Robert Charles Wilson Quarantäne

ERSTER TEIL Die Neue Astronomie

Teleskope von bislang unerreichter Auflösung offenbarten ihr die geheimen Tiefen des Kosmos auf polierten Spiegeln aus flüssigem Quecksilber. Die toten Welten des Sirius, die halb geformten Welten des Arcturus, die reichen, aber leblosen Welten, die um den gewaltigen Antares und den Beteigeuze kreisen — all dies studierte sie ohne jeden Nutzen.

Polton Cross, »Wings Across the Cosmos«, 1938

Eins

Es könnte jederzeit zu Ende gehen.

Chris Carmody rollte in eine Wärmezone eines unvertrauten Bettes: eine Vertiefung im Baumwolllaken, in der kürzlich jemand gelegen hatte. Jemand: Ihr Name fiel ihm gerade nicht ein, war noch in den Untiefen des Schlafs verborgen. Aber es verlangte ihn nach der Wärme ihrer Gegenwart, dem Quell dieser nachhaltigen Hitze. Er rief sich ein Gesicht vor Augen, gütig, lächelnd, mit einem ganz leichten Silberblick. Er fragte sich, wo sie geblieben sein mochte.

Es war schon eine Weile her, seit er zuletzt mit jemandem das Bett geteilt hatte. Merkwürdig, dass das, was er — fast mehr als alles andere — daran genoss, die Wärme war, die sie hinterließ. Dieser Raum, den er in ihrer Abwesenheit besetzte.

Es könnte jederzeit zu Ende gehen. Hatte er diese Worte geträumt? Nein. Er hatte sie vor drei Wochen in sein Notizbuch geschrieben, die Bemerkung eines Examensstudenten festgehalten, den er, einen halben Kontinent entfernt, in der Cafeteria von Crossbank kennengelernt hatte. Wir arbeiten hier an unglaublichen Dingen, und alles passiert ein bisschen eilig, weil wir wissen, dass es jederzeit zu Ende gehen könnte …

Zögernd öffnete er die Augen. Auf der anderen Seite des kleinen Schlafzimmers stand die Frau, mit der er geschlafen hatte, und zwängte sich in eine Strumpfhose. Sie bemerkte seinen Blick und lächelte vorsichtig. »He, Baby«, sagte sie. »Ich will dich nicht hetzen, aber sagtest du nicht, dass du irgendwo einen Termin hättest?«

Die Erinnerung stellte sich wieder ein. Sie hieß Lacy. Der Nachname war nicht im Angebot inbegriffen gewesen. Sie war Kellnerin im örtlichen Denny's. Sie trug ihr rotes Haar lang, wie es derzeit Mode war, und sie war mindestens zehn Jahre jünger als Chris. Sie hatte sein Buch gelesen, jedenfalls hatte sie das behauptet. Sie litt an einer einseitigen Sehschwäche, wodurch sie den Anschein ständiger Geistesabwesenheit erweckte. Während er sich den Schlaf aus den Augen blinzelte, ließ sie ein ärmelloses Kleid über ihre sommersprossigen Schultern gleiten.

Als Hausfrau legte Lacy offenbar keinen großen Ehrgeiz an den Tag. Einige tote Fliegen lagen auf dem sonnenbeschienenen Fensterbrett, ein Schminkspiegel auf dem Beistelltisch, auf dem sie am Abend zuvor mit dem Rasiermesser schmale, präzise Kokainlinien abgeteilt hatte, und ein Fünfzigdollarschein auf dem Teppich neben dem Bett, so fest zusammengerollt, dass er einem knospenden Palmblatt oder einem bizarren Insekt ähnelte, mit einem Rostfleck aus getrocknetem Blut am einen Ende.

Es war Frühherbst und immer noch recht warm in Constance, Minnesota. Linde Luft bewegte die hauchdünnen Vorhänge. Chris kostete das Gefühl aus, an einem Ort zu sein, wo er noch nie gewesen war und zu dem er aller Wahrscheinlichkeit nach nie wieder zurückkehren würde.

»Und du willst tatsächlich heute zum Lake, hm?«

Er fand seine Uhr auf einem auf dem Nachttisch aufgeschichteten Stapel der Printausgabe von People. Er hatte noch eine Stunde, um seine Verabredung wahrzunehmen. »Ja, tatsächlich.« Er fragte sich, wie viel er der Frau am vergangenen Abend erzählt hatte.

»Möchtest du Frühstück?«

»Ich glaube, dafür habe ich keine Zeit.«

Sie schien erleichtert. »Ist schon gut. Es war wirklich aufregend, dir zu begegnen. Ich kenne eine Menge Leute, die am Lake arbeiten, aber die gehören mehr zum kaufmännischen oder zum Dienstleistungspersonal. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der bei den großen Sachen mitmischt.«

»Ich mische nicht bei den großen Sachen mit. Ich bin nur Journalist.«

»Verkauf dich nicht unter Wert.«

»Mir hat es auch Spaß gemacht.«

»Das ist lieb von dir«, sagte sie. »Möchtest du duschen? Ich bin so weit fertig im Bad.«

Der Wasserdruck war bescheiden, und er entdeckte eine tote Kakerlake in der Seifenschale, aber die Dusche verschaffte ihm ein bisschen Zeit, seine Erwartungen zu justieren und seinen Berufsstolz, soweit noch vorhanden, zu mobilisieren. Er lieh sich einen ihrer für die Beine vorgesehenen rosa Wegwerfrasierer und rasierte das geisterhafte Bild seiner selbst, das ihm aus dem Badezimmerspiegel entgegenblickte. Er war fertig angezogen und zum Gehen bereit, als sie sich gerade anschickte, ihr eigenes Frühstück, Eier und Saft, in der winzigen Küchenecke einzunehmen. Sie arbeitete abends; vormittags und nachmittags hatte sie frei. Ein winziges Videogerät auf dem Küchentresen strahlte bei halber Lautstärke die aktuelle Folge einer unendlichen Vormittagsserie aus. Lucy erhob sich, um ihn zu umarmen. Ihr Kopf reichte ihm bis zum Brustbein. In der sanften Umarmung drückte sich die Erkenntnis aus, dass sie einander im Wesentlichen nichts bedeuteten, nicht mehr als eine nächtliche Laune, der man sich ohne Rücksicht auf Verluste hingab.

»Lass mich wissen, wie es gelaufen ist«, sagte sie. »Falls du mal wieder hier vorbeikommst.«

Höflich versprach er es ihr, aber er wusste, dass er hier nicht wieder vorbeikommen würde.


Er holte sein Gepäck im Marriott ab, wo Visions East ihm freundlicherweise, wenn auch ganz unnötig, ein Zimmer gebucht hatte, und traf im Foyer mit Elaine Coster und Sebastian Vogel zusammen.

»Sie sind spät dran«, bemerkte Elaine.

Er blickte auf die Uhr. »Nicht sehr.«

»Würde es Sie umbringen, ab und zu mal pünktlich zu sein?«

»Pünktlichkeit ist der Dieb der Zeit, Elaine.«

»Wer sagt das?«

»Oscar Wilde.«

»Na toll, das nenne ich ein Vorbild.«

Elaine war neunundvierzig und bot eine tadellose Erscheinung in ihrer Safarikleidung, dem an die Brusttasche gehefteten Imager und dem Notebook-Mikrofon, das wie eine widerspenstige Haarsträhne vom linken Bügel ihrer mit Zirkonium bedampften Sonnenbrille baumelte. Ihr Gesichtsausdruck war ernst. Elaine war eine erfahrene Wissenschaftsjournalistin, fast zwanzig Jahre älter als Chris und überaus angesehen auf einem Gebiet, auf dem man ihm selbst seit einiger Zeit mit einer gewissen Geringschätzung begegnete. Er mochte Elaine, und ihre Arbeit war erstklassig, daher sah er ihr ihre Neigung nach, mit ihm auf eine Art zu sprechen, als sei sie seine Grundschullehrerin und er das Kind, das ihr ein Furzkissen auf den Stuhl gelegt hat.

Sebastian Vogel, das dritte Mitglied der Expeditionstruppe von Visions East, stand schweigend ein paar Schritte abseits. Sebastian war im Grunde gar kein Journalist, sondern ein emeritierter Theologieprofessor von der Wesleyan University, der eins jener Bücher verfasst hatte, die aus unerklärlichen Gründen zu Bestsellern werden — Gott & das Quantenvakuum lautete der Titel, und es war dieses Et-Zeichen anstelle des konventionellen »und«, das, so Chris' Vermutung, der Sache den nötigen schicken Anstrich, das modisch elliptische Element, verliehen hatte. Die Zeitschrift versprach sich von ihm einen spirituellen Blick auf die Neue Astronomie, als Ergänzung zu Elaines strenger Wissenschaftlichkeit und Chris' Zuständigkeit fürs sogenannte »Menschliche«. Mochte Sebastian auf seine Weise brillant sein, so war er doch auch ein ausgesprochen stiller Vertreter. Er trug einen Bart, der den Mund verdeckte, was Chris sinnbildlich erschien: Die Worte, die aus diesem Mund den Weg in die Welt fanden, waren ziemlich rar und im Allgemeinen schwer zu interpretieren.

»Der Transporter«, sagte Elaine, »wartet schon seit zehn Minuten.«

Den Transporter aus Blind Lake meinte sie, am Steuer ein junger Funktionsträger des Energieministeriums, der einen Ellbogen aus dem offenen Fenster streckte und einen Ausdruck von Rastlosigkeit im Gesicht hatte. Chris nickte, warf sein Gepäck hinten in den Wagen und sich selbst auf einen Sitz hinter Elaine und Sebastian.

Es war erst früher Nachmittag, kurz nach eins, dennoch fühlte er sich von einer Welle der Erschöpfung überrollt. Es musste etwas mit dem Septembersonnenlicht zu tun haben — oder mit den Exzessen der vergangenen Nacht. (Das Kokain hatte er zwar bezahlt, aber es war Lacys Idee gewesen, nicht seine. Er hatte ein paar Linien mitgezogen, einfach aus Gründen der Geselligkeit — mehr als genug, um den Rausch bis zum Morgengrauen auszudehnen.) Er schloss kurz die Augen, verwehrte sich aber die Annehmlichkeit des Schlafes. Er wollte ein wenig von Constance bei Tageslicht sehen. Sie waren gestern spät eingetroffen, und er hatte von der Stadt nicht mehr mitbekommen als den Denny's und später eine Bar, wo die Hausband alles spielte, was die Besucher sich wünschten. Und zuletzt Lacys Wohnung.

Der Ort hatte viel Mühe darauf verwendet, sich als Touristenattraktion neu zu erfinden. So bekannt das Blind-Lake-Gelände auch geworden sein mochte, für Gelegenheitsbesucher war es nicht zugänglich. Die Neugierigen mussten sich mit diesem alten Getreidesilo plus Bahnhof, nämlich Constance, begnügen, das als Stützpunkt für die nicht in Blind Lake wohnenden zivilen Angestellten diente und dessen neues Marriott wie das noch neuere Hilton gelegentlich Schauplatz von Wissenschaftskongressen oder Pressekonferenzen war.

Die Hauptstraße stand ganz im Zeichen des Blind-Lake-Motivs und bewies dabei mehr Begeisterung als Geschmack. Die zweigeschossigen Geschäftsgebäude schienen aus der Mitte des letzten Jahrhunderts zu stammen, waren aus gelbem, aus dem Flussbettlehm der Umgebung gepresstem Backstein gemauert und hätten vielleicht ganz ansehnlich sein können, wären sie nicht so aufdringlich und umfassend mit Reklametafeln eingedeckt gewesen. Das »Hummer«-Motiv war allgegenwärtig — zwangsläufig. Hummer-Plüschtiere, holografische Hummer-Fensterauslagen, Hummer-Poster, Hummer-Servietten, Gartenhummer aus Keramik …

Elaine folgte seinem Blick und erriet seine Gedanken. »Sie hätten im Marriott zu Abend essen sollen«, sagte sie. »Hummercremesuppe, verdammt noch mal.«

Er zuckte die Achseln. »Die Leute versuchen nur, ein bisschen Kohle zu machen, um ihre Familien zu ernähren.«

»Indem sie von der Unwissenheit profitieren. Im Grunde kapiere ich diese ganze Hummergeschichte nicht. Die sehen doch überhaupt nicht wie Hummer aus. Sie haben kein Ektoskelett und sie haben weiß Gott kein Meer, in dem sie herumschwimmen können.«

»Irgendwie muss man sie doch nennen.«

»Vielleicht muss man sie irgendwie nennen, aber muss man sie deswegen gleich auf Krawatten drucken?«

Das Projekt Blind Lake war umfassend vulgarisiert worden, das ließ sich nicht bestreiten. Was aber, wie Chris glaubte, Elaine vor allem störte, war der Verdacht, dass irgendwo auf einem der nähergelegenen Sterne ein umgekehrter Vorgang stattfinden mochte. Plastikkarikaturen von Menschenwesen, ausgestellt hinter verglasten Fenstern unter einer fremden Sonne. Ihr eigenes Gesicht vielleicht als Aufdruck auf einem Souvenirbecher, aus dem unvorstellbare Geschöpfe geheimnisvolle Flüssigkeiten schlürften.

Der Transporter war ein staubbedecktes blaues Elektrofahrzeug, das man ihnen aus Blind Lake geschickt hatte. Der Fahrer schien nicht sehr gesprächig, mochte aber die Ohren spitzen, um ihre »Einstellung« abzuschätzen — geheime Ermittlungen des PR-Büros. Die Unterhaltung untereinander war daher problematisch. Schweigend rollten sie auf der Interstate aus der Stadt heraus und bogen auf eine zweispurige Straße. Schon war klar, trotz des Mangels an eindeutigen Markierungen, abgesehen von Schildern wie PRIVATWEG — BESITZ DER US-REGIERUNG oder ENERGIEMINISTERIUM, dass sie sich auf nichtöffentlichem Gelände befanden. Jedes nicht registrierte Fahrzeug wäre am ersten (versteckten) Viertelmeilen-Kontrollpunkt angehalten worden. Die Straße stand unter ständiger Überwachung, visuell und elektronisch. Er rief sich einen Spruch von Lacy in Erinnerung: Am Lake haben sogar die Präriehunde einen Passierschein.

Chris drehte den Kopf zum Fenster und beobachtete die vorbeiziehende Landschaft. Brach liegende Äcker wichen offenem Grasland und hügeligen Wiesen mit vereinzelten wilden Blumen. Trockenes Land, aber keine Wüste. Vergangene Nacht war ein Gewitter über die Stadt hinweggezogen, während Chris Unterschlupf in Lacys Wohnung gesucht hatte. Regen hatte das Öl von den Straßen geschwemmt, die Gullys mit durchnässtem Zeitungspapier und faulendem Unkraut gefüllt und auf der Prärie ein spätes Aufblühen von Farben provoziert.

Vor einigen Jahren war durch Blitzschlag ein Buschfeuer entfacht worden, das sich Blind Lake bis auf einen halben Kilometer genähert hatte. Feuerwehren aus Montana, Idaho, Alberta waren angerückt. In den Nachrichten hatte das alles sehr fotogen gewirkt — und ein Schlaglicht auf die Fragilität der noch jungen Neuen Astronomie geworfen —, aber ernste Gefahr für die Einrichtungen hatte zu keinem Zeitpunkt bestanden. Es war nur wieder einmal so ein Beispiel dafür, hatten die Wissenschaftler in Crossbank gemurrt, wie Blind Lake sich in die Schlagzeilen drängte. Blind Lake war Crossbanks glamouröse jüngere Schwester, Anwandlungen von Eitelkeit keineswegs abgeneigt, hypnotisiert von den Paparazzi …

Doch jede Spur des Feuers war durch zwei Sommer und zwei Winter ausgelöscht worden, durch wildes Gras, wilde Brennnesseln und jene kleinen blauen Blumen, deren Namen Chris nicht kannte, und durch die beneidenswerte Gabe der Natur, rasch zu vergessen.


Sie hatten in Crossbank begonnen, weil sie Crossbank für unproblematischer hielten. Die Installation in Crossbank war auf eine biologisch aktive Welt ausgerichtet, die um HR8832 kreiste — der zweite Planet von der betreffenden Sonne aus gesehen, je nachdem, wie man den Ring von Planetesimalen zuordnete, deren Bahnen eine halbe Astronomische Einheit entfernt um das Zentralgestirn verliefen. Es handelte sich um einen felsigen Planeten mit Eisenkern, dessen Masse 1,4-mal so groß wie die der Erde und dessen Atmosphäre relativ reich an Sauerstoff und Stickstoff war. Beide Pole waren eisige Agglutinationen von Wassereis bei Temperaturen, die gelegentlich ausreichten, um CO2 auszufrieren, aber die Äquatorialregionen waren warme, flache Meere über Kontinentalplatten, reich an allerlei Lebensformen.

Diese Lebensformen allerdings waren alles andere als glamourös. Sie waren vielzellig, aber rein photosynthetisch — die Evolution auf HR8832/B schien es versäumt zu haben, die Mitochondrien zu erfinden, die Voraussetzung für tierisches Leben sind. Womit nicht gesagt sein soll, dass die Landschaft nicht oftmals geradezu spektakulär gewesen wäre, zumal die riesigen, stromatolitenartigen Kolonien photosynthetischer Bakterien, die sich, häufig zwei- bis dreigeschossig, aus den grünen Matten an der Meeresoberfläche erhoben; oder die fünffache Symmetrie der sogenannten Korallensterne, die, im Meeresboden verankert, halb in, halb auf dem offenen Wasser trieben.

Es war eine außerordentlich schöne Welt und sie hatte damals große Aufmerksamkeit in der breiten Öffentlichkeit erregt, als Crossbank noch die einzige Anlage dieser Art war. Die Äquatorialmeere spendeten atemberaubende Sonnenuntergänge, im Durchschnitt alle 47,4 terrestrischen Stunden, oft mit Stratokumuluswolken, die sich gewaltig viel höher auftürmten, als man es von der Erde kannte, Wolkenschlösser wie aus einer viktorianischen Fahrradreklame. Zeitangepasste Vierundzwanzig-Stunden-Videoschleifen der äquatorialen Meereslandschaft waren einige Jahre lang sehr beliebt gewesen als künstliche Fensteraussicht.

Eine schöne Welt, die obendrein reichhaltige Erkenntnisse über die planetarische und biologische Evolution befördert hatte. Auch jetzt noch produzierte sie außerordentlich nützliche Daten, aber sie war statisch. Es bewegte sich nicht viel auf der zweiten Welt von HR8832, nur der Wind, das Wasser und der Regen.

Am Ende war sie als »der Planet, wo nie etwas passiert«, bezeichnet worden, nach der Formulierung eines Kolumnisten der Chicago Tribune, der die ganze Neue Astronomie nur für ein weiteres aus Bundesmitteln finanziertes, tendenziell bodenloses Fass für kurzfristig interessantes, aber im Grunde nutzloses Wissen erachtete. Crossbank hatte gelernt, Journalisten mit Misstrauen zu begegnen. Visions East hatte lange verhandeln müssen, um Chris, Elaine und Sebastian für eine Woche Zutritt zu verschaffen. Es gab keine Garantie auf Kooperation, und wahrscheinlich war es nur Elaines Ruf als seriöse Wissenschaftsjournalistin, der die PR-Abteilung am Ende überzeugt hatte. (Oder vielleicht war es umgekehrt Chris' Ruf gewesen, der die Verhandlungen so erschwert hatte.)

Aber der Besuch in Crossbank war alles in allem ein Erfolg gewesen. Sowohl Elaine als auch Sebastian berichteten, sie hätten sehr gut arbeiten können.

Für Chris war es etwas problematischer gewesen. Der Leiter der Abteilung für Beobachtung und Interpretation hatte sich schlicht und einfach geweigert, ihn zu empfangen. Sein bestes Zitat stammte von dem Jungen aus der Cafeteria. Es könnte jederzeit zu Ende gehen. Und selbst dieser Junge hatte sich schließlich vorgebeugt, um Chris' Namensschild unter die Lupe zu nehmen, und dann gesagt: »Sind Sie nicht der Typ, der dieses Buch geschrieben hat?«

Chris hatte gestanden, dass er in der Tat der Typ sei, der jenes Buch geschrieben hatte.

Daraufhin hatte der Junge nur genickt, war aufgestanden und hatte sein erst halb aufgegessenes Mittagessen ohne ein weiteres Wort zum Geschirrregal getragen.


Zwei Aufklärungsflugzeuge flogen in den folgenden zehn Minuten über sie hinweg und der Allpass-Transponder am Armaturenbrett des Transporters begann wie spastisch zu blinken. Sie hatten bereits eine ganze Reihe von Kontrollpunkten passiert, schon lange bevor sie den Stahldraht-und-Stachelbandzaun, der sich in beide Richtungen in die Prärie hineinschlängelte, und das Wachhäuschen aus Stahl und Schlackenstein erreichten, aus dem jetzt ein Uniformierter trat und sie aufforderte, anzuhalten.

Der Wachmann inspizierte den Ausweis des Fahrers, dann Elaines und Sebastians, schließlich Chris'. Er sprach kurz in sein Headset-Mikrofon, rüstete die drei Journalisten mit Zugangsabzeichen zum Anstecken aus und winkte sie durch das Tor.

Und dann waren sie drinnen, so unkompliziert, wenn man von den wochenlangen Verhandlungen zwischen der Zeitschrift und dem Energieministerium absah.

Vorerst sah man nichts als eine sanft hügelige Grasfläche, völlig gleichartig der zuvor durchquerten, nur getrennt durch Maschendrahtzaun und Stacheldraht. Aber es war ein Übergang in nicht nur bildlichem Sinne; es lag in ihm, wenigstens für Chris, etwas entschieden Zeremonielles. Dies war Blind Lake — praktisch ein anderer Planet.

Er blickte zurück, als der Transporter Geschwindigkeit aufnahm, sah, wie das Tor mit einer, wie er sich — viel später — erinnern sollte, schrecklichen Endgültigkeit zuglitt.

Zwei

Es gab tatsächlich einen See in Blind Lake, hatte Tessa Hauser gelernt. Sie dachte darüber nach, während sie, ihrem langen Schatten auf dem strahlend weißen Gehsteig folgend, von der Schule nach Hause ging.

Blind Lake — der See, nicht die Stadt — war ein schlammiger Sumpf zwischen zwei kleinen Hügeln, voll mit Teichkolben, wilden Fröschen und beißfreudigen Schildkröten, Reihern, kanadischen Gänsen und stehendem grünem Wasser. Mr. Fleischer hatte der Klasse davon erzählt. Zwar wurde das Ganze als See bezeichnet, aber eigentlich war es ein Sumpfgebiet, uraltes, im steinigen, porösen Boden gefangenes Wasser.

Blind Lake, der See, war also in Wirklichkeit gar kein See. Für Tess lag darin eine gewisse Logik, denn Blind Lake, die Stadt, war eigentlich in Wirklichkeit auch keine Stadt. Es war ein nationales Laboratorium, vom Energieministerium in Gänze auf die grüne Wiese gebaut, wie eine Filmkulisse. Das war der Grund, warum die Häuser, die Geschäfte und die Bürogebäude so spärlich gesät und so neu waren und warum sie so abrupt anfingen und auch wieder aufhörten in dieser weiten und leeren Landschaft.

Tess ging ganz für sich. Sie war elf Jahre alt und hatte noch keine Freunde an der Schule gefunden; aber da war ein Mädchen namens Edie Jerundt (von den anderen Kindern Edie Grunt genannt), das ab und zu mal mit ihr redete. Aber Edies Nachhauseweg ging in die andere Richtung, zur Einkaufsstraße und den Verwaltungsgebäuden hin, während Tessas Orientierungspunkt die hohen, weit im Westen gelegenen Kühltürme von Eyeball Alley waren. Tess wohnte — jedenfalls, wenn sie bei ihrem Vater war, also jeweils eine Woche pro Monat — in einer Reihenhaussiedlung, deren pastellfarbene Einheiten aneinandergerückt standen wie Soldaten, die Haltung angenommen haben. Das Haus ihrer Mutter, obgleich in einer anderen Siedlung noch weiter im Westen gelegen, sah fast identisch aus.

Sie war zwanzig Minuten länger in der Schule geblieben, weil sie Mr. Fleischer geholfen hatte, die Tafeln abzuwischen. Mr. Fleischer, ein Mann mit weißbraunem Bart und kahlem Kopf, hatte ihr viele persönliche Fragen gestellt — was sie mache, wenn sie zu Hause sei, wie sie mit ihren Eltern auskomme, wie ihr die Schule gefalle. Tess hatte pflichtschuldig, doch ohne Begeisterung geantwortet, und nach einer Weile hatte Mr. Fleischer die Stirn gerunzelt und aufgehört zu fragen — was ihr nur recht war.

Gefiel ihr die Schule? Es war noch zu früh, um darüber etwas zu sagen. Sie hatte ja gerade erst angefangen. Das Wetter war noch warm, obwohl der Wind, der über den Gehsteig fegte und ihren Rock flattern ließ, schon einen Hauch von Herbst mit sich trug. Über die Schule, so Tessas Ansicht, konnte man frühestens zu Halloween Näheres sagen, und bis Halloween war es noch einige Wochen hin. Erst dann war ein Urteil möglich — egal, in welche Richtung.

Sie konnte noch nicht einmal sagen, ob ihr Blind Lake gefiel, die Stadt, die keine Stadt war, in der Nähe des Sees, der kein See war. Crossbank war in mancher Hinsicht besser gewesen. Mehr Bäume. Herbstfarben, und im Winter Schnee auf den Hügeln. Ihre Mutter hatte gesagt, dass es auch hier Schnee geben würde, und zwar reichlich, und vielleicht würde sie diesmal auch Freundinnen finden, mit denen sie rodeln gehen konnte. Aber die hiesigen Hügel schienen zu flach und zu wenig abschüssig, um vernünftig rodeln zu können. Bäume gab es auch nur wenige, meistenteils ganz junge, die rund um die Wissenschaftsgebäude und die Einkaufshalle angepflanzt worden waren. Als hätte man beim Wünschen nicht alles richtig gemacht, dachte Tessa. An einigen von ihnen, die auf den Rasenflächen der Stadthäuser standen, kam sie jetzt vorbei: Bäume, die so neu waren, dass sie in der Erde befestigt werden mussten, um Wurzeln zu schlagen.

