»Schon die Vernunft gibt einem das ein. Sie geben zu früh auf, Pfarrer. Aber ich gebe nicht auf. Ich werde die Suche nicht aufgeben, bevor ich die Stadt gründlich durchgekämmt habe. Dies Gebäude hat zum Beispiel noch ein Kellergeschoß, das sollten wir uns einmal ansehen. Wenn wir dort nichts finden, werden wir uns anderen, ausgewählten Zielen zuwenden.« »Wieso glauben Sie, die Antwort hier zu finden?« fragte Lansing. »Es muß auf dieser Welt noch andere Stellen geben.« »Weil es logisch ist. Eine Stadt ist das Zentrum jeder Zivilisation, der Angelpunkt allen Geschehens. Dort leben die meisten Leute, dort sind die meisten Einrichtungen, und dort werden Sie auch die Antwort finden.«
»Wenn das so ist«, sagte Jürgens, »sollten wir aufbrechen und nachschauen.«
»Sie haben recht, Jürgens«, sagte der General. »Wir sollten jetzt runtergehen und den Keller gründlich untersuchen. Und wenn wir dort nichts finden - ich bin übrigens ziemlich sicher, daß wir nichts finden werden -, dann müssen wir die Lage neu überdenken und entscheiden, was wir als nächstes tun wollen.« »Wir müssen Lampen mitnehmen«, sagte Sandra. »Da unten wird es finster sein. Wie schrecklich dunkel muß erst der Keller sein, wenn schon das ganze Haus so dunkel ist.« Der Pastor führte sie eine breite Treppenflucht hinab. Als sie den Boden erreicht hatten, drängten sie sich instinktiv dicht zusammen und starrten in die nachtschwarze Finsternis. Mit den Lichtkegeln ihrer Taschenlampen enthüllten sie Gänge und gähnende Türöffnungen.
»Wir sollten uns aufteilen und uns ein bißchen umsehen«, schlug der General vor. »Auf diese Weise schaffen wir mehr. Wenn jemand etwas findet, soll er rufen. Wir bilden Zweiergruppen. Lansing, Sie und Jürgens übernehmen den Gang dort links, Mary und der Pastor den in der Mitte, und Sandra und ich werden uns rechts halten. Jede Gruppe benutzt nur eine Taschenlampe, auf diese Weise sparen wir Batterien. Wir treffen uns dann wieder hier.«
Die Art, wie der General gesprochen hatte, ließ vermuten, daß er erwartete, schnell wieder zurück zu sein.
Keiner hatte Einwände. Die Gruppe hatte sich inzwischen daran gewöhnt, daß der General die Führung übernahm. Sie machten sich auf den Weg. Jede Partei übernahm den Gang, den der General ihr zugewiesen hatte.
Jürgens und Lansing fanden die Landkarten im vierten Raum. Sie hätten sie leicht übersehen können. Das Kellergeschoß war ein deprimierender Aufenthaltsort. Alles war mit Staub bedeckt. Beim Gehen wirbelten sie ihn mit den Füßen auf, und er blieb in der Luft hängen. Er roch trocken und muffig. Lansing mußte niesen, als er zuviel davon in die Nase bekam. Sie hatten den vierten Raum abgesucht, und wie alle übrigen auch war er völlig leer gewesen. Auf dem Weg zur Tür drehte sich Jürgens noch einmal um und ließ einen letzten kontrollierenden Lichtblitz über den Boden gleiten.
»Moment mal«, sagte er. »Ist da hinten nicht etwas auf dem Fußboden?«
Lansing blickte sich um. In dem Lichtkreis sah er undeutlich eine schattige Unebenheit.
»Wahrscheinlich ist es nichts«, sagte er, weil er dieses Debakel so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. »Vermutlich nur eine Unregelmäßigkeit im Fußboden.«
Jürgens humpelte zu der Stelle. »Wir wollen uns vergewissern«, sagte er.
Lansing betrachtete Jürgens. Der Roboter stocherte mit der Krücke in der Unebenheit, wobei er Mühe hatte, das Gleichgewicht zu bewahren. Die Erhebung bewegte sich, dann kippte sie um. Etwas Weißes kam unter der grauen Staubschicht zum Vorschein.
»Wir haben etwas gefunden«, sagte Jürgens. »Es sieht wie Papier aus, vielleicht ein Buch.«
Mit wenigen Schritten war Lansing bei ihm. Er hockte sich nieder und versuchte, den Staub von dem Gegenstand, den Jürgens entdeckt hatte, zu wischen. Es war eine schmutzige und wenig erfolgreiche Angelegenheit. Er nahm das Gebilde und schüttelte es. Ein Staubschwall ließ ihn fast ersticken. »Laß uns hier rausgehen«, schlug er vor. »Wir suchen uns einen Platz, wo wir es besser betrachten können.«
»Sie haben noch nicht alles«, sagte Jürgens. »Da ist noch ein zweites Ding, ein paar Schritte weiter rechts.«
Lansing hob es auf.
»Haben wir jetzt alles?« fragte er.
»Ich glaube schon, ich sehe nichts mehr.«
Schnell verließen sie den Raum und zogen sich in den Gang zurück.
»Halten Sie die Taschenlampe etwas näher«, sagte Lansing. »Wir wollen doch mal sehen, was wir hier haben.« Bei genauerer Prüfung erwies sich der Fund als vier zusammengefaltete Bögen - entweder Papier oder Plastik. Wegen der Staubschicht ließ sich schwer bestimmen, worum es sich eigentlich handelte. Lansing stopfte drei der Bögen in die Jackentasche, den vierten faltete er auseinander. Er war mehrfach zusammengelegt, die Faltstellen waren steif und ließen sich nur schwer voneinander trennen. Schließlich hielt Lansing ein einzelnes Blatt in der Hand. Jürgens richtete die Lampe darauf. »Eine Landkarte«, sagte er.
»Vielleicht ein Plan dieser Stadt«, mutmaßte Lansing. »Möglich, wir müßten ihn genauer ansehen. Irgendwo, wo das Licht besser ist.«
Der Plan zeigte Linien und sonderbare Markierungen. Neben einigen Markierungen befanden sich Symbolstreifen, die man für Ortsbezeichnungen halten konnte.
»Der General hat gesagt, wir sollten uns melden, wenn wir etwas gefunden hätten.«
»Das hat Zeit«, sagte Lansing. »Wir wollen zuerst unseren Rundgang abschließen.«
»Aber unsere Entdeckung könnte wichtig sein.« »Auf eine Stunde mehr oder weniger wird es schon nicht ankommen.«
Sie setzten ihre Suche fort, fanden aber nichts. Alle verbliebenen Räume waren leer.
Auf dem Rückweg, sie hatten die Strecke bis zum Treffpunkt etwa halb zurückgelegt, hörten sie in der Ferne ein dröhnendes Rufen.
»Jemand hat etwas gefunden«, sagte Jürgens. »Ja, das glaube ich auch. Aber wo?«
In den hohlen Kellergewölben wurden die Rufe vielfach zurückgeworfen. Sie schienen von überallher zu kommen. Jürgens und Lansing eilten den Gang zurück und hatten den Fuß der Treppe bald erreicht. Aber dort konnten sie immer noch nicht feststellen, aus welcher Richtung das Rufen kam. Manchmal hörte es sich so an, als komme es aus dem Korridor, den sie gerade verlassen hatten.
Im rechten Gang erschien ein tanzender Lichtschein. »Das sind der General und Sandra«, sagte Jürgens. »Also haben Mary und der Pastor etwas gefunden.« Wenige Augenblicke später hatte der General sie erreicht. »Sie sind hier«, keuchte er. »Dann ist es also der Pastor, der schreit. Wir wußten nicht, woher es kommt.« Die vier machten sich nun auf den Weg durch den Hauptkorridor. Am hinteren Ende öffnete er sich zu einem Raum, viel größer als alle, die Jürgens und Lansing untersucht hatten. »Sie können das Geheule jetzt einstellen«, rief der General. »Wir sind hier. Was ist die Ursache für diesen Lärm?« »Wir haben Türen gefunden«, rief der Pastor mit vor Aufregung schriller Stimme.
»Wir auch, zum Teufel«, schnaubte der General. »Alle haben Türen gefunden.«
»Beruhigen Sie sich«, sagte der Pastor. »Dann werden wir Ihnen zeigen, was wir gefunden haben. Es sind besondere Türen.« Lansing, der sich zu Mary gesellt hatte, erblickte auf der Rückwand des Raumes eine Reihe runder Lichter, die sich über die ganze Wandbreite erstreckte. Das Licht hatte nicht die blendende Helligkeit von Scheinwerfern oder das flackernde Rot von Feuer, es war eher der sanfte Farbton von Sonnenlicht. Die Lichter befanden sich alle in Kopfhöhe über dem Fußboden. Mary umklammerte seinen rechten Arm mit beiden Händen. »Edward«, sagte sie mit zitternder Stimme, »wir haben andere Welten gefunden.«
»Andere Welten?« wiederholte er verdutzt. »In den Türen dort sind Gucklöcher. Schauen Sie durch die Löcher, dann werden Sie die Welten sehen.«
Sie drängte ihn vorwärts. Immer noch verwirrt ließ er sich von ihr führen, bis sie vor einem der Lichtkreise standen.
»Schauen Sie nur«, sagte sie begeistert. »Das ist meine Lieblingswelt. Sie gefällt mir am besten.«
Lansing trat dicht an die Tür heran und sah durch das Guckloch.
»Ich nenne sie die Apfelblütenwelt«, sagte sie, »oder die Lerchenwelt. « Und dann sah er sie.
Die Welt erstreckte sich vor seinen Augen. Es war eine ruhige und anmutige Gegend, mit einer weiten Grasfläche, deren Grün an manchen Stellen zu leuchten schien. Ein silberheller Bach schlängelte sich in einiger Entfernung durch die Wiese, und jetzt bemerkte Lansing auch, daß das Gras mit gelben und blaßblauen Blüten übersät war. Die gelben Blumen sahen aus wie Narzissen, wie wiegten sich sanft in der Brise. Die blauen Blumen, kleiner als die gelben und halb im Gras verborgen, blickten ihn wie mit scheuen Augen an. Auf einem fernen Hügel erhob sich eine Gruppe kleiner rosa Bäume. Zweige und Äste waren von der leuchtend rosa Blütenpracht vollkommen bedeckt.
»Holzäpfel«, erläuterte Mary. »Holzäpfel haben rosa Blüten.« Die Welt erweckte den Eindruck von Frische, so als sei sie erst wenige Minuten alt - von einem sanften Frühlingsregen gewaschen, von einem beflissenen Wind getrocknet und von den zärtlichen Sonnenstrahlen auf Hochglanz poliert. Es gab nicht mehr zu sehen als die grüne Wiese mit den Millionen Blütentupfern, den glitzernden Bachlauf und die rosa Apfelbäume auf dem Hügel. Es war eine unkomplizierte Welt, ein Ort äußerster Einfachheit. Diese Welt braucht nicht mehr, dachte Lansing, sie hat alles, was sie braucht. »Sie ist wundervoll«, sagte er.
»Das finde ich auch«, stimmte der Pastor zu. Lansing stellte fest, daß die Mundwinkel des Geistlichen zum ersten Mal seit ihrer Begegnung nicht herabgezogen waren. Der ewig mißtrauische und verstörte Ausdruck war einer heiteren Miene gewichen.
»Ein paar von den anderen«, sagte er schaudernd. »Ein paar von den anderen. aber diese hier.«
Lansing wandte seine Aufmerksamkeit nun der Tür selbst zu. Sie war größer als eine gewöhnliche Tür und aus einem Material gefertigt, das an Schwermetall erinnerte. Die Scharniere waren so angebracht, daß sie sich nach außen öffnete, zu der anderen Welt hin. Schwere Metallriegel hielten sie an ihrem Platz und sicherten sie gegen unbeabsichtigtes öffnen. Die Riegel wurden von kräftigen Bolzen gehalten, die fest in der Wand verankert waren.
»Dies ist nur eine der Welten«, sagte Lansing. »Wie sind die anderen?«
»Nicht so wie die hier«, sagte Mary. »Schauen Sie nur selbst.« Lansing blickte durch das nächste Guckloch. Es zeigte eine arktische Szenerie - ein riesiges Schneefeld, über das der tosende Blizzard einen Schleier von Eiskristallen zog. Hin und wieder riß die Schneewolke auf, dann sah man das grausame Funkeln eines gigantischen Gletschers. Obwohl die Kälte ihn nicht erreichte, begann Lansing zu frösteln. Es gab kein Anzeichen von Leben auf dieser Welt; das Schneetreiben war die einzige Bewegung.
Durch das dritte Guckloch blickte man auf eine öde Felslandschaft, deren Oberfläche teilweise von einer knapp über dem Boden dahintreibenden Sandwolke verdeckt wurde. Kiesel, die auf dem Fels verstreut lagen, schienen ein Eigenleben zu haben. Sie hüpften und rollten unter der Gewalt des Windes, der auch den Sand vor sich hertrieb. Außer dem Vordergrund war nichts zu sehen; kein Mittelgrund oder Horizont. Sandwolken verdeckten die Fernsicht durch einen gelben Dunstschleier. »Sehen Sie nur«, sagte Mary, die Lansing begleitete. Das nächste Guckloch zeigte einen phantastischen Ort voll boshaften Lebens. Es war eine Wasser- und Dschungelwelt, durch die Knäuel von mordgierigen Monstern schwammen, krochen und watschelten. Einen Augenblick lang konnte Lansing die einzelnen Lebensformen kaum unterscheiden, es ergab sich nur ein Gesamteindruck von hektischer Bewegung. Erst nach und nach konnte er Einzelheiten erkennen -Beutegreifer und Beute, Kämpfe, Hunger und Flucht. Die Kreaturen waren fremder als alles, was er je zuvor gesehen hatte. Schmerzverkrümmte Leiber, weit aufgerissene Rachen, zuckende Gliedmaßen, blitzende Reißzähne, heimtückisch schillernde Augen.
Lansing wandte sich ab. In seinem Magen arbeitete es. Übelkeit stieg in ihm auf. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als ob er Haß und Grauen abwischen wollte.
»Ich konnte den Anblick nicht ertragen«, sagte Mary. »Ich habe nur einen schnellen Blick hineingeworfen.«
Lansing fühlte sich, als würde er im Boden versinken, als müßte er sich irgendwo verstecken. Über seinen Körper kroch eine Gänsehaut.
»Versuchen Sie es zu vergessen«, riet Mary. »Sie müssen sich davon freimachen. Es ist meine Schuld; ich hätte Sie warnen sollen.«
»Was ist mit den anderen Welten? Sind sie auch so schrecklich wie diese?«
»Nein, die hier ist die schlimmste«, antwortete Mary. »Schauen Sie sich das an!« rief der General. »So etwas habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen!«
Er trat zur Seite, so daß Lansing an das Guckloch treten konnte. Die Landschaft hatte eine merkwürdig gezackte Oberfläche. Lansing blinzelte, sah genauer hin. Er erkannte, daß der gesamte Boden von hüfthohen Pyramiden bedeckt war, die mit ihren Grundflächen aneinanderstießen. Es war nicht festzustellen, ob der Boden von Natur aus so seltsam gestaltet war oder ob irgendwelche höchst geschäftige Wesen die ungeheuren Massen von Pyramiden geschaffen hatten. Alle Pyramiden endeten in einer scharfen Spitze. Jeder Eindringling lief in dieser Welt Gefahr, sich in dem Pyramidenwald aufzuspießen.
»Ich muß schon sagen«, erklärte der General, »das ist die eindrucksvollste Verteidigungsanlage, die mir bisher untergekommen ist. Auch mit schweren Panzern wäre da kein Durchkommen.«
»Meinen Sie, darum handelt es sich?« fragte Mary, »um eine Panzersperre?«
»Das wäre möglich«, erwiderte der General. »Aber ich sehe keinen Sinn darin. Ich kann nirgendwo ein Objekt entdecken, das es zu verteidigen gälte.«
So war es tatsächlich. Die Pyramidenfelder waren das einzige, was es auf dieser Welt zu sehen gab. Sie erstreckten sich ohne Unterbrechung bis zum Horizont.
»Vermutlich werden wir nie erfahren, was es mit der Landschaft wirklich auf sich hat«, murmelte Lansing.
Der Pastor war hinter ihn getreten, er sagte: »Es gibt einen Weg, das zu erfahren: Lösen Sie die Riegel, öffnen Sie die Tür, und gehen Sie hinein. «
»Nein!« unterbrach ihn der General mit energischer Stimme. »Genau das werden wir nicht tun! Die Türen könnten Fallen sein, öffnen Sie sie, tun Sie einen Schritt über die Schwelle, und Sie werden womöglich feststellen, daß es keine Tür mehr gibt. Sie stehen in einer fremden Welt, und der Rückzug ist abgeschnitten.«
»Sie haben in nichts Vertrauen«, entgegnete der Pastor. »Hinter allen Dingen vermuten Sie eine Falle.«
»Das liegt an meiner militärischen Ausbildung«, erklärte der General. »Und bisher bin ich mit dieser Vorsicht gut gefahren. Sie hat mich vor manch dummer Tat bewahrt.« »Hier, das ist die letzte Tür«, sagte Mary zu Lansing. »Es ist die traurigste Welt. Fragen Sie mich nicht, warum sie so traurig ist. Sie ist es einfach, mehr kann ich nicht dazu sagen.«
Sie war traurig. Lansing preßte das Auge gegen das Guckloch und schaute auf einen Wald, der in tiefer Dunkelheit lag. Hinter einer Lichtung im Vordergrund erhob sich ein flacher Hang, der von knorrigen, verkrüppelten Bäumen bewachsen war. Nichts bewegte sich, kein Lüftchen spielte in den Zweigen. Vielleicht entstand daraus die besondere Traurigkeit des Anblicks, dachte Lansing: Die Bäume schienen auf ewige Zeiten mitten in einer verkrümmten Bewegung erstarrt zu sein. Moosbewachsene, tief in den Boden eingesunkene Felsbrocken schimmerten durch das Dunkel der Bäume. Andere Felstrümmer lagen auf der Lichtung verstreut. Irgendwo am Grunde des Tals würde es einen Wasserlauf geben, das wußte Lansing. Aber er wußte auch, daß dieses Wasser nicht fröhlich plätschern würde. Den Grund, warum ihn der Anblick der Lichtung so sehr bedrückte, fand Lansing nicht. Das Bild war deprimierend, daran gab es keinen Zweifel. Doch warum bedrückte es ihn so?
Er wandte sich ab und sah Mary an. Die schüttelte mit dem Kopf. »Mich dürfen Sie nicht fragen«, sagte sie. »Ich weiß es auch nicht.«
16
Sie hatten neues Holz aufs Feuer gelegt. So fühlten sie sich sicherer. Außerdem verlangte es sie nach Wärme. Die Sonne ging soeben unter, und es war in dem Gebäude empfindlich kühl geworden. Sie setzten sich in einen Kreis um die Flammen und sprachen miteinander.
»Ich möchte gern glauben, daß sich hinter den Türen die Antwort verbirgt, nach der wir alle suchen«, sagte der General. »Aber ich bezweifle, ob es tatsächlich so ist.« »Für mich ist es klar, daß es sich um Türen zu anderen Welten handelt«, erklärte der Pastor. »Wenn wir uns entschließen könnten, sie zu öffnen.«
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, die Türen sind Fallen«, versetzte der General. »Gehen Sie durch eine hindurch. Sie werden niemals wiederkehren.«
»Die Bewohner dieser Stadt haben sich offenbar sehr für andere Welten interessiert«, warf Mary ein. »Da sind nicht nur die Türen, sondern auch der Bildgeber. Was in ihm zu sehen ist, muß ebenfalls eine andere Welt sein.«
»Eines wissen wir allerdings nicht«, bemerkte Sandra. »Handelt es sich um reale Welten oder um reine Gedankenkonstruktionen? Mir ist nämlich der Gedanke gekommen, daß wir es mit einer Kunstform zu tun haben könnten, einer ungewöhnlichen Kunst, das gebe ich zu, aber wer will sagen, welche Gesichter die Kunst nicht anzunehmen vermag?« »Was Sie da sagen, halte ich für einen bodenlosen Unsinn!« schnauzte der General. »Welcher Künstler, der seine fünf Sinne beisammen hat, würde den Betrachter zwingen, sich die künstlerischen Schöpfungen durch ein Guckloch anzuschauen. Jeder Maler hängt seine Bilder an die Wand, so daß jedermann sie sehen kann.«
»Ihr Vorstellungsvermögen ist eben beschränkt«, erwiderte die Dichterin. »Woher wollen Sie wissen, was der Künstler im Sinn gehabt hat oder wieso er eine bestimmte Ausdrucksform wählte? Vielleicht wollte er den Beschauer zwingen, sich ganz auf das Werk zu konzentrieren, vielleicht wollte er alle störenden Einflüsse der Umwelt ausschalten. Und dann die Stimmungen. Haben Sie denn überhaupt nicht bemerkt, daß sich hinter jedem Guckloch eine andere, genau zu ermittelnde Stimmung verbirgt? Jede Welt spricht direkt ein bestimmtes Gefühl in uns an. Das deutet doch darauf hin, daß es sich hier tatsächlich um eine Kunstform handelt.« »Ich kann nicht glauben, daß das Kunst sein soll«, beharrte der General starrköpfig. »Für mich sind das Türen zu anderen Welten, und wir halten uns am besten von ihnen fern.« »Eine Sache haben wir bisher ganz außer acht gelassen«, sagte Mary unvermittelt. »Ich meine die Karten, die Edward und Jürgens gefunden haben. Vielleicht sind es gar Karten von den Welten hinter den Türen. Wenn das der Fall wäre, käme das dem Beweis gleich, daß man in die Welten hinein- und wieder zurückgelangen kann.«
»So könnte es sein«, bemerkte der General. »Aber dazu müßten wir wissen, auf welche Weise die Rückehr zustandekommt. Und eben davon haben wir keine Ahnung.«
»Die Landkarten könnten auch Teile der Welt wiedergeben, in der wir uns jetzt befinden«, sagte Jürgens. »Doch wie sollen wir das erkennen, da wir bisher nur einen kleinen Teil dieser Welt gesehen haben?«
Lansing griff nach den Karten. »Eine von ihnen könnte tatsächlich ein Gebiet dieser Welt zeigen. Diese hier.« Er breitete eine Karte auf dem Boden aus. »Sehen Sie, das hier ist möglicherweise die Stadt. Eine schraffierte Fläche, das allgemeine Symbol für eine Stadt. Dieser Strich hier könnte die Straße sein, auf der wir gekommen sind. Dann wäre das schwarze Rechteck das Gasthaus.«
Der General beugte sich über das Kartenblatt. »Hmhm«, murmelte er. »Hier ist tatsächlich etwas, das wie eine Stadt aussieht. Und ein Strich, der sie mit einem Kästchen verbindet, das das Gasthaus sein könnte. Aber was ist mit dem Würfel? Hier ist nichts eingezeichnet, das den Würfel darstellen könnte. Der Kartograph würde doch niemals den Würfel weggelassen haben.«
»Vielleicht wurde die Karte angefertigt, bevor es den Würfel gab«, wandte Jürgens ein.
»So könnte es sein«, stimmte Sandra zu. »Ich fand, daß der Würfel sehr neu aussah.« »Wir sollten uns das alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen«, schlug der General vor. »Im Moment äußern wir nur unsere Vermutungen, wie sie uns in den Sinn kommen. Ein jeder von uns sollte in Ruhe über die Lage nachdenken. Dann können wir unser Gespräch fortsetzen.«
Der Pastor erhob sich. »Ich werde einen kleinen Spaziergang machen«, verkündete er. »An der frischen Luft werde ich eher einen klaren Kopf bekommen. Hat jemand Lust, mich zu begleiten?«
»Ich komme mit«, sagte Lansing.
Der Platz draußen lag bereits in tiefem Schatten. Die Sonne war inzwischen untergegangen, bald würde die Nacht anbrechen. Die kantigen, geborstenen Umrißlinien der Hausfassaden hoben sich schwarz vom Dämmerlicht ab. Während Lansing neben dem Pfarrer schritt, spürte er zum erstenmal die uralte Ausstrahlung der Stadt.
Der Pfarrer mußte die gleiche Empfindung gehabt haben, denn er sagte: »Diese Stätte ist so alt wie die Zeit selbst. Sie hat etwas Niederdrückendes. Es ist fast, als würde man das Gewicht der Jahrhunderte auf den Schultern spüren. Die Steine selbst sind unter dem Druck der Zeit verwittert. Die Stadt wird wieder eins mit dem Boden, auf dem sie einst errichtet wurde. Wie ist es mit Ihnen, Mr. Lansing? Fühlen Sie es auch?« »Ja, Herr Pfarrer, mir geht es wie Ihnen.«
»Dies ist ein Ort, an dem die Geschichte zum Stillstand gekommen ist«, erklärte der Pastor. »Hier hat sie sich erfüllt, dann ist sie erloschen. Die Reste der Stadt sollen uns daran gemahnen, daß alle fleischlichen Wesen vergänglich sind und die Geschichte selbst nur ein Schemen, ein Trugbild ist. An solchen Orten sind die Menschen gehalten, über ihr Scheitern nachzusinnen. Diese Welt ist gescheitert. Sie hat gefehlt, öfter und schwerer gefehlt als andere Welten.«
»Vielleicht haben Sie recht«, bemerkte Lansing, der nicht wußte, was er sonst hätte sagen sollen.
Der Pastor verstummte nun und setzte seinen Weg fort. Die Hände hatte er auf dem Rücken gefaltet und den Kopf erhoben. Hin und wieder ließ er seine Blicke über die Umgebung des Platzes schweifen.
Schließlich ergriff er wieder das Wort: »Wir müssen auf den General sorgfältig achtgeben. Der Mann ist ein Wahnsinniger. Aber sein Wahnsinn versteckt sich so geschickt hinter seiner vernünftigen Redeweise, daß man einen scharfen Blick braucht, um den Irrsinn zu entdecken. Der Mann ist voreingenommen und starrsinnig. Man kann mit ihm nicht argumentieren. Dabei ist er in mehr Irrtümern befangen als irgendein Mensch, dem ich je begegnet bin. Das liegt an seinem militärischen Denken. Ist Ihnen auch schon aufgefallen, daß alle Militärs besonders engstirnig sind?«
»Ich bin bisher kaum je einem General begegnet«, erwiderte Lansing.
»Nun, ich kann Ihnen versichern, sie sind engstirnig. Für alle Probleme kennen sie nur eine Lösung. Ihr Gehirn ist nichts weiter als eine Dienstvorschrift, und nach diesen Vorschriften leben sie. Sie tragen Scheuklappen und sehen nicht, was links oder rechts von ihnen liegt, sondern nur das, was sich vor ihrer Nase befindet. Wir beide müssen auf den General die größte Acht geben; wenn wir nicht scharf aufpassen, wird er uns in große Schwierigkeiten bringen. Das liegt in seiner Natur. Immer muß er den Anführer spielen. Das ist geradezu eine Neurose bei ihm. Sicher haben Sie das auch schon bemerkt?« »Ja, das habe ich. Vielleicht erinnern Sie sich noch daran, wie ich mit dem General über diese Neigung gesprochen habe?« »Ich habe ihn deswegen auch schon zur Rede gestellt«, berichtete der Pastor. »Der General erinnert mich in vieler Hinsicht an einen Nachbarn, den ich einmal hatte. Dieser Mann wohnte in einem Haus, das dem meinen direkt gegenüberstand. Ein Stück weiter die Straße hinunter lebte ein Höllendämon. Es war ein hübsches Stadtviertel, und niemand hätte dort einen erwartet, aber es gab ihn. Ich fürchte, nur wenige Menschen haben ihn erkannt. Nun, ich hatte ihn sofort durchschaut, und ich denke, auch jener Nachbar, von dem ich eben sprach, wußte Bescheid. Wir haben allerdings niemals über dieses Thema gesprochen. Worauf ich eigentlich hinauswill, ist folgendes: Dieser Nachbar, der den Dämon tatsächlich durchschaut hatte -ich bin sicher, er hatte ihn erkannt -, lebte mit ihm in gutnachbarlichem Verhältnis. Er grüßte den Dämon, und wenn sie sich auf der Straße begegneten, blieb er sogar stehen, um mit ihm zu plaudern. Ich weiß genau, daß sie keine düsteren Verschwörungen miteinander geplant haben. Nein, sie schwatzten nur, um die Zeit totzuschlagen. Was sagen Sie dazu? Mein Nachbar war freundlich zu diesem Dämon, obwohl er ihn durchschaut hatte. Wenn ich versucht hätte, meinen Nachbarn davon abzubringen, wenn ich ihm gesagt hätte, daß er sich nicht mit einem Diener der Hölle einlassen sollte, wissen Sie, was er mir geantwortet hätte? Er hätte zu mir gesagt, er sei ein toleranter Mensch und habe nichts gegen Juden, Schwarze oder Papisten. Und weil er gegen solche Menschen keine Vorurteile habe, würde er auch dem Teufel nicht mit Vorurteilen begegnen, auch wenn dieser Teufel mit ihm in einer Straße wohne. Das hätte er zu mir gesagt.
