III. Luna

1

Selene Lindstrom lächelte freundlich und ging mit jenem leicht federnden Gang voraus, der die Touristen immer etwas erstaunte, ehe sie sich daran gewöhnten und ihn dann als durchaus reizvoll empfanden.

»Zeit zum Mittagessen«, sagte sie fröhlich. »Alles hier bei uns gewachsen, meine Damen und Herren. Der Geschmack ist vielleicht ungewohnt, aber es ist alles sehr nahrhaft. Hier bitte, Sir. Es macht Ihnen sicher nichts aus, bei den Damen zu sitzen… Einen Augenblick. Es sind genügend Plätze da… Tut mir leid, die Getränke können Sie aussuchen, aber es gibt nur ein Gericht. Kalbfleisch… Nein, nein. Kunstgeschmack natürlich, aber es ist sehr gut.«

Nun setzte sie sich ebenfalls — begleitet von einem leisen Seufzen und einem noch unmerklicheren Zucken ihres freundlichen Lächelns.

Ein Mann aus der Gruppe setzte sich ihr gegenüber. »Haben Sie etwas dagegen?« fragte er.

Sie musterte ihn, schnell, durchdringend. Sie besaß natürlich die Fähigkeit, sich ein rasches Urteil zu bilden, und er wirkte nicht aufdringlich. »Aber im Gegenteil«, antwortete sie. »Sind Sie denn nicht in Begleitung?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin allein. Selbst wenn das nicht der Fall wäre — Erdchen sind mir eigentlich nicht besonders angenehm.«

Nun musterte sie ihn eingehender. Er war etwa fünfzig und machte einen erschöpften Eindruck, dem nur seine hellen, neugierigen Augen entgegenwirkten. Dem Ansehen nach war er eindeutig ein Erdmensch — schwer belastet durch die Schwerkraft.«

»Erdchen« ist aber ein Mondausdruck«, sagte sie, »und außerdem gar nicht nett.«

»Ich komme von der Erde und kann ihn dann doch wohl gebrauchen, wie ich will. Es sei denn, Sie hätten etwas dagegen.«

Selene zuckte die Achseln, als wollte sie sagen: Machen Sie, was Sie wollen.

Sie hatte einen entfernt orientalischen Zug um die Augen, der ihm schon bei vielen Mondmädchen aufgefallen war, doch ihr Haar war honigfarben, und ihre Nase ragte keck hervor. Alles in allem war sie attraktiv, ohne klassisch schön zu sein.

Der Mann von der Erde starrte auf das Namensschild, das sie an ihrer Bluse über der hohen, nicht zu großen linken Brust trug. Sie kam zu dem Schluß, daß er wirklich nur das Namensschild betrachtete und nicht die Brust, obwohl die Bluse halb durchsichtig war, wenn das Licht in einem bestimmten Winkel auf den Stoff traf, und obwohl sie nichts darunter trug.

»Gibt es denn viele Selenes hier?« fragte er.

»O ja. Hunderte. Und auch Cynthias, Dianas und viele Mädchen namens Artemis. Selene ist ein bißchen unschön. Von den Selenes, die ich kenne, wird die eine Hälfte »Silly« genannt und die andere »Lene«.«

»Und in welche Kategorie fallen Sie?«

»In keine. Ich bin einfach Selene, mit drei Silben. Selene«, sagte sie und betonte stark die erste Silbe, »jedenfalls für die, die überhaupt meinen Vornamen verwenden.«

Das kleine Lächeln auf dem Gesicht des Erdmannes sah aus, als ob er nicht oft lächelte.

Eine Kellnerin trat an ihren Tisch und stellte mit schnellen, gleitenden Bewegungen die Teller ab.

Der Mann von der Erde war sichtlich beeindruckt. »Es scheint ja fast, als ließen Sie die Teller herabschweben«, meinte er, zu der Kellnerin gewandt.

Die Kellnerin lächelte und verschwand.

»Versuchen Sie es ihr nur nicht nachzumachen«, sagte Selene. »Sie ist die Schwerkraft gewöhnt und kann damit umgehen.«

»Und wenn ich es versuche, lasse ich alles fallen? Richtig?«

»Es würde ein fürchterliches Durcheinander geben.«

»Dann laß ich es lieber sein.«

»Die Chancen stehen gut, daß es doch jemand versucht, und dann segelt der Teller zu Boden. Der Übeltäter greift unweigerlich danach und verfehlt sein Ziel, und ich wette zehn zu eins, daß er dabei aus dem Stuhl gehoben wird. Ich würde ja alle davor warnen, aber das ist ohnehin sinnlos, und wenn es dann trotzdem geschieht, sind die Betroffenen nur noch aufgeregter. Natürlich lachen die anderen, die Touristen — denn wir Eingeborenen haben das schon zu oft gesehen, um es lustig zu finden, und man muß hinterher immer fürchterlich aufwischen.«

Der Mann von der Erde hob vorsichtig seine Gabel. »Ich verstehe. Sogar die einfachste Bewegung hat etwas Seltsames.«

»Eigentlich gewöhnt man sich sehr schnell daran. Wenigstens an Kleinigkeiten wie das Essen. Das Gehen ist schon schwerer. Ich habe noch keinen Erdenmenschen hier draußen vernünftig laufen sehen. Jedenfalls nicht wirklich kraftsparend.«

Eine Zeitlang aßen sie schweigend. Dann fragte er: »Was bedeutet denn das L.?« Wieder war sein Blick auf ihr Namensschild gerichtet. Es lautete: »Selene Lindstrom L.«

»Luna, weiter nichts«, antwortete sie ziemlich gleichgültig, »damit ich mich von den Immigranten unterscheide. Ich bin hier geboren.«

»Wirklich?«

»Das ist gar nicht so verwunderlich. Immerhin haben wir schon seit über einem halben Jahrhundert eine funktionierende Gesellschaft hier oben. Glauben Sie etwa, bei uns werden keine Babies geboren? Es gibt Leute, die hier geboren sind und schon Großkinder haben.«

»Wie alt sind Sie?«

»Zweiunddreißig«, erwiderte sie.

Er sah sie verblüfft an und murmelte schließlich: »Natürlich.«

Selene hob die Augenbrauen. »Sie wissen also Bescheid? Den meisten Fremden muß man es erst erklären.«

»Ich weiß jedenfalls, daß die meisten sichtbaren Alterserscheinungen dem unweigerlichen Sieg der Schwerkraft über das Körpergewebe entspringen — die Schlaffheit der Wangen, das Herabhängen der Brüste. Da die Mondschwerkraft nur ein Sechstel der Erdgravitation beträgt, ist es eigentlich leicht begreiflich, daß die Menschen hier sehr lange jung aussehen.«

»Jung aussehen — das ist es«, meinte Selene. »Wir sind keinesfalls unsterblich. Unsere Lebenserwartung ist etwa so groß wie die der Erdbewohner, doch haben wir meistens ein angenehmeres Alter.«

»Das ist nicht zu unterschätzen… Natürlich gibt es auch Nachteile, nehme ich an.« Der Mann hatte eben zum erstenmal von seinem Kaffee gekostet. »Da wäre zum Beispiel dieses…« Er suchte nach einem Wort und gab es schließlich auf.

»Wir könnten natürlich Lebensmittel und Getränke von der Erde importieren«, sagte sie amüsiert, »aber nur so viel, daß sich damit ein winziger Teil der Bevölkerung für kurze Zeit ernähren ließe. Das wäre sinnlos, solange wir den Laderaum für lebenswichtigere Dinge zur Verfügung haben. Außerdem sind wir das Zeug gewöhnt — oder wollten sie etwa ein stärkeres Wort verwenden?«

»Nicht für den Kaffee«, entgegnete er. »Das wollte ich mir für das Essen aufheben. Aber »Zeug« kommt schon hin… Sagen Sie… auf dem Plan für die Tour habe ich das Protonensynchrotron vermißt.«

»Das Protonensynchrotron?« Sie leerte ihre Tasse und begann sich umzusehen, als versuchte sie den richtigen Augenblick abzuschätzen, ihre Schäfchen wieder auf die Beine zu bringen. »Das steht unter terrestrischer Verwaltung und ist Touristen leider nicht zugänglich.«

»Auch Lunarier dürfen nicht heran?«

»O doch. Das Personal besteht sogar hauptsächlich aus Lunariern. Aber es ist die terrestrische Regierung, die dort zu bestimmen hat. Keine Touristen.«

»Ich würde es sehr gern sehen«, sagte er.

»Daran zweifle ich nicht… Sie haben mir Glück gebracht; kein Teller, kein Tourist am Boden.«

Sie stand auf und rief: »Meine Damen und Herren, in etwa zehn Minuten geht es weiter. Bitte lassen Sie die Teller einfach stehen. Die Toiletten hier stehen zu Ihrer Verfügung. Anschließend besuchen wir die Nahrungsmittelfabriken, in denen Mahlzeiten, wie Sie sie eben genossen haben, hergestellt werden.«

2

Selenes Unterkunft war natürlich nur klein und kompakt, doch sehr durchdacht. Die Fenster boten einen Panoramablick; Weltallszenen, die sich langsam und willkürlich veränderten, ohne Ähnlichkeit mit realen Konstellationen. Jedes der drei Fenster konnte nach Belieben auf teleskopartige Vergrößerung eingestellt werden.

Barron Neville mochte die Fenster nicht. Bei jedem Besuch schaltete er sie mit heftiger Bewegung ab mit der Bemerkung: »Wie hältst du das nur aus? Du bist die einzige, die einen so schlechten Geschmack hat. Wenn diese Nebel und Sternenhaufen wenigstens existieren würden!«

Und Selene zuckte kühl die Achseln und erwiderte: »Was ist schon Existenz? Woher willst du wissen, daß die anderen Sterne da draußen wirklich existieren? Außerdem geben mir die Fenster ein Gefühl der Freiheit und Bewegung. Darf ich mir das in meiner Privatunterkunft nicht gönnen, bitte sehr?« Neville pflegte dann etwas zu murmeln und den halbherzigen Versuch zu machen, die Kontrollen wieder so einzustellen, wie er sie vorgefunden hatte.

Die Möbel waren angenehm gerundet und die Wände mit abstrakten Mustern in weichen, unauffälligen Farben bemalt. Die Darstellung von etwas Lebendigem fehlte allerdings völlig.

»Leben ist typisch für die Erde«, erklärte Selene, wenn sie darauf angesprochen wurde, »nicht für den Mond.«

Als sie jetzt nach Hause kam, fand sie wie so oft Neville in ihrem Zimmer; Barron Neville, der auf der schmalen Couch ruhte. Eine Sandale hatte er abgestreift, und über seinem Bauchnabel, wo er sich gekratzt hatte, schimmerte eine Reihe roter Stellen.

»Machst du uns etwas Kaffee, Barron?« bat sie und glitt, begleitet von einem erleichterten Aufseufzen, mit anmutiger Bewegung aus ihren Kleidern, die sie achtlos zu Boden warf und mit einem Fuß in die Ecke stieß.

»Endlich erlöst«, sagte sie. »Das ist das Schlimmste an der Arbeit — daß man sich wie ein Erdchen anziehen muß.«

Neville in der Küchenecke kümmerte sich nicht um sie; den Ausspruch kannte er schon. »Was ist mit deinem Wasservorrat?« fragte er. »Es ist ja kaum noch etwas da.«

»O wirklich? Da bin ich wohl ziemlich verschwenderisch gewesen. Hab Geduld.«

»Irgendwelche Probleme heute?«

Selene zuckte die Achseln. »Nein. Alles ganz normal. Das Übliche — man sieht, wie sie unsicher dahinschwanken, wie sie so tun, als ob ihnen das Essen nicht zuwider ist, und man weiß, sie überlegen, ob man nicht von ihnen verlangen wird, die Kleidung abzulegen.… Ekelerregende Vorstellung.«

»Wirst du etwa prüde auf deine alten Tage?« Er stellte die beiden kleinen Tassen auf den Tisch.

»In diesem Falle ist Prüderie durchaus angebracht. Die Erdchen sind faltig, schwabbelig, unförmig und voller Bazillen. Quarantänevorschriften hin, Quarantänevorschriften her — sie sind voller Bakterien… Was gibt’s bei dir Neues?«

Barron schüttelte den Kopf. Für einen Lunarier war er ziemlich schwer gebaut, und bis auf ein verdrossenes Verengen seiner Augen, das er sich angewöhnt hatte, waren seine Züge ganz ebenmäßig. Selene fand ihn bemerkenswert gutaussehend.

»Nichts Besonderes«, sagte er. »Wir warten noch immer auf den Nachfolger des Hochkommissars. Mal sehen, wie dieser Gottstein ist.«

»Kann er Schwierigkeiten machen?«

»Keine, die wir nicht schon kennen. Was können sie schon unternehmen? Sie können uns nicht unterwandern. Ein Erdchen läßt sich nicht als Lunarier ausgeben.« Er machte trotzdem nicht den zufriedensten Eindruck.

Selene nippte an ihrem Kaffee und blickte ihn schräg von der Seite an. »Es mag Lunarier geben, die im Geiste Erdchen sind.«

»Ja, und ich würde gern ihre Namen wissen. Manchmal glaube ich niemandem mehr trauen zu können, nicht einmal…Na ja. Ich verwende unglaublich viel Zeit auf mein Synchrotron-Projekt und komme nicht weiter. Ich habe kein Glück mit meinen Prioritäten.«

»Wahrscheinlich trauen sie dir nicht, und das kann ich ihnen nicht einmal übelnehmen. Wenn du nur nicht so geheimnisvoll herumschleichen würdest.«

»Nichts dergleichen! Es wäre mir eine Freude, dem Synchrotron den Rücken zu kehren und mich dort nie wieder blicken zu lassen, aber dann würden sie noch wirklich mißtrauisch… Wenn du so mit dem Wasser geplanscht hast, Selene, haben wir wohl nicht genug für eine zweite Tasse, oder?«

»Nein. Und wo du schon davon anfängst — du hast mir ganz schön geholfen. In der letzten Woche hast du zweimal hier geduscht.«

»Ich gebe dir einen Wasserkredit. Ich wußte ja gar nicht, daß du mitrechnest.«

»Ich rechne nicht — der Wasserstandsanzeiger tut’s!«

Sie leerte ihre Tasse und starrte nachdenklich hinein. »Sie verziehen immer das Gesicht beim Trinken. Die Touristen, meine ich. Ich kann mir einfach nicht denken, warum. Schmeckt doch ganz ordentlich. Hast du schon mal Erdkaffee getrunken, Barron?«

»Nein«, erwiderte er kurz.

»Ich aber. Einmal. Ein Tourist hatte ein paar Pakete sogenannten Pulverkaffee heraufgeschmuggelt. Er bot mir davon im Austausch gegen du-weißt-schon. Schien es für ein gutes Angebot zu halten.«

»Und du hast welchen getrunken?«

»Ich war neugierig. Er schmeckte bitter und metallisch. Gefiel mir ganz und gar nicht. Dann sagte ich ihm, daß Rassenmischung gegen die lunarischen Gesetze verstieße, und da wurde er auch ganz bitter und metallisch.«

»Das hast du mir ja noch gar nicht erzählt. Er hat doch nicht etwa versucht…«

»Das geht dich doch wohl kaum etwas an. Aber nein, er hat nichts versucht. Es wäre auch die falsche Schwerkraft für ihn gewesen, und ich hätte ihn von hier bis in Korridor I hinuntergestoßen. Oh. Ich habe heute ein anderes Erdchen an Land gezogen«, fuhr sie fort. »Er wollte unbedingt bei mir am Tisch sitzen.«

»Und was bot er dir für das Pimpern, das du so zartfühlend mit du-weißt-schon umschreibst?«

»Er saß einfach nur da.«

»Und starrte deine Brüste an?«

»Dazu sind sie da — aber das hat er gar nicht getan. Er starrte auf mein Namensschild… Was kümmern dich außerdem seine Gedanken? Die Phantasie ist frei, und ich brauche seine Träume ja nicht wahr werden zu lassen. Was, meinst du, wünsche ich mir denn? Mit einem Mann von der Erde ins Bett zu gehen? Mit all dem Brimborium, das man von jemandem erwarten muß, der sich in einer fremden Schwerkraft bewegt? Ich will ja nicht behaupten, daß es das noch nie gegeben hat, aber nicht mit mir, und etwas Gutes habe ich auch noch nicht darüber gehört. Ist das also erledigt? Kann ich wieder auf den Mann zurückkommen? Der fast fünfzig ist? Und der offenbar schon mit zwanzig nicht besonders gut aussah… Allerdings eine interessante Erscheinung, das muß ich ihm zubilligen.«

»Schon gut, ich brauche deine Beschreibung nicht. Was ist denn mit ihm?«

»Er fragte nach dem Protonensynchrotron.«

Neville fuhr auf, ein wenig schwankend, wie es nach einer schnellen Bewegung in der niedrigen Schwerkraft fast unvermeidlich war. »Was wollte er denn darüber wissen?«

»Nichts. Warum bist du so aufgeregt? Du hast mich gebeten, dich über alles zu unterrichten, was mir bei den Touristen irgendwie auffällt — und das schien mir absonderlich genug. Bisher hat sich noch keiner nach dem Protonensynchrotron erkundigt.«

»Schon gut.« Er schwieg einen Augenblick und fuhr mit normaler Stimme fort. »Warum interessiert er sich für das Synchrotron?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, antwortete Selene. »Er fragte mich nur, ob er es sehen könnte. Vielleicht ist er ein Tourist, der sich zufällig auch für die Wissenschaften interessiert. Kann genausogut sein, daß er nur mein Interesse erwecken wollte.«

»Nehmen wir einmal an, das hat er geschafft. Wie heißt er?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nicht gefragt.«

»Warum nicht?«

»Weil ich kein Interesse an ihm habe. Wie hättest du’s gern? Außerdem zeigt seine Frage, daß er wirklich Tourist ist. Als Physiker würde er doch nicht fragen — er wäre längst dort.«

»Meine liebe Selene«, sagte Neville. »Laß dir mal etwas erklären. Unter den gegebenen Umständen ist jeder Bursche, der das Protonensynchrotron sehen möchte, interessant genug, daß wir mehr über ihn wissen möchten. Und warum fragt er ausgerechnet dich?« Mit schnellen Schritten lief er ein paarmal hin und her, als wollte er ein wenig Energie abreagieren. Dann fuhr er fort: »Du bist doch Expertin für diesen Unsinn. Findest du ihn interessant?«

»Sexuell?«

»Du weißt, was ich meine. Laß deine Spielchen, Selene!«

Selene antwortete mit deutlichem Widerstreben: »Er ist interessant, sogar irgendwie aufregend. Ich weiß nicht, warum. Er hat überhaupt nichts gesagt oder getan.«

»Interessant und aufreizend, soso? Dann triffst du dich noch einmal mit ihm!«

»Um was zu tun?«

»Wie soll ich das wissen? Das ist deine Aufgabe. Stell seinen Namen fest. Versuch alles über ihn herauszubekommen. Du hast doch Köpfchen, also übe es zur Abwechslung mal ein wenig in nützlicher Neugier.«

»Na schön«, sagte sie, »Befehl von ganz oben. Schon gut, schon gut.

3

Schon in der Größe unterschied sich die Unterkunft des Hochkommissars nicht von den Wohnräumen anderer Lunarier. Es gab einfach keinen Platz auf dem Mond, nicht einmal für die terrestrischen Abgesandten; keine luxuriöse Verschwendung, nicht einmal als Geste gegenüber dem Heimatplaneten. Auch hätte sich selbst für die Größten der Erdgeschichte jene überwältigend klare Tatsache nicht ändern lassen — daß der Mond eine Untergrundwelt mit sehr niedriger Schwerkraft war.

»Der Mensch ist noch immer das Ergebnis seiner Umgebung«, seufzte Luis Montez. »Ich bin nun zwei Jahre auf dem Mond gewesen, und es hat Augenblicke gegeben, da ich gern länger geblieben wäre, aber… Die Jahre warten nicht. Ich habe gerade meinen vierzigsten Geburtstag hinter mir, und wenn ich überhaupt wieder auf die Erde zurück will, muß es jetzt geschehen. Warte ich noch länger, gewöhne ich mich nicht wieder an die volle Schwerkraft da unten.«

Konrad Gottstein war erst vierunddreißig und sah womöglich noch jünger aus. Er hatte ein breites, rundes, großflächiges Gesicht — die Art Gesicht, die man bei den Lunariern nicht zu sehen bekam, wie sie hier aber auf jeder Erdchen-Karikatur zu sehen war. Er war nicht sonderlich füllig von Gestalt — es hatte keinen Sinn, schwere Männer auf den Mond zu schicken, und sein Kopf machte den Eindruck, als wäre er zu groß für den Körper.