Sie erreichte das kleine Haus ihres Vaters und sah, dass sein Auto nicht in der Auffahrt stand. Er war noch nicht zu Hause. Das war ungewöhnlich, kam aber hin und wieder vor. Tess schloss mit ihrem eigenen Schlüssel die Tür auf. Das Haus war gnadenlos aufgeräumt und die Möbel rochen noch immer neu, einladend zwar, aber auch irgendwie unvertraut. Sie ging zur schmalen blitzblanken Küche, holte Orangensaft aus dem Kühlschrank und goss sich ein Glas voll ein. Dabei spritzte ein wenig Saft über den Rand des Glases. Tessa dachte an ihren Vater, riss ein Stück Küchenpapier ab und wischte die geflieste Arbeitsplatte wieder sauber. Das zusammengeknüllte Beweisstück warf sie in den Mülleimer unter der Spüle.

Sie trug ihr Getränk zusammen mit einer Serviette ins Wohnzimmer, machte es sich auf dem Sofa bequem und flüsterte »Video«, um die Unterhaltungskonsole in Gang zu bringen. Aber auf sämtlichen Zeichentrickkanälen war nichts als Rauschen zu sehen. Das Haus hatte einige Sendungen von gestern für sie gespeichert, aber die waren alle langweilig — King Koala, Die unglaublichen Baxters — und sie hatte darauf jetzt keine Lust. Irgendwas musste mit dem Satelliten nicht in Ordnung sein, denn es war auch sonst nichts zu empfangen … nur die intern abrufbaren Bilder der heruntergeladenen Programme, Hummerhausen bei Nacht, das Subjekt bewegungslos und wahrscheinlich schlafend unter nackter elektrischer Beleuchtung.

Ihr Telefon summte tief im Schulranzen, der auf dem Boden zu ihren Füßen lag, und Tessa setzte sich abrupt auf. Ein Mundvoll Orangensaft geriet in den falschen Hals. Sie wühlte das Handy hervor und meldete sich heiser.

»Tessa, bist du das?«

Ihr Vater.

Sie nickte, was ziemlich sinnlos war, und sagte: »Ja.«

»Alles in Ordnung?«

Sie versicherte ihm, dass alles bestens sei. Papa wollte immer wissen, wie es ihr ging. An manchen Tagen fragte er mehr als einmal nach. In Tess' Ohren klang es immer wie: Was ist los mir dir? Stimmt was nicht? — und sie wusste nie eine Antwort darauf.

»Ich muss heute länger arbeiten«, sagte er. »Ich kann dich nicht zu Mama bringen. Du musst sie anrufen und dich von ihr abholen lassen.«

Heute war der Tag, an dem sie abends ins Haus ihrer Mutter überwechselte. Tess hatte in jedem der beiden Häuser ein Zimmer. Ein kleines ordentliches bei Papa, ein größeres chaotisches bei Mama. Sie würde ihre Schulsachen zusammenpacken müssen für den Umzug. »Kannst du sie nicht anrufen?«

»Es ist besser, wenn du das machst, Schätzchen.«

Sie nickte wieder. »Ist gut.«

»Liebe dich.«

»Dich auch.«

»Halt die Ohren steif.«

»Was?«

»Ich werde dich jeden Tag anrufen, Tess.«

»Okay.«

»Vergiss nicht, deine Mutter anzurufen.«

»Nein, mach ich.«

Pflichtschuldig und ohne vom leeren Bildschirm abgelenkt zu werden, verabschiedete sie sich, dann flüsterte sie »Mama« ins Telefon. Es folgte ein Zwischenspiel von Insektengeräuschen, dann meldete sich ihre Mutter.

»Papa sagt, dass du mich abholen musst.«

»Ach, sagt er das? Tja — wo bist du, bei ihm?«

Tess mochte den Klang der Stimme ihrer Mutter selbst am Telefon. Wenn man die Stimme ihres Vaters mit einem fernen Gewitter vergleichen konnte, dann die ihrer Mutter mit einem Sommerregen — beruhigend, sogar wenn sie traurig war.

»Er muss länger arbeiten.«

»Die Vereinbarung besagt, dass er dich bringen soll. Ich habe schließlich auch zu tun.«

»Ich kann ja zu Fuß gehen«, sagte Tessa, machte aber kein Hehl aus ihrer Enttäuschung. Sie würde mehr als eine halbe Stunde brauchen, zu Fuß zum Haus ihrer Mutter zu gehen, vorbei an dem Coffeeshop und den Jugendlichen, die sich dort immer trafen und die ihr neuerdings gern »Spasti« hinterherriefen, wegen der Art, wie sie den Kopf herumriss, um ihren Blicken auszuweichen.

»Nein«, sagte ihre Mutter. »Es wird schon spät … Sich nur zu, dass du deine Sachen alle beisammen hast. Ich werde in … na, etwa zwanzig Minuten da sein. Okay?«

»Okay.«

»Vielleicht nehmen wir uns unterwegs irgendwo etwas zu essen mit.«

»Super.«

Nachdem sie das Telefon wieder in ihren Schulranzen zurückgesteckt hatte, vergewisserte Tess sich, dass sie alle Sachen beisammen hatte, die sie mit zu Mama nehmen musste: ihre Hefte und Textbücher natürlich, aber auch ihre Lieblingsblusen und -hemden, ihren Plüschaffen, ihre Bibliothek zum Einstöpseln, ihr persönliches Nachtlicht. Das dauerte nicht lange. Rastlos stellte sie alles im Hausflur ab und ging durch die Hintertür hinaus, um sich den Sonnenuntergang anzusehen.

Das Schöne am Haus ihres Vaters war der Blick, den man vom Garten aus hatte. Es war keine spektakuläre Aussicht, keine Berge oder Täler oder ähnlich Dramatisches, aber man konnte sehr weit über unerschlossenes Weideland sehen, das sanft zur Straße nach Constance hin abfiel. Der Himmel wirkte unermesslich von hier aus, ohne jede Begrenzung, abgesehen von dem Zaun, der Blind Lake einfasste. Vögel nisteten in dem hohen Gras jenseits des säuberlich kurz gehaltenen Rasens und manchmal stiegen sie in Scharen in den riesigen leeren Himmel auf. Tess wusste nicht, was für Vögel das waren — sie konnte sie nicht benennen. Es waren sehr viele, klein und braun, und wenn sie die Flügel ausbreiteten, flogen sie wie Dartpfeile.

Die einzigen von Menschen gemachten Dinge, die Tess vom Garten ihres Vaters aus sehen konnte (wenn sie der mechanischen Reihe der angrenzenden Häuser den Rücken zuwandte), waren der Zaun, die Straße, die durch sanfte Hügellandschaft nach Constance führte, und das Wachhäuschen am Tor. Sie beobachtete einen Bus, der von Blind Lake wegfuhr, einer der Busse, der die Pendler in ihre weit entfernten Häuser brachte. In der einsetzenden Dämmerung verströmten seine Fenster warmes gelbes Licht.

Tess stand still da und schaute. Wenn ihr Vater dagewesen wäre, hätte er sie inzwischen hereingerufen. Tess wusste, dass sie manchmal zu lange auf Dinge starrte. Auf Wolken oder Hügel oder, wenn sie in der Schule war, durch das makellos saubere Fenster aufs Fußballfeld, wo die weißen Torpfosten mit ihren Schatten den Verlauf der Stunden markierten. Bis jemand sie in die reale Welt zurückrief. Aufwachen, Tessa! Pass auf! Als hätte sie geschlafen. Als hätte sie nicht aufgepasst.

In solchen Momenten, wenn der Wind das Gras bewegte und sich um sie wickelte wie eine riesige kühle Hand, empfand Tessa die Welt wie eine zusätzliche Anwesenheit, eine zweite Person, als hätten der Wind und das Gras eigene Stimmen, deren Worten sie lauschen konnte.

Der Bus mit den gelben Fenstern hielt beim fernen Wachhäuschen. Ein zweiter Bus kam hinter ihm herangefahren. Tess wartete, dass der Wachmann die Busse durchwinken würde. Fast tausend Leute arbeiteten tagsüber in Blind Lake — Büro- und Servicemitarbeiter sowie die Betreiber der Geschäfte — und die Busse wurden immer durchgewinkt.

Heute Abend jedoch hielten die Busse vor dem Tor und blieben stehen.

Tess, sagte der Wind. Woraufhin Tess an Mirror Girl denken musste und all den Ärger, den es in Crossbank um sie gegeben hatte …

»Tess!«

Sie zuckte unwillkürlich zusammen. Die Stimme kam aus der Wirklichkeit. Es war ihre Mutter.

»Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe …«

»Schon gut.« Tess drehte sich um und freute sich über den beruhigenden Anblick ihrer Mutter, die über den breiten, ordentlichen Rasen auf sie zukam.

Tessas Mutter war eine hochgewachsene Frau mit langen braunen Haaren, die um ihr Gesicht flatterten, und einem knöchellangen Kleid, mit dem der Wind neckisch spielte. Die untergehende Sonne tauchte alles in Rot: den Himmel, die in Reih und Glied stehenden Häuser, das Gesicht ihrer Mutter.

»Hast du deine Sachen?«

»An der Vordertür.«

Tessa sah, dass ihre Mutter einen Blick zur fernen Straße warf. Ein weiterer Bus hatte hinter den ersten beiden angehalten, und jetzt standen sie alle drei vor dem Tor und rührten sich nicht.

Tessa sagte: »Stimmt irgendwas nicht mit dem Zaun?«

»Ich weiß nicht. Es ist bestimmt nichts weiter.« Doch sie runzelte die Stirn und verharrte beobachtend noch für einen Moment. Dann nahm sie Tessa bei der Hand. »Dann wollen wir mal nach Hause fahren, okay?«

Tessa nickte, plötzlich begierig nach der Wärme des Hauses ihrer Mutter, nach dem Geruch frisch gewaschener Wäsche und des Essens aus dem Imbiss, nach der tröstlichen Behaglichkeit kleiner geschlossener Räume.

Drei

Der Campus des National Laboratory von Blind Lake, seine Wissenschafts- und Verwaltungstrakte, die Vorrats- und Verkaufsstellen, waren auf dem sanften, kaum wahrnehmbaren Hang einer alten Gletschermoräne errichtet worden. Aus der Luft ähnelte das Ganze einer normalen neuen vorstädtischen Ansiedlung, ungewöhnlich nur in seiner räumlichen Abgeschiedenheit, verbunden mit der Umwelt lediglich durch eine einzige zweispurige Straße. In seiner Mitte, gleich neben einer teilweise umbauten Reihe von Geschäften, die als der »Mallway« bezeichnet wurde, befand sich ein elliptischer Ring von zehngeschossigen Betongebäuden — Hubble Plaza. Hier wurde die Interpretationsarbeit der Blind-Lake-Einrichtung durchgeführt. Die Plaza, mit ihren schmalen Wappenfenstern und dem umzäunten, grasbewachsenen Park, war das Gehirn der Anlage. Das schlagende Herz lag eine Meile östlich von der bewohnten Stadt, in einem unterirdischen Bau, über dem sich zwei gewaltige Kühltürme in die kalte Herbstluft erhoben.

Offiziell war dieses Gebäude das Computerzentrum von Blind Lake, aber gemeinhin wurde es Eyeball Alley oder Alley oder auch schlicht das Auge genannt.

Charlie Grogan arbeitete als Chefingenieur in der Alley, seit sie vor fünf Jahren hochgefahren worden war. An diesem Abend machte er Überstunden, sofern man es als »Überstunden machen« bezeichnen kann, wenn jemand gewohnheitsmäßig noch am Arbeitsplatz bleibt, auch wenn die Tagschicht schon längst nach Hause gegangen ist. Es gab natürlich auch eine Nachtschicht und eine zuständige Aufsicht führende Ingenieurin (Anne Costigan, deren Fähigkeiten er zu respektieren gelernt hatte). Aber eben diese Entlastung von seiner offiziellen Wachsamkeit war es, die ihm die Arbeit nach Feierabend so teuer machte. Er konnte sich dem Papierkram widmen, ohne Unterbrechungen befürchten zu müssen. Besser noch, er konnte nach unten in die Hardware-Räume oder die O/BEK-Galerie gehen und sich in nichtoffizieller Funktion der Praktikertruppe zugesellen. Er fühlte sich einfach wohl im Betrieb.

An diesem Abend war er endlich dazu gekommen, ein bestimmtes Antragsformular auszufüllen, und nun wies er seinen Server an, es am nächsten Morgen abzuschicken. Er blickte auf seine Armbanduhr. Zehn vor neun. Bei den Jungs im Magazin war jetzt eine kleine Pause fällig. Nur mal kurz vorbeischauen, schwor sich Charlie. Dann nach Hause, um Boomer, seinen schon betagten Hund, zu füttern, und anschließend vor dem Zubettgehen vielleicht noch ein paar Downloads zu gucken. Der ewige Kreislauf.

Er verließ sein Büro und führ mit dem Fahrstuhl zwei Ebenen tief unter die Erde. Die Alley war abends ruhig. Niemand begegnete ihm auf den meeresgrünen unterirdischen Fluren. Zu hören waren nur seine Schritte und das Piepen des Transponders in seinem Ausweisschild, als er in die gesperrte Zone überwechselte. Spiegeltüren erinnerten ihn in unangenehmer Weise an sein Alter — im letzten Januar war er achtundvierzig geworden —, führten ihm die schleichende Krümmung seines Rückgrats und den über den Gürtel quellenden Bauch vor Augen. Ein grauer Haarkranz hob sich von seiner dunklen Haut ab. Sein Vater war ein hellhäutiger Engländer gewesen, vor zwanzig Jahren vom Krebs hinweggerafft; seine Mutter, eine sudanesische Immigrantin und Sufischülerin, hatte ihn nicht einmal um ein Jahr überlebt. Mehr als je zuvor ähnelte Charlie heutzutage seinem Vater.

Er machte einen Umweg durch die O/BEK-Galerie — wenn es auch, ähnlich wie im Fall der »Überstunden«, wahrscheinlich nicht korrekt war, von einem »Umweg« zu sprechen, denn dies war eine der festen Stationen seines gewohnheitsmäßigen abendlichen Spaziergangs.

Die Galerie war aufgebaut wie ein OP-Hörsaal ohne Studentenbänke: eine ringförmige, geflieste Halle, im inneren Kreis mit versiegelten Glasfenstern ausgestattet. Die Fenster blickten auf eine zwölf Meter tiefe runde Kammer. Auf dem Boden dieser Kammer, angeschlossen an Säulen mit supergekühlten Gasen und überwölbt von Batterien von Leuchtröhren und Überwachungsgeräten, standen die drei riesigen O/BEK-Zylinder. Im Innern jedes Röhrenzylinders befanden sich zahllose mikroskopisch dünne Halbleiterscheiben aus einer Gallium-Arsen-Verbindung, in Helium gebadet bei einer Temperatur von minus 233 Grad Celsius.

Charlie war Ingenieur, kein Physiker. Er konnte die Maschinen warten, die die Zylinder in Betrieb hielten, aber den grundlegenden Prozess, der dort am Wirken war, verstand er bestenfalls in Bruchstücken. Ein »Bose-Einstein-Kondensat« war ein hochgradig geordneter Materiezustand, und die BEKs schufen verschränkte Elektronen, die sogenannten »Exzitone«, und diese Exzitone wiederum fungierten als Quantentore, um einen absurd schnellen und empfindlichen Rechner zu bilden. Alles, was über diese Reader's Digest-Skizze hinausging, überließ er den sehr ernsthaften und im gesellschaftlichen Verkehr eher ungeschickten jungen Theoretikern und Examensstudenten, die durch die Eyeball Alley tourten, als handele es sich um einen Sommerferienort. Charlies Aufgabe war eher praktischer Natur: Er hielt alles am Laufen, kümmerte sich um die Kühlung, um das reibungslose Funktionieren der Zentraleinheit und beseitigte kleine Probleme, bevor sie zu großen Problemen anwachsen konnten.

An diesem Abend waren vier Wartungsleute in sterilen Schutzanzügen an den Installationen zugange, wahrscheinlich Stitch und Chavez und die neuen Hospitanten aus dem Labor in Berkeley. Mehr Leute als gewöhnlich … er fragte sich, ob Costigan irgendwelche außerplanmäßigen Arbeiten anberaumt hatte.

Er ging einmal um die Galerie herum, folgte dann einem anderen Flur, der am Festkörperphysiklabor vorbeiführte, zum Datenkontrollraum. Kaum war er eingetreten, wusste Charlie schon, dass irgendetwas los war.

Es gab keinen, der Pause machte. Die fünf Nachtingenieure waren alle auf ihren Posten, scrollten sich fieberhaft durch Systemprotokolle. Allein Chip McCullough blickte auf, als Charlie durch die Tür kam, und ein düsteres Kopfnicken war alles, was er ihm zur Begrüßung anbot. Und das alles nur wenige Stunden, nachdem seine Schicht offiziell zu Ende gegangen war.

Auch Anne Costigan war anwesend. Sie blickte von ihrem tragbaren Monitor auf und sah Charlie an der Tür stehen. Sie hob einen Finger in Richtung des nachgeordneten Aufsehers — einen Moment — und kam herbeigeschlendert. Das gefiel Charlie an Anne, diese Ökonomie der Bewegungen, jede Geste diente einem Zweck. »Herrgott, Charlie«, sagte sie, »gehen Sie denn nie schlafen?«

»Bin grad auf dem Weg nach Hause.«

»Quer durch den Betrieb?«

»Eigentlich wollte ich mit euch noch einen Kaffee trinken. Aber ihr seid anscheinend beschäftigt.«

»Wir hatten vor einer Stunde einen gewaltigen Ausschlag.«

»Stromausschlag?«

»Nein, einen Aktivitätsausschlag. Das Schaltbrett war hell erleuchtet, wenn Sie wissen, was ich meine. Als ob jemand dem Auge einen Schwung Amphetamine eingeflößt hätte.«

»So was kommt vor«, sagte Charlie. »Denken Sie an letzten Winter …«

»Das hier war ein bisschen ungewöhnlich. Es hat sich jetzt wieder beruhigt, aber wir machen trotzdem einen Systemcheck.«

»Wir produzieren immer noch Daten?«

»O ja, es ist nichts Schlimmes, nur ein Ausreißer, aber … Sie wissen schon.«

Er begriff. Das Auge und all seine miteinander verbundenen Systeme schwebten ständig an der Schwelle zum Chaos. Wie bei einem angeschirrten Tier war es nicht so sehr Wartung, was das Auge brauchte, sondern Pflege und Zuspruch. In seiner Komplexität und Unberechenbarkeit glich es beinahe einem lebendigen Wesen. Alle, denen das klar war — und Anne gehörte dazu —, hatten gelernt, auch auf die kleinsten Dinge zu achten.

»Wollen Sie hierbleiben und ein bisschen helfen?«

Ja, wollte er, aber Anne brauchte seine Hilfe nicht, er würde nur im Weg stehen. Er sagte: »Ich habe einen Hund, der gefüttert werden muss.«

»Grüßen Sie Boomer von mir.« Es war deutlich, dass sie dringend wieder an die Arbeit wollte.

»Mach ich. Kann ich Ihnen noch irgendetwas besorgen?«

»Nein, es sei denn, Sie hätten ein Telefon für mich, das funktioniert. Abe ist mal wieder drüben an der Küste.« Abe war Annes Mann, ein Finanzberater; er schaffte es vielleicht alle drei Monate, nach Blind Lake zu kommen. Mit der Ehe stand es nicht zum Besten. »Lokale Gespräche sind kein Problem, aber aus irgendeinem Grund komme ich nicht nach L. A. durch.«

»Soll ich Ihnen meins leihen?«

»Ich glaube, das wird auch nichts nützen; ich habe schon Tommy Gupta seins ausprobiert, das hat auch nicht funktioniert. Muss irgendwas mit den Satelliten nicht in Ordnung sein.«

Merkwürdig, dachte Charlie, wie heute Abend alles ein bisschen aus dem Ruder gelaufen zu sein schien.


Zum fünften Mal innerhalb einer Stunde teilte Sue Sampel ihrem Chef mit, dass es ihr nicht gelungen sei, ihn mit dem Energieministerium in Washington zu verbinden. Jedesmal sah Ray sie an, als habe sie persönlich Mist gebaut.

Sie arbeitete schon viel länger als normal, und es schien, als würden alle anderen an der Hubble Plaza das auch tun. Irgendetwas war da los, aber Sue bekam nicht heraus, was das war. Sie war Ray Scutters leitende Assistentin, aber er hatte ihr (was typisch war) keinerlei Informationen zukommen lassen. Sie wusste nur, dass er mit D.C. sprechen wollte und dass die Telekommunikation nicht mitspielte.

Ganz offenkundig war es nicht Sues Schuld — sie wusste doch wohl, wie man eine Nummer eingab, um Gottes willen —, aber das hielt Ray nicht davon ab, sie jedesmal wütend anzustarren, wenn er nachfragte. Und Ray Scutter konnte verdammt wütend gucken. Große Augen mit Stecknadelpupillen, buschige Augenbrauen, der Spitzbart grau gesprenkelt … sie hatte mal gedacht, dass er ziemlich gut aussehen könnte, wenn nicht das fliehende Kinn und die leicht hängenden Wangen wären. Aber von diesem Gedanken war sie längst abgekommen. Wie hieß der Spruch noch mal? Schönheit kommt von innen. Was bei Ray von innen kam, war einfach nicht besonders schön.

Er drehte sich um und stapfte in sein Büro zurück. »Natürlich«, knurrte er über die Schulter, »wird das alles irgendwie auf mich zurückfallen.«

J3 dachte Sue voller Überdruss. Das war in den letzten Monaten, seit sie für Ray Scutter arbeitete, zu ihrem Mantra geworden. J3: Ja, ja, ja. Ray war von lauter Inkompetenten umzingelt. Ray wurde vom Forschungspersonal übergangen. Ray wurden bei jeder Gelegenheit Steine in den Weg gelegt. Ja, ja, ja.

Noch einmal, für alle Fälle, versuchte sie die Verbindung nach Washington herzustellen. Das Telefon ließ eine Fehlermeldung aufblinken: KEINE VERBINDUNG ZUM SERVER. Die gleiche Meldung kam für jede Telefon-, Video- oder Netzverbindung außerhalb der internen Blind-Lake-Schleife. Die einzige Verbindung, die funktioniert hatte, war die zu Rays Haus — hier in der Stadt — gewesen, ein Anruf für seine Tochter, um ihr mitzuteilen, dass es heute spät werden würde. Alles andere waren eingehende Anrufe gewesen: von der Sicherheit, dem Personal und der militärischen Kontaktstelle.

Wäre Sue nicht so müde gewesen, hätte sie sich vielleicht Sorgen gemacht. Aber wahrscheinlich war es nichts weiter. Im Moment hatte sie keinen anderen Wunsch, als nach Hause zu gehen und ihre Schuhe von sich zu werfen, ihr Abendessen in die Mikrowelle zu stellen und einen Joint zu rauchen.

Das Terminal summte erneut — laut Bildschirmanzeige ein Anruf von Ari Weingart von der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit. Sie nahm ab. »Ari«, sagte sie. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ist Ihr Chef da?«

»Anwesend, aber nicht scharf darauf, gestört zu werden. Ist es dringend?«

»Na ja, sozusagen. Ich hab hier drei Journalisten und weiß nicht, wohin mit ihnen.«

»Buchen Sie ihnen doch ein Motel.«

»Sehr komisch. Die haben eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Wochen.«

»Und das hat Ihnen niemand in den Kalender geschrieben?«

»Tun Sie nicht so begriffsstutzig, Sue. Offensichtlich müssten sie eigentlich in den Gästezimmern im Besuchszentrum untergebracht werden — aber die Personalabteilung hat alle Betten mit Tagesarbeitern belegt.«

»Tagesarbeitern?«

»Na ja! Weil die Busse nicht nach Constance rauskommen.«

»Die Busse kommen nicht raus?«

»Haben Sie die letzten paar Stunden in der Isolationszelle gesessen? Die Straße ist am Tor gesperrt. Kein Verkehr nach drinnen oder nach draußen. Totale Ausgangssperre.«

»Seit wann?«

»Ungefähr Sonnenuntergang.«

»Wie kommt das denn?«

»Wer weiß? Entweder eine glaubwürdige Bedrohung der Sicherheit oder wieder mal eine Übung. Man glaubt allgemein, dass sich die Sache bis morgen Früh klärt. Aber in der Zwischenzeit muss ich diese Leute irgendwo unterbringen.«

Ray Scutter würde, mit diesem Problem konfrontiert, nur gleich wieder auf hundertachtzig sein, jedenfalls mit Sicherheit nichts Hilfreiches zu seiner Lösung beitragen. Sue dachte nach. »Vielleicht könnten Sie bei der Standortverwaltung anrufen und fragen, ob sie die Sporthalle im Freizeitcenter aufmachen. Ein paar Klappbetten für die Nacht reinstellen. Wie wäre das?«

»Absolut genial, verdammt«, sagte Ari. »Hätte ich selber drauf kommen können.«

»Falls irgendeine Autorisierung nötig ist, berufen Sie sich auf mich.«

»Sie sind ein Schatz. Wünschte, ich könnte Sie Ray entreißen und für mich engagieren.«

Wünschte ich auch, dachte Sue.

Sue stand auf, streckte sich. Sie ging zum Fenster und schob die Vertikal-Jalousien auseinander. Hinter den Dächern der Angestelltenhäuser und der Dunkelheit des unbebauten Graslandes konnte sie gerade noch die Straße nach Constance ausmachen, dazu die Lichter der Notfallfahrzeuge und deren unheimliches Blinken am Südtor.


Marguerite Hauser dankte dem gütigen Schicksal, das sie in einem Reihenhaus (auch wenn es eins der kleineren, älteren war) auf der Nordostseite des Blind-Lake-Geländes untergebracht hatte, so weit wie möglich von ihrem Exmann Ray entfernt. Es lag etwas Beruhigendes in dieser zehnminütigen Heimfahrt mit Tess, eine Überbrückung von Raum, (ähnlich einer Zugbrücke über einem Burggraben.

Tess war während der Fahrt wie üblich still — vielleicht noch ein bisschen stiller als üblich. Als sie sich etwas zu essen aus dem Drive-thru in der Geschäftsstraße holten, zeigte Tess wenig Interesse am Speisenangebot. Zu Hause angelangt, trug Marguerite die Hähnchensandwiches, während Tess ihre Tasche nach drinnen schleppte, »Funktioniert die Videoanlage?«, fragte Tess teilnahmslos.

»Warum sollte sie nicht?«

»Bei Papa hat sie nicht funktioniert.«

»Probier es einfach aus. Ich hole inzwischen Teller für das Essen.«

Vor dem Videogerät zu essen war noch immer etwas Neues für Tess. Es war dies eine Gewohnheit, die Ray nicht zugelassen hatte. Ray hatte immer darauf bestanden, am Tisch zu essen: »Familienzeit«, unweigerlich beherrscht von Rays täglichem Beschwerdenkatalog. Da waren, ehrlich gesagt, sogar die Downloads als Gesellschaft vorzuziehen, dachte Marguerite. Vor allem die alten Filme. Tess mochte die schwarzweißen am liebsten; sie war fasziniert von den altertümlichen Automobilen und der merkwürdigen Kleidung. Sie ist xenophil veranlagt, dachte Marguerite. Kommt nach mir.

Doch Marguerites Videoanlage erwies sich als ebenso unbrauchbar, wie es offenbar Rays gewesen war, und so mussten sie sich mit dem begnügen, was der Speicher des Hauses zu bieten hatte. Sie entschieden sich für eine hundert Jahre alte Komödie mit Bob Hope, Detektiv mit kleinen Fehlern. Tess, die normalerweise lauter Fragen über das zwanzigste Jahrhundert und darüber, warum dort alles so seltsam aussah, gestellt hätte, pulte nur an ihrem Essen herum und starrte auf den Bildschirm.

Marguerite legte ihrer Tochter eine Hand auf die Stirn. »Wie fühlst du dich, Kleines?«

»Ich bin nicht krank.«

»Hast einfach nur keinen Hunger?«

»Glaub schon.« Tess rutschte näher, und Marguerite legte einen Arm um sie.

Nach dem Abendessen machte Marguerite sauber, bezog die Betten neu, half Tess, ihre Schulbücher zu sortieren. In einem Anfall von fehlinvestiertem Optimismus zappte Tess sich durch die Unterhaltungsprogrammlisten auf dem blauen Bildschirm, um sich dann den Bob-Hope-Film ein zweites Mal anzusehen und schließlich zu verkünden, dass sie ins Bett gehen wolle. Marguerite beaufsichtigte das Zähneputzen; als Tess dann im Bett lag, deckte sie sie zu. Marguerite gefiel das Zimmer ihrer Tochter, mit dem kleinen, nach Westen gehenden Fenster, dem rosa Deckbett mit Fransen, der wachsamen Brigade von Stofftieren auf der Kommode. Es erinnerte sie an ihr eigenes Zimmer in Ohio vor langer Zeit, abzüglich der gutgemeinten Bibelgeschichten für Kinder in mehreren Bänden, die ihr Vater in der vergeblichen Hoffnung angeschafft hatte, sie würden die Frömmigkeit in ihr wachrufen, die ihr offenkundig abging. Tessas Bücher waren von ihr selbst ausgewählt und tendierten in Richtung Fantasy oder Populärwissenschaft. »Möchtest du noch ein bisschen lesen?«

»Glaube nicht«, sagte Tessa.

»Hoffentlich fühlst du dich morgen Früh besser.«

»Mir geht's gut. Ehrlich.«

Marguerite blickte noch einmal zurück, als sie das Licht ausschaltete. Tessas Augen waren bereits geschlossen. Tess war elf, sah aber jünger aus. Sie hatte noch immer runde Wangen und ein Babyfettpolster unterm Kinn. Ihre Haare wurden zwar dunkler, zeigten sich aber noch in einem schmutzigen Blond. Marguerite vermutete, dass sich unter diesem Kindheitskokon allmählich eine junge Frau herausbildete, aber deren Züge waren noch unbestimmt, schwer vorherzusehen.

»Schlaf gut«, flüsterte Marguerite

Tess schmiegte sich in ihr Deckbett und bohrte den Kopf ins Kissen.

Marguerite machte die Tür zu. Sie ging durch den Flur zu ihrem Büro — einem umgerüsteten dritten Schlafzimmer —, entschlossen, vor Mitternacht noch ein bisschen von ihrer Arbeit zu erledigen. Jeder einzelne ihrer Abteilungsleiter hatte Videoabschnitte aus den vergangenen vierundzwanzig Stunden des Subjekts markiert, die sie überprüfen sollte. Marguerite dimmte das Licht herunter und rief die Berichte auf ihrem Wandbildschirm auf.

Bei Physiologie und Gebärden war man noch immer von den Lungenlamellen des Subjekts besessen. »Mögliche Lamellensignale bei sozialer Interaktion«, wurde im Zwischentitel verkündet. Es folgte ein Clip von dem Subjekt, in dem dieses im gedämpft grünen Licht eines Nahrungsschachtes stand und offenkundig mit einem anderen Individuum interagierte. Die Bauchlamellen des Subjekts, blasse, weißliche Schlitze zu beiden Seiten seiner Thoraxkammer, zitterten bei jedem Atemzug. Das war Standard, und Marguerite war nicht ganz klar, was ihr nach Ansicht von Physiologie hier auffallen sollte, bis ein neuer Textabschnitt heraufgescrollt kam. Die Lamellenfedern zeigen deutliche, einem komplexen Muster folgende vertikale Tastbewegungen während der interpersonalen Kommunikation. Ah. Ja, da sah man es auf dem vergrößernden zweiten Bildschirmausschnitt. Die Lamellenfedern waren winzige rosa Härchen, kaum zu erkennen, aber doch, ja, sie bewegten sich wie ein Weizenfeld im Wind. Zum Vergleich gab es eine Einblendung von der Atmung des Subjekts in einem nicht sozialen Umfeld. Die Lamellenfedern bogen sich bei jedem Atemzug nach innen, aber das vertikale Zittern blieb aus.

Unter Umständen sehr interessant, dachte Marguerite. Sie markierte den Bericht mit einem Dringlichkeitsvermerk, woraus folgte, dass Physiologie und Gebärden ihn zur weiteren Analyse an die Kompilatoren schicken konnte. Sie fügte noch einige eigene Notizen und Nachfragen hinzu (Konsistenz? Andere Kontexte?), dann schickte sie das Ganze zur Hubble Plaza zurück.

Von der Gruppe Kultur und Technologie gab es Screenshots der jüngsten Erzeugnisse, die das Subjekt auf den Wänden seiner Kammer hinterlassen hatte. Da war das Subjekt, zu voller Größe aufgerichtet, die gedrungenen Hebebeine durchgedrückt, während es einen beweglichen Arm und offenbar so etwas wie einen Buntstift benutzte, um der Symbolreihe, die die Wände des Raumes schmückte, ein weiteres Symbol (so es sich denn um ein Symbol handelte) hinzuzufügen. Dieses neueste war Teil einer Reihe von sechzehn größer werdenden Schneckengehäusewindungen, diesmal mit einem zusätzlichen Schnörkel abgeschlossen. Für Marguerite sah es aus wie etwas, das ein rastloses Kind an den Rand seines Schulhefts kritzeln mochte. Der naheliegende Schluss war, dass das Subjekt etwas schrieb, aber schon früh war festgestellt worden, dass die Striche, Linien, Kreise, Kreuze, Punkte etc. sich nie wiederholten. Sofern es Piktogramme waren, hatte das Subjekt noch nie ein und dasselbe Wort zweimal geschrieben; falls es Buchstaben waren, war es noch nicht dazu gekommen, sein Alphabet auszuschöpfen. Bedeutete das, dass es sich um Kunst handelte? Vielleicht. Dekoration? Möglich. Aber Kultur und Technologie war der Ansicht, dass diese letzte Reihe zumindest auf irgendeine Art von linguistischem Gehalt schließen ließ. Marguerite bezweifelte das und markierte diesen Bericht mit einer Dringlichkeitsstufe, die ihn gemeinsam mit einem Dutzend ähnlicher Dokumente auf dem Gutachterschreibtisch landen lassen würde.

Der Rest des aufzuarbeitenden Materials bestand aus Tätigkeitsberichten der Aktivkommissionen und einigen kurzen Segmenten, von denen das Landschaftsvermessungsteam glaubte, sie seien für sie interessant. Balkonblicke: die sich hinter dem Subjekt in einen pastellfarbenen Nachmittag erstreckende Stadt, sandsteinrot, eine Schicht auf der anderen, wie Gebilde aus gestapelten Torten. Sie speicherte diese Bilder, um sie sich später anzusehen.

Etwa um Mitternacht war sie fertig.

Sie schaltete ihre Bürowand ab und ging durchs Haus, um weitere Lichter auszuschalten, bis eine weiche Dunkelheit herrschte. Morgen war Samstag. Keine Schule für Tess. Marguerite hoffte, dass die Satellitenverbindung bis zum Morgen wieder stehen würde. Sie wollte nicht, dass Tess sich langweilen musste am ersten Tag, an dem sie wieder bei ihr im Hause war.

Es war eine klare Nacht. Der Herbst kam zeitig in diesem Jahr. Marguerite legte sich bei offenen Vorhängen zu Bett. Als sie im vergangenen Sommer eingezogen war, hatte sie ihr großes, nutzloses Doppelbett dicht ans Fenster gerückt. Sie betrachtete gerne die Sterne, bevor sie einschlief, aber Ray hatte immer darauf bestanden, die Vorhänge zu schließen. Jetzt konnte sie tun, was sie wollte. Das Licht des Halbmonds fiel über ein Riff aus Decken. Sie schloss die Augen und fühlte sich schwerelos, seufzte noch einmal und war auch schon eingeschlafen.

Vier

Ari Weingart, Blind Lakes PR-Mann, trug ein großes digitales Klemmbrett. Chris war ein bisschen besorgt deswegen. Er hatte keine guten Erfahrungen mit Leuten gemacht, die Klemmbretter benutzten.

Weingart war ganz offensichtlich in Schwierigkeiten. Er hatte Vogel, Elaine und Chris vor der Hubble Plaza in Empfang genommen und sie in sein kleines Büro mit Blick auf die zentrale Piazza geführt. Sie waren gerade dabei, einen vorläufigen Marschplan für die erste Woche zu entwickeln, als Weingart einen Anruf entgegennahm. Chris und seine Begleiter zogen sich in einen leeren Konferenzraum zurück, wo sie bis nach Sonnenuntergang saßen und warteten.

Als Weingart zurückkehrte, schleppte er noch immer dieses Klemmbrett mit sich herum. »Es haben sich Komplikationen ergeben«, sagte er.

Elaine Coster hatte, hinter einer Printausgabe der Current Events vom letzten Monat verschanzt, seit geraumer Zeit vor sich hin geköchelt. Jetzt legte sie die Zeitschrift beiseite und bedachte Weingart mit einem nachdrücklichen Blick. »Falls es Probleme mit dem Programm gibt, können wir das gerne morgen klären. Alles, was wir im Moment brauchen, ist ein Zimmer zum Auspacken und einen verlässlichen Server. Seit heute Nachmittag habe ich es nicht geschafft, eine Verbindung nach New York zu bekommen.«

»Nun ja, eben darin besteht ja das Problem. Die Anlage ist abgeriegelt. Wir haben ungefähr neunhundert Mitarbeiter, die außerhalb des Geländes wohnen, aber die kommen jetzt nicht raus, und ich fürchte, sie haben einen vorrangigen Anspruch auf die Gästezimmer. Die gute Nachricht ist …«

»Moment mal«, sagte Elaine. »Eine Abriegelung? Was soll das heißen?«

»Ich vermute, dieses Problem ist Ihnen in Crossbank nicht begegnet, aber es ist Teil der Sicherheitsbestimmungen. Falls irgendeine Drohung gegen die Anlage vorliegt, wird jeglicher Verkehr nach drinnen oder draußen unterbunden, bis die Sache geklärt ist.«

»Es hat eine Drohung gegeben?«

»Das nehme ich an. Ich werde von solchen Dingen nicht unterrichtet. Aber es ist sicherlich nichts Gravierendes.«

Wahrscheinlich hatte er recht, dachte Chris. Sowohl Crossbank als auch Blind Lake waren als Nationale Laboratorien ausgewiesen und unterlagen Sicherheitsrichtlinien, die noch aus der Zeit der Terrorkriege datierten. Selbst leere Drohungen wurden ganz furchtbar ernst genommen. Einer der Nachteile der großen Medienaufmerksamkeit, die Blind Lake genoss, bestand darin, dass es dadurch auch die Aufmerksamkeit eines breiten Spektrums von Irren und Ideologen erregt hatte.

»Können Sie uns etwas über die Natur der Drohung sagen?«

»Ehrlich, ich weiß selbst nichts Näheres. Aber es ist nicht das erste Mal, dass so etwas passiert. Wenn man der Erfahrung trauen kann, wird bis morgen Früh alles geklärt sein.«

Jetzt rührte sich auch Sebastian Vogel, nachdem er eine Stunde lang in einem sphinxartigen Ruhezustand auf seinem Stuhl verharrt hatte. »Und wo schlafen wir unterdessen?«, fragte er.

»Nun, wir haben — Feldbetten aufgestellt.«

»Feldbetten ?«

»In der Turnhalle im Freizeitcenter. Ich weiß, es ist eine Zumutung. Es tut mir auch furchtbar leid. Es ist aber das Beste, was wir so kurzfristig bereitstellen können. Wie gesagt, bis morgen Früh wird sicherlich alles geklärt sein.«

Weingart starrte stirnrunzelnd auf sein Klemmbrett, als könnte sich dort noch eine Rettung in letzter Sekunde abzeichnen. Elaine schien drauf und dran, aus der Haut zu fahren, doch Chris kam ihr zuvor: »Wir sind Journalisten. Bestimmt haben wir alle schon mal unter ungemütlichen Umständen übernachtet.« Na ja, Vogel vielleicht nicht. »Nicht wahr, Elaine?«

Weingart sah sie hoffnungsvoll an.

Sie schluckte hinunter, was sie hatte sagen wollen. »Ich habe schon mal in einem Zelt auf dem Gobi-Plateau kampiert. Ich nehme an, dass ich auch in einer Scheiß-Turnhalle schlafen kann.«


Reihen von Feldbetten standen in der Sporthalle, einige davon bereits von heimatlosen Tagesarbeitern belegt, die keinen Platz mehr in den Gästehäusern gefunden hatten. Chris, Elaine und Vogel suchten sich drei Betten unter dem Basketballkorb aus und beanspruchten sie als die ihren, indem sie ihr Gepäck darauf ablegten. Die bereitgestellten Kissen sahen aus wie Marshmallows, denen man die Luft abgelassen hatte. Die Decken stammten aus den Beständen des Roten Kreuzes.

Vogel sagte zu Elaine: »Gobi-Plateau?«

»Als ich meine Biografie über Roy Chapman Andrews geschrieben habe. In den Fußstapfen der Zeit. Paläobiologie einst und jetzt. Zugegeben, damals war ich fünfundzwanzig. Haben Sie schon mal in einem Zelt übernachtet, Sebastian?«

Vogel war sechzig Jahre alt. Vom hektischen Rot seiner Wangen abgesehen, war er ein blasser Typ, und er trug unförmige Pullover, um die unangenehme Überdimensioniertheit seines Bauches und der Hüften zu kaschieren. Elaine mochte ihn nicht — er sei ein Parvenü, hatte sie Chris anvertraut, ein Schwindler, ein Scheiß-Spiritualist praktisch — und mit seiner unbeirrbaren Höflichkeit hatte Vogel diese Sünde nur noch verschärft. »Algonquin Park«, sagte er. »Kanada. Eine Campingreise. Liegt natürlich schon Jahrzehnte zurück.«

»Und sie diente der Gottsuche?«

»Es war eine gemischtgeschlechtliche Gruppe. Soweit ich mich erinnere, war ich darauf aus, zu vögeln.«

»Was waren Sie damals, Theologiestudent?«

»Wir haben keine Keuschheitsgelübde abgelegt, Elaine.«

»Missbilligt Gott nicht derartige Dinge?«

»Was für Dinge? Geschlechtsverkehr? Nicht, soweit ich ermitteln konnte, nein. Sie sollten mein Buch lesen.«

»Das hab ich ja.« Und zu Chris gewandt: »Sie auch?«

»Noch nicht.«

»Sebastian ist ein altmodischer Mystiker. Gott wohnt in allen Dingen.«

»In einigen mehr als in anderen«, sagte Sebastian, eine Bemerkung, die Chris unergründlich, aber auch typisch für Sebastian fand.

»So faszinierend das alles ist«, sagte Chris, »denke ich doch, dass wir uns langsam mal ums Abendessen kümmern sollten. Der PR-Typ meinte, es gebe einen Laden im Einkaufszentrum, der bis Mitternacht geöffnet hat.«

»Ich bin dabei«, sagte Elaine, »unter der Bedingung, dass Sie die Kellnerin nicht abschleppen.«

»Ich hab keinen Hunger«, sagte Vogel. »Gehen Sie ruhig ohne mich. Ich pass auf das Gepäck auf.«

»Schnell, heiliger Franziskus«, sagte Elaine, indem sie in ihre Jacke schlüpfte.


Chris kannte Elaines Biografie über Roy Chapman Andrews. Er hatte sie im ersten Jahr seines Studiums gelesen. Seinerzeit war sie eine aufstrebende Wissenschaftsjournalistin gewesen, stand in der näheren Auswahl für den AAAS Westinghouse Award und zeichnete einen Karriereweg vor, dem er eines Tages folgen zu können hoffte.

Chris' bisher einziges Buch war ebenfalls eine Art Biografie gewesen. Das Positive an Elaine war, dass sie kein großes Trara um die stürmische Geschichte des Buches gemacht hatte und nichts dagegen zu haben schien, mit ihm zusammenzuarbeiten. Erstaunlich, dachte er, womit man sich abzufinden lernt.

Das Restaurant, das Ari Weingart empfohlen hatte, lag versteckt zwischen einem Interface-Laden und einem Geschäft für Bürobedarf im Freiluftabschnitt des Einkaufszentrums. Die meisten dieser Geschäfte waren jetzt am Abend geschlossen, und so hatte die kleine Mall etwas Verlassenes und Ungemütliches in der kühlen Herbstluft. Hingegen war der Diner, der zur Kette »Sawyer's Steak & Seafood« gehörte, gut besucht. Es war voll und laut. Sie sicherten sich schnell einen Vinoplasttisch neben dem breiten Fenster, das aufs Einkaufszentrum hinausging. Die Ausstattung konzentrierte sich auf Chrom, Pastellfarben und Topfpflanzen, spätes zwanzigstes Jahrhundert, die fadenscheinige Beteuerung einer gefälschten Altertümlichkeit. Die Speisekarten hatten die Form eines T-Bone.

Chris fühlte sich dankenswert anonym.

»Mein Gott«, sagte Elaine. »Dunkelstes Vorstadtmilieu.«

»Was wollen Sie bestellen?«

»Tja, mal sehen. Das ganztägige Frühstück? Die Fleischklöße wie bei Muttern?«

Ein Kellner trat an den Tisch und hatte noch mitgehört, wie sie das Angebot im Tonfall beißender Ironie verlas. »Der Atlantiklachs ist gut«, sagte er.

»Gut wofür genau? Nein, ist schon gut. Der Lachs mag angehen. Chris?«

Verlegen bestellte er das Gleiche. Der Kellner entfernte sich achselzuckend.

»Sie können unglaublich snobistisch sein, Elaine.«

»Überlegen Sie, wo wir sind. An der vordersten Front der menschlichen Wissensproduktion. Hier steht man auf den Schultern von Kopernikus und Galileo. Und wo essen wir? In einer Fernfahrerkneipe mit Salatbar.«

Chris hatte noch nicht herausgefunden, wie Elaine ihr großes Interesse fürs Essen mit dem sorgsam in Schach gehaltenen Körperumfang einer Frau mittleren Alters in Einklang bringen konnte. Indem sie sich mit Qualität belohnte, war seine Vermutung. Auf Kosten der Quantität. Ein Balanceakt. Sie war eine Hochseilartistin der Taillenkontrolle.

»Ich meine, nun mal ehrlich«, sagte sie, »wer ist denn hier eigentlich ein Snob? Ich bin fünfzig Jahre alt, ich weiß, was ich mag, notfalls überlebe ich auch ein Fastfood-Restaurant oder ein Essen aus der Mikrowelle, aber muss ich deswegen so tun, als wäre der hausgemachte Apfelauflauf das Gleiche wie eine Crème brulée? Meine Jugend habe ich damit verbracht, miesen Kaffee aus Pappbechern zu trinken. Diese Phase habe ich inzwischen abgeschlossen.« Sie fügte hinzu: »Das werden Sie auch noch tun.«

»Danke für das Vertrauen.«

»Gestehen Sie. Crossbank war für Sie ein Reinfall.«

»Ich habe das eine oder andere nützliche Material gesammelt.« Oder jedenfalls ein totemartiges Zitat. Es könnte jederzeit zu Ende gehen. Ein Satz von geradezu baptistischer Pietät.

»Ich habe, was Sie betrifft, eine Theorie«, sagte Elaine.

»Vielleicht sollten wir einfach nur essen.«

»Nein, nein, ganz so leicht entkommen Sie dem unausstehlichen alten Drachen nicht.«

»Ich wollte nicht sagen, dass …«

»Seien Sie einfach still. Essen Sie schon mal einen Breadstick oder was. Ich hatte erwähnt, dass ich Sebastians Buch gelesen habe. Ihres habe ich auch gelesen.«

»Es klingt vielleicht kindisch, aber ich würde lieber nicht darüber reden.«

»Ich will weiter nichts sagen als: Es ist ein gutes Buch. Sie, Chris Carmody, haben ein gutes Buch geschrieben. Sie haben ordentlich recherchiert und Sie haben die notwendigen Schlüsse gezogen. Jetzt wollen Sie sich Vorwürfe machen, weil Sie nicht davor zurückgeschreckt sind?«

»Elaine …«

»Sie wollen Ihre Karriere wegwerfen, indem Sie vorgeben zu arbeiten, aber in Wirklichkeit nichts tun, Abgabetermine platzen lassen, Kellnerinnen mit dicken Titten vögeln und sich in den Schlaf saufen? Das können Sie natürlich tun, ohne Weiteres. Sie wären nicht der Erste. Bei weitem nicht. Selbstmitleid ist ein so faszinierendes Hobby.«

»Ein Mann ist gestorben, Elaine.«

»Sie haben ihn nicht getötet.«

»Darüber lässt sich streiten.«

»Nein, Chris, darüber lässt sich nicht streiten. Galliano ist entweder aus Versehen oder in einem bewussten Akt der Selbstzerstörung zu Tode gekommen. Vielleicht hat er seine Sünden bereut, vielleicht auch nicht, aber es waren jedenfalls seine Sünden, nicht Ihre.«

»Ich habe ihn bloßgestellt, der Lächerlichkeit preisgegeben.«

»Sie haben eine Arbeit bloßgestellt, die auf unverantwortliche Weise schlampig und dadurch eine Gefahr für unschuldige Menschen war. Zufällig war das Gallianos Arbeit, und zufällig ist Galliano mit seinem Motorrad in den Monongahela River gefahren, aber das war seine Sache, nicht Ihre. Sie haben ein gutes Buch geschrieben …«

»Herrgott, Elaine, wie dringend braucht die Welt noch mehr beschissene gute Bücher?«

… und ein wahres Buch, und Sie haben es aus einer Haltung der Empörung heraus geschrieben, die keineswegs fehl am Platze war.«

»Nett, dass Sie das sagen, aber …«

»Und die Sache ist die, dass Sie offenbar in Crossbank nichts Verwertbares aufgetan haben, und was mir jetzt Sorge macht, ist, dass Sie auch hier nichts kriegen werden, und dann machen Sie sich Vorwürfe deswegen und Sie werden nichts abliefern, um dieses Projekt der Selbstzerstörung, dem Sie sich verschrieben haben, noch ein bisschen wirkungsvoller zu gestalten. Und das ist so gottverdammt unprofessionell. Ich mein, Vogel ist ein echter Spinner, aber er wird immerhin Stoff liefern.«

Für einen Moment zog Chris die Möglichkeit in Betracht, einfach aufzustehen und das Restaurant zu verlassen. Er könnte in die Sporthalle zurückgehen und einige der gestrandeten Tagesarbeiter interviewen. Die würden jedenfalls mit ihm reden. Alles, was er von Elaine bekam, waren noch mehr Schuldgefühle, und davon hatte er schon ausreichend, besten Dank.

Der Lachs traf ein, schon erstarrend in verbrutzelter Butter.

»Was Sie jetzt tun müssen …« Sie machte eine Pause. Der Kellner schwenkte eine gewaltige Pfeffermühle über dem Tisch. »Nehmen Sie das weg, danke.«

Der Kellner trat die Flucht an.

»Worauf es jetzt für Sie ankommt, Chris, ist, dass Sie aufhören, so zu tun, als müssten Sie sich für irgendetwas schämen. Das Buch, das Sie geschrieben haben: Nutzen Sie es. Wenn Sie jemand anfeindet deswegen: Bieten Sie ihm die Stirn. Falls man Sie fürchtet wegen des Buches: Machen Sie sich die Furcht zunutze. Wenn man Ihnen die Zusammenarbeit verweigert, können Sie wenigstens eine Story darüber schreiben, wie man Ihnen die Zusammenarbeit verweigerte und was für ein Gefühl es war, wie ein Paria durch Blind Lake zu laufen. Aber setzen Sie diese Gelegenheit nicht in den Sand.« Sie beugte sich vor, sodass ihre Ärmel gefährlich dicht über der zerlassenen Butter baumelten. »Denn eins steht fest, Chris: Das hier ist Blind Lake. Der allgemeine Pöbel mag nur eine vage Ahnung von dem haben, was hier vorgeht, aber wir wissen es besser, nicht wahr? Dies ist der Ort, an dem die Lehrbücher umgeschrieben werden. Hier ist es, wo die menschliche Rasse ihren Platz im Universum zu definieren beginnt. Hier entscheidet sich, wer wir sind und was wir werden wollen.«

»Sie hören sich an wie eine Werbebroschüre.«

Sie lehnte sich wieder zurück. »Warum? Glauben Sie, ich bin zu alt und zu zynisch, um etwas wahrhaft Ehrfurchtgebietendes als solches wahrnehmen zu können?«

»Das meinte ich nicht. Ich …«

»Das war ein Moment der Aufrichtigkeit, in dem Sie mich da eben erwischt haben.«

»Elaine, ich bin einfach nur nicht in der Stimmung, mir Vorträge anzuhören.«

»Na ja, wissen Sie, was Ihre Stimmung angeht, habe ich mitbestimmt keine falschen Vorstellungen gemacht. Okay, Chris. Tun Sie, was Sie für richtig halten.« Sie deutete auf seinen Teller. »Essen Sie diesen armen misshandelten Fisch.«

»Ein Zelt«, sagte er. »Auf dem Gobi-Plateau.«

»Na ja, so eine Art Zelt. Eine aufblasbare Wohnung, aus Peking geschickt, über der Wüste abgeworfen. Aufladbare Brennstoffzellen, Heizung für die Nacht, alle Satellitenprogramme.«

»Wie bei Roy Chapman Andrews?«

»He«, sagte sie. »Ich bin Journalistin, kein Märtyrer.«

Fünf

Zu Marguerites Bestürzung und Tessas großer Enttäuschung tat der Video- und Downloadempfang übers Wochenende keinen Mucks. Auch war es weiterhin nicht möglich, eine Telefon- oder Netzverbindung über den Grenzzaun von Blind Lake hinaus zu erlangen.

Marguerite vermutete, dass dies eine neue Inkarnation der ausgefeilten Sicherheitsbestimmungen von Blind Lake war. In Crossbank, in der Zeit, als Marguerite dort arbeitete, hatte es mehrere solcher Abriegelungen gegeben. Die meisten hatten nur einige Stunden gedauert, doch bei einer Gelegenheit (ein nicht autorisierter Überflug, der sich schließlich als Malheur eines Privatpiloten erwies, dem sowohl die Navigationschips als auch die Transponder durchgebrannt waren) war es zu einem kleinen Skandal gekommen, und der Sicherungszaun war fast eine Woche lang vollkommen gesperrt gewesen.

Hier in Blind Lake bedeutete die Abriegelung, bisher jedenfalls, keine große Unannehmlichkeit für Marguerite. Sie hatte keine Pläne gemacht, irgendwo hinzufahren, und es gab niemanden in der Außenwelt, mit dem sie dringend sprechen musste. Ihr Vater lebte in Ohio und rief sie jeden Samstag an, aber er war mit dem Sicherheitsthema vertraut und würde sich keine unnötigen Sorgen machen, wenn er sie nicht erreichen konnte. Tess allerdings hatte Probleme damit. Nicht, dass Tess zu jenen Kindern gehört hätte, die nur noch vor dem Bildschirm lebten. Tess spielte gern draußen, allerdings meistens allein, und Blind Lake war einer der wenigen Orte auf der Welt, wo Kinder sich unbeaufsichtigt bewegen konnten, ohne dass man sich große Gedanken um Drogen oder Verbrechen machen musste. An diesem Wochenende jedoch spielte das Wetter nicht mit. Der kalte, klare Samstagvormittag mit viel Sonne wich gegen Mittag einer asphaltfarbenen Wolkenwand mit kurzen, aber heftigen Regenschauern. Der Oktober stieß bereits ins Winterhorn. Die Temperatur fiel auf zehn Grad Celsius, und Tessa wagte sich zwar einmal nach draußen — nur zur Garage, um eine nach dem Umzug noch nicht ausgepackte Kiste mit Puppen zu durchsuchen —, kehrte aber, fröstelnd unter ihrer Flanelljacke, schnell wieder ins Haus zurück.

Am Sonntag war es nicht anders, der Wind fegte an den Regenrinnen entlang und pfiff durch die Deckenbelüftung des Badezimmers. Marguerite fragte Tess, ob es irgendeine Schulkameradin gebe, mit der sie gern spielen würde. Tess war sich zunächst unschlüssig, nannte aber schließlich ein Mädchen namens Edie Jerundt. Sie wusste nicht genau, wie der Name buchstabiert wurde, aber es standen zum Glück nur wenige Leute mit dem Anfangsbuchstaben »J« im internen Telefonverzeichnis von Blind Lake.

Connie Jerundt, Edies Mutter, erwies sich als eine Sequenzanalytikerin aus der Bildverarbeitungsabteilung, die sich sogleich bereit erklärte, Edie zum Spielen herüberzubringen. (Ohne Edie, die sich wohl, wie Marguerite annehmen musste, ebenso langweilte wie Tess, auch nur zu fragen.) Nach weniger als einer Stunde trafen sie ein. Mutter und Tochter sahen sich dermaßen ähnlich, dass man sie für russische Steckpuppen hätte halten können, von denen die eine bequem in die andere passen würde. Beide waren unscheinbar, hatten große Augen und zerzauste Haare. Während sich die speziellen Eigenheiten in Connies erwachsenen Zügen etwas abgeschliffen hatten, konzentrierten sie sich auf groteske Weise in Edies noch kleinem Gesicht.

Edie Jerundt hatte einige Downloads jüngeren Datums mitgebracht, und die beiden Mädchen ließen sich augenblicklich vor dem Video-Bildschirm nieder. Connie blieb noch ein Viertelstündchen, machte nervöse Konversation über die sich hinziehende Sicherheitsabriegelung, die doch recht lästig sei — sie habe gehofft, einen Abstecher nach Constance machen zu können, um schon mal erste Weihnachtseinkäufe zu erledigen —, dann verabschiedete sie sich und versprach, Edie vor fünf Uhr wieder abzuholen.

Marguerite beobachtete die beiden Mädchen, wie sie im Wohnzimmer saßen und auf den Bildschirm starrten.

Die Downloads, Abenteuer von Panda Girl, waren ein bisschen sehr kindlich für Tessas Verhältnisse, aber Edie hatte zwei Paar von jenen bildsynchronisierten Brillen mitgebracht, die, wie man hörte, schädlich für die Augen sein sollten, wenn man sie über längere Zeit trug. Beide Mädchen zuckten immer wieder zusammen bei den solcherart aufgemotzten 3-D-Actionszenen.

Davon abgesehen, hätten sie ebenso gut jede für sich sein können. Sie saßen an den beiden Enden des Sofas, in jeweils entgegengesetzter Richtung gegen plüschige Kissen gelehnt. Spontan empfand Marguerite ein etwas unklares Mitleid mit Edie Jerundt, die eins jener Mädchen war, die von der Natur ausersehen sind, verlacht, schikaniert und geächtet zu werden, denn ihre Gliedmaßen waren steif und ungeschickt wie Stelzen, ihr Griff ging ins Ungefähre, ihre Worte kamen stockend und die tiefe Verlegenheit wollte einfach nie von ihr weichen. Es war nett, dachte Marguerite, dass Tess sich eines Mädchens wie Edie Jerundt angenommen hatte. Es sei denn …

Es sei denn, dass es Edie war, die sich Tessas angenommen hatte.

Als die Downloads zu Ende waren, spielten die Mädchen mit den Puppen, die Tess aus der Garage befreit hatte. Es war dies ein bunt gemischter Haufen, von Tess zum großen Teil auf Flohmärkten aufgelesen, in der Zeit, als Ray von Crossbank aus Wochenendausflüge nach New Hampshire aufs Land zu machen pflegte. Von der Sonne gebleichte Modepuppen mit seltsam verrenkten Gliedern und nicht zusammenpassender Kleidung; überdimensionierte Babypuppen, in der Mehrzahl nackt; eine Reihe von Actionfiguren aus vergessenen Filmen, Arme und Beine in der jeweiligen Geste eingefroren. Tess versuchte Edie in passende Spielsituationen einzubeziehen (das ist die Mutter, das ist der Vater; das Baby hat Hunger, aber sie müssen zur Arbeit, und deshalb ist das hier die Babysitterin), aber Edie verlor rasch das Interesse und begnügte sich damit, die Puppen über den Couchtisch spazieren zu lassen und unsinnige Monologe für sie zu sprechen (ich bin ein Mädchen, ich habe einen Hund, ich bin hübsch, ich hasse dich). Als sei sie sanft beiseitegedrängt worden, zog Tess sich aufs Sofa zurück und sah zu. Dann begann sie, mit dem Kopf rhythmisch gegen die Rückenlehne zu stoßen, ungefähr einmal pro Sekunde, bis Marguerite hinzutrat und ihren Kopf festhielt.

Dieses rhythmische Anschlagen mit dem Kopf, zusammen mit einer beunruhigenden Sprachentwicklungs-Verzögerung, war für Marguerite das erste Anzeichen dafür gewesen, dass bei Tessa etwas anders war. Nicht nicht in Ordnung — zu dieser wertenden Charakterisierung wollte Marguerite nicht greifen. Aber, ja, Tessa war anders; Tess hatte einige Probleme. Probleme, die keiner der wohlmeinenden Therapeuten, die Marguerite konsultiert hatte, so recht zu definieren imstande gewesen war. Zumeist sprachen sie von »idiosynkratischem Schwellenpegel-Autismus« oder dem »Asperger Syndrom«. Was so viel hieß wie: Wir haben zwar eine Schublade, in die wir die Symptome Ihrer Tochter packen können, aber wir wissen nicht, wie wir sie behandeln sollen.

Marguerite hatte Tess zur Physiotherapie geschickt, mit dem Ziel, ihrer Ungeschicktheit und »unterentwickelten Propriozeption« abzuhelfen, hatte versucht, durch medikamentöse Behandlung ihren Vorrat an Serotonin oder Dopamin oder Faktor Q zu korrigieren, jedoch ohne dass dies eine erkennbare Veränderung in Tessas Zustand bewirkt hätte. Woraus möglicherweise folgte, dass Tess eine ungewöhnliche Persönlichkeit hatte; dass ihre schräge Distanziertheit, ihre soziale Isolation, Probleme waren, die sie immer mit sich herumtragen oder aber durch einen bewussten Willensakt überwinden musste. An ihrem neurochemischen Haushalt herumzuexperimentieren, das war, wie Marguerite inzwischen glaubte, kontraproduktiv. Tess war ein Kind, ihre Persönlichkeit noch gar nicht voll entwickelt; sie sollte nicht durch Druck oder Drogen einem vorgegebenen Konzept von Reife angepasst werden. Und das schien ein ganz stichhaltiger Kompromiss gewesen zu sein, jedenfalls bis Marguerite sich von Ray getrennt hatte, bis zu den Problemen in Crossbank.

An diesem Wochenende hatte es nicht einmal eine Zeitung gegeben. Normalerweise war es möglich, sich Online-Ausschnitte aus der New York Times (oder fast allen anderen überregionalen Zeitungen) auszudrucken, aber selbst diese bescheidene Verbindung zur Außenwelt war gekappt worden. Und wenn schon Marguerite die Zeitung vermisste, wie mussten da erst die Nachrichtenjunkies leiden! Abgeschnitten von der großen globalen Seifenoper, in Unkenntnis schmorend über das Belgische Abkommen oder die jüngste Sitzung des Kontinentalgerichts. Die Stille des Videobildschirms und das periodische Prasseln des Regens infizierten den Nachmittag mit einer gähnenden Energielosigkeit, sodass Marguerite zufrieden damit war, in der Küche zu sitzen und alte Ausgaben von Astrobiologie und Exozoologie mit mottenhaft über die dichten Textstrecken schwirrender Aufmerksamkeit durchzublättern, bis Connie Jerundt kam, um Edie abzuholen.

Marguerite stöberte die Mädchen in Tessas Zimmer auf. Edie lag auf dem Bett, die Füße gegen die Wand gestützt, und kramte in dem Schuhkarton, in dem Tess ihren künstlichen Schmuck, ihre Zierkämme und Schildpattspangen aufbewahrte. Tess saß an ihrer Frisierkommode, vor dem Spiegel.

»Deine Mutter ist da, Edie«, sagte Marguerite.

Edie blinzelte mit ihren froschhaft großen Augen, dann huschte sie die Treppe hinunter, um nach ihren Schuhen zu suchen.

Tess blieb vor dem Spiegel sitzen, wickelte ihr Haar um den rechten Zeigefinger.

»Tess?«

Das Haar kräuselte sich zu einer glänzenden, vom Fingernagel bis zum Knöchel reichenden Locke, fiel dann herunter.

»Tess? Hat es Spaß gemacht, mit Edie zu spielen?«

»Glaub schon.«

»Vielleicht solltest du ihr das sagen.«

Tess zuckte die Achseln.

»Vielleicht solltest du es ihr jetzt gleich sagen. Sie ist unten, zieht sich die Schuhe an.«

Doch als Tess schließlich die Treppe hinunter zur Haustür gehüpft kam, waren Edie und ihre Mutter bereits gegangen.


Was als lästige Unannehmlichkeit begonnen hatte, wurde am Montag schon eher wie eine Krise empfunden.

Marguerite setzte Tess auf dem Weg zur Hubble Plaza an der Schule ab. Bei den Eltern auf dem Parkplatz — darunter auch Connie Jerundt, die Marguerite aus ihrem Wagenfenster heraus zuwinkte — kochte die Gerüchteküche. Da kein interner Notstand vorlag, der die Abriegelung hätte begründen können, musste draußen etwas passiert sein, schwerwiegend genug, eine Bedrohung für die Sicherheit zu schaffen — aber was? Und warum hatte niemand etwas erfahren? Marguerite lehnte es ab, sich an den Spekulationen zu beteiligen. Das Vernünftigste, was man jetzt tun konnte, war offensichtlich (jedenfalls erschien es Marguerite offensichtlich), mit der anstehenden Arbeit weiterzumachen. Auch wenn es im Moment nicht möglich war, mit der Außenwelt zu sprechen, so versorgte diese Außenwelt Blind Lake doch weiterhin mit Strom und erwartete vermutlich von seinen Bewohnern, weiter ihren Geschäften nachzugehen. Sie gab Tess zum Abschied einen Kuss, sah zu, wie ihre Tochter einen langen stochastischen Bogen über den Schulhof schlug, und fuhr ab, als die Klingel ertönte.

Der Regen hatte aufgehört, doch jetzt bestimmte der Oktober das Wetter, und der hatte sich heute für kalten Wind entschieden, der aus einem strahlend blauen Himmel blies. Sie war froh, darauf bestanden zu haben, dass Tess einen Pullover anzog. Sie selbst hatte sich für eine Vinyl-Windjacke entschieden, die sich als eher unzulänglich erwies auf dem langen Fußmarsch vom Parkplatz an der Hubble Plaza zur Eingangshalle des Ostflügels. Bald gibt's Schnee, dachte Marguerite, und Weihnachten ist auch nicht mehr weit, wenn man erst einmal das sich bedrohlich abzeichnende Thanksgiving hinter sich gelassen hatte. Der Wetterwechsel ließ die Quarantäne noch erheblich beunruhigender erscheinen, ganz als sei zusammen mit der dünnen kanadischen Luft auch Isolation und Besorgnis eingeströmt.

Während sie auf den Fahrstuhl wartete, sah sie Ray, ihren Exmann, der gerade in den Kiosk der Eingangshalle schlüpfte, wahrscheinlich um sich seine morgendliche Dosis an DingDongs abzuholen. Ray war ein Mensch von überaus strengen Gewohnheiten, und eine davon war, dass er zum Frühstück DingDongs essen musste. Ray pflegte einen erstaunlichen Aufwand zu treiben, um sich jederzeit einen ausreichenden Vorrat zu sichern, sogar auf Geschäftsreisen oder in den Ferien. Er packte DingDongs in Tupperware-Schüsseln und verstaute sie in seinem Handgepäck. Ein Tag ohne DingDongs brachte seine schlechteste Seite zum Vorschein: einen Missmut, der sich beim kleinsten Anlass fast zu Tobsuchtsanfällen steigern konnte. Sie behielt den Kioskeingang im Auge, während der Fahrstuhl aufreizend langsam aus dem zehnten Stock herabstieg. Gerade als die Glocke ging, erschien Ray mit einer kleinen Tüte in der Hand. Die DingDongs, keine Frage. Die er zweifellos hinter der geschlossenen Tür seines Büros verschlingen würde: Ray wollte nicht beim Essen von Süßigkeiten gesehen werden. Marguerite stellte sich vor, wie er mit einem DingDong in jeder Faust dasaß, daran knabberte wie ein durchgedrehtes Eichhörnchen und Krümel über sein gestärktes weißes Hemd und die gedeckte Krawatte verstreute. Sie trat mit drei anderen Leuten in den Fahrstuhl und drückte sofort auf den Knopf für ihr Stockwerk, um sicherzustellen, dass die Türen sich schlossen, bevor Ray auf die Idee kam, noch schnell mitfahren zu wollen.


Bei ihrer eigenen Arbeit — die sie liebte und um die sie hart gekämpft hatte — kam sich Marguerite manchmal wie ein Voyeur vor. Ein bezahlter, sachlich-nüchterner Voyeur zwar, aber eben doch ein Voyeur.

Dieses Gefühl hatte sie in Crossbank nicht gehabt; aber dort war ihr Talent auch vergeudet worden, dort hatte sie fünf Jahre damit zugebracht, im Archiv zu sitzen und aus den dort gesammelten Studien botanische Details zu destillieren, eine Arbeit, die jeder halbwegs aufgeweckte Examensstudent hätte erledigen können. Sie konnte noch immer die vorläufigen lateinischen Doppelnamen für achtzehn Sorten von Bakterienmatten aufsagen. Nach einem Jahr hatte sie sich so sehr an den Anblick des Meeres auf HR8832/B gewöhnt, dass sie das Gefühl hatte, es riechen zu können, den fast toxischen Gehalt an Chlor und Ozon, den die photochromatischen Prüfverfahren ermittelt hatten, einen sauren und irgendwie öligen Geruch, ein bisschen wie Abflussreiniger. In Crossbank war sie nur gewesen, weil Ray sie mitgenommen hatte — Ray hatte dort in der Verwaltung gearbeitet —, und sie hatte mehrere Angebote abgelehnt, sich nach Blind Lake versetzen zu lassen, in erster Linie, weil Ray den Wechsel nicht billigte.

Dann hatte sie allen Mut zusammengenommen, die Scheidung eingereicht und anschließend diese Stelle als Beobachterin angenommen, nur um kurz darauf zu erfahren, dass sich Ray seinerseits nach Blind Lake hatte versetzen lassen. Damit nicht genug, zog er auch noch einen Monat, bevor Marguerites Wechsel über die Bühne gehen sollte, nach Westen, etablierte sich als feste Größe am Lake und untergrub vermutlich Marguerites Reputation bei den Angehörigen der höheren Verwaltungsebene.

Doch sei's drum, sie machte die Arbeit, für die sie ausgebildet worden war, die sie so lange angestrebt hatte: die größte Annäherung an eine praktische Astrozoologie, die die Welt bisher erlebt hatte.

Sie schlängelte sich durch das Labyrinth der von technischem Personal besetzten Schreibtische, grüßte Büroassistenten, Sekretärinnen und Programmierer, machte in der Personalküche Station, um ihren als Souvenir mit Blind-Lake-Hummer-Motiv erworbenen Becher mit verkochtem Kaffee und einem Sahne-Milch-Gemisch zu füllen, trat dann in ihr Büro und schloss die Tür hinter sich.

Papiere bedeckten ihren Schreibtisch, E-Paper machten sich auf ihrem virtuellen Desktop breit. Alles Arbeit, die zu erledigen war, in der Hauptsache routinemäßige Abhakvorgänge, die zwar notwendig, aber auch frustrierend langweilig und zeitraubend waren. Nun, mindestens einen Teil davon konnte sie später, zu Hause, in Angriff nehmen.

Heute wollte sie ein wenig Zeit mit dem Subjekt verbringen. Reine Zeit — Realtime. Sie schloss die Jalousien vor dem Fenster, dämpfte die Schwefeldeckenlampe und ließ den Monitor aufleuchten, der die gesamte westliche Wand des Büros einnahm.

Gutes Timing. Der Siebzehnstundentag von UMa47/E hatte soeben begonnen.


Morgen, und das Subjekt regte sich auf seiner Pritsche auf dem Steinboden der Wohneinheit.

Wie üblich lösten sich Dutzende von kleineren Lebewesen — Parasiten, Symbionten oder Abkömmlinge — von seinem Körper, wo sie sich an den unbedeckten Blutnippeln des schlafenden Subjekts genährt hatten, und stoben davon. Diese kleinen Tiere, nicht größer als Mäuse, vielbeinig und mit geschmeidigen Gliedern ausgestattet, verschwanden in allerlei Löchern und Spalten, dort wo die Sandsteinwände auf den Fußboden trafen. Das Subjekt setzte sich auf, erhob sich dann zu voller Größe.

Die Körpergröße des Subjekts wurde auf etwa zwei Meter zehn geschätzt. Ganz gewiss war er ein eindrucksvolles Exemplar. (Marguerite verwendete gelegentlich das männliche Personalpronomen, aber nur für sich. Sie hätte nie gewagt, in ihren offiziellen Schriftstücken Annahmen über das Geschlecht zu formulieren. Geschlechtlichkeit und Fortpflanzungsstrategien der Außerirdischen waren noch gänzlich ungeklärt.) Das Subjekt war ein Zweifüßer und bilateral symmetrisch, und aus großer Entfernung konnte man es, dem Umriss nach, mit einem Menschen verwechseln. Aber damit endete die Ähnlichkeit auch schon.

Seine Haut — es gab kein Außenskelett, wie der alberne Spitzname »Hummer« nahelegte — war eine robuste rotbraune Hülle mit kieselsteinartiger Struktur. Wegen dieser dichten, Feuchtigkeit bewahrenden Haut, wegen der auf der Bauchoberfläche freiliegenden Lungenlamellen und wegen solcher Details wie der Vielgliedrigkeit der Arme und Beine und der winzigen nahrungsverarbeitenden Gliedmaßen, die seitlich aus der Kieferpartie wuchsen, war verschiedentlich spekuliert worden, dass das Subjekt und seinesgleichen sich aus insektenartigen Formen entwickelt haben könnten. Eins der entsprechenden Szenarien entwarf das Bild einer Rasse von Invertebraten, die nach und nach die Größe und Mobilität von Säugetieren erlangt hatten, indem sie ihren Rückenstrang in eine chitinartige Wirbelsäule versenkt und ihre harte Schale zugunsten einer dicken, aber leichteren und flexibleren Haut abgeworfen hatten. Doch hatten sich kaum Nachweise für diese oder andere Hypothesen erbringen lassen. Exozoologie war schon kompliziert genug; Exopaläobiologie jedoch war der Wachtraum von einer Wissenschaft.

Subjekt war deutlich zu sehen in dem Licht der hell strahlenden Glühbirnen, die in einer Kette von der Decke hingen. Es waren kleine Birnen, eher an Weihnachtsbaumbeleuchtung als an Haushaltslampen erinnernd, doch ansonsten wirkten sie lächerlich vertraut, ja, sie waren vertraut: die Glühfäden aus gewöhnlichem Wolfram, wie die Spektroskopie ergeben hatte. Primitive, robuste Technik. Von Zeit zu Zeit tauchten andere Eingeborene auf, um verbrauchte Birnen auszuwechseln und den isolierten Kupferdraht auf Lücken oder Unregelmäßigkeiten zu untersuchen. Die Stadt verfügte über eine umfassende und verlässliche Wartungsinfrastrukur.

Subjekt kleidete sich nicht an und frühstückte auch nicht; noch nie war es beim Essen in seinem Schlafquartier beobachtet worden. Allerdings gab es über einem offenen Abfluss im Fußboden flüssige Ausscheidungen von sich. Die dicke grünliche Flüssigkeit ergoss sich aus einem Kloakenspalt im unteren Abdomen. Es gab natürlich keinen Ton zu den Bildern, aber Marguerites Phantasie war imstande, das Plätschern und Gluckern mitzuliefern.

Sie rief sich in Erinnerung, dass diese Ereignisse vor einem halben Jahrhundert stattgefunden hatten. Das Gefühl des Eindringens in eine private Sphäre wurde dadurch entschärft. Sie würde nie mit diesem Geschöpf sprechen, nie in irgendeiner Form mit ihm interagieren; dieses Bild, auf welch geheimnisvollen Wegen es auch gereist sein mochte, unterlag nach aller Wahrscheinlichkeit den Begrenzungen der Lichtgeschwindigkeit. Das Zentralgestirn 47 Ursa Majoris war einundfünfzig Lichtjahre von der Erde entfernt. (Und dementsprechend würde sie, falls es irgendwo in der Galaxie jemanden gab, der sie beobachtete, längst sicher in ihrem Grab liegen, bevor ihre Beobachter versuchen konnten, ihre Sanitärfunktionen zu interpretieren.)

Das Subjekt verließ seine Wohneinheit ohne weitere Vorbereitungen. Sein zweibeiniger Gang wirkte nach menschlichen Maßstäben etwas ungeschickt, aber es kam jedenfalls gut voran. Dieser Teil des Tages konnte unter Umständen interessant sein. Das Subjekt machte im Wesentlichen an jedem Morgen das Gleiche — nämlich in die Fabrik gehen, wo es Maschinenteile zusammensetzte —, nahm aber selten den gleichen Weg zur Arbeit. Es waren ausreichend Hinweise gesammelt worden, die für die Annahme sprachen, dass dies kulturell oder biologisch bedingt war (soll heißen, die meisten anderen Eingeborenen verfuhren auch so), vielleicht einem atavistischen Instinkt folgend, in der Außenwelt lauernden Gefahren auszuweichen. Schade. Marguerite hätte es vorgezogen, darin eine Eigenart des Subjekts zu sehen, eine individuelle Vorliebe, eine bewusste Entscheidung.

Wie auch immer, das Observationsprogramm folgte ihm präzise und zuverlässig. Wenn Subjekt sich bewegte, folgte der offensichtliche Blickpunkt (»virtuelle Kamera« nannten es die Leute in der Bilderfassung) in gleichbleibender Entfernung. Subjekt war in der Mitte des Bildschirms zentriert, aber um ihn herum konnte man die Welt erkennen, durch die es sich bewegte. Es schritt mit anderen seiner Art durch die hell erleuchteten Flure seiner Wohnkaserne, wobei sich alle in die gleiche Richtung bewegten, als seien die Gänge Einbahnstraßen, wenn auch ihre »Bahn« von Tag zu Tag variierte. Sie hatte gelernt, das Subjekt in einer Menge nicht nur durch die Zentrierung seines Bildes zu erkennen (manchmal wurde es vorübergehend von anderen verdeckt), sondern auch an dem lebhaften Orange-Gelb seiner rückwärtigen Schädelkuppe und der gerundeten Kontur seiner Schultern.

Sie erblickte Tageslicht, als es an Balkonen und Rotunden vorbeikam, die sich ins Freie öffneten. Der Himmel war heute von einem pudrigen Blau. Hummerhausen bekam den Großteil seines Regens während des milden Winters ab, und jetzt war es Hochsommer, genau die Mitte der langen Affäre, die die südlichen Breiten mit der Sonne unterhielten. Der Planet hatte eine sanfte Axialneigung, aber eine überaus langgezogene Umlaufbahn um seinen Stern: Der Sommer in der Stadt des Subjekts würde noch zwei weitere terrestrische Jahre andauern.

Im Sommer waren es häufiger Staub- als Regenwolken, die den Himmel verdunkelten. UMa47/E war trockener als die Erde. Ähnlich wie der Mars konnte er gewaltige elektrisch geladene Straubstürme hervorbringen. Es hing ständig feiner Staub in der Atmosphäre, und der Himmel war nie so klar wie auf der Erde. Heute aber war ein ruhiger Tag, vermutete Marguerite. Warm, nach der lebhaften Bewegung von Subjekts kühlenden Flimmerhaaren zu urteilen. Das Kreideblau des Himmels war das Äußerste, was hier zu haben war. (Marguerite blinzelte und stellte sich Arizona oder New Mexico vor, Felsenpueblos in unbewegter Mittagsluft.)

Schließlich gelangte das Subjekt auf einen der breiten Außenwege, die sich zur Bodenebene der Stadt hinunterwanden.

Die erste Überblicksvermessung aus großer Höhe hatte nicht weniger als vierzig solcher großen Steinstädte identifiziert, dazu noch doppelt so viele erheblich kleinere, über die gesamte Oberfläche von UMa47/E verstreut. Marguerite hatte einen Globus von Subjekts Planeten auf ihrem Schreibtisch stehen, die Städte darauf waren nur nach Längen- und Breitengrad bezeichnet. (Niemand wollte ihnen richtige Namen geben, aus Furcht, dies könnte arrogant oder anthropozentrisch wirken — »Hummerhausen« war nur ein Spitzname und man lernte schnell, ihn nicht in Gegenwart von hohen Verantwortlichen oder Presseangehörigen zu gebrauchen.)

Vielleicht war es bereits eine fehlerhafte Zuschreibung, diese Gemeinde eine »Stadt« zu nennen. Aber für Marguerite sah es wie eine Stadt aus, und ihr Anblick gefiel ihr ausnehmend gut. Über eintausend Stufenpyramiden aus Sandstein erhoben sich in unregelmäßigen Abständen, und jede von ihnen war gewaltig. Während das Subjekt dem gewundenen Weg nach unten folgte — seine Schlafkammer befand sich hoch oben in dem betreffenden Gebäude —, wurde Marguerite ein Panoramablick gewährt. Die Türme waren alle von ähnlicher Machart: spitz zulaufende Konstruktionen mit Nautilusumhüllung, die sich aus rot gepflasterten Plazas emporwanden, wobei man die industriell genutzten Gebäude an den riesigen Schornsteinen erkennen konnte, die oben aus ihren Spitzen ragten, und an dem hellen oder dunklen Rauch, der daraus in die unbewegte Luft aufstieg. Überall in der Stadt bevölkerten frisch erwachte Eingeborene die äußeren Wege und die offenen Plätze. Die rasch aufsteigende Sonne stieß gelbe Lichtfinger in die nach Osten gerichteten Schluchten. Jenseits der Stadt konnte Marguerite bewässertes Ackerland erkennen, dahinter wiederum braunes Buschland und ganz in der Ferne Berge, deren gezackte Linie mit dem Horizont verschmolz. (Und wenn sie die Augen schloss, konnte sie das Nachbild in konträren Farben sehen, als sei das alles nicht nur vermittelt durch eine Milliarden von Dollar teure unbegreifliche Technik, sondern als sei sie vielmehr tatsächlich dort, würde die dünne Atmosphäre atmen, den feinen brennenden Staub in ihren Nasenlöchern spüren.)

Das Subjekt erreichte die Bodenebene, ging durch parallel geführte Bänder aus Licht und Schatten weiter bis zu dem Fabrikturm, in dem es seinen Arbeitstag verbrachte.

Marguerite sah weiter zu, ließ ihre Schreibtischarbeit liegen. Sie war keine Primärbeobachterin und es war auch nicht sehr wahrscheinlich, dass ihr irgendetwas Relevantes auffallen würde, das den fünf Kernkommissionen entgangen war. Ihre Aufgabe war es, deren Beobachtungen zusammenzufassen, nicht, eigene anzustellen. Aber das konnte noch warten, wenigstens bis nach dem Mittagessen. Die Abriegelung hatte zur Folge, dass ihre Berichte von den Außendienststellen ohnehin nicht gelesen werden konnten. Sie hatte Zeit zum Beobachten.

Zeit, wenn sie wollte, zum Träumen.


In der Kantine im Westflügel der Plaza nahm sie ein schnelles Mittagessen ein. Ray war nicht da, aber sie sah seine Assistentin Sue Sampel, die sich an der Kasse einen Kaffee holte. Marguerite war Sue erst ein- oder zweimal begegnet, dennoch tat sie ihr aufrichtig leid. Sie wusste, wie Ray seine Untergebenen behandelte. Schon in Crossbank hatten seine Mitarbeiter ständig gewechselt. Wahrscheinlich hatte auch Sue bereits ihre Versetzung beantragt. Oder würde es bald tun. Marguerite winkte ihr zu; Sue nickte zerstreut zurück.

Nach dem Mittagessen setzte Marguerite sich an ihren Papierkram. Sie prüfte einen besonders interessanten Bericht des Leiters eines Physiologie-Teams, der tausend Stunden Videomaterial durch einen Grafikprozessor geschickt, dazu die beweglichen Körperteile des Subjekts markiert und deren Bewegungen zum Wechsel von Tageszeiten und Situationen in Beziehung gesetzt hatte. Dieser Ansatz hatte eine überraschende Menge von harten Daten erbracht, die an alle anderen Abteilungen in Form eines Rundschreibens zur Kenntnisnahme verschickt werden mussten. Dieses Rundschreiben würde sie selbst erstellen müssen, mit Beiträgen von Bob Corso und Felix Kawakami von der Physiologie, sobald diese von ihrer Konferenz in Cancun zurückgekehrt waren … eine stichpunktartige Zusammenfassung, dachte sie sich, mit der Andeutung, dass noch mehr kommen würde, aber so knapp wie möglich, sodass die diversen Gruppenleiter sich nicht über die zusätzliche Informationslast beschweren konnten.

Sie behielt das Subjekt auf dem Wandbildschirm, sodass sie von Zeit zu Zeit von ihrer Arbeit aufblicken und ihm bei seiner zusehen konnte. Subjekt arbeitete in einer Einrichtung, die man mit einiger Sicherheit als Fabrik bezeichnen konnte. Es stand an einem Sockel in einem sehr großen umschlossenen Raum unter einem Punktstrahler, der seine Arbeitsstation beleuchtete. Auf diese Weise, über punktgenaue Lichtstrahlen, wurden Hunderte von gleichartigen Eingeborenen voneinander abgegrenzt, hinter ihm aufgereiht wie phosphorizierende Pfeiler in einer düsteren Höhle. Subjekt nahm Teile (bislang noch nicht näher identifizierte zylindrische Module) aus einem Behälter seitlich des Sockels und setzte sie in vorgestanzte Scheiben ein. Die Scheiben stiegen auf einer erhöhten Plattform aus einer Kammer in seinem Sockel auf und senkten sich wieder, sobald es den Zylinder eingesetzt hatte. Dieser Kreislauf wiederholte sich etwa alle zehn Minuten. Den Vorgang als monoton zu bezeichnen, dachte Marguerite, hieße, die Grenzen des Understatements zu strapazieren.

Aber etwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt.

Weil das Subjekt mehr oder weniger an einem Punkt verharrte, war die virtuelle Kamera herumgefahren, um ihn von vorn abzubilden. Sie konnte Subjekts Gesicht sehen, hart konturiert im Licht von oben. Sofern man es ein Gesicht nennen konnte. Es gab Leute, die es als »Schrecken erregend« bezeichneten, aber das war es natürlich nicht, sondern einfach nur äußerst fremdartig. Schockierend zunächst, weil man einige der Teile, aus denen es zusammengesetzt war, erkannte (die Augen zum Beispiel, die wie menschliche Augen in knochigen Höhlen saßen, allerdings durch und durch weiß waren), während andere Teile (die Versorgungsarme, der Kiefer) insektenartig oder auf sonstige Weise unvertraut anmuteten. Aber man lernte, solch erschreckende erste Eindrücke zu überwinden. Beunruhigender war die Unfähigkeit, über sie hinauszusehen, Bedeutung zu erkennen. Menschen waren darauf geeicht, menschliche Gefühle in menschlichen Gesichtern gespiegelt zu sehen, und mit einiger Übung und Erfahrung konnte ein Forscher lernen, den physiognomischen Ausdruck eines Affen oder eines Wolfes zu deuten. Aber Subjekts Gesicht entzog sich jeder Deutung.

Seine Hände allerdings …

Es waren Hände, beunruhigend menschenähnlich. Lange, gelenkige Finger, drei an der Zahl, und der »Daumen« ein starrer knochiger Auswuchs aus dem Gelenk. Aber alle diese Teile erschienen unmittelbar sinnvoll. Man konnte sich einen Greifvorgang mit diesen Händen vorstellen. Sie bewegten sich schnell und in vertrauter Weise.

Marguerite beobachtete sie bei der Arbeit.

Zitterten sie?

Marguerite hatte den Eindruck, dass die Hände des Subjekts zitterten.

Sie sandte eine rasche Notiz an das Physiologie-Team.


Ein Zittern von Subjekts Händen? Sah so aus (heute, 15:30 Uhr auf Direktleitung.) Haltet mich auf dem Laufenden. M.


Dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Es war irgendwie angenehm, auf ihre Tastatur einzutippen und dabei das Bild des Subjekts im Rücken zu haben. Als würden sie zusammenarbeiten. Als hätte sie Gesellschaft. Als hätte sie einen Freund.


Auf dem Heimweg holte sie Tess ab.

Es war ein Tag mit Sportunterricht, und an Tagen, wo sie Sport hatte, verließ Tess die Schule unweigerlich mit schief zugeknöpfter Bluse oder nicht zugebundenen Schuhen. Heute war keine Ausnahme. Aber Tess war sehr still, kroch angesichts der herbstlichen Kühle fast in den Sitz hinein, und Marguerite sagte nichts wegen ihrer Kleidung. »Alles in Ordnung?«

»Glaub schon«, sagte Tess.

»Nach allem, was ich höre, sind die Datenleitungen immer noch dicht. Kein Video heute Abend.«

»An Montagen gucken wir Sunshine City.«

»Ja, aber heute nicht, mein Schatz.«

»Ich habe noch ein Buch, das ich lesen kann«, bot Tess an.

»Das ist gut. Was liest du denn gerade?«

»Etwas über Astronomie.«

Zu Hause bereitete Marguerite das Abendessen, während Tess in ihrem Zimmer spielte. Es gab das gefrorene Hühnchenmenü aus dem Lebensmittelladen von Blind Lake. Langweilig, aber praktisch und noch im Rahmen von Marguerites recht begrenzten Kochkünsten. Das Huhn drehte sich gerade im Mikrodämpfer, als ihr Telefon summte.

Marguerite fischte das Gerät aus ihrer Hemdtasche.

»Mrs. Hauser?«

»Am Apparat.«

»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie zur Essenszeit störe. Hier ist Bertie Fleischer — Tessas Klassenlehrer.«

»Ja, richtig.« Marguerite überspielte das flaue Gefühl, das sie überkam. »Wir haben uns im September kennengelernt.«

»Ich wollte Sie fragen, ob es Ihnen möglich wäre, irgendwann diese Woche vorbeizuschauen, damit wir uns unterhalten können.«

»Gibt es ein Problem mit Tess?«

»Kein Problem im Grunde. Ich dachte nur, wir sollten uns mal austauschen. Nähere Einzelheiten vielleicht, wenn wir uns dann treffen.«

Marguerite verabredete einen Termin, dann steckte sie das Telefon in ihre Tasche zurück.

Bitte, dachte sie. Bitte, bitte, dass jetzt bloß das nicht wieder losgeht.

Sechs

Am Mittwoch war die Schule früher zu Ende.

Die letzte Klingel läutete schon um halb zwei, damit die Lehrer noch irgendeine Konferenz abhalten konnten. Sie hatten den ganzen Vormittag über Heimatkunde gehabt, Mr. Fleischer hatte über Sumpfgebiete, die Geografie und die verschiedenen Arten von Vögeln und Tieren gesprochen, die hier lebten, und Tess hatte zwar die meiste Zeit aus dem Fenster gestarrt, aber dennoch aufmerksam zugehört. Blind Lake (der See, nicht die Stadt) klang faszinierend, jedenfalls so, wie Mr. Fleischer ihn beschrieb. Er hatte über die Gletscher gesprochen, die diesen Teil der Welt vor Tausenden und Abertausenden von Jahren bedeckt hatten. Das war an sich schon interessant gewesen. Tess hatte natürlich schon mal von der Eiszeit gehört, aber ihr war nicht so richtig klar gewesen, dass es hier passiert war, dass das Land genau unter dem Fundament der Schule einst unter einer unerträglichen Last von Eis begraben gewesen war, dass die Gletscher bei ihrem Vordringen wie riesige Pflüge Felsen und Erde vor sich hergeschoben und später, als sie sich wieder zurückzogen, die Niederungen und Mulden ringsum mit uraltem Wasser gefüllt hatten.

Heute war es bewölkt und kühl, aber nicht regnerisch oder sonstwie unangenehm. Da der Nachmittag vor ihr lag wie ein ungeöffnetes Geschenk, beschloss Tess, dem Sumpfgebiet, dem ursprünglichen Blind Lake, einen Besuch abzustatten. Auf dem Schulhof kam sie an Edie Jerundt vorbei und fragte sie, ob sie Lust hätte, mitzukommen. Edie, die auf einen an der Leine hängenden Ball eindrosch, runzelte die Stirn und sagte: »Unh-uh.« Der Ball klatschte dumpf gegen seine Eisenstange. Tess zuckte die Achseln und ging weiter.

Das Eis war vor zehntausend Jahren hier gewesen, hatte Mr. Fleischer gesagt. Zehntausend Sommer, die immer kühler wurden, wenn man sich vorstellte, dass man rückwärts in der Zeit reiste, den Gletschern entgegen. Zehntausend Winter, die irgendwann zu einem einzigen ununterbrochenen Winter verschmolzen. Sie fragte sich, wie es wohl gewesen war, als die Welt sich gerade wieder zu erwärmen begonnen hatte, die Gletscher sich zurückzogen und das Land darunter freilegten (»Grundmoräne«, hatte Mr. Fleischer gesagt; »Waschbrettmoräne«, was immer das bedeuten mochte), weit mitgeschleppter Boden sich aus dem Eis löste, um Felstäler zu blockieren, die neuen Flüsse einzuschlämmen und frische Soden für das Grasland zu liefern. Vielleicht hatte damals alles nach Frühling gerochen, dachte Tess. Vielleicht hatte es jahrelang so gerochen, nach Dreck und Fäulnis und neu wachsenden Pflanzen.

Und lange davor, vor der Eiszeit, hatte es da einen weltweiten Herbst gegeben? Musste es ja wohl. Tess war sich ziemlich sicher. Eine ganze Welt so wie die, die sie gerade hatten, dachte sie, wo es morgens manchmal schon Frost gab und man seinen Atem sehen konnte, wenn man zu Fuß zur Schule ging. Sie wusste, dass das Sumpfgebiet hinter den gepflasterten Abschnitten der Stadt lag, bestimmt noch zwei Kilometer weiter östlich, hinter den Kühltürmen der Eyeball Alley und dem niedrigen Hügel, wo man im Winter (hatte Edie Jerundt ihr erzählt) rodeln konnte, aber die älteren Kinder waren gemein und rammten einen immer, wenn man keinen Erwachsenen dabeihatte.

Es war weit zu gehen. Sie folgte der gehsteiglosen Zugangsstraße, die vonden Stadthäusern ostwärts Richtung Alley führte, und wandte sich seitwärts, als sie den Rand dieses Gebäudekomplexes erreichte. Tess war noch nie in der Eyeball Alley gewesen, allerdings hatten sie in Crossbank einmal einen Schulausflug zu einem ähnlichen Gebäude gemacht. Ehrlich gesagt, hatte sie ein bisschen Angst vor der Alley. Ihre Mutter behauptete, sie sei genau wie die in Crossbank — ein Duplikat sogar —, und Tess hatte diese tiefen Korridore, die riesigen Aufbauten der O/BEK-Zylinder und die lauten Kältepumpen, die sie kühlten, überhaupt nicht gemocht. All diese Dinge waren ihr unheimlich, zumal Mrs. Flewelling, ihre damalige Lehrerin, wiederholt erwähnt hatte, dass man diese Apparate und ihr Funktionieren »noch nicht sehr gut begreifen« konnte.

Sie begriff immerhin, dass die Bilder des Ozeanplaneten in dem betreffenden Gebäude von Crossbank und die von Hummerhausen hier am Lake erzeugt wurden, in der Eyeball Alley und dem Großen Auge, wie man das Gegenstück in Crossbank genannt hatte. Von diesen Einrichtungen ging etwas Geheimnisvolles aus. Die Bilder selbst hatten Tess nie sonderlich beeindruckt, das statische Leben des Subjekts oder die noch statischeren Anblicke des Meeres — das war langweiliges Fernsehen —, aber wenn sie in der richtigen Stimmung war, konnte sie sie auf die gleiche Weise anstarren, wie sie manchmal aus dem Fenster starrte, und dabei die außerordentliche Fremdartigkeit des Tageslichts auf dem anderen Planeten empfinden.

Die Kühltürme an der Eyeball Alley stießen blasse Dampfschwaden in die Nachmittagsluft. Wolken zogen über sie hinweg wie unruhige Herdentiere. Tess ging um das Gebäude herum, wobei sie sorgsam von der Umzäunung Abstand hielt. Dann wandte sie sich nach Westen durch das wilde Gras, auf einem der zahllosen Pfade, die die Kinder von Blind Lake sich in die Prärie hinein gebahnt hatten. Sie knöpfte den Kragen ihrer Jacke zu, um sich vor dem aufkommenden Wind zu schützen.

Als sie die Spitze des Rodelbergs erreicht hatte, taten ihr bereits die Füße weh und sie war kurz davor, umzukehren, aber dann ließ sie sich vom ersten Anblick des Sumpfgebiets faszinieren.

Hinter dem Hügel und jenseits eines grasbewachsenen Randstücks lag Blind Lake, ein »halbpermanentes Sumpfgebiet«, wie Mr. Fleischer gesagt hatte, 250 Hektar feuchte Wiesen und flaches Moor. Das Land war mit Grashöckern und breiten Teichkolbenbüscheln überwachsen, und auf den freien Wasserflächen konnte sie rastende Kanadagänse ausmachen, die schon den ganzen Herbst über in lärmender V-Formation über den Ort hinweggeflogen waren.

Dahinter war noch ein weiterer Zaun, beziehungsweise war es derselbe Zaun, der das gesamte Nationale Laboratorium von Blind Lake und noch dazu das Sumpfgebiet umgab. Dieses Land war eingezäunt, aber es war dennoch wild. Es lag innerhalb des sogenannten Sicherheitsperimeters. Falls sie in dieses Moorgebiet hineinwanderte, war Tess vor Terrorangriffen und Spionageagenten sicher, möglicherweise jedoch nicht vor beißenden Schildkröten oder Moschusratten. (Sie wusste nicht, wie Moschusratten aussahen, aber Mr. Fleischer hatte gesagt, dass sie hier lebten, und Tess gefiel schon der Klang des Namens nicht.)

Sie ging noch ein Stück weiter hügelabwärts, bis Wasser unter dem Druck ihrer Füße aus dem Boden quoll und die Teichkolben sich vor ihr auftürmten wie braune Wachposten mit Wollköpfen. In einer Pfütze unbewegten Wassers zu ihrer Linken sah sie ihr Spiegelbild.

Falls es nicht Mirror Girl war, die sie ansah.

Tess war kaum willens, diese Möglichkeit auch nur ganz im Geheimen in Betracht zu ziehen. Es hatte so viel Ärger in Crossbank gegeben. Psychologen, Psychiater, all die endlosen und zum aus der Haut Fahren geduldigen Fragen, die man ihr gestellt hatte. Die Blicke, mit denen die Leute sie angesehen hatten, sogar ihr Vater und ihre Mutter, als hätte sie etwas ganz und gar Schändliches getan, ohne es zu wissen. Nein, lieber nicht. Nicht schon wieder.

Mirror Girl war nur ein Spiel gewesen.

Das Problem war, dass das Spiel sich sehr real angefühlt hatte. Nicht wirklich real, so wie ein Stein oder ein Baum real und solide waren. Aber realer als ein Traum. Realer als ein Wunsch. Mirror Girl sah genauso aus wie Tess und hatte nicht nur Spiegel bewohnt (in denen war sie zuerst erschienen), sondern auch die leere Luft. Mirror Girl flüsterte Fragen, auf die Tess nie gekommen wäre, Fragen, die sie nicht immer beantworten konnte. Mirror Girl, hatten die Therapeuten gesagt, sei Tess' eigene Erfindung, aber Tess glaubte nicht, dass sie eine so hartnäckige und oft lästige Persönlichkeit, wie Mirror Girl eine gewesen war, erfinden konnte.

Sie riskierte noch einen Blick auf das spiegelnde Wasser zu ihren Füßen. Wasser voller Wolken und Himmel. Wasser, in dem ihr eigenes Gesicht aus einem verzerrten Winkel zurückblickte und zu lächeln schien, als würde es sie wiedererkennen.

Tess, sagte der Wind, und ihr Spiegelbild löste sich in kräuselnden Wellen auf.

Sie dachte an das Astronomiebuch, in dem sie gelesen hatte. An die Tiefe der Zeit und des Raumes, wo sogar eine Eiszeit nur ein kurzer Moment war.

Tess, flüsterten die Teichkolben und die Binsen.

»Geh weg!«, sagte Tess wütend. »Ich will keinen Ärger mehr deinetwegen.«

Noch einmal meldete sich der Wind mit einer starken Bö, dann legte er sich, doch das Gefühl einer unerwünschten Anwesenheit blieb.

Tess wandte sich von dem plötzlich bedrohlichen Sumpfland ab. Als sie nach Westen blickte, stellte sie fest, dass die Sonne aus einer Wolkenformation linste, die sich fast auf gleicher Höhe wie die Hügelkuppe befand. Sie sah auf die Uhr. Es war vier. Der Hausschlüssel, den sie an einer Kette um den Hals trug, erschien ihr jetzt wie die Eintrittskarte zum Paradies. Sie wollte nicht mehr hier draußen in dieser nassen Einsamkeit sein. Sie wollte nach Hause, den bleischweren Rucksack los sein, sich in die Sofaecke kuscheln mit irgendwas Schönem auf dem Videoschirm oder einem Buch in der Hand. Sie fühlte sich plötzlich unsicher und schuldig, als hätte sie etwas falsch gemacht, einfach dadurch, dass sie hergekommen war, obwohl es diesbezüglich gar keine Verbote gab (nur Mr. Fleischers beiläufige Bemerkung, dass man sich in dem Moor durchaus verlaufen könne und das flache Wasser nicht immer so flach sei, wie es aussehe).

Ein großer blauer Reiher stieg aus den Binsen auf, nur wenige Meter entfernt, peitschte die Luft mit seinen Flügeln. Er hatte etwas Grünes, Zappelndes in den Schraubstock seines Schnabels geklemmt.

Tess drehte sich um und rannte hinauf auf den Hügelkamm, begierig auf den beruhigenden Anblick von Blind Lake (der Stadt). Wind pfiff in ihren Ohren, und das Flattergeräusch ihrer gegeneinanderreibenden Hosenbeine klang wie eine aufgeregte Unterhaltung.

Sie fand sich beschwichtigt von den Türmen der Alley, als sie an ihnen vorbeieilte, besänftigt von der glatten Schwärze der Asphaltstraße, die sich zwischen die Stadthäuser schlängelte, getröstet von der Nähe der hohen Gebäude an der Hubble Plaza.

Aber nicht so gut gefiel ihr das Geräusch der Polizeisirenen unten am Südtor. Sirenen klangen in Tess' Ohren immer wie weinende Babies, hungrig und allein gelassen. Sie zeigten an, dass irgendwas Schlimmes passiert war. Tess schauderte zusammen und rannte den Rest des Weges nach Hause.

Sieben

Am Mittwochmorgen setzte sich Sebastian Vogel zu Chris an einen der winzigen Behelfstische in der Cafeteria des Gemeindezentrums.

Das Frühstück bestand aus Croissants, wässrigem Rührei, Orangensaft und Kaffee, und für unfreiwillige Gäste war es gratis. Chris begann mit dem Kaffee. Er wollte sich eine neurochemische Stärkung verschaffen, bevor er die Warmhalteplatten auch nur in Augenschein nahm.

Sebastian legte ein Exemplar von Gott & das Quantenvakuum auf die Tischplatte. »Elaine sagte, Sie seien neugierig. Ich habe Ihnen eine Widmung reingeschrieben.«

Chris versuchte einen dankbaren Eindruck zu machen. Das Buch war eine Vorzugsausgabe, auf echtem Papier gedruckt und steif broschiert, stabil wie ein Ziegelstein und ebenso schwer. Er stellte sich vor, wie Elaine sich das Grinsen verkniffen hatte, als sie Sebastian erzählte, dass Chris »begierig« sei, es zu lesen. Sebastian musste einen ganzen Koffer voll nach Blind Lake mitgeschleppt haben — als befände er sich auf Werbetour.

»Danke«, sagte Chris. »Meins bekommen Sie dann auch demnächst.«

»Nicht nötig. Ich habe mir ein Exemplar von Gewichtete Antworten runtergeladen, bevor die Verbindungen gekappt wurden. Elaine hat es mir dringend ans Herz gelegt.«

Chris überlegte, wie er sich bei Elaine revanchieren könnte. Mit Strychnin im Frühstücksmüsli vielleicht.

»Offenbar glaubt sie«, fuhr Sebastian fort, »dass diese Sicherheitskrise sich zu unserem Vorteil auswirken könnte.«

Chris blätterte in Vogels Buch, überflog die Kapitelüberschriften. »Gott borgen«, las er. »Warum Gene Bewusstsein machen & wo sie es finden«. Das verruchte Et-Zeichen. »Inwiefern zu unserem Vorteil?«

»Wir erleben die Institution im Krisenzustand. Vor allem, wenn die Abriegelung noch einige Zeit länger dauert. Sie sagt, wir können dann an Ari Weingarts Publicitymaschine vorbei mit richtigen, echten Leuten sprechen. Eine Seite von Blind Lake in den Blick bekommen, die in der Presse noch nie vorgekommen ist.«

Elaine hatte natürlich recht und dieses eine Mal war Chris ihr sogar voraus. Seit Tagen hatte er schon Gespräche mit gestrandeten Tagesarbeitern geführt und die Sicherheitsabriegelung aus ihrer Sicht kommentieren lassen.

Elaines Motivationsansprache von neulich Abend wäre gar nicht nötig gewesen. Er wusste sehr wohl, dass dies höchstwahrscheinlich eine letzte Chance war, seine Karriere als Journalist noch zu retten. Die Frage war nur, ob er diese Chance ergreifen wollte, denn es gab ja Alternativen, die Elaine ebenfalls benannt hatte. Chronischer Alkoholismus oder Drogenmissbrauch zum Beispiel, und er war beiden nahe genug gekommen, um die Verlockung nachvollziehen zu können. Oder er könnte irgendeinen unauffälligen Job ergreifen, Reklametexte schreiben oder Bedienungsanleitungen, und so in ein gemächliches, respektables mittleres Alter hinübergleiten. Er war nicht der Erste, der sich im Erwachsenenalter mit gesunkenen Erwartungen abfinden musste, und er erhob keinen Anspruch auf Mitgefühl.

Der Auftrag, nach Crossbank und Blind Lake zu reisen, war ihm wie ein allzu lange aufgeschobener Kindheitstraum erschienen — ein schal gewordener Traum. Er war aufgewachsen mit der Liebe zum Weltraum, hatte seine Freude gehabt an den Bildern der frühen NASA- und Euro-Star-lnterferometer — erste unscharfe Bilder, darunter die beiden Gasriesen, die UMa47 umkreisten (jeder mit gewaltigen, komplexen Ringsystemen), und der verlockende Fleck, der sich als ein felsiger Planet innerhalb der bewohnbaren Zone des Sterns entpuppte.

Seine Eltern hatten seine Begeisterung toleriert, aber im Grunde nie verstanden. Allein seine Schwester Portia war bereit gewesen, ihm zuzuhören, wenn er darüber sprach, und sie behandelte diese Gespräche wie Gutenachtgeschichten. Für Portia war das alles eine gute Geschichte. Sie hörte gern zu, wenn er über diese fernen und erst seit Neuestem darstellbaren Welten sprach, wünschte sich aber immer, dass er über die gesicherten Tatsachen hinausginge. Gab es Lebewesen auf diesen Planeten? Wie sahen sie aus?

»Das wissen wir nicht«, sagte er ihr immer wieder. »Das ist noch nicht entdeckt worden.« Portia zog dann eine enttäuschte Schnute — hätte er nicht etwas erfinden können? —, doch Chris hatte sich schon das angeeignet, was er später als journalistischen Respekt vor der Wahrheit verstehen sollte. Wenn man die Tatsachen begriff, dann benötigten sie keine Ausschmückung: Das ganze Wunder war darin bereits enthalten, umso fesselnder, als es wahr war.

Dann hatten die NASA-Interferometer allmählich an Signalstärke verloren, und die neu entwickelten O/BEK-Geräte — Quantencomputer, die adaptive Neuronennetze in einer offenen organischen Architektur betrieben — wurden eingesetzt, um die winzigsten Signalfitzelchen aus dem Rauschen herauszufiltern. Sie hatten dann natürlich mehr als das geleistet. Aus ihrer zusehends tiefer gehenden und rekursiven Fourier-Analyse heraus hatten sie auf irgendeine Weise ein optisches Bild gewonnen, noch nachdem die Interferometer selbst ihre Funktion eingestellt hatten. Der analytische Apparat hatte das Teleskop ersetzt, das er eigentlich nur hätte unterstützen sollen.

Im letzten Jahr, bevor er sein Elternhaus verlassen hatte, waren die ersten Bilder von HR8832/B für die Medien freigegeben worden. Seine Familie hatte sich nicht weiter dafür interessiert. Portia war inzwischen ein aufgeweckter Teenager, der die Politik entdeckt hatte und Frust schob, weil sie nicht nach Chicago hatte fahren dürfen, um gegen die Einführung des Continental Commonwealth zu protestieren. Seine Eltern hatten sich, jeder für sich, in ihre eigenen Teilwelten zurückgezogen — sein Vater in die Holzschnitzerei und die presbyterianische Kirche, seine Mutter in ein spät berufenes Bohemetum, das von Mensatreffen und Madrasblusen, Psychomessen und afghanischen Schals gekennzeichnet war. Und obwohl sie pflichtschuldig über die Bilder von HR8832/B gestaunt hatten, hatten sie sie doch recht eigentlich nicht verstanden. Wie die meisten anderen Leute konnten sie sich nicht vorstellen, wie weit der Planet entfernt war, und was es bedeutete, dass er um »einen anderen Stern« kreiste, warum seine Seelandschaften mehr als nur auf abstrakte Weise hübsch waren oder warum so viel Aufhebens von einem Ort gemacht wurde, den man nicht einmal besuchen konnte.

Chris hätte es ihnen furchtbar gern erklärt — auch dies ein damals im Entstehen begriffener journalistischer Impuls. Die Schönheit und Bedeutung dieser Bilder waren transzendent. Der Menschheit zehntausendjähriger Kampf gegen das Unwissen gipfelte in dieser Errungenschaft. Sie setzte Galilei gegenüber seinen Inquisitoren ins Recht und erlöste Giordano Bruno von den Flammen. Sie war eine aus dem Schutt von Sklaverei und Krieg geborgene Perle.

Sie war außerdem ein Neuntageswunder, eine Medienblase, eine für kurze Zeit lukrative Einnahmequelle für die Neuheitenindustrie. Zehn Jahre waren vergangen, der O/BEK-Effekt, so hatte sich erwiesen, war schwer zu verstehen oder zu reproduzieren, Portia war weg und Chris' erster Versuch, Journalismus auf Buchlänge zu betreiben, eine Katastrophe gewesen. Die Wahrheit war eine schwer zu vermarktende Ware. Selbst in Crossbank, sogar in Blind Lake, hatte der selbstzerstörerische Streit über Imagestrategien und Interpretationen den wissenschaftlichen Diskurs fast vollständig überlagert. Und dennoch war er hier gelandet. Desillusioniert, desorientiert, durch den Wolf gedreht und von der Rolle, aber mit einer letzten Chance, jene Perle auszugraben und der Welt zu schenken. Eine Chance, die Schönheit und Bedeutung wieder zum Vorschein zu bringen, die ihn einst fast zu Tränen gerührt hatte.

Er blickte über die frühstücksbefleckte Plastiktischplatte hinweg auf Sebastian Vogel. »Was bedeutet dieser Laden für Sie?«

Sebastian zuckte freundlich die Achseln. »Ich bin auf die gleiche Weise hergekommen wie Sie. Habe die Anfrage von Visions East bekommen, habe mit meinem Agenten gesprochen, habe den Vertrag unterzeichnet.«

»Ja, aber ist das alles, was es für Sie persönlich ist — eine Gelegenheit, zu publizieren?«

»So würde ich es nicht sagen. Meine Gefühle in dieser Sache mögen weniger stark sein als die Elaines, aber ich bestreite nicht die Bedeutung der Arbeit, die hier geleistet wird. Jeder astronomische Fortschritt seit Kopernikus hat den Blick der Menschheit auf sich selbst und ihren Platz im Universum verändert.«

»Es sind allerdings nicht nur die Ergebnisse. Es ist der Prozess. Mit ein bisschen Geduld hätte Galilei das Prinzip, das hinter dem Teleskop steckt, fast jedem erklären können. Dagegen können selbst die Leute, die die O/BEKs bedienen, einem nicht sagen, wie sie das tun, was sie tun.«

»Sie fragen also danach, welches die größere Story ist«, sagte Sebastian, »was wir sehen oder wie wir es sehen. Das ist ein interessanter Blickpunkt. Vielleicht sollten Sie mit den Ingenieuren in der Alley sprechen. Die sind wahrscheinlich zugänglicher als die Theoretiker.«

Weil es ihnen egal ist, was ich der Welt über Galliano berichtet habe, dachte Chris. Weil sie mich nicht als einen Judas betrachten.


Jedenfalls war es eine gute Idee. Nach dem Frühstück rief er Ari Weingart an und bat ihn, ihm einen Kontakt in der Alley zu verschaffen.

»Der Chefingenieur da draußen ist Charlie Grogan. Wenn Sie möchten, setz ich mich mit ihm in Verbindung und versuche ein Treffen zu arrangieren.«

»Das wäre nett«, sagte Chris. »Irgendwas Neues wegen der Abriegelung?«

»Tut mir leid, nein.«

»Keine Erklärung?«

»Es ist ungewöhnlich, sicher, aber nein, keine Erklärung. Und Sie brauchen mir nicht zu erzählen, wie sauer die Leute sind. Wir haben jemanden in der Personalabteilung, bei dessen Frau die Wehen eingesetzt haben, kurz bevor die Tore geschlossen wurden am Freitag. Sie können sich vorstellen, wie glücklich er über die ganze Angelegenheit ist.«

Seine Situation war aber nicht völlig einzigartig. Am Nachmittag interviewte Chris drei weitere Tagesarbeiter in der Sporthalle von Blind Lake, und die waren wenig geneigt, über irgendetwas anderes zu sprechen als die Abriegelung — Familien, die sie nicht erreichen konnten, allein gelassene Haustiere, geplatzte Verabredungen. »Das Mindeste wäre doch, dass sie uns eine verdammte Audioleitung nach draußen geben«, schimpfte ein Elektriker. »Ich meine, was sollte da passieren? Dass jemand über Telefon Bomben auf uns wirft? Es gibt jetzt auch immer mehr Gerüchte, was ganz natürlich ist, wenn man keine echten Nachrichten bekommt. Da draußen könnte ein Krieg in Gang sein, und wir wüssten es nicht.«

Er konnte ihnen nur beipflichten. Eine vorübergehende Sicherheitsblockade, gut und schön. Fast eine Woche lang aber ohne jeden Informationsfluss in die eine oder andere Richtung auskommen zu müssen, das grenzte an Irrsinn. Wenn das noch lange so weiterging, musste man annehmen, dass draußen etwas wirklich Tiefgreifendes geschehen war.

Und vielleicht war es das auch. Aber das war keine Erklärung. Welche Bedrohung konnte eine Netz- oder Videoverbindung, selbst in Kriegszeiten, schon darstellen? Wozu nicht nur die gesamte Bevölkerung von Blind Lake unter Quarantäne stellen, sondern auch alle ihre Datenkanäle? Was wurde da von wem verborgen? Und vor wem?


Er hatte die Absicht, die Stunde vor dem Abendessen damit zu verbringen, seine Notizen in irgendeiner Form zu ordnen. Er begann die Möglichkeit eines fertig gestellten Artikels ernsthaft ins Auge zu fassen, vielleicht nicht unbedingt über zwanzigtausend Wörter, wie es der Vorstellung von VE entsprach, aber doch einigermaßen nahe dran. Er hatte sogar schon eine These parat: Wunder, begraben unter der Gleichgültigkeit der Menschen. Die verschlafene Kultur von UMa47/E als ferner Spiegel.

Ein Projekt wie dieses würde ihm guttun, würde vielleicht den Glauben an sich selbst ein Stück weit wieder herstellen. Oder er würde morgen neuerlich im zermürbenden Nebel des Selbstekels erwachen, im Wissen, dass er definitiv niemandem etwas vormachen konnte mit seiner Handvoll von halb transkribierten Interviews und seinen zerbrechlichen Ambitionen. Das war auch möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich.

Als er von seinem Pocket-Server aufblickte, sah er, dass Elaine auf ihn zugesteuert kam. »Chris!«

»Ich hab grad keine Zeit.«

»Da ist irgendwas am Südtor los. Dachte, das würde Sie vielleicht interessieren.«

»Worum geht's denn?«

»Was weiß ich? Irgendwas Großes kommt mit niedriger Geschwindigkeit die Straße runter. Sieht aus wie ein unbemanntes Fahrzeug. Man kann's vom Hügel hinter der Plaza aus sehen. Kann das kleine Ding, das Sie da haben, auch Videoaufnahmen machen?«

»Sicher, aber …«

»Dann bringen Sie's mit. Na los!«

Es war ein kurzer Weg vom Gemeindezentrum zur Hügelkuppe. Was immer da vorgehen mochte, es war ungewöhnlich genug, dass sich eine kleine Menschenmenge versammelt hatte, um es zu beobachten, und Chris sah auch eine ganze Reihe von Gesichtern in den Fenstern des Südturms auf der Hubble Plaza. »Haben Sie Sebastian verständigt?«

Elaine verdrehte die Augen. »Ich behalte ihn nicht ständig im Auge und ich bezweifle, dass es ihn interessiert. Es sei denn, es wäre der Heilige Geist, der dort angerollt kommt.«

Chris spähte in die Ferne.

Die gewundene Zufahrtsstraße nach Blind Lake war gut einsehbar unter einer Decke von geballten, übereinanderstürzenden Wolken. Und ja, irgendetwas näherte sich dem geschlossenen Tor von außen. Chris vermutete, dass Elaines Einschätzung wahrscheinlich zutreffend war: Es sah aus wie ein großer achtzehnrädriger, führerloser Güterlastwagen, ein Drohnenfahrzeug der Machart, wie es das Militär in der türkischen Krise vor fünf Jahren eingesetzt hatte. Es war durchgängig schwarz angemalt und nicht gekennzeichnet, jedenfalls soweit Chris aus der Entfernung ausmachen konnte. Es bewegte sich mit einer Geschwindigkeit, die nicht mehr als fünfundzwanzig Stundenkilometer betragen konnte — also noch etwa zehn Minuten, bis es das Tor erreichen würde.

Chris drehte ein paar Sekunden Video. Elaine sagte: »Sind Sie gut in Form? Ich will nämlich da runterjoggen und sehen, was passiert, wenn das Ding ankommt.«

»Könnte gefährlich werden«, sagte Chris. Und vor allem auch kalt. Die Temperatur war in der letzten Stunde um einige Grad gesunken, und er hatte keine Jacke dabei.

»Kaufen Sie sich 'ne Tüte Mumm«, schimpfte Elaine. »Der Laster sieht nicht aus, als wäre er mit Waffen bestückt.«

»Mag sein, aber er ist gepanzert. Irgendjemand rechnet also mit Problemen.«

»Ein Grund mehr, hinzugehen. Hören Sie!«

Sirenengeräusch. Zwei Transporter der Sicherheitskräfte von Blind Lake rauschten an ihnen vorbei, Richtung Süden.

Elaine war ziemlich fit für eine Frau ihres Alters; Chris musste sich sputen, um mit ihr Schritt zu halten.

Acht

Marguerite verließ am Mittwoch ihr Büro frühzeitig und fuhr zur Schule, um sich mit Mr. Fleischer, Tessas Klassenlehrer, zu unterhalten.

Blind Lakes einzige Schule war in einem langen flachen, zweigeschossigen Gebäude nicht weit von der Plaza untergebracht, umgeben von Spielplätzen, einem Sportgelände und einem großzügig dimensionierten Parkplatz. Wie alle Gebäude in Blind Lake war die Schule nüchtern und zweckmäßig gestaltet, aber auch gewissermaßen keimfrei, anonym — es hätte eine beliebige Schule an einem beliebigen Ort sein können.

Sie ähnelte sehr der Schule in Crossbank, und der Geruch, der Marguerite in die Nase stieg, als sie durch die große Vordertür trat, war der Geruch aller Schulen, in denen sie sich je aufgehalten hatte: eine Mischung aus saurer Milch, Sägespänen, Desinfektionsmitteln, dem Körpergeruch Heranwachsender und warmer Elektronik.

Sie folgte dem Korridor bis zum Westflügel. Tessa war dieses Jahr in die achte Klasse gekommen, ein Schritt über die Himmel-und-Hölle- und die Barbie-Phase hinaus, die heikle Pubertät stand kurz bevor. Marguerite hatte selbst gelitten in ihrer Highschoolzeit, und noch immer, wie konditioniert, ergriff sie Anspannung und Unbehagen zwischen den Reihen der lachsfarbenen Schließfächer, obwohl die Schule weitgehend leer war — die Schüler waren vorzeitig nach Hause geschickt worden, um Gelegenheit für diese Lehrer-Eltern-Gespräche zu schaffen. Sie nahm an, dass Tess bereits zu Hause war, vielleicht las sie und lauschte dem Summen der Fußbodenheizung. Trautes Heim, dachte Marguerite ein wenig neidisch.

Sie klopfte an die halb offene Tür von Zimmer 130, dem von Mr. Fleischer. Er bat sie herein und erhob sich, um ihr die Hand zu schütteln.

Sie zweifelte nicht daran, dass Mr. Fleischer ein ausgezeichneter Lehrer war. Blind Lake war eine Vorzeige-Institution des Bundes, und das Angebot einer erstklassigen Schulausbildung spielte eine Schlüsselrolle bei der Anwerbung von Mitarbeitern. So war Marguerite davon überzeugt, dass Mr. Fleischer über makellose Referenzen verfügte. Sein Aussehen entsprach der Vorstellung, die man sich von einem guten Lehrer machte, oder jedenfalls einem Lehrer, dem man getrost sein Vertrauen schenken kann: groß, rehbraune Augen, gut, aber nicht einschüchternd gut gekleidet, mit gepflegtem Bart und freigebig ausgeteiltem Lächeln.

»Willkommen«, sagte er. Der Raum war mit Schreibpulten in Kindergröße ausgestattet, doch der Lehrer hatte ein paar elternkompatible Stühle organisiert. »Nehmen Sie doch bitte Platz.«

Komisch, dachte Marguerite, wie unbeholfen sie sich in dieser Situation fühlte.

Fleischer blickte kurz auf einen Bogen mit Notizen. »Schön, Sie kennenzulernen — beziehungsweise sich mal mit Ihnen zu unterhalten, denn kennengelernt haben wir uns ja schon bei Tessas Einführung. Sie arbeiten in Beobachtung und Interpretation?«

»Genau genommen bin ich die Abteilungsleiterin.«

Fleischers Augenbrauen gingen kurz in die Höhe. »Seit August hier?«

»Tess und ich sind im August hergezogen, ja.«

»Tessas Vater war allerdings schon etwas früher hier, nicht wahr?«

»Das ist richtig.«

»Sie leben getrennt?«

»Wir sind geschieden«, korrigierte Marguerite sofort. War es Paranoia ihrerseits oder hatte Fleischer bereits mit Ray über dieses Thema gesprochen? Ray sagte immer, sie seien »getrennt«, als sei die Scheidung nur ein vorübergehendes Missverständnis. Und es wäre typisch für Ray, über Marguerite zu sagen, dass sie »in der Interpretationsabteilung arbeite«, anstatt zu erkennen zu geben, dass sie deren Leiterin war. »Wir teilen uns das Sorgerecht, aber Tess ist überwiegend in meiner Obhut.«

»Verstehe.«

Vielleicht hatte Ray auch dies zu erwähnen versäumt. Fleischer nahm sich etwas Zeit, um seinen Aufzeichnungen eine Notiz hinzuzufügen. »Tut mir leid, falls diese Fragen aufdringlich erscheinen. Ich möchte mir nur ein Bild von Tessas häuslicher Situation machen. Sie hat ein paar Probleme hier in der Schule gehabt, wie Ihnen sicherlich bekannt ist. Nichts Schwerwiegendes, aber ihre Noten sind nicht ganz so, wie wir sie gerne hätten, und im Unterricht macht sie einen, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, einen etwas zerstreuten Eindruck.«

»Der Umzug …«, setzte Marguerite an.

»Das ist zweifellos ein Faktor. Hier geht es zu wie auf einem Militärstützpunkt. Die ganze Zeit kommen und gehen Familien, und das ist schwer für die Kinder. Und die anderen Kinder können Neuankömmlingen das Leben auch schwer machen, ich habe es allzu oft erlebt. Aber meine Sorge, was Tess betrifft, geht ein bisschen weiter. Ich habe mir ihre Akte aus Crossbank mal angesehen.«

Ah, dachte Marguerite. Nun, das war unvermeidlich. Musste diese alte Geschichte also wieder aufgewärmt werden. »Tess hatte im letzten Frühling einige Probleme. Aber das ist inzwischen alles behoben.«

»Das war in der Phase der Ehescheidung?«

»Ja.«

»Sie war während dieser Zeit in therapeutischer Behandlung, nicht wahr?«

»Bei Dr. Leinster in Crossbank. Ja.«

»Ist sie derzeit in Behandlung?«

»Hier in Blind Lake?« Marguerite schüttelte entschieden den Kopf. »Nein.«

»Haben Sie mal daran gedacht? Wir haben Leute hier im Kollegium, die eine wirklich erstklassige Betreuung anbieten können.«

»Das glaube ich gern. Ich halte es aber nicht für nötig.«

Fleischer machte eine Pause. Er klopfte mit einem Bleistift auf seinen Schreibtisch. »In Crossbank hatte Tess gewisse halluzinatorische Erscheinungen, ist das richtig?«

»Nein, Mr. Fleischer, das ist nicht richtig. Tess war einsam und hat Selbstgespräche geführt. Sie hatte sich eine Freundin erfunden, die sie ›Mirror Girl‹ nannte, und in manchen Momenten fiel es ihr dann ein bisschen schwer, zwischen Realität und Phantasie zu unterscheiden. Das ist ein Problem, aber es handelt sich nicht um Halluzinationen. Sie ist auf Schläfenlappenepilepsie und ein Dutzend andere neurologische Störungen getestet worden. Die Tests waren allesamt negativ.«

»Der Akte zufolge wurde eine Diagnose gestellt, nämlich …«

»Asperger Syndrom, ja, aber das ist kein so furchtbar ungewöhnliches Leiden. Sie hat manchmal nervöse Zuckungen, sie war sprachentwicklungsverzögert und sie tut sich schwer, Freunde zu finden, aber das wissen wir jetzt schon seit einigen Jahren. Sie ist einsam, ja, und ich glaube, die Einsamkeit hat zu den Problemen in Crossbank beigetragen.«

»Ich glaube, sie ist auch hier einsam.«

»Sicherlich haben Sie recht. Ja, sie ist einsam und orientierungslos. Wären Sie das nicht auch? Die Eltern geschieden, eine neue Umgebung und dazu all die üblichen Grausamkeiten, die ein Kind ihres Alters zu erleiden hat. Sie brauchen mich nicht darauf aufmerksam zu machen. Ich sehe es jeden Tag. In ihrer Körpersprache, in ihren Augen.«

»Und Sie glauben nicht, dass eine therapeutische Behandlung ihr helfen könnte?«

»Ohne abschätzig klingen zu wollen, aber die einschlägigen Behandlungen sind nicht sehr erfolgreich gewesen. Tessa hat Ritalin und eine ganze Reihe anderer Medikamente bekommen, und keins davon hat ihr in irgendeiner Weise geholfen. Ganz im Gegenteil. Das müsste eigentlich auch in der Akte stehen.«

»Eine Therapie muss nicht mit Medikamenten einhergehen. Manchmal hilft einfach das Reden.«

»Tess hat es aber nicht geholfen. Wenn überhaupt, dann hat sie sich dadurch noch unnormaler, noch einsamer, noch bedrängter gefühlt.«

»Hat sie Ihnen das gesagt?«

»Das musste sie nicht.« Marguerite stellte fest, dass ihre Hände schweißnass waren; auch ihre Stimme hatte sich angespannt. Dein defensiver Jammerton, hatte Ray immer gesagt. »Worauf wollen Sie hinaus, Mr. Fleischer?«

»Nochmals, es tut mir leid, wenn ich aufdringlich erscheine. Aber ich weiß einfach ganz gern ein bisschen über die Lebensumstände meiner Schüler Bescheid, vor allem dann, wenn sie Probleme haben. Ich glaube, dass mich dieses Wissen zu einem besseren Lehrer macht. Wahrscheinlich klinge ich dadurch aber auch wie ein Vernehmungsbeamter. Dafür würde ich mich entschuldigen wollen.«

»Ich weiß, dass Tess mit ihrer schriftlichen Arbeit ein bisschen hinterhergehinkt ist, aber …«

»Sie kommt in den Unterricht, aber es gibt Tage, wo sie — ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll — emotional abwesend ist. Sie starrt aus dem Fenster. Manchmal rufe ich sie auf, und sie reagiert nicht. Sie flüstert mit sich selbst. Deswegen ist sie noch nicht unnormal, geschweige denn gestört, aber es macht sie zu einer schwierigen Schülerin. Alles, was ich sagen will, ist: Vielleicht können wir helfen.«

»Ray war hier, nicht wahr?«

Mr. Fleischer blinzelte. »Ich habe verschiedentlich mit Ihrem Mann gesprochen — Ihrem Exmann —, aber das ist nichts Ungewöhnliches.«

»Was hat er Ihnen erzählt? Dass ich sie vernachlässige? Dass sie sich darüber beklagt, einsam zu sein, wenn sie bei mir ist?«

Fleischer antwortete nicht, aber sein verblüffter Blick verriet ihn. Volltreffer. Ray, dieser Arsch!

»Sehen Sie«, sagte Marguerite, »ich weiß Ihre Sorge zu schätzen und ich teile sie voll und ganz, aber Sie sollten auch wissen, dass Ray mit den Sorgerechtsvereinbarungen nicht zufrieden ist, und es ist nicht das erste Mal, dass er mir etwas anzuhängen versucht, um den Eindruck zu erwecken, ich sei eine schlechte Mutter. Lassen Sie mich raten: Er kam hierher und hat Ihnen erzählt, wie ungern er das Thema zur Sprache bringen würde, aber er mache sich solche Sorgen um Tessa, wo sie doch schon in Crossbank all diese Probleme hatte, und vielleicht erhielte sie auch nicht die elterliche Zuwendung, die ihr zukomme, ja, tatsächlich habe sie sogar Derartiges ihm gegenüber durchblicken lassen … trifft es das im Großen und Ganzen?«

Fleischer hob die Hände. »Auf solche Erörterungen kann ich mich nicht einlassen. Ich habe Tessas Vater das Gleiche gesagt, was ich Ihnen sage.«

»Ray verfolgt seine eigenen Zwecke, Mr. Fleischer.«

»Mir liegt nur Tessas Wohl am Herzen.«

»Nun, ich …« Marguerite unterdrückte den Drang, sich auf die Lippe zu beißen. Wie war dieses Gespräch so vollkommen aus dem Ruder gelaufen? Fleischer sah sie jetzt mit geduldiger Sorge, nein, herablassender Sorge an, aber er war schließlich Lehrer einer achten Klasse, und vielleicht war dieses großäugige Stirnrunzeln nur ein Verteidigungsreflex, eine Maske, die sich automatisch immer dann über sein Gesicht legte, wenn er mit einem hysterischen Kind konfrontiert war. Oder Elternteil. »Wissen Sie, ich bin bereit, selbstverständlich, alles zu tun, was Tess helfen würde, was ihr hilft, sich auf die schulische Arbeit zu konzentrieren …«

»Grundsätzlich«, sagte Fleischer, »sind wir hier, glaube ich, auf einer Wellenlänge. Tess hat in Crossbank ziemlich viel Unterricht versäumt — wir wollen nicht, dass sich das wiederholt.«

»Nein. Das wollen wir nicht. Ich glaube, ehrlich gesagt, auch nicht, dass es so weit kommen wird.« In der Hoffnung, dass es nicht allzu deutlich nach Verzweiflung klang, fügte sie hinzu: »Ich kann mich mal mit ihr zusammensetzen und darüber reden, dass sie ihre Arbeit sorgfältiger machen sollte, falls Sie das für eine gute Idee halten.«

»Es könnte hilfreich sein.« Fleischer zögerte, dann: »Ich will nur sagen, Marguerite, dass wir beide die Augen offen halten müssen, was Tess betrifft. Problemen begegnen, bevor sie auftreten.«

»Meine Augen sind immerzu offen, Mr. Fleischer.«

»Nun, das ist gut. Das ist das Wichtigste. Kann ich Sie anrufen, wenn ich der Meinung bin, wir sollten uns noch einmal in Verbindung setzen?«

»Jederzeit«, sagte Marguerite, lächerlich dankbar dafür, dass das Gespräch sich seinem Ende zu nähern schien.

Fleischer erhob sich. »Danke, dass Sie sich Zeit genommen haben, und ich hoffe, ich habe Sie nicht in Unruhe versetzt.«

»Überhaupt nicht.« Eine schreiende Lüge.

»Meine Tür steht Ihnen immer offen, falls Sie Ihrerseits etwas auf dem Herzen haben.«

»Danke. Das ist sehr freundlich.«

Sie eilte den Flur hinunter zum Ausgang, als würde sie fluchtartig den Schauplatz eines Verbrechens verlassen. Es war ein Fehler gewesen, Ray zu erwähnen, dachte sie, aber seine Fingerabdrücke lagen über dieser ganzen Begegnung, und was für ein abgekartetes Spiel es doch gewesen war — und wie typisch für Ray, Tessas Probleme als Waffe zu benutzen!

Es sei denn, dachte Marguerite, ich mache mir etwas vor. Es sei denn, Tessas Probleme gingen tiefer als eine leichte Persönlichkeitsstörung; es sei denn, der ganze Zirkus von Crossbank war im Begriff, seine Neuauflage zu erleben … Sie wollte alles tun, um Tess durch diese schwierige Phase zu helfen, wenn sie nur gewusst hätte, wie sie ihr helfen könnte, aber es schien kaum möglich, Tessas hartnäckige Gleichgültigkeit zu durchbrechen … vor allem, wenn Ray auch noch dazwischenfunkte mit seinen psychologischen Spielchen, um sich wer weiß für irgendeine hypothetische Sorgerechtsschlacht in Stellung zu bringen. Ray, der jeden Konflikt als Krieg auffasste und getrieben war von der Furcht, diesen zu verlieren.

Marguerite drängte durch die Tür hinaus in die herbstliche Luft. Der Nachmittag hatte sich dramatisch abgekühlt, und die Wolken waren nähergekommen, oder jedenfalls schien es so im Licht der tiefstehenden Sonne. Der leichte Wind war frostig, aber hoch willkommen nach der klaustrophobischen Wärme des Klassenzimmers.

Als sie in ihr Auto stieg, hörte sie Sirenengeheul. Sie fuhr vorsichtig zur Ausfahrt und wartete, bis das Fahrzeug der Sicherheitskräfte von Blind Lake vorbeigerauscht war. Es schien in Richtung Südtor unterwegs zu sein.

Neun

Sue Sampel, Ray Scutters Assistentin, klopfte an seine Tür und erinnerte ihn daran, dass er in zwanzig Minuten einen Termin mit Ari Weingart habe. Ray blickte von einem Stapel Ausdrucke auf und schürzte die Lippen. »Danke, das weiß ich.«

»Und um vier kommt der Mann von der Zivilen Sicherheit.«

»Ich bin durchaus in der Lage, meinen Terminkalender zu lesen, danke sehr.«

»Dann ist ja gut«, sagte Sue. Du mich auch! Ray war in düsterer Stimmung an diesem Mittwoch — nicht dass je eitel Sonnenschein bei ihm geherrscht hätte. Sie vermutete, dass ihm, wie allen anderen auch, die Abriegelung zu schaffen machte. Sie hatte Verständnis für die Sicherheitsbelange und sie konnte sich sogar vorstellen, dass es notwendig sein mochte (Gott weiß warum allerdings), selbst Telefongespräche nach außerhalb unmöglich zu machen. Aber wenn das noch lange so weiterging, würden die Leute ernsthaft sauer werden. Viele waren es bereits. Für die Tagesarbeiter, die ihren Lebensmittelpunkt (Ehepartner, Kinder) außerhalb von Blind Lake hatten, galt das mit Sicherheit. Aber auch für die ständigen Bewohner. Sue selbst zum Beispiel. Sie wohnte im Lake, aber was Männerbekanntschaften betraf, orientierte sie sich nach außerhalb, und so war sie ausgesprochen darum besorgt, den überaus wichtigen zweiten Anruf von einem Mann zu erhalten, den sie bei einer Single-Veranstaltung in Constance kennengelernt hatte, ein Mann in ihrem Alter, Mitte vierzig, ein Tierarzt mit sich lichtenden Haaren und sanften Augen. Sie stellte sich vor, wie er das Telefon in der Hand hielt, traurig auf die Anzeige KEIN SIGNAL/SERVER NICHT VERFÜGBAR blickte und sie schließlich abschrieb. Wieder eine verpasste Gelegenheit. Wenigstens wäre es diesmal nicht ihre Schuld.

Ari Weingart platzte genau zur verabredeten Zeit ins Büro. Guter alter Ari: höflich, lustig, sogar pünktlich. Ein Heiliger.

»Der Chef da?«, fragte er.

»Wie der glückliche Zufall so spielt. Ich sag ihm Bescheid, dass Sie da sind.«


Ray Scutters Fenster im fünften Stock von Hubble Plaza ging nach Süden hinaus, und oft sah er sich von der Aussicht abgelenkt. Für gewöhnlich herrschte ein stetiger Verkehrsfluss sowohl nach Blind Lake herein als auch hinaus. In letzter Zeit gab es keinen mehr, durch die Abriegelung war der Fensterausblick statisch geworden, das Land jenseits der Umzäunung leer wie braunes Papier, keine Bewegung außer den gleitenden Wolkenschatten und gelegentlich vorbeischießenden Vogelschwärmen. Wenn man lange genug draufstarrte, begann es genauso unmenschlich auszusehen wie die Landschaft auf UMa47/E. Nur ein weiteres importiertes Bild. Es war alles nur Oberfläche, nicht wahr? Völlig zweidimensional.

Die Abriegelung hatte eine Reihe von ärgerlichen Problemen geschaffen. Nicht das Geringste von ihnen bestand darin, dass er derzeit die höchstrangige zivile Autorität auf dem Campus darzustellen schien. Dabei war sein Status in der Verwaltungshierarchie eigentlich eher untergeordnet. Aber am letzten Wochenende hatte die alljährliche NSI-Konferenz für Astrobiologie und Exokulturelle Wissenschaften in Cancun stattgefunden. Eine riesige Delegation von Wissenschaftlern und leitenden Verwaltungsbeamten hatte das Badezeug eingepackt und Blind Lake einen Tag vor der Abriegelung verlassen. Wenn man all diese Namen aus dem Flussdiagramm herauszog und guckte, was übrig blieb, dann war es Ray Scutter, der wie ein herrenloser Ballon über den diversen Abteilungsleitern schwebte.

Das hatte zur Folge, dass die Leute mit Problemen zu ihm kamen, die zu lösen er gar nicht befugt war. Dinge von ihm forderten, die er ihnen nicht geben konnte, zum Beispiel eine stichhaltige Erklärung für die Abriegelung oder aber eine besondere Vollmacht, die sie davon befreite. Er musste ihnen sagen, dass er genau wie sie im Dunkeln tappte. Er konnte nichts anderes tun, als streng nach Vorschrift weiterzumachen und ansonsten auf Anweisungen von außen zu warten. Darauf zu warten, mit anderen Worten, dass das ganze beschissene Chaos ein Ende nahm. Allerdings dauerte es nun schon beunruhigend lange an.

Er wandte seinen Blick vom Fenster ab, als Ari Weingart an die Tür klopfte und eintrat.

Ray missfiel Weingarts fröhlicher Optimismus. Er hegte den Verdacht, dass sich dahinter eine heimliche Geringschätzung verbarg, argwöhnte, dass Weingart unter seinem jovialen äußeren Gebaren genauso begeistert um Einfluss schacherte wie alle anderen Abteilungsleiter auch. Wenigstens aber hatte Weingart Verständnis für Rays Situation und schien mehr daran interessiert, die Krise zu bewältigen, als sich darüber zu beklagen.

Wenn er doch nur dieses Lächeln abstellen würde. Das Lächeln strahlte Ray ins Gesicht wie ein gleißender Scheinwerfer, die Zähne so weiß und regelmäßig, dass sie wie leuchtende Ma-Jongg-Kacheln aussahen. »Setzen Sie sich«, sagte Ray.

Weingart nahm sich einen Stuhl und öffnete seinen Pocketcomputer. Gleich zur Sache kommen. Das gefiel Ray.

»Sie hatten um eine Liste von Situationen gebeten, auf die wir uns einstellen müssen, falls die Quarantäne noch lange dauert. Ich habe mir ein paar Notizen gemacht.«

»Quarantäne?«, sagte Ray. »So nennen es die Leute?«

»Im Unterschied zur üblichen Sechsstunden-Abriegelung, ja.«

»Warum sollten wir unter Quarantäne gestellt werden? Es ist doch niemand krank.«

»Sprechen Sie mit Dimi.« Dimitrij Schulgin war der Chef der Zivilsicherheitskräfte, der Mann mit dem Vier-Uhr-Termin. »Die Abriegelung folgt irgendwelchen obskuren Bestimmungen im Militärhandbuch. Er sagt, es handelt sich um eine sogenannte ›Datenquarantäne‹, aber niemand hat damit gerechnet, dass sie jemals wirksam werden würde.«

»Zu mir hat er nichts dergleichen gesagt. Ich schwöre bei Gott, dieser Slawe ist schweigsam wie ein Fisch. Was genau soll denn so eine ›Datenquarantäne‹ bewirken?«

»Die Bestimmungen wurden zu einer Zeit verfasst, als Crossbank gerade erst anfing, Bilder reinzuholen. Das ist eins von diesen paranoiden Szenarien, wie sie bei den Anhörungen im Kongress ausgemalt wurden. Die Idee dahinter war, dass Crossbank oder Blind Lake irgendetwas Gefährliches downloaden könnten, nichts Physisches, versteht sich, aber ein Virus oder einen Wurm oder etwas in der Art … Wissen Sie, was Steganografie ist?«

»Wenn Informationen in Fotografien oder Bildern versteckt werden.« Er erinnerte Weingart nicht daran, dass er, Ray, bei diesen Anhörungen ausgesagt hatte. Der Informationskrieg war ein heißes Thema gewesen zu der Zeit. Die Ludditenlobby hatte befürchtet, dass Blind Lake ein unbekanntes, superbösartiges, sich selbst replizierendes digitales Programm oder, um Gottes willen, ein tödliches Mem importieren könnte, das sich dann über terrestrische Datenwege verbreiten und Schäden ungeahnten Ausmaßes anrichten würde.

So misstrauisch er selbst oft war, was das in Blind Lake unternommene Stochern im Unbekannten betraf, fand er diese Vorstellung jedoch vollkommen unsinnig. Die Eingeborenen von UMa47/E konnten schwerlich wissen, dass sie ausspioniert wurden … und selbst wenn sie es wüssten, waren die am Lake verarbeiteten Bilder, auf welch mysteriösen Wegen auch immer, mit konventioneller Lichtgeschwindigkeit gereist. Sie würden nicht nur eine unvorstellbare Wahrnehmungsfähigkeit, sondern auch ein lachhaft geduldiges Rachebedürfnis aufbringen müssen, um darauf in irgendeiner Form feindselig zu reagieren. Dennoch, hatte er sich einzuräumen gezwungen gesehen, war gefährliche Steganografie eine Möglichkeit, die man, jedenfalls theoretisch, nicht ausschließen konnte. Also war das eh schon gewaltige Netz der Sicherheitsbestimmungen für Blind Lake noch um eine Reihe von Alternativplänen ergänzt worden. Obwohl das Ganze nach Rays Meinung der größte Haufen Astronomiescheiße war seit Girolamo Fracastoros Theorie, wonach die Syphilis durch ein Zusammentreffen von Saturn, Jupiter und Mars verursacht werde.

Waren diese schwachsinnigen Verordnungen also allen Ernstes zur Anwendung gekommen? »Was gegen diese Vorstellung spricht«, sagte er zu Weingart. »Keine Provokation. Wir haben nichts Verdächtiges downgeloadet.«

»Jedenfalls bisher nicht«, sagte Weingart.

»Wissen Sie etwas, das ich nicht weiß?«

»Kaum. Aber sagen wir, falls es ein Problem in Crossbank gäbe …«

»Ach, kommen Sie. Crossbank beobachtet Meere und Bakterien.«

»Ich weiß, aber falls …«

»Und außerdem erzeugen wir vollkommen verschiedene Bildobjekte. Deren Arbeit hat keine Auswirkungen auf unsere.«

»Nein, aber falls es irgendein Problem mit dem Prozess gäbe …«

»Etwas, das speziell das Auge betrifft, meinen Sie?«

»Falls es irgendwelche Probleme mit den O/BEKs in Crossbank gibt, könnte das Ministerium oder das Militär beschlossen haben, uns vorsichtshalber unter Quarantäne zu stellen.«

»Sie hätten uns wenigstens warnen können.«

»Informationssperre funktioniert in beide Richtungen. Nichts kommt rein, nichts geht raus. Wir müssen davon ausgehen, dass sie nicht einmal so etwas wie eine Trägerwelle durchkommen lassen wollen.«

»Das schließt eine Warnung nicht aus.«

»Es sei denn, sie standen unter Zeitdruck.«

»Das ist alles lächerlich spekulativ, und ich hoffe, dass Sie und Schulgin damit nicht hausieren gegangen sind. Gerüchte könnten eine Panik verursachen.«

Weingart schien etwas darauf sagen zu wollen, verkniff es sich jedoch.

»Wie auch immer«, sagte Ray, »es liegt nicht in unserer Hand. Die drängende Frage ist die, was wir auf eigene Faust tun können, bis irgendjemand kommt und die Tür wieder aufschließt.«

Weingart nickte und begann seine Liste zu verlesen. »Vorräte. Die Versorgung mit Trinkwasser ist nicht unterbrochen, die Leitungen sind also offen, aber ohne Hilfe von draußen werden uns die Nahrungsmittel noch vor Ende der Woche knapp und spätestens Ende November würden wir es mit einer Hungersnot zu tun haben. Ich gehe davon aus, dass wir neue Vorräte bekommen, aber es könnte sinnvoll sein, unsere Überschüsse gesondert zu lagern und eventuell sogar erst einmal Wachen aufzustellen.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese … Belagerung … noch bis Thanksgiving weitergeht.«

»Tja, aber wir unterhalten uns hier über ›Was wäre wenn‹ …«

»Ja, ja, ist richtig. Was sonst noch?«

»Medizinische Versorgung, die gleiche Geschichte, und die Ambulanz vor Ort ist nicht auf ernsthafte Krankheiten oder auf Verletzungen eingerichtet. Falls es ein Feuer gäbe, müssten wir Tote in Kauf nehmen, weil wir außerstande sind, eventuelle Brandopfer in ein größeres Krankenhaus zu transportieren. Auch in diesem Punkt können wir nicht viel machen, außer das medizinische Personal zu bitten, Notfallpläne zu erstellen. Außerdem, falls die Quarantäne weiter andauert, werden wir psychologische Betreuung brauchen. Wir haben bereits einige Leute, bei denen es draußen dringende Familienangelegenheiten gibt.«

»Die werden's überleben.«

»Unterbringung. Ein paar hundert Tagesarbeiter übernachten derzeit in der Sporthalle, nicht zu reden von einigen Journalisten, die zu Besuch sind, einer Handvoll von Auftragnehmern und wer sonst noch zufällig gerade mit einer Tagesgenehmigung da war. Langfristig, falls dies wirklich eine langfristige Quarantäne ist, sollten wir vielleicht zusehen, ob wir diese Leute nicht irgendwo einquartieren können. Es gibt unter den Bewohnern hier einige, die Gästezimmer zur Verfügung haben, und es wäre bestimmt nicht schwer, Freiwillige zusammenzutrommeln. Mit ein bisschen Glück können wir für jeden ein Bett oder wenigstens eine Schlafcouch organisieren. Badbenutzung statt Kampf um die Duschen im Gemeindezentrum und Schlangestehen vor den Klos.«

»Kümmern Sie sich drum«, sagte Ray. Nach kurzem Überlegen fügte er hinzu: »Stellen Sie eine Liste von Freiwilligen zusammen, aber bringen Sie sie mir, bevor Sie mit den Leuten reden. Und wir müssen dazu ein Verzeichnis der Tagesarbeiter und der Gäste erstellen.«

Es gab noch mehr — tendenziell nebensächliche Details, die meistenteils leicht delegiert werden konnten, alles unter der Voraussetzung einer länger währenden Abriegelung, woran Ray jedoch nicht ernsthaft glauben mochte. Ein ganzer Monat so wie jetzt? Drei Monate? Es war unvorstellbar. Seine Gewissheit wurde lediglich von der unangenehmen Tatsache beeinträchtigt, dass die Abriegelung bereits jetzt unnachvollziehbar lange andauerte.

Sue Sampel klopfte an die Tür, als Weingart zur Zusammenfassung ansetzte. »Wir sind noch nicht fertig«, rief Ray.

Sie steckte den Kopf durch die Tür. »Ich weiß, aber …«

»Falls Schulgin schon da ist, er soll noch ein paar Minuten warten.«

»Er ist nicht da, sondern hat angerufen, um abzusagen. Er ist unterwegs zum Südtor.«

»Zum Südtor? Was ist denn so verdammt wichtig am Südtor?«

Sie lächelte aufreizend. »Er sagte, Sie würden es verstehen, wenn Sie aus dem Fenster guckten.«


Das gewaltige achtzehnrädrige Fahrzeug — pechschwarz und schwer gepanzert — kroch auf Blind Lake zu wie eine überdimensionierte Kellerassel, scheu und zögerlich trotz aller Schutzschichten. Wo normalerweise die Fahrerkabine ist, befand sich nur ein stumpfer, mit Sensoren ausgestatteter Kegel. Der Transporter las die Straße, lokalisierte seine Position mithilfe von in der Erde vergrabenen Transpondern und GPS-Signalen. Einen menschlichen Fahrer gab es nicht. Der Lastwagen fuhr sich selbst.

Als Chris und Elaine sich dem Südtor näherten, war die Straße bereits von dienstfreien Tagesarbeitern und Bürokräften sowie einer Horde Schulkindern belagert. Zwei Fahrzeuge der Zivilen Sicherheit kamen herangefahren, ein Dutzend Männer in grauen Uniformen sprang heraus und begann die Menschenmenge auf einen Abstand zurückzudirigieren, den sie für sicher erachteten.

Der Zaun um Blind Lakes innerste Umgrenzungslinie war eine »Zurückhalteeinrichtung« auf dem neuesten Stand der Technik, wie Elaine mitzuteilen wusste. Die tief in die Erde eingelassenen Pfosten waren aus einer verstärkten Metalllegierung, die Verbindungsglieder aus einem Kohlenstoffgemisch, das stabiler als Stahl war, an der Oberfläche glatter als Teflon und mit Sensoren versehen; über allem erhob sich eine um neunzig Grad geneigte Doppelreihe Bandstacheldraht. Und das ganze Ding ließ sich mit einer tödlichen elektrischen Spannung laden.

Das die Straße versperrende Tor schwang auf einem Scharnier auf, sofern es ein entsprechendes Signal vom Wachhäuschen oder einem codierten Transponder erhielt. Das Wachhäuschen selbst war ein Betonbunker mit schlitzartigen Fenstern, stabil wie ein Fels, aber derzeit unbemannt: Mit Beginn der Abriegelung war die Wache abgezogen worden.

Chris schlängelte sich durch die Menge nach vorn, Elaine folgte ihm, indem sie sich an seiner Schulter festhielt. Schließlich gelangten sie bis zu den Straßenbarrieren, die ihnen von den Sicherheitsleuten in den Weg gewuchtet wurden. Elaine deutete auf ein gerade eintreffendes Auto. »Ist das nicht Ari Weingart? Und ich glaube, der andere Typ, der bei ihm ist, das ist Raymond Scutter.«

Chris sah sich das Gesicht genauer an. Ray Scutter war ein interessanter Fall. Vor fünfzehn Jahren war er als Kritiker der Astrobiologie, der »Wissenschaft des Wunschdenkens«, bekannt geworden. Die marsianische Enttäuschung hatte Rays Standpunkt eine Menge Glaubwürdigkeit verliehen, jedenfalls solange, bis die Suche nach erdähnlichen Planeten interessante Resultate zu liefern begannen. Die in Crossbank und Blind Lake erzielten Durchbrüche ließen seinen Pessimismus als kurzsichtig und kleinlich erscheinen, aber Ray Scutter hatte diese Wende durch geschicktes Zurückrudern überlebt und dadurch, dass er fortan die Begeisterung eines Konvertiten an den Tag legte. Die wirklich fundierten Beiträge, die er in der ersten Welle geologischer und atmosphärischer Studien geleistet hatte, hatten nicht nur seine Karriere gerettet, sondern ihm sogar den Weg freigemacht, in der Bürokratie aufzusteigen und sich wichtige administrative Positionen zuerst in Crossbank und jetzt in Blind Lake zu sichern. Ray Scutter wäre ein interessantes Thema für eine Reportage, dachte Chris, aber es hieß, er sei ein unzugänglicher Typ, und seine öffentlichen Verlautbarungen waren von einer so zuverlässigen Banalität, dass auch bessere Journalisten als Chris ihn längst als hoffnungslosen Fall abgeschrieben hatten.

Momentan schien er stinksauer zu sein und stritt sich offenbar mit dem Sicherheitschef. Chris konnte den Wortwechsel nicht verstehen, aber er betätigte den Zoom seines Pocketrekorders und dokumentierte den Vorgang auf ein paar Sekunden Video. Nur einige wenige allerdings. Den größeren Teil des Speichers wollte er für die offenbar unvermeidliche Kollision des Roboterlasters mit dem Tor aufsparen.

Der Schwertransporter war nur noch wenige hundert Meter vom Wachhäuschen entfernt. Er sah gewaltig aus — nicht aufzuhalten.

Elaine beschirmte ihre Augen und spähte aufmerksam, dem Verlauf des Zauns folgend, nach draußen. Die untergehende Sonne war unter einer Wolkendecke hervorgekrochen und goss ein streifendes Licht über die Prärie. Sie legte den Mund an Chris' Ohr: »Habe ich Halluzinationen oder sind das Pocketdrohnen da draußen?«

Erschrocken folgte Chris ihrem Blick.


Bob Krafft, ein Unternehmer, der mit einem Team von Ingenieuren nach Blind Lake gekommen war, um das hoch gelegene Gelände östlich der Alley für eine geplante neue Bebauung zu vermessen, hatte den Laster kurz nach Mittag entdeckt, als er noch nicht mehr als ein erbsengroßer Punkt am weiten südlichen Horizont gewesen war.

Er hatte einige Zeit in den türkischen Kriegen gedient und erkannte in ihm ein führerloses Versorgungsfahrzeug von der Art, wie sie eigentlich eher in Kampfgebieten zum Einsatz kommen. Aber der Laster beunruhigte ihn nicht. Ganz im Gegenteil. Schließlich war er, so unpassend und unwahrscheinlich das erscheinen mochte, hereinkommender Verkehr. Und das hieß, dass das Südtor sich würde öffnen müssen, um ihn hereinzulassen. Und das wiederum war eine goldene Gelegenheit. Er wusste sofort, was er zu tun hatte.

Er fand seine Frau Courtney bei den Feldbetten, die man in der Sporthalle aufgeschlagen hatte, wo sie, mit vielen anderen zusammen, seit einer Woche schmachteten. Er sagte ihr, sie solle hier warten, sich aber zum Abreisen bereit halten. Sie sah ihn unruhig an — Courtney war fast immer unruhig —, hielt aber den Mund und nickte nur angespannt.

Bob ging (zügig, aber nicht so schnell, dass er Aufmerksamkeit erregt hätte) zwei Blocks weit zu seinem Auto, das auf dem Besucherparkplatz zu Füßen der Hubble Plaza stand. Er stieg ein, überprüfte den Ladezustand der Batterie, ließ den Motor an und fuhr mit mäßiger Geschwindigkeit zum Freizeitcenter zurück. Sein Puls ging schnell, aber die Hände waren trocken. Courtney, die durch die große Eingangstür spaziert kam, obwohl er sie angewiesen hatte, sich nicht zu rühren, sah ihn und stieg auf den Beifahrersitz. »Wollen wir wo hin?«, fragte sie.

Seit jeher hatte er das an ihr gehasst, diese Sprache, die wie sie selbst aus einer Wohnwagen-Siedlung in Missouri stammte. Es gab Tage, da liebte er Courtney mehr als alles andere auf der Welt, aber es gab auch solche, an denen er sich fragte, was ihn geritten hatte, eine Frau zu heiraten, die nicht mehr Kultur besaß als die Waschbären, die einst ihren Müll zu durchwühlen pflegten. »Ich glaube, wir haben keine andere Wahl, Court.«

»Na ja, ich seh nicht, was die Eile soll.«

Mit ein bisschen Glück würde sie nie drauf kommen. Bob besaß einen Viertelanteil an einem rechtschaffen erfolgreichen Unternehmen für Landschaftsgestaltung und Fundamentlegung mit Sitz in Constance. Am Donnerstagmorgen — also morgen Früh — war er mit Ella Raeburn verabredet, einer neunzehnjährigen Schulabbrecherin, die in der Rezeption tätig war, um sie zum Zwecke einer Abtreibung zur Frauenklinik in Bixby zu fahren. Obwohl es nicht Bobs Schuld war, dass die hirnlose Ella es versäumt hatte, irgendwelche Verhütungsmittel zu benutzen — sofern man nicht seine Vorliebe für strohdumme Frauen schon als Schuld betrachten wollte —, musste er eine gewisse Verantwortung für den Zustand, in dem sie sich befand, auf sich nehmen. Also wollte er sie am Donnerstag nach Bixby fahren, ihr ein paar Tage Erholung in einem Motel spendieren, ihr einen Scheck über fünftausend Dollar ausstellen, und damit war die Sache dann erledigt.

Falls er sich weigerte, dies zu tun — oder falls dieses von der Regierung verursachte Blind-Lake-Schlamassel ihn einen weiteren Tag hier zurückhielt —, würde Ella Raeburn eine ganz bestimmte Videoaufnahme per Boten an Bobs Ehefrau Courtney verschicken. Er bezweifelte, dass Courtney sich deshalb von ihm würde scheiden lassen — die Ehe war, alles in allem, kein schlechter Deal für sie —, aber sie würde es ihm für den Rest seines Lebens vorhalten, dass sie hatte mit ansehen müssen, wie ihr Ehemann sein Gesicht zwischen Ella Raeburns üppige zarte Schenkel wühlte. Das Video war seine eigene halbgare Idee gewesen. Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass Ella sich eine Kopie brennen würde.

Und das war noch nicht das Schlimmste. Bei weitem nicht. Falls Bob es nicht schaffte, die Abtreibung zu arrangieren, würde Ella gezwungen sein, sich auf Gedeih und Verderb ihrem Vater anzuvertrauen. Ihr Vater war Toby Raeburn, Eisenwarenhändler, Diakon der Lutherischen Kirche und Teilzeit-Basketballtrainer. Sein Spitzname lautete »Teeth«, weil er einmal einem Mann, der sein Auto stehlen wollte, einen Backenzahn ausgeschlagen und dieses Souvenir alsdann in Plexiglas hatte einbetten lassen, damit er es als Glücksbringer mit sich herumtragen konnte. Toby »Teeth« Raeburn mochte unter Umständen gewillt sein, seiner Tochter christliche Vergebung angedeihen zu lassen, sicherlich aber nicht einem Unternehmer mittleren Alters, der (was Ella garantiert nicht verschweigen würde) sie mit den Barbituraten bekannt gemacht hatte, die sie in kooperative Stimmung versetzten.

Er hegte wegen dieser Sache keinen besonderen Groll gegen Ella. Er war nur zu gern bereit, für ihre Abtreibung aufzukommen. Sie war zwar dumm wie abgepacktes Graubrot, aber durchaus in der Lage, ihre Interessen wahrzunehmen. In gewisser Weise bewunderte er das.

Courtney war auch so eine gewesen, bevor er sie geheiratet hatte. Seither hatte sie sich aber fast vollständig in eine abgestumpfte Missmutigkeit zurückgezogen, und das war nun nicht mehr dasselbe.

»Habense die Belagerung abgeblasen oder was?«, fragte Courtney.

»Nicht direkt.« Er fuhr Richtung Südtor, immer darauf bedacht, eine unauffällige Geschwindigkeit beizubehalten. Das schwarze Transportfahrzeug war mit Sicherheit nicht in Eile. Es war, dem Blick von der Anhöhe hinter der Plaza nach zu urteilen, nicht mehr als einen halben Kilometer weitergekrochen, seit er es zuerst bemerkt hatte.

»Ja, und was is jetzt? Wir können doch nicht einfach wegfahren.«

»Streng genommen nicht, aber …«

»Streng genommen?«

»Darf ich mal einen einzigen Gedanken zu Ende bringen? Orte wie dieser werden aus Sicherheitsgründen ab und zu mal abgeriegelt, Court. Man will nicht, dass irgendwelche bösen Buben reinkommen. Und die Leute können dann nicht einfach kommen und gehen, weil es sonst schwierig wäre, das Ganze durchzusetzen. Grundsätzlich aber interessieren sie sich nicht die Bohne für uns. Wir wollen ja nichts anderes als nach Hause fahren, nicht wahr? Wenn wir also gegen die Regeln verstoßen, dann kriegen wir … na, was schon, eine Ermahnung?« Eher wohl eine Geldbuße und vermutlich sogar eine happige, aber er konnte Courtney nicht verraten, warum es das Risiko trotzdem wert war. »Die interessieren sich nicht für uns«, wiederholte er.

»Das Tor ist verschlossen, Dummchen.«

»Bald nicht mehr.«

»Wer sagt das?«

»Ich.«

»Und woher weißt du das?«

»Ich bin übersinnlich begabt. Ich besitze die Fähigkeit der Prophezeiung.«

Es hatte sich bereits eine Menschenmenge versammelt. Bob fuhr von der Straße hinunter auf den gemähten Grünstreifen und parkte so nahe an der rechten Seite des Tors wie möglich. Er schaltete den Motor aus. Plötzlich konnte er den Wind durch die Lücken in der Karosserie pfeifen hören. Der Wind wurde kälter — winterkalt — und Courtney schlotterte demonstrativ. Sie hatte keine Wintersachen nach Blind Lake mitgebracht. Im Gegensatz zu Bob, und der wurde jetzt für seine Voraussicht bestraft: Er musste der jammernden Courtney seine Jacke leihen und in einem kurzärmligen Baumwollhemd hinterm Steuer sitzen. Die Sonne sank aus einer mächtigen Ballung von grauen aufgewühlten Wolken heraus und warf ein blasses Licht auf die Szenerie. Ein paar Monate noch und diese ganze Prärie würde im Schnee versinken. Es war ein melancholisches Wetter. Diese Art von Wetter hatte ihn schon immer traurig gemacht, ihm ein Gefühl der Verlassenheit beschert, als wäre etwas, das er sehr liebte, vom Wind hinweggetragen worden.

»Und jetzt bleiben wir hier einfach sitzen, oder was?«

»Bis das Tor aufgeht«, sagte er.

»Wie kommst du darauf, dass sie uns durchlassen?«

»Du wirst sehen.«

»Was sehen?«

»Das wirst du gleich sehen.«

»Huh«, sagte Courtney.

Sie war eingedöst — schön warm, konnte er sich denken, die Arme fast verschwindend in seinen übergroßen Jackenärmeln und das Kinn tief in den Kragen vergraben —, als der riesige schwarze Laster seinen Kriechgang nicht mehr als zehn Meter vom Tor entfernt unterbrach.

Die Menschenmenge war beträchtlich angewachsen. Kurz bevor Courtney einschlief, waren ein paar Fahrzeuge der internen Sicherheitskräfte mit Sirenengeheul eingetroffen. Jetzt drängten Männer in Uniformen, die irgendwie nach Karneval aussahen, die Leute zurück. Courtney rührte sich nicht und Bob ließ sich tief in den Fahrersitz sinken, sodass das Auto inmitten all des Auftriebs und der Dunkelheit für leer gelten konnte, vom Besitzer abgestellt und zurückgelassen. Im Handumdrehen, bemerkte Bob zu seiner Genugtuung, befand sich die Menge weitgehend hinter ihm.

Und das Tor begann sich zu öffnen. Auf ein Signal aus dem Laster hin, vermutete er. Aber es war ein wunderbarer Anblick. Die drei Meter hohe massive Barriere schwang mit geölter Leichtigkeit nach außen, so glatt und geschmeidig, dass es wie ein digital bearbeiteter Film aussah. Jackpot, dachte Bob. »Leg den Gurt an«, sagte er zu Courtney.

Ihre Augen öffneten sich blinzelnd. »Was?« Er schätzte die Breite der Öffnung ab, die vor ihm lag. »Nichts.« Er ließ den Motor an und stieg aufs Gaspedal.


Pocketdrohnen, erläuterte Elaine, waren selbstlenkende fliegende Waffen etwa von der Größe einer floridianischen Grapefruit. Sie hatte sie während der türkischen Krise in Gebrauch gesehen, wo ihre Funktion darin bestanden hatte, Sperrgebiete und umkämpfte Grenzen zu patrouillieren. Aber noch nie hatte sie davon gehört, dass sie außerhalb von Kampfgebieten eingesetzt wurden.

»Sie sind primitiv und ziemlich dumm«, erklärte sie Chris, »aber billig, man kann ganz viele davon verwenden, und sie stecken nicht ewig in der Erde wie Landminen, die Kindern die Beine abreißen.«

»Was machen sie denn?«

»Hauptsächlich liegen sie einfach da, sparen Energie. Sie reagieren auf Bewegung, sehr empfindlich, und sie haben ein paar logische Muster installiert bekommen, um plausible Ziele zu identifizieren. Wenn Sie in ein Sperrgebiet spazieren, fliegen sie auf wie Heuschrecken, nehmen Sie aufs Korn und spucken kleine, aber tödliche Explosivmunition aus.«

Chris blickte in die Richtung, in die Elaine gezeigt hatte, aber in der zunehmenden Dunkelheit konnte er nichts Verdächtiges ausmachen. Man musste schon gut aufpassen, um sie zu bemerken, sagte Elaine. Sie waren getarnt, und wenn sie loshüpften, ohne ein zulässiges Ziel zu finden — irritiert zum Beispiel von den Vibrationen dieses riesigen automatisierten Lasters auf dem Asphalt —, gingen sie schnell wieder in den Ruhezustand über.

Chris dachte darüber nach, während der Laster sich näherte und die immer nervöser werdenden Sicherheitsleute die Gaffer noch weiter von der Straße wegscheuchten. Es ergab keinen Sinn, war er der Ansicht. Der innerste Zaun um Blind Lake war nur eine von Dutzenden von bereits ergriffenen Sicherheitsmaßnahmen. Welche Bedrohung konnte derart schwerwiegend sein, dass dagegen Kriegsgeschütze in Stellung gebracht werden mussten?

Es sei denn, dass es darum ging, die Leute nicht herauszulassen. Aber das ergab auch keinen Sinn. Was nicht bedeuten musste, dass die Pocketdrohnen nicht installiert worden waren. Sondern nur, dass er sich nicht denken konnte, warum.

Die Menge wurde ruhiger, als die Dunkelheit einsetzte und der Laster in den Bereich des Tores vorkroch, um dann einen Moment im Leerlauf zu verharren. Einige wenige begannen sich zu entfernen, offenbar konnte ihre Neugier sich nicht mehr gegen das Unbehagen und die Kälte durchsetzen. Aber viele blieben, gegen die Seile gedrückt, die die Sicherheitsleute gespannt hatten. Der immer schneidender werdende Wind schien ihnen ebenso wenig auszumachen wie die reichlich verfrühten Schneeflocken, die durch die Scheinwerferkegel des Lasters tanzten. Aber sie hielten die Luft an und wichen ein, zwei Schritte zurück, als das Tor lautlos aufzugehen begann.

Chris drehte sich zu Elaine um und erhaschte einen flüchtigen Blick auf die Stadt, die im Dunst des Schneeschauers aufzuleuchten begann, die konzentrischen Blöcke des Hubble Plaza, die blinkenden Navigationslichter auf den Türmen der Eyeball Alley, das wärmere Licht der sauber und logisch aufgereihten Wohnhäuser.

Er wandte sich zurück, als plötzlich das Geräusch eines elektrischen Motors ertönte, viel näher als das Leerlaufgrollen des Lasters.

»Video«, blaffte Elaine. »Chris!«

Er fummelte hektisch an seinem kleinen Personal-Server herum. Seine Finger waren kalt und die Bedienungselemente hatten die Größe eines Fliegenschisses. Bisher hatte er das Ding im Grunde nur zum Diktieren verwendet. Schließlich gelang es ihm aber, die Funktion RECORD VID auszulösen und das Gerät ungefähr in Richtung Tor zu halten.

Ein Auto schoss von irgendeinem Punkt beim Wachhäuschen her auf die Fahrbahn. Die Scheinwerfer waren ausgeschaltet, die Insassen unsichtbar. Aber die Absicht war deutlich. Das Fahrzeug brauste auf das halb offene Tor zu.

»Da will jemand nach Hause und den Hund füttern«, sagte Elaine und dann weiteten sich ihre Augen. »O mein Gott, das ist übel.«

Die Drohnen, dachte Chris.

Es schien zunächst, als würde das Auto vielleicht nicht an dem Wachhäuschen vorbeikommen, aber der Fahrer hatte die sich auftuende Lücke recht gut abgeschätzt. Der Wagen — Chris hielt ihn für ein spätes Ford-Modell oder einen Tesla — zwängte sich millimetergenau hindurch und schwenkte dann abrupt nach links, um dem Kühlergrill des Roboterlasters auszuweichen. Die Scheinwerfer gingen an, als das Auto auf die Fahrbahn hoppelte und richtig Geschwindigkeit aufzunehmen begann.

»Haben Sie das im Kasten?«, wollte Elaine wissen.

»Ja.« Das hoffte er jedenfalls. Es war zu spät, um es zu überprüfen. Zu spät, um wegzusehen.


»Geschafft!«, grölte Bob Krafft, als seine hintere Stoßstange an dem massigen schwarzen Laster vorbeischrammte. Obwohl es natürlich gar nicht stimmte. Wahrscheinlich würden sie von einem Militärfahrzeug angehalten werden, mussten vielleicht sogar damit rechnen, die ganze Nacht über belehrt, bedroht und der Verletzung von kleingedruckten Bestimmungen beschuldigt zu werden, aber er war kein Soldat und er hatte sich auch nie verpflichtet, eine gottverschissene Ewigkeit in Blind Lake herumzuhängen. Das offene Land, das sich vor seinen Scheinwerfern ausbreitete, war in jedem Fall ein erfreulicher Anblick. »Geschafft«, sagte er noch einmal, hauptsächlich, um das Geräusch von Courtneys japsenden Angstlauten zu übertönen.

Sie schnappte grad genug Luft, um ihm mitteilen zu können, dass er ein Arschloch sei. Er sagte: »Immerhin sind wir draußen, oder?«

»Jesses, ja, aber …«

Draußen neben dem Seitenfenster war etwas, das ihre Aufmerksamkeit erregte. Auch Bob bemerkte es. Irgendetwas Kleines, das aus dem hohen Gras hüpfte.

Wahrscheinlich ein Vogel, dachte er, aber plötzlich war kalte Luft im Auto und harte kleine Schneeflocken, und es schien, als würde Courtney bluten: Er sah Blut auf dem Armaturenbrett, lauter Blut auf seiner guten Lederjacke …

»Court?«, sagte er. Seine Stimme klang ganz seltsam, wie unter Wasser.

Sein Fuß trat auf die Bremse, aber die Straße war glatt und der Tesla begann trotz allen Einsatzes der noch kürzlich überholten Servos zu schleudern. Aus irgendeinem Grund explodierte der Motor, stieß blaue Flammen aus. Der Wagen hob von der Straße ab. Bob wurde gegen seinen Sitz gedrückt, er sah den Asphalt, das hohe Gras und den dunklen Himmel um sich herumwirbeln, und für den Bruchteil einer Sekunde dachte er: Na so was, wir fliegen! Dann setzte das Auto auf seinem vorderen rechten Kotflügel auf und er wurde gegen Courtney geschleudert. Gegen das klebrige Etwas, das von Courtney noch übrig war: rot von oben bis unten und von kleinen Flammen überzogen.


»Was zur Hölle?«, fragte Ray Scutter, als er den Feuerball sah. Dimitrij Schulgin, Chef der Zivilsicherheit, konnte nur irgendetwas von »Geschützen« murmeln. Geschütze! Ray versuchte zu erfassen, was das bedeutete. Ein Auto war ausgebrochen, hatte Feuer gefangen und sich überschlagen. Auf dem Dach gelandet, blieb es liegen. Dann war alles still. Selbst die Menge am Tor gab vorübergehend keinen Laut von sich. Es war wie eine Fotografie, ein eingefrorenes Bild. Die Zeit war angehalten. Er blinzelte. Harte Schneeflocken bliesen ihm scharf ins Gesicht.

»Drohnen«, sprach Schulgin es schließlich aus. Es war, als hätte er die Kruste des Schweigens durchbrochen. Einige Leute begannen zu schreien.

Drohnen: diese Dinger, die über dem brennenden Auto kreisten? Softballs mit Flügeln? »Was heißt das?«, fragte Ray. Zweimal musste er die Frage herausschreien. Zuschauer begannen zu ihren Autos zu rennen. Scheinwerfer gingen an, strichen über die Prärie. Plötzlich wollten alle nach Hause.

Unbeirrbar wie ein böser Traum glitt das Tor weiter auf, bis es parallel zur Straße stand.

Der schwarze Roboterlaster kroch wieder vorwärts, durch den Zaun hindurch nach Blind Lake hinein.

»Nichts Gutes«, antwortete Schulgin — Ray hatte inzwischen die Frage vergessen. Der Sicherheitschef zog sich langsam von der Fahrbahn zurück, musste offenbar gegen den Impuls ankämpfen, einfach wegzurennen. »Seht nur!«

Draußen vor dem Tor, in der feindlichen Leere, ging die Fahrertür des brennenden Autos ächzend auf.


Jetzt, da das Auto zum Stillstand gekommen war, registrierte Bob wenig mehr als die Notwendigkeit, aus ihm zu flüchten — zu flüchten vor den Flammen und dem blutigen, geschwärzten Ding, das aus Courtney geworden war. Irgendwo in seinen Gedanken regte sich die Forderung, Hilfe zu holen, aber gleichzeitig, und aus derselben Quelle, bildete sich die unerfreuliche Gewissheit, dass Court auf dieser Welt nicht mehr zu helfen war. Er liebte Courtney, oder redete sich das jedenfalls gern ein, und oft empfand er auch echte Zuneigung für sie, aber in diesem Moment war es wichtig für ihn, wichtiger als alles andere auf der Welt, wegzukommen von ihrem verwüsteten Körper, einen gehörigen Abstand zwischen sich und dem brennenden Auto zu schaffen. Es war kein Benzin im Motor, aber andere brennbare Flüssigkeiten, und irgendetwas hatte sie alle auf einen Schlag entzündet.

Er hangelte sich von Courtney weg zur Fahrerseite. Die Tür war eingedrückt und wollte sich nicht öffnen lassen; plötzlich hielt er den abgerissenen Griff in der Hand. Er stützte sich am Lenkrad und an der Sitzlehne ab, um wuchtig nach oben auszutreten, und wenn es auch höllisch wehtat an den Füßen, gab die Tür unter Ächzen und Quietschen der zerschundenen Angeln am Ende doch nach und öffnete sich ein wenig. Mit Gewalt drückte Bob sie noch ein Stück weiter auf, japsend in der kalten Luft purzelte er heraus. Er wälzte sich auf die Knie. Dann richtete er sich zitternd auf.

Diesmal sah er das Gerät, das aus dem hohen Gras am Straßenrand aufstieg, sehr deutlich. Zufällig schaute er genau in die Richtung, zufällig erblickte er es in einem Moment extrem gesteigerter, wie eingefrorener Klarheit, dieses kleine widersinnige Objekt, das aller Wahrscheinlichkeit nach das Letzte war, was er je zu sehen bekommen würde. Es war rund, tarnfarbenbraun, und es flog mit brummenden Windmühlenflügeln. Es schwebte etwa ein Meter fünfundachtzig über dem Boden — auf einer Höhe mit Bobs Kopf. Er sah es an, Auge in Auge, angenommen, dass einige von diesen kleinen Dellen oder Kerben so etwas wie Augen waren. Er erkannte in ihm irgendeine Art von militärischer Gerätschaft, doch war ihm dergleichen an seinen Reservistenwochenenden noch nie begegnet. Er erwog nicht einmal, davor wegzulaufen. Vor solchen Dingern läuft man nicht weg. Er machte den Rücken steif und begann, ohne jedoch diese Handlung zu Ende führen zu können, die Augen zu schließen. Er spürte den Aufprall der Schneeflocken auf seiner Haut. Dann einen kurzen brennenden Druck gegen die Brust, dann nichts mehr.


Dieser abschließende Akt blutiger Hinrichtung war mehr, als die Zuschauer ertragen konnten. Sie sahen, wie der tote Mensch, sofern man dieses kopflose Bündel bloßgelegter Körperteile noch als Menschen bezeichnen konnte, zu Boden sackte. Es herrschte absolute Stille. Dann Schreie, dann Schluchzen; dann schlagende Autotüren und Jugendliche, die ihre Räder herumrissen, um in heller Panik durch Schneetreiben und Dunkelheit zu stürmen, den Lichtern von Blind Lake entgegen.

Als die Schaulustigen verschwunden waren, war es leichter für Schulgin, seine Sicherheitskräfte zu organisieren. Für derartige Vorfalle waren sie nicht ausgebildet. In der Mehrzahl waren sie eigentlich Nachtwächter, angestellt, um Betrunkene und Jugendliche von Orten fernzuhalten, an denen sie nichts zu suchen hatten. Einige waren Veteranen im Ruhestand, doch die meisten hatte keinerlei militärische Erfahrung. Und ehrlich gesagt, dachte Ray, war hier auch nicht allzu viel für sie zu tun, außer einen mobilen Sperrgürtel um den sehr langsam fahrenden Laster zu bilden und darauf zu achten, dass keiner der wenigen noch verbliebenen Zivilisten im Weg war. Das aber erledigten sie recht ordentlich.

Kaum fünfzehn Minuten nach den Ereignissen vor dem Tor kam der schwarze Schwertransporter innerhalb der Umzäunung von Blind Lake zum Stehen.


»Es ist ein Lieferfahrzeug«, sagte Elaine zu Chris. »Es wurde dafür konstruiert, seine Fracht abzuladen und wieder zurückzufahren. Sehen Sie? Das Führerhaus trennt sich von der Plattform.«

Chris sah fast gleichgültig zu. Es war, als sei der Angriff auf das flüchtende Fahrzeug in seine Netzhaut eingebrannt. Draußen in der Dunkelheit war das Feuer fast erloschen, nur die Glut dampfte noch im nassen Schnee. Zwei Menschen waren dort gestorben, und sie waren gestorben, so schien es Chris, um Blind Lake auf die denkbar unverblümteste Weise eine Botschaft zukommen zu lassen: Ihr dürft nicht raus. Eure Gemeinde ist zu einem Käfig geworden.

Das Führerhaus löste sich und seine Panzerung von dem Frachtcontainer aus Aluminium, der darin steckte, und wendete in die Gegenrichtung. Das Führerhaus bewegte sich weiter, schneller als bei seiner Ankunft, zurück durch das offene Tor und auf die Straße nach Constance. Als es zu den glühenden Überresten des Automobils kam, schob es sie einfach beiseite, schaufelte sie wie Abfall an den Straßenrand.

Das Tor begann sich wieder zu schließen.

Alles wie geschmiert, dachte Chris. Abgesehen von den Toten.

Der Frachtcontainer blieb zurück. Die überlastete Sicherheitstruppe eilte herbei, um ihn abzuschirmen … nicht dass irgendjemand scharf darauf schien, sich ihm zu nähern.

Chris und Elaine gingen ein Stück zurück, um besser sehen zu können. Die Rückseite des Containers war durch einen simplen Hebel verschlossen. Es entspann sich ein Dialog zwischen Ray Scutter und dem Mann, den Elaine als den Sicherheitschef von Blind Lake identifiziert hatte. Schließlich trat der Sicherheitsmann durch den Sperrgürtel und zog den Hebel entschlossen nach unten. Die Türen des Containers öffneten sich.

Ein halbes Dutzend seiner Männer leuchteten mit Taschenlampen über den Inhalt. Der Container war bis obenhin mit Pappkartons beladen. Chris konnte einige der Aufschriften erkennen.

Kellogg's. Seabury Farm. Lombardi Produce.

»Lebensmittel!«, sagte Elaine.

Wir werden also noch eine Weile hierbleiben, dachte Chris.

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