Für mich steht eines fest: Im Universum muß es eine Moral geben. Es gibt Dinge, die richtig, und andere, die falsch sind, und es ist an uns, die Entscheidung für einen Weg zu treffen. Wenn wir moralische Menschen sein wollen, wird uns die Entscheidung nicht schwerfallen. Das soll nicht heißen, daß wir unsere Wahl engstirnig treffen. Religiösen Menschen wird ja oft nachgesagt, sie seien engstirnig. Andererseits wird oft behauptet, man könne ein tugendhaftes Leben führen, ohne einer Religion anzugehören. Dieser Meinung bin ich nicht, denn ich weiß, daß der Mensch das Bollwerk eines festen Glaubens braucht, wenn er für das eintreten will, was er für das Rechte hält.«
Der Pastor verstummte. Er drehte sich um und sah Lansing direkt ins Gesicht. »Das ist meine Überzeugung«, fuhr er fort. »Doch jetzt weiß ich nicht, ob ich nicht gerade aus reiner Gewohnheit so gesprochen habe. Zu Hause auf meinem Stück Land oder vor meinem weißen Haus an einer schlichten, ruhigen Straße - einer ruhigen Straße, auch wenn ein Dämon in ihr wohnt -, da hatte ich noch meine Gewißheit. Ich war so selbstbewußt und selbstgerecht wie jeder andere Mensch. In unserer kleinen Kirche, schlicht und weiß ganz wie mein Haus, konnte ich vor die Gemeinde treten und ihr sagen, was richtig und was falsch ist, in kleinen wie in großen Dingen. Jetzt weiß ich nichts mehr. Mir ist, als hätte man mir alle Selbstsicherheit geraubt. Alles fließt mir aus den Händen.«
Wieder verstummte er und schaute Lansing aus großen Augen an. »Ich weiß nicht, warum ich Ihnen all das erzähle. Warum gerade Ihnen? Können Sie mir das erklären?«
»Ich weiß es auch nicht«, erwiderte Lansing. »Aber wenn Sie mit mir sprechen wollen, ich bin gern bereit, Ihnen zuzuhören.
Reden Sie nur weiter, wenn Sie glauben, daß es Ihnen hilft.«
»Spüren Sie sie nicht auch, diese unerträgliche Verlassenheit?«
»Nein, eigentlich nicht«, antwortete Lansing.
»Diese Leere!« rief der Pastor. »Das Nichts. Oh, dieser verfluchte Ort. Er kommt der Hölle gleich! Das habe ich schon immer meiner Gemeinde gepredigt: Die Hölle ist kein Ort der Marter und des Elends. Nein, sie ist die Leere, das Verlorensein, das Ende des Glaubens und der Liebe, der Selbstachtung des Menschen.«
Lansing schrie ihn an: »Mann, so reißen Sie sich doch zusammen! Sie dürfen sich von dieser Stadt nicht unterkriegen lassen. Denken Sie etwa, wir anderen würden nicht.« Der Pastor streckte beide Arme in den Himmel und rief mit überkippender Stimme: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Warum, o Herr?«
Aus den Hügeln hinter der Stadt antwortete ihm eine Stimme, auch sie war schrill, klagend und angstverzerrt. Eine Einsamkeit lag in diesem Schrei, die den Männern das Blut in den Adern gerinnen ließ, die mit eisigen Fingern nach ihren Herzen griff. Die Klageschreie erfüllten die Straßen der Stadt mit ihrem Schluchzen. Sie hallten wider von der Wölbung des mitleidlosen Himmels. Nur ein Wesen ohne Seele konnte eine solche Stimme haben.
Der Pastor wimmerte leise. Er hielt beide Hände gegen die Ohren gepreßt und rannte auf das Lager zu. Sein Tempo steigerte sich mit jedem Schritt. Mehrere Male stolperte er, und es sah so aus, als würde er stürzen, aber immer wieder fing er sich im letzten Augenblick.
Ohne Hoffnung, ihn einzuholen, lief Lansing ihm nach. Irgendwo in seinem tiefsten Inneren war er erleichtert darüber, daß er den Pastor nicht erreichen konnte. Wenn er ihn zu fassen bekäme, was sollte er mit ihm tun?
Währenddessen dröhnte das schreckliche Geheul ohne Unterlaß vom Himmel herab. Dort draußen in den Hügeln verbarg sich eine Kreatur, die sich das Herz aus dem Leibe klagte. Lansing spürte, wie die Kälte, die in diesem Schmerz lag, seine Brust einschnürte. Er rang nach Atem, aber er spürte keine Erleichterung; die eisige Klaue ließ ihn nicht aus ihrem Griff. Der Pastor hatte die Treppe des großen Gebäudes erreicht und hetzte die Stufen hinauf. Lansing rannte hinter ihm her, bis er den Lichtkreis des Lagerfeuers erreicht hatte. Dort sah er den Pastor auf dem Boden liegen, die Knie an die Brust gezogen, die Beine von den Armen umklammert in der Haltung eines ungeborenen Kindes.
Der General kniete neben ihm. Alle anderen hatten sich erschreckt zurückgezogen. Als er Lansings Fußtritte hörte, stand er auf.
»Lansing!« brüllte er mit Donnerstimme. »Was ist dort draußen geschehen? Was haben Sie mit ihm gemacht?«
»Haben Sie den Schrei gehört?«
»Ja. Wir haben uns gefragt, was das sein könnte.«
»Der Schrei hat ihn erschreckt. Er hat sich die Ohren zugehalten und ist losgerannt.«
»Durchgedreht?«
»Ich fürchte, ja. Er war schon seit einiger Zeit in schlechter Verfassung. Er hat sich mit mir unterhalten, wirre Sachen gesagt, ohne viel Zusammenhang. Ich habe versucht, ihn zu beruhigen, aber plötzlich hat er die Arme hochgerissen und gerufen: >Mein Gott, warum hast du mich verlassen?<« Sandra, die den Platz neben dem Pastor eingenommen hatte, erhob sich und schlug die Hände vors Gesicht. »Er ist völlig steif«, stammelte sie. »Alle seine Muskeln sind verkrampft. Was können wir nur für ihn tun?«
»Wir sollten ihn in Ruhe lassen«, riet der General. »Er wird nach und nach wieder zu sich kommen. Wenn nicht, nun, dann können wir auch nichts machen.«
»Ein kräftiger Drink wird ihm auf keinen Fall schaden«, meinte Lansing.
»Wie wollten wir ihm den einflößen? Wir müßten ihm ja die Kiefer brechen, damit wir seine Lippen auseinanderbekommen. Vielleicht können wir es später probieren.«
»Oh, wie schrecklich, daß ihm das zustoßen mußte«, klagte Sandra.
»Er hat sich selbst hineingesteigert«, entgegnete der General. »Es hat begonnen, als wir aufgebrochen sind.« »Denken Sie, er wird sich wieder erholen?« fragte Mary. »Auf dem Schlachtfeld habe ich schon Menschen in diesem Zustand gesehen«, erwiderte der General. »Manchmal kommen sie wieder zu sich, manchmal auch nicht.«
»Wir müssen ihn warm halten«, drängte Mary. »Hat jemand eine Decke zur Hand?«
»Ich habe zwei«, antwortete Jürgens. »Ich habe sie für den Notfall mitgenommen.«
Der General nahm Lansing zur Seite. »Dieser Schrei aus den Hügeln, klang er wirklich so schrecklich? Wir haben ihn auch gehört, aber nur sehr gedämpft.«
»Es war ein unangenehmer Ton«, erwiderte Lansing.
»Aber Sie haben ihn ertragen.«
»Nun ja, aber ich stand nicht unter emotionaler Belastung wie der Pastor. Es geht ihm schon seit langem sehr schlecht. Er hatte mir gerade gesagt, daß Gott ihn verlassen habe, da ging das Geheule los.«
»Ein Angsthase«, sagte der General angewidert, »ein lupenreiner Angsthase.«
»Der Mann konnte nichts dafür. Er hat die Kontrolle über sich verloren.«
»Ein religiöses Großmaul«, fuhr der General unbeirrt fort, »das zu guter Letzt auf die richtige Größe zurechtgestutzt worden ist.«
»Das klingt so, als ob Sie sich freuen würden«, sagte Mary zornig.
»Mich freut der Vorfall keineswegs«, erwiderte der General. »Im Gegenteil, ich finde seinen Zustand abstoßend. Jetzt haben wir zwei Krüppel am Hals, die wir mit uns rumschleppen müssen.« »Warum stellen Sie sie nicht einfach an die Wand und erschießen sie?« fragte Lansing. »Oh, Pardon, ich vergaß, Sie haben ja keine Waffe.«
»Bei einem Abenteuer wie dem unseren«, sagte der General, »ist Zähigkeit das Schlüsselwort. Aber das wollen Sie ja offenbar nicht begreifen. Ohne Zähigkeit können Sie es nicht durchstehen.«
»Ihre Zähigkeit reicht für uns alle aus«, warf Sandra ein. »Sie mögen mich nicht«, sagte der General. »Und das ist auch in Ordnung so. Ein Offizier, der derart hart durchgreift, ist niemals beliebt.«
»Die Sache ist nur«, fuhr ihn Mary an, »Sie sind nicht unser Oberbefehlshaber. Jeder von uns würde auch ohne Sie prima zurechtkommen.«
»Ich meine, wir sollten den Streit jetzt beilegen«, schlug Lansing vor. »Ich habe ein paar unfreundliche Sachen zu Ihnen gesagt, Herr General, und jedes Wort davon entspricht genau meiner Meinung. Aber ich bin bereit, alles zurückzunehmen, wenn Sie bereit sind, es zu vergessen. Wenn wir so weitermachen, wird die Unternehmung, wie Sie sie nennen, nicht gut enden.« »Bewundernswert!« sagte der General. »Sie haben gesprochen wie ein Mann. Lansing, ich freue mich, daß Sie auf meiner Seite stehen.«
»Ich stehe nicht auf Ihrer Seite«, entgegnete Lansing. »Aber ich werde mein möglichstes tun, um mit Ihnen auszukommen.« »Hören Sie nur«, sagte Sandra. »Seien Sie einmal alle einen Augenblick still. Ich glaube, das Schreien hat aufgehört.« Sie lauschten. Und wirklich, es hatte aufgehört.
17
Als Lansing am nächsten Morgen aufwachte, schliefen die anderen noch. Der Körper des Pastors, der sich unter den Wolldecken abzeichnete, wirkte etwas weniger verkrampft als am Abend zuvor. Zwar hatte der Geistliche die embryonale Stellung beibehalten, seine Glieder und Muskeln waren aber inzwischen nicht mehr ganz so steif.
Jürgens hockte am Feuer und beobachtete den Kessel mit dem kochenden Haferbrei. Den Kaffee hatte er zum Warmhalten in die schwache Glut am Rand gestellt.
Lansing kroch aus seinem Schlafsack und setzte sich neben ihn. »Wie geht es unserem Mann?« fragte er.
»Er hat eine verhältnismäßig gute Nacht hinter sich«, sagte Jürgens. »Während der letzten Stunden war er ruhig. Davor hatte er ein paar Anfälle von Schüttelfrost, aber ich sah keinen Sinn darin, einen von Ihnen zu wecken; Sie hätten ihm doch nicht helfen können. Ich habe ihn die ganze Nacht über im Auge behalten und darauf geachtet, daß er zugedeckt blieb. Schließlich hörte der Schüttelfrost auf, und er schlief ein. Wissen Sie was, Lansing, wir hätten Medizin mitnehmen sollen. Warum hat nur keiner von uns daran gedacht?«
»Wir haben Verbandszeug, Schmerztabletten und Desinfektionsmittel dabei«, sagte Lansing. »Ich glaube, etwas anderes war auch nicht aufzutreiben. Und außerdem, was würden uns Medikamente nützen? Keiner von uns hat eine blasse Ahnung von Medizin, da sollte man lieber die Finger von so etwas lassen.«
»Ich hatte gestern den Eindruck, daß der General ungewöhnlich grob mit dem Pastor umgesprungen ist«, sagte Jürgens. »Der General war aufgeregt«, antwortete Lansing. »Er hat selbst genug Probleme.«
»Und was für Probleme sollen das sein?«
»Er glaubt, er sei für uns verantwortlich. Er muß so denken, es liegt in seiner Natur. Alles, was wir tun, jeder Schritt, den wir gehen, bereitet ihm Sorgen. Er verhält sich wie eine Glucke, aber die Rolle fällt ihm nicht leicht.«
»Wir können ganz gut selbst auf uns aufpassen.«
»Das weiß ich, aber er weiß es nicht. Vermutlich gibt er sich die Schuld an dem Vorfall mit dem Pfarrer.«
»Er mag den Pastor ja nicht einmal.«
»Ich weiß, keiner mag ihn. Es ist schwer, mit ihm zurechtzukommen.«
»Warum sind Sie dann mit ihm spazierengegangen?«
»Schwer zu sagen. Vielleicht hatte ich Mitleid mit ihm. Er wirkt so einsam; kein Mensch sollte so verlassen sein.« »Sie sind derjenige«, sagte Jürgens, »der sich um uns alle sorgt. Sie zeigen es nur nicht. Sie haben mit keinem über mich gesprochen, Sie haben nichts von dem, was ich Ihnen erzählt habe, weitergegeben. Wer ich bin, wo ich herkomme.« »Als Mary Sie nach Ihren persönlichen Verhältnissen fragte, baten Sie darum, die Antwort schuldig bleiben zu dürfen. Da habe ich mir gedacht, daß auch niemand sonst es erfahren soll.« »Aber Ihnen habe ich es erzählt. Verstehen Sie, was ich meine? Mit Ihnen habe ich geredet, weil ich Ihnen vertraue. Ich weiß selbst nicht, warum, aber ich wollte, daß Sie alles über mich erfahren.«
»Das liegt wohl an meinem Beichtvater-Image.« »Nein, es ist viel mehr als das.«
Lansing erhob sich und ging zum Eingang. Auf der Treppe hielt er an und ließ seine Blicke über den Platz schweifen. Eine friedliche Szenerie breitete sich vor ihm aus. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber im Osten wurde es bereits hell. Das blasse Morgenlicht verlieh den Häusern eine rosa Färbung, freundlicher als das erdige Rot, das sie bei Tage zeigten. Die nächtliche Kälte hing noch in der Luft, und irgendwo in den Ruinen zwitscherte ein einsamer Vogel.
Lansing drehte sich um, als er hinter sich Schritte hörte. Der General kam die Treppe herab.
»Dem Pastor scheint es etwas besser zu gehen«, sagte er »Jürgens berichtete mir, daß er in der Nacht Schüttelfrost gehabt hat. Die letzten Stunden soll er aber ruhig durchgeschlafen haben.«
»Der Pastor stellt ein Problem dar«, sagte der General.
»So?«
»Wir müssen uns an die Arbeit machen. Wir müssen die Stadt durchkämmen. Ich bin überzeugt, hier verbirgt sich irgend etwas, das wir finden müssen.« »Wir sollten uns ein paar Minuten Zeit nehmen und die Dinge gründlich überdenken«, schlug Lansing vor. »Das haben wir bisher noch kein einziges Mal ernstlich versucht. Sie sind also davon überzeugt, daß hier irgendwo der Schlüssel verborgen ist, der uns aus unserer Lage befreit, der uns die Möglichkeit gibt, in unsere Welten zurückzukehren?«
»Nein«, erwiderte der General, »das glaube ich nicht. Ich glaube nicht, daß wir jemals wieder dorthin zurückehren können. Der Weg nach Hause ist uns versperrt. Aber es muß einen Weg zu irgendeinem anderen Ort geben.«
»Mit anderen Worten, Sie sind der Ansicht, uns hat eine fremde Macht hierhergeschafft, damit wir ein Rätsel lösen? Wir sollen zu einem Ort gehen, an dem diese Macht uns haben will, aber wir sollen den Weg dorthin allein finden? Wie Ratten, die durch ein Labyrinth irren?«
Der General sah Lansing tief in die Augen. »Sie spielen den Advocatus Diaboli«, sagte er. »Aber warum tun Sie das?« »Weil ich beim besten Willen nicht weiß, warum wir hier sind und was von uns erwartet wird. Falls überhaupt etwas von uns erwartet wird.«
»Dann schlagen Sie vor, daß wir es uns hier gemütlich machen und der Ereignisse harren, die da kommen werden?« »Nein, das würde ich nicht vorschlagen. Ich bin auch der Ansicht, das wir versuchen sollten, hier herauszukommen, aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, wonach wir suchen müssen.«
»Ich auch nicht«, sagte der General. »Aber suchen müssen wir nichtsdestoweniger. Und aus diesem Grund habe ich eben gesagt, daß der Pastor ein Problem darstellt. Wir alle sollten uns auf die Suche machen, aber man darf den Mann nicht allein lassen. Irgend jemand muß bei ihm bleiben, und das schwächt unsere Kampfkraft. Wir verlieren nicht nur eine, sondern zwei Personen.« »Sie haben recht, wir dürfen den Pastor nicht allein lassen. Ich könnte mir vorstellen, daß Jürgens bereit ist, bei ihm zu bleiben. Er hat immer noch Schwierigkeiten mit dem Gehen.« »Nein, Jürgens nicht. Den brauchen wir. Er ist ein heller Kopf. Er redet zwar nicht viel, dafür denkt er um so mehr. Und er hat einen scharfen Blick; er bemerkt Sachen, die anderen nicht auffallen.«
»Also gut, nehmen Sie ihn mit. Ich werde hierbleiben.« »Sie auch nicht, Sie werden ebenfalls gebraucht. Denken Sie nicht, Sandra würde sich bereit erklären, auf den Pfarrer aufzupassen? Vor Ort nützt sie uns nicht viel. Sie ist eine wirr-köpfige Person.« »Fragen Sie sie«, sagte Lansing.
Sandra hatte nichts dagegen, bei dem Pastor zu bleiben, und nach dem Frühstück machten sich die anderen auf den Weg. Der General hatte die Expedition gut vorbereitet. »Lansing, Sie und Mary übernehmen die Straße dort drüben und gehen bis zum Ende durch. Wenn Sie damit fertig sind, wechseln Sie zur nächsten Straße und kommen auf ihr hierher zurück. Jürgens und ich übernehmen diese Straße und machen es genauso.«
»Wonach sollen wir Ausschau halten?« fragte Mary. »Nach allem, was ungewöhnlich ist. Prüfen Sie alles, was Ihnen auffällt. Auch wenn es nur eine Bodenwelle ist. Es zahlt sich manchmal aus, Bodenwellen nachzuspüren. Ich wünschte, wir hätten genug Zeit und Leute, um die Stadt systematisch zu durchsuchen, aber leider ist das nicht möglich. Wir müssen uns schon auf unser Glück verlassen.«
»Das hört sich alles ein wenig zufällig an«, bemerkte Mary. »Von Ihnen hätte ich einen Plan erwartet, der mehr Logik enthält.«
Mary und Lansing gingen die Straße hinab, die ihnen zugeteilt worden war. An vielen Stellen war der Weg von herabgestürztem Mauerwerk teilweise blockiert. Es gab nichts Ungewöhnliches zu sehen. Die Häuser waren schäbig und verfallen, und man konnte sie kaum voneinander unterscheiden. Sie wirkten wie Wohnhäuser, aber sichere Anzeichen gab es dafür nicht. Ein paar Gebäude durchsuchten sie. Es war nichts Ungewöhnliches an den Häusern, sie taten es nur aus Pflichtbewußtsein, konnten aber nichts entdecken. Die Räume waren kahl und deprimierend; die alles bedeckende Staubschicht wies keine Spuren auf, die auf ein früheres Eindringen hingedeutet hätten. Lansing versuchte, sich die Zimmer in bewohntem Zustand vorzustellen, belebt von fröhlichen Menschen, die schwatzten und lachten, merkte aber bald, daß es ihm unmöglich war, solche Bilder heraufzubeschwören, und stellte den Versuch ein. Die Stadt war tot, die Häuser waren tot, die Zimmer waren tot. Sie waren schon zu lange tot, um noch Geister zu beherbergen. Sie hatten jegliche Erinnerung verloren, nichts war zurückgeblieben.
»Diese Suche nach einer unbekannten Größe kommt mir ziemlich sinnlos vor«, seufzte Mary. »Selbst wenn das, was wir suchen, hier in der Stadt ist - und dafür gibt es bisher keinen Anhaltspunkt -, kann es Jahre dauern, bis wir es finden. Wenn Sie mich fragen, ich glaube, der General ist verrückt.« »Er selbst ist wahrscheinlich nicht verrückt«, sagte Lansing, »er verfolgt nur ein verrücktes Ziel. Schon bei dem Würfel war er sicher, die Antwort auf unsere Fragen in der Stadt zu finden. Natürlich hatte er sich die Stadt damals anders vorgestellt. Er glaubte, wir würden hier Menschen antreffen.« »Da aber nun einmal keine hier sind, wäre es da nicht vernünftiger, wenn er seine Meinung änderte?« »Für Sie und mich wäre das angemessen: Wir können Fehler zugeben und uns auf eine veränderte Situation einstellen. Der General ist da anders; wenn er sich etwas vorgenommen hat, dann führt er es auch aus. Wenn er sagt, eine Sache sei so und so, dann ist sie auch so. Er wäre niemals bereit, seine Meinung zu ändern.«
»Und was, meinen Sie, können wir dagegen unternehmen?« »Gar nichts, wir müssen uns damit abfinden. Wir machen so weiter wie bisher. Vielleicht läßt er sich ja doch eines Tages überzeugen.«
»Ich fürchte, da müssen wir lange warten.«
»Dann müssen wir uns also entscheiden, was wir tun sollen«, sagte Lansing. »Mein Vorschlag wäre, ihm ein paar auf seinen Dickkopf zu geben.« Er grinste sie an, sie lächelte zurück.
»Das ist vielleicht eine Spur zu boshaft«, sagte sie, »aber ansonsten gefällt mir der Gedanke nicht schlecht.« Während der Unterhaltung hatten sie auf einer Steinplatte gesessen. Als sie sich erhoben, um weiterzusuchen, sagte Mary unvermittelt: »Hören Sie! Schreit da nicht jemand?« Einen Moment lang standen sie starr nebeneinander und lauschten, dann wiederholte sich das Geräusch, fern und schwach. Es war der Klang einer weiblichen Stimme.
»Sandra!« schrie Mary und stürmte im gleichen Augenblick die Straße hinab auf den Platz zu. Sie rannte leichtfüßig wie eine Gazelle, Lansing hatte Mühe ihr zu folgen. Die Straße war eng und kurvenreich, und die überall verstreuten Steinbrocken erschwerten ein rasches Vorwärtskommen.
Ein paarmal noch hörte Lansing die Schreie. Schließlich erreichte er den Platz, Mary hatte ihn schon halb überquert. Auf der Treppe stand Sandra und schwenkte verzweifelt die Arme. Sie schrie immer noch. Lansing versuchte, sein Tempo zu steigern, aber die Beine gehorchten ihm nicht.
Mary flog die Treppe hinauf und nahm Sandra in die Arme. Eng umschlungen standen die beiden Frauen da. Am Rande seines Blickfeldes sah Lansing den General auf den Platz einbiegen. Verbissen rannte er weiter, erreichte den Fuß der Treppe und hastete sie hinauf. »Was ist los?« keuchte er.
»Es geht um den Pastor«, sagte Mary. »Er ist verschwunden.« »Verschwunden? Sandra sollte doch auf ihn aufpassen.« »Ich mußte zur Toilette«, schrie Sandra hysterisch. »Ich mußte ein stilles Plätzchen finden! Es hat nur eine Minute gedauert.« »Haben Sie schon überall nachgesehen?« fragte Mary. »Natürlich habe ich ihn gesucht«, kreischte Sandra. »Überall!« Schwer atmend stapfte der General die Treppe empor. Weit hinter ihm hüpfte Jürgens über den Platz. In dem Versuch, rascher voranzukommen, schlug er wie wild mit der Krücke auf den Boden. »Was ist das für ein Aufruhr?« wollte der General wissen.
»Der Pastor ist verschwunden«, antwortete Lansing.
»Er ist also weggelaufen«, stellte der General fest. »Das Häschen ist da vongehoppelt.«
»Ich habe schon überall nach ihm gesucht«, jammerte Sandra. »Ich weiß, wo er ist«, sagte Mary. »Ich bin mir ziemlich sicher.« »Ich auch«, sagte Lansing und lief auf den Eingang zu. »Neben meinem Schlafsack liegt eine Taschenlampe. Ich bewahre sie dort immer auf«, rief Mary, während sie hinter ihm herrannte.
Lansing sah die Lampe und hob sie im Laufen auf. Er eilte zur Kellertreppe. Während er die Stufen hinabhastete, murmelte er: »Dieser Narr. Was ist er nur für ein schrecklicher Dummkopf!« Er erreichte den Keller und stürzte auf den Hauptkorridor zu. Der tanzende Lichtkegel der Taschenlampe erleuchtete den Weg vor ihm.
Vielleicht komme ich ja noch rechtzeitig, dachte er, ich könnte es noch schaffen. Aber er wußte genau, daß es ihm nicht gelingen würde.
Er schaffte es nicht rechtzeitig.
Der große Raum am Ende des Ganges war leer. Die Gucklöcher leuchteten schwach in der Dunkelheit.
Als er die erste Tür erreicht hatte, die Tür zur »Apfelblütenwelt«, strahlte er sie mit der Taschenlampe an. Die Riegel, mit denen die Tür gesichert war, hingen lose an einer Seite herab.
Lansing griff nach der Tür, wurde aber von einem kräftigen Schlag nach hinten gerissen. Die Taschenlampe fiel ihm aus der Hand und rollte nun, immer noch eingeschaltet, über den Boden. Lansing hatte sich bei dem Sturz den Kopf gestoßen; bunte Flecken tanzten vor seinen Augen, aber er kämpfte verzweifelt gegen die Kraft an, die ihn zu Boden drückte. »Sie Idiot!« schnauzte der General. »Was hatten Sie vor?« »Der Pastor«, stammelte Lansing. »Er ist durch die Tür gegangen.«
»Und Sie wollten ihm folgen?«
»Warum, ja natürlich. Vielleicht hätte ich ihn gefunden.« »Sie unverbesserlicher Narr«, schimpfte der General. »Das ist eine Tür, die man nur in einer Richtung benutzen kann. Sie können hindurchgehen, aber nicht wieder zurückkommen. Sie treten über die Schwelle und werden feststellen, daß keine Tür mehr da ist. Versprechen Sie, sich anständig zu benehmen, wenn ich Sie jetzt loslasse?«
Mary hob die Taschenlampe auf und richtete den Lichtkegel auf Lansing.
»Der General hat recht«, sagte sie. »Es könnte sich um eine solche Tür handeln.«
Dann schrie sie auf: »Sandra, lassen Sie das sein!«
Noch während sie schrie, schoß Jürgens' Krücke aus dem Dunkel vor und stieß Sandra zur Seite.
Der General rappelte sich hoch und stellte sich mit dem Rücken gegen die Tür, um sie gegen alle Eindringlinge zu bewachen. »Hören Sie gut zu«, sagte er. »Niemand wird durch diese Tür gehen, niemand darf sie auch nur berühren.« Unsicher schwankend stand Lansing auf. Jürgens half Sandra auf die Füße.
»Da ist er ja«, sagte Mary unvermittelt. »Hier ist der Schraubenschlüssel, mit dem er die Riegel gelockert haben muß.« »Er ist mir gestern schon aufgefallen«, sagte Jürgens. »Er hing an einem Haken neben der Tür.«
Mary bückte sich und hob den Schlüssel auf. »So«, sagte der General, »nachdem alle ihre verrückte Phase hinter sich haben, wollen wir uns wieder wie vernünftige Menschen benehmen. Wir schrauben jetzt die Riegel fest, anschließend werfen wir den Schlüssel fort.«
»Woher wissen Sie, daß dies eine einseitig benutzbare Tür ist?« fragte Sandra.
»Ich weiß es nicht«, sagte der General, »aber ich möchte darauf wetten.«
Und das ist der springende Punkt, dachte Lansing. Niemand konnte es wissen, auch der General nicht. Aber solange die Frage nicht völlig geklärt war, durfte eben keiner die Tür passieren.
»Es gibt keine Möglichkeit, es festzustellen«, sagte Jürgens, »außer, man geht durch die Tür. Und dann kann es zu spät sein.«
»Wie wahr«, stimmte der General zu. »Und deshalb wird es auch keiner ausprobieren.«
Er streckte die Hand aus, Mary gab ihm den Schraubenschlüssel, »Leuchten Sie hierherüber«, sagte er, »im Hellen kann ich besser arbeiten.«
18
»Er ist geflohen«, sagte der General. »Lansing, als er gestern mit Ihnen geredet hat, erwähnte er da irgend etwas in dieser Richtung?« »Von Fliehen hat er nicht gesprochen, da bin ich mir sicher. Aber er war völlig verzweifelt. Er bezeichnete diesen Ort als Hölle, und er meinte damit die wirkliche, biblische Hölle. Es war kein Fluchen.«
»Er war ein schwacher Mensch«, stellte der General fest. »Er hat die feige Lösung gewählt. Er war also der erste von uns.« »Das klingt so, als erwarteten Sie, daß noch mehr von uns gehen werden«, sagte Sandra mit tränenerstickter Stimme. »Es passieren immer wieder Unglücke«, sagte der General. »Damit muß man rechnen. Sie werden natürlich Ihr möglichstes tun, damit ein akzeptabler Prozentsatz nicht überschritten wird.«
Lansing verzog das Gesicht. »Wenn Sie das für witzig halten, dann lassen Sie sich sagen, daß ich Ihren Humor abstoßend finde. Von uns werden Sie keine Lacher ernten.« »Und als nächstes werden Sie uns sicher erzählen, daß wir weitermachen müssen«, wandte sich Mary an den General. »Auch ohne den Pastor müssen wir weitermachen, nicht wahr?« »Natürlich«, sagte der General, »das ist unsere einzige Chance. Wenn wir hier nichts finden.«
»Und wenn wir etwas finden, dann behaupten Sie wieder, es sei eine Falle«, unterbrach ihn Sandra. »Dann trauen Sie sich nicht, es zu benutzen. Wir dürfen die Türen nicht benutzen, weil es Fallen sein könnten.«
»Bei den Türen bin ich mir ganz sicher«, erwiderte der General. »Ich möchte keinen von Ihnen dabei erwischen, wie er die Frage zu klären versucht.«
»Ich habe durch das Guckloch gespäht«, sagte Jürgens, »aber von dem Pastor war keine Spur zu entdecken.« »Was haben Sie denn erwartet?« fragte der General. »Dachten Sie, er steht da und macht uns eine lange Nase? In dem Augenblick, als er durch die Tür trat, riß er alle Brücken hinter sich ab. Er floh, so schnell er konnte. Er wollte sich überhaupt keine Möglichkeit zur Rückkehr offenhalten.« »Vielleicht war es für ihn das Beste«, sagte Mary. »Vielleicht ist er dort glücklich. Ich erinnere mich noch an seinen Gesichtsausdruck, als er zum erstenmal durch das Guckloch blickte. Damals wirkte er glücklich, und es war das einzige Mal, daß ich ihn glücklich erlebte. Auf dieser Welt gab es etwas, das ihn anzog. Uns alle, glaube ich, aber ihn besonders.«
»Ja, ich entsinne mich genau«, sagte Lansing. »Er war glücklich. Er hatte zum erstenmal die Mundwinkel nicht herabgezogen.« »Was schlagen Sie beide also vor?« fragte der General. »Sollen wir uns vor der Tür aufstellen und im Gänsemarsch hindurchspazieren?«
»Nein«, sagte Mary. »Für uns wäre das nicht die richtige Lösung, aber für den Pastor war sie angemessen. Es war sein einziger Ausweg, und ich hoffe, er ist dort glücklich.« »Glück sollte nicht unser einziges Ziel sein«, sagte der General. »Todessehnsucht aber auch nicht«, erwiderte Mary. »Das ist es nämlich, was Sie antreibt. Ich bin davon überzeugt, daß Ihre wunderbare Stadt uns einen nach dem anderen umbringen wird. Edward und ich werden nicht hierbleiben und abwarten, bis wir an der Reihe sind. Morgen früh verlassen wir die Stadt.« Lansing sah sie über das Feuer hinweg an, und einen Augenblick lang spürte er den Impuls, zu ihr hinüberzugehen und sie in die Arme zu schließen. Er tat es nicht, er blieb auf seinem Platz sitzen.
»Wir dürfen uns nicht aufsplittern«, sagte der General verzweifelt. »Unsere einzige Stärke ist unser Zusammenhalt. Sie verfallen in Panik.«
Sandra begann zu weinen. »Es ist alles meine Schuld«, schluchzte sie. »Wenn ich dageblieben wäre und besser aufgepaßt hätte.«
»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, versuchte Jürgens sie zu trösten. »Er wäre in jedem Fall geflohen. Er hätte auf eine andere Gelegenheit gewartet. Wenn es nicht heute passiert, passiert es morgen. Er hätte gewiß nicht eher Ruhe gegeben, bis er die andere Welt erprobt hätte.«
»Ich denke, Jürgens hat recht«, sagte Lansing. »Er war ein verzweifelter Mensch, am Ende seiner Kraft. Wie schlimm es um ihn stand, wurde mir erst gestern abend bei unserem Gespräch klar. Ich bin überzeugt, niemand von uns trägt die Verantwortung für das, was geschehen ist.« »Und wie steht es mit Ihrer Flucht?« fragte der General. »Was sagen Sie dazu, Lansing?«
»Meiner Überzeugung nach sollten wir alle diesen Ort so schnell wie möglich verlassen«, antwortete Lansing. »Etwas Bedrohliches liegt über der Stadt, das haben Sie sicher auch schon gespürt. Sie ist tot, dennoch gibt es hier etwas, das uns beobachtet. Es beobachtet jeden Schritt, den wir machen. Eine Zeitlang kann man das Gefühl verdrängen, aber plötzlich ist es wieder da.«
»Und wenn wir übrigen hierbleiben?«
»Dann müssen Sie ohne uns hierbleiben. Ich verlasse die Stadt, und Mary kommt mit mir.«
Während Lansing sprach, bemerkte er, daß ihm sein Entschluß, die Stadt zu verlassen, erst in dem Augenblick bewußt geworden war, als Mary davon gesprochen hatte. Woher hatte sie es gewußt, fragte er sich. Welche unbewußte Kommunikation spielte sich zwischen ihnen ab? »Geben Sie mir noch ein paar Tage«, bat der General. »Mehr verlange ich nicht. Wenn sich innerhalb der nächsten Tage nichts ergibt, dann werden wir alle zusammen aufbrechen.« Die beiden schwiegen.
»Drei Tage«, drängte er. »Nur noch drei Tage.« »Ich bin kein Mensch, der seinen Partner bei einem Handel in die Enge treibt«, sagte Lansing. »Wenn Mary einverstanden ist, können wir uns auf zwei Tage einigen. Zwei Tage und keine Minute länger.«
Der General sah Mary fragend an.
»Also gut«, sagte sie. »Zwei Tage.«
Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Später würde der Mond aufgehen. Aber jetzt, nachdem die Sonne vom Himmel verschwunden war, lag die Stadt in tiefster Finsternis. Jürgens erhob sich unvermittelt. »Ich werde mich um das Abendbrot kümmern«, sagte er.
»Nein, lassen Sie mich das machen«, sagte Sandra. »Es lenkt mich ab, wenn ich etwas zu tun habe.«
Weit in der Ferne erscholl das schreckliche Schreien. Beim ersten Klang erstarrten alle; keiner rührte sich vom Fleck, alle lauschten wie gebannt. Und wieder, wie schon am Abend zuvor, schrie vom Hügel über der Stadt dieses einsame Wesen sein Elend in die Nacht hinaus.
19
Am Spätnachmittag des zweiten Tages machten Mary und Lan-sing die Entdeckung.
Zwischen zwei Gebäuden am Ende einer schmalen Gasse bemerkten sie ein Loch. Lansing leuchtete mit der Taschenlampe hinein. Der Lichtstrahl enthüllte eine steile Treppe. »Warten Sie hier«, sagte er. »Ich werde hinabsteigen und mich einmal umsehen. Es wird ohnehin wieder eine Niete sein.« »Nein«, sagte sie. »Ich komme mit. Ich möchte nicht allein zurückbleiben.«
Vorsichtig ließ Lansing sich in das Loch gleiten und begann mit dem Abstieg, Mary folgte dicht hinter ihm. Es handelte sich um mehr als eine Treppe. Sie erreichten einen Absatz, und nach einer Vierteldrehung senkte sich eine weitere Treppe in die Tiefe. Kaum waren sie die ersten Stufen hinabgestiegen, als Lansing das Gemurmel vernahm. Er blieb ruckartig stehen, um zu lauschen, und Mary wäre fast über ihn gefallen. Das Gemurmel war leise. Eigentlich war es gar kein Gemurmel, Lansing hatte es nur im ersten Augenblick dafür gehalten. Das Geräusch glich eher einem kehligen Gesang, so als ob jemand leise vor sich hinsummte. Die Stimme war männlich. »Hier singt jemand«, flüsterte Mary.
»Wir müssen nachsehen, wer das ist«, sagte Lansing. Er verspürte kein Verlangen danach. Wenn es nach ihm gegangen wäre, er hätte auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre geflohen. Denn obwohl der Singsang (wenn es einer war) menschlich klang, war die Atmosphäre von einer so grauenhaften Fremdheit, daß ihm das Blut in den Adern gefror. Die zweite Treppe endete ebenfalls auf einem Absatz, und als sie die dritte Treppe hinunterstiegen, wurde der Gesang kräftiger. Vor und unter sich bemerkte Lansing'schwache Lichter - Katzenaugen, die ihn aus der Finsternis anstarrten. Er erreichte den Fuß der Treppe und kam auf einem Laufsteg aus Metall zu stehen. Mary stellte sich dicht neben ihn. »Ein Apparat«, sagte sie. »Oder eine Maschine.« »Schwer zu entscheiden, was es ist«, sagte er. »Irgendeine sonderbare Konstruktion.«
»Und das Ding funktioniert noch«, sagte sie. »Ist Ihnen klar, daß dies der erste intakte Gegenstand ist, den wir sehen?« Die Apparatur war nicht massiv, wie Lansing feststellte. Sie war mit zahlreichen Leuchtaugen besetzt, aber das Licht dieser Augen war so schwach, daß man die Form des Gebildes eher erahnen als erkennen konnte. Es war eine gespinstartige, filigrane Konstruktion. Sie schien keine beweglichen Teile zu enthalten. Und sie sang leise vor sich hin.
Als Lansing seine Taschenlampe nach vorn richtete, sah er, daß der Laufsteg, auf dem sie sich befanden, geradeaus weiterging. Er lief als schmaler Pfad zwischen zwei Teilen der gewaltigen Konstruktionen hindurch. Der Pfad war lang, in der Ferne verlor er sich aus dem Lichtkegel der Lampe, aber soweit man ihn verfolgen konnte, wurde er von den verworrenen, zarten Formen flankiert.
Langsam und vorsichtig gingen Mary und Lansing den Laufsteg entlang. Als sie den Anfang der Konstruktion erreichten, hielten sie an und ließen den Lichtstrahl der Lampe über die nächstgelegenen Segmente des Gebildes gleiten. Die Apparatur war nicht nur filigran, sie wirkte geradezu zerbrechlich. Das polierte Metall, falls es Metall war, glänzte hell. Kein Staubkörnchen war zu sehen, nicht der kleinste Rest Schmieröl. Das Gebilde hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit irgendeiner Maschine, die sie kannten. Es wirkte eher wie die Skulptur eines verrückten Künstlers. Aber obwohl kein Teil sich bewegte, obwohl nichts auf einen momentanen Arbeitsprozeß hindeutete, schien es voller Leben zu sein. Und die ganze Zeit über sang und summte es vor sich hin.
»Ein sonderbares Gerät«, sagte Mary. »Ich als Ingenieurin müßte doch eine Ahnung haben, was es darstellen könnte. Aber es enthält keine einzige Komponente, die mir vertraut vorkommt.«
»Und Sie können sich auch nicht vorstellen, welche Bestimmung es hat?«
»Nein, absolut nicht.«
»Sie haben es als Apparatur oder Maschine bezeichnet.« »Aber nur, weil mir kein besserer Terminus eingefallen ist«, erwiderte Mary.
Lansing stellte fest, daß sich sein Körper unbewußt dem Rhythmus des Singsangs anpaßte. Die Melodie drang in ihn ein, durchdrang ihn völlig, wurde zum Hintergrund, vor dem sich sein Leben abspielte.
Es übernimmt mich, dachte er, aber dieser Gedanke schien wie aus weiter Ferne zu kommen, als ob ein anderer und nicht er selbst ihn gedacht hätte. Er versuchte noch, Mary zu warnen, aber bevor das Gehirn den Befehl zum Schreien geben konnte, hatte er sich in eine andere Lebensform verwandelt. Er war Lichtjahre groß, und jeder Schritt, den er machte, durchmaß viele Billionen Kilometer. Er ragte im Universum auf, sein Körper war schmal und verdünnt und glitzerte im Glanz der strahlenden Sonnen, die um ihn kreisten und wirbelten. Planeten waren wie Kiesel unter seinen Füßen. Als ein schwarzes Loch ihm den Weg versperrte, stieß er es mit dem Fuß zur Seite. Er streckte die Hand aus und pflückte ein halbes Dutzend Quasare, die er an einer Kette aus Sternenlicht aufreihte und sich um den Hals legte. Er erklomm einen Berg aus übereinandergestapelten Sternen. Der Berg war hoch und steil, und es kostete ihn Mühe hinaufzukommen. Beim Klettern lockerte er eine Anzahl Sterne, die rasselnd in die Tiefe stürzten. Sie rollten und hüpften zum Fuß des Berges, nur daß es keinen Fuß gab.
Er erreichte den Gipfel. Dort stand er mit gespreizten Beinen, um das Gleichgewicht zu halten. Das ganze Universum lag ausgebreitet vor ihm bis hin zu seinem fernsten Winkel. Er erhob die Faust und schüttelte sie. Er brüllte der Ewigkeit seine Herausforderung zu, und das Echo seines Rufes erreichte ihn vom Ende der Unendlichkeit.
Von seinem Standort aus sah er das Ende von Zeit und Raum, und er erinnerte sich daran, daß er sich einst gefragt hatte, was wohl jenseits von Zeit und Raum liegen mochte. Jetzt sah er es, und der Anblick überfiel ihn mit solcher Macht, daß er den Halt verlor und den Hügel hinabstolperte. Er erreichte den Boden (den Boden natürlich nicht, denn es gab keinen Boden) und lag mit ausgestreckten Gliedmaßen im Wogen des kosmischen Staubes und Gases, die an ihm zerrten wie die Brandung einer mitleidlosen See.
Er stöhnte, als er sich an das erinnerte, was er jenseits von Zeit und Raum erblickt hatte. Und das Stöhnen brachte ihn in die Wirklichkeit zurück, zurück auf den metallenen Laufsteg zwischen der gespinstartigen Apparatur, die immer noch leise vor sich hinsang.
Mary hatte seinen Arm ergriffen und schüttelte ihn. Sie versuchte ihn fortzuzerren, und benommen wie er war, folgte er ihr willig. Er sah die brennende Taschenlampe auf dem Boden liegen und bückte sich, um sie aufzuheben. Dabei verlor er fast das Gleichgewicht. Mary zerrte ihn weiter fort. »Hier können wir stehenbleiben«, sagte sie schließlich. »Wie geht es Ihnen?«
»Ganz gut«, antwortete er. »Ich bin nur etwas durcheinander. Ich habe das Universum gesehen.« »Das war es also, was Sie gesehen haben.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie auch etwas gesehen haben?« »Als ich zurückkam«, erwiderte sie, »waren Sie wie zur Salzsäule erstarrt. Ich hatte im ersten Augenblick Angst, Sie anzufassen. Ich dachte, Sie würden in tausend Stücke zerspringen.«
»Können wir uns nicht hinsetzen?« schlug Lansing vor. »Nur eine Minute.«
»Hier ist nichts, worauf wir uns setzen könnten.« »Dann setzen wir uns eben auf den Fußboden«, sagte er. Sie ließen sich auf der harten Oberfläche des Laufstegs nieder und sahen einander an.
»Jetzt wissen wir also Bescheid«, sagte sie.
»Bescheid worüber?« Lansing schüttelte den Kopf, wie um den Nebel aus seinem Gehirn zu vertreiben. Die Schleier lichteten sich, aber er fühlte sich immer noch etwas benommen. »Wir kennen jetzt den Zweck dieser Maschinen«, sagte Mary. »Edward, wir dürfen dem General nichts von diesem Ort erzählen. Er wird durchdrehen.«
»Wir müssen es ihm erzählen«, entgegnete Lansing. »Wir haben uns auf einen Handel mit ihm eingelassen, daher müssen wir auch unseren Teil der Abmachung erfüllen.«
»Unsere Entdeckung ist wieder etwas, mit dem wir nicht umzugehen wissen«, sagte sie. »Genauso wie die Türen.« Er blickte sich nach der Maschine um. Er konnte sie jetzt deutlich sehen, die Nebelschleier vor seinen Augen hatten sich verzogen.
»Sie sagten eben, Sie hätten das Universum gesehen. Was haben Sie damit gemeint?«
»Mary, Mary, Mary! Bitte, lassen Sie mir eine Minute Zeit.« »Es hat Sie sehr mitgenommen?« fragte sie. »Ja, ich glaube schon.« »Ich habe die Sache gut überstanden.« »Das liegt an Ihrem starken Selbstbewußtsein.« »Machen Sie keine Witze«, sagte sie. »Die Angelegenheit ist ernst, versuchen Sie nicht, sie ins Lächerliche zu ziehen.« »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich werde jetzt versuchen, Ihre Frage zu beantworten: Ich besuchte das Universum. Ich war groß und langgestreckt. Mein Körper bestand aus schimmerndem Sternenlicht, wie ein Kometenschweif. Es war wie ein Traum und doch ganz anders. Es klingt lächerlich, aber so war es. Ich stieg auf einen Sternenberg, von dessen Gipfel ich das gesamte Universum bis über die Grenze von Raum und Zeit hinaus überblickte. Ich sah, was jenseits des Raum-Zeit-Kontinuums liegt, aber jetzt verblaßt die Erinnerung allmählich. Chaos. Ich glaube, so könnte man es bezeichnen. Ein wirbelndes Nichts, ein tosendes, wütendes Nichts. Ich hatte mir das Nichts niemals als rasende Wut vorgestellt. Und das war es, glaube ich, was mich so erschütterte. Wenn ich >wütend< sage, dann meine ich damit nicht heiß. Das Nichts war kalt. Nicht kalt nach Graden - ich hatte absolut kein Temperaturempfinden -, sondern kalt in einem anderen, tödlichen Sinne. Gleichgültig. Schlimmer als gleichgültig. Wütend gegen alles, das existierte oder jemals existiert hat. Und rasend in dem Versuch, jede Existenzform in das Nichts zu verwandeln.«
Mary machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Ich hätte Sie nicht fragen sollen. Es tut mir leid, daß ich Sie bedrängt habe. Es ist Ihnen sicher nicht leichtgefallen.« »Ich wollte es Ihnen erzählen, und ich hätte es sicher auch getan, nur vielleicht nicht jetzt. Doch nun ist es überstanden, und ich fühle mich irgendwie erleichtert. Ich habe es mir zum Teil von der Seele geredet. Das, was sie mir angetan haben - uns angetan haben. Sie sagten doch, Sie hätten es auch erlebt?« »Nicht genau dasselbe wie Sie. Es war nicht so zerstörerisch. Ich bin sicher, die Maschine hat das mit uns angestellt. Sie übernimmt Ihren Geist, Ihre Lebenskraft, Ihr Ego, Ihre Persönlichkeit, entreißt sie Ihnen und schickt sie an einen anderen Ort. Sie sagten, es war wie ein Traum und war doch keiner. Ich gebe Ihnen recht: Es war Realität, kein Traum. Eine Maschine kann kein Traumkonzept haben. Wenn es die Möglichkeit gäbe, daß jemand an den Ort reiste, den Sie besucht haben - ganz real, meine ich -, dann würde er mit Sicherheit dasselbe sehen wie Sie. Ihr Erlebnis hatte natürlich absurde Elemente.«
»Ich versetzte einem schwarzen Loch einen Fußtritt. Ich kletterte auf einen Sternenberg. Planeten knirschten wie Kiesel, wenn ich auf sie trat.«
»Genau das meine ich mit absurden Elementen, Edward. Das war die Reaktion, die Rebellion Ihres Geistes. Eine Art Verteidigungsmechanismus, der Sie vor dem Wahnsinn bewahrte. Das Lachen, mit dem Ihr Verstand bewies, daß er all das nicht ernst nahm.«
»Sie glauben also, ich war wirklich dort, und mein Geist hat sich tatsächlich im Universum aufgehalten?«
»Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen«, sagte sie. »Die Menschen, die in dieser Stadt gelebt haben, waren Wissenschaftler von hohem Rang. Ihre Technologie hatte geradezu unheimliche Höhen erreicht. Ihr Geist stieß in eine völlig andere Richtung vor als der unsere, deshalb bauten sie diesen Apparat, die Türen und den Bildgeber. Sie stellten sich Aufgaben und suchten nach Antworten, die uns niemals in den Sinn kommen würden. Den Zweck der Türen kann man zur Not nachvollziehen, so absurd er auch sein mag. Der Sinn dieses Gerätes hingegen ist für uns absolut unverständlich. Es besteht sogar die Möglichkeit, daß es sich um eine Art wissenschaftlicher Ketzerei handelt.«
»Wenn Sie noch lange so weiterreden, dann haben Sie mich überzeugt.«
»Wir können unsere Augen nicht vor den Tatsachen verschließen. Wir haben es hier mit einer Welt zu tun, die wir nicht verstehen, dabei haben wir bisher nur winzige Bruchstücke der einstigen Zivilisation entdeckt. Wer weiß, was wir zur Zeit ihrer Blüte hier angetroffen hätten? Der Technologie mag ein menschliches Konzept zugrunde liegen, ich bin sogar davon überzeugt. Die Projekte sind so beschaffen, daß sie dem menschlichen Geist entstammen könnten. Andererseits gehen sie so weit über alles gegenwärtige menschliche Denken hinaus, daß sie uns fremdartiger erscheinen als das, was eine andere Spezies aus einem fernen Sonnensystem sich ausgedacht haben könnte.« »Aber ihre Kultur endete in einem Fehlschlag. Trotz all ihrer Fähigkeiten haben sie nichts erreicht. Die Menschen sind verschwunden, ihre Stadt ist tot.«
»Vielleicht sind sie fortgezogen. Zu einer Welt, die sie entdeckt haben.«
»Oder sie haben sich übernommen. Haben Sie das schon bedacht? Dabei verloren sie ihre Seelen - hat sich der Pastor nicht in ähnlicher Weise geäußert?« »Es klingt sehr nach ihm«, sagte Mary.
»Und nun zu Ihnen«, sagte Lansing. »Wohin wurden Sie geschickt?«
»Sie müssen länger fort gewesen sein als ich; ich konnte nur einen flüchtigen Blick erhaschen. Es handelte sich um eine andere Kultur, glaube ich. Aber ich habe mit niemandem gesprochen, habe auch niemanden wirklich gesehen. Ich kam mir vor wie ein Geist, ein Schemen, der kommt und wieder verschwindet. Aber ich habe die Wesen gespürt, ihre Lebensweise und ihre Gedanken. Es war wunderschön. Sie waren gottähnlich, wirklich gottähnlich, daran besteht kein Zweifel. Bei einem längeren Aufenthalt hätte man sich wie ein Wurm gefühlt, so weit standen sie über uns. Freundliche Gottheiten, das waren sie. Dabei aber geistreich und hochzivilisiert. Sie haben keine Regierung, weil sie keine brauchen, und kein Wirtschaftssystem, weil auch dafür keine Notwendigkeit besteht. Es erfordert schon eine hohe Stufe der Zivilisation, die allerhöchste, wenn man auf Regierung und Wirtschaft verzichten kann. Kein Geld, kein Kaufen oder Verkaufen, kein Tauschhandel, also auch keine Zinsen, keine schmierigen Bankiers, keine Anwälte, vermutlich sind auch Gesetze überflüssig.« »Woher wissen Sie das alles?«
»Es drang in mich ein, ich wußte es mit einem Schlag. Das Wissen war plötzlich da. Es war kein Sehen oder Erkennen, nein, es war Wissen.«
»Anstelle von Fernrohren«, sagte Lansing.
»Wie bitte?«
»Ich habe nur laut gedacht. Auf meiner Welt, und ich nehme an, auf Ihrer auch, benutzten die Menschen Teleskope, um den Geheimnissen des Alls auf die Spur zu kommen. Aber die Menschen hier brauchten keine Teleskope. Anstatt in die Ferne zu sehen, gingen sie in die Ferne. Sie konnten in den Kosmos reisen, vermutlich zu jedem Punkt, den sie erreichen wollten. Wenn sie in der Lage waren, eine Apparatur wie diese zu bauen, dann waren sie mit Sicherheit auch in der Lage, sie dergestalt zu kontrollieren, daß sie ganz bestimmte Zielpunkte ansteuern konnten. Aber jetzt sind diese Maschinen. wie könnte man die Geräte noch bezeichnen?«
»Maschinen reicht völlig.«
». Jetzt sind die Maschinen außer Kontrolle geraten. Sie schicken einen aufs Geratewohl in die Ferne.« »Irgendwo in dieser Stadt«, sagte Mary, »muß es einen Kontrollraum geben, von dem aus die Maschine bedient werden kann. Oder Zellen für das Bedienungspersonal. Nein, das ist unwahrscheinlich. Das Bedienungssystem ist sicher viel subtiler.«
»Selbst wenn wir einen Kontrollraum finden, dann kann es immer noch Jahre dauern, bis wir herausbekommen, wie man die Maschine bedient«, warf Lansing ein.
»Vielleicht, aber wir könnten es zumindest einmal versuchen.« »Möglicherweise ist folgendes mit den Leuten hier passiert: Sie haben eine neue Welt entdeckt, eine bessere Welt, und alle Einwohner wurden dorthin transportiert.«
»Auch körperlich?« fragte Mary. »Das stelle ich mir ziemlich aufwendig vor.«
»Sie haben recht, daran habe ich gar nicht gedacht. Selbst wenn sie es gekonnt hätten, dann hätten wir immer noch keine Erklärung dafür, daß auch die Gegenstände verschwunden sind. Es sei denn, sie hätten all ihr Hab und Gut auf die Reise geschickt.«
»Das möchte ich bezweifeln«, sagte Mary. »Allenfalls haben sie diesen Apparat benutzt, um eine neue Welt zu finden, anschließend haben sie eine Tür zu dieser Welt gebaut. Die Maschine und die Türen können miteinander in Beziehung gestanden haben. Aber eigentlich neige ich eher der Ansicht zu, daß die Maschine ein Suchgerät war, das zur Erkundung fremder Welten diente. Stellen Sie sich doch nur die Möglichkeiten vor, die in dem Gebrauch eines solchen Gerätes liegen: Man könnte die eigene Kultur mit einer unendlichen Fülle von Daten versorgen. Man könnte das eigene politische oder wirtschaftliche System verbessern, man könnte technische Errungenschaften übernehmen und soziologische Strukturen überprüfen. Vielleicht würde man sogar völlig neue wissenschaftliche Disziplinen kennenlernen. Für eine zivilisierte, intelligente Rasse wäre das wie ein kulturelles Wunderelixier.«
»Sie haben es auf den Punkt gebracht«, bemerkte er. »Sie sprachen von einer intelligenten Spezies. Aber war die Spezies, die hier lebte, intelligent genug? Wären Ihre oder meine Kultur intelligent genug, um irgendeinen Nutzen aus den Erkenntnissen zu ziehen, die ihnen der Gebrauch dieses Apparates einbringen könnte? Würden wir nicht viel eher alles beim alten lassen und weiterhin die eingefahrenen Wege gehen? Oder schlimmer noch, bestünde nicht die Möglichkeit, daß wir die Errungenschaften der fremden Welten in einer fürchterlichen, zerstörerischen Weise mißbrauchten?«
»Weder Sie noch ich können das entscheiden«, erwiderte sie. »Im Augenblick jedenfalls nicht. Deshalb schlage ich vor, wir gehen hinaus und suchen nach diesem hypothetischen Kontrollraum.«
Lansing erhob sich und reichte Mary die Hand, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein. Als sie stand, entzog sie ihm die Hand nicht, sondern ließ sie weiter in der seinen ruhen.
»Edward«, sagte sie. »Wir zwei haben eine Menge zusammen durchgemacht. Selbst in dieser kurzen Zeit.«
»Mir kommt sie gar nicht kurz vor«, sagte er. »Ich kann mich kaum an die Zeit ohne dich zurückerinnern.«
Er beugte sich über sie, um sie zu küssen. Sie umarmte ihn kurz, dann ging sie weiter.
Sie stiegen die Treppen zu der Gasse hinauf und begannen mit der Suche. Sie suchten bis zum Einbruch der Dämmerung, fanden aber keinen Kontrollraum.
Als sie ins Hauptquartier zurückkehrten, trafen sie dort Sandra und Jürgens, die das Abendbrot zubereiteten. Der General war nicht bei ihnen.
»Er ist allein losgezogen«, erklärte Sandra. »Wir haben ihn seither nicht gesehen.«
»Wir haben nichts entdeckt«, sagte Jürgens. »Wie sieht es bei Ihnen aus?«
»Wir wollen mit dem Geschäftlichen bis nach dem Abendbrot warten«, bat Mary. »Dann wird auch der General zurück sein.« Er traf eine halbe Stunde später ein und ließ sich schwer auf seinen zusammengerollten Schlafsack fallen. »Ich muß zugeben, ich bin müde«, sagte er. »Ich habe den größten Teil des Nordviertels durchgekämmt. Ich hatte eine sonderbare Vorahnung: Wenn überhaupt, dann müßte dort etwas zu finden sein. Ich habe absolut nichts entdeckt.« Sandra reichte ihm einen Teller mit Essen. »Guten Appetit«, sagte sie.
Der General nahm den Teller und begann zu essen, ohne auf die anderen zu warten. Gedankenlos stopfte er sich die Nahrung in den Mund. Er sieht müde aus, dachte Lansing. Müde und alt. Zum erstenmal bemerkte er, daß der General ein alter Mann war.
Nach der Mahlzeit kramte der General eine Flasche aus seinem Rucksack hervor und ließ sie kreisen. Als sie wieder bei, ihm ankam, nahm er einen tiefen Zug, verschloß sie und tätschelte sie zärtlich und gedankenverloren.
»Die zwei Tage sind um«, sagte er. »Die Zeitspanne, die sie mir zugebilligt haben. Ich bin ein Mann, der zu seinem Wort steht. Ich werde nicht versuchen, Sie länger hier festzuhalten. Ich weiß, daß Sie mit Lansing weiterziehen wollen, Mary. Wie steht es mit Ihnen beiden?« wandte er sich an Sandra und Jürgens. »Ich glaube, wir sollten uns Mary und Lansing anschließen«, antwortete Sandra. »Ich jedenfalls habe das vor. Die Stadt macht mir Angst.«
»Und was sagen Sie dazu?« fragte er Jürgens.
»Bei allem gehörigen Respekt«, sagte der Roboter »sehe ich keinen Sinn darin, hier länger zu verweilen.« »Was mich betrifft, so werde ich noch etwas bleiben«, entschied der General. »Später werde ich vielleicht zu Ihnen stoßen. Aber ich bin sicher, daß sich hier noch etwas verbirgt.« »Herr General«, sagte Lansing, »wir haben es heute nachmittag gefunden. Ich muß Sie aber warnen.«
Mit einem Satz war der General auf den Beinen. Die Flasche flog im hohen Bogen von seinem Schoß. Sie fiel auf den Boden, zerbrach aber nicht, sondern rollte ein Stück, bevor Lansing sie erwischte und aufhob.
»Sie haben es gefunden!« kreischte er. »Was ist es? Nun reden Sie schon.«
»General, setzen Sie sich!« sagte Lansing. Er sprach scharf, als weise er ein ungezogenes Kind zurecht.
Erstaunt über Lansings Ton ließ sich der General folgsam auf dem Schlafsack nieder. Lansing reichte ihm die Flasche. Er nahm sie und plazierte sie wieder auf seinem Schoß. »Und nun wollen wir alles in Ruhe besprechen«, sagte Mary. »Wir sollten uns genau überlegen, was wir tun wollen. Ich hatte Edward vorgeschlagen, unsere Entdeckung geheimzuhalten, aber er erinnerte mich an den Handel, den wir abgeschlossen hatten.«
»Aber warum?« rief der General. »Warum wollten Sie nichts sagen?«
»Weil das, was wir gefunden haben, sich unserem Verständnis entzieht. Wir kennen eine Funktion des Dinges, aber es gibt keine Möglichkeit, sie zu kontrollieren. Das Gerät ist gefährlich, man darf nicht mit ihm herumspielen. Wir dachten, irgendwo müßte ein Kontrollraum sein, haben aber keinen gefunden.« »Sie sind Ingenieurin«, sagte Jürgens. »Das macht Sie in dieser Hinsicht zu dem qualifiziertesten Mitglied der Gruppe. Warum erzählen Sie uns nicht einfach, was Sie gefunden haben?« »Willst du es nicht erzählen, Edward?« fragte sie. »Nein, es ist deine Aufgabe«, sagte Lansing.
Mary erzählte. Gebannt lauschten die anderen ihrem Bericht. Es gab ein paar Zwischenfragen, aber nicht viele. Nachdem sie geendet hatte, folgte eine lange Pause. Schließlich brach Jürgens das Schweigen. »Wenn ich Sie richtig verstehe, dann sind Sie der Überzeugung, daß die Menschen, die hier lebten, einen Vorstoß zu anderen Welten unternommen haben. Zu fernen Planeten, genauer gesagt, und nicht zu Alternativwelten.« »Daß es Alternativwelten gibt, ist ihnen vielleicht gar nicht bewußt gewesen«, sagte Lansing.
»Die Bewohner dieser Welt wollten von hier fort«, sagte Jürgens. »Und Sie meinen, die Apparatur, die Sie gefunden haben, und die Türen gehören zusammen, sind Teil desselben Forschungsprojektes?«
»So sieht es aus«, erwiderte Mary.
Der General meldete sich zu Wort. Er hatte sich so weit gefangen, daß er ruhig sprechen konnte. »Sie beide sind die einzigen, die das Ding gesehen haben. Ich bin der Ansicht, auch die übrigen sollten einen Blick darauf werfen.« »Ich wollte Sie nicht vom Gegenteil überzeugen«, sagte Mary. »Ich meine nur, wir sollten unser Vorgehen sehr genau überlegen. Sowohl Edward als auch ich sind übernommen worden. Einen kurzen Moment lang. Vielleicht war das nur ein Vorgeschmack auf das, was tatsächlich in der Maschine steckt.« »Und Sie haben nach einem Kontrollraum gesucht?« »Bis zum Einbruch der Dunkelheit«, sagte Lansing. »Ich kann mir gut vorstellen, daß der Kontrollraum im gleichen Gebäude untergebracht ist wie der Apparat«, sagte der General. »Daran haben wir natürlich auch gedacht. Aber es gibt dort keinen Raum. Der gesamte Platz wird von der Konstruktion selbst eingenommen. Anschließend haben wir uns überlegt, ob er in einem nahegelegenen Haus.«
»Das muß aber nicht notwendigerweise der Fall sein«, unterbrach Mary, »das ist mir inzwischen klargeworden. Der Kontrollraum kann sich überall in der Stadt befinden, überall auf dieser Welt.«
»Und Sie sagen, der Mechanismus der Maschine sei unverständlich? Sie haben keine Ahnung, wie er funktionieren könnte?«
»An der Apparatur ist kein einziges Teil, das mir bekannt vorkommt«, antwortete Mary. »Ich habe nichts gefunden, das auch nur in entferntester Analogie zu den auf meiner Welt verwendeten Maschinen stünde. Natürlich besteht die Möglichkeit, daß ich bei einer genaueren Untersuchung ein oberflächliches Verständnis der Funktionsweise gewinne. Die Sache ist nur, ich möchte nicht so nah an das Ding herangehen; ich möchte so wenig wie möglich damit zu tun haben. Edward und ich haben nicht die volle Wirkung mitbekommen, da bin ich sicher. Ich wage nicht, mir vorzustellen, was geschehen könnte, wenn man weiter als wir hineingeht.« »Was mich an dieser Stadt am meisten ängstigt, ist ihre Flachheit«, sagte Sandra. »Ich meine Flachheit nicht im wörtlichen Sinne, sondern die kulturelle Plattheit, die dieser Ort repräsentiert. Hier offenbart sich eine geistige Armut, die geradezu unvorstellbar ist. Es gibt keine Kirchen oder andere Kultstätten, keine Bibliotheken, Kunstgalerien oder Tonhallen. Es kommt mir unfaßlich vor, daß jemals ein Volk gelebt haben kann, so bar jeglicher Sensibilität. Ein Volk, das damit zufrieden war, ein derart plattes, ungeistiges Dasein zu fristen.« »Vielleicht war es ein Volk, das von einer einzigen Idee beherrscht wurde«, schlug Lansing vor, »eine Gemeinschaft, deren Forschen und Streben nur in eine einzige Richtung ging. Das ist für uns natürlich schwer zu verstehen, aber wir wissen nichts über die Antriebskräfte dieser Menschen. Ich könnte mir vorstellen, wenn es ein starkes gemeinsames Motiv gibt.« »Diese Diskussion führt zu nichts«, brummte der General. »Wir werden uns das Ding morgen früh ansehen, oder vielmehr ich werde das tun. Sie wollen ja sicherlich weiterziehen.«
»Wir bleiben bei Ihnen«, sagte Lansing. »So lange jedenfalls, wie Sie für Ihre Inspektion benötigen.«
»Aber ich bitte Sie inständig«, sagte Mary, »seien Sie um Gottes willen vorsichtig!« 20
»Ich bezweifle, daß die Maschine so gefährlich ist, wie Sie sie dargestellt haben«, stellte der General fest. »Vielleicht kann sie einem empfindsamen Menschen etwas anhaben. Aber ein Mann mit stärkeren Nerven, der mit beiden Beinen auf dem Boden steht.«
»Ich nehme an, Sie sprechen von sich«, sagte Lansing. »Wenn Sie so denken, dann lassen Sie sich nicht abhalten. Spazieren Sie ruhig geradewegs hinein.«
»Sie liegen völlig falsch«, sagte Mary. »Ich bin kein sonderlich gefühlsbetonter Mensch. Edward vielleicht, Sandra mit Sicherheit. Der Pastor war empfindsam.«
»Der Pastor war absolut nicht empfindsam«, widersprach der General. »Ungefestigt und labil allenfalls, aber ansonsten ein Tölpel.«
Mary seufzte resigniert. »Ich will nicht mit Ihnen streiten.« Die fünf standen auf dem Laufsteg, in sicherer Entfernung vor der Apparatur. Die Katzenaugen leuchteten im Dunkel, der monotone Singsang erfüllte den Raum.
Jürgens brach das Schweigen. »Da ich selbst eine halbe Maschine bin, hatte ich erwartet, eine gewisse Beziehung zu dem Gebilde herstellen zu können. Natürlich konnte ich nicht allzuviel erwarten, denn auf meiner Welt gibt es nur die einfachsten Maschinen. Nichts, das dieser Apparatur auch nur im entferntesten ähnelt. Wie gesagt, ich hatte mich auf eine möglicherweise interessante Erfahrung gefreut, aber ich bin zutiefst enttäuscht.« »Fühlen Sie nichts?« fragte Sandra. »Nein, absolut nichts«, sagte Jürgens.
»So, jetzt haben wir die Maschinen also gesehen«, sagte der General. »Und was fangen wir mit ihnen an? Was sollen wir nun unternehmen?«
»Wir haben Ihnen nichts versprochen«, sagte Lansing. »Wir haben nur zugesagt, Sie zu begleiten, wenn Sie sich die Maschine ansehen wollen. Das haben wir getan, mehr werde ich jedenfalls nicht machen.«
»Welchen Nutzen hatte die Entdeckung dann überhaupt?« »Wir haben Ihnen doch schon einmal erklärt, daß wir im Moment keine Möglichkeit haben, das Gerät zu verstehen«, sagte Mary. »Sie haben nach etwas gesucht, hatten aber selbst keine Ahnung, was es sein könnte - also sind wir hinausgezogen und haben es für Sie gefunden. Ich habe Ihnen schon gestern abend gesagt, daß die Stadt uns umbringen wird, einen nach dem anderen. Der Pastor nannte sie die Hölle und ist vor dem Bösen geflohen. Wenn der Pastor recht hatte und sich in dieser Stadt etwas Böses verbirgt, dann könnte die Maschine ein Teil davon sein.« »Das glaube ich nicht, Sie etwa?«
»Nein, ich glaube es auch nicht, weil ich davon überzeugt bin, daß Maschinen an sich nicht böse sein können. Nichtsdestoweniger ist die Stadt ein unangenehmer Ort, und ich werde sie auf der Stelle verlassen. Kommst du mit, Edward?« »Geh du voraus, ich folge.«
»Warten Sie eine Minute«, rief der General. »Sie können mich doch jetzt nicht im Stich lassen, nicht jetzt, wo wir dem Ziel so nahe sind!«
»Welchem Ziel?« fragte Jürgens.
»Dem Ziel unserer Suche. Jetzt werden wir endlich die Antwort auf unsere Fragen finden.«
»Hier finden Sie sie nicht«, erwiderte Jürgens. »Die Maschine kann ein Teil der Antwort sein, aber nicht die ganze. Die Lösung des Rätsels werden Sie hier nicht finden.«
Der General setzte zum Sprechen an, war aber nicht fähig, artikuliert zu reden. Vor Wut und Enttäuschung lief sein Gesicht rot an. Plötzlich straffte er sich und schrie: »Wir werden ja sehen! Ich werde es Ihnen beweisen, Ihnen allen!« Noch während er schrie, sprang er nach vorn und rannte den Laufsteg entlang, genau in die Gasse zwischen den Apparaturen hinein.
Jürgens setzte ihm mit zwei schnellen Schritten nach, hatte aber Schwierigkeiten, mit der Krücke auf dem glatten Metall des Laufstegs Halt zu finden. Mit einem gezielten Tritt stieß Lansing ihm die Krücke unter dem Arm weg. Der Roboter strauchelte.
Der General rannte immer noch, er war schon weit in die Gasse vorgedrungen. Plötzlich begann sein Körper zu funkeln. Für einen Sekundenbruchteil steigerte sich das Funkeln zu strahlendem Glanz, dann war der General verschwunden. Geblendet vom Glanz und vom Schrecken gelähmt, standen die drei Menschen wie erstarrt auf dem Steg. Jürgens zog sich an der Krücke hoch und kam unsicher auf die Beine. »Wahrscheinlich verdanke ich Ihnen mein Leben«, sagte er zu Lansing.
»Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß ich Ihnen mit jedem gerade erreichbaren Gegenstand eins überziehen würde, falls Sie noch einen einzigen schmutzigen Trick versuchen sollten«, entgegnete Lansing.
»Ich kann ihn nicht mehr sehen«, sagte Sandra. »Der General ist nicht mehr da.«
Mary leuchtete in die Gasse hinein. »Ich auch nicht«, stellte sie fest. »Wahrscheinlich ist die Taschenlampe zu schwach.« »Ich glaube nicht, daß es an der Taschenlampe liegt«, meinte Jürgens. »Der General ist fort.«
»Aber unsere Körper sind doch dageblieben«, wandte sich Mary an Lansing.
»Wir sind den Steg auch nicht so weit hinuntergegangen wie der General«, sagte Lansing.
»Ja, daran wird es wohl liegen«, sagte sie. »Du glaubtest damals schon, die Maschine könnte auch die Fähigkeit haben, Körper zu transportieren. Ich hielt das für unwahrscheinlich. Offensichtlich habe ich mich geirrt.«
»Nun sind schon zwei gegangen«, seufzte Sandra. »Erst der Pastor, jetzt der General.«
»Vielleicht kommt der General ja wieder zurück«, versuchte Lansing sie zu trösten.
»Irgendwie glaube ich nicht daran«, sagte Mary. »Es wurde soviel Energie freigesetzt, daß er die Übernahme vielleicht nicht überlebt hat.«
»Man könnte auch sagen, er hat sich einen grandiosen Abgang verschafft«, sagte Jürgens. »Nein, nein, ich hätte das nicht sagen sollen. Es tut mir leid, ich habe es nicht so gemeint.«
»Schon gut«, beruhigte ihn Lansing. »Wenn Sie es nicht gesagt hätten, hätte es ein anderer getan.«
»Und nun?« fragte Sandra. »Was sollen wir jetzt tun?«
»Das ist die Frage«, sagte Mary. »Edward, gibt es irgendeinen Hinweis, ob er zurückkehren wird?«
»Einen Hinweis nicht, aber da wir zurückgekommen sind, dachte ich.«
»Bei uns war es anders.«
»Dieser verdammte Narr«, sagte Lansing. »Er wollte bis zuletzt unser Führer sein.«
Die vier standen dicht zusammengedrängt auf dem Laufsteg und starrten auf die Stelle, wo der General verschwunden war. Die Katzenaugen schimmerten, und die Maschine sang leise vor sich hin.
»Vielleicht sollten wir noch ein wenig warten, bevor wir die Stadt verlassen«, schlug Mary vor.
»Der Ansicht bin ich auch«, stimmte Jürgens zu.
»Wenn er tatsächlich zurückkommt, wird er uns brauchen«, meinte Sandra.
»Edward«, wandte sich Mary an Lansing, »was meinst du dazu?«
»Wir sollten warten«, antwortete er. »In einer solchen Situation dürfen wir den Mann nicht im Stich lassen. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, daß er zurückkommen wird, aber für alle Fälle sollten wir noch eine Weile hierbleiben.«
Sie verlegten ihr Lager in die Gasse nahe beim Treppenaufgang. Sie warteten drei Tage. Jede Nacht stieg das unbekannte Wesen auf die Hügel bei der Stadt, um seine einsame, bittere Klage anzustimmen.
Am Morgen des vierten Tages brachen sie auf. Nachdem sie die Karte studiert hatten, verließen sie die Stadt und stießen bald auf die westliche Verlängerung des Weges, der sie hergeführt hatte.
21
Am frühen Nachmittag erreichten sie einen Gipfel der Bergkette, die die Stadt umschloß, und betraten eine Welt bizarrer Erosionserscheinungen. Der Pfad schlängelte sich zwischen Zinnen, Burgen, Schlössern und Türmen in die Tiefe. Die phantastischen Gebilde schimmerten in einer unendlichen Fülle von Farbnuancen. Die unterschiedlich getönten Gesteinsschichten verliehen der Landschaft eine alptraumhafte Schönheit.
Sie gingen langsam; es gab keinen Grund, sich zu beeilen. Der Pfad war inzwischen so schlecht geworden, daß er den Namen Weg nicht länger verdiente. Hin und wieder betraten sie kleine Ebenen von Schwemmland, aber schon bald führte sie ihr Weg wieder in den farbigen Rausch des von Zeit und Wetter gezeichneten Geländes.
Lange bevor die Nacht hereinbrach, wählten sie ihren Lagerplatz am Fuß einer hoch aufragenden Kalksteinwand. Sie fanden Holz; es lag in ungeordneten Haufen wie Treibgut zwischen den Felszinnen. Die rasenden Fluten, die vor Urzeiten das Gestein abgeschliffen hatten, hatten ihre Beute an entwurzelten Bäumen dort niedergelegt. Sie fanden Holz, aber kein Wasser. Der Tag war jedoch nicht ungewöhnlich heiß gewesen, und ihre Feldflaschen waren noch fast voll. Die Vegetation war spärlich. Harte Gräser und kümmerliche Nadelhölzer, die dicht über dem Boden wuchsen, waren die einzigen Pflanzen. Ansonsten war der Fels nackt. Nach dem Abendbrot saßen sie still beisammen und beobachteten, wie die Farbenpracht allmählich verblaßte. Die Nacht brach herein, die Sterne funkelten hell und klar. Lansing suchte den Himmel ab und entdeckte vertraute Sternbilder. Kein Zweifel, dachte er, diese Welt ist die Erde. Nicht die alte heimatliche Erde, aber auch kein fremder Planet in einem fernen Sonnensystem. Es war eine von jenen Alternativwelten, die Andy in ihrem Gespräch erwähnt hatte, ohne jedoch jemals an die Möglichkeit ihrer Existenz zu glauben.
Der Zeitfaktor verwirrte Lansing. Die Sternbilder waren so wenig verändert, daß die Zeitdifferenz zwischen seiner Erde und dieser hier nicht mehr als ein paar Jahrtausende betragen konnte. Dennoch hatte sich hier eine Hochkultur entwickelt, die alle Zivilisationen seiner Erde übertraf, hatte ihre Blüte erreicht und war untergegangen. War es möglich, fragte er sich, daß die menschliche Rasse hier ein paar Millionen Jahre früher entstanden war? Konnte der Scheidepunkt zwischen den beiden Welten das Aussterben der Menschheit auf dieser Erde sein, die Notwendigkeit für einen Neubeginn? Der Gedanke ließ ihn nicht los. Wenn die menschliche Rasse vom Antlitz einer Erde verschwindet, wäre es dann möglich, daß dieser Erde eine zweite Chance gegeben wird? Aber eine solche zweite Chance konnte es nicht geben, das sagte ihm sein Verstand. »Edward« rief Mary, »warum bist du so schweigsam? Was ist los mit dir?«
»Ich habe nur nachgedacht. Es war nichts Wichtiges.« »Ich habe das ungute Gefühl, daß wir die Stadt zu früh verlassen haben«, nörgelte Sandra. »Wir haben dem General kaum Gelegenheit zur Rückkehr gegeben.«
»Warum haben Sie das nicht eher gesagt?« fragte Mary. »Ich war ja genauso begierig wie Sie, dort wegzukommen. Ich hätte die Vorstellung nicht ertragen, noch einen weiteren Tag in der Stadt verbringen zu müssen.«
»Ich glaube, daß es Zeitverschwendung war, auf ihn zu warten«, warf Jürgens ein. »Er ist gegangen, und zwar für immer.«
»Wie wird es jetzt mit uns weitergehen?« seufzte Sandra. »Jetzt, wo der Pastor und der General verschwunden sind?« fragte Jürgens.
»Es geht nicht nur darum, daß die beiden fort sind. Es geht darum, daß wir einmal sechs waren und jetzt nur noch vier sind. Wann wird sich unsere Anzahl auf drei oder zwei verringert haben?«
»Hier draußen haben wir eine größere Chance durchzukommen«, sagte Mary. »Die Stadt war mörderisch. Wir haben unsere Leute dort verloren.«
»Wir werden uns schon durchschlagen«, sagte Jürgens. »Wir halten die Augen offen und gehen kein Risiko ein.«
»Aber wir wissen doch gar nicht, wo wir hingehen«, jammerte Sandra.
»Das wußten wir noch kein einziges Mal, seit wir uns auf dieser Welt befinden«, erwiderte Jürgens. »Vielleicht liegt die Antwort hinter der nächsten Wegbiegung, vielleicht finden wir sie übermorgen oder am Tag darauf.«
In dieser Nacht kehrte der Schnüffler zurück. Er schnüffelte rund um das Lager, ließ sich aber nicht blicken. Sie lauschten aufmerksam dem Geräusch. Seine Anwesenheit hatte etwas Tröstliches, so als sei ein alter Freund heimgekommen oder als habe ein streunender Hund den Weg nach Hause zurückgefunden. Das Schnüffeln hatte für sie nichts Erschreckendes mehr. Der Schnüffler war nicht mit ihnen in die Stadt eingedrungen, vielleicht hatte sie auch ihm Angst gemacht. Doch jetzt, nachdem sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, schloß er sich ihnen wieder an.
Am Abend des zweiten Tages, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, entdeckten sie auf einer kleinen Felsplattform oberhalb des Pfades eine Ruine.
»Hier könnten wir gut unser Nachtlager aufschlagen«, sagte Jürgens.
Sie erklommen die Plattform. Dort fanden sie die Trümmer einer niedrigen Sandsteinmauer, die einstmals wohl einen rechteckigen Wall um das eingestürzte Gebäude gebildet hatte. »Sandstein«, stellte Lansing fest. »Wo mag er herstammen?« »Von dort«, sagte Jürgens und wies auf die niedrige Lehmwand, die die Plattform nach hinten begrenzte. »Sehen Sie die Sandsteinschicht in dem Lehm? Und dort sind auch Spuren, sehr alte Bruchspuren.« »Sonderbar«, sagte Lansing.
»Gar nicht so sonderbar«, widersprach ihm Jürgens. »Der Sandstein ist auch schon an anderen Stellen, die wir passiert haben, zutage getreten.«
»Das ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Man muß auch sehr genau hinsehen, um ihn zu bemerken. Er hat die gleiche Farbe wie der Lehm. Beim erstenmal habe ich ihn nur durch Zufall entdeckt, danach habe ich auf Sandsteinschichten geachtet.«
Die Fläche innerhalb der Mauer maß ungefähr einen halben Morgen. Die Ruine in ihrem Zentrum mochte einmal ein Haus mit einem einzigen Raum gewesen sein. Das Dach war eingestürzt wie auch der größte Teil der Wände. Zerbrochene Töpferwaren lagen verstreut auf dem Lehmboden, und in einer Ecke fand Jürgens einen zerbeulten, angelaufenen Metalltopf. »Ein Rastplatz für Reisende«, sagte Sandra. »Eine Karawanserei.«
»Oder eine Festung«, bemerkte Jürgens.
»Wozu sollte man hier eine Festung brauchen?« fragte Lansing. »Hier gibt es nichts, wogegen man sich verteidigen muß.« »Früher mag das anders gewesen sein«, entgegnete der Roboter. Außerhalb der Ruine fanden sie Reste eines alten Lagerfeuers. Asche und rauchgeschwärzte Steine, die ringförmig um die Feuerstelle angeordnet waren, deuteten darauf hin, daß der Platz einmal als Herd benutzt wurde. Neben der Feuerstelle war Treibholz aufgestapelt.
»Die letzte Reisegesellschaft hat mehr gesammelt, als sie brauchte«, sagte Jürgens. »Mit dem Holz werden wir die ganze Nacht auskommen.«
»Wie steht es mit dem Wasser?« fragte Lansing. »Ich glaube, für heute reicht es noch«, sagte Mary. »Aber morgen müssen wir unbedingt welches finden.« Lansing trat an die Mauer und ließ seine Blicke über die grotesk zerklüftete Landschaft gleiten. Badlands, dachte er. Nach diesem Wort hatte er die letzten beiden Tage gesucht, aber er hatte sich nicht darauf besinnen können. In West Dakota gab es ähnliche Landstriche, und die ersten Europäer, die ihren Fuß auf dieses Land gesetzt hatten - er glaubte, es waren Franzosen gewesen, wußte es aber nicht mit Bestimmtheit -, hatten das Gebiet die »Badlands« genannt, schlechtes Land zum Reisen. Hier hatten vor Jahrmillionen gewaltige Fluten das Erdreich abgetragen und das Gestein ausgewaschen. Nur die härtesten Gesteinsschichten hatten den tobenden Wassern widerstehen können und waren als bizarre Türme und Zinnen zurückgeblieben.
Vor Unzeiten mochte der Pfad, dem sie folgten, einmal ein Handelsweg gewesen sein. Wenn Sandra recht hatte und die Ruine einst wirklich eine Karawanserei gewesen war, dann hatten hier früher Karawanen gerastet, die kostbare Fracht mitführten. Güter aus der Stadt oder Güter für die Stadt. Aber wenn die Stadt ihr Ziel gewesen war, wo mochte sich dann ihr Ausgangspunkt befunden haben?
Mary trat neben ihn. »Schon wieder in Gedanken versunken?« »Ich versuche nur, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Wenn wir die Vergangenheit kennten, wenn wir wüßten, welche Bedeutung dieser Platz vor Jahrtausenden einmal hatte, dann wüßten wir auch besser, was uns erwartet. Sandra hat die Vermutung geäußert, daß die Ruine einst ein Rastplatz für Reisende war.«
»Jetzt ist sie ein Rastplatz für uns.«
»Aber wer war vor uns hier? Ich hatte gerade darüber nachgedacht, ob Karawanen unseren Pfad benutzt haben könnten. Ihnen wäre das Land vertraut gewesen, uns aber ist es völlig unbekannt.«
»Wir werden uns schon irgendwie durchschlagen«, beruhigte ihn Mary.
»Wir dringen immer tiefer ins Unbekannte vor. Wir haben keine Vorstellung von dem, was vor uns liegt. Irgendwann wird uns die Nahrung ausgehen. Was werden wir dann tun?« »Wir haben noch die Lebensmittel vom Pastor und dem General. Es wird noch eine Weile dauern, bevor uns die Nahrung knapp wird. Wasser ist ein viel dringenderes Problem. Morgen müssen wir unbedingt welches finden.« »Irgendwo muß dieser öde Landstrich enden«, sagte er. »Dort werden wir dann Wasser finden. Komm, wir wollen zum Lagerfeuer zurückgehen.«
Der Mond war aufgegangen. Er hatte fast seine volle Größe erreicht und tauchte die Badlands in ein unwirkliches, gespenstisches Licht. Jenseits des Pfades erhob sich ein einzelner mächtiger Fels. Die ihnen zugewandte Seite lag in völliger Dunkelheit, aber seine Kontur war im Licht des aufgehenden Mondes deutlich zu erkennen. Sandra kauerte dicht beim Feuer; sie fröstelte. »Das ist ein Märchenland«, sagte sie, »aber ein böses Märchenland. Ich hätte nie gedacht, daß ein Märchenland auch böse Züge annehmen könnte.«
»Ihre Sicht der Dinge ist eben durch die Welt geprägt, auf der sie gelebt haben«, erwiderte Lansing.
Sandra sah ihn zornig an. »Die Welt, von der ich stamme, war in Ordnung. Es war eine schöne Welt voll schöner Dinge und schöner Menschen.«
»Genau das meine ich«, sagte Lansing. »Sie hatten keine Vergleichsmöglichkeit.«
Die letzten Worte wurden von einem Heulton erstickt, der aus der Luft direkt über ihnen zu kommen schien. Sandra sprang auf und begann zu schreien. Mit einem Satz war Mary bei ihr, packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. »Hören Sie auf!« brüllte sie. »Seien Sie still!« »Es ist uns gefolgt«, kreischte Sandra. »Es verfolgt uns.« »Dort«, sagte Jürgens und wies auf den Fels jenseits des Pfades. Das Heulen hatte aufgehört, einen Moment lang herrschte vollkommene Stille.
»Es sitzt oben auf der Kante«, sagte er ruhig. Und dort saß es, eine monströse Gestalt, die sich wie ein Scherenschnitt vor dem bleichen Antlitz des Mondes abhob. Es war wolfsartig, aber viel größer als ein Wolf. Sein Körper war schwerer und massiger, ließ aber die Züge von Ausdauer und Beweglichkeit erkennen, die die Gestalt eines Wolfes kennzeichnen. Die Kreatur wirkte zottig und abgerissen, so als habe sie schwere Zeiten durchgemacht, Zeiten, in denen sie verzweifelt nach Nahrung suchen mußte, in denen sie selten einen Platz zum Schlafen fand und in denen Qual und Jammer in eine Klage gegen die Welt einmündeten.
Das Geschöpf bog den Kopf zurück, erhob die Schnauze und begann von neuem zu klagen. Diesmal war es kein Heulen, es war ein schluchzender Jammerlaut, der zitternd und abgehackt durch die Nacht erscholl.
Lansing fühlte, wie ihn ein kalter Schauder überrieselte. Die Knie gaben ihm nach, und er hatte Mühe, sich aufrecht zu halten. Sandra hockte am Boden, die Arme schützend über den Kopf gelegt. Mary beugte sich über sie. Lansing spürte eine Hand auf seiner Schulter. Er wandte den Kopf und sah, daß Jürgens neben ihm stand.
»Ich bin schon in Ordnung«, sagte Lansing. »Ja, natürlich«, erwiderte Jürgens.
Der Heuler schluchzte und jammerte, wimmerte und winselte. Seine Klage schien kein Ende nehmen zu wollen. Es war, als müsse sie für ewige Zeiten über das Land erschallen. Doch dann, so plötzlich, wie sie begonnen hatte, hörte sie auf. Der Heuler war verschwunden. Der Mond, der sich nach Osten senkte, beleuchtete eine nackte, zackige Felskante. In dieser Nacht besuchte der Schnüffler sie wieder. Die drei Menschen waren schon in ihre Schlafsäcke gekrochen, und Jürgens hatte seinen Posten für die Nachtwache bezogen, als das Schnüffeln erklang. Er schnüffelte das Gebiet rund um das Lager ab. Die Menschen in ihren Schlafsäcken und der Roboter lauschten ohne Furcht. Nach dem Heuler war der Schnüffler ein willkommener Freund.
Am nächsten Nachmittag verließen sie die Badlands durch eine enge Schlucht, die sich unvermittelt zu einem weiten, grünen Tal öffnete. Ein Fluß schlängelte sich durch das Tal, und sie konnten ihre Feldflaschen auffüllen. Während sie stromabwärts wanderten, weitete sich das Tal immer mehr. Die Silhouette der Badlands verblaßte nach und nach zu einem weißlichen Fleck am Horizont, bis sie schließlich ganz verschwunden war. Kurz vor Sonnenuntergang trafen sie auf einen zweiten Fluß. Er war ein wenig breiter als der erste und näherte sich diesem von Westen her. An der Stelle, wo sich die beiden Flüsse trafen, erblickten die Reisenden ein Gasthaus. 22.
Sie stießen die Tür auf und betraten einen großen Schankraum mit einem Kamin auf einer Seite. Vor dem Kamin stand ein langer Tisch mit Stühlen. Zwei Menschen saßen am Feuer, sie hatten den Neuankömmlingen den Rücken zugewandt. Eine kleine stämmige Frau mit Mondgesicht kam aus der Küche geeilt. Im Gehen trocknete sie sich die Hände an ihrer karierten Schürze ab.
»Sie sind schon hier?« keuchte sie. »Erstaunlich! So früh hatte ich Sie nicht erwartet.«
Sie blinzelte die Reisenden fragend an und strich sich mit der Hand eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn. »Donnerwetter«, sagte sie anerkennend. »Sie sind noch zu viert! Dann haben Sie in der Stadt nicht mehr als zwei verloren. Die Leute am Feuer haben, vier Mitglieder eingebüßt, und es gab Gruppen, die völlig aufgerieben wurden.«
Ein schwaches Geräusch ließ Lansing aufhorchen. Er blickte zu der anderen Seite des Raums, die vom Feuerschein kaum noch erhellt wurde. Dort sah er sie: An einem Tisch hockten die vier Kartenspieler, völlig in ihr Spiel vertieft, ohne die Neuankömmlinge eines Blickes zu würdigen. Das Geräusch, das Lansing gehört hatte, war das Austeilen der Karten gewesen. Er wies mit dem Kopf auf die Spieler. »Wann sind die hier aufgetaucht?« fragte er.
»Gestern abend«, antwortete die Frau. »Sie gingen geradewegs auf den Tisch zu und ließen sich dort nieder. Seitdem haben sie ununterbrochen gespielt.«
Die zwei Personen, die am Kamin gesessen hatten, erhoben sich und traten auf die Reisenden zu. Eine der beiden war eine Frau, groß, blond und anmutig. Die andere, ein Mann, erinnerte Lansing an den Finanzmakler, der einstmals versucht hatte, ihm Wertpapiere zu verkaufen, die äußerst fragwürdig gewesen waren.
Die Frau reichte Mary die Hand. »Ich heiße Melissa«, sagte sie. »Ich bin kein Mensch, auch wenn ich so aussehe. Ich bin eine Puppe.«
Sie gab keine weiteren Erklärungen ab, sondern schüttelte allen der Reihe nach die Hand.
»Mein Name ist Jorgenson«, sagte der Mann, »und ich kann Ihnen kaum sagen, wie sehr ich mich freue, Sie zu treffen. Ich muß gestehen, wir beide haben Angst. Wir drücken uns schon seit Tagen hier herum und können uns nicht entschließen, diese sinnlose Reise fortzusetzen, die wir unbewußt und ohne es zu wollen begonnen haben.«
»Ich kann Ihre Gefühle nachempfinden«, sagte Lansing. »Wir alle haben schon Ähnliches durchgemacht.«
»Lassen Sie uns zum Feuer zurückgehen«, schlug Jorgenson vor.
»Wir haben da eine Flasche, mit der wir nicht so recht vorankommen. Vielleicht können Sie uns beim Leeren helfen?«
»Mit dem größten Vergnügen«, sagte Lansing. »Danke für die Einladung.«
Die Frau mit der Schürze, offensichtlich die Wirtin, war verschwunden. Die Kartenspieler setzten ihr Spiel, ohne aufzublicken, fort.
Nachdem es sich alle bequem gemacht hatten und die Krüge gefüllt waren, sagte Jorgenson: »Und jetzt schlage ich vor, daß wir unsere Gedanken und Erfahrungen austauschen, damit wir uns besser kennenlernen. Was mich betrifft, ich bin Zeitreisender. Als ich diesen Ort zum erstenmal betrat, dachte ich noch, es sei eine Zwischenstation. Leider mußte ich feststellen, daß ich mich geirrt hatte. Andernfalls hätte ich diese Welt auch längst wieder verlassen. Warum ich hier bin, weiß ich nicht. Ich habe absolut keine Erklärung für das, was passiert ist. Es ist das erste Mal, daß ich in der Zeit steckengeblieben bin.«
Lansing kostete von dem Getränk und fand es gut. Er trank einen zweiten Schluck.
»Wie ich Ihnen schon sagte«, ergriff nun Melissa das Wort, »bin ich eine Puppe. Ich habe keine genaue Definition für den Begriff, aber ich weiß, eine Puppe ist die Nachbildung eines Menschen. Wozu man Menschennachbildungen braucht, kann ich Ihnen nicht sagen. Wir waren nur wenige, und wir lebten an einem Ort, den man die >Äußerste Stadt< nennen könnte. Ein Ort großen Komforts und höchster Bequemlichkeit. Man kann das Leben, das wir dort führten, wohl als gutes Leben bezeichnen. Es schien nur keinen Sinn zu haben, und das bedrückte uns von Zeit zu Zeit ein wenig. In der Stadt lebten nur wenige Personen. Möglicherweise waren wir alle Puppen, aber ich habe mich nie getraut, die entscheidende Frage zu stellen. Ich hatte Angst, es könnte sich herausstellen, daß ich die einzige Puppe bin. Und das wäre schrecklich gewesen, verstehen Sie?« »Ich suche nun schon seit Jahren nach einem bestimmten Ort und einer bestimmten Zeit«, fuhr Jorgenson fort. »Vor vielen Jahren war ich einmal dort, aber ich glitt aus dem Raum-Zeit-Gefüge, ohne daß ich es wollte. Seitdem habe ich ständig versucht, die Stelle wiederzufinden, aber so sehr ich mich auch abmühe, ich scheine sie immer knapp zu verfehlen. Ich habe mich schon gefragt, ob sie aus irgendeinem Grund für mich verschlossen ist, kann mir aber nicht vorstellen, welchen Grund es da geben könnte.«
»Wenn Sie sich alles gut eingeprägt haben, dann könnte das Ihre Suche erleichtern«, sagte Mary. »Ich meine, wenn Sie Ort und genauen Zeitpunkt wüßten.«
»Oh, ich kenne beides recht gut«, erwiderte Jorgenson. »Die Zeit waren die zwanziger Jahre, die Wilden Zwanziger, obwohl ich von ihrer Wildheit nichts mitbekommen habe. Dort, wo ich mich aufgehalten habe, war alles ruhig und friedlich. Die Welt hatte noch nicht jene zynische Blasiertheit erreicht, die sich einige Jahrzehnte später etablieren sollte. Ich glaube, ich habe den Zeitraum ziemlich exakt eingegrenzt. Wir schrieben das Jahr 1926, und der Monat war August. Der Ort war ein verschlafenes Städtchen an der Ostküste, vielleicht in Massachusetts, wahrscheinlicher aber in Delaware oder Maryland.«
»Mit keinem der Namen, die Sie erwähnen, kann ich das geringste anfangen«, beklagte sich Melissa. »Sie haben mir von Nordamerika erzählt, aber ich kenne kein Nordamerika. Ich kenne nur den Ort, wo ich gelebt habe. Er war großartig, und wir hatten kleine mechanische Dienstboten, die ihn sauber und ordentlich hielten und für unser Wohl sorgten. Aber es gab keine Ortsnamen; auch der Platz, wo wir lebten, hatte keinen Namen. Namen waren nicht wichtig, denn wir hatten nicht den Wunsch, andere Orte aufzusuchen, falls es dort überhaupt andere Orte gab.«
»Am Anfang unserer Reise waren wir noch sechs«, sagte Jorgensen.
»Wir auch«, sagte Mary. »Aber ob Reisegruppen wie die uns-rigen immer aus sechs Mitgliedern bestehen?«
»Das kann ich beim besten Willen nicht sagen«, erwiderte Jorgenson. »Ihre Gruppe und meine sind die einzigen, die ich kenne.«
»Wir hatten einen Idioten dabei«, sagte Melissa. »Er war nicht schwachsinnig, nein, er war ein richtiger Spaßmacher. Immer lustig und zu Scherzen aufgelegt. Und dann war in unserer Gruppe noch der Mississippi-Spieler. Ich habe vorher nie gefragt, weil ich meine Unwissenheit nicht zeigen wollte, aber jetzt frage ich Sie: Kann einer von Ihnen mir erklären, was ein Mississippi ist?«
»Es ist ein Fluß«, antwortete Lansing. »Die Wirtin erwähnte, daß Sie die anderen vier in der Stadt verloren hätten«, sagte Mary. »Können Sie uns erzählen, wie das geschehen ist?« »Sie sind nicht zurückgekehrt«, erwiderte Melissa. »Eines Tages sind wir alle aufgebrochen, um nach etwas zu suchen. Was wir suchen sollten, wußte keiner von uns. Kurz vor Einbruch der Nacht kamen wir beide zu unserem Lager auf dem Platz zurück. Wir entfachten das Feuer, kochten ein Abendessen und warteten auf die anderen. Wir warteten die ganze Nacht, aber sie kehrten nicht zurück. Wir waren sehr besorgt und hatten große Angst, und so machten wir uns schließlich auf die Suche nach ihnen. Wir suchten fünf Tage, entdeckten aber nicht die geringste Spur. Jede Nacht erschien ein riesiges Tier auf den Hügeln oberhalb der Stadt und schrie seinen Jammer in die Finsternis hinaus.«
»Und dann haben Sie den Pfad im Westen der Stadt entdeckt, sind ihm gefolgt und haben schließlich dieses Gasthaus erreicht?« fragte Sandra.
»Genauso hat es sich abgespielt«, sagte Jorgenson. »Seitdem halten wir uns hier auf und wagen nicht weiterzureisen.« »Die Wirtin hat schon Andeutungen gemacht, wir sollten langsam aufbrechen«, sagte Melissa. »Sie weiß, daß wir kein Geld haben.
Zwei in unserer Gruppe hatten Geld. Nun, da sie fort sind, ist auch das Geld fort.«
»Wir haben Geld«, sagte Lansing. »Wir werden Ihre Rechnung bezahlen, dann können Sie mit uns weiterziehen.« »Sie wollen Weiterreisen?« fragte Melissa.
»Natürlich wollen wir das«, sagte Jürgens. »Was sollten wir sonst tun?«
»Aber das ist doch sinnlos!« schrie Jorgenson. »Wenn wir nur wüßten, warum wir hier sind, was von uns erwartet wird. Haben Sie denn keine Ahnung?« »Nicht die geringste«, erwiderte Mary.
»Wir sind Ratten, die in einem Labyrinth umherirren«, bemerkte Lansing. »Vielleicht geht ja alles gut aus.«
»Auf meiner Welt«, sagte Melissa, »gab es große Spieltische. Wir spielten dort stundenlang, manchmal tagelang. Das Spiel hatte keine Regeln, die Regeln entwickelten sich, während wir spielten.
Aber sobald die Regeln feststanden oder wir glaubten, daß sie es täten, änderten sie sich wieder.«
»Hat überhaupt jemand gewonnen?« fragte Mary.
»Ich kann mich kaum erinnern«, antwortete Melissa. »Nein, ich glaube nicht, daß wir gewonnen haben. Keiner von uns. Aber das hat uns natürlich nichts ausgemacht. Es war ja nur ein Spiel.«
»Dieses Spiel hier ist Wirklichkeit«, sagte Jorgenson düster. »Der Einsatz ist unser Leben.«
»Es gibt Zweifler«, begann Lansing, »die Ihnen sagen werden, daß es im Universum kein dauerhaftes Prinzip gibt. Kurz bevor ich meine Welt verließ, sprach ich mit einem Freund über dieses Thema. Er war der Ansicht, das Universum basiere auf Zufall. Aber das glaube ich nicht. Es muß dort ein Element der Vernunft geben, es muß Ursache und Wirkung und einen Grund für unser Hiersein geben, was nicht bedeutet, daß wir auch fähig sein müssen, diesen Grund zu verstehen. Wenn eine andere, höhere Lebensform versuchen würde, uns den Sinn zu erklären, bliebe er für uns vielleicht dennoch im dunkeln.« »Es gibt also nicht viel Hoffnung für uns«, sagte Jorgenson. »Vermutlich nicht, aber die Möglichkeit, daß uns noch Hoffnung bleibt, besteht immerhin. Wir sind nicht völlig am Boden.« »Es gibt Mysterien, die sich enthüllen, wenn man sich nur tief genug in sie versenkt«, sagte Jürgens.
»Wir haben die Wirtin nach dem Land vor uns gefragt«, sagte Melissa, »aber ihre Auskunft war sehr dürftig.«
»Der gleiche Fall wie bei dem Lümmel in dem ersten Gasthaus«, erzählte Jorgenson. »Der hat auch so mit den Informationen gegeizt.«
»Die Wirtin sagt, wir würden in einiger Entfernung auf einen singenden Turm treffen«, fuhr Melissa fort. »Das ist alles.
Außerdem warnt sie uns davor, nach Westen oder nach Norden zu reisen. Im Norden, sagt sie, liege Chaos.«
»Sie weiß nicht, was Chaos ist«, ergänzte Jorgenson. »Sie kennt nur das Wort, und es läuft ihr kalt über den Rücken, wenn sie es ausspricht.«
»Also werden wir nach Norden reisen«, sagte Jürgens. »Ich werde sofort mißtrauisch, wenn jemand uns vor einem bestimmten Ort warnt. Wir könnten dort etwas entdecken, was man vor uns geheimhalten will.«
Lansing leerte seinen Krug und stellte ihn auf dem Tisch ab. Langsam erhob er sich und durchquerte den Raum, bis er den Tisch erreicht hatte, an dem die vier beim Kartenspiel saßen. Lange stand er so. Keiner der vier beachtete ihn. Es war, als hätten sie seine Ankunft gar nicht bemerkt. Schließlich hob einer von ihnen den Kopf und blickte Lansing an. Lansing wich einen Schritt zurück, voller Grauen über den Anblick, der sich ihm bot. Anstelle der Augen starrten ihn aus dunklen Löchern im Schädel zwei schwarze Obsidiane an. Zwei Atemschlitze ersetzten die Nase, und auch der Mund war nur ein Schlitz. Das Gesicht besaß kein Kinn, es fiel in einer schrägen Linie zum Hals ab.
Lansing wandte sich um und ging. Als er sich dem Tisch am Kamin näherte, hörte er, wie Sandra mit einem sonderbaren Beben in der Stimme sagte: »Ich kann es kaum erwarten, den singenden Turm zu sehen.«
23
Vier Tage nachdem sie das Gasthaus verlassen hatten, erreichten sie den singenden Turm.
Der Turm war kein Turm, sondern eine Nadel. Er stand auf dem Gipfel eines Hügels und reckte sich hoch in den Himmel. An der Basis maß er knapp zwei Meter und verjüngte sich zu einer scharfen Spitze in dreißig oder mehr Metern Höhe. Er hatte eine unangenehme rosa Farbe und schien aus einem ähnlichen Material zu bestehen wie der Würfel. Plastik, sagte Lansing zu sich, obwohl er ziemlich sicher war, daß es sich bei der Substanz nicht um Plastik handelte. Er legte die flache Hand auf die Oberfläche und spürte eine leichte Vibration, so als ließe der Westwind den ganzen Turm erzittern wie eine gigantische, freistehende Violinsaite.
Mit Ausnahme von Sandra waren alle von der Musik des Turms enttäuscht. Jorgenson behauptete sogar, daß es gar keine Musik sei, sondern schlicht Lärm. Eigentlich war sie nicht laut, schwoll aber von Zeit zu Zeit an. Sie erinnerte Lansing entfernt an Kammermusik, obwohl er zugeben mußte, daß er nur wenig Ahnung von Kammermusik hatte. Vor langer Zeit hatte Alice ihn eines Nachmittags zu einem Kammerkonzert geschleppt, und er hatte zwei lange Stunden hindurch still, aber heftig gelitten. Die Musik des Turmes hatte, obwohl sie im Grunde leise war, eine unglaublich tragende Kraft. Die ersten Tonfetzen hatte der Wind bereits am Nachmittag des dritten Tages zu ihnen herübergeweht.
Sandra war sofort überwältigt, kaum daß sie die ersten Töne vernommen hatte. Sie hatte zu verhindern versucht, daß ein Nachtlager aufgeschlagen wurde.
»Können wir uns nicht beeilen und die Nacht hindurch wandern?« hatte sie gefragt. »Vielleicht erreichen wir den Turm dann schon vor Tagesanbruch. Jetzt ist noch keiner müde, und das Marschieren in der kühlen Nacht wird uns guttun.« Lansing hatte dieses Ansinnen ziemlich brüsk zurückgewiesen. Sandra hatte nicht weiter gedrängt. Aber gegen ihre Gewohnheit hatte sie nicht bei den Vorbereitungen für das Abendbrot geholfen, sondern war auf einen Hügel oberhalb des Lagers gestiegen. Dort hatte sie gestanden und gelauscht, eine kleine, schlanke, vom Wind geschüttelte Gestalt. Sie hatte nichts gegessen und nicht geschlafen. Die ganze Nacht über war sie auf dem Hügel geblieben.
Und jetzt, nachdem die Gruppe den Hügel mit dem sogenannten Turm erklommen hatte, war Sandra immer noch in Trance. Den Kopf in den Nacken gelegt, starrte sie zur Spitze empor und lauschte mit allen Fasern ihres Seins. »Was findet sie nur in dieser Musik?« fragte Jorgenson. »Mich läßt sie völlig kalt.«
»Weil Sie kein Herz haben«, sagte Melissa. »Ganz gleichgültig, was Sie behaupten mögen, diese Klänge sind Musik, obwohl ich zugeben muß, daß es eine sehr sonderbare Musik ist. Ich bevorzuge Musik, zu der man tanzen kann. Ich habe früher viel getanzt. Zu dieser Musik kann man nicht tanzen.« »Ich mache mir Sorgen um Sandra«, sagte Mary zu Lansing. »Seit gestern nachmittag hat sie nichts mehr gegessen, und sie hat die ganze Nacht über gewacht. Wir müssen doch etwas dagegen unternehmen.«
Lansing schüttelte den Kopf. »Laß sie eine Weile in Ruhe«, riet er. »Vielleicht fängt sie sich bald wieder.«
Nachdem das Abendessen bereitet war, ging Melissa mit einem Teller zu Sandra und überredete sie zu essen. Sandra nahm nur sehr wenig zu sich und sprach fast gar nicht. Lansing saß am Feuer und betrachtete die Frauengestalt, die sich dunkel von dem abendlichen Himmel abhob. Ihm fiel ein, wie sich Sandra gefreut hatte, den singenden Turm zu sehen. Schon in der ersten Nacht hatte sie gesagt: »Vielleicht ist er schön. Oh, wie sehr ich das hoffe! Es gibt so wenig Schönheit auf dieser Welt.«
»Sie leben nur für die Schönheit«, hatte er gesagt. »O ja, sie ist mein Lebenssinn. Ich habe den ganzen Nachmittag versucht, ein Gedicht zu machen. Hier gibt es nirgends etwas, aus dem sich ein Gedicht gestalten ließe, ein Ding voll eigener Schönheit, aus einem Ort entstanden, dem jegliche Schönheit fehlt. Aber es gelingt mir nicht, den Anfang zu finden. Ich weiß, was ich mitteilen möchte, aber Worte und Gedanken wollen sich nicht zusammenfinden.«
Und jetzt fragte sich Lansing, ob die Musik des Turms, die Sandra so in ihren Bann geschlagen hatte, die Gestaltung des Gedichtes wohl gefördert haben mochte.
Jorgenson unterhielt sich mit Jürgens. »Im Gasthof sagten Sie, daß wir uns nach Norden wenden sollten. Wir sind vor dem Norden gewarnt worden. Sie sagten, es mache Sie mißtrauisch, wenn man versuche, Sie von etwas abzuhalten. Wenn die Leute einem rieten, einen bestimmten Ort zu meiden, dann müsse man ihn gerade aufsuchen. Es gebe immer wieder Leute, sagten Sie, die versuchen, einen in die Irre zu leiten.« »So ist es«, entgegnete Jürgens, »und ich glaube, meine Argumente sind stichhaltig.«
»Aber wir sind nach Westen gereist und nicht nach Norden!« »Wir hatten ein Ziel, das haben wir zuerst angesteuert, anschließend werden wir uns dem Unbekannten zuwenden. Jetzt, nachdem wir den Turm erreicht haben, werden wir nach Norden schwenken und einen Blick auf >Chaos< werfen.« Jorgenson blickte fragend auf Lansing, dieser nickte zustimmend.
»Genauso hatte ich es auch geplant. Haben Sie irgendwelche Einwände?«
Jorgenson schüttelte den Kopf.
»Ich frage mich, was Chaos wohl sein könnte«, sagte Melissa.
»Es kann fast alles sein«, antwortete Lansing. »Ich mag den Klang des Wortes nicht.«
»Wollen Sie damit sagen, Sie haben Angst?«
»Ja, das stimmt. Ich habe Angst.«
»Viele Begriffe haben für verschiedene Leute eine ganz unterschiedliche Bedeutung«, sagte Mary. »Unter Chaos können wir etwas verstehen, das ein anderer nicht mit diesem Wort verbindet. Unterschiedliche Kulturkreise haben unterschiedliche Blickwinkel.«
»Wir klammern uns verzweifelt an Strohhalme«, sagte Jorgenson. »Zuerst war es der Würfel, dann die Stadt, der singende Turm, und jetzt ist es >Chaos<.«
»Ich glaube immer noch, daß der Würfel bedeutsam war«, sagte Mary. »Ich werde das Gefühl einfach nicht los, daß wir uns beim Würfel falsch verhalten haben. Der General hielt die Stadt für den Schlüssel, aber das wäre zu einfach gewesen, zu offenkundig. In der Stadt hätte jeder die Antwort vermutet, deshalb glaube ich, die Stadt war ein Irrweg.« Sie wandte sich an Jorgenson. »Sie haben dort doch auch nichts gefunden?«
»Nur leere Räume und Staub. Vielleicht haben die anderen vier aus unserer Gruppe die Antwort gefunden, das könnte der Grund dafür sein, daß sie nicht zurückgekehrt sind. Sie haben mehr entdeckt als wir - die Türen und die Maschine. Aber auch das hat Sie der Antwort keinen Schritt näher gebracht. Ihre Entdeckungen waren wertlos.«
»Nicht völlig wertlos«, erwiderte Mary. »Durch sie haben wir einiges über die Einwohner der Stadt erfahren. Sie waren ein Volk von Wissenschaftlern, technologisch fortgeschritten und kulturell hochstehend. Und unsere Entdeckungen haben uns auch den Weg gewiesen, den dieses Volk gegangen ist - fort zu anderen Welten.« »So wie wir?«
»Genau«, sagte Jürgens. »Mit dem einen Unterschied: Sie sind freiwillig gegangen.«
»Und dann haben sie uns eingefangen und hierhergebracht.« »Dessen können wir nicht sicher sein«, erwiderte Lansing. »Irgend etwas oder irgend jemand, eine Agentur oder was auch immer, hat uns hierhergeschafft, aber wer das war, können wir nicht sagen.«
Mary wandte sich an Jorgenson: »Für Sie kann dieses Abenteuer nicht so völlig fremdartig sein wie für uns. Sie sind doch Zeitreisender gewesen. Sie haben freiwillig andere Zeiten und andere Welten besucht.«
»Ich habe meine Fähigkeit verloren«, sagte Jorgenson bitter. »An diesem Ort funktioniert die Verfahrensweise nicht!« »Und wenn Sie einmal versuchten, sich darauf zu konzentrieren, wie Sie es früher gemacht haben, welche Technik Sie benutzt haben, welche Worte Sie gesprochen haben, wie Ihre geistige Verfassung war...«
»Ja glauben Sie denn, das hätte ich nicht getan?« schrie Jorgenson sie an. »Zuletzt noch in der Stadt.« »Das stimmt«, sagte Melissa. »Ich habe ihn dabei beobachtet.« »Ach, wenn es doch nur geklappt hätte«, sagte Jorgenson. »Dann hätte ich die Zeit besuchen können, in der die Stadt noch nicht verlassen war, hätte die Menschen, die hier gelebt haben, und ihre Projekte kennengelernt.«
»Stellen Sie sich das einmal vor«, sagte Melissa. »Wäre das nicht nett gewesen?«
»Doch, sehr nett«, sagte Lansing.
»Sie glauben nicht an meine Zeitreise-Fähigkeit«, sagte Jorgenson herausfordernd. »Das habe ich nicht gesagt.« »Gesagt nicht, aber.«
»Jetzt hören Sie mir einmal gut zu«, erwiderte Lansing. »Versuchen Sie keinen Streit vom Zaun zu brechen. Wir haben auch so schon genug Ärger, persönliche Zwistigkeiten können wir uns nicht erlauben. Sie behaupten, Sie können durch die Zeit reisen, und ich widerspreche Ihnen nicht. Sollten wir es letztendlich nicht dabei belassen?«
»Mit Vergnügen«, sagte Jorgenson, »wenn Sie in Zukunft den Mund halten.«
Lansing unterdrückte eine Erwiderung.
»Alle unsere Entdeckungen waren Fehlschläge«, sagte Mary. »Ich hatte große Hoffnungen auf den Turm gesetzt, ich hatte gehofft, er werde die Lösung bringen.«
»Er hat uns kein bißchen weitergeholfen«, sagte Jorgenson. »Genau wie der andere Kram.«
»Vielleicht entdeckt Sandra etwas«, wandte Jürgens ein. »Sie gibt sich völlig der Musik hin. Nach einer Weile.« »Musik?« unterbrach Jorgenson. »Für mich ist das allenfalls ein Gewimmer, und ich wüßte nicht, was es darin zu entdecken gäbe.«
»Sandra stammt von einer künstlerischen Welt«, erklärte ihm Mary. »Sie ist an ästhetische Qualitäten gewöhnt, die auf anderen Welten erst in Ansätzen entwickelt sind. Die Musik.« »Wenn es Musik ist.«
»Die Musik«, fuhr Mary fort, ohne auf seine Unterbrechung zu achten, »könnte ihr durchaus Aufschlüsse geben. Vielleicht kommt sie bald zurück, um uns davon zu berichten.«
24
Sie kam nicht zurück, um zu berichten. Sie aß nur wenig. Sie weigerte sich nicht, zu sprechen, aber sie sagte nur wenig und Unverbindliches. Die ersten beiden Tage, fast achtundvierzig Stunden lang, stand sie aufrecht und lauschte gebannt. Sie schenkte den Gefährten keine Beachtung, ja vielleicht nicht einmal sich selbst.
»Wir vergeuden Zeit«, beklagte sich Jorgenson. »Wir sollten nach Norden aufbrechen. Chaos, was immer es sein mag, könnte uns vielleicht Aufschlüsse geben. Wir können nicht bis in alle Ewigkeit hier herumlungern.« »Ich gehe nicht nach Norden«, kreischte Melissa. »Ich habe Angst vor Chaos.«
»Sie sind eine dumme Gans«, sagte Jorgenson. »Wie können Sie vor etwas Angst haben, das Sie gar nicht kennen.«
»Diese Art von Gesprächen führt zu nichts«, sagte Lansing.
»Zanken hilft uns nicht weiter. Natürlich müssen wir alles besprechen, aber ohne uns dabei anzukeifen.«
»Wir können doch nicht einfach weiterziehen und Sandra zurücklassen«, wandte Mary ein. »Sie war von Anfang an dabei.
Ich werde sie nicht im Stich lassen.«
»Norden ist nicht die einzige Richtung, die wir einschlagen können«, sagte Jürgens. »Man hat uns gesagt, daß wir im Norden einen Zustand antreffen würden, der Chaos genannt wird. Aber wenn wir weiter nach Westen ziehen, finden wir vielleicht auch dort etwas. Im ersten Gasthaus erfuhren wir von dem Würfel und der Stadt, im zweiten von dem Turm und Chaos. Die Wirtsleute auf dieser Welt sind nicht allzu freigebig mit ihren Informationen. Wir haben zwar eine Landkarte, aber sie ist nutzlos. Sie zeigt nur den Weg von der Stadt in die Badlands, das zweite Wirtshaus und der Turm sind nicht mehr verzeichnet.«
»Vielleicht haben uns die Leute alles gesagt, was sie wußten«, meinte Lansing.
»Vielleicht, aber wir können uns nicht auf sie verlassen.« »Also, um es kurz zu machen«, sagte Jorgenson, »wir sollten sowohl nach Norden als auch nach Westen ziehen.« »Ich werde Sandra nicht zurücklassen!« sagte Mary bestimmt. »Vielleicht können wir mit ihr reden«, schlug Jorgenson vor. »Das habe ich schon versucht«, sagte Mary. »Ich habe ihr gesagt, daß wir hier nicht länger bleiben könnten, jedoch zum Turm zurückkommen wollten. Dann könne sie in Ruhe weiterlauschen. Aber ich frage mich, ob sie meine Worte überhaupt wahrgenommen hat.«
»Sie könnten doch bei Sandra bleiben«, sagte Jorgenson, »und wir vier teilen uns auf. Zwei gehen nach Westen und zwei nach Norden, um zu sehen, was dort los ist. Wir einigen uns darauf, in vier oder fünf Tagen wieder hier zusammenzutreffen.« »Das halte ich für keine gute Idee«, protestierte Lansing. »Ich bin dagegen, Mary allein zurückzulassen. Und ich finde auch, wir sollen zusammenbleiben.«
»Bisher hat unsere Reise keine Gefahren geboten, keine wirklichen physischen Gefahren jedenfalls«, sagte Jorgenson. »Mary ist hier in Sicherheit. Sie sollte bei Sandra bleiben, und wir anderen beeilen uns mit unseren Erkundungsgängen. Ich habe zwar wenig Hoffnung, aber es besteht immerhin die Möglichkeit, daß man etwas entdeckt.« »Können wir Sandra nicht tragen?« fragte Jürgens. »Möglicherweise erholt sie sich wieder, wenn sie sich nicht mehr im Bannkreis der Musik befindet.«
»Das ist gut möglich«, sagte Lansing. »Aber es besteht die Gefahr, daß sie sich dagegen wehren würde. Sie ist nicht voll zurechnungsfähig. Aber selbst wenn sie sich nicht sträubte, wenn sie sich willig mitschleppen ließe, würde sie unser Tempo erheblich beeinträchtigen. Die Landschaft ist unwirtlich. Die Wasserstellen sind weit voneinander entfernt. Zwischen der Wasserstelle hier und der letzten liegen zwei Tagesreisen.« »Bevor wir aufbrechen, werden wir die Wasserflaschen füllen«, sagte Jorgenson. »Wir werden wenig trinken, dann wird es reichen. Vielleicht wird die Wassersituation später besser.« »Ich glaube, Jorgenson hat recht«, sagte Mary. »Wir können Sandra nicht allein zurücklassen; ich werde bei ihr bleiben. Hier scheinen keine Gefahren zu lauern. Es gibt keine Lebewesen -bis auf den Schnüffler, und der ist einer von uns.« »Ich möchte dich nicht alleinlassen«, sagte Lansing. »Dann soll Jürgens hierbleiben«, schlug Jorgenson vor.
»Nein«, widersprach Mary. »Sandra kennt mich am besten. Ich bin die einzige in der Gruppe, an die sie sich jemals gewandt hat.«
Und zu Lansing sagte sie: »Wir können nicht alle hierbleiben. Das ist Zeitverschwendung. Wir müssen wissen, was im Westen und im Norden liegt. Wenn dort nichts ist, dann wissen wir wenigstens Bescheid und können andere Pläne machen.« »Ich will nicht nach Norden gehen«, sagte Melissa. »Ich will einfach nicht.«
»Dann gehen wir beide eben nach Westen«, meinte Jorgenson, »und Lansing und Jürgens machen sich nach Norden auf. Wir werden uns beeilen. In ein paar Tagen sind wir wieder zurück.
Vielleicht ist bis dahin auch Sandra wieder die alte.«
»Ich habe immer noch Hoffnung«, begann Mary, »daß sie dort etwas erfährt, etwas hört, wofür wir anderen keine Ohren haben.
Vielleicht liegt die Antwort oder ein Teil der Antwort hier, und nur Sandra kann sie für uns finden.«
»Wir bleiben zusammen«, beharrte Lansing. »Ich bin dagegen, daß wir uns trennen.«
»Sie sind sehr hartnäckig«, sagte Jorgenson. »Dann bin ich eben hartnäckig«, erwiderte Lansing. Bevor der Tag zu Ende ging, hatte Sandra ihre aufrechte Haltung aufgegeben und war auf die Knie gefallen. Hin und wieder kroch sie ein paar Zentimeter und schob sich auf diese Weise immer näher an den singenden Turm heran. »Ich mache mir Sorgen um sie«, sagte Lansing zu Mary. »Ich auch«, sagte Mary. »Aber es scheint ihr nicht schlecht zu gehen. Sie spricht ein wenig, wenn auch nicht viel. Sie sagte mir, daß sie bleiben müsse. Wir anderen sollten ruhig weiterziehen, aber sie könne den Ort nicht verlassen. Wir sollten ihr Wasser und etwas zu essen dalassen, das werde ihr völlig genügen. Sie hat heute abend tatsächlich ein paar Bissen gegessen und ein wenig Wasser getrunken.« »Hat sie dir erzählt, was mit ihr geschieht?«
»Nein, darüber hat sie nicht geredet. Ich habe sie gefragt, aber entweder sie wollte oder sie konnte mir nichts erzählen. Ich vermute das letztere. Vielleicht weiß sie selbst nicht, was mit ihr vorgeht.«
»Du glaubst also, daß sich etwas mit ihr ereignet und mehr dahintersteckt als pure Begeisterung und Faszination?« »Ich glaube schon.«
»Es ist schon sonderbar«, sagte Lansing, »daß uns der Turm gar keine Hinweise gibt. Nichts, absolut nichts. Wie der Würfel. Beides sind Konstruktionen. Irgend jemand hat sie gebaut, und er muß eine Absicht dabei verfolgt haben.«
»Jorgenson hat sich ähnlich wie du geäußert. Er hält den Würfel und den Turm für falsche Fährten, Gebilde, deren einziger Sinn es ist, uns zu verwirren.«
»Das Irrgarten-Syndrom. Ein Test, um uns auszusortieren.« »Er hat es zwar nicht so ausgedrückt, aber genau das wollte er sagen.«
Die beiden saßen allein beisammen, etwas abseits von den anderen und vom Feuer. Jürgens stand stumm und untätig am anderen Ende des Lagers. Melissa und Jorgenson saßen am Feuer. Hin und wieder wechselten sie ein paar Worte, aber meistens blickten sie schweigend in die Flammen. Mary ergriff die Hand des Mannes. »Wir müssen eine Entscheidung treffen«, sagte sie. »Wir können nicht länger hierbleiben und auf Sandra warten. Der Wirt im ersten Gasthaus hat vom Wintereinbruch gesprochen. Er sagte, daß er im Winter die Gaststätte schließt. Der Winter in dieser Gegend könnte furchtbar werden. Uns bleibt wahrscheinlich nicht mehr viel Zeit. Jetzt ist schon Herbst, Spätherbst vielleicht.« Lansing legte den Arm um ihre Schulter und zog sie zu sich heran. Sie schmiegte den Kopf an seine Brust. »Ich kann dich nicht hier zurücklassen«, sagte er. »Nicht allein. Bei dem Gedanken schnürt sich mir die Kehle zu.«
»Du mußt aber«, sagte sie.
»Ich könnte allein nach Norden gehen, und Jürgens bleibt bei dir.«
»Nein, ich möchte, daß Jürgens dich begleitet. Dieser Ort ist sicher, aber im Norden könnten Gefahren lauern. Sieh doch ein, daß es getan werden muß.«
»Ich sehe es ja ein, es ergibt Sinn. Aber ich kann dich einfach nicht allein hier zurücklassen.«
»Edward, du mußt. Vielleicht ist das, was wir suchen, im Norden. Wir müssen uns Klarheit verschaffen.« »Vielleicht ist es im Westen.«
»Vielleicht im Westen, möglicherweise sogar hier. Das wissen wir eben nicht. Aber Sandra ist nur eine schwache Hoffnung. Vielleicht überrascht sie uns eines Tages mit einer Antwort, aber diese Chance ist nur sehr gering. Nichts, worauf es sich zu warten lohnt.«
»Wirst du auch vorsichtig sein? Brav hierbleiben und nichts auf eigene Faust unternehmen?«
»Ich verspreche es dir!« sagte Mary.
Am nächsten Morgen brachen die beiden Gruppen auf. Mary küßte Lansing zum Abschied. Dann wandte sie sich an Jürgens: »Passen Sie gut auf ihn auf. Ich verlasse mich auf Sie.« »Wir werden aufeinander aufpassen«, erwiderte der Roboter stolz.
25
Vom Gasthaus bis zum Turm war die Landschaft allmählich immer karger geworden. Nördlich des Turmes verwandelte sich die Kargheit in Wüste. Das Gehen wurde beschwerlich. Sand glitt unter ihren Füßen weg, und Dünen mußten erklommen werden. Der Wind blies ständig von Nordwesten herüber und wirbelte Sand in ihre Gesichter.
Sie sprachen kaum. Die Körper gegen den Wind gestemmt, kämpften sie sich verbissen nach Norden vor. Jürgens legte anhand des Kompasses die Route fest. Der Roboter humpelte vorweg, Lansing stapfte hinterher. Zu Beginn der Reise waren sie in umgekehrter Reihenfolge marschiert. Aber als Lansing ermüdete, hatte Jürgens die Führung übernommen. Nach einigen Stunden verschwanden die Dünen, und sie betraten einen festeren Landstrich, obwohl immer noch Sand den Boden bedeckte.
Lansing beobachtete Jürgens, der energisch vor ihm herhinkte, und begann über ihn nachzudenken. Jürgens war ihm immer noch ein Rätsel - genau wie alle anderen. Er versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, was er von jedem einzelnen wußte, aber das Ergebnis war sehr dürftig. Mary war Ingenieurin auf einer Welt, in der noch die alten Imperien des achtzehnten Jahrhunderts bestanden und eine stabile, aber mitleidlose Ordnung aufrechterhielten. Das war schon alles, was er von ihr wußte, mit Ausnahme einer Tatsache - er liebte sie. Er hatte keine Ahnung von der Arbeit, die sie tat, in welchem Zweig der Ingenieurwissenschaft sie ausgebildet war, er wußte nichts über ihre Familie und ihr früheres Leben, ja vielleicht wußte er von ihr weniger als von allen anderen.
Sandras Heimat war eine bizarre Welt, eine Kultur, die er nicht verstand. Aber vielleicht spiegelte Sandra auch nur den kleinen kulturellen Bereich wider, in dem sie aufgewachsen war und gelebt hatte, dachte er. Möglicherweise war die Gesamtkultur ihrer Welt völlig anders geartet, und sie selbst hatte das gar nicht wahrgenommen. Sie hatten sich Sandra gegenüber nicht richtig verhalten, sagte er sich. Die Gruppe als Ganzes hatte sie im Grunde ignoriert. Wenn man ihr die Möglichkeit dazu gegeben hätte, sie hätte vielleicht wertvolle Beiträge leisten können. Wenn sie, anstelle von Mary und ihm, von der Maschine übernommen worden wäre, wären sie jetzt vielleicht um eine Erkenntnis reicher. Möglicherweise hielt sie in diesem Augenblick, durch ihre Zwiesprache mit dem Turm, den Schlüssel zur Lösung des Rätsels in der Hand. Der Pastor, dachte Lansing, war ein offenes Buch gewesen. Aber vielleicht hatte auch er nur einen kleinen kulturellen Bereich seiner Welt repräsentiert. Es gab keinen Hinweis darauf, daß seine ganze Welt so bigott, engstirnig und böse war, wie er sie empfunden hatte. Mit der Zeit hätten sie vielleicht eine Möglichkeit gefunden, den Pastor zu verstehen, hätten sich vielleicht eine gemeinsame Verständigungsbasis erarbeiten können. Aber er hatte sie verlassen, bevor sie Gelegenheit hatten, seinen geistigen Hintergrund kennenzulernen, was ihnen vielleicht ermöglicht hätte, ein gewisses Maß an Sympathie für sein kleinkariertes Denken zu empfinden.
Bei dem General hatte der Fall anders gelegen. Er war von Anfang an sehr zurückhaltend gewesen, hatte keinen Versuch unternommen, seine Welt zu erklären, und hatte sich auch zu erzählen geweigert, auf welche Weise er an diesen Ort transportiert worden war. Durch sein dominierendes Wesen, seinen Hang zum Kommandieren und die Unfähigkeit, andere als seine eigenen Argumente gelten zu lassen, blieb er Lansing bis zuletzt ein Rätsel. Er hatte mit absoluter Sicherheit keinen kulturellen Einzelbereich, sondern die Gesamtkultur seiner Welt repräsentiert. Sie erschien Lansing als ein Ort militärischer Anarchie, auf dem Hunderte von streitsüchtigen kleinen Kriegsherren einander bekämpften. Nur ein Spiel, hatte der General gesagt, aber es war ein mörderisches Spiel. Und Jürgens? Die Menschen seiner Welt waren zu den Sternen aufgebrochen und hatten nur die Armseligsten und Unfähigsten zurückgelassen. Diese waren auf die Stufe der Barbarei zurückgefallen. Freiheit, hatte Jürgens gesagt - endlich sei er aus der drückenden Verantwortung entlassen, die er und die anderen Roboter für die traurigen Überbleibsel der Menschheit verspürt hätten. Hatte Jürgens die Freiheit wirklich erreicht? Nein, dachte er und fragte sich, ob dies auch Jürgens bewußt sei. Er spielte immer noch den Hirten für seine Menschen, tat es in ebendiesem Augenblick: Er wies seinem Menschen den Weg nach Chaos. Seit sie diese Welt betreten hatten, war Jürgens immer zur Stelle gewesen, immer bereit zu dienen und immer mit den Sorgen und Hoffnungen seiner Menschen beschäftigt. Aus irgendeinem Grunde jedoch hatte er zu diesen seinen Menschen kein volles Zutrauen gehabt. Nur ihm, Lansing, hatte er zumindest einen Teil seiner Geschichte erzählt. Er hatte ihm seine Welt beschrieben und von seinem Hobby, humanoide Puppen herzustellen, berichtet. (Puppen wie die Puppe Melissa?) Den anderen gegenüber hatte er nichts von seiner Vergangenheit erwähnt, und selbst als Mary ihn fragte, hatte er hartnäckig geschwiegen.
Sonderbar, dachte Lansing. Warum hatte der Roboter nur zu einem in der Gruppe Vertrauen gehabt? Gab es zwischen ihnen beiden eine Verbindung, die der Roboter sah, der Mensch aber nicht?
Vor ihm hatte Jürgens am Fuß einer kleinen Düne angehalten. Als Lansing ihn erreichte, wies der Roboter auf einen Gegenstand, der aus dem Sand herausragte. Es war eine Kuppel aus Glas oder durchsichtigem Plastik, die wie der Helm eines Raumanzuges aussah. Aus dieser Kuppel heraus blickte sie ein menschlicher Schädel an. Die Doppelreihe der Zähne zeigte ihr breites Grinsen. Einer der Zähne war aus Gold und glitzerte in der Sonne. An einer Stelle der Düne erhob sich ein abgerundetes Metallstück aus dem Sand, und etwas weiter unten entdeckten sie ein weiteres.
Jürgens kramte eine Schaufel aus seinem Packen und begann den Sand abzutragen. Lansing sah ihm schweigend bei der Arbeit zu.
»In einer Minute wissen wir Bescheid«, sagte Jürgens. Nach ein paar Minuten wußten sie Bescheid. Das sonderbare Metallgebilde hatte eine entfernt menschenähnliche Form. Es hatte einen Rumpf und zwei Arme, aber drei Beine statt zweien. Es war mehr als drei Meter groß, und im oberen Teil war ein Hohlraum ausgespart, so daß ein Mensch darin sitzen konnte. Die Knochen, die einmal das Skelett des Reiters gebildet hatten, lagen nun unregelmäßig verstreut in diesem Hohlraum, der Schädel war in der Kapsel gefangen. Jürgens, der neben dem Gebilde hockte, sah Lansing an. »Haben Sie eine Vermutung?« fragte er. Lansing schauderte. »Ich gebe die Frage an Sie zurück.« »Nun gut«, sagte der Roboter. »Vielleicht eine Gehmaschine.« »Eine Gehmaschine?«
»Möglich«, sagte Jürgens, »jedenfalls war das mein erster Gedanke.«
»Aber was ist eine Gehmaschine?«
»Die Menschen auf meiner Welt bauten ähnliche Maschinen. Das war, bevor sie zu den Sternen aufbrachen. Die Maschinen waren für den Gebrauch auf fremden Planeten bestimmt. Für eine feindselige Umgebung, nehme ich an. Ich habe allerdings niemals ein solches Gerät gesehen, ich habe nur davon gehört.« »Eine Maschine, mit der man sich auf einem lebensfeindlichen Planeten fortbewegen kann?«
»Genau. Sie wurde an das menschliche Nervensystem angeschlossen. Es war ein komplizierter Mechanismus, der genauso reagierte, wie der menschliche Körper reagieren würde. Der Mensch möchte gehen, also geht die Maschine. Das gleiche gilt für die Arme.«
»Jürgens, wenn das stimmt, haben wir hier vielleicht einen Ureinwohner dieser Welt vor uns. Von einer anderen Welt kann er nicht herübergebracht worden sein, jedenfalls nicht mit einer solchen Maschine am Leibe. Wir kamen in den Kleidern, die wir gerade trugen.« »Sie können es nicht völlig ausschließen«, entgegnete Jürgens. »Vielleicht haben Sie recht«, sagte Lansing. »Aber wenn er aus einer Alternativwelt stammt, dann müssen die Lebensbedingungen dort für die menschliche Rasse extrem ungünstig geworden sein, gefährliche Umweltverschmutzung.« »Eine Welt im Kriegszustand«, sagte Jürgens. »Voll gefährlicher Strahlen und Gase.«
»Ja, das könnte eine Erklärung sein. Was ich nicht verstehe: Warum hat er das Ding nicht ausgezogen, als er auf dieser Welt ankam? Die Luft hier ist nicht verseucht.«
»Vielleicht konnte er es nicht«, antwortete Jürgens. »Vielleicht war er biologisch so fest mit der Maschine verbunden, daß er sich nicht von ihr lösen konnte. Er war in ihr gefangen. Aber wahrscheinlich machte ihm das nichts aus; er war ja daran gewöhnt. Und eine solche Maschine kann auch von Vorteil sein, in einer Landschaft wie dieser mit Sicherheit.« »Ja«, sagte Lansing, »das könnte sie.« »Und dennoch ist er hier gescheitert«, erwiderte Jürgens. »Hier ist er, mit all seiner Arroganz, endgültig gescheitert.« Lansing sah den Roboter an. »Halten Sie alle Menschen für arrogant?« fragte er. »Ist Arroganz das Merkmal der menschlichen Rasse?«
»Nicht alle Menschen«, sagte Jürgens. »Aber Sie müssen verstehen, daß ich etwas verbittert bin. Zurückgelassen zu werden.«
»Das hat all die Jahre an Ihnen genagt?« »Genagt nicht«, sagte Jürgens.
Beide schwiegen eine Weile, dann begann der Roboter: »Sie sind nicht arrogant, Sie waren es niemals. Der Pastor war arrogant, desgleichen der General, sogar Sandra auf ihre sanfte Art.« »Ja, ich weiß«, sagte Lansing. »Ich hoffe, Sie können ihnen verzeihen.«
»Aber Sie und Mary«, fuhr Jürgens fort, »für Sie würde ich mein Leben geben.«
»Und dennoch haben Sie sich geweigert, Mary von Ihrem Leben zu erzählen.«
»Sie hätte mich bedauert«, sagte Jürgens. »Ich hätte ihr Mitleid nicht ertragen. Sie hingegen haben mich nicht bemitleidet.« »Das stimmt«, sagte Lansing, »ich habe Sie nicht bemitleidet.« »Edward, wir sollten das Thema jetzt fallenlassen. Wir müssen weiterziehen.«
»Gehen Sie voran, ich folge Ihnen«, sagte Lansing. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich habe Mary nur sehr ungern allein zurückgelassen. Ich muß mich zusammennehmen, um nicht auf der Stelle umzukehren.«
»Noch drei Tage, dann sind wir wieder bei ihr. Wir werden sie gesund und munter wiederfinden. Vier Tage ist das Äußerste, was wir uns als Frist setzen.«
Sie fanden kein Holz während ihres Marsches. Das Land war völlig kahl. In dieser Nacht mußten sie auf ein Lagerfeuer verzichten.
Die Nacht war schön, schön auf eine kalte, gläserne Weise. Nackter Sand und ein aufgehender Mond. Ungetrübt durch den weißen Glanz des Mondes strahlten die Sterne mit grausamer Intensität.
Lansing gab sich ganz der harten, klassischen Schönheit der Nacht hin. Irgendwann hörte er ein Geräusch, das wie fernes Heulen klang. Es erinnerte ihn an das Geheul des großen einsamen Tieres, das sie in der Stadt und später während der Nacht in den Badlands vernommen hatten. Das Geräusch war von Süden gekommen. Lansing lauschte intensiv, weil er sich nicht sicher war, aber er hörte nichts mehr. »Haben Sie auch etwas gehört?« fragte er Jürgens. Aber Jürgens verneinte.
Am nächsten Morgen weckte der Roboter Lansing noch vor Tagesanbruch. Der Mond hing tief über dem westlichen Horizont, im Osten verblaßten die Sterne.
»Essen Sie ein wenig«, sagte Jürgens. »Danach brechen wir auf.«
»Nein, jetzt nicht«, erwiderte Lansing. »Ich möchte nur einen Schluck Wasser. Ich werde unterwegs essen.« Zu Beginn war das Gehen einfach, aber gegen Mittag erreichten sie wieder ein Dünengebiet. Niedrige Sandhügel zunächst, doch je weiter sie nach Norden zogen, desto größer wurden die Dünen. Sie wanderten durch eine Welt aus gelbem Treibsand, die der blaßblaue Himmel wie eine Kuppel einschloß. Das Land vor ihnen stieg allmählich immer stärker an, bis es schien, als ob sie direkt in den blauen Himmel hineinwanderten. Am nördlichen Horizont erschien ein schmaler Streifen; das Blau des Himmels hatte dort einen etwas dunkleren Ton angenommen. Während sie sich ihren Weg durch den trügerischen Sand bahnten, stieg der Streifen immer weiter am Himmel empor. Das Dunkelblau an seiner Oberkante wurde weiter unten zu Schwarz.
Ein schwaches, undeutliches Murmeln erklang von Norden her. Je weiter sie sich nach Norden vorkämpften, desto lauter wurde das Geräusch.
Auf dem Gipfel einer hohen Düne hielt Jürgens an und wartete, daß Lansing zu ihm aufschloß. Lansing erreichte ihn, vom Anstieg völlig außer Atem.
»Das klingt wie Donnergrollen da vorn«, sagte Jürgens. »Vielleicht kommt ein Gewitter auf.«
»Die Farbe des Himmels stimmt«, erwiderte Lansing, »aber die Form ist sonderbar. Ich habe noch nie eine Gewitterwolke gesehen, die oben so gerade abschließt. Und normalerweise kann man auch die Luftbewegung erkennen, wo die Wolkenfronten aufeinanderprallen.«
»Eben glaubte ich einen Blitz gesehen zu haben«, sagte Jürgens. »Nicht den Strahl selbst, sondern nur ein kurzes Aufflammen. Wie eine Reflexion.«
»Wetterleuchten«, erklärte ihm Lansing. »Das sind sehr weit entfernte Blitze, die von Wolkenbänken reflektiert werden.« »Nun, bald werden wir ja wissen, worum es sich handelt«, sagte Jürgens. »Sind Sie bereit zum Weitermarschieren, oder sollen wir noch ein wenig rasten?«
»Gehen Sie nur. Ich sage Ihnen schon, wenn ich eine Pause brauche.«
Bis zum Nachmittag war die große schwarze Wolke schon weit über den Horizont heraufgestiegen. An manchen Stellen hatte sie einen dunklen Purpurton und war, alles in allem, eine furchteinflößende Erscheinung. Sie schien völlig unbeweglich am Himmel zu stehen. Dennoch glaubte Lansing eine fast nicht wahrnehmbare Abwärtsbewegung zu bemerken, so als ob irgendeine Substanz wie ein dünner Film an der Schwärze hinabliefe. Eine schreckliche Kraft schien der Wolke innezuwohnen wie die geballte Macht einer immerwährenden Gewitterdrohung, und doch waren keine äußeren Anzeichen der Gewalt wahrzunehmen. Nur hin und wieder zuckten gigantische Lichtblitze über das Antlitz aus Dunkelheit. Das Donnergrollen war jetzt laut und anhaltend. »Höchst ungewöhnlich«, sagte Jürgens. »Etwas Ähnliches habe ich noch nie gesehen.«
»Chaos?« fragte Lansing. Und während er die Frage aussprach, erinnerte er sich an das Chaos - oder vielmehr die Empfindung von Chaos (denn inzwischen bezweifelte er, daß er es wirklich gesehen hatte), die er für einen kurzen Augenblick gespürt hatte, als er auf dem Sternenberg hoch über dem Universum stand. Aber was er dort gefühlt hatte, dieses universelle Chaos, hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem, was er vor sich sah, obschon er seine damalige Wahrnehmung nicht beschreiben konnte.
»Vielleicht«, sagte Jürgens. »Doch nun frage ich Sie: Was ist >Chaos«
Lansing gab keine Antwort.
Sie stiegen weiter, und nun war der Weg steiler als jemals zuvor. Sie schleppten sich eine Serie von immer höheren Dünen entlang. Vor ihnen krümmte sich der Horizont zu beiden Seiten nach außen, so daß es schien, als erstiegen sie nur eine einzige gigantische Düne, deren Kamm einen Halbkreis bildete und deren Seiten direkt auf die Schwärze am Himmel zielten. Am Spätnachmittag erreichten sie den Gipfel der Dünenkette, Lansing ließ sich erschöpft in den Sand fallen und lehnte sich an einen großen Stein. Ein Stein, fragte er sich. Hier, wo sie nichts angetroffen hatten, das größer als ein Sandkorn war? Er war verwirrt. Mühsam kämpfte er sich noch einmal auf die Beine. Aber der Stein war da, und nicht nur einer, sondern ein ganzer Haufen. Sie steckten unterhalb des Gipfels im Sand, so als ob jemand sie dort, vielleicht schon vor Urzeiten, sorgfältig plaziert hätte.
Jürgens stand auf dem Gipfel der Düne, die Beine gespreizt und die Krücke tief in den Sand gebohrt, damit er nicht das Gleichgewicht verlor. Denn vor ihm brach die Düne scharf ab und bildete einen ununterbrochenen Abhang, bis sie den Grund der mächtigen Wolke erreichte, die drohend vor ihnen aufragte. Bei genauerer Betrachtung stellte Lansing fest, daß die Wolke keine Wolke war, obwohl er nicht wußte, was es sonst hätte sein können. Es war eine massive Wand von äußerster Schwärze. Von dort, wo sie sich mit dem sandigen Abhang vereinigte, erhob sie sich weit in den Himmel hinauf, so hoch, daß Lansing den Kopf weit in den Nacken legen mußte, um ihre Oberkante sehen zu können.
Immer noch zuckten 'Lichtblitze von verheerender Stärke über ihre Oberfläche, die Donner krachten und grollten. Lansing erkannte, oder glaubte zu erkennen, daß die Wand ein monströser Damm war. Und über seine Kante ergoß sich etwas: ein gigantischer Wasserfall aus Schwärze, aber es war kein Wasser. Die schwarze Flut stürzte an der Wand entlang in die Tiefe, so dicht und ununterbrochen, daß Lansing ihr Fallen nicht eigentlich sah, sondern, auf gleichsam hypnotische Weise, ein Gefühl von Fallen empfand. Während er das Phänomen betrachtete, wurde ihm klar, daß der Lärm nicht nur von Donnergrollen herrührte: In das Donnern mischte sich das schreckliche Tosen des Falles, der sich über die Kante des Dammes ergoß, der Niagaraklang von etwas, das aus großer Höhe fällt, vom Unbekannten ins Unbekannte stürzt. Es schien Lansing, als lasse das Tosen den Boden unter seinen Füßen erbeben. Er wandte sich zu Jürgens um, aber dieser beachtete ihn nicht. Der Roboter stützte sich schwer auf seine Krücke und starrte wie hypnotisiert ins Schwarze, selbstvergessen und ganz der Beobachtung hingegeben.
Auch Lansing richtete seinen Blick wieder auf die schwarze Wand. Deutlicher als je zuvor hatte er das Gefühl, vor einem Damm zu stehen, doch Sekunden später war diese Gewißheit wieder verflogen. Erst hatte er das Gebilde für eine Wolke gehalten, jetzt erschien es ihm wie ein Damm, aber was mochte es wirklich sein?
Nur eine Gewißheit hatte er: Dies war nicht die Antwort, nach der sie suchten, nicht einmal ein kleiner Hinweis, der sich mit der Zeit in eine Antwort verwandeln würde. Genauso wie der Würfel, die Türen, die Apparatur in der Stadt und der singende Turm gab es keine Aufschlüsse. Vielleicht war es nicht völlig bedeutungslos, aber ihm, den anderen Menschen und Jürgens konnte es nichts vermitteln. Es entzog sich ihrer Intelligenz und ihrem Wahrnehmungsvermögen.
»Das Ende der Welt«, murmelte Jürgens, und seine Stimme hatte einen sonderbaren Beiklang.
»Das Ende dieser Welt?« sagte Lansing fragend. Er hatte den Satz kaum ausgesprochen, da bereute er ihn schon wieder, denn es war eine alberne Bemerkung.
»Vielleicht nicht nur von dieser Welt«, erwiderte Jürgens, »sondern von allen Welten. Das Ende aller Dinge. Dort versinkt das Universum, von der Schwärze verschlungen.« Der Roboter machte einen Schritt nach vorn. Er hob die Krücke und suchte nach einer Stelle, wo er sie sicher aufsetzen konnte.
Er fand keine sichere Stelle. Die Krücke rutschte ab und glitt aus seiner Hand. Das beschädigte Bein gab unter ihm nach, so daß er das Gleichgewicht verlor. Er fiel auf den Hang und überschlug sich ein paarmal im Sand. Der Rucksack löste sich von seinen Schultern und begann vor ihm den Hang hinabzugleiten. Seine Hände arbeiteten krampfhaft, wühlten sich in den Sand, suchten verzweifeit nach etwas, an dem sie sich halten konnten. Aber da war nichts, das einen Halt geboten hätte, da war nur Sand, gleitender Sand, neben ihm und unter ihm. Und zusammen mit dem Sand rutschte er in die Tiefe. Seine verkrampften Hände hinterließen eine lange Spur auf dem Abhang.
Lansing, der bei den Steinen gekauert hatte, war mit einem Satz auf den Beinen. Wenn er sich aufrecht halten könnte, überlegte er, wenn er seine Füße tief in den Sand unterhalb der rutschigen Oberfläche bohren könnte, hätte er vielleicht eine Chance, Jürgens zu erreichen und auf sicheres Gelände zu ziehen. Er tat einen Schritt den Hang hinab, aber sein suchender Fuß fand keinen festen Grund. Der Sand war wie Puder, man konnte weder in ihm stehen noch ihn durchwaten. Er versuchte sich zurückzustoßen, langte verzweifelt nach den Steinen auf dem Gipfel der Düne. Aber durch diese Bewegung rutschte er nur noch schneller; sein Fuß grub eine tiefe Furche in den Sand. Und schon befand sich sein ganzer Körper auf der gleitenden Sandfläche, und Lansing rutschte, langsam, aber unaufhaltsam. Doch nicht nur er selbst glitt, nein, mit ihm schien aller Sand seiner Umgebung langsam, aber unausweichlich dem Sog der Schwerkraft zu gehorchen.
Er spreizte die Arme und Beine, um eine größere Reibungsfläche zu bieten, und es schien ihm, als würde der Sturz dadurch ein wenig gebremst, aber das war schwer zu sagen. Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, dann mußte er einsehen, daß es keine Hoffnung für ihn gab, den Gipfel der Düne jemals wieder zu erreichen. Jede heftige Bewegung hätte zur Folge, daß der Sand nur noch schneller rutschte und ihn mit sich riß. Doch nun wurde die Gleitbewegung tatsächlich langsamer, und schließlich hörte sie ganz auf. Er lag mit ausgestreckten Armen und Beinen im Sand und hatte Angst, sich zu rühren, um den Abhang nicht von neuem in Bewegung zu versetzen. Er hatte keine Ahnung, wo Jürgens sich befinden mochte. Als er den Kopf ein wenig hob, um nach dem Roboter Ausschau zu halten, fing der Sand sofort wieder an zu rutschen. Augenblicklich warf er den Kopf zurück und preßte ihn, so fest es ging, in die weiche, bodenlose Substanz.
Ewigkeiten vergingen. Der Boden schien immer noch vom Tosen des gigantischen schwarzen Wasserfalls zu dröhnen. Nach und nach erstickte der Lärm sein Wahrnehmungsvermögen: Er wußte kaum noch, wer er war und wo er sich befand. Von seinem Platz aus konnte er den Gipfel der Düne sehen. Er konnte nicht viel mehr als fünfzig Meter entfernt sein, schätzte er. Wenn er diese kurze Strecke doch nur hinaufkriechen könnte! Aber fünfzig Meter oder zehn, er wußte, es würde unmöglich sein.
Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit völlig auf den unerreichbaren Gipfel, so als ob er sich ihm allein durch die Konzentration nähern könnte. Aber der Gipfel rührte sich nicht, seine Silhouette stand als unbewegliche, gelbe Linie vor dem Blau des Himmels.
Einen Augenblick lang wandte er die Augen ab, um an der scheinbar endlosen Sandfläche des Abhanges hinabzublicken. Und als er sie wieder auf den Gipfel der Düne richtete, stand dort etwas - vier Gestalten waren am Horizont aufgereiht und starrten ihn aus Gesichtern an, die gräßliche Karikaturen menschlicher Antlitze waren.
Nur langsam wurde Lansing klar, wer die vier waren. Es waren die vier Kartenspieler, die sich schon in den beiden Gasthäusern aufgehalten hatten, immer abgesondert von den anderen Gästen. Dort standen sie nun und starrten ihn an. Was wollten die hier? Was mochte sie hergeführt haben? Gab es hier etwas, das sie interessieren konnte? Einen Moment lang dachte er daran, sie um Hilfe zu bitten. Doch gleich darauf gab er den Gedanken wieder auf. Sie würden ihn doch nur ignorieren, und das könnte er nicht ertragen. Er fragte sich, ob die vier tatsächlich dort oben standen. Vielleicht spielte ihm seine Phantasie nur einen Streich. Er schloß die Augen, dann öffnete er sie wieder; die vier waren immer noch da. Lansing sah, daß einer von ihnen etwas in der Hand hielt. Er bemühte sich, den Gegenstand zu erkennen, aber es war ihm unmöglich. Dann hob dieser Kartenspieler den Arm über den Kopf und ließ den Gegenstand durch die Luft wirbeln. In diesem Augenblick erkannte Lansing, was es war: eine Seilrolle. Die Kartenspieler warfen ihm ein Seil zu!
Das Seil flog auf ihn zu, in der Luft wickelte es sich ab. Lansing wußte, daß er nur eine Chance haben würde. Er mußte das Seil beim ersten Versuch erreichen. Denn durch die Bewegung seines Körpers würde der Sand wieder zu rutschen beginnen, und in der Zeit, die man brauchte, um das Seil einzuholen, aufzuwickeln und von neuem zu werfen, würde er sich schon außerhalb seiner Reichweite befinden.
Einen Moment lang hing das Seil in der Luft, es schien sich kaum zu bewegen. Dann war es über ihm, ein perfekter Wurf. Mit einem verzweifelten Satz schoß Lansing vor und erwischte es mit einer Hand. Er drehte seinen Körper in die richtige Lage, um es auch mit der zweiten Hand ergreifen zu können. Während er dies tat, rutschte er weiter den Abhang hinunter. Er glitt sehr schnell. Aber dann hatte er auch schon die zweite Hand am Seil. Ein furchtbarer Stoß durchlief Lansings Körper, als seine Abwärtsfahrt plötzlich gebremst wurde; das Seil hatte sich bis zur vollen Länge abgewickelt. Und nun begann er, sich langsam an dem Strick emporzuziehen. Hand über Hand hangelte er sich in die Höhe. Er hielt den Körper flach über dem Boden, um jedes Risiko zu vermeiden. Irgendwann legte er eine Atempause ein. Er blickte zum Rand des Abhangs hinauf, der Horizont war leer. Die vier Kartenspieler waren verschwunden. Wer hielt dann das Seil? fragte er sich. Lansing hatte eine plötzliche Vision, daß sich das andere Ende des Seiles lösen und er hinab in die Tiefe rasen würde. Vor Angst drehte sich ihm fast der Magen um. Wie ein Wahnsinniger setzte er seine Klettertour fort, sein Atem rasselte, und sein Puls hämmerte wild. Aber darauf achtete er nicht. Er hatte nur einen Gedanken: Er mußte den Gipfel der Düne erreichen, bevor sich das Seil löste. Als er spürte, wie sein Körper über die Kante glitt, gönnte er sich die erste Pause.
Lansing rollte sich auf den Rücken und setzte sich auf. Aber er ließ das Seil nicht los, ehe er sich sicher auf der anderen Seite der Düne wußte. Erst da lockerte er seinen Griff. Er bemerkte, daß der Strick um einen der Steine geschlungen war, die ihn auf dem Hinweg in solches Staunen versetzt hatten, als Jürgens und er den Gipfel erklommen hatten.
Jürgens! dachte er. Jürgens, o Gott. Während der letzten Minuten (waren es wirklich nur Minuten gewesen oder Stunden?) waren alle Gedanken an Jürgens wie weggewischt gewesen. Auf Händen und Knien kroch er zum Gipfel zurück und blickte den langen glatten Abhang hinab. Die Spur, die er hinterlassen hatte, war von dem langsam und ständig rieselnden Sand schon fast zugedeckt. In ein paar Minuten würde es keinen Hinweis auf seinen Absturz mehr geben.
Jürgens' Spur war vollkommen verschwunden. Es ließ sich nicht mehr feststellen, an welcher Stelle er den Abhang hinabgeglitten war. Der Roboter war verschwunden, fort für immer, das war Lansing klar. Fort ins Unbekannte, das ihn an der Grenze zwischen Sand und Schwärze erwartet hatte. Lansing erinnerte sich, daß Jürgens nicht um Hilfe geschrien hatte. Er war seinem Schicksal, wie auch immer es aussehen mochte, still entgegengeeilt. Lansing wußte, der Roboter hatte mit Rücksicht auf ihn so gehandelt. Er wollte ihn, den Menschen Lansing, nicht in den Unfall verstricken.
War es ein Unfall gewesen, fragte er sich. Ihm fiel nun wieder ein, wie gebannt und hingebungsvoll Jürgens vor der schrecklichen, donnernden Finsternis gestanden hatte - genauso wie Sandra vor dem singenden Turm. Und dann entsann er sich auch, daß Jürgens den ersten Schritt getan hatte, obwohl er wissen mußte, daß er die äußerste Grenze des sicheren Bodens erreicht hatte. Dennoch hatte er einen Schritt nach vorn gemacht, nur um der faszinierenden Schwärze etwas näher zu sein.
War Jürgens genauso wie Sandra irgendeinem Zauber erlegen? Hatte der Vorhang aus Finsternis eine Saite seines Wesens zum Schwingen gebracht? Hatte er diesen ersten Schritt mit Absicht getan, zwar nicht in der Absicht, den Hang hinabzugleiten, aber doch einem unbewußten, alles umfassenden inneren Drang gehorchend!
Lansing schüttelte den Kopf. Er würde es niemals erfahren. Aber wenn seine Überlegungen richtig waren, dann hatte der Roboter Jürgens zuletzt doch eigenständig gehandelt, hatte sein eigenes Schicksal in die Hand genommen und nicht das der ihm anvertrauten Menschen. Er hatte so gehandelt, wie er es wollte, und nicht, wie die Loyalität den Menschen gegenüber es ihm diktierte. Zu guter Letzt hatte Jürgens also doch die Freiheit erlangt, nach der er sich immer gesehnt hatte. Langsam stand Lansing auf. Er löste das Seil von dem Stein und begann es sorgfältig aufzuwickeln. Es gab keinen Grund, es aufzurollen; er hätte es dort liegen lassen können, wo es war. Aber das Wickeln war wenigstens eine Beschäftigung. Nachdem er damit fertig war, legte er das Seil auf den Boden und schaute sich nach allen Seiten um, ob nicht irgendwo die Kartenspieler auszumachen wären. Aber sie waren nirgends zu sehen. Es gab auch kein Anzeichen dafür, daß sie sich jemals in dieser Gegend aufgehalten hatten. Lansing beschloß, sich über die vier nicht weiter den Kopf zu zerbrechen. Dazu würde er später noch Zeit genug haben. Jetzt mußte er seine Aufgabe zu Ende bringen, und zwar schnell.
Er mußte zum singenden Turm zurückkehren, wo Mary noch immer bei der entrückten Sandra Wache hielt.
26
Lansing eilte nach Süden, mehr stolpernd als gehend. Er folgte der Spur, die er und Jürgens auf dem Hinweg hinterlassen hatten. An vielen Stellen war sie schon vom Treibsand verdeckt, aber er war doch immer wieder in der Lage, sie ein paar Meter weiter wieder aufzunehmen. Und immer noch hörte er das Donnergrollen im Rücken, den allmählich schwächer werdenden Klang von Chaos. Was war dieses Chaos, fragte er sich, während er sich durch den Sand quälte. Nicht, daß es jetzt noch von Bedeutung gewesen wäre. Nichts war mehr wichtig, nur noch die Rückkehr zu Mary.
Die Nacht brach herein, und der Mond ging auf, ein riesiger bleicher Ball, der von Osten herüberschwamm. Die ersten Sterne begannen zu funkeln. Aber Lansing stapfte verbissen weiter. Eigentlich hätte das Gehen ihm jetzt leichter fallen müssen als am Vormittag, denn schließlich führte der Weg nun bergab. Es kam ihm jedoch eher mühseliger vor.
Schließlich brach er zusammen, fiel in den Sand, unfähig, sich wieder zu erheben und weiterzugehen. Mühsam wälzte er sich auf den Rücken und suchte nach seiner Feldflasche. Mitten in der Bewegung wurde er vom Schlaf übermannt.
Ein Sonnenstrahl weckte ihn. Einen Moment lang wußte Lansing nicht, wo er sich befand. Er richtete sich auf den Ellbogen auf, um sich zu orientieren, aber es gab weit und breit nichts zu sehen als den im Sonnenlicht blendend weißen Sand. Während er sich die Augen rieb, fiel ihm ein, wo er war und daß er weiterziehen mußte.
Schwankend erhob er sich und schüttelte seine Glieder. Noch halb benommen vom Schlaf zog er die Wasserflasche zu sich heran und trank von der abgestandenen Flüssigkeit. Während er die Flasche verschloß, machte er schon die ersten Schritte, folgte wieder seiner eigenen Spur. Er fischte sich Nahrung aus dem Rucksack und stopfte sich das erstbeste, auf das seine suchenden Finger stießen, in den Mund. Nichts durfte ihn jetzt mehr auf seinem Weg nach Süden aufhalten. Seine Beine, noch steif vom Schlafen, wehrten sich schmerzhaft gegen die Bewegung. Aber er trieb sie weiter voran, und allmählich wurden sie wieder zu brauchbaren Werkzeugen. Seine Kehle verlangte nach Wasser, aber Lansing trank nicht. Es war nur noch wenig Wasser in der Feldflasche, das er sich einteilen wollte. (Stunden später fiel ihm ein, daß noch eine zweite, volle Flasche im Rucksack steckte.) Der Sand vor ihm flimmerte und vibrierte im Sonnenglast. Lansing machte sich Vorwürfe, daß er zu lange geschlafen und dadurch wertvolle Zeit verloren hatte. Dieser Gedanke trieb ihn weiter.
Hin und wieder dachte er an Jürgens, aber nicht allzuoft oder sehr lange. Auch das konnte er auf später verschieben. Er versuchte sich ganz auf den Gedanken an Mary zu konzentrieren, wie sie beim singenden Turm auf ihn wartete. Aber sogar der Gedanke an Mary entglitt ihm von Zeit zu Zeit, dann fiel er in ein Vakuum und wußte nur noch eines: Er mußte zum singenden Turm.
Lansing erreichte das Ende der Dünenregion. Der Boden war immer noch sandig; so konnte er seine Spur weiter zurückverfolgen, obwohl sie inzwischen schwächer geworden war. Die Sonne erreichte den Zenit und wandte sich nach Westen. Er versuchte, ein schnelleres Tempo anzuschlagen, weil das Gelände nun ebener und angenehmer war, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Mehr als ein gleichmäßiges Marschieren konnte er ihnen nicht abverlangen. Sein Verstand sagte ihm, daß er nach drei Tagen ununterbrochenen Wanderns nicht mehr erwarten konnte. Dennoch war er wütend auf sich, weil er nicht schneller vorankam.
Die Sonne ging unter, im Osten begannen die ersten Sterne zu funkeln, und der Himmel erhellte sich, als der Mond aufging. Lansing zwang sich zum Weitergehen. Wenn er durchhalten würde, wenn er es schaffte, die ganze Nacht hindurch zu marschieren, dann konnte er den singenden Turm bei Tagesanbruch erreichen.
Aber sein Körper ließ ihn im Stich. Irgendwann wurden seine Beine so schwer, daß er eine Pause einlegen mußte. Er schleppte sich zur Lee-Seite einer kleinen Düne, um vor dem Wind geschützt zu sein, dann streifte er seinen Rucksack von den Schultern. Seine Hand stieß auf die zweite Wasserflasche, und er trank so viel, wie sein Körper brauchte, achtete aber darauf, nicht zu schnell zu trinken. Er fand ein paar trockene Wurstscheiben und etwas glasigen Käse und schlang sie gierig hinunter.
Er würde nur ein Weilchen hier sitzen bleiben und sich ausruhen, nahm Lansing sich vor. In einer Stunde etwa würde er weiterziehen. Aber er nickte ein. Als er aufwachte, verblaßten die Sterne schon im ersten Tageslicht.
Über die eigene Schwäche fluchend, rappelte er sich hoch, schulterte den Rucksack und setzte seinen Weg in Richtung Süden fort. Er hatte Mary versprochen, nicht länger als vier Tage fortzubleiben, dieses Versprechen würde er auch halten. Am Horizont erschien ein Dünenfeld, damit war die angenehme Wegstrecke zu Ende. Das Gelände bis dorthin wollte Lansing so schnell wie möglich überwinden, denn er wußte, die Dünen würden ihn viel Zeit kosten.
Warum war er nur so verbissen, fragte er sich. So eilig hatte er es doch gar nicht. Mary ging es gut. Sie wartete auf ihn, und es ging ihr gut. Aber sooft er diesen Gedanken auch wiederholte, er verschaffte ihm keine Beruhigung.
Um die Mittagszeit erreichte Lansing die Düne, wo sie die zerstörte Gehmaschine entdeckt hatten. Der Totenschädel mit seinem glitzernden Goldzahn grinste ihn idiotisch an. Ohne anzuhalten ging Lansing weiter.
Und dann lag das Dünenfeld vor ihm. Wie ein Berserker kämpfte sich Lansing durch den Sand. Nur noch ein paar Stunden, sagte er sich. Noch vor Sonnenuntergang würde er den Turm erreicht haben und Mary in die Arme schließen. Nach einer Stunde sah er zum erstenmal den Turm vom Gipfel einer Düne. Der Anblick spornte ihn zu noch größerer Eile an. Während der ganzen quälenden Wanderung durch die Wüste hatte Lansing eine etwas nebelhafte Vision in seinem Geiste genährt: Mary, wie sie mit ausgestreckten Armen und fröhlich rufend auf ihn zulief, während er den letzten Hügel zum Lager hinabstieg. Aber das geschah nicht. Mary kam ihm nicht entgegengerannt. Nichts deutete auf ihre Anwesenheit hin. Kein Rauch kräuselte sich vom Lagerfeuer empor. Es war niemand dort, auch Sandra nicht.
Aber dann, als Lansing zum Lager rannte, erblickte er Sandra. Sie kauerte beim Turm, hatte sich dicht an seine Basis geschmiegt. Sie rührte sich nicht. Der Wind spielte mit ihrem Schal, das war die einzige Bewegung.
Benommen hielt Lansing an. Eine kalte Hand griff nach seinem Herzen, Panik stieg in ihm auf.
»Mary!« rief er. »Ich bin wieder da! Mary, wo bist du?« Aber Mary antwortete nicht. Niemand antwortete. Sandra mußte wissen, wo sie war. Offensichtlich schlief sie. Aber er würde sie wachrütteln. Sie würde es ihm sagen.
Er kniete sich neben sie und schüttelte sie sanft. Etwas war falsch an ihr, schrecklich falsch - sie hatte kein Gewicht. Er schüttelte sie noch einmal, etwas heftiger diesmal. Da sank sie zur Seite, und er sah ihr Gesicht: Es war das eingetrocknete Gesicht einer Mumie.
Erschreckt ließ Lansing Sandras Schulter los. Ihr Kopf fiel zurück, das Gesicht sah ihn nicht mehr an. Tot, dachte er - als ob sie schon tausend Jahre tot sei! Ausgedörrt unter ihren Kleidern, die jetzt im Winde flatterten! Verwelkt und vertrocknet wie eine Hülse, der alle Substanz entzogen war!
Er stand auf und wandte sich ab. Schwankend ging er zum Lagerfeuer und hielt die Hände über die Asche. Er fühlte keine Wärme. Er stocherte in der Asche, aber das Feuer war tot, keine Glut verbarg sich unter der grauen Schicht. Ein Rucksack lag neben der Feuerstelle, ein Rucksack nur. Sandras vermutlich. Marys Rucksack war fort.
Er ließ sich wie betäubt an der Feuerstelle nieder. Er fühlte weder Schrecken noch Kummer - nur Leere. Sandra tot, Mary fort und das Feuer. Es mußte Stunden gedauert haben, bis das Feuer völlig niedergebrannt war. Mary war schon seit Stunden fort.
Die Taubheit in seinem Gehirn ließ etwas nach, Panik begann sich einzuschleichen. Aber er kämpfte sie nieder. Jetzt war nicht der Zeitpunkt, sich Angst und Panik zu überlassen! Wichtig war im Moment, daß er alles genau durchdachte, alle Teile zusammenfügte und herausbekam, was geschehen sein mochte.
Das Lager war verlassen. Jorgenson und Melissa waren nicht da, aber das hatte nichts zu bedeuten. Sie konnten aufgehalten worden sein. Alle hatten sich darauf geeinigt, daß die beiden Gruppen innerhalb von vier Tagen zum Lager zurückkehren wollten, aber der vierte Tag war noch nicht zu Ende. Sandra war tot, und es hatte den Anschein, als sei sie schon sehr lange tot. Aber das war unmöglich. Vor vier Tagen hatte sie noch gelebt, vor weniger als vier Tagen. Der Turm, dachte Lansing bitter. Der singende Turm hatte sie leer gesaugt, ausgetrocknet, bis nichts mehr von ihr übrig war. Vielleicht hatte sie gewußt, was er mit ihr tat, und es zugelassen. Vielleicht hatte sie ihm ihre Lebenssubstanz gerne gegeben, als Weihgabe für die Schönheit, die er ihr schenkte. Mary war fort, aber sie war nicht geflohen. Sie war nicht schreiend in die Wildnis gerannt. Ihr Rucksack war nicht mehr da. Sie hatte ihn genommen und war gegangen. Aber warum hatte sie ihm keine Nachricht hinterlassen, wohin sie gegangen war? Vielleicht lag irgendwo ein Zettel, von einem Stein beschwert.
Lansing erhob sich und suchte die Umgebung ab. Er fand nichts. Um sicherzugehen, suchte er ein zweitesmal, fand aber auch diesmal nichts.
Vielleicht war sie nach Norden aufgebrochen, in der Hoffnung ihm und Jürgens zu begegnen. Oder sie hatte sich nach Westen gewandt, um Jorgenson und Melissa zu treffen. Diese Möglichkeit hielt Lansing allerdings für recht unwahrscheinlich, denn Mary hatte die beiden nicht sonderlich gern gemocht. Vielleicht war sie auch zum zweiten Gasthaus zurückgekehrt und wartete dort auf ihn.
Alles der Reihe nach, sagte er sich, erstaunt über seine Gelassenheit. Er würde also zunächst zu den Dünen zurückgehen und von dort aus in weitem Bogen das Gelände nach ihren Spuren absuchen. Dann fiel Lansing ein, daß Mary, falls sie nach Norden gegangen war, die Spur hätte finden müssen, die er und Jürgens hinterlassen hatten. Sie wäre dieser Spur bestimmt gefolgt, er hätte ihr also auf dem Rückweg begegnen müssen. Trotzdem machte Lansing sich auf den Weg, entdeckte aber keine Spuren außer seinen eigenen und denen von Jürgens. Er untersuchte sie sehr sorgfältig nach Hinweisen auf eine dritte Person, aber er fand nur die Fußabdrücke von Jürgens, die nach Norden führten und seine eigenen vom Hin- und Rückweg. Eine dritte Person war diesen Weg nicht gegangen. Es dunkelte bereits, als er endlich zum Lager zurückkehrte. Eine Zeitlang stand er nachdenklich da, unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Schließlich entschied er sich für das einzig Richtige, das er in seiner Situation tun konnte. Aber die Entscheidung fiel ihm äußerst schwer, und es kostete ihn Mühe, seine Schuldgefühle niederzukämpfen.
Er war völlig erschöpft. Er war vier volle Tage unterwegs gewesen, hatte kaum geschlafen und nicht gerastet. Er brauchte etwas Erholung, um wieder ein normaler Mensch zu werden. Es würde weder Mary noch ihm helfen, wenn er sich total übermüdet weiter fortschleppte, unfähig zur Wahrnehmung und unfähig zu denken. Vielleicht würden bis zum Morgen auch Jorgenson und Melissa eintreffen. Sie konnten ihm dann wenigstens bei der Suche helfen. Aber auf die beiden setzte er im Grunde wenig Hoffnung. Er hielt von ihnen nicht mehr als Mary. Bestenfalls waren sie zwei arme Teufel. Er fand Holz, entfachte ein Lagerfeuer, kochte Kaffee, briet Schinken und ein paar Pfannkuchen und öffnete eine Dose Apfelmus - es war seine erste richtige Mahlzeit seit vier Tagen. Der Gedanke an Mary verließ ihn keinen Augenblick, aber er sagte sich immer wieder, daß es ihr gutgehe und sie in Sicherheit sei, wo immer sie sich auch aufhalten mochte. Er versuchte, Angst und Sorgen aus seinem Gehirn zu verdrängen, doch das wollte ihm nicht ganz gelingen.
Lansing dachte lange darüber nach, was Mary wohl veranlaßt haben mochte, das Lager zu verlassen. Welchen Grund sie auch gehabt hatte, er mußte zwingend gewesen sein. Anderenfalls hätte sie seine Rückehr abgewartet. Lansing machte sich daran, eine Liste von möglichen Gründen aufzustellen, aber das war ein fruchtloses Unterfangen. Langsam bekam er Angst. Nur mit Mühe gelang es ihm, seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben.
Er dachte an Sandra. Sollte er sie beerdigen? Sollte er ein Loch ausheben, sie hineinlegen, mit Erde bedecken und, wenn all dies vollbracht war, ein paar gräßliche und nutzlose Worte sprechen? Aus irgendeinem Grund - er hätte selbst nicht genau sagen können, warum - schien ihm das nicht angemessen zu sein. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr gelangte er zu der Überzeugung, daß es einem Sakrileg gleichkäme, wenn er Sandra störte. Wahrscheinlich war es das beste, sie so zu lassen, wie sie war, ein verdorrtes (und heiliges?) Opfer am Fuß des singenden Turmes. Der Gedanke schien keinen Sinn zu ergeben, aber auf eine verrückte Weise doch wiederum etwas Logik zu enthalten. Wie würde Sandra es sich gewünscht haben, fragte er sich. Er konnte diese Frage nicht beantworten, dazu hatte er Sandra nicht gut genug kennengelernt, was er jetzt bedauerte. Vielleicht hatte er keinen der Gruppe so gut gekannt, wie es richtig gewesen wäre. Trotz der vielen Tage, die sie zusammen verbracht hatten, waren ihm die anderen mehr oder weniger fremd geblieben. Brauchte es ein Lebensalter, um einen Menschen wirklich kennenzulernen, fragte er sich. Von den ursprünglich sechs Mitgliedern waren nur noch er und Mary übriggeblieben. Und nun war auch Mary fort. Aber er würde sie finden, sagte er sich, er würde sie finden. Nachdem er gegessen hatte, kroch er in den Schlafsack. Er war schon fast eingeschlafen, als ihn ein Geräusch hochriß: das Schluchzen des Heulers. Es erklang nicht aus der Nähe, aber in der Stille der Nacht war die Klage dennoch laut. Er saß und lauschte, und ihm fiel die erste Nacht auf der Wanderung nach Norden ein. Damals hatte er geglaubt, ein fernes Heulen zu vernehmen, aber Jürgens, den er danach gefragt hatte, wollte nichts gehört haben.
Irgendwann hörte das Heulen auf, und Lansing legte sich wieder hin. Er verkroch sich rief in seinen Schlafsack. Bevor er einschlief, kam der Schnüffler und suchte das Lager ab. Lansing sprach leise mit ihm, aber der Schnüffler gab keine Antwort.
Darüber schlief Lansing ein.
27
Am Morgen des zweiten Tages, nachdem Lansing zum Gasthaus aufgebrochen war, erschien der Heuler. Er tauchte auf einer Hügelkette auf, die parallel zu dem Pfad verlief, dem Lansing folgte. Er hielt sich auf gleicher Höhe wie der Mensch. Manchmal, wenn Lansing zurückfiel, ließ sich der Heuler schwerfällig nieder und wartete auf ihn. Und wenn Lansing einen Vorsprung gewann, verfiel der Heuler in einen leichten Trab, um aufzuholen.
Das Verhalten des Tieres verwirrte Lansing, aber er tat sein möglichstes, es sich nicht anmerken zu lassen. Hin und wieder warf er einen kurzen Seitenblick auf den Heuler, ansonsten gab er vor, ihn zu ignorieren. Nach einer Weile wird er das Spielchen schon drangeben, dachte er. Aber der Heuler schien diese Ansicht nicht zu teilen.
Das massige Tier kam Lansing jetzt noch wolfsartiger vor als in der Nacht in den Badlands. Es war in einem bejammernswerten Zustand. Ein streunender Vagabund, dachte Lansing. Bisher hatte es keine feindselige Haltung gezeigt, aber das konnte sich jederzeit ändern. Es konnte sich in jedem Augenblick in eine reißende Bestie verwandeln. Wenn das geschehen sollte, gab es wenig Hoffnung, mit heiler Haut davonzukommen. Lansing löste die Schlaufe seines Campingmessers, um es im Notfall schnell zur Hand zu haben, aber ihm war klar, daß er bei einem Angriff des Tieres mit dem Messer nicht viel ausrichten würde. Mary, dachte er. Hatte sie wegen des Heulers das Lager verlassen? Hatte er sie davongejagt? Wohin war sie geflohen? Oder war sie nirgendwohin geflohen, hatte das Tier, nachdem es sein dummes Spielchen mit ihr getrieben hatte, sie schließlich angegriffen? Bei dieser Vorstellung schnürte sich ihm die Kehle zu. Wenn Mary vor dem Tier fliehen mußte, war sie zweifellos zum Gasthaus geeilt, denn das war der einzige Ort, der ihr Schutz bieten würde. O Gott, dachte Lansing, hoffentlich hat sie es erreicht.
Auf dem Landstreifen zwischen den beiden Flußläufen stand das Gasthaus. Er durfte nicht zulassen, daß das Tier ihn am Fluß entlangtrieb, dann würde er das Gasthaus niemals erreichen, und der Heuler konnte ihn so lange jagen, bis er vor Erschöpfung zusammenbrach.
Der Heuler kam nun näher. Er trottete den Hügel hinab auf Lansing zu und wedelte mit dem Schwanz (Wölfe wedeln nicht mit dem Schwanz, fiel ihm ein). Er lachte Lansing an und entblößte dabei zwei Reihen scharfer Zähne. Lansing wollte ihn nicht zu nahe kommen lassen, deshalb verließ er den Pfad und wandte sich nach Südwesten. Der Heuler überquerte den Pfad und folgte ihm, er blieb auch weiterhin parallel zu der Spur des Menschen, kam nicht direkt auf diesen zu, verringerte aber ständig die Distanz. Er trieb Lansing nach Südwesten. Das Spiel zog sich über Stunden hin. Es wurde Mittag, und die Sonne begann sich dem westlichen Horizont entgegenzuneigen. Lansing wußte, irgendwo vor ihm mußte der Fluß sein, der sich, von Westen kommend, mit dem Badlands-Fluß vereinigte. Und Am Nachmittag erreichte Lansing einen niedrigen Hügelkamm, und von dort sah er den Fluß. Langsam stieg er den Hang hinab, der Heuler folgte ihm. Als der Mann den Fluß erreicht hatte, hielt er an und sah sich um. Der Heuler war bis auf zwanzig Meter herangekommen. Lansing löste das Messer aus dem Gürtel und wartete ab.
»Also gut«, wandte er sich an den Heuler, »worauf willst du eigentlich hinaus?«
Der Heuler war ein riesiges Tier. Er hatte eine Schulterhöhe von drei Metern. Jetzt senkte er den Kopf, streckte die Schnauze vor und kam mit zögernden Schritten auf Lansing zu, erst die eine Pfote und dann, langsam, die zweite. Er war räudig, völlig heruntergekommen. Er sah aus wie ein ungemachtes Bett. Und er war groß - o Gott, war er groß! Ein Zuschnappen, und es wäre um Lansing geschehen gewesen.
Lansing hielt das Messer fest umklammert, aber er hob es nicht. Er bewegte keinen Muskel. Starr, wie festgewachsen, beobachtete er, wie das Tier langsam näher kam. Schritt für Schritt schob es sich dichter an Lansing heran. Es streckte die Schnauze vor, so daß es ihn fast berührte, dann knurrte es leise. Mit einiger Anstrengung gelang es Lansing, sich nicht zu rühren. Ganz vage und beiläufig tauchte in seinem Gehirn die Frage auf, was wohl geschehen wäre, wenn er sich bewegt hätte, und er war erstaunt, daß er es nicht getan hatte. Das Tier machte einen weiteren Schritt auf ihn zu, jetzt war seine Schnauze nur noch ein paar Zentimeter von Lansings Brust entfernt. Aber diesmal knurrte es nicht. Das Messer fest umklammernd, hob Lansing die freie Hand und legte sie dem Tier auf die Schnauze. Das räudige Untier grunzte vor Vergnügen. Es drängte sich noch dichter an Lansing heran, so daß es seine Schnauze an Lansings Bauch reiben konnte, und zwang ihn dadurch, einen Schritt zurückzutreten. Er streichelte die Schnauze, dann streckte er den Arm aus und kratzte das Tier am Ohr. Da legte es den Kopf zur Seite, damit Lansing das Ohr besser erreichen konnte.
Lansing kratzte das Ohr, und der Heuler drehte den Kopf vor Wohlbehagen hin und her. Das Tier gab leise Laute von sich. Es stieß den Mann liebevoll an, und dieser stolperte noch einen Schritt zurück.
»So, jetzt ist es genug«, sagte Lansing. »Ich kann dich nicht den ganzen Tag kraulen. Ich muß weiter.«
Als hätte es ihn verstanden, grummelte das riesige Tier unwillig. Lansing ging einen weiteren Schritt rückwärts und erreichte den Fluß. Vorsichtig nahm er die Hand von dem mächtigen Kopf des Heulers, wandte sich um und begann den Fluß zu durchwaten.
Er watete durch das eiskalte Wasser und sah sich nicht um, ehe er die Mitte des Flusses erreicht hatte. Das Wasser reichte ihm hier bis zu den Knien. Als er sich umblickte, sah er den Heuler verloren am Ufer stehen und ihm nachschauen. Das Tier setzte behutsam eine Pfote ins Wasser, zog sie dann aber rasch zurück und schüttelte sie.
Lansing lachte und watete weiter. Als er das andere Ufer erreicht hatte, blickte er sich noch einmal um. Das Tier war immer noch auf der anderen Seite. Als es bemerkte, daß Lansing anhielt und sich nach ihm umsah, machte es zwei Schritte ins Wasser hinein, sprang aber gleich wieder ans Ufer zurück und schüttelte sich.
»Bis dann, Freund«, sagte Lansing. Munter machte er sich auf den Weg. Nach ein paar hundert Metern sah er sich noch einmal um. Der Heuler hatte den Fluß immer noch nicht überquert. Offensichtlich mochte er kein kaltes Wasser. Lansing beeilte sich. Er hielt es für das beste, eine möglichst große Distanz zwischen sich und den Heuler zu legen, auch wenn dieser sich ihm gegenüber freundschaftlich verhalten hatte. Er gehörte zu einer Art von Tieren, in die man kein allzu großes Vertrauen setzen sollte.
Die Sonne ging unter, aber Lansing legte keine Rast ein. Er marschierte weiter, manchmal verfiel er in einen leichten Trab, von Zeit zu Zeit rannte er sogar ein Stück, denn er wollte eine so große Strecke zurücklegen, wie seine Kräfte ihm erlaubten. Der Mond, inzwischen leicht abnehmend, übergoß die Wildnis mit einem kalten, weißen Licht. Im Osten plätscherte der Fluß. Bei Tagesanbruch hielt Lansing an und machte Feuer. Er kochte Kaffee und bereitete sich etwas zu essen. Es gab kein Anzeichen dafür, daß der Heuler sich irgendwo in der Nähe aufhielt. Lansing war erschöpft und hatte ein dringendes Bedürfnis nach Schlaf. Aber nach einer kurzen Pause machte er sich wieder auf den Weg. Die Sonne neigte sich nach Westen, als er das Gasthaus erreichte.
Der Schankraum war leer, dunkel und kalt. Im Kamin brannte kein Feuer. Die Kartenspieler saßen nicht an ihrem Tisch. Lansing rief, aber niemand antwortete ihm. Da durchquerte er den Raum und ließ sich in einen Sessel vor dem erloschenen Kaminfeuer fallen. Von Erschöpfung übermannt kuschelte er sich tief in den Sessel hinein.
Nach einer Weile trat die Frau mit dem Mondgesicht und der karierten Schürze aus der Küche. »Oh«, sagte sie. »Sie sind also wieder zurück.«
Mit heiserer Stimme fragte Lansing: »War eine junge Frau hier? Gestern oder vorgestern?« »O ja, sie war da.« »Und wo ist sie jetzt?«
»Sie hat das Gasthaus heute morgen schon sehr zeitig verlassen.«
»Haben Sie bemerkt, wohin sie gegangen ist? Welche Richtung sie eingeschlagen hat?«
»Nein, mein Herr, das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich war anderweitig beschäftigt, als sie ging.«
»Hat sie Ihnen nichts hinterlassen? Keine Nachricht, keinen Brief?«
»Ich glaube schon, mein Herr«, antwortete die Frau. »Ich habe den Zettel weggelegt, ich gehe sofort und hole ihn.« Geschäftig eilte sie davon, Lansing wartete. Nach einer Weile kam sie zurück. Sie hatte eine Flasche und einen Krug dabei, die sie vor Lansing auf den Tisch stellte.
»Ich weiß nicht, was passiert ist«, sagte sie, »aber ich kann den Zettel nicht finden. Ich muß ihn verlegt haben.«
Mit einem Satz war Lansing aufgesprungen und brüllte sie an:
»Wie können Sie einen Brief verlegen? Einen Brief, der Ihnen erst heute morgen ausgehändigt worden ist?«
»Ich weiß selbst nicht, wie es geschehen konnte, mein Herr.
Aber offensichtlich habe ich es getan.«
»Dann sehen Sie noch einmal nach.«
»Ich habe schon überall gesucht«, sagte sie. »Er ist nicht dort, wo ich dachte. Und anderswo ist er auch nicht.«
Lansing ließ sich in den Sessel fallen. Die Wirtin schenkte von dem Getränk ein und reichte ihm den Krug. »Ich werde Feuer machen, damit Sie sich ein wenig aufwärmen können«, sagte sie. »Dann koche ich Ihnen etwas zu essen. Sie sind sicher hungrig.«
»Ja, das bin ich«, brummte Lansing.
»Die Dame«, begann die Frau, »hatte kein Geld.«
»Verdammt!« schrie Lansing. »Ich werde ihre Rechnung schon bezahlen. Was diesen Brief angeht, sind Sie ganz sicher, daß er nicht mehr da ist?«
»Ganz sicher, mein Herr.«
Lansing saß niedergeschlagen im Sessel, trank und beobachtete die Wirtin beim Feuermachen.
»Werden Sie über Nacht bleiben?« fragte sie.
»Ja, das habe ich vor«, erwiderte er. »Morgen früh reise ich wieder ab.«
Wohin konnte Mary gegangen sein, fragte er sich. Zurück zum singenden Turm, um dort auf ihn zu warten? Oder quer durch die Badlands wieder zur Stadt? Nein, nicht zur Stadt, dachte er, dorthin sicher nicht. Obwohl, ganz unmöglich war auch das nicht.
Nein, es war sogar recht gut möglich. Vielleicht hatte sie sich an etwas erinnert, das wert war, näher untersucht zu werden. Irgendein Aspekt, der beim erstenmal übersehen worden war. Die Frage war nur, warum sie nicht hier auf ihn gewartet hatte. Sie mußte doch wissen, daß er ihr folgen würde.
Er saß grübelnd am Feuer und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Als die Wirtin hereinkam und ihm sein Abendbrot brachte, hatte er seine Entscheidung gefällt. Zunächst würde er zum singenden Turm zurückgehen, und wenn Mary nicht dort war, würde er wieder von vorn anfangen - vom Turm zurück zum Gasthaus und dann zur Stadt. Wenn Mary auch dort nicht war, dann weiter zurück bis zum Würfel. Ihm war eingefallen, daß Mary immer gedacht hatte, die Antwort müsse beim Würfel zu finden sein.
28
Lansing war nur noch ein paar Stunden vom Turm entfernt, als ihm die anderen beiden, Jorgenson und Melissa, auf dem Pfad entgegenkamen.
»Mein Gott«, sagte Jorgenson, »bin ich froh, daß wir Sie treffen. Beim Turm war niemand.«
»Niemand außer Sandra, und die war tot«, sagte Melissa. »Wo sind die anderen beiden?« fragte Jorgenson. »Jürgens ist im Chaos verschwunden«, berichtete Lansing, »und wo Mary ist, weiß ich selbst nicht. Sie haben auch kein Anzeichen von ihr entdeckt?«
»Nein, absolut nichts«, erwiderte Jorgenson. »Wo, glauben Sie denn, könnte sie sein?«
»Sie ist im Gasthaus gewesen. Ich dachte, sie würde vielleicht zum Turm zurückkehren. Da sie das offensichtlich nicht getan hat, nehme ich an, sie ist zur Stadt aufgebrochen.« »Sie müßte doch eine Nachricht für Sie hinterlassen haben«, warf Melissa ein. »Sie beide sind ja eng befreundet.« »Sie hat auch einen Brief hinterlassen«, sagte Lansing. »Aber er ist verschwunden. Die Wirtin kann ihn nicht mehr finden. Ich habe ihr, bevor ich aufgebrochen bin, noch suchen geholfen.« »Sonderbar«, meinte Jorgenson.
»Ja, sehr sonderbar. Hier scheint sich alles gegen uns verschworen zu haben.«
»Was ist mit Jürgens geschehen?« fragte Melissa. »Ich konnte ihn gut leiden. Er war eine gute Seele.«
Lansing erzählte es ihnen knapp, dann fragte er: »Was ist im Westen? Haben Sie dort irgend etwas gefunden?« »Wir haben nichts entdeckt«, sagte Jorgenson. »Wir sind ein paar Tage länger geblieben, als wir ursprünglich vorhatten, weil wir hofften, doch noch etwas zu finden. Das Land dort ist sehr karg, keine echte Wüste, aber fast eine. Wir hatten Sorgen wegen des Wassers, sind aber zurechtgekommen.« »Nur leeres Land«, sagte Melissa. »Sie können meilenweit schauen, aber es ist nichts zu sehen.«
»Schließlich kamen wir an den Rand der Hochebene, durch die wir gereist waren«, begann Jorgenson von neuem. »Wir wußten natürlich nicht, daß wir eine Hochebene überquerten. Aber dann fiel das Land steil ab, und dort unten war Wüste, wirkliche Wüste. Sand, sonst nichts. Sie erstreckte sich, so weit das Auge reichte, und war, falls das möglich ist, leerer als das Land, das wir vorher durchquert hatten. Also sind wir umgekehrt.«
»Chaos im Norden und nichts im Westen«, faßte Lansing zusammen. »Bleibt noch der Süden. Aber ich werde nicht nach Süden gehen. Ich gehe in die Stadt zurück, ich glaube, daß Mary dort ist.«
»Es ist schon fast Abend«, sagte Jorgenson. »Sollten wir nicht lieber ein Lager aufschlagen? Wir brechen morgen auf, und heute abend entscheiden wir in Ruhe, was wir tun wollen.« »Meinetwegen«, erwiderte Lansing. »Zum Turm zurückzukehren hat keinen Sinn, weil Sie ja gerade von dort kommen. Erzählen Sie mir von Sandra. Haben Sie sie begraben?« Melissa schüttelte den Kopf. »Wir haben darüber gesprochen, aber wir konnten es nicht. Es erschien uns nicht richtig. Wir beschlossen, sie nicht anzurühren. Sie sieht fast aus wie eine Mumie. Ich glaube, sie ist so gestorben, wie sie es sich gewünscht hat. Wir hielten es für das beste, sie so zu lassen, wie sie war.«
Lansing nickte. »Ich habe fast die gleichen Überlegungen angestellt. Ich habe mich sogar gefragt, ob sie überhaupt gestorben ist, denn als ich sie ansah, schien es mir beinahe so, als ob sie nur fortgegangen sei, als ob ihr Geist und ihre Lebenskraft an einen anderen Ort gezogen wären und den Körper als wertlose Hülle zurückgelassen hätten.«
»Ich glaube, Sie haben recht«, sagte Melissa. »Sandra war anders als wir, sie war keine von uns. Was für uns richtig ist, mußte für sie nicht richtig sein.«