Er sagte (und er sprach die Planetarische Standardsprache mit einem merklich anderen Akzent als Montez): »Das klingt ja fast wie eine Rechtfertigung.«

»Ist es auch«, erwiderte Montez. Während Gottsteins Gesicht durch und durch gutmütig wirkte, gewann Montez’ Gesicht mit seinen langen dünnen Linien fast tragikomische Züge. »Und zwar in doppelter Hinsicht. Ich bedaure es, den Mond zu verlassen, da er eine attraktive, erregende Welt ist. Und ich bedaure mein Bedauern; ich bin beschämt, daß es mir widerstrebt, die Bürde der Erde wieder auf mich zu nehmen — die Schwerkraft und alles andere.«

»Ja, ich kann mir vorstellen, daß es nicht leicht ist, die anderen fünf Sechstel wieder hinzunehmen. Ich bin erst ein paar Tage auf dem Mond, und das eine Sechstel gefällt mir schon ausgezeichnet.«

»Das wird sich ändern, wenn die Verstopfung einsetzt und Sie von Rizinus leben«, seufzte Montez, »aber es geht vorbei… Und bilden Sie sich bitte nicht ein, die Gazelle spielen zu können, nur weil Ihnen so leichtfüßig zumute ist. Die Sache ist eine Kunst.«

»Das habe ich schon mitbekommen.«

»Sie glauben, daß Sie es mitbekommen haben, Gottstein. Haben Sie schon einmal ein Känguruh laufen sehen?«

»Im Fernsehen.«

»Das gibt Ihnen noch nicht das richtige Gefühl. Sie müssen es selbst versuchen. Das ist nämlich die beste Art, eine ebene Mondfläche mit größtmöglicher Geschwindigkeit zu überqueren. Die Füße bewegen sich gemeinsam nach hinten und stoßen Sie hoch — etwas, das auf der Erde ein einfacher Sprung wäre. Während Sie in der Luft sind, bewegen sich die Beine nach vorn, fahren aber schon wieder nach hinten, ehe sie den Boden berühren, und halten Sie auf diese Weise oben — und so weiter. Bei der niedrigen Schwerkraft erscheint der Vorgang sehr langsam, aber mit jedem Sprung legt man über sechs Meter zurück, und es ist nur sehr wenig Muskelkraft erforderlich, um den Körper in der Luft zu halten — wenn es da Luft gäbe. Es ist, als ob man fliegt…«

»Haben Sie’s schon versucht? Können Sie es?«

»Ich habe es versucht, aber im Grunde bringt es kein Erdenbürger fertig. Ich habe bis zu fünf Sprünge hintereinander geschafft was ausreicht, um einen auf den Geschmack zu bringen, aber dann kommt die unweigerliche Fehlberechnung, eine Nachlässigkeit des körperlichen Ablaufs, und man überschlägt sich und gleitet einige hundert Meter weit dahin. Aber die Lunarier sind höflich und lachen Sie niemals aus. Natürlich fällt ihnen selbst das Laufen leicht. Sie erlernen es mühelos schon im jüngsten Alter.«

»Es ist ja auch ihre Welt«, sagte Gottstein und lachte leise. »Überlegen Sie nur mal, wie sie sich auf der Erde anstellen würden.«

»Undenkbar. Sie können nicht auf die Erde. Das mag ein Vorteil für uns sein. Wir können uns sowohl auf dem Mond als auch auf der Erde bewegen. Sie sind an den Mond gefesselt. Wir vergessen das leicht, weil wir die Lunarier oft mit den Immis verwechseln.«

»Womit?«

»So werden hier die Immigranten von der Erde genannt; jene Menschen, die mehr oder weniger ständig auf dem Mond leben, die jedoch auf der Erde geboren und großgezogen wurden. Die Immigranten können natürlich zur Erde zurückkehren, aber die richtigen Lunarier haben weder die Knochen noch die Muskeln für die irdische Schwerkraft. In der Geschichte des Mondes hat es darum schon einige Tragödien gegeben.«

»Oh?«

»Ja. Leute, die mit ihren mondgeborenen Kindern zurückkehrten. Wir hatten diese Opfer schnell vergessen. Wir hatten auf der Erde immerhin unsere Krise, und angesichts der gewaltigen Verluste im späten zwanzigsten Jahrhundert und in den folgenden Jahren waren ein paar sterbende Kinder nicht weiter wichtig. Hier auf dem Mond jedoch erinnert man sich an jeden Lunarier, der der Erdschwerkraft zum Opfer fiel.«

Gottstein runzelte die Stirn. »Ich glaubte, ich wäre wirklich gut vorbereitet, aber es sieht so aus, als hätte ich noch viel zu lernen.«

»Auf der Erde läßt sich unmöglich alles über den Mond erfahren. Ich habe Ihnen daher einen vollständigen Bericht hinterlassen — wie es auch schon mein Vorgänger tat. Sie werden den Mond bestimmt faszinierend finden und in mancher Beziehung auch unmöglich. Ich bezweifle, daß Sie auf der Erde schon mit lunarischer Nahrung in Berührung gekommen sind; wenn Sie also nur durch Beschreibungen darauf vorbereitet sind, stehen Ihnen noch einige Überraschungen bevor… Aber Sie werden es lernen müssen, das Zeug zu mögen. Es macht nur böses Blut, wenn man Dinge von der Erde heraufbringen läßt. Wir müssen schon mit den örtlichen Lebensmitteln und Getränken vorliebnehmen.«

»Wenn Sie zwei Jahre lang durchgehalten haben, werde ich es auch überleben.«

»Es hat durchaus Unterbrechungen gegeben. In regelmäßigen Abständen bin ich auf der Erde gewesen. Das muß sein, ob man will oder nicht. Ich bin sicher, man hat Ihnen die Gründe erklärt.«

»Ja«, erwiderte Gottstein.

»Trotz der Gymnastik, die Sie hier vielleicht treiben, müssen Sie sich von Zeit zu Zeit der vollen Schwerkraft aussetzen, um Ihre Knochen und Muskeln mal merken zu lassen, wie das so ist. Und bei dieser Gelegenheit schlagen Sie sich auch richtig voll. Gelegentlich wird auch etwas mit heraufgeschmuggelt.«

»Mein Gepäck wurde natürlich sorgfältig untersucht«, sagte Gottstein. »Aber es stellte sich heraus, daß da in meiner Manteltasche noch eine Dose Cornedbeef war, die ich übersehen hatte. Die Lunarier ebenfalls.«

Montez lächelte. »Und Sie wollen mir jetzt anbieten, die Dose mit Ihnen zu teilen?«

»Nein«, antwortete Gottstein verständnisvoll und kräuselte seine Knopfnase. »Ich wollte Ihnen mit aller tragischen Vornehmheit, die mir zu Gebote stand, die Dose anbieten und sagen: »Hier, Montez, nehmen Sie alles! Ihre Not ist größer denn die meine!«

Montez lachte und wurde wieder ernst. Er schüttelte den Kopf. »Nein. Nächste Woche kann ich essen, soviel ich will. Sie aber nicht. In den kommenden Jahren werden Sie nur wenige gute Bissen vorgesetzt bekommen und würden Ihre heutige Großzügigkeit zu sehr bedauern. Behalten Sie die Dose ruhig… ich bestehe darauf. Ich würde mir nur ex post facto ihren Haß zuziehen.«

Er schien es ernst zu meinen. Er hatte Gottstein die Hand auf die Schulter gelegt und schaute ihm in die Augen. »Außerdem möchte ich noch etwas mit Ihnen besprechen, das ich so lange hinausgeschoben habe, weil ich nicht recht weiß, wie ich es Ihnen beibringen soll. Das Fleisch wäre nur eine Entschuldigung, weiter darum herumzureden.«

Gottstein steckte die Dose sofort weg. Seine Stimme war ernst und gemessen, als er sagte: »Gibt es etwas, das Sie in Ihren Depeschen nicht erwähnen konnten, Montez?«

»Es gibt da etwas, das ich deutlich zu machen suchte, Gottstein, aber da ich nicht recht wußte, wie ich es formulieren sollte und die Erde mich nicht begreifen wollte, lief es darauf hinaus, daß wir einfach keinen Kontakt fanden. Vielleicht geht es Ihnen da besser. Ich hoffe es jedenfalls. Einer der Gründe, warum ich nicht um eine Verlängerung hier oben gebeten habe, ist die Tatsache, daß ich dieses Unvermögen nicht länger verantworten kann.«

»Das hört sich aber sehr ernst an.«

»Ich wünschte, ich könnte Ihnen die wirkliche Tragweite verständlich machen. Ehrlich gesagt klingt es wie dummes Geschwätz.

Es gibt etwa zehntausend Menschen in der Lunar-Kolonie. Weniger als die Hälfte sind eingeborene Lunarier. Ihre Möglichkeiten sind gering, sie haben wenig Platz, sie stehen einer unfreundlichen Umwelt gegenüber — und doch… und doch…«

»Und doch?« fragte Gottstein aufmunternd.

»Es geht etwas vor hier oben — ich weiß nicht genau was, das gefährlich werden kann.«

»Inwiefern kann es gefährlich werden? Was könnten sie tun? Einen Krieg gegen die Erde anzetteln?« Gottsteins Mundwinkel zuckten am Rande eines Lächelns.

»Nein, nein, die Sache geht tiefer.« Montez legte die Hände vor das Gesicht und rieb sich ungeduldig die Augen. »Ich möchte offen sein. Die Erde hat ihren Schwung verloren.«

»Was soll das heißen?«

»Nun, wie würden Sie es nennen? Etwa zu der Zeit, da die Lunar-Kolonie gegründet wurde, erlebte die Erde ihre Große Krise. Darüber brauche ich wohl nichts weiter zu sagen.«

»Allerdings nicht«, sagte Gottstein düster.

»Die Erde hat nun wieder zwei Milliarden Bewohner, nachdem die Höchstbevölkerungszahl vor der Großen Krise sechs Milliarden betrug.«

»Und die Erde ist damit nun viel besser dran, nicht wahr?«

»Oh, zweifellos, obwohl ich wünschte, es hätte eine andere Art der Bevölkerungsreduzierung gegeben… Jedenfalls hat die Epoche ein unausrottbares Mißtrauen vor aller Technologie hinterlassen; eine allseitige Trägheit, Veränderungen zu riskieren, weil das Nebenwirkungen haben könnte. Große und möglicherweise gefährliche Unternehmen wurden eingestellt, weil mehr die Gefahr gefürchtet als die Größe erstrebt wurde.«

»Ich vermute, Sie meinen das genetische Formungsprogramm.«

»Das ist natürlich der spektakulärste Fall, doch nicht der einzige«, entgegnete Montez erbittert.

»Offen gesagt kann ich mich nicht besonders über den Abbruch des genetischen Formungsprogramms aufregen. War doch nur eine Kette von Fehlschlägen.«

»Aber wir ließen damit unsere Chance auf den Intuitionismus fahren.«

»Es fehlt jeder Hinweis darauf, daß der Intuitionismus wirklich so wünschenswert ist — eher gibt es Anzeichen für das Gegenteil… Was ist außerdem mit der Lunar-Kolonie, die doch gewiß kein Symptom für eine Stagnation auf der Erde ist?«

»O doch!« widersprach Montez heftig. »Die Lunar-Kolonie ist ein Überbleibsel, ein letzter Rest aus der Zeit vor der Krise; etwas, das als letzter trauriger Vorstoß der Menschheit gelten kann, ehe dann der große Rückzug einsetzte.«

»Sie sehen das zu dramatisch, Montez.«

»Ich glaube nicht. Die Erde hat sich zurückgezogen. Die Menschheit hat sich überall zurückgezogen — nur nicht auf dem Mond. Die Lunar-Kolonie ist das menschliche Grenzland jetzt nicht nur physikalisch, sondern auch psychologisch. Hier haben wir eine Welt ohne Lebensfäden, die unterbrochen werden könnten; einen Lebensbereich ohne komplizierte Umwelt in empfindlichem Gleichgewicht, das gestört werden könnte. Alles hier auf dem Mond, das überhaupt dem Menschen nützt, ist von ihm selber hergestellt. Der Mond ist eine von Grund auf konstruierte Welt ohne jede Historie. Es gibt keine Vergangenheit.«

»Und?«

»Auf der Erde lahmt uns unsere Sehnsucht nach einer pastoralen Vergangenheit, die niemals wirklich existiert hat und die, hätte es sie gegeben, niemals wiedererstehen könnte. In vieler Hinsicht war die Ökologie durch die Krise gestört worden, und wir versuchen nun die Überreste nutzbar zu machen, so daß wir Angst haben, immer nur Angst.… Auf dem Mond gibt es keine Vergangenheit, nach der man sich sehnen kann oder von der man träumt. Es gibt nur eine Richtung — nach vorn.«

Montez schien von seinen Worten ganz angetan. Er fuhr fort: »Gottstein, ich habe das alles zwei Jahre lang beobachtet; Sie werden es nun mindestens noch einmal die gleiche Zeit mitansehen. Es gibt ein Feuer hier auf dem Mond; einen unruhigen Brand. Diese Menschen hier breiten sich in jeder Richtung aus. Sie expandieren physisch. Jeden Monat werden neue Korridore gegraben, neue Unterkünfte eingerichtet — Vorbereitungen für neues Bevölkerungspotential. Sie erweitern auch ihre Möglichkeiten. Sie finden neue Baumaterialien, neue Wasserquellen, neue besondere Mineralien. Sie erweitern ihre sonnengetriebenen Batterienbänke, vergrößern ihre elektronischen Fabriken… Ich nehme an, Sie wissen, daß die zehntausend Leute hier auf dem Mond der irdische Hauptlieferant für mikroelektronische Geräte und feine Biochemikalien sind?«

»Ich weiß, daß sie ein wichtiger Lieferant sind.«

»Die Erde macht sich da etwas vor. Der Mond ist der Hauptlieferant. Wenn es so weitergeht, wird er in naher Zukunft auch der einzige Lieferant sein… Nicht zuletzt wächst er auch intellektuell. Gottstein, ich kann mir vorstellen, daß es keinen klugen, an der Wissenschaft interessierten jungen Mann gibt, der nicht unbestimmt — oder vielleicht gar nicht so unbestimmt — davon träumt, eines Tages auf den Mond zu gehen. Da die Erde sich von der Technologie zurückzieht, ist der Mond in diesem Punkte plötzlich zum Zentrum aller Aktivität geworden.«

»Sie meinen das Protonensynchrotron, nicht wahr?«

»Das ist nur ein Beispiel. Wann ist auf der Erde zum letztenmal ein Synchrotron gebaut worden? Allerdings ist es auch das größte und dramatischste Beispiel; nicht das einzige und nicht einmal das wichtigste. Wenn Sie den wichtigsten wissenschaftlichen Apparat hier auf dem Mond kennenlernen wollen…«

»Etwas so Geheimes, daß ich es noch nicht weiß?«

»Nein, etwas so Offensichtliches, daß es niemand zu merken scheint. Ich meine die zehntausend Gehirne hier. Die zehntausend besten Menschengehirne, die es überhaupt gibt. Die einzige lose verknüpfte Gruppe von zehntausend menschlichen Gehirnen, die dem Prinzip und ihrer Einstellung nach der Wissenschaft zugewandt sind.«

Gottstein bewegte sich unruhig und versuchte seinen Stuhl herumzurücken. Der war jedoch am Boden festgeschraubt und rührte sich nicht von der Stelle; allerdings wurde Gottstein durch die Bewegung in die Höhe gewirbelt. Gottstein errötete. »Es tut mir leid.«

»Sie werden sich an die Schwerkraft schon gewöhnen.«

»Stellen Sie die Lage nicht viel schlimmer dar, als sie wirklich ist?« fragte Gottstein. »Die Erde ist auch kein ganz unwissender Planet. Wir haben die Elektronenpumpe entwickelt. Sie ist eine rein terrestrische Errungenschaft. Ein Lunarier hatte damit nichts zu tun.«

Montez schüttelte den Kopf und murmelte einige Worte in seiner spanischen Muttersprache, Worte, die nicht gerade freundlich klangen. Dann fragte er: »Sind Sie jemals Frederick Hallam begegnet?«

Gottstein lächelte: »Ja, das bin ich allerdings. Der Vater der Elektronenpumpe. Ich glaube, er hat sich diesen Titel auf die Brust tätowieren lassen.«

»Die Tatsache, daß Sie lächeln und diese Bemerkung machen, beweist doch, daß ich recht habe. Mal ganz ehrlich: Hätte ein Mann wie Hallam die Elektronenpumpe tatsächlich zeugen können? Der gedankenlosen Masse genügt die Geschichte, aber es ist und bleibt doch eine Tatsache — und Sie wissen das sicher auch, wenn Sie schon darüber nachgedacht haben, daß es für die Elektronenpumpe überhaupt keinen Vater gibt. Die Paramenschen, die Wesen im Parauniversum, wer immer sie sind und wie immer sich ihr Universum äußert, haben sie erfunden. Hallam wurde nur zufällig zu ihrem Instrument. Die ganze Erde ist ihr Werkzeug.«

»Wir waren aber klug genug, aus ihrer Initiative Kapital zu schlagen.«

»Ja, so wie die Kühe klug genug sind, das Heu zu fressen, das wir ihnen vorlegen. Die Pumpe ist kein Zeichen dafür, daß der Mensch vorwärtsstrebt. Ganz im Gegenteil.«

»Wenn die Pumpe ein Rückschritt ist, dann ein Hoch auf den Rückschritt. Ich persönlich würde ungern darauf verzichten.«

»Wer würde das schon? Es geht aber darum, daß sie im Augenblick genau in die Stimmung da unten paßt. Unendliche Energie bei minimalstem Kostenaufwand für die Wartung der Anlagen und bei absoluter Umweltsauberkeit. Aber es gibt keine Elektronenpumpen auf dem Mond.«

»Ich würde meinen, daß hier auch kein Bedürfnis besteht«, entgegnete Gottstein. »Die Sonnenbatterien reichen vollauf. Auch hier unendliche, kostenlose, saubere Energie… das sind doch die Schlagworte?«

»Ja, allerdings, doch die Sonnenbatterien sind gänzlich vom Menschen hergestellt. Darauf will ich ja hinaus. Auch für den Mond war eine Elektronenpumpe vorgesehen; man versuchte sie zu installieren.«

»Und?«

»Es klappte nicht. Die Paramenschen nahmen das Wolfram nicht an. Nichts geschah.«

»Das wußte ich nicht. Warum nahmen sie es nicht?«

Montez hob Schultern und Augenbrauen. »Wie kann man das wissen? Man könnte etwa vermuten, daß die Paramenschen auf einer Welt ohne Satelliten leben, daß sie sich daher verschiedene Welten, von denen jede auch bevölkert ist, auf so kurze Entfernung gar nicht vorstellen können, so daß sie, nachdem sie auf die eine gestoßen waren, nach der zweiten gar nicht erst Ausschau hielten. Wer will das wissen? Tatsache ist jedenfalls, daß die Paramenschen nicht angebissen haben und wir allein absolut nichts unternehmen konnten.«

»Wir allein«, wiederholte Gottstein nachdenklich. »Damit meinen Sie die Erdmenschen?«

»Ja.«

»Und die Lunarier?«

»Die hatten nichts damit zu tun.«

»Waren sie daran interessiert?«

»Ich weiß es nicht. Hierauf gründet sich ja auch in der Hauptsache meine Unsicherheit — und meine Angst. Die Lunarier — besonders die eingeborenen Lunarier — fühlen sich nicht als Erdmenschen. Ich weiß nicht, wie ihre Pläne aussehen, was sie vorhaben. Ich bekomme es einfach nicht heraus.«

Gottstein blickte ihn nachdenklich an. »Aber was könnten sie denn tun? Haben Sie Grund zu der Annahme, daß sie uns schaden wollen oder daß sie der Erde schaden könnten, wenn sie wollten?«

»Auf diese Frage weiß ich keine Antwort. Die Lunarier sind ein attraktives und intelligentes Volk. Es will mir scheinen, als gingen ihnen die Extreme des Hasses, der Erregung, der Furcht irgendwie ab. Aber vielleicht ist das auch nur mein Eindruck. Zu schaffen macht mir, daß ich es nicht weiß.«

»Die wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen auf dem Mond sind doch in terrestrischer Hand, nicht wahr?«

»Das stimmt. Zunächst das Protonensynchrotron. Dann das Radioteleskop auf der transterrestrischen Seite. Das Dreihundert-Inch-Optische-Teleskop ebenfalls… Ja, die großen Installationen, die ausnahmslos seit über fünfzig Jahren in Betrieb sind, stehen unter Aufsicht der Erde.«

»Und was ist seither getan worden?«

»Von den Erdmenschen sehr wenig.«

»Und von den Lunariern?«

»Ich bin mir nicht sicher. Die Wissenschaftler hier arbeiten in den großen Anlagen, aber ich habe einmal die Anwesenheitskarten geprüft. Da gibt es gewisse Lücken.«

»Lücken?«

»Zeiten, in denen sie nicht an Ort und Stelle sind. Es ist, als hätten sie eigene Laboratorien.«

»Nun, wenn sie mikroelektronische Geräte und feine Biochemikalien produzieren, wäre das doch nur natürlich.«

»Ja, aber… Gottstein, ich weiß es einfach nicht. Dieses Nichtwissen macht mir Angst.«

Es folgte ein Schweigen, das Gottstein nach kurzer Zeit brach. »Montez, ich nehme an, Sie sagen mir das alles, damit ich mich vorsehe, damit ich meinerseits herauszufinden versuche, was die Lunarier hier machen?«

»Darauf läuft es wohl hinaus«, antwortete Montez bedrückt.

»Aber Sie wissen nicht sicher, daß sie überhaupt etwas anstellen?«

»Ich habe das sichere Gefühl.«

»Seltsam. Ich müßte eigentlich versuchen, Ihnen dieses Angsttrauma auszureden, aber seltsam…«

»Was ist?« fragte Montez.

»Das Raumfahrzeug, das mich auf den Mond brachte, beförderte noch jemanden. Ich meine, eine große Gruppe reiste mit mir herauf, doch ein ganz bestimmtes Gesicht fiel mir auf. Ich habe mit dem Mann nicht gesprochen — dazu fehlte mir die Gelegenheit, und so ging ich der Sache nicht nach. Aber unser Gespräch läßt das Alarmlämpchen wieder flackern.«

»Ja?«

»Ich gehörte einmal einem Komitee an, das sich mit Angelegenheiten der Elektronenpumpe befaßte. Mit Sicherheitsfragen.« Er lächelte kurz. »Die Erde hat den Schwung verloren, könnte man vielleicht wirklich sagen. Ständig machen wir uns Gedanken um unsere Sicherheit — was, Schwung hin, Schwung her, eine gute Sache ist, verdammt noch mal. Die Einzelheiten weiß ich nicht mehr, aber in Verbindung mit einem Hearing sah ich das Gesicht, das mir heute im Schiff auffiel. Kein Zweifel!«

»Meinen Sie, das hat irgendeine Bedeutung?«

»Ich bin mir nicht sicher. Dieses Gesicht hat für mich etwas Beunruhigendes. Wenn ich mal richtig darüber nachdenke, fällt es mir vielleicht ein. Auf jeden Fall sollte ich mir schleunigst eine Passagierliste besorgen und nachsehen, ob mir ein Name etwas bedeutet. Es ist schade, Montez, aber ich fürchte, Sie haben mich angesteckt.«

»Gar nicht schade«, sagte Montez. »Es freut mich. Und dieser Mann — vielleicht ist er nur ein unwichtiger Tourist und in vierzehn Tagen wieder verschwunden, aber ich bin froh, daß Sie die Sache einmal durchdenken.«

Gottstein schien ihn nicht zu hören. »Er ist Physiker oder jedenfalls Wissenschaftler«, murmelte er. »Da bin ich ganz sicher. Und irgendwie läßt er mich an eine Gefahr denken…«

4

»Hallo«, rief Selene fröhlich.

Der Mann von der Erde drehte sich um. Das Erkennen dauerte nur Sekundenbruchteile. »Selene! Richtig? Selene?«

»Richtig! Und auch richtig ausgesprochen. Gefällt es Ihnen hier?«

Der Mann von der Erde antwortete ernst: »Sehr sogar. Ich mache mir hier so richtig klar, wie toll unser Jahrhundert doch ist. Vor kurzem noch war ich auf der Erde, war meiner Umwelt und meiner selbst überdrüssig. Dann dachte ich mir: Nun, wenn ich vor hundert Jahren lebte, bliebe mir jetzt nur das Sterben, um die Welt zu verlassen, aber heute — kann ich zum Mond fliegen.« Er lächelte etwas freudlos.

»Und sind Sie zufriedener, nachdem Sie nun auf dein Mond sind?« fragte Selene.

»Ein wenig.« Er blickte sich um. »Haben Sie denn heute keine Touristen zu führen?«

»Heute nicht«, erwiderte sie fröhlich. »Ich habe frei. Wer weiß, vielleicht nehme ich noch ein paar Tage Urlaub. Meine Arbeit ist sehr langweilig.«

»Wie schade, daß Sie dann an Ihrem freien Tag ausgerechnet einem Touristen in die Arme laufen.«

»Ich bin Ihnen nicht in die Arme gelaufen. Ich habe Sie gesucht. Und das war gar nicht mal einfach. Sie sollten hier nicht so allein herumgehen.«

Der Mann von der Erde musterte sie interessiert: »Warum sollten Sie nach mir suchen? Haben Sie etwas für Erdlinge übrig?«

»Nein«, entgegnete sie mit selbstverständlicher Offenheit. »Sie hängen mir zum Halse heraus. Ich mag sie grundsätzlich nicht. Um so schlimmer, daß ich von Berufs wegen ständig mit ihnen zu tun habe.«

»Und doch suchen Sie nach mir, obwohl ich keine rechte Möglichkeit sehe, mich für jung und gutaussehend zu halten?«

»Das würde auch nichts ändern. Erdlinge interessieren mich nicht — außer Barron weiß das jeder hier.«

»Warum haben Sie aber nach mir gesucht?«

»Weil es andere Arten des Interesses gibt, und weil Barron sich für Sie interessiert.«

»Und wer ist Barron? Ihr junger Freund?«

Selene lachte. »Barron Neville. Er ist gar nicht mehr so jung und weitaus mehr als ein Freund. Wir schlafen zusammen, wenn uns danach zumute ist.«

»Also, das meinte ich ja. Haben Sie Kinder?«

»Einen Jungen. Er ist zehn. Die meiste Zeit verbringt er im Jungenheim. Um Ihrer nächsten Frage zuvorzukommen: er ist nicht von Barron. Vielleicht bekomme ich ein Kind von Barron, wenn wir noch zusammen sind, falls ich ein zweites Kind zugeteilt bekomme falls ich überhaupt ein zweites Kind zugeteilt bekomme… Davon bin ich aber überzeugt.«

»Sie sind recht offen.«

»Bei Dingen, die ich für kein Geheimnis halte? Natürlich… Was möchten Sie jetzt gern tun?«

Sie schritten durch einen Korridor aus milchweißem Gestein, in dessen glasierter Oberfläche matte »Mondedelsteine« schimmerten, die es überall auf dem Mond in Hülle und Fülle gab. Selene trug Sandalen, die kaum den Boden zu berühren schienen; er ging in dicksohligen Stiefeln, die ihn bleiern an den Boden fesselten und dafür sorgten, daß seine Schritte nicht zur Qual wurden.

Im Korridor herrschte Einbahnverkehr. Von Zeit zu Zeit wurden sie von kleinen elektrischen Karren überholt, die fast lautlos an ihnen vorüberrollten.

Der Mann von der Erde fragte: »Was ich gern tun würde? Das ist eine ziemlich unbestimmte Aufforderung. Würden Sie mir bitte die Grenzwerte sagen, damit meine Antworten Sie nicht in aller Unschuld beleidigen?«

»Sind Sie Physiker?«

Der Mann zögerte: »Warum fragen Sie?«

»Nur um zu hören, was Sie darauf zu sagen haben. Ich weiß, daß Sie Physiker sind.«

»Woher?«

»Niemand sagt »Grenzwerte«, ohne Physiker zu sein. Besonders wenn sich jemand bei seinem Mondbesuch sofort für das Protonensynchrotron interessiert.«

»Haben Sie deshalb nach mir gesucht? Weil ich offenbar Physiker bin?«

»Deshalb hat mich Barron auf Ihre Fährte gesetzt. Weil er Physiker ist. Gekommen bin ich aber, weil ich Sie für einen ziemlich ungewöhnlichen Erdenmenschen halte.«

»Inwiefern?«

»Na ja, es wird Ihnen nicht weiter schmeicheln — falls Sie Komplimente hören wollten. Sie haben eben nur wenig von einem Erdling an sich.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Ich habe gesehen, wie Sie die anderen Leute in der Gruppe beobachteten. Außerdem kann ich mich auf mein Gefühl verlassen. Gerade die Erdchen, die andere Erdchen nicht mögen, bleiben am leichtesten hier. Was mich auf meine Frage zurückbringt… was würden Sie gern machen? Und ich bestimme die Grenzwerte. Ich meine, soweit es die Besichtigung betrifft.«

Der Mann von der Erde sah sie offen an. »Seltsam, Selene. Sie haben einen Tag frei. Ihre Arbeit ist Ihnen zumindest so gleichgültig oder widerlich, daß Sie sich über den freien Tag freuen und am liebsten einen Urlaub daraus machen würden. Und doch v/ollen Sie freiwillig nur wieder Ihre Arbeit tun — ganz allein für mich. Nur wegen eines bißchen Interesses.«

»Barrons Interesse. Er ist im Augenblick beschäftigt, und es kann nicht schaden, wenn ich Sie ein wenig unterhalte, bis er fertig ist… Außerdem ist es gar nicht so. Können Sie sich das nicht vorstellen? Während der Arbeit habe ich immer ein paar Dutzend Erdchen am Hals… Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, daß ich den Ausdruck verwende.«

»Sie meinen, daß ein Lunchen ihn verwendet?«

Selene errötete. »Ja, so etwa«, sagte sie.

»Na, stoßen wir uns nicht länger an einzelnen Worten. Erzählen Sie weiter. Sie wollten mir etwas über Ihre Arbeit sagen.«

»Tag für Tag muß ich mich um all die Erdchen kümmern, damit sie sich nicht selber umbringen, ich muß sie hierhin und dorthin führen und ihnen kleine Vorträge halten und dafür sorgen, daß sie auch essen und trinken und vernünftig gehen. Sie bekommen vorgeführt, was sie sehen wollen, und reagieren, wie man es von ihnen erwartet, und ich muß die ganze Zeit fürchterlich höflich und mütterlich sein.«

»Schrecklich«, meinte der Mann von der Erde.

»Aber Sie und ich — wir können tun, was uns gefällt, hoffe ich, und Sie lassen mich vielleicht gewähren und legen nicht gleich jedes Wort auf die Goldwaage.«

»Ich sagte Ihnen schon, daß Sie mich jederzeit Erdchen nennen dürfen.«

»Na gut, so sieht mein Urlaub also aus. Was möchten Sie gern machen?«

»Das läßt sich leicht beantworten. Ich möchte gern das Protonensynchrotron sehen.«

»Das geht nicht. Vielleicht kann Barron etwas arrangieren, wenn Sie mit ihm gesprochen haben.«

»Nun, wenn ich an das Synchrotron nicht herankomme, wüßte ich nicht, was es sonst noch zu sehen gibt. Ich weiß, das Radioteleskop steht auf der anderen Seite, und ich nehme auch nicht an, daß es irgendwelche Neuerungen enthält…Sagen Sie — was bekommt der Durchschnittstourist hier nicht zu sehen?«

»Eine Reihe von Sachen. Zum Beispiel die Algenräume — nicht die aseptisch sauberen Nahrungsmittelfabriken, die Sie schon besucht haben — sondern die eigentlichen Kulturen. Allerdings ist der Gestank ziemlich schlimm da draußen, und ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Erdchen — ein Mann von der Erde — besonderen Geschmack daran findet. Unsere Besucher haben noch genügend Probleme mit dem Essen, wenn es fertig vor ihnen steht.«

»Überrascht Sie das? Haben Sie schon einmal Nahrungsmittel von der Erde gegessen?«

»Noch nicht. Vermutlich würden sie mir nicht schmecken. Hängt immer davon ab, was Sie vorher gewöhnt waren.«

»Das ist wohl richtig«, sagte der Mann seufzend. »Wenn Sie ein richtiges Steak äßen, kämen Ihnen wahrscheinlich das Fett und die Sehnen wieder hoch.«

»Wir könnten in die Außenbezirke gehen, wo die neuen Korridore in den Fels getrieben werden. Aber dazu brauchten Sie einen besonderen Schutzanzug. Dann sind da die Fabriken…«

»Entscheiden Sie, Selene.«

»Das tue ich gern, wenn Sie mir mal eine Frage beantworten. Aber ehrlich.«

»Das kann ich nicht versprechen, ohne die Frage zu kennen.«

»Ich sagte vorhin, daß Erdchen, die die anderen Erdchen nicht mögen, eher auf dem Mond bleiben als andere. Sie haben mir da nicht widersprochen. Wollen Sie auf dem Mond bleiben?«

Der Mann von der Erde starrte auf die Spitzen seiner unförmigen Stiefel. »Selene, ich hatte Schwierigkeiten, überhaupt ein Visum für den Mond zu bekommen. Man meinte, daß ich vielleicht zu alt wäre für die Reise, daß ich überhaupt nicht zurückkehren könnte, wenn ich zu lange hier oben bliebe. Also habe ich allen verkündet, ich wollte gar nicht zurückkehren.«

»Und das war keine Lüge?«

»Ich wußte es damals noch nicht. Inzwischen sieht es aber so aus, als würde ich gern bleiben.«

»Ich hätte gedacht, daß man Sie unter diesen Umständen erst recht nicht würde reisen lassen.«

»Warum?«

»Im allgemeinen widerstrebt es den terrestrischen Behörden, Physiker für immer auf den Mond zu schicken.«

Der Mann verzog den Mund. »In dieser Hinsicht hatte ich überhaupt keine Schwierigkeiten.«

»Nun, wenn Sie einer von uns werden wollen, sollten Sie die Turnhalle kennenlernen. Die Erdchen interessieren sich oft dafür, aber wir lassen sie im allgemeinen nicht hinein — obwohl es nicht unbedingt verboten ist. Bei Immigranten ist das etwas anderes.«

»Warum?«

»Nun, zum einen finden unsere Übungen ohne — oder fast ohne Bekleidung statt. Warum auch nicht?« Ihre Frage klang, als sei sie es müde, die Einstellung ihres Volkes immer wieder verteidigen zu müssen. »Die Temperatur ist geregelt, die Halle sauber. Wenn allerdings Erdchen auf Besuch kommen, hat die Nacktheit plötzlich etwas Beunruhigendes. Denn manche Erdchen sind offen schockiert; andere lassen sich anregen — und einige sogar beides. Wir denken nicht daran, uns ihretwegen in der Turnhalle anzuziehen; und da wir auch keine Lust haben, unsere Nacktheit zu verteidigen, halten wir sie eben draußen.«

»Aber die Immigranten?«

»Die müssen sich sowieso daran gewöhnen. Irgendwann werden auch sie die Kleidung ablegen. Und sie brauchen die Turnhalle sogar noch mehr als die eingeborenen Lunarier.«

»Ich will offen zu Ihnen sein, Selene. Mit weiblicher Nacktheit konfrontiert, lasse auch ich mich anregen. So alt bin ich nun wieder nicht…«

»Also lassen Sie sich anregen«, erwiderte sie gleichgültig, »aber Sie müssen dann auch allein damit fertig werden.«

»Müssen wir uns auch ausziehen?« Er betrachtete sie mit amüsiertem Interesse.

»Als Zuschauer? Nein. Möglich wäre es, aber wir müssen es nicht. So früh würde es Ihnen bestimmt etwas ausmachen, und Sie würden auch keinen besonders angenehmen Anblick bieten…«

»Sie sind aber wirklich brutal offen.«

»Haben Sie sich etwas eingebildet? Seien Sie doch ehrlich! Was mich angeht, so möchte ich Ihre privaten Empfindungen nicht zu sehr strapazieren: Wir bleiben also am besten beide angezogen.«

»Gibt es da keine Einwände? Ich meine, dagegen, daß ich als unschönes Erdchen einfach so mitkomme?«

»Nicht wenn ich dabei bin.«

»Also gut, Selene. Ist es weit?«

»Wir sind schon da. Nur hierherum.«

»Ah, dann hatten Sie die Sache von Anfang an geplant?«

»Ich dachte, daß es Sie vielleicht interessiert.«

»Warum?« Selene lächelte plötzlich. »Nur so ein Gedanke..

Der Mann von der Erde schüttelte den Kopf. »Ich fange langsam an zu glauben, daß Sie nie ganz ohne Hintergedanken sind. Lassen Sie mich mal raten. Wenn ich auf dem Mond bleibe, muß ich gelegentlich Sport treiben, um Muskeln, Knochen und vielleicht auch meine Organe in Form zu halten.«

»Jawohl. Wir alle tun das, besonders natürlich die Immigranten von der Erde. Der Tag wird kommen, da Sie täglich in die Turnhalle müssen.«

Sie kamen durch eine Tür, und der Mann von der Erde sah sich verblüfft um. »Das ist zum erstenmal so richtig wie auf der Erde.«

»Inwiefern?«

»Nun, so weitläufig. Ich hatte nicht gedacht, daß es auf dem Mond so große Räume gibt. Tische, Büroeinrichtungen, Frauen hinter den Tischen…«

»Brustfrei…« sagte Selene ernst.

»Ja, das entspricht nicht ganz der Handhabung auf der Erde, muß ich zugeben.«

»Wir haben auch eine Greifrutsche und einen Fahrstuhl für Erdchen. Die Anlage zieht sich über einige Stockwerke hin. Warten Sie einen Augenblick.«

Sie näherte sich einer Frau an einem der Tische und sprach leise mit ihr, während sich der Erdenmensch mit lächelnder Neugier umsah.

Selene kam zurück. »Überhaupt keine Schwierigkeit. Wir haben Glück. Es gibt heute ein Gerangel. Ein ziemlich gutes sogar; ich kenne die Mannschaften.«

»Das ist alles sehr eindrucksvoll. Ehrlich.«

»Wenn Sie damit die Größe meinen, muß ich Ihnen sagen, daß es kaum ausreicht. Wir haben drei Turnhallen. Dies ist die größte.«

»Es gefällt mir irgendwie, daß in der spartanischen Welt des Mondes soviel Platz für Mätzchen ist.«

»Mätzchen!« Selene schien eingeschnappt. »Wieso halten Sie das für Mätzchen?«

»Gerangel? Ist das nicht eine Art Spiel?«

»Man könnte es so nennen. Auf der Erde lassen sich solche Dinge als Sport ausüben; zehn Männer führen vor, zehntausend schauen zu. So ist es nicht bei uns; was Ihnen wie Mätzchen vorkommt, ist lebensnotwendig… Hier entlang; wir nehmen den Fahrstuhl, auf den wir vielleicht etwas warten müssen.«

»Ich wollte Sie nicht erzürnen.«

»Ich bin nicht wütend, aber Sie müssen auch real bleiben. Die Menschen auf der Erde sind an die Erdschwerkraft gewöhnt, seit vor dreihundert Millionen Jahren das Leben aus dem Meer kroch. Sie kommen auch ohne Übungen aus. Wir dagegen haben überhaupt keine Zeit gehabt, uns der Mondschwerkraft anzupassen.«

»Anders aussehen tun Sie aber.«

»Wenn Sie in der Mondschwerkraft geboren werden und aufwachsen, sind Ihre Knochen natürlich dünner und weniger massiv als bei einem Erdchen — doch das ist nur oberflächlich. Es gibt keine Körperfunktion — mag sie auch noch so unmerklich sein, etwa die Verdauung oder die Hormonsekretion, die nicht von der Schwerkraft abhängt und ein bewußtes Training erfordert. Wenn wir dieses Training mit Spiel und Spaß verbinden können, sind das noch lange keine Mätzchen… da kommt der Fahrstuhl.«

Der Mann von der Erde zögerte, doch Selene sagte ungeduldig, als regte sie sich noch immer darüber auf, den Mondstandpunkt verteidigen zu müssen: »Jetzt wollen Sie mir sicher sagen, daß der Fahrstuhl wie ein Flechtkorb aussieht. Das sagt hier jeder Besucher. Bei unserer Schwerkraft braucht er aber nicht stabiler zu sein.«

Der Fahrstuhl bewegte sich langsam abwärts. Sie waren die einzigen in der Kabine.

»Wird wohl wenig benutzt«, bemerkte der Mann.

Selene lächelte wieder: »Sie haben recht. Die Greifrutsche ist viel beliebter und macht auch mehr Spaß.«

»Was ist denn das?«

»Wie der Name schon sagt… da wären wir. Wir sind hier nur zwei Stockwerke tiefer. Eine Greifrutsche ist eine schlichte senkrechte Röhre, durch die man sich fallen lassen kann — ein Tunnel mit Griffen. Allerdings raten wir keinem Erdchen, das zu versuchen.«

»Zu riskant?«

»Eigentlich nicht. Sie könnten hinabklettern, als war’s eine Leiter. Aber da gibt es immer wieder junge Leute, die mit beträchtlichem Tempo durch den Schacht turnen, und die Erdchen wissen dann nicht, wie sie ausweichen sollen. Zusammenstöße sind sehr unangenehm. Was wir jetzt zu sehen bekommen, ist auch eine Art Greifrutsche — zum Abreagieren.«

Sie führte ihn an ein ringförmiges Geländer. Verschiedene Personen lehnten darüber und unterhielten sich. Sie waren mehr oder weniger nackt. Alle trugen Sandalen und die meisten eine Hüfttasche mit Schultergurt. Einige hatten kurze Hosen an. Ein Mann kratzte eine grüne Paste aus einem Behälter und aß davon.

Als sie an ihm vorbeikamen, kräuselte der Mann von der Erde die Nase und sagte: »Das Zahnproblem ist wohl sehr schlimm hier auf dem Mond.«

»Gut steht es nicht damit«, erwiderte Selene. »Wenn es geht, lassen wir uns die Zähne ziehen.«

»Alle?«

»Oft nicht alle. Meistens bleiben die Vorder- und Augenzähne stehen — aus kosmetischen Gründen und weil man damit manchmal noch ganz schön beißen kann. Sie lassen sich auch leicht reinigen. Aber warum sollten die nutzlosen Backenzähne stehenbleiben? Die sind doch nur ein Überbleibsel unserer Erdvergangenheit.«

»Gibt es in dieser Hinsicht eine Fortentwicklung?«

»Nein«, erwiderte sie gepreßt. »Die genetische Formung ist ja verboten. Die Erde besteht darauf.«

Sie beugte sich über das Geländer. »Das hier wird Mondwiese genannt«, sagte sie.

Der Mann von der Erde schaute hinab. Vor sich sah er eine große zylindrische Öffnung mit glatten rosafarbenen Wänden, an denen in anscheinend zufälliger Anordnung Metallsprossen befestigt waren. Hier und dort ragte ein solcher Griff weiter in den Tunnel hinein, manchmal durchschnitt das Griffeisen ihn völlig. Die ganze Anlage war hundert bis hundertundfünfzig Meter lang und etwa fünfzehn Meter breit.

Niemand schien sich sonderlich für die Spielstätte zu interessieren — ebensowenig wie für den Fremden. Im Vorbeigehen hatte ihn manch gleichgültiger Blick gestreift, seinen bekleideten Zustand abwägend, doch alle hatten sich wieder abgewandt. Manche gaben Selene noch ein Zeichen, ehe sie sich umdrehten, doch alle kehrten ihm den Rücken. Das Desinteresse der Lunarier, so indirekt es bekundet wurde, hätte nicht deutlicher zum Ausdruck kommen können.

Der Mann von der Erde betrachtete die zylindrische Öffnung. Ganz unten waren schmale Gestalten zu sehen, von der Perspektive verzeichnet. Einige trugen Fetzen aus rotem Stoff, andere aus blauem Material. Zwei Mannschaften, überlegte er. Offensichtlich erfüllte die spärliche Kleidung eine schützende Funktion, da die Gestalten Handschuhe und Sandalen trugen und Schutzbänder um Knie und Ellenbogen gewickelt hatten. Einige trugen auch schmale Bänder um die Hüften, andere um die Brust.

»Oh«, sagte er leise. »Männer und Frauen.«

»Richtig!« erwiderte Selene. »Beide Geschlechter machen hier gleichberechtigt mit, aber man versucht natürlich das unkontrollierte Ausschwingen von Körperteilen zu vermeiden, die den gelenkten Fall stören könnten. Der geschlechtliche Unterschied bringt auch einen Unterschied in der Schmerzanfälligkeit. Schamhaftigkeit ist es jedenfalls nicht.«

»Ich glaube, ich habe darüber gelesen«, bemerkte der Mann.

»Das kann schon sein«, meinte Selene gleichgültig. »Es scheint aber nicht viel nach draußen zu dringen. Nicht daß wir etwas dagegen haben, aber die terrestrische Regierung beschränkt die Nachrichten vom Mond gern auf ein Minimum.«

»Warum das, Selene?«

»Sie sind Erdenmensch — sagen Sie es mir… wir haben hier das Gefühl, daß wir die Erde in Verlegenheit setzen. Oder wenigstens die irdische Regierung.«

Zu beiden Seiten des Zylinders begannen nun mit großer Geschwindigkeit zwei Gestalten aufzusteigen; zugleich war leises Trommeln zu hören. Zuerst schienen die beiden Sprosse um Sprosse wie an einer Leiter heraufzuklettern, doch ihre Geschwindigkeit nahm immer mehr zu, und als sie etwa die halbe Entfernung zurückgelegt hatten, schlugen sie nur noch im Vorbeigehen mit lauten, klatschenden Geräuschen auf die Griffe.

»So anmutig könnte das niemand auf der Erde«, sagte der Mann bewundernd. »Man könnte es überhaupt nicht«, fügte er hinzu.

»Es geht nicht nur um die Ausnutzung der niedrigen Schwerkraft«, erwiderte Selene. »Versuchen Sie’s ruhig mal, wenn Sie das meinen. Man braucht ein langes Training.«

Die Kämpfer erreichten das Geländer und schwangen sich in den Handstand, vollführten dann gleichzeitig einen Salto und begannen wieder zu fallen.

»Sie können sich ja ganz schnell bewegen, wenn sie wollen«, sagte der Mann von der Erde.

»Hmm. Wenn sich Erdenmenschen — ich meine jene, die noch nicht hier oben gewesen sind — die Fortbewegung auf dem Mond vorstellen, denken sie bestimmt an die freie Mondlandschaft und an Raumanzüge. Da geht es natürlich oft langsam zu. Die Masse, durch den Raumanzug angewachsen, ergibt eine große Trägheit, die sich bei der kleinen Schwerkraft nur schwer überwinden läßt.«

»Stimmt. Ich habe die klassischen Filmaufnahmen von den ersten Astronauten gesehen, die alle Schüler vorgeführt bekommen; ihre Bewegungen sind fast wie unter Wasser. Dieser Eindruck verblaßt nicht so schnell, auch wenn man es dann besser wissen müßte.«

»Sie wären überrascht, wenn Sie wüßten, wie schnell wir heutzutage auch mit dem Raumanzug vorwärtskommen«, sagte Selene. »Und hier unter der Oberfläche, ohne Raumanzüge, sind wir so schnell wie auf der Erde. Die niedrigere Schwerkraft wird durch richtigen Muskeleinsatz wieder wettgemacht.«

»Aber sie können auch nach Belieben langsam sein.« Der Mann von der Erde beobachtete die Akrobaten. Sie waren mit großem Tempo heraufgekommen und sanken nun absichtlich langsam wieder ab. Sie schwebten hinab und klatschten dabei gegen die Griffe, um ihren Fall weiter abzubremsen. Als sie den Boden erreichten, wurden sie von zwei anderen abgelöst. Und dann kamen wieder zwei. Abwechselnd von jedem Team ein Paar, so wetteiferten die Gruppen in ihrer Virtuosität.

Jedes Paar vollführte synchrone Bewegungen, die von Paar zu Paar in Anstieg und Fall komplizierter wurden. Ein Paar stieß sich sogar gleichzeitig ab, durchquerte den Tunnel in einer flachen Parabel und erreichte den Griff, den der andere soeben verlassen hatte. Dabei glitten die beiden in der Mitte aneinander vorbei, ohne sich zu berühren. Die Einlage wurde mit lautem Beifall quittiert.

»Vermutlich fehlt mir die Erfahrung, die Schwierigkeit dieser Kunst zu ermessen. Sind das alles eingeborene Lunarier?« fragte der Mann von der Erde.

»Das müssen sie schon sein«, antwortete Selene. »Die Turnhalle steht zwar allen Lunarbürgern zur Verfügung, und einige Immigranten machen sich auch ganz gut, aber bei dieser Virtuosität kann man davon ausgehen, daß die Teilnehmer auf dem Mond gezeugt und geboren sind. Sie haben die richtige Ausstattung dafür — mehr als ein Erdgeborener — und außerdem das richtige Kindheitstraining. Die meisten Teilnehmer sind unter achtzehn.«

»Es scheint nicht gerade ungefährlich zu sein — trotz der Mondschwerkraft.«

»Ab und zu gibt es Knochenbrüche. Ein Todesfall ist wohl noch nicht vorgekommen, aber ich erinnere mich, daß sich jemand mal das Rückgrat brach und hinterher gelähmt war. Ein schrecklicher Unfall; ich war auch noch dabei… Oh, schauen Sie, jetzt kommen die Impros.«

»Die was?«

»Die Improvisationen. Bisher waren die Übungen vorgeschrieben. Die Aufstiege erfolgten nach einem festen Schema.«

Der Trommelrhythmus schien jetzt leiser zu werden, während ein Mann emporstieg und sich plötzlich ins Freie stieß. Mit einer Hand fing er sich an einer Querstange, kreiste einmal darum und ließ los.

Der Mann von der Erde ließ sich keine Bewegung entgehen. »Verblüffend«, sagte er. »Er schwingt sich wie ein Gibbon um die Stangen.«

»Wie ein was?«

»Gibbon. Menschenaffe — der einzige Menschenaffe, der noch in freier Wildbahn existiert. Sie…« Er bemerkte Selenes Gesichtsausdruck und sagte: »Das sollte keine Beleidigung sein, Selene; Menschenaffen sind anmutige Tiere.«

Selene runzelte die Stirn. »Ich habe mal Bilder gesehen.«

»Aber sicher haben Sie noch keine Gibbons in Bewegung erlebt… Ich könnte mir wohl denken, daß Erdchen die Lunarier »Gibbons« nennen und es abwertend meinen, aber nichts hat mir ferner gelegen…«

Er lehnte mit beiden Ellenbogen auf dem Geländer und beobachtete die Bewegungen, die wie ein Lufttanz waren. Er fragte: »Wie leben die Erd-Immigranten hier, Selene? Ich meine Immigranten, die den Rest ihrer Tage auf dem Mond verbringen? Da ihnen die grundlegendsten lunarischen Fähigkeiten abgehen…«

»Das macht überhaupt keinen Unterschied. Immis sind vollwertige Bürger. Eine Diskriminierung gibt es nicht, jedenfalls keine rechtliche Diskriminierung.«

»Was soll das heißen, keine rechtliche Diskriminierung?«

»Nun, Sie haben es selbst gesagt. Es gibt Dinge, die Immis einfach nicht fertigbringen. Unterschiede bestehen also. Ihre medizinischen Probleme sind anders, und sie haben meistens auch eine schlechtere medizinische Vergangenheit. Wenn sie in mittlerem Alter zu uns kommen, sehen sie auch so aus — alt.«

Der Mann von der Erde senkte verlegen den Blick. »Können sie querheiraten? Ich meine, Immigranten und Lunarier?«

»Sicherlich. Ja, sie können Kinder zeugen.«

»Das meinte ich.«

»Natürlich. Warum sollte ein Immigrant keine guten Erbanlagen mitbringen? Himmel, mein Vater war auch ein Immi, wenn ich auch mütterlicherseits schon in der zweiten Generation Lunarier bin.«

»Da muß ihr Vater aber heraufgekommen sein, als er noch ziemlich… Oh, mein Gott…« Er erstarrte am Geländer, atmete zittrig ein. »Ich dachte, er würde die Stange verfehlen.«

»Keine Sorge«, entgegnete Selene. »Das ist Marco Fore. Er macht gern solche Mätzchen — ich meine, im letzten Augenblick erst zuzugreifen. Eigentlich ist das unschön, und ein wirklicher Champion tut es nicht. Trotzdem… Mein Vater war bei seiner Ankunft zweiundzwanzig.«

»So sollte es auch sein. Noch jung genug, um sich anpassen zu können, keine Gefühlsbindungen auf der Erde. Für das männliche Erdchen muß es sehr schön sein, eine geschlechtliche Beziehung mit einer…«

»Geschlechtliche Beziehung!« Mit ihrem Lächeln schien Selene einen Schock zu überspielen. »Sie glauben doch nicht etwa, daß mein Vater geschlechtliche Beziehungen zu meiner Mutter hatte! Wenn meine Mutter das hörte, würde sie Ihnen sofort gehörig den Kopf waschen.«

»Aber…«

»Künstliche Besamung, um alles in der Welt! Sex mit einem Erdenmann!«

Der Besucher blickte sie ernst an. »Ich dachte, es gäbe keine Diskriminierung?«

»Das ist doch keine Diskriminierung, das ist physikalische Tatsache. Ein Mann von der Erde kommt mit unserem Gravitationsfeld nicht zurecht. Wie geübt er auch sein mag, im Ansturm der Leidenschaft vergißt er sich vielleicht. Ich würde das Risiko jedenfalls nicht eingehen. Der ungeschickte Narr könnte sich glatt Arme oder Beine brechen — oder, was schlimmer wäre, mir das gleiche antun. Die Verbindung von Genen ist zwar denkbar, aber Sex ist eine ganz andere Sache.«

»Es tut mir leid, aber ist künstliche Besamung nicht verboten?«

Sie beobachtete gedankenverloren die Turner. »Das ist wieder Marco Fore. Solange er sich nicht produziert, ist er ganz gut, und seine Schwester steht ihm kaum nach. Wenn sie zusammenarbeiten, sind ihre Bewegungen das reinste Gedicht. Schauen Sie! Sie kommen zusammen hoch und umschwingen gleich die Stange, als wären sie eins. Er tut manchmal ein wenig großspurig, aber seine Muskelbeherrschung ist erstklassig… Ja, künstliche Besamung ist nach den Erdgesetzen verboten, aber wenn medizinische Gründe ins Spielkommen, ist sie erlaubt, und das ist natürlich oft der Fall, wie es jedenfalls heißt.«

Alle Akrobaten waren nun emporgestiegen und bildeten einen großen Kreis unterhalb des Geländers; die Roten auf der einen Seite, die Blauen auf der anderen. Sie hatten die Arme gehoben, und der Applaus dröhnte laut. Eine große Menschenmenge hatte sich am Geländer versammelt.

»Man sollte hier ein paar Sitze aufstellen«, sagte der Mann von der Erde.

»Aber nein. Das Ganze ist keine Vorstellung, sondern eine Turnübung. Wir wollen gar nicht mehr Zuschauer, als hier oben bequem unterkommen. Wir gehören da unten hin, nicht hier herauf.«

»Sie beherrschen das auch, Selene?«

»Sozusagen. Jeder Lunarier kann es. Ich bin natürlich nicht so gut wie sie. Ich habe noch in keiner Mannschaft mitgemacht…Jetzt kommt das Gerangel, das Spiel ohne Regeln, der wirklich gefährliche Teil. Alle zehn sind gleichzeitig in der Luft, und jede Seite versucht die Leute der Gegenseite in einen Fall zu drängen.«

»Einen wirklichen Fall?«

»So real wie möglich.«

»Geht das denn ohne Verletzungen ab?«

»Gelegentlich nicht. Theoretisch werden Gerangel nicht gern gesehen. Tatsächlich könnte man sie als Mätzchen bezeichnen, denn unsere Bevölkerung ist nicht so groß, daß wir jemanden ohne wirklichen Grund aus dem Verkehr ziehen können. Dennoch sind sie beliebt, und wir bringen einfach nicht die Stimmen für ein Verbot zusammen.«

»Wofür würden Sie stimmen, Selene?«

Selene errötete. »Ach, lassen wir das. Schauen Sie zu!«

Der Trommelrhythmus war nun donnernd laut, und die Gestalten im Schacht schössen pfeilschnell los. In der Mitte gab es ein wildes Durcheinander, doch als sich die Körper wieder trennten, hing jeder fest an einem Griff. Es folgte die Spannung des Wartens. Ein Mann sauste wieder los, dann ein zweiter, und wieder war die Luft von wirbelnden Körpern erfüllt. Immer neue Wechsel folgten.

»Die Wertung ist sehr kompliziert«, bemerkte Selene. »Es gibt einen Punkt für jeden Start, einen Punkt für jede Berührung, zwei Punkte für jede herbeigeführte Fehllandung, zehn Punkte, wenn man einen Gegner zu Boden zwingt, und unterschiedliche Strafpunkte für die verschiedenen Fouls.«

»Wer zählt die Punkte?«

»Wir haben Schiedsrichter für die vorläufigen Entscheidungen; bei Differenzen werden Fernsehaufzeichnungen herangezogen.«

Ein erregter Schrei klang auf, als ein Mädchen aus der blauen Mannschaft einem Jungen in Rot laut hörbar gegen die Flanke klatschte. Der Junge hatte sich zwar noch zur Seite geworfen, doch vergeblich, und als er nun unsicher nach einer Stange griff, stieß er ungeschickt mit dem Knie an die Wand.

»Wo hat er nur seine Augen?« fragte Selene aufgebracht. »Er hat sie überhaupt nicht kommen sehen.«

Das Treiben wurde lebhafter, und der Mann von der Erde versuchte nicht länger Schritt zu halten mit dem verwirrenden Hin und Her. Von Zeit zu Zeit berührte ein Springer eine Stange, ohne sich halten zu können. Dann lehnten sich alle Zuschauer über das Geländer, als wollten sie sich fürsorglich mit in das Getümmel stürzen. Einmal erhielt Marco Fore einen Schlag gegen das Handgelenk, und jemand rief: »Foul!«

Fore griff daneben und stürzte ab. Sein Fall kam dem Mann von der Erde sehr langsam vor, und Fore wand sich agil hierhin und dorthin und versuchte eine Stange nach der anderen zu greifen, ohne es ganz zu schaffen. Die anderen warteten; der übrige Kampf schien zunächst unterbrochen.

Fore fiel immer schneller, obwohl er sich bereits zweimal abgebremst hatte, ohne wirklich zugreifen zu können.

Er hatte den Boden des Schachtes fast erreicht, als mit schneller, eleganter Seitwärtsbewegung sein rechter Fuß nach einem Griff angelte und er plötzlich in der Luft stoppte, kopfüber ausschwingend, etwa drei Meter über dem Boden. Mit ausgebreiteten Armen hing er dort, und Applaus klang auf. Im nächsten Augenblick hatte er sich wieder aufgerichtet und kletterte hastig nach oben. »War das wirklich ein Foul?« fragte der Mann von der Erde.

»Wenn Jean Wong Marcos Handgelenk umfaßt hat, anstatt es nur zu stoßen, war es ein Foul. Der Schiedsrichter hat allerdings auf faires Spiel erkannt, und ich glaube nicht, daß Marco Einspruch erhebt. Allerdings ist er tiefer gefallen, als er mußte. Er hat ein Faible für solche Rettungen in letzter Minute; eines Tages verrechnet er sich bestimmt und verletzt sich… Oh, oh.«

Der Mann von der Erde sah fragend auf, doch Selene blickte in eine andere Richtung. Sie sagte: »Da ist jemand aus dem Büro des Hochkommissars. Er sucht bestimmt nach Ihnen.«

»Wieso?«

»Ich wüßte nicht, wen er sonst hier suchen sollte. Sie sind hier der Fremdling.«

»Aber es gibt doch gar keinen Grund…« begann der Mann von der Erde.

Und der Bote, der selbst wie ein Erdenmensch oder ein ErdImmigrant gebaut war und dem es sichtlich unangenehm war, von ein paar Dutzend schmalen, nackten Gestalten angestarrt zu werden, die ihre Verachtung mit Gleichgültigkeit zu kaschieren schienen, kam direkt auf ihn zu.

»Hochkommissar Gottstein bittet, daß Sie mich begleiten…«

5

Barron Nevilles Unterkunft war weitaus spartanischer als Selenes Zimmer. Er hatte seine Bücher sichtbar ausgestellt, sein Computerschaltbrett in der Ecke stand offen, und auf seinem großen Tisch herrschte Unordnung. Seine Fenster waren leer.

Selene trat ein, verschränkte die Arme und sagte: »Wenn du so schlampig wohnst, Barron, wie kannst du dann deine Gedanken in Ordnung halten?«

»Ich komme zurecht«, entgegnete Barron mürrisch. »Warum hast du das Erdchen nicht mitgebracht?«

»Der Hochkommissar ist schneller gewesen. Der neue Hochkommissar.«

»Gottstein?«

»Genau. Warum bist du nicht längst fertig?«

»Weil ich Zeit brauchte, um alles in Erfahrung zu bringen. Ich möchte nicht ins Ungewisse arbeiten.«

»Nun, dann müssen wir eben warten«, meinte Selene.

Neville kaute an einem Fingernagel und beäugte ernsthaft das Ergebnis. »Ich weiß nicht recht, ob mir die Sache schmeckt…Wie findest du ihn?«

»Er gefällt mir«, antwortete Selene entschieden. »Für ein Erdchen war er ganz angenehm. Er ließ sich von mir herumführen. Er interessierte sich für alles. Er äußerte keine vorschnellen Urteile. Er war nicht hochnäsig… Und ich habe mir natürlich auch nicht die Mühe gemacht, ihn herauszufordern.«

»Hat er noch Fragen über das Synchrotron gestellt?«

»Nein, aber das brauchte er auch nicht.«

»Wieso?«

»Weil ich ihm sagte, daß du ihn sprechen wolltest und daß du Physiker bist. Ich nehme also an, daß er sich an dich wendet, wenn er noch etwas zu fragen hat.«

»Fand er es nicht seltsam, ausgerechnet mit einer Touristenführerin zu sprechen, die zufällig einen Physiker kennt?«

»Warum denn? Ich sagte ihm, du wärst mein Sex-Partner. Und da die körperliche Zuneigung keine Schranken kennt, ist es doch nicht undenkbar, daß sich ein Physiker mit einer kleinen Touristenführerin einläßt.«

»Das reicht, Selene.«

»Oh. Schau, Barron, es will mir scheinen, wenn er wirklich irgendeine Absicht verfolgt, wenn er sich an mich heranmacht, um an dich heranzukommen, hätte er das doch irgendwie erkennen lassen. Je komplizierter und dümmer ein Plan ist, desto wackeliger steht er, und desto besorgter ist auch der Planende. Ich habe absichtlich gelassen getan. Ich redete über alles mögliche — nur nicht über das Protonensynchrotron. Ich nahm ihn mit zu einer Turnübung.«

»Und?«

»Und er war interessiert. Entspannt und interessiert. Was er auch im Sinne hat — etwas Kompliziertes ist es nicht.«

»Bist du ganz sicher? Immerhin wurde er gleich vom Hochkommissar geangelt. Hältst du das für gut?«

»Warum sollte ich es für schlecht halten? Eine offene Einladung zu einem Treffen, vor ein paar Dutzend Lunariern ausgesprochen, ist nicht gerade ein Zeichen von Geheimniskrämerei.«

Neville verschränkte die Hände im Nacken und lehnte sich zurück. »Selene, bitte versuch deine persönliche Meinung aus der Sache herauszuhalten, solange ich dich nicht darum bitte. Das regt mich immer auf. Der Mann ist überhaupt kein richtiger Physiker. Hat er das etwa behauptet?«

Selene überlegte. »Ich habe ihm auf den Kopf zugesagt, daß er Physiker wäre. Er stritt es nicht ab, aber ich erinnere mich auch an keine direkte Bestätigung. Und doch… und doch — ich bin sicher, daß es stimmt.«

»Dann hat er dich durch sein Schweigen in die Irre geführt, Selene. Er mag sich wohl für einen Physiker halten, aber Tatsache ist, daß ihm die entsprechende Vorbildung fehlt und er auch nicht auf diesem Gebiet arbeitet. Er ist wissenschaftlich geschult, das will ich ihm zubilligen, aber er hat keine wissenschaftliche Position inne. Er bekommt auch keine. Auf der ganzen Erde gibt es kein Labor, das ihm Arbeitsraum zur Verfügung stellen würde. Er steht nämlich auf Fred Hallams Abschußliste, bei dem er sehr lange Spitzenmann gewesen ist.«

»Bist du sicher?«

»Glaub’s mir. Ich habe mich überzeugt. Hast du mich nicht eben kritisiert, weil es so lange gedauert hat? Das alles klingt einfach zu gut, viel zu gut.«

»Wieso zu gut? Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.«

»Hast du nun nicht den Eindruck, daß wir ihm trauen könnten? Immerhin hat er Wut auf die Erde.«

»So könnte man tatsächlich denken, wenn deine Informationen stimmen.«

»Oh, meine Informationen stimmen schon — jedenfalls so weit, daß sie sich wirklich bestätigen, wenn man etwas tiefer gräbt. Aber vielleicht sollen wir so denken…«

»Barron, du bist abscheulich! Wie kannst du nur hinter allem eine Verschwörung sehen! Ben machte wirklich nicht…«

»Ben?« frage Neville sarkastisch.

»Ben!« wiederholte Selene entschlossen. »Ben machte wirklich nicht den Eindruck, als trüge er einen Kummer mit sich herum oder als wollte er mich dazu bringen, ihn für einen Mann mit einem Kummer zu halten.«

»Nein, aber er brachte dich dazu, ihn für einen netten Burschen zu halten. Du hast doch gesagt, er gefällt dir, nicht? Ganz betont, ja? Vielleicht lag das in seiner Absicht.«

»Ich lasse mich nicht so leicht hinters Licht führen, und du weißt das ganz genau.«

»Nun, ich werde wohl abwarten müssen, bis ich ihn gesprochen habe.«

»Scher dich doch zum Teufel, Barron. Ich habe mit Erdchen von jeder Sorte zu tun gehabt, mit Tausenden. Das ist meine Arbeit. Und du hast nicht den geringsten Grund, meine Menschenkenntnis anzuzweifeln. Du weißt, daß du sogar allen Grund hast, dich darauf zu verlassen.«

»Schon gut. Wir werden’s ja sehen. Reg dich nicht auf. Wir müssen halt nur warten… Und während uns nichts anderes übrigbleibt« — er sprang geschmeidig auf — »darfst du dreimal raten, was mir da durch den Kopf geht…«

»Das brauche ich nicht zu raten.« Selene stand ebenso schnell auf und machte eine fast unmerkliche Seitwärtsbewegung, die sie aus seiner Reichweite brachte. »Aber laß es dir allein durch den Kopf gehen. Ich bin nicht in Stimmung.«

»Bist du böse, weil ich deine Menschenkenntnis angezweifelt habe?«

»Ich bin böse, weil — Zum Teufel, warum räumst du hier nicht besser auf?« Und sie ging.

6

»Ich würde Ihnen gern ein paar Leckereien von der Erde vorsetzen, Doktor«, sagte Gottstein, »aber die waren mir für mein Reisegepäck prinzipiell verboten. Die guten Leute hier haben etwas gegen die künstlichen Schranken, die eine Bevormundung von Erdbesuchern errichten würde. Da erscheint es besser, ihre Gefühle nicht zu verletzen und sich den Lunariern möglichst anzupassen, obwohl ich fürchte, daß mein Gang mich noch verraten würde. Diese verflixte Schwerkraft ist auch wirklich unmöglich.«

»Da stimme ich Ihnen zu.« Der Mann von der Erde lächelte freundlich. »Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Amtsantritt…«

»Der noch nicht ganz vollzogen ist.«

»Trotzdem herzliche Glückwünsche. Ich kann mir allerdings nicht recht vorstellen, warum Sie mich sprechen wollen.«

»Wir waren Passagiere auf dem gleichen Schiff — vor kurzem noch.«

Der Mann von der Erde wartete höflich. Gottstein fuhr fort: »Doch meine Bekanntschaft mit Ihnen reicht viel weiter zurück. Wir sind uns vor einigen Jahren schon einmal begegnet — ganz kurz nur.«

»Ich fürchte, ich erinnere mich nicht…«

»Das überrascht mich nicht. Es wäre auch sehr verwunderlich, wenn Sie mich erkennen würden. Ich habe eine Zeitlang unter Senator Burt gearbeitet, der noch immer das Komitee für Technologie und Umwelt leitet. Das war zu einer Zeit, da er sehr erpicht darauf war, Hallam etwas anzuhängen — Frederick Hallam.«

Der Mann von der Erde schien plötzlich ein wenig aufrechter zu sitzen. »Kannten Sie Hallam?«

»Sie sind hier der zweite, der mir diese Frage stellt. Ja, ich habe ihn gekannt. Nicht besonders gut. Ich habe auch mit vielen Leuten gesprochen, die ihm begegnet sind, und sie waren seltsamerweise fast alle meiner Ansicht. Für einen Menschen, der von einem ganzen Planeten zum Idol erkoren wurde, fand Hallam bei seiner unmittelbaren Umgebung erstaunlich wenig Sympathie.«

»Wenig? Überhaupt keine, würde ich sagen.«

Gottstein überging den Einwand. »Es war damals meine Aufgabe — ein Auftrag vom Senator, in Sachen Elektronenpumpe zu ermitteln und festzustellen, ob die Installation der Anlagen eine unangemessene Verschwendung von Staatsmitteln und übermäßigen persönlichen Profit auslöste. Für ein Komitee, das im wesentlichen nur Überwachungsfunktionen hatte, lag das im Rahmen des Üblichen — aber unter uns gesagt hoffte der Senator etwas zu finden, um Hallam am Zeug zu flicken. Zu gern hätte er den Würgegriff, mit dem dieser Mann das wissenschaftliche Establishment umfangen hielt, aufgebrochen. Er schaffte es aber nicht.«

»Offensichtlich. Hallam ist stärker denn je.«

»Es gab keine nennenswerten Bestechungen und schon gar keine Unregelmäßigkeiten, die auf Hallam zurückgeführt werden konnten. Der Mann ist von sturer Ehrlichkeit.«

»Das stimmt. Macht hat ihren eigenen Marktwert, der nicht unbedingt mit Geld bewertet wird.«

»Besonders interessierte mich damals — obwohl ich der Sache nicht nachgehen konnte — ein Mann, dessen Klage sich nicht gegen Hallams Macht richtete, sondern gegen die Elektronenpumpe selbst. Ich nahm an dem Gespräch teil, ohne es zu führen. Sie waren dieser Mann, nicht wahr?«

Der Mann von der Erde antwortete vorsichtig: »Ich erinnere mich an das Gespräch, aber nicht an Sie.«

»Ich hielt es damals für undenkbar, daß jemand mit wissenschaftlichen Argumenten gegen die Elektronenpumpe vorgehen könnte. Sie haben mich aber so beeindruckt, daß ich gleich ein seltsames Gefühl hatte, als ich Sie gestern an Bord sah, und schließlich fiel es mir wieder ein. Ich habe noch nicht auf die Passagierliste geschaut, aber ich möchte mein Gedächtnis testen. Sind Sie nicht Dr. Benjamin Andrew Demson?« Der Mann von der Erde seufzte: »Benjamin Allan Denison. Ja. Aber warum wärmen Sie die alten Geschichten auf? Um offen zu sein, Hochkommissar, ich möchte die Vergangenheit gern ruhen lassen. Ich bin auf den Mond gekommen, um neu anzufangen; wenn nötig, auch wieder ganz von vorn. Verdammt, ich wollte sogar meinen Namen ändern.«

»Es hätte Ihnen nichts genützt. Ich habe Sie nach dem Gesicht wiedererkannt. Ich habe nichts dagegen, daß Sie ein neues Leben beginnen wollen, Dr. Denison. Ich will Ihnen da in keiner Weise im Wege stehen. Aber ich möchte doch ein oder zwei Aufschlüsse gewinnen — und zwar aus Gründen, die mit Ihnen direkt nichts zu tun haben. Ich erinnere mich nicht mehr so richtig an Ihren Einwand gegen die Elektronenpumpe. Könnten Sie mir Ihr Argument noch einmal darlegen?« Denison neigte den Kopf. Die Stille zog sich in die Länge, und der angehende Hochkommissar schwieg. Er unterdrückte sogar ein leises Räuspern.

»Es war im Grunde nichts«, antwortete Denison schließlich.

»Ich hatte nur eine Vermutung, eine Sorge um die Änderung der Intensität des Starken Kernfeldes. Es war nichts.«

»Nichts?« Gottstein räusperte sich nun doch. »Sie haben hoffentlich nichts dagegen, wenn ich das begreifen möchte. Ich sagte Ihnen schon, daß Sie mich damals interessierten. Ich konnte die Angelegenheit allerdings nicht weiterverfolgen, und ich bezweifle, daß ich die Information heute aus den Akten herausbekäme. Die Ermittlung unterlag der Geheimhaltung — der Senator schnitt dabei nicht sehr gut ab, und ihm liegt bestimmt nichts an unnötigem Aufsehen. Doch einige Einzelheiten sind mir noch gewärtig. Sie waren doch einmal ein Kollege Hallams; allerdings kein Physiker.«

»Das stimmt. Ich war Strahlungschemiker. Er ebenfalls.«

»Unterbrechen Sie mich, wenn mich mein Gedächtnis trügt. Anfänglich wurden Sie vorzüglich beurteilt, nicht wahr?«

»Es sprachen objektive Kriterien zu meinen Gunsten. Soweit es mich betraf, gab es keine Selbsttäuschung. Ich war ein brillanter Kopf.«

»Erstaunlich, wie mir das so wieder einfällt. Bei Hallam sah es aber nicht so gut aus.«

»Nicht besonders.«

»Und doch ist Ihre Karriere später steckengeblieben. Tatsächlich arbeiteten Sie zur Zeit des Interviews — um das Sie meines Wissens selbst nachsuchten — für eine Spielzeugfabrik…«

»Nein, für eine Kosmetikfirma«, entgegnete Denison erstickt.

»Männerkosmetik. Das erhöhte mein Ansehen bei dem Hearing damals nicht gerade.«

»Kaum. Es tut mir leid. Sie waren Verkäufer.«

»Verkaufsleiter. Auch hier habe ich mich glänzend bewährt. Ich war Vizepräsident, als ich meine Laufbahn abbrach und zum Mond abreiste.«

»Hatte Hallam etwas damit zu tun? Ich meine damit, daß Sie der Forschung den Rücken kehrten?«

»Hochkommissar«, antwortete Denison. »Bitte! Es ist mir inzwischen wirklich gleichgültig. Ich war dabei, als Hallam die Wolframumwandlung entdeckte, als die Ereignisse begannen, die schließlich zur Elektronenpumpe führten. Was ohne meine Anwesenheit geschehen wäre, vermag ich nicht zu sagen. Hallam und ich hätten vier Wochen später an Radioaktivität sterben oder sechs Wochen darauf in einer Atomexplosion untergehen können. Ich weiß es nicht. Aber ich war dabei, und das, was Hallam heute darstellt, ist zu einem Teil auch auf mich zurückzuführen, und eben deswegen bin ich heute ein Niemand. Was sollen da noch die Einzelheiten? Reicht Ihnen das. Es muß.«

»Ich glaube, es reicht. Sie hatten also einen persönlichen Groll gegen Hallam?«

»Auf keinen Fall hegte ich damals Zuneigung für ihn. Ich habe auch heute noch nichts für ihn übrig, wenn Sie es genau wissen wollen.«

»Würden Sie mir also zustimmen, daß Ihre Einwände gegen die Elektronenpumpe durch Ihren dringenden Wunsch, Hallam zu vernichten, ausgelöst wurden?«

»Ich verwahre mich gegen dieses Kreuzverhör.«

»Ich bitte Sie! Was ich hier frage, wird keinesfalls gegen Sie verwandt werden. Unser Gespräch soll mir bloß Aufschluß geben weil ich mir um die Pumpe und eine Reihe anderer Dinge Sorgen mache.«

»Na ja, man könnte wirklich sagen, daß ich gefühlsmäßig engagiert war. Weil ich Hallam nicht mochte, war ich auch bereit zu glauben, daß seine Beliebtheit und seine Größe auf Sand gebaut waren. Ich überdachte die Elektronenpumpe und hoffte einen Fehler zu finden.«

»Und Sie fanden aus diesem Grunde auch einen?«

»Nein!« erwiderte Denison heftig und schlug mit der Faust auf die Armlehne seines Sessels, was ihn einige Zentimeter in die Höhe hob. »Nicht aus diesem Grunde«. Ich fand einen Fehler, der aber echt war. So schien es mir jedenfalls. Ich habe diesen Fehler keinesfalls erfunden, um es Hallam damit heimzuzahlen.«

»Von Erfinden war nicht die Rede, Doktor«, beschwichtigte Gottstein. »Es würde mir nicht im Traum einfallen, Ihnen so etwas zu unterstellen. Und doch wissen wir alle, daß man — um an den Grenzen unseres Wissens den Versuch von Definitionen zu machen auf Vermutungen angewiesen ist. So eine Vermutung mag ein großes Gebiet der Ungewißheit umfassen, das dann in der einen oder anderen Richtung in ehrlichem Bemühen abgeschirmt wird, doch jedenfalls entsprechend den… äh… Emotionen des Augenblicks. Sie formulierten Ihre Vermutung womöglich am Anti-Hallam-Ende des Möglichen…?«

»Unsere Diskussion ist sinnlos. Damals dachte ich, ich hätte ein stichhaltiges Argument. Ich bin jedoch kein Physiker. Ich bin war — Radiochemiker.«

»Hallam auch — doch jetzt ist er der berühmteste Physiker der Welt.«

»Er ist noch immer Radiochemiker. Allerdings ein Vierteljahrhundert hinter der Zeit zurück.«

»Im Gegensatz zu Ihnen. Sie haben sich eingehend mit der Physik auseinandergesetzt.«

»Sie haben sich aber wirklich über mich erkundigt«, meinte Denison düster.

»Ich sagte es Ihnen schon; Sie beeindruckten mich. Erstaunlich, was mir so alles wieder einfällt. Aber jetzt möchte ich mal das Thema wechseln. Kennen Sie einen Physiker namens Peter Lamont?«

Widerstrebend: »Ja.. »Würden Sie ihn auch als brillant bezeichnen?«

»So gut kenne ich ihn nicht — außerdem möchte ich das Wort nicht über Gebühr strapazieren.«

»Meinen Sie, er weiß, wovon er redet?«

»Da mir nichts Gegenteiliges bekannt ist — ja.«

Langsam lehnte sich der Hochkommissar in seinem Stuhl zurück, der sehr zierlich wirkte und auf der Erde sein Gewicht nicht getragen hätte. Er fragte: »Würden Sie mir bitte sagen, inwieweit Sie Lamont kennen? Haben Sie nur von ihm gehört oder ihn wirklich kennengelernt?«

»Wir haben uns ein paarmal getroffen«, antwortete Denison.

»Er wollte eine Geschichte der Elektronenpumpe schreiben, von Anfang an — einen zusammenhängenden Bericht über all den legendären Unsinn, der sich inzwischen darum rankt. Es schmeichelte mir, daß Lamont zu mir kam, daß er offenbar etwas über mich herausgefunden hatte. Verdammt, Hochkommissar, es schmeichelte mir, daß er überhaupt von meiner Existenz wußte! Aber ich konnte ihm dann nicht viel sagen. Was hätte das auch genützt? Ich hätte doch nur Spott und Hohn geerntet — und das steht mir langsam bis hier; das und das dumpfe Brüten und das Selbstmitleid.«

»Wissen Sie, was Lamont in den letzten Jahren getan hat?«

»Worauf wollen Sie hinaus, Hochkommissar?« fragte Denison vorsichtig.

»Etwa vor einem Jahr führte Lamont ein Gespräch mit Burt.

Ich gehöre nicht mehr zu den Leuten des Senators, aber wir kommen gelegentlich noch zusammen. Er erzählte mir davon. Er machte sich Sorgen. Er dachte, Lamont hätte womöglich ein wichtiges Argument gegen die Elektronenpumpe gefunden, und sah keine praktische Möglichkeit, die Sache aufzugreifen. Auch ich machte mir meine Sorgen…«

»Überall große Sorgen«, warf Denison sarkastisch ein. »Aber jetzt kommt mir der Gedanke… Wenn Lamont mit Ihnen gesprochen hat und…«

»Halt! Sprechen Sie nicht weiter, Hochkommissar! Ich glaube, ich weiß, was Sie jetzt sagen wollen, und ich möchte nicht, daß Sie noch weiter darauf zusteuern. Wenn Sie von mir die Feststellung erwarten, daß Lamont mir meine Idee gestohlen hat, daß ich wieder einmal zu kurz gekommen bin, irren Sie sich. Mit aller Eindringlichkeit möchte ich Ihnen sagen, daß ich seinerzeit keinerlei stichhaltige Theorie vorzuweisen hatte. Ich hatte Vermutungen, nichts weiter. Die Sache beunruhigte mich; ich brachte sie vor; man glaubte mir nicht; ich war entmutigt. Da ich keine Möglichkeit sah, meine Vermutungen durch Beweise zu stützen, gab ich schließlich auf. Ich sprach bei meinen Zusammenkünften mit Lamont nicht davon; über die frühen Tage der Pumpe kamen wir überhaupt nicht hinaus. Was er später geäußert hat, wie sehr es meinen Vermutungen auch ähnelt, ist eine unabhängige Schlußfolgerung. Sie scheint überdies viel solider fundiert zu sein und auf konkreter mathematischer Analyse zu basieren. Ich erhebe keinerlei Anspruch darauf, der erste gewesen zu sein; nicht den geringsten.«

»Sie scheinen Lamonts Theorie zu kennen.«

»Sie hat in den letzten Monaten die Runde gemacht. Der Mann kann nichts veröffentlichen, und niemand nimmt ihn ernst, aber seine Theorie sickerte durch die Kanäle. Sie kam sogar bis zu mir.«

»Ich verstehe, Doktor. Ich nehme die Theorie ernst. Für mich kam die Warnung nun schon zum zweitenmal, Sie verstehen. Der Bericht über die erste Warnung — Ihre Warnung — ist nie auf den Tisch des Senators gekommen. Die Sache hatte nichts mit finanziellen Unregelmäßigkeiten zu tun, die ihn damals vordringlich beschäftigten. Der eigentliche Leiter des Ermittlungskomitees hielt Ihre Vermutungen — Sie verzeihen meine Offenheit — für verrückt. Ich teilte seine Ansicht nicht. Als die Angelegenheit nun ein zweitesmal aufkam, war ich beunruhigt. Ich wollte mit Lamont sprechen, doch eine Anzahl Physiker, die ich befragte…«

»Auch Hallam?«

»Nein, Hallam nicht. Eine Reihe von anderen Physikern sagten mir, daß Lamonts Arbeit jeder Grundlage entbehrt. Trotzdem wollte ich mit ihm sprechen, aber da wurde mir dieser Posten angeboten, und hier bin ich nun — und Sie ebenfalls. Sie verstehen also, warum ich Sie zu mir bitten mußte. Was meinen Sie — spricht etwas für die von Ihnen und Dr. Lamont vorgebrachte Theorie?«

»Sie meinen, ob der weitere Einsatz der Elektronenpumpe die Sonne oder den gesamten Arm der Galaxis zur Explosion bringt?«

»Ja, das meine ich.«

»Ich kann Ihnen das nicht beantworten. Ich habe da nur meine Vermutungen, die eben nur Vermutungen sind. Was Lamonts Theorie angeht, so habe ich sie im einzelnen noch nicht untersucht; sie ist ja nicht öffentlich. Und wenn ich sie zu Gesicht bekäme, wäre mir die Mathematik vielleicht zu hoch…

Was kommt es überhaupt darauf an? Lamont überzeugt keinen.

Hallam hat ihn ruiniert, so wie er mich ruinierte, und es liefe wider das kurzsichtige Interesse der Öffentlichkeit, ihm zu glauben — auch wenn er sich gegen Hallam durchsetzte. Die Leute wollen die Pumpe nicht aufgeben, und es ist viel einfacher, Lamonts Theorie abzulehnen als zu versuchen, etwas zu unternehmen.«

»Aber Sie machen sich noch immer Gedanken darüber, nicht wahr?«

»In der Weise, daß ich meine, wir zerstören uns vielleicht, und daß ich das ungern sähe — natürlich.«

»Und da sind Sie nun auf den Mond gekommen, um hier zu tun, was Hallam, Ihr alter Feind, auf der Erde zu verhindern wußte.«

»Auch Sie stellen gern Vermutungen an«, sagte Denison langsam.

»O wirklich?« Gottsteins Stimme klang gleichgültig. »Vielleicht bin ich auch ein bißchen brillant. Habe ich recht?«

»Vielleicht. Ich habe die Hoffnung, mich eines Tages wieder mit der Forschung zu befassen, nicht aufgegeben. Es würde mich freuen, etwas tun zu können, das das Damoklesschwert der Vernichtung von der Menschheit nimmt — indem ich entweder beweise, daß es gar nicht existiert, oder indem ich den Verdacht im einzelnen bestätige und einen Impuls zur Verhütung der Katastrophe gebe.«

»Ich verstehe. Dr. Denison — ich möchte noch einen anderen Punkt mit Ihnen diskutieren. Mein Vorgänger, Hochkommissar Montez, sagt mir, daß die aktuellen Schwerpunkte aller Forschung auf dem Mond liegen. Er scheint anzunehmen, daß sich ein unverhältnismäßig großes Geistes und Initiativpotential der Menschheit hier oben aufhält.«

»Da hat er vielleicht recht«, sagte Denison. »Ganz sicher weiß ich es nicht.«

»Da hat er vielleicht recht«, wiederholte Gottstein nachdenklich. »Wenn das der Fall ist, meinen Sie dann nicht auch, daß Sie dadurch wiederum benachteiligt werden könnten? Was Sie auch erreichen — für die Menschen mögen Ihre Funde ein Ergebnis der lunaren Forschungsstruktur sein. Persönlich wird Ihnen auf diese Weise vielleicht jede Anerkennung versagt, so wertvoll Ihr Beitrag auch sein mag… Was natürlich ungerecht wäre.«

»Ich bin der ganzen Jagd nach Anerkennung überdrüssig, Hochkommissar Gottstein. Ich möchte meinem Leben noch einen Sinn geben und es nicht als Vizepräsident für den Bereich Ultraschall-Enthaarungsmittel beschließen. Ich finde diesen Sinn in einer Rückkehr in die Forschung. Wenn ich da etwas erreiche, das mich befriedigt, genügt es mir.«

»Mir würde das nicht genügen. Die Anerkennung, die Ihnen zusteht, sollte auch nicht ausbleiben, und als Hochkommissar wäre ich wohl in der Lage, der terrestrischen Öffentlichkeit die Tatsachen so nahezubringen, daß Ihr Interesse gewahrt bleibt.

Sie sind doch sicher noch so weit Mensch, daß Sie haben möchten, was Ihnen zusteht.«

»Sie sind sehr freundlich. Und was erwarten Sie als Gegenleistung?«

»Jetzt sind Sie zynisch. Aber durchaus berechtigt. Als Gegenleistung erbitte ich Ihre Hilfe. Der bisherige Hochkommissar ist nicht sicher, welche Richtung die hier auf dem Mond betriebene Forschung nimmt. Die Verständigung zwischen den Völkern der Erde und des Mondes ist nicht sehr gut, und die Koordinierung der Anstrengungen auf beiden Welten käme zweifellos allen zugute. Verständlich, daß beide Seiten mißtrauisch sind, aber wenn Sie dazu beitragen könnten, dieses Mißtrauen abzubauen, wäre uns das nicht minder wertvoll als Ihre etwaigen wissenschaftlichen Erkenntnisse.«

»Sie halten mich doch nicht für den geeigneten Mann, den Lunariern zu erzählen, wie fair und kooperativ das wissenschaftliche Establishment der Erde ist?«

»Sie dürfen einen rachedurstigen Wissenschaftler nicht mit der ganzen irdischen Menschheit in einen Topf werfen, Dr.

Denison. Formulieren wir es so. Ich würde es begrüßen, wenn Sie mich über Ihre wissenschaftlichen Funde auf dem laufenden hielten, damit Ihnen die gebührende Anerkennung zuteil wird; damit Ihre Ergebnisse auch richtig verstanden werden — vergessen Sie nicht, ich bin kein berufsmäßiger Wissenschaftler, wäre es nützlich, wenn Sie mir Ihre Ausführungen im Rahmen der Gesamtsituation der Forschung auf dem Mond erläuterten. Sind Sie damit einverstanden?«

»Sie verlangen viel«, antwortete Denison. »Vorläufige Ergebnisse, vorzeitig bekanntgegeben — ob durch Unvorsichtigkeit oder übermäßige Begeisterung, können einem Ruf erheblich schaden. Ich würde ungern über etwas sprechen, ehe ich mir meiner Grundlagen nicht absolut sicher wäre. Meine bisherigen Erfahrungen mit dem Komitee, für das Sie einmal gear beitet haben, raten mir auf jeden Fall zur Achtsamkeit.«

»Das verstehe ich schon«, sagte Gottstein herzlich. »Ich würde es auch Ihnen überlassen, den Zeitpunkt meiner Information zu bestimmen… Aber ich habe Sie schon zu lange aufgehalten.

Sie wollen wahrscheinlich zu Bett.«

Was das Ende des Gesprächs anzeigte. Denison ging, und Gottstein folgte ihm nachdenklich mit den Blicken.

7

Denison öffnete die Tür mit der Hand. Es gab einen Kontakt, der sie automatisch aufgleiten ließ, doch so kurz nach dem Aufwachen fand er ihn nicht.

Der dunkelhaarige Mann, dessen Gesicht irgendwie düster wirkte, sagte: »Es tut mir leid… Bin ich zu früh dran?« Denison wiederholte die Frage, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. »Früh?… Nein… Ich… ich habe wohl verschlafen.«

»Ich habe Sie gestern angerufen. Wir sind verabredet.. .« Denison begriff. »Ja. Sie sind Dr. Neville?«

»Stimmt. Darf ich eintreten?«

Er kam herein, ohne auf eine Antwort zu warten. Denisons Zimmer war klein und wurde fast völlig von einem zerwühlten Bett eingenommen. Der Ventilator seufzte leise.

Neville sagte nichtssagend höflich: »Sie haben hoffentlich gut geschlafen.«

Denison sah an seinem Schlafanzug hinab und strich sich über das wirre Haar. »Nein«, entgegnete er abrupt. »Ich hatte eine schreckliche Nacht. Würden Sie mich einen Augenblick entschuldigen, damit ich mich etwas zurechtmachen kann?«

»Natürlich. Soll ich inzwischen das Frühstück bereiten? Sie sind mit der Einrichtung vielleicht noch nicht vertraut.«

»Das wäre nett«, sagte Denison.

Etwa zwanzig Minuten später kam er wieder zum Vorschein, gewaschen und rasiert, in Hosen und Unterhemd. »Ich hoffe, ich habe die Dusche nicht kaputtgemacht. Das Wasser blieb plötzlich aus, und ich konnte es nicht wieder anstellen.«

»Wasser ist bei uns rationiert. Man bekommt nur eine bestimmte Menge. Wir sind hier auf dem Mond, Doktor. Ich habe mir erlaubt, für uns beide Rühreier und heiße Suppe zu machen.«

»Rühr…«

»So nennen wir’s jedenfalls. Sie würden es wohl nicht so bezeichnen.«

»Oh!« Denison setzte sich ohne rechte Begeisterung und kostete von dem weichen gelben Mischmasch, der wohl die »Rühreier« sein sollte. Er versuchte, nicht gleich beim ersten Bissen das Gesicht zu verziehen, und nahm sich mannhaft einen zweiten Löffel voll.

»Sie werden sich schon daran gewöhnen«, meinte Neville. »Das Zeug ist sehr nahrhaft. Ich möchte Sie schon jetzt warnen, daß die vielen Proteine und die niedrige Schwerkraft Ihr Nahrungsbedürfnis mindern werden.«

»Um so besser«, sagte Denison und räusperte sich.

»Selene hat mir erzählt, daß Sie auf dem Mond bleiben wollen.«

»Das war meine Absicht«, erwiderte Denison. Er rieb sich die Augen. »Ich habe allerdings eine fürchterliche Nacht hinter mir, die meinen Entschluß wieder ins Wanken bringt.«

»Wie oft sind Sie denn aus dem Bett gefallen?«

»Zweimal. Wie ich höre, passiert das oft.«

»Den Besuchern von der Erde unweigerlich. Wenn Sie wach sind, können Sie Ihre Bewegungen auf die Mondschwerkraft einstellen. Im Schlaf jedoch werfen Sie sich herum wie auf der Erde. Wenigstens fällt man hier nicht so schwer.«

»Beim zweitenmal habe ich noch eine Zeitlang auf dem Boden weitergeschlafen. Wußte überhaupt nicht mehr, daß ich aus dem Bett gefallen war. Was tut man nur dagegen?«

»Sie müssen regelmäßig Puls, Blutdruck und Körperfunktionen überprüfen lassen, damit die Schwerkraftveränderung Sie nicht zu sehr belastet.«

»Davor bin ich hinreichend gewarnt«, entgegnete Denison angewidert. »Tatsächlich habe ich im nächsten Monat schon meine Termine. Und Pillen.«

»Also«, sagte Neville, als käme er nun zu Wichtigerem, »nach einer Woche haben Sie wahrscheinlich überhaupt keine Schwierigkeiten mehr… Und Sie brauchen vernünftige Sachen zum Anziehen. Mit den Hosen ist kein Staat zu machen, und das dünne Hemd ist doch sinnlos.«

»Es gibt hoffentlich einen Laden, in dem ich Kleidung kaufen kann.«

»Natürlich. Wenn Sie sie in ihrer Freizeit erwischen, wird Ihnen Selene bestimmt gern helfen. Sie hat mir versichert, daß Sie ganz in Ordnung sind, Doktor.«

»Das freut mich.« Denison, der von der Suppe gekostet hatte, schaute in die Tasse, als überlegte er, was er mit dem Rest machen sollte. Grimmig löffelte er weiter.

»Sie hält Sie für einen Physiker, aber da irrt sie sich natürlich.«

»Ich bin ausgebildeter Strahlungschemiker.«

»Aber auf diesem Gebiet haben Sie seit langem nicht mehr gearbeitet, Doktor. Wir sind zwar weit vom Schuß hier oben, aber zu weit nun auch wieder nicht. Wir wissen, daß Sie zu Hallams Opfern gehören.«

»Gibt es denn so viele, daß man sie schon als Gruppe ansprechen kann?«

»Warum nicht? Der ganze Mond ist ein Opfer Hallams.«

»Der Mond?«

»Gewissermaßen.«

»Ich verstehe nicht.«

»Wir haben keine Pumpstationen auf dem Mond. Es wurden keine installiert, weil das Parauniversum nicht mitmachte. Die ausgelegten Wolfram-Stücke wurden nicht ausgetauscht.«

»Sie wollen doch nicht behaupten, daß das Hallams Schuld ist.«

»In negativer Hinsicht schon. Warum kann nur das Parauniversum eine Pumpstation in Gang bringen? Warum nicht wir?«

»Soweit ich weiß, fehlen uns die Kenntnisse, um die Initiative zu ergreifen.«

»Und diese Kenntnisse werden uns auch künftig abgehen, wenn jede Forschung in dieser Richtung unterbunden wird.«

»Unterbunden?« fragte Denison mit leichter Überraschung.

»Es läuft darauf hinaus. Wenn alle Arbeiten, die unser Wissen in dieser Richtung erweitern könnten, beim Einsatz des Protonensynchrotrons und anderer großer Installationen verzögert werden Anlagen, die unter Kontrolle der Erde und somit unter dem Einfluß Hallams stehen, dann ist die Forschung effektiv unterbunden.«

Denison rieb sich die Augen. »Ich muß wohl noch Schlaf nachholen… Es tut mir leid, ich will damit nicht andeuten, daß Sie mich langweilen. Aber sagen Sie mir, ist die Elektronenpumpe denn so wichtig für den Mond? Bestimmt sind doch die Sonnenbatterien völlig ausreichend.«

»Aber sie fesseln uns an die Sonne, Doktor. Sie binden uns an die Oberfläche.«

»Nun… Aber warum hat Hallam Ihrer Meinung nach eine so negative Einstellung zu der Angelegenheit, Dr. Neville?«

»Da Sie ihn persönlich kennen, müßten Sie das besser wissen als ich. Er zieht es vor, die Allgemeinheit darüber im unklaren zu lassen, daß das gesamte Elektronenpumpensystem das Produkt der Paramenschen ist und wir nur die Rolle untergeordneter Diener erfüllen. Und wenn wir auf dem Mond einmal den Punkt erreichen, da wir selbst aktiv werden können, wird der Beginn der wahren Technologie der Elektronenpumpe von unserer Entdeckung an gerechnet — und nicht von seiner.«

»Warum erzählen Sie mir das alles?« fragte Denison.

»Damit ich keine Zeit verschwende. Gewöhnlich heißen wir Physiker von der Erde willkommen. Wir fühlen uns abgeschnitten hier auf dem Mond, als Opfer einer offen gegen uns gerichteten terrestrischen Politik, und ein Physiker auf Besuch kann uns helfen, auch wenn er vielleicht nur unser Gefühl der Isolierung mildert. Ein Physiker als Immigrant ist uns sogar noch lieber, und wir erklären ihm schnell die Lage und laden ihn ein, mit uns zu arbeiten. Es tut mir daher leid, daß Sie kein richtiger Physiker sind.«

Denison sagte ungeduldig: »Das habe ich auch niemals behauptet.«

»Und doch wollten Sie das Synchrotron sehen. Warum?«

»Oh, macht Ihnen das zu schaffen? Mein lieber Dr. Neville, lassen Sie es sich erklären. Meine Karriere als Wissenschaftler wurde vor einem halben Menschenalter ruiniert. Ich habe mich entschlossen, mein Leben gewissermaßen zu rehabilitieren, ihm eine neue Bedeutung zu geben, und zwar möglichst weit von Hallam entfernt — hier auf dem Mond. Ich bin Strahlungschemiker, was mich aber für andere Gebiete nicht blind gemacht hat. Die Paraphysik ist heute das aktuelle Feld, und ich habe nach bestem Wissen entsprechende eigene Studien betrieben — aus dem Gefühl heraus, daß ich mich damit am ehesten rehabilitieren könnte.«

Neville nickte. »Verstehe«, bemerkte er mit deutlichem Zweifel.

»Übrigens, da Sie von der Elektronenpumpe sprachen. Haben Sie schon von den Theorien Peter Lamonts gehört?«

Neville sah den anderen mit zusammengekniffenen Augen an. »Nein, ich glaube, den Mann kenne ich nicht.«

»Ja, er ist noch nicht berühmt. Er wird es vermutlich auch nie werden — im wesentlichen aus den gleichen Gründen wie ich. Er hat sich mit Hallam angelegt. Sein Name war in letzter Zeit öfter zu hören, und ich habe über ihn nachgedacht. Damit ist wenigstens ein Teil der letzten Nacht herumgegangen.« Und er gähnte.

»Ja, Doktor?« drängte Neville. »Was ist mit dem Mann? Wie hieß er doch gleich?«

»Peter Lamont. Er hat einige interessante Gedanken über die Paratheorie geäußert. Er glaubt, daß mit fortschreitendem Einsatz der Pumpe die Starke nukleare Wechselwirkung im Bereich des Sonnensystems grundsätzlich an Intensität zunehmen wird, daß die Sonne sich langsam erhitzen und im kritischen Augenblick eine Phasenveränderung durchmachen wird, die zu einer Explosion führt.«

»Unsinn! Können Sie den Grad der Veränderung ermessen, der sich auf kosmischer Ebene ergibt, wenn die Pumpe wie bisher im irdischen Umfang genutzt wird? Selbst als Amateurphysiker sollten Sie erkennen, daß die Pumpe während der Lebensdauer des Sonnensystems unmöglich spürbare Veränderungen in den allgemeinen Verhältnissen im Universum herbeiführen kann.«

»Glauben Sie das wirklich?«

»Natürlich. Sie nicht?« fragte Neville.

»Ich bin mir nicht sicher. Lamont führt einen persönlichen Kampf. Ich bin ihm einmal kurz begegnet, und er schien mir ein sehr zielbewußter und doch sensibler Bursche zu sein. Was Hallam ihm angetan hat, stürzt ihn vermutlich in hemmungslose Wut.«

Neville runzelte die Stirn. »Sind Sie sicher, daß er mit Hallam quersteht?«

»Dafür bin ich doch wohl Experte.«

»Sie meinen nicht, daß das Ausstreuen einer solchen Theorie daß die Pumpe gefährlich ist — ein weiteres Mittel sein könnte, dem Mond eigene Pumpstationen vorzuenthalten?«

»Selbst auf die Gefahr hin, daß man damit Unruhe und Verzweiflung in der Erdbevölkerung heraufbeschwört? Natürlich nicht. Das hieße mit Kanonen auf Spatzen schießen. Nein, ich bin sicher, daß Lamont es ehrlich meint. Ich hatte sogar einmal eigene Ideen in dieser Richtung.«

»Weil auch Sie vom Haß auf Hallam getrieben werden.«

»Ich bin nicht Lamont. Ich könnte mir vorstellen, daß ich nicht so reagiere wie er. Ich hegte sogar die Hoffnung, der Angelegenheit auf dem Mond nachgehen zu können — ohne Hallams Querschießerei, ohne Lamonts Emotionen.«

»Hier auf dem Mond?«

»Hier auf dem Mond. Ich dachte, daß man mich vielleicht am Protonensynchrotron arbeiten ließe.«

»Und deshalb interessierten Sie sich dafür?«

Denison nickte.

»Glauben Sie wirklich, man läßt Sie an das Synchrotron? Wissen Sie, wie weit die Voranmeldungen reichen?«

»Ich stellte mir vor, vielleicht mit einem der lunaren Wissenschaftler zusammenzuarbeiten.«

Neville lachte und schüttelte den Kopf. »Unsere Chancen stehen kaum besser als die Ihren… Ich sage Ihnen, was wir versuchen können. Wir haben eigene Laboratorien eingerichtet. Dort könnten wir Ihnen eine Ecke einräumen. Vielleicht haben wir auch ein paar kleine Geräte frei. Ob Ihnen unsere Einrichtungen nützen, weiß ich nicht — aber vielleicht läßt sich damit wenigstens ein Anfang machen.«

»Meinen Sie, ich hätte damit die Möglichkeit, Feststellungen im Bereiche der Paratheorie zu treffen?«

»Das würde wohl mit von Ihrem Einfallsreichtum abhängen. Wollen Sie die Theorien dieses Lamont beweisen?«

»Oder widerlegen. Vielleicht.«

»Wenn überhaupt, werden Sie sie widerlegen. Darum habe ich keine Sorge.«

»Ihnen ist also klar«, sagte Denison, »daß ich kein vollwertiger Physiker bin? Warum bieten Sie mir so bereitwillig eine Stelle an?«

»Weil Sie von der Erde kommen. Ich sagte Ihnen schon, daß wir das zu schätzen wissen, und vielleicht ist Ihr Selbststudium noch zusätzlich von Bedeutung. Außerdem tritt Selene für Sie ein — eine Tatsache, der ich mehr Bedeutung beimesse, als ich vielleicht sollte. Zugleich haben auch wir unter Hallam zu leiden und sind sozusagen Kollegen. Wenn Sie sich rehabilitieren wollen, helfen wir Ihnen.«

»Verzeihen Sie, wenn ich zynisch bin. Was erwarten Sie dafür von mir?«

»Ihre Hilfe. Zwischen den Wissenschaftlern der Erde und des Mondes bestehen gewisse Mißverständnisse. Sie sind ein Mann von der Erde, der freiwillig auf den Mond gekommen ist, und Sie könnten zum Vorteil aller als Bindeglied fungieren. Sie haben bereits Kontakt mit dem neuen Hochkommissar, und es wäre doch denkbar, daß Sie, wenn Sie sich rehabilitieren, das gleiche für uns bewirken.«

»Sie meinen, wenn meine Tätigkeit Hallams Einfluß schwächt, würde das auch der lunaren Wissenschaft zugute kommen.«

»Was Sie auch machen — es hilft bestimmt…Aber vielleicht sollte ich jetzt gehen, damit Sie richtig ausschlafen können. Setzen Sie sich in den nächsten Tagen mit mir in Verbindung; ich versuche Sie dann in einem Labor unterzubringen. Und er sah sich um »ich besorge Ihnen eine bequemere Unterkunft.«

Sie schüttelten sich die Hand, und Neville ging.

8

»Obwohl Ihre Lage hier manchmal wenig schön gewesen ist, reisen Sie heute sicher nur schweren Herzens ab«, sagte Gottstein zu Montez.

Dieser zuckte vielsagend die Achseln. »Mit sehr schwerem Herzen, wenn ich an die volle Schwerkraft denke. Die Mühe des Atmens, die schmerzenden Füße, der Schweiß. Ich werde ständig schwitzen.«

»Eines Tages bin ich auch an der Reihe.«

»Beherzigen Sie meinen Rat. Bleiben Sie niemals länger als zwei Monate hintereinander. Ganz gleich, was Ihnen die Ärzte sagen oder was für isometrische Übungen sie Ihnen verschreiben — fliegen Sie alle sechzig Tage zur Erde und bleiben Sie mindestens eine Woche. Sie müssen sich das Gefühl dafür bewahren.«

»Ich werde daran denken… Oh, ich habe mich übrigens mit meinem Freund in Verbindung gesetzt.«

»Mit welchem Freund?«

»Mit dem Mann, der im gleichen Schiff mit mir heraufflog. Mir war, als kannte ich ihn von früher, und das stimmte. Ein Mann namens Denison. Ein Radiochemiker. Meine Erinnerungen waren noch ziemlich präzise.«

»Ah?«

»Ich erinnerte mich an eine interessante Vernunftwidrigkeit, die er einmal geäußert hat, und versuchte ihr wieder auf die Spur zu kommen. Doch er wich mir ziemlich geschickt aus. Seine Argumente klangen ganz vernünftig; so vernünftig sogar, daß ich mißtrauisch wurde. Manche Verrückte haben eine attraktivvernünftige Art an sich — ein Defensivmechanismus.«

»O Himmel«, sagte Montez sichtlich zerfahren. »Ich glaube nicht, daß ich Ihnen da folgen kann. Wenn Sie nichts dagegen haben, setze ich mich mal einen Augenblick. Es macht mich ganz atemlos, zu überlegen, ob nun alles richtig eingepackt ist, und zugleich an die Erdschwerkraft denken zu müssen… Was für eine Vernunftwidrigkeit?«

»Er wollte uns weismachen, daß die Verwendung der Elektronenpumpe gefährlich wäre. Er meinte, sie würde das Universum zur Explosion bringen.«

»O ja? Und tut sie das?«

»Ich hoffe nicht. Damals wurde die Sache ziemlich brüsk abgetan. Wie Sie wissen, werden Wissenschaftler, die bis zu den Grenzen des Verstehens stoßen, leicht nervös. Ich kannte einmal einen Psychiater, der diese Erscheinung das »Werweiß«-Phänomen nannte. Wenn einen nichts weiterbringt, sagt man schließlich: »Wer weiß schon, was geschehen wird?« und dann springt die Phantasie ein und gibt einem die Antworten.«

»Aber wenn die Physiker solche Dinge sagen, nur ein paar von ihnen…«

»Sie tun es nicht. Jedenfalls nicht öffentlich. Es gibt da so etwas wie eine wissenschaftliche Verantwortung, und die entsprechenden Fachjournale nehmen sich sehr in acht, keinen Unsinn zu drucken. Oder was sie als Unsinn ansehen. Sie müssen wissen, das Thema ist wieder akut geworden. Ein Physiker namens Lamont hat mit Senator Burt, mit dem selbsternannten Umweltschutzmessias Tschen und ein paar anderen gesprochen. Er besteht ebenfalls auf der Gefahr einer kosmischen Explosion. Niemand glaubt ihm, doch die Geschichte sickerte hier und dort durch und wird in jeder Etappe besser.«

»Und unser Mann hier auf dem Mond glaubt daran.«

Gottstein lächelte breit. »Ich vermute es. Himmel, wenn ich nicht schlafen kann — ich falle übrigens immer wieder aus dem Bett, glaube ich es ja selber! Er hofft wahrscheinlich auf eine Gelegenheit, die Theorie im Experiment auf die Probe zu stellen.«

»Nun?«

»Nun, lassen wir ihn. Ich habe angedeutet, daß wir ihm helfen würden.«

Montez schüttelte den Kopf. »Das ist riskant. Ich habe nichts dafür übrig, verrückte Einfälle offiziell zu unterstützen.«

»Es besteht immerhin die schwache Möglichkeit, daß der Einfall gar nicht so verrückt ist — doch darum geht es nicht. Es geht vielmehr um folgendes: wenn wir ihn auf dem Mond etablieren können, erfahren wir womöglich durch ihn, was hier vorgeht. Er ist sehr erpicht auf seine Rehabilitierung, und ich habe ihm angedeutet, daß wir sehr dazu beitragen könnten, wenn er mitmachte… Ich werde dafür sorgen, daß Sie vertraulich auf dem laufenden gehalten werden. Wie unter Freunden üblich.«

»Vielen Dank«, sagte Montez. »Und auf Wiedersehen.«

9

Neville kratzte sich. »Nein, ich mag ihn nicht.«

»Warum nicht? Weil er ein Erdchen ist?« Selene schnipste ein Stückchen Flaum von ihrer rechten Brust, fing es auf und betrachtete es kritisch. »Das ist nicht von meiner Bluse. Ich sage dir, die Luftzirkulation hier ist schrecklich.«

»Dieser Denison ist wertlos. Er ist kein Paraphysiker. Er ist ein Selbststudierter auf dem Gebiet, sagt er und stellt das sofort unter Beweis, indem er mit fix und fertig zurechtgelegten verrückten Ideen aufwartet.«

»Zum Beispiel?«

»Er glaubt, die Elektronenpumpe würde das Universum zur Explosion bringen.«

»Hat er das gesagt?«

»Ich weiß, daß er es glaubt…. Oh, ich kenne die Argumente. Ich habe sie schon oft genug anhören müssen. Aber es ist nicht so, basta.«

»Vielleicht«, sagte Selene und hob die Augenbrauen, »willst du nur nicht, daß es so ist.«

»Nun fang du nicht damit an«, erwiderte Neville. Es folgte ein kurzes Schweigen. Dann fragte Selene: »Nun, was willst du mit ihm machen?«

»Ich gebe ihm erst einmal einen Platz zum Arbeiten. Er mag ja wertlos sein als Wissenschaftler, aber er hat trotzdem seine Vorteile. Auffallen wird er jedenfalls; der Hochkommissar hat bereits mit ihm gesprochen.«

»Ich weiß.«

»Nun, er trägt das romantische Banner eines unglücklichen Karrieristen, der sich nun rehabilitieren möchte.«

»Wirklich?«

»Wirklich. Ich bin sicher, dir gefällt diese Vorstellung. Wenn du ihn danach fragst, erzählt er dir alles. Und das ist gut. Wenn wir einen romantisch verklärten Mann von der Erde hier auf ein unsinniges Projekt ansetzen, ist er die perfekte Ablenkung für den Hochkommissar; er ist der Lockvogel, der falsche Wegweiser. Und es könnte ja auch sein — wer weiß, daß wir durch ihn eine genauere Vorstellung von dem gewinnen, was da auf der Erde vorgeht… Du könntest ruhig weiter freundlich zu ihm sein, Selene.«

10

Selene lachte, und das Geräusch hallte metallisch in Denisons Kopfhörer. Ihre Figur wurde durch einen unförmigen Raumanzug verhüllt.

»Kommen Sie schon, Ben«, sagte sie. »Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie sind doch längst ein alter Hase — nach einem Monat hier.«

»Achtundzwanzig Tage«, murmelte Denison. Er hatte das Gefühl, sein Raumanzug erdrückte ihn.

»Einen Monat«, beharrte Selene. »Es war fortgeschrittene Halberde, als Sie hier eintrafen, und es ist auch jetzt wieder Halberde.« Sie deutete auf die schimmernde Rundung der Erde am südlichen Himmel.

»Gut — aber warten Sie doch. Ich bin hier draußen nicht so mutig wie unten. Wenn ich nun falle?«

»Na und? Die Schwerkraft ist im Verhältnis zur irdischen Gravitation nur gering, der Abhang ist ganz flach, und Ihr Raumanzug kann einiges vertragen. Wenn Sie fallen, lassen Sie sich einfach weitergleiten und rollen. So macht es fast genausoviel Spaß.«

Denison sah sich zweifelnd um. Ringsum erstreckte sich die schöne Mondlandschaft im Licht der Erde. Sie war schwarz und weiß ein mildes, zartes Weiß im Vergleich zur Grelle der Landschaft, die er vor einer Woche bei einer Inspektionsfahrt zu den endlosen Bänken von Sonnenbatterien im Mare Imbrium erlebt hatte. Und auch das Schwarz war irgendwie weicher, es fehlte der schmerzvolle Kontrast des echten Tages. Die Sterne waren ungewöhnlich hell, und die Erde — die Erde — wirkte unendlich einladend mit ihren weißen Wirbelflecken auf blauem Grund und dem Hauch von Tönung hier und da. »Na ja«, sagte er, »haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich an Ihnen festhalte?«

»Aber nein. Und wir gehen sowieso nicht ganz hinauf. Heute ist erst einmal der Anfängerhügel dran. Versuchen Sie nur mit mir Schritt zu halten. Ich bewege mich ganz langsam.« Sie machte lange, vorsichtig ausschwingende Schritte, und er versuchte es ihr im gleichen Rhythmus nachzumachen. Der emporgeneigte Boden unter ihren Füßen war pulverig, und mit jedem Schritt wirbelte Denison feinen Staub auf, der sich in der Luftleere schnell wieder setzte. Schritt um Schritt paßte er sich an — doch es machte ihm Mühe.

»Gut«, meinte Selene, die sich untergehakt hatte, um ihn zu stützen. »Sie machen sich gut für ein Erdchen — nein, ich sollte wohl sagen Immi…«

»Vielen Dank.«

»Das ist aber auch nicht viel besser. Immi für Immigrant ist fast so beleidigend wie Erdchen. Ich sollte vielleicht sagen, daß Sie sich wirklich sehr gut machen für einen Mann Ihres Alters.«

»Nein! Das ist ja noch schlimmer.« Denison keuchte ein wenig und spürte, wie seine Stirn feucht wurde.

»Jedesmal wenn Sie so weit sind, daß Sie Ihren Fuß aufsetzen wollen, müssen Sie sich mit dem anderen Fuß einen kleinen Stoß geben«, sagte Selene. »Dadurch werden Ihre Schritte größer, und alles ist einfacher. Nein, nein — schauen Sie mal her.«

Denison blieb dankbar stehen und beobachtete Selene, die trotz des grotesken Anzuges irgendwie schlank und anmutig wirkte, wenn sie nur in Bewegung war; das Mädchen eilte in flachen Hüpfschritten davon. Sie kehrte um und kniete sich neben ihn.

»Jetzt machen Sie einen langsamen Schritt, Ben, und ich stoße an Ihren Fuß, wenn ein Schub kommen muß.«

Sie versuchten es mehrmals, und Denison sagte: »Das ist ja schlimmer als ein Wettlauf auf der Erde. Ich muß mich mal ausruhen.«

»Natürlich. Das kommt davon, daß Ihren Muskeln noch die richtige Koordination fehlt. Sie kämpfen gegen sich selbst, nicht gegen die Schwerkraft… Also, setzen Sie sich und kommen Sie erst mal wieder zu Atem. Wir gehen heute nicht viel weiter hinauf.«

»Schadet es den Tanks, wenn ich mich auf den Rücken lege?« fragte Denison.

»Nein, natürlich nicht, aber ich würde es nicht tun. Nicht auf bloßem Boden. Die Temperatur beträgt 65 Grad unter Null — und je kleiner die Berührungsfläche ist, desto besser. Ich würde mich nur setzen.«

»Na gut.« Seufzend setzte sich Denison. Bewußt wandte er sich nach Norden, mit dem Rücken zur Erde. »Sehen Sie mal, die Sterne!«

Selene saß im rechten Winkel zu ihm und schaute ihn an. Von Zeit zu Zeit, wenn das Erdlicht im richtigen Winkel auftraf, konnte er unter der Helmscheibe undeutlich ihr Gesicht ausmachen.

»Sehen Sie denn keine Sterne auf der Erde?« fragte sie. »So nicht. Selbst wenn es keine Wolken gibt, saugt die Luft einen Teil des Lichtes auf. Die Temperaturunterschiede in der Atmosphäre bringen sie zum Flackern, und die Lichter der Städte, auch wenn sie weit weg sind, lassen sie verschwinden.«

»Klingt schrecklich.«

»Gefällt es Ihnen hier, Selene? Hier draußen auf der Oberfläche?«

»Ich bin nicht gerade verrückt danach, aber ab und zu läßt es sich aushalten. Natürlich gehört es zu meiner Arbeit, die Touristen auch hier herauszuführen.«

»Und jetzt müssen Sie’s für mich tun.«

»Wie oft muß ich Ihnen noch sagen, daß es nicht dasselbe ist, Ben? Wir haben eine vorgeschriebene Route für die Touristen, die sehr ungefährlich und auch sehr uninteressant ist. Glauben Sie etwa, wir würden die Leute hier auf den Gleithang führen. Der ist für die Lunarier — und die Immis. Hauptsächlich aber Immis.«

»Er kann nicht sehr beliebt sein. Es ist niemand sonst hier.«

»Na ja, es gibt bestimmte Tage dafür. Sie sollten den Hang mal an einem Wettlauftag sehen. Da würde es Ihnen hier sicher nicht gefallen.«

»Ich weiß, daß es mir jetzt schon nicht gefällt. Ist das Gleiten ein Sport speziell für Immis?«

»Vorwiegend. Die Lunarier mögen die Oberfläche im allgemeinen nicht.«

»Wie steht es mit Dr. Neville?«

»Sie meinen — wie steht er zur Oberfläche?«

»Ja!«

»Offen gesagt, glaube ich nicht, daß er überhaupt schon einmal hier oben war. Er ist eine echte Stadtpflanze. Warum fragen Sie?«

»Nun, als ich ihn um Erlaubnis bat, an der Routineinspektion der Sonnenbatterien teilzunehmen, ließ er mich ohne weiteres fahren — aber zum Mitkommen war er nicht zu bewegen. Ich bat ihn darum, damit ich jemanden hatte, der meine Fragen beantwortete, falls mir welche einfielen, und seine Weigerung fiel ziemlich heftig aus… »Ich hoffe, Sie haben jemand anders für Ihre Fragen gefunden.«

»O ja. Übrigens, auch ein Immi. Vielleicht erklärt das Dr. Nevilles Einstellung gegenüber der Elektronenpumpe.«

»Was meinen Sie?«

»Nun…« Denison lehnte sich zurück, hob abwechselnd die Beine und beobachtete träge ihren langsamen Aufstieg und Fall. »He, das ist gut. Schauen Sie, Selene… Ich meine, Dr. Neville hat sich sehr darauf versteift, eine Pumpstation auf den Mond zu holen obwohl die Sonnenbatterien völlig ausreichen. Auf der Erde — wo die Sonne oft nicht so zuverlässig scheint wie hier — könnten wir keine Solarbatterien einsetzen. Im ganzen Sonnensystem gibt es keinen Himmelskörper, der für die Verwendung solcher Batterien besser geeignet ist als der Mond. Sogar der Merkur ist zu heiß… Aber die Batterien binden einen natürlich an die Oberfläche, und wenn man die Oberfläche nicht mag…«

Selene stand auf. »Los, Ben. Sie haben sich genug ausgeruht«, sagte sie. »Auf! Auf!«

Er richtete sich mühsam auf. »Eine Pumpstation würde jedoch bedeuten, daß kein Lunarier mehr an die Oberfläche zu kommen brauchte, wenn er es nicht wollte.«

»Weiter hinauf geht’s, Ben. Bis zum Kamm da oben. Sehen Sie dort, wo das Erdlicht horizontal abgeschnitten wird?« Sie legten das letzte Stück Weg schweigend zurück. Denison bemerkte eine glatte Fläche zur Linken — einen breiten Streifen Abhang, der von Staub völlig frei zu sein schien. »Da kommt kein Anfänger hinauf — zu glatt«, beantwortete Selene seine unausgesprochene Frage. »Nun werden Sie nicht übermütig und verlangen von mir, daß ich Ihnen auch noch den Känguruh-Sprung beibringe.«

Gleichzeitig vollführte sie einen Känguruh-Sprung, schwang sich dabei vor dem Aufsetzen herum und sagte: »Hier sind wir richtig. Setzen Sie sich, und ich bringe…«

Denison gehorchte und drehte sich zum Hang. Unsicher schaute er die Schräge hinab. »Kann man wirklich darauf gleiten?«

»Natürlich. Die Schwerkraft ist hier schwächer als auf der Erde also wird man auch viel weniger gegen den Boden gedrückt, und das bedeutet, daß es weniger Reibung gibt. Auf dem Mond ist alles glatter als auf der Erde. Deshalb sehen die Fußböden in unseren Korridoren und Wohnungen auch so unvollendet aus. Möchten Sie meinen kleinen Vortrag über dieses Thema hören — den, den ich den Touristen immer halte?«

»Nein, Selene.«

»Außerdem benutzen wir natürlich Gleiter.« In der Hand hielt sie eine kleine Patrone, an der eine Klammer und zwei dünne Röhrchen befestigt waren. »Was ist das?« fragte Ben.

»Ein einfacher kleiner Flüssiggasbehälter. Er führt einen Dampfstrahl unter Ihre Stiefel. Die dünne Gasschicht zwischen Sohle und Boden reduziert die Reibung praktisch auf Null. Und Sie bewegen sich, als wären Sie im Weltall.«

»Gefällt mir nicht. Es ist doch Verschwendung, hier ein Gas zu solchen Zwecken zu benutzen.«

»Also, ich bitte Sie! Was für ein Gas benutzen wir wohl. Kohlendioxyd? Sauerstoff? Nein, ein Abfallgas — Argon. Das findet sich tonnenweise im Gestein des Mondes — aus dem milliardenjährigen Zerfall von Kalium-40… Auch das gehört zu meinem Vortrag, Ben… Für das Argon haben wir sonst kaum Verwendung. Wir könnten es eine Million Jahre lang in den Gleitern benutzen, ohne daß sich der Vorrat erschöpfen würde. Gut, Ihre Gleiter sind fest. Warten Sie, bis ich meine auch an gelegt habe.«

»Wie funktionieren sie denn?«

»Es geht alles von allein. Sie brauchen nur zu gleiten, das bewirkt den Kontakt, und der Gasdampf tritt aus. Der Vorrat reicht nur für ein paar Minuten, aber mehr brauchen Sie auch nicht.«

Sie stand auf und half ihm hoch. »Schauen Sie hügelabwärts… Los, Ben, der Hang ist ganz flach. Schauen Sie ihn sich an! Er wirkt doch fast waagerecht.«

»Nein, das tut er nicht«, sagte Denison widerspenstig.

»Kommt mir wie ein Steilhang vor.«

»Unsinn. Hören Sie mir gut zu. Sie halten Ihre Füße etwa fünfzehn Zentimeter auseinander, den einen ein paar Zentimeter vor dem anderen. Es ist gleichgültig, welcher Fuß vorn steht. Halten Sie dann die Knie gebeugt. Stemmen Sie sich nicht gegen den Wind, weil es nämlich keinen gibt. Versuchen Sie nicht nach oben oder nach hinten zu schauen, doch wenn Sie unbedingt müssen, können Sie zur Seite blicken. Und das Wichtigste: wenn Sie schließlich wieder ebenen Boden unter den Füßen haben, dürfen Sie nicht zu schnell abbremsen; Sie sind schneller, als Sie glauben. Lassen Sie das Gas einfach ausgehen, dann wird die Reibung Sie schon stoppen.«

»Das behalte ich doch nie!«

»Aber natürlich. Ich bin die ganze Zeit an Ihrer Seite. Und wenn Sie wirklich fallen und ich Sie nicht auffangen kann, tun Sie nichts! Entspannen Sie sich und lassen Sie sich rollen oder gleiten. Hier gibt es keine Felsbrocken, mit denen Sie zusammenstoßen könnten.«

Denison schluckte und schaute nach vorn. Der Südhang schimmerte im Erdlicht. Die winzigen Unebenheiten warfen lange schwarze Schatten, so daß die Oberfläche fleckig wirkte. Der Halbkreis der Erde schwebte direkt vor ihm am Himmel. »Fertig?« fragte Selene. Ihr schwerer Handschuh lag zwischen seinen Schulterblättern.

»Fertig«, erwiderte Denison schwach.

»Ab geht die Post!« Sie versetzte ihm einen Stoß, und Denison spürte, wie er in Bewegung geriet. Es ging zuerst nur langsam voran. Er wandte sich wacklig zu ihr um, und sie sagte: »Keine Sorge. Ich bin bei Ihnen.«

Er spürte den Boden unter den Füßen — doch dann war da nichts mehr. Der Gleiter hatte sich aktiviert. Einen Augenblick lang glaubte er stillzustehen. Keine Luft hemmte seinen Körper, nichts schien an seinen Füßen vorbeizugleiten. Aber als er sich wieder zu Selene umwandte, bemerkte er, daß sich Lichter und Schatten auf der einen Seite mit zunehmender Geschwindigkeit nach hinten bewegten. »Schauen Sie auf die Erde am Himmel«, sagte Selenes Stimme in seinem Ohr, »bis Sie noch mehr Tempo draufhaben. Je schneller Sie gleiten, desto sicherer geht es auch. Halten Sie die Knie gebeugt. Sie machen sich sehr gut, Ben.«

»Für einen Immi«, keuchte Denison.

»Wie kommen Sie sich vor?«

»Wie beim Fliegen.« Zu beiden Seiten war die Landschaft zu Schemen aus Hell und Dunkel geworden, die verschwommen zurückglitten. Er schaute hastig nach rechts, dann nach links und versuchte das Gefühl, daß ihm seine Umwelt nach hinten entglitt, in ein Gefühl der eigenen Vorwärtsbewegung umzuwandeln. Kaum war ihm das gelungen, als er auch schon wieder hastig zur Erde hinaufblicken mußte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. »Sie wissen ja gar nicht, wie das Fliegen auf dem Mond ist.«

»Jetzt weiß ich es. Es muß wie das Gleiten sein — und das kenne ich.. Sie hielt mühelos mit ihm Schritt.

Denison bewegte sich jetzt so schnell, daß ihm die Bewegung auch beim starren Geradeausschauen bewußt wurde. Die Landschaft öffnete sich vor ihm und floß zu beiden Seiten vorbei. »Wie schnell kann man überhaupt gleiten?« fragte er. »Bei einem guten Mondrennen«, antwortete Selene, »sind Geschwindigkeiten von über hundertundfünfzig Stundenkilometern gemessen worden — alles natürlich an steileren Hängen. Sie erreichen wahrscheinlich fünfzig.«

»Irgendwie kommt es mir viel schneller vor.«

»Ist es aber nicht. Wir laufen schon wieder aus, Ben, und Sie sind nicht gestürzt. Konzentrieren Sie sich jetzt; wenn das Gas im Gleiter verbraucht ist, merken Sie die Reibung. Tun Sie überhaupt nichts. Gleiten Sie einfach weiter.«

Im nächsten Augenblick spürte Denison wieder Druck unter seinen Stiefeln. Abrupt hatte er das Gefühl, überwältigend schnell dahinzurasen, und er ballte die Fäuste, um nicht instinktiv die Arme zu heben — in Abwehr eines Zusammenstoßes, der ausbleiben würde. Er wußte, daß er auf den Rücken fallen mußte, wenn er die Arme hochriß. Er kniff die Augen zusammen, hielt den Atem an, bis er das Gefühl hatte, seine Lungen müßten zerspringen, und dann sagte Selene: »Ausgezeichnet, Ben, ausgezeichnet. Ich habe noch keinen Immi erlebt, der sein erstes Gleiten ohne Sturz überstanden hat. Wenn Sie also noch fallen, macht es überhaupt nichts. Es ist jedenfalls keine Schande.«

»Ich will aber nicht fallen«, flüsterte Denison. Er atmete tief und zittrig ein und riß die Augen auf. Die Erde stand ruhig am Himmel, so gelassen wie zuvor. Er bewegte sich nun langsamer — immer langsamer — immer langsamer »Stehe ich still, Selene?« fragte er. »Ich weiß es nicht.«

»Sie stehen still. Bewegen Sie sich nicht. Sie müssen sich ausruhen, ehe wir uns auf den Rückweg machen… Verdammt, ich habe es doch vorhin hier irgendwo liegenlassen.« Denison beobachtete sie ungläubig. Sie war gemeinsam mit ihm den Hang hinaufgestiegen und wieder hinabgeglitten. Während er nun halbtot war vor Erschöpfung, hüpfte sie mit langen Känguruh-Sprüngen schon wieder durch die Luft. Etwa hundert Meter entfernt rief sie: »Da ist es ja!« Ihre Stimme klang so laut in seinen Kopfhörern, als stünde sie neben ihm. Im Nu war sie zurück — ein zusammengefaltetes dickes Plastiktuch unter dem Arm.

»Wissen Sie noch«, sagte sie fröhlich, »als Sie sich beim Aufstieg danach erkundigten und ich Ihnen sagte, daß wir es vor der Rückkehr noch brauchen würden?« Sie faltete das Gebilde auseinander und breitete es auf dem staubigen Mondboden aus.

»Ein Mondsofa — so wird es genannt. Aber wir nennen’s nur Sofa. Das Beiwort Mond ist selbstverständlich hier bei uns.«

Sie steckte eine Patrone in eine Öffnung und legte einen Hebel um. Das Gebilde begann sich zu füllen. Irgendwie hatte sich Denison auf ein Zischen gefaßt gemacht, aber natürlich gab es keine Luft, in der sich das Geräusch fortpflanzen konnte. »Ehe Sie wieder unsere Verschwendung kritisieren«, erklärte Selene, »das ist ebenfalls Argon.«

Das Gebilde dehnte sich zu einer Matratze auf sechs gedrungenen Beinen.

»Das Sofa trägt Ihr Gewicht«, sagte sie. »Es hat sehr wenig Bodenberührung, und das Vakuum schützt vor Hitzeverlust.«

»Sagen Sie nur nicht, das Ding ist heiß«, sagte Denison erstaunt.

»Das Argon wird beim Einströmen erhitzt, doch nur relativ. Seine Temperatur liegt zum Schluß nur etwas unter dem Schmelzpunkt für Eis. Das ist warm genug, damit Ihr Isolieranzug die Hitze nicht schneller abstrahlt, als er sie neu erzeugen kann. Los. Legen Sie sich hin.«

Denison gehorchte und vertraute sich genußvoll dem überraschenden Möbel an. »Großartig!« sagte er aufseufzend.

»Mama Selene denkt eben an alles.. Sie kam von hinten, glitt um ihn herum, die Füße auswärts gestellt, als glitte sie auf Schlittschuhen dahin, ließ ihre Beine dann zur Seite schwingen und ließ sich anmutig schwebend auf Ellenbogen und Hüfte neben ihm im Sand nieder.

Denison pfiff. »Wie geht denn das?«

»Es erfordert viel Übung. Versuchen Sie es bloß nicht. Sie würden sich den Ellenbogen brechen. Ich möchte Sie allerdings warnen. Wenn es mir zu kalt wird, muß ich mich noch zu Ihnen auf die Couch drängen.«

»Keine Gefahr«, erwiderte er. »Wo wir doch beide in Anzügen stecken.«

»Ah, da meldet sich mein mutiger Lüstling… Wie geht es?«

»Ganz gut. Was für ein Erlebnis!«

»Was für ein Erlebnis? Sie haben eben einen Rekord aufgestellt! Haben Sie etwas dagegen, daß ich den Leuten zu Hause von Ihrem tollen Gleiten erzähle?«

»Nein. Man läßt sich ja gern loben… Sie wollen doch hoffentlich nicht, daß ich das noch mal mache?«

»Auf der Stelle? Natürlich nicht. Ich würde es auch nicht tun. Wir ruhen uns nur ein bißchen aus, vergewissern uns, daß Ihr Herzschlag wieder normal ist, und kehren dann zurück. Wenn Sie mal die Beine herumschwingen, kann ich Ihnen die Gleiter abnehmen. Beim nächstenmal zeige ich Ihnen, wie man das macht, damit Sie es allein können.«

»Ich bin nicht sicher, daß es überhaupt ein nächstesmal gibt.«

»Aber natürlich. Hat es Ihnen denn keinen Spaß gemacht?«

»Ein wenig. In den Pausen zwischen den Wogen des Entsetzens.«

»Sie werden sich beim zweitenmal schon weniger fürchten, und beim drittenmal noch weniger und werden schließlich ein ungetrübtes Vergnügen daran haben. Ich mache noch einen Renngleiter aus Ihnen.«

»O nein. Ich bin zu alt.«

»Nicht auf dem Mond. Sie sehen nur alt aus.«

Denison spürte die absolute Stille des Mondes ringsum — eine Stille, die ihn zu durchdringen schien. Er schaute jetzt in Richtung Erde. Ihre Beständigkeit am Himmel hatte ihm während des Gleitens Halt gegeben, und er war ihr dankbar dafür. »Kommen Sie oft hier heraus, Selene?« fragte er. »Ich meine, allein oder nur zu zweit oder dritt? Sie wissen schon, wenn kein Renntag ist?«

»Praktisch nie. Wenn keine Leute um mich sind, wird es mir schnell zuviel. Daß ich es heute aushalte, erstaunt mich etwas.«

»Hmm«, sagte Denison unverbindlich.

»Sie sind nicht überrascht?«

»Sollte ich das sein? Ich meine, jede Person tut etwas, weil sie es entweder will oder muß — jedenfalls ist es ihre Sache und geht mich nichts an.«

»Danke, Ben, so etwas hört man gern. Es ist einer der angenehmen Züge an Ihnen, Ben, daß Sie uns, obwohl Sie Immi sind, gelten lassen. Wir sind ein Untergrundvolk, wir Lunaner, Höhlenmenschen, Korridorwesen. Na und? Was ist daran falsch?«

»Nichts.«

»Da sollten Sie mal die Erdchen hören! Und ich bin auch noch Touristenführerin und muß das alles über mich ergehen lassen. Alles, was sie äußern, habe ich schon eine Million Mal gehört. Meistens geht es so, und sie verfiel in die abgehackte Sprechweise eines typischen Erdchens in der Planetarischen Standard-Sprache: »Aber, Liebes, wie können diese Leute nur die ganze Zeit in den Höhlen wohnen? Fühlen sie sich da nicht schrecklich eingeengt Sehnen sie sich denn niemals nach blauem Himmel und Bäumen und Meer und Wind und Blumenduft…«

Oh, ich könnte das unendlich fortsetzen, Ben. Dann sagen sie auch: »Aber vermutlich wissen sie ja gar nicht, wie der blaue Himmel und das Meer und die Bäume aussehen, und daher fehlt ihnen das alles nicht.« Als ob wir das Erdfernsehen nicht empfangen könnten und als ob wir nicht Zugang zur irdischen Literatur hätten — in Büchern, auf Bändern und in Form von Geruchsaufzeichnungen!«

Denison lächelte und fragte: »Wie lautet denn die offizielle Antwort auf solche Bemerkungen?«

»Ach, wir sagen nur: »Wir sind durchaus daran gewöhnt, Madame Meistens sind es nämlich die Frauen. Die Männer interessieren sich viel zu sehr für unsere Blusen und überlegen vielleicht, wann wir sie wohl ausziehen. Wissen Sie, was ich diesen Idioten am liebsten sagen würde?«

»Bitte sagen Sie’s mir. Solange Sie nun die Bluse anbehalten müssen, da sie ja in Ihrem Raumanzug steckt, sollten Sie Ihrem Herzen zumindest auf diese Weise Luft machen.«

»Sehr komisch, Ihr Wortspiel!… Ich würde am liebsten antworten: »Hören Sie, Madam, warum, zum Teufel, sollten wir uns für Ihre verdammte Welt interessieren? Wir haben keine Lust, an der Außenseite eines Planeten herumzuhängen und darauf zu warten, hinunterzufallen oder in die Luft gesprengt zu werden. Wir wollen nicht, daß Luft an uns zerrt und uns schmutziges Wasser auf den Kopf fällt. Wir wollen Ihre verdammten Bazillen und Ihr Stinkgras und Ihren dummen blauen Himmel und Ihre dummen weißen Wolken nicht. Wir können die Erde am Himmel sehen, wenn wir wollen, und oft wollen wir’s nicht. Der Mond ist unsere Heimat, und wir schaffen uns diese Welt nach unseren Bedürfnissen — nur wir. Wir besitzen diese Welt, und wir formen unsere eigene Ökologie, und wir brauchen Ihr Mitgefühl nicht — nur weil wir unseren eigenen Weg gehen. Scheren Sie sich auf Ihre Welt und lassen Sie sich von Ihrer Schwerkraft die Brüste bis auf die Kniescheiben hinab zerren.« Das würde ich denen allen gern sagen.«

»Gut, gut«, meinte Denison. »Immer wenn Sie den Drang verspüren, einem Erdchen diesen Vortrag zu halten, kommen Sie zu mir und reden Sie los. Sie fühlen sich dann besser.«

»Wissen Sie was? Von Zeit zu Zeit kommt auch ein Immi mit dem Vorschlag, hier auf dem Mond einen Erdpark einzurichten ein kleines Fleckchen mit hier aufgezogenen Erdpflanzen und vielleicht auch Tieren. Ein kleiner Hauch von Heimat — so wird es meistens begründet.«

»Und Sie sind natürlich dagegen.«

»Natürlich bin ich dagegen. Ein Hauch von Heimat — für wen? Der Mond ist unsere Heimat. Und jeder Immi, der einen Hauch von Heimat braucht, sollte schleunigst in seine Heimat verschwinden. Manchmal sind Immis schlimmer als Erdchen.«

»Ich werde daran denken.«

»Sie nicht — bisher jedenfalls nicht«, entgegnete Selene. Es folgte ein kurzes Schweigen, und Denison fragte sich schon, ob Selene jetzt die Rückkehr in die Höhlen vorschlagen würde. Einerseits hatte er das Gefühl, bald zur Toilette zu müssen. Andererseits war ihm in seinem ganzen Leben noch nicht so wohlig entspannt zumute gewesen. Er überlegte, wie lange der Sauerstoff in seinem Tank reichen würde.

Dann fragte Selene: »Würden Sie mir mal eine Frage beantworten?«

»Aber ja. Wenn Sie etwas über mein Privatleben wissen wollen — da gibt es keinerlei Geheimnisse. Ich bin einszweiundsiebzig, wiege fündundzwanzig Pfund auf dem Mond, hatte einmal eine Frau, von der ich jetzt geschieden bin, ein Kind, eine Tochter, die inzwischen erwachsen und verheiratet ist, bin zur Universität gegangen in…«

»Nein. Ben. Eine richtige Frage. Es geht um Ihre Arbeit.«

»Natürlich, Selene. Ich weiß allerdings nicht, was ich Ihnen da begreiflich machen kann.«

»Nun… Sie wissen, daß Barron und ich…«

»Ja, ich weiß«, sagte Denison abrupt.

»Wir unterhalten uns. Er erzählt mir manchmal etwas. Er sagt, Ihrer Meinung nach würde die Pumpe unser Universum zur Explosion bringen.«

»Unseren Teil des Universums. Die Pumpe wird womöglich einen Teil unseres galaktischen Arms in einen Quasar verwandeln.«

»Wirklich? Glauben Sie das wirklich?«

»Als ich hier auf den Mond kam, war ich meiner Sache nicht sicher«, erwiderte Denison. »Inzwischen bin ich fest davon überzeugt.«

»Und wann passiert das?«

»Das kann ich nicht genau sagen. Vielleicht in ein paar Jahren. Vielleicht erst in ein paar Jahrzehnten.«

Es folgte ein kurzes Schweigen. Dann sagte Selene leise: »Barron ist anderer Meinung.«

»Ich weiß. Ich versuche ihn auch nicht umzustimmen. Ein Frontalangriff wäre sinnlos. Das ist übrigens Lamonts Fehler.«

»Lamont?«

»Entschuldigen Sie, Selene. Ich habe mit mir selbst gesprochen.«

»Nein, Ben. Bitte sagen Sie’s mir. Es interessiert mich. Bitte.. Denison wandte sich um und sah sie an. »Na gut. Ich habe nichts dagegen. Lamont, ein Physiker auf der Erde, versuchte auf seine Art die Welt auf die Gefahren der Pumpe aufmerksam zu machen. Er hat es nicht geschafft. Die Erdenmenschen wollen die Pumpe, die kostenlose Energie; sie wollen sie so sehr, daß sie um keinen Preis einsehen, daß sie sie nicht haben können.«

»Aber warum sollten sie danach streben, wenn sie ihnen den Tod bringt?«

»Sie brauchen nur die Augen davor zu verschließen, daß sie ihnen den Tod bringt. Der einfachste Weg, ein Problem zu lösen, besteht immer noch darin, seine Existenz zu leugnen. Ihr Freund, Dr. Neville, tut das auch. Er mag die Oberfläche nicht, also zwingt er sich zu dem Glauben, daß die Sonnenbatterien keinen Nutzwert haben — obwohl sie jedem neutralen Beobachter als die ideale Energiequelle für den Mond erscheinen müßten. Er strebt die Pumpe an, damit er im Unterirdischen bleiben kann, und will einfach nicht glauben, daß die Pumpe gefährlich sein könnte.«

»Ich glaube nicht, daß Barron etwas ablehnen würde, für das es stichhaltige Beweise gibt«, entgegnete Selene. »Haben Sie denn Beweise?«

»Ich glaube schon. Es ist wirklich erstaunlich. Das Ganze hängt von bestimmten Faktoren bei Quark-QuarkWechselwirkungen ab. Wissen Sie, was das ist?«

»Sie brauchen es mir nicht zu erklären. Ich habe mich so oft mit Barron unterhalten, daß ich Ihnen vielleicht folgen kann.«

»Nun, ich dachte, ich wäre für diesen Zweck auf das Protonensynchrotron angewiesen. Es hat einen Durchmesser von fünfzig Kilometern, hat supraleitende Magnete und kann Energien von 20 000 BeV und mehr bewältigen. Nun hat es sich herausgestellt, daß die Mondleute ein Gerät haben, das Pionisator genannt wird — eine Anlage, die in einen relativ kleinen Raum paßt und die gleichen Ergebnisse bringt wie das Synchrotron. Das ist ein erstaunlicher Fortschritt, für den ich dem Mond meinen Glückwunsch ausspreche.«

»Danke«, sagte Selene selbstgefällig. »Ich meine, im Namen des Mondes.«

»Also, meine Ergebnisse am Pionisator lassen das Ausmaß der Intensitätszunahme der Starken nuklearen Wechselwirkung erkennen; und diese Steigerung entspricht Lamonts Behauptungen und nicht den Annahmen der orthodoxen Theorie.«

»Und haben Sie das Barron gezeigt?«

»Nein. Wenn ich es täte, würde er meine Schlußfolgerung bestimmt zurückweisen. Er würde einwenden, die Ergebnisse seien nur indirekt; ich hätte einen Fehler gemacht. Er würde behaupten, ich hätte nicht alle Faktoren berücksichtigt und unzureichende Kontrollen gehabt. Im Grunde brächte er nur zum Ausdruck, daß er die Elektronenpumpe haben will und sie nicht aufzugeben beabsichtigt.«

»Sie meinen, es gibt keinen Ausweg?«

»Natürlich gibt es einen — doch keinen direkten. Nicht Lamonts Lösung.«

»Und die wäre?«

»Lamont zielt darauf ab, den Stopp aller Pumpen zu erzwingen — aber man kann das Rad natürlich nicht einfach so zurückdrehen. Man kann das Küken nicht wieder ins Ei zurückstoßen, den Wein nicht wieder an die Reben hängen, den Jungen nicht wieder in den Mutterleib drücken. Wenn man ein Kind dazu bringen will, Vaters Uhr loszulassen, darf man ihm nicht mit Vernunftgründen kommen — man muß dem Kleinen etwas anbieten, das er lieber haben würde.«

»Und das wäre?«

»Ah, gerade das ist mir noch nicht klar. Ich habe zwar eine Vorstellung, eine einfache Idee — die vielleicht zu einfach ist, als daß sie funktionieren könnte. Sie basiert auf der ganz offensichtlichen Tatsache, daß die Zahl zwei lächerlich ist und nicht allein existieren kann.«

Es folgte ein Schweigen, eine Minute lang. Dann sagte Selene gedankenverloren: »Lassen Sie mich mal raten, was Sie meinen.«

»Ich weiß nicht, ob ich überhaupt etwas meine«, erwiderte Denison.

»Lassen Sie mich trotzdem mal raten. Es wäre zum Beispiel sinnvoll anzunehmen, daß unser Universum das einzige ist, das existieren kann oder existiert, weil es das einzige ist, in dem wir leben und das wir unmittelbar erleben. Wenn sich jedoch Beweise dafür ergäben, daß daneben noch ein zweites Universum besteht — das wir Parauniversum nennen, dann wäre es absolut lächerlich anzunehmen, daß es insgesamt zwei und nur diese zwei Universen gibt. Wenn es überhaupt ein zweites Universum geben kann, dann auch eine unendliche Anzahl weiterer. Zwischen einem und einer unendlichen Anzahl von Universen, wie in einem solchen Fall, läßt sich vernünftigerweise überhaupt keine bestimmte Anzahl festlegen. Nicht nur die Zwei, sondern jede endliche Zahl wäre undenkbar.«

»Das ist genau, was ich…« Und wieder herrschte Stille. Denison richtete sich auf und schaute auf das Mädchen im Raumanzug hinab. »Wir sollten jetzt wohl in die Stadt zurück.«

»Ich habe nur herumgeraten«, sagte sie.

»Nein, das stimmt nicht«, erwiderte Denison. »Was immer Sie getan haben — nur herumgeraten haben Sie bestimmt nicht.«

11

Barron Neville starrte sie an. Eine ganze Weile brachte er kein Wort heraus. Sie hielt ruhig seinem Blick stand. Ihr Fensterpanorama war wieder einmal umgeschaltet; ein Fenster zeigte die zunehmende Erde.

Schließlich fragte er: »Warum nur?«

»Es war im Grunde nur ein Versehen«, antwortete sie. »Ich begriff, was er meinte, und ließ mich so sehr mitreißen, daß ich den Mund nicht halten konnte. Ich hätte es dir schon vor Tagen sagen müssen, aber ich fürchtete deine Reaktion, die ja nun auch eingetreten ist.«

»Er weiß also Bescheid. Du Idiotin!«

Sie runzelte die Stirn. »Was weiß er? Nichts, was er nicht früher oder später selbst erraten hätte — daß ich gar keine echte Touristenführerin bin, sondern dein Intuitionist. Ein Intuitionist, der von Mathematik keine Ahnung hat, um Himmels willen. Und was macht es, daß er es weiß? Wie oft hast du mir gesagt, daß meine Intuition überhaupt wertlos ist, wenn sie nicht durch mathematische Genauigkeit und experimentelle Beobachtung ergänzt wird? Wie oft hast du mir erklärt, daß die schönste Intuition falsch sein kann. Nun — welchen Wert sollte er also dem bloßen Intuitionismus beimessen?«

Neville wurde bleich, doch Selene wußte nicht, ob vor Wut oder Besorgnis. Er sagte: »Du bist anders. Hast du mit deinen Intuitionen nicht immer recht gehabt? Wenn du dir einer Sache wirklich sicher warst?«

»Ah, aber das weiß er doch nicht, oder?«

»Er wird es vermuten! Er wird mit Gottstein sprechen.«

»Was kann er ihm sagen? Er hat noch immer keine Vorstellung davon, worauf wir aus sind.«

»Wirklich?«

»Nein.« Sie war aufgestanden, hatte sich von ihm entfernt. Jetzt wandte sie sich um und brüllte: »Nein! Wie billig von dir, mir zu unterstellen, ich würde dich und die anderen verraten. Wenn du schon von meiner Integrität nicht überzeugt bist, darfst du wenigstens meinen gesunden Menschenverstand nicht anzweifeln. Es ist doch überhaupt sinnlos, etwas an sie weiterzugeben. Was nützt es ihnen — oder uns, wenn wir sowieso alle vernichtet werden?«

»Ich bitte dich, Selene!« Neville hob angewidert die Hand. »Fang nicht wieder davon an!«

»Nein. Hör mir mal zu. Er hat mit mir gesprochen und mir seine Arbeit beschrieben. Du versteckst mich wie eine Geheimwaffe. Du versicherst mir, daß ich wertvoller bin als jedes Instrument, oder jeder gewöhnliche Wissenschaftler. Du greifst zu allen möglichen Tricks, damit jedermann weiterhin an meine Rolle als Touristenführerin glaubt, um den Lunariern meine großen Talente zu erhalten. Nämlich dir. Und was erreichst du damit?«

»Du stehst uns doch zur Verfügung, oder nicht? Wie lange wärst du wohl frei herumgelaufen, wenn sie geahnt hätten…«

»Das sagst du immer wieder. Aber wer ist denn schon mal gefangengenommen worden? Wer hat seine Arbeit einstellen müssen? Wo ist der Beweis für die große Verschwörung, die du überall zu sehen glaubst? Die Erdenmenschen verwehren euch den Zutritt zu ihren großen Instrumenten, gewiß — aber daran seid ihr mehr schuld als sie; von Bösartigkeit kann keine Rede sein. Und ihr Verhalten hat uns andererseits eher zum Vorteil gereicht, weil es uns zwang, neue und wesentlich verfeinerte Instrumente zu erfinden.«

»Die sich auf deine theoretischen Einsichten gründen, Selene.«

Selene lächelte. »Ich weiß. Ben hat sich sehr lobend darüber ausgesprochen.«

»Du und dein Ben! Was zum Teufel findest du eigentlich an diesem elenden Erdchen?«

»Er ist Immigrant. Und was ich will, ist Information. Gibst du mir Informationen? Du hast so große Angst, daß ich geschnappt werden könnte, daß ich nicht einmal im Gespräch mit irgendwelchen Physikern gesehen werden darf; nur mit dir — und du bist mein… Wahrscheinlich auch nur deswegen.«

»Also wirklich, Selene.« Er versuchte seine Stimme ruhig klingen zu lassen, doch es lag noch viel zuviel Ungeduld darin.

»Na ja, es ist mir im Grunde auch egal. Du hast mir gesagt, ich hätte diese eine Aufgabe, und ich versuche mich darauf zu konzentrieren, und manchmal habe ich das Gefühl, der Lösung sehr nahe zu sein, Mathematik hin, Mathematik her. Ich kann sie mir vorstellen; ich weiß, was getan werden muß — und dann entgleitet es mir wieder. Aber was hat das alles für einen Sinn, wenn uns die Pumpe sowieso vernichtet…? Habe ich dir nicht gleich gesagt, daß mir die Veränderung der Feldintensität nicht geheuer ist?«

»Ich frage dich noch einmal. Möchtest du mir damit sagen, daß die Pumpe uns vernichten wird? Kein ›könnte‹, kein ›vielleicht‹ — nur ›wird‹?«

Selene schüttelte ärgerlich den Kopf. »Das kann ich nicht. Die Werte sind so winzig. Ich kann nicht behaupten, daß es unbedingt passiert. Aber müßte ein einfaches Vielleicht nicht auch ausreichen?«

»O Himmel!«

»Nun rolle nicht mit den Augen! Du hast die Angelegenheit nie überprüft. Ich habe dir gesagt, wie man das tun könnte.«

»Du machst dir aber erst Sorgen darüber, seit du auf dein Erdchen hörst.«

»Er ist Immigrant. Willst du die Sache nun überprüfen?«

»Nein! Ich habe dir schon gesagt, deine Vorschläge sind unpraktisch. Du hast keine Versuchserfahrungen, und was dir im Geiste gut und richtig vorkommt, muß in der wirklichen Welt der Instrumente, des Zufalls und der Ungewißheit noch lange nicht funktionieren.«

»In der sogenannten realen Welt deines Laboratoriums.« Ihr Gesicht hatte sich gerötet vor Wut, und sie hatte die Fäuste erhoben. »Du verschwendest so viel Zeit damit, ein gutes Vakuum zu erzeugen — dabei gibt es ein Vakuum da oben, dort oben an der Oberfläche, mit Temperaturen, die manchmal schon auf halbem Wege zum absoluten Gefrierpunkt sind. Warum machst du deine Versuche nicht einmal an der Oberfläche?«

»Wäre doch sinnlos.«

»Woher willst du das wissen? Du versuchst es ja nicht einmal. Ben Denison hat es versucht. Er hat sich die Mühe gemacht, eine Vorrichtung zu bauen, die er auf der Oberfläche einsetzen konnte, als er die Inspektion der Sonnenbatterien mitmachte. Er hat dich ja zum Mitkommen aufgefordert, aber du hast abgelehnt. Weißt du noch? Es war ganz einfach, etwas, das ich dir beschreiben könnte, nachdem er es mir erklärt hat. Er hat die Anlage zuerst bei Tagestemperatur und dann bei Nachttemperatur laufen lassen, und das reichte schon, um seinen Versuchen am Pionisator eine neue Richtung zu geben.«

»Wie einfach sich das anhört.«

»Es war auch einfach. Er hat sich mit mir unterhalten — etwas, das ich bei dir nie erlebt habe. Er erklärte mir die Gründe für seine Annahme, daß die Zunahme der Starken nuklearen Wechselwirkung in der Nähe der Erde einen wirklich katastrophalen Umfang erreicht. Es dauert noch wenige Jahre, bis die Sonne explodiert und diese Intensitätszunahme in Wogen ausschickt…«

»Nein, nein, nein, nein!« brüllte Neville. »Ich habe seine Ergebnisse doch gesehen und bin davon überhaupt nicht beeindruckt.«

»Du hast sie gesehen?«

»Natürlich. Glaubst du etwa, ich lasse ihn in unseren Labors arbeiten, ohne mich zu vergewissern, was er da macht? Ich habe seine Ergebnisse gesehen, und sie sind absolut wertlos. Er arbeitet mit winzigen Abweichungen, die durchaus im Rahmen der experimentellen Fehlergrenzen liegen. Wenn er glauben möchte, daß die Abweichungen eine Bedeutung haben, und wenn du das auch meinst bitte sehr. Aber so stark euer Glaube auch ist — er wird an der Tatsache nichts ändern, daß es diese Bedeutung nicht gibt.«

»Was willst du denn glauben, Barron?«

»Ich will die Wahrheit.«

»Aber liegt für dich nicht von vornherein fest, wie diese Wahrheit aussehen muß? Du willst eine Pumpstation auf den Mond holen, nicht wahr, so daß du nichts mehr mit der Oberfläche zu tun hast; und alles, was diese Absicht womöglich verhindert, kann nicht die Wahrheit sein.«

»Ich will das nicht mit dir diskutieren. Ich will die Pumpstation — und das andere. Das eine bringt nichts ohne das andere. Bist du sicher, daß du ihm nichts…«

»Nein!«

»Und wirst du’s ihm sagen?«

Selene wirbelte herum, wobei ihre Füße, die sie in der Luft hielten, auf dem Boden ein ärgerliches Klappern erzeugten.

»Ich werde ihm nichts sagen«, erwiderte sie. »Aber ich brauche mehr Information. Du hast keine Informationen für mich, aber er vielleicht; oder er beschafft sie sich durch die Versuche, die du nicht machen willst. Ich muß mit ihm sprechen und feststellen, was er eigentlich herausfinden will. Wenn du dich zwischen ihn und mich drängst, erfährst du nie, was du wissen willst. Und du brauchst keine Angst zu haben, daß er die Erkenntnis gewinnt. Dazu denkt er noch viel zu sehr wie ein Erdenmensch; diesen letzten Schritt macht er bestimmt nicht. Den tue ich — mit seiner Hilfe!«

»Gut. Und vergiß nicht den Unterschied zwischen der Erde und dem Mond, meine Liebe. Hier oben ist deine Welt; du hast keine andere. Dieser Denison, dieser Ben, dieser Immigrant, der von der Erde zum Mond heraufgekommen ist, kann nach Belieben wieder zