gaspedal, um die Fahrt zu strecken.

»Sie sieht aus wie ich, aber sie ist nicht ich. Das ist es, was keiner versteht. Also, was glaubst du? Bin ich verrückt?«

»Du machst auf mich keinen verrückten Eindruck.«

»Ich rede nicht darüber, weil die Leute glauben, dass ich einen an der Waffel habe. Hab ich ja vielleicht.«

»Es passieren nun mal Dinge, die wir nicht verstehen. Das heißt nicht, dass du einen an der Waffel hast.«

»Wieso kann niemand sonst sie sehen?«

»Ich weiß es nicht. Was will sie denn?«

Tess zuckte gereizt die Achseln. Offenbar eine Frage, die ihr schon allzu oft gestellt worden war. »Das sagt sie nicht.«

»Spricht sie?«

»Nicht mit Worten. Ich glaube, sie will einfach, dass ich aufmerksam bin, auf Sachen achte. Ich glaube, sie kann nicht aufmerksam sein, wenn ich nicht aufmerksam bin — ergibt das irgendeinen Sinn? Aber das hab ich mir nur so zurechtgelegt. Es ist bloß eine Theorie.«

»Portia hat manchmal mit ihren Spielsachen gesprochen.«

»So ist es nicht. Das ist ja Kinderkram.« Sie verdrehte die Augen, »Edie Jerundt spricht mit ihren Spielsachen.«

Lieber nicht weiter drängen. Es war genug, dass Tess sich ihm überhaupt anvertraut hatte. Er fuhr schweigend zum Ende der Straße, wo an der Wendeschleife schon ein halbes Dutzend Autos parkten.

Der steilste Hang des schneeweißen Hügels war übersät von Rodlern, Boardern und geduldigen Eltern.

»Viele Flugzeuge unterwegs heute«, sagte Tess, als sie aus dem Auto stieg.

Chris blickte zum Himmel, sah aber nichts als einen silbernen Fleck fern am Horizont. Wieder eine von diesen kryptischen Tess-Bemerkungen. »Hilfst du mir, den Schlitten raufzuziehen?«

»Aber sicher.«

»Fährst du mit mir runter?«

»Wenn du willst. Aber ich warne dich, ich habe ewig nicht mehr auf einem Schlitten gesessen.«

»Ich denke, du hattest gar keinen Schlitten. Du hast gesagt, ihr hättet nur Snowtubing gemacht.«

»Ich meinte, ich bin ewig nicht mehr einen Hügel runtergerutscht.«

»Seit Portia klein war?«

»Genau.«

»Na, dann komm«, sagte Tess.


Die ganze Zeit war sich Tess der zunehmenden und beharrlichen Gegenwart Mirror Girls bewusst.

Mirror Girl glitt durch jede spiegelnde Oberfläche, wie ein schlüpfriger Geist. Mirror Girl flackerte über die Fenster, die glänzend blaue Motorhaube und die Seitenteile des Autos. Tess war sich sogar der wenigen Schneeflocken bewusst, die aus dem hohen grauen Himmel fielen. Sie hatte Schneeflocken im Sachkundeunterricht studiert: als Beispiele für Symmetrie. Eis, dachte sie, wie Glas, in Reflexionswinkel gefaltet. Sie stellte sich Mirror Girl in sämtlichen unsichtbaren Facetten des fallenden Schnees vor.

Im Grunde war Tess ein bisschen übel. Mirror Girl bedrängte sie wie ein schwerer, atemberaubender Nebel, bis sie kaum noch an etwas anderes denken konnte. Vielleicht hatte sie Chris zu viel erzählt. Den Namen Mirror Girl auszusprechen, war wahrscheinlich keine so gute Idee gewesen. Vielleicht mochte Mirror Girl es nicht, wenn man über sie sprach.

Aber Tess hatte sich schon die ganze Woche auf diesen Rodelausflug gefreut und hatte keine Lust, ihn sich jetzt von Mirror Girl vermiesen zu lassen.

Sie erlaubte Chris, den Schlitten bis zum höchsten Punkt des Hügels zu ziehen. Es gab einen sanften Anstieg auf der einen und dann eine steile Abfahrt auf der anderen Seite. Tess war ein bisschen außer Atem, als sie oben angelangt waren, aber die Aussicht gefiel ihr. Komisch, dass man von einem eher kleinen Hügel so viel mehr sehen konnte als von unten. Hier waren die dunklen Türme von Eyeball Alley, dort die weißen Quadrate der Hubble Plaza sowie die Geschäfte und Häuser rundherum. Die Straßen sahen aus wie auf einem Stadtplan, gerade und messerscharf geführt; die Straße nach Constance schnitt wie eine in weißes Metall geätzte Linie durch das Südtor und weiter in die verschneite Ferne. Wind zupfte an Tessas Haaren, sie nahm ihre Schneemütze aus der Jackentasche und zog sie sich über den Kopf, fast bis zu den Augen hinunter.

Sie schloss die Augen und sah Flugzeuge. Warum Flugzeuge? Mirror Girl machte sich im Moment große Sorgen um Flugzeuge.

Um ein kleines Flugzeug mit Propellern und einen größeren Düsenjet, der auf das erste niederschoss wie ein Raubvogel. Wo? Der Himmel war zu bewölkt, um viel erkennen zu lassen, wenngleich die Wolken eher dünn waren und ziemlich hoch. Das Summen in ihren Ohren konnte ein Flugzeug sein, dachte Tess, oder vielleicht auch nur der Wind, der mit dem Kragen ihrer Jacke spielte, oder das eigene Blut, das in den Ohren pulsierte.

Ihre Finger kribbelten, aber ihr Körper unter der Kleidung war warm. Mir ist heiß, mir ist kalt, dachte sie.

»Tess?«, sagte Chris. »Alles in Ordnung?«

Wenn Leute ihr diese Frage stellten, hieß das normalerweise, dass sie sich gerade irgendwie seltsam benahm. Dass sie zu still dastand oder zu lange auf etwas starrte. Aber was kümmerte das die Leute? Was war so seltsam daran, dass man dastand und nachdachte?

Vielleicht war es das, was Mirror Girl sah oder was Tess sehen sollte: das große und das kleine Flugzeug. Das kleine war hellgelb und hatte Zahlen auf den Flügeln, aber keine militärischen Kennzeichen. Es war größer als die Flugzeuge, die die Felder besprühen, aber nicht viel. Es war ganz klar zu sehen, wenn sie die Augen schloss, aber auch verwirrend, so als würde sie aus zu vielen Blickwinkeln gleichzeitig auf das Flugzeug gucken. Es war ein facettiertes Flugzeug, ein Kaleidoskopflugzeug, ein Flugzeug in einem Spiegel mit vielen Knicken und Kanten.

Chris reichte ihr das Seil ihres Schlittens. Tess nahm es fest in die Hand und versuchte sich auf die Aufgabe des Rodeins zu konzentrieren — plötzlich schien es mehr eine lästige Prüfung als ein echter Spaß zu sein. Schnee knirschte und ächzte unter dem Gewicht der Holzkufen. Irgendwo am unteren Ende des Hanges wurde gelacht. Dann lenkten die Flugzeuge sie wieder ab. Nicht nur das kleine Flugzeug, sondern auch das große, der Jet, der noch immer weit weg war, aber das kleine Flugzeug hartnäckig verfolgte, und dann …

Tess ließ das Seil los. Der Schlitten setzte sich in Bewegung, rutschte unbemannt den Hügel hinunter, bevor Chris ihn einfangen konnte.

Chris kniete vor ihr. »Tess, was ist? Was ist los?«

Sie sah seine großen besorgten Augen, konnte aber nicht antworten. Der Jet war in wenigen Sekunden um Kilometer näher gekommen. Und jetzt flog etwas von dem Jet weg — es war eine Rakete, vermutete Tess — und es blitzte zwischen den beiden Flugzeugen auf wie eine Spiegelung in einem zerbrochenen Kristall.

Warum konnte niemand sonst es sehen? Warum rodelten und lachten die Leute auf dem Hügel immer noch? Waren sie wegen des Schnees verwirrt, wegen seiner Millionen und Abermillionen von Spiegeln? »Vielleicht sollten wir dich lieber nach Hause bringen«, sagte Chris, der offensichtlich auch nichts sah. Tess wollte hinzeigen. Sie hob den Arm, streckte den Finger aus; ihr Finger folgte dem unsichtbaren Kreisbogen der Rakete, eine Linie wie ein unendlich dünner Bleistiftstrich auf dem weißen Papier des Himmels; sie sagte: »Da …«

Aber da hörten alle die Explosion.


Charlie Grogan erwartete Marguerite vor seinem Büro in der Alley. »Kommen Sie mit runter ins Kontrollzentrum«, sagte er knapp. »Es wird immer verrückter.«

Charlie war sichtlich angespannt, als sie im Fahrstuhl standen. Das Auge war tief unten in der Erde, eine Ironie, an der Marguerite einst ihre Freude gehabt hatte. Das Juwel ist im Lotus, das Auge ist in der Erde. Damit ich dich besser sehen kann, mein Kind. So lustig kam ihr das jetzt nicht mehr vor. »Ich kann alle Anrufe aus der Plaza handeln«, sagte sie, »es sei denn, Ray ist selber dran. Wenn Ray anruft und den Vorgesetzten rauskehrt, kann ich nur noch so tun, als sei das Telefon kaputt.«

»Die Plaza ist im Moment nicht unser größtes Problem, ehrlich gesagt. Wir mussten beide Technikerschichten herbestellen. Sie haben einige von den Interface-Einheiten rausgerissen und ersetzt. Schlimmer noch«, sagte Charlie, »und das werden Sie überhaupt nicht gerne hören, wir haben großen Ärger mit den O/BEKs.«

Die O/BEKs. Man hatte sogar Charlie schon sagen hören, dass es sich um eine »Drück-den-Daumen-Technologie« handele. Marguerites Kenntnisse über Quanten-EDV waren sehr bescheiden; sie gab nicht vor, die Feinheiten der O/BEK-Zylinder zu begreifen.

Das Verbinden von mehreren O/BEKs zu einem sich selbst entwickelnden »organischen« Array war ein Experiment, das ihrer Ansicht nach überhaupt nicht hätte funktionieren dürfen. Die Ergebnisse waren unvorhersehbar, geradezu unheimlich, und sie erinnerte sich an das, was Chris gesagt (oder zitiert) hatte: Es könnte jederzeit zu Ende gehen. Konnte es, jawohl. Und vielleicht war dieser Zeitpunkt jetzt gekommen.

Aber, Gott, nein, dachte sie, nicht jetzt, wo sie kurz davor standen, tiefer greifende Erkenntnisse zu gewinnen, jetzt, wo das Subjekt in tödlicher Gefahr war.

Der Kontroll- und Interface-Raum war so bevölkert, wie Marguerite ihn noch nie erlebt hatte. Techniker drängten sich um die Systemmonitoren, einige von ihnen in hitziger Diskussion begriffen. Mit Entsetzen sah sie, dass der große Zentralbildschirm, der mit der Liveübertragung, vollkommen schwarz war. »Charlie, was ist passiert?«

Er zuckte die Achseln. »Kommunikationsabsturz. Vorübergehend, glauben wir. Es ist ein Eingabe-Ausgabe-Problem, kein vollkommenes Systemversagen.«

»Wir haben das Subjekt verloren?«

»Nein, wie gesagt, es hängt an den Interfaces. Das Auge beobachtet nach wie vor, aber wir haben Probleme, uns mit dem Auge zu verständigen.« Er deutete ein weiteres Achselzucken an, was so viel besagen sollte wie: Das ist es jedenfalls, was wir glauben.

»Ist so etwas schon einmal passiert?«

»So nicht, nein.«

»Aber Sie können es wieder hinkriegen?«

Er zögerte. »Wahrscheinlich«, sagte er schließlich.

»Vor zwanzig Minuten gab es noch ein Bild. Was hat es grad gemacht, als Sie es verloren haben?«

»Das Subjekt? Es hockte gerade hinter einer Art Hindernis, als alles grau wurde.«

»Glauben Sie, dass der Sturm die Ursache ist?«

»Marguerite, keiner weiß es. Wir verstehen nicht mal annähernd, was die O/BEKs machen. Sie können durch Steinwände gucken; ein Sandsturm sollte da eigentlich kein Problem sein. Aber die Sicht ist stark eingeschränkt, also muss das Auge sich vielleicht viel mehr anstrengen, um an einem beweglichen Ziel dranbleiben zu können; vielleicht ist es das, womit wir es hier zu tun haben. Wir können nicht mehr tun, als die Peripherieprobleme zu behandeln, sobald sie auftauchen. Die Temperatur kontrollieren, die Quantentröge stabil halten.« Er schloss die Augen und strich sich mit der flachen Hand über die stoppelige Kopfhaut.

Das ist es, was wir uns nicht gerne eingestehen, dachte Marguerite: dass wir eine Technologie benutzen, die wir nicht begreifen. Eine »dissipative Struktur«, die fähig ist, ihre eigene Komplexität zu erhöhen — fähig, in ihrem Wachstum über die Grenzen unseres geistigen Auffassungsvermögens hinauszugehen. Nicht eigentlich eine Maschine, sondern ein Prozess innerhalb einer Maschine, Evolution im Kleinformat, eine neue Lebensform eigener Art. Wir haben dabei nichts weiter getan, als den Anstoß gegeben, den Prozess auszulösen und ihn unseren Zwecken anzupassen. Was uns zur einzigen Spezies macht mit einem Auge, das komplexer ist als unser Gehirn.

Die Deckenlampen flackerten und wurden dunkler. Spannungsversorgungsmonitoren gaben schrillen Alarm.

»Bitte, Charlie«, sagte Marguerite. »Lassen Sie ihn nicht entgleiten.«


Chris war eben dabei, Tessas abrupter Handbewegung zu folgen, als er die Explosion hörte.

Es war kein besonders lautes Geräusch, nicht viel lauter als eine zugeschlagene Heckklappe, allerdings gewichtiger, voller rollender Untertöne, wie Gewitterdonnern. Er richtete sich auf und suchte den Himmel ab. Auch die anderen Rodler taten das, soweit sie nicht gerade mit ihren Schlitten auf dem Weg nach unten waren.

Zuerst sah er einen Rauchring, der sich ausdehnte, sehr blass vor dem Hintergrund der hohen Wolken und der blauen Himmelsabschnitte … dann das Flugzeug selbst, das in ziemlich weiter Ferne in einer gekrümmten Kurve zur Erde fiel.

Es fiel, war aber nicht hilflos. Der Pilot schien darum zu kämpfen, die Kontrolle zurückzugewinnen. Es war ein kleines Privatflugzeug, kanariengelb, nichts, was irgendwie mit Militär zu tun hatte; Chris sah es im Schattenriss, als es für einen Moment horizontal flog, parallel zur Straße nach Blind Lake und vielleicht noch knapp hundert Meter vom Boden entfernt. Es kam näher, begriff er. Wollte der Pilot die Straße vielleicht als Landebahn benutzen.

Dann aber kam der Flug wieder ins Stocken, das Flugzeug geriet wild ins Trudeln und stieß schwarzen Rauch aus.

Jetzt ging es erneut abwärts und jetzt kam es immer näher. »Runter«, sagte er zu Tess. »Runter auf den Boden. Sofort.«

Das Mädchen bewegte sich nicht, blickte erstarrt auf das Geschehen. Chris drückte sie in den Schnee und deckte sie mit seinem Körper ab. Einige Leute auf dem Rodelberg fingen an zu schreien. Davon abgesehen, war die Stille des Nachmittags geradezu unheimlich geworden: Die Flugzeugmotoren hatten ausgesetzt. Es müsste eigentlich mehr Lärm machen, dachte Chris. All das herunterfallende Metall.

Das Flugzeug traf am Nordende der Wendeschleife des Parkplatzes auf, nachdem es sich noch kurz hochreißen konnte, um die Kollision mit einem leuchtend roten Ford-Transporter zu vermeiden; die ganze kinetische Energie verwandelte sich in einen Schweif aus roten und gelben Trümmern, der Gräben und Krater in den tiefen Schnee schnitt. Tessas Körper erzitterte bei dem Geräusch. Die Splitter flogen nach Osten, vom Rodelberg weg, und sie prasselten noch immer mit vom Schnee gedämpften Schlägen nieder, als das Wrack in Flammen aufging.

Chris zog Tess zurück in eine sitzende Haltung.

Sie saß wie katatonisch da, starre Arme, starrer Blick, kein Blinzeln.

»Tess«, sagte er. »Hör mir zu. Ich muss da helfen, aber ich möchte, dass du hierbleibst. Knöpf dir die Jacke zu, wenn dir kalt wird, wende dich an irgendeinen anderen Erwachsenen, wenn du Hilfe brauchst, ansonsten aber warte auf mich, okay?«

»Glaub schon.«

»Warte auf mich.«

»Auf dich warten«, sagte sie stumpf.

Es gefiel ihm nicht, wie sie sprach und sich verhielt, aber sie war nicht verletzt, und in dem brennenden Wrack waren vielleicht noch Überlebende. Er umarmte sie kurz, zur Beruhigung, wie er hoffte, und stürmte dann den Hang hinunter, riss Löcher in den vom Rodeln verdichteten und glitschig gewordenen Schnee.

Er erreichte das brennende Flugzeug zusammen mit drei anderen Erwachsenen, zwei Männern und einer Frau, vermutlich alles Eltern, die mit ihren Kindern Rodeln gegangen waren. Soweit es irgend ging, näherte er sich dem Feuer, dessen Hitze ihm in die Gesichtshaut biss und Schnee in der Luft verdampfen ließ. An einigen wässrigen Stellen glitzerte bereits das Pflaster hindurch. Von dem Transporter — dessen Dach abrasiert worden war — konnte er genug erkennen, um zu wissen, dass sich niemand darin befunden hatte. Anders sah es in dem kleinen Flugzeug aus. Hinter seinem heftig kochenden Motor drängte eine zappelnde menschliche Gestalt gegen das beschlagene Glas der Cockpittür.

Chris schälte sich aus seiner Stoffjacke und wickelte sie um seine rechte Hand.

Später sollte Marguerite zu ihm sagen, er habe »heroisch« gehandelt. Möglich. Es kam ihm nicht so vor. Vielmehr empfand er es als das, was zu tun einfach nahegelegen hatte. Er hätte es vielleicht nicht versucht, wenn das Feuer nicht relativ eingegrenzt, wenn mehr Benzin im Flugzeug gewesen wäre. Allerdings konnte er sich nicht erinnern, irgendwelche Risikoabschätzungen durchgeführt zu haben. Er hatte nur gesehen, was zu tun war. Er fühlte die Hitze auf seinem Gesicht, das Prickeln der Haut, von hinten kalte Luft, die auf die Flammen zuwehte. Die im eingedrückten Cockpit undeutlich zu erkennende Gestalt zuckte ein paarmal, dann rührte sie sich nicht mehr. Die Tür fühlte sich selbst durch die Stoffschichten seiner Jacke noch heiß an. Sie stand einen Spalt offen, klemmte aber im Rahmen fest. Chris zog vergeblich daran herum, trat ein paar Schritte zurück, um zwischendurch etwas kühlere Luft zu atmen, dann trat er wuchtig gegen das zusammengedrückte Aluminium. Ein-, zwei-, dreimal, bis es weit genug durchgebogen war, dass er die Tür mit seiner inzwischen glimmenden Jacke richtig zu fassen bekam und nun mit vollem Krafteinsatz ziehen konnte.

Der Pilot kippte wie ein Fleischsack auf den feuchten Boden. Sein Gesicht war haarlos und geschwärzt, an manchen Stellen nur noch eine schockierend rote, verkohlte Masse. Er trug eine Fliegerbrille, eins der Gläser fehlte, das andere war kraqueliert. Aber er atmete noch. Seine Brust hob und senkte sich in wogenden Wellen.

Die Männer hinter ihm kamen herbeigeeilt, um den Piloten von dem Wrack wegzuziehen. Chris verharrte, ohne dass er recht wusste, warum. War da noch mehr, was er zu tun hatte? Von der Hitze war ihm schwindlig geworden. Er fühlte eine Hand auf seiner Schulter, fühlte, wie auch er aus dem Bereich der Flammen gezerrt wurde. Nur ein paar Schritte weiter schien die Luft schon dramatisch kälter, viel kälter als vorher auf dem Rodelberg. Wankend stolperte er noch ein Stück weiter, setzte sich dann auf die Motorhaube eines unbeschädigt gebliebenen Autos und ließ den Kopf hängen. Jemand brachte ihm eine Flasche Wasser. Er leerte sie fast in einem Zug, obwohl ihm davon noch mehr übel wurde. Er hörte die heulende Sirene eines Rettungswagens auf der Straße nach Blind Lake.

Tess, dachte er. Tess auf dem Hügel.

Wie viel Zeit war vergangen? Er blickte zum Hang, hielt Ausschau nach ihr. Inzwischen waren alle heruntergekommen, hatten sich auf dem Parkplatz versammelt, in sicherer Entfernung von dem brennenden Flugzeug, alle außer Tess. Er hatte ihr gesagt, sie solle bleiben, wo sie war, und sie hatte das wörtlich genommen. Er rief nach ihr, aber sie war zu weit weg, um ihn zu hören.

Erschöpft stieg er wieder nach oben. Tess stand regungslos da, starrte auf die Trümmer. Sie zeigte keine Reaktion, als er sie ansprach. Nicht gut — offenbar stand sie unter Schock.

Chris kniete sich vor ihr hin, hielt sein Gesicht in ihre Blicklinie und legte seine Hände auf ihre kleinen Schultern. »Tess«, sagte er. »Tess, alles in Ordnung?«

Sie antwortete nicht, nach einer Weile aber begann sie zu zittern. Ihr Körper bebte. Blinzelnd öffnete sie den Mund, doch es kam kein Ton heraus.

»Wir müssen dich ins Warme bringen«, sagte er.

Sie lehnte sich gegen ihn und begann zu weinen.


Marguerite verlor Charlie im lärmenden Chaos des Kontrollraums aus den Augen.

Für einen Sekundenbruchteil herrschte vollständige Dunkelheit — ein totaler Stromausfall. Dann gingen die Lichter flackernd wieder an und der Raum war von Stimmen erfüllt. Marguerite verdrückte sich in eine freie Ecke, um nicht im Weg zu stehen. Sie konnte nichts Hilfreiches tun und war verständig genug, sich nicht einzumischen.

Etwas Schlimmes war passiert, etwas, das sie nicht verstand, etwas, das die Ingenieure zu hektischer Aktivität veranlasste. Sie konzentrierte sich auf den großen Wandbildschirm, die Direktübertragung aus dem Auge, erschreckenderweise noch immer ohne Bild. Es konnte jederzeit zu Ende gehen.

Ihr Telefon klingelte. Sie achtete nicht darauf. Jetzt tauchte Charlie wieder auf und sie beobachtete ihn, wie er durch den Raum kreiste, die verschiedenen Tätigkeiten koordinierte. Da sie hilflos war — oder jedenfalls nicht in der Lage zu helfen —, entwickelte sie ein Vorgefühl des Verlustes. Verlust der Kommunikation, Verlust der Orientierung, Verlust des Sehens, Verlust des Subjekts, mit dem sie sich quer durch die Wüste bis ins Herz eines Sandsturms gekämpft hatte. Von Zeit zu Zeit explodierten stochastische Farbkaskaden auf dem Bildschirm. Marguerite starrte angestrengt hin, versuchte vergeblich ein Bild auszumachen. Kein Signal, nur Rauschen, nichts als Rauschen.

Ein paar grüne Lichter mehr, hörte sie jemanden sagen. War das gut? Anscheinend. Da kam Charlie, und er lächelte zwar nicht, aber sein Gesichtausdruck war nicht mehr ganz so ernst wie vorher — wann war das gewesen, vor einer Stunde?

»Wir kriegen wieder ein bisschen was zu fassen«, sagte er.

»Ein Bild?«

»Vielleicht.«

»Sind wir noch immer auf dem Subjekt drauf?«

»Warten Sie's einfach ab, Marguerite.«

Sie wandte sich wieder dem Bildschirm zu, auf dem neues Licht zu erscheinen begann. Winzige digitale Mosaike, zusammengesetzt in den unergründlichen Tiefen der O/BEK-Zylinder. Weiß ging in ein gelbliches Braun über. Die Wüste! Wir sind wieder da, dachte Marguerite und ein Schauer der Erleichterung lief ihr über den Rücken — aber wo war das Subjekt und was war das da für eine gestaltlose Leere?

»Sand«, murmelte sie. Feine Silikatkörner, vom Wind unbehelligt. Der Sturm hatte sich offenbar ausgetobt. Aber der Sand war nicht bewegungslos. Der Sand warf Hügel auf und rutschte in diese oder jene Richtung.

Subjekt wälzte sich unter einem schweren Umhang aus Sand hervor. Es war vom Wind eingeweht und begraben worden, lebte aber noch. Mithilfe seiner Werkzeugarme erhob es sich, stand dann, noch etwas unsicher, im frappierenden Sonnenlicht. Die virtuelle Kamera erhob sich mit ihm. Hinter ihm sah Marguerite den Sandsturm, der zum Horizont weitergewandert war, schwarze Wirbel hinter sich herziehend wie einen üppigen Pferdeschwanz.

Rings um das Subjekt waren Gebilde aus Stein zu erkennen: alte Säulen, pyramidenförmige Bauwerke, vom Sand halb abgetragene Fundamente. Die Ruinen einer Stadt.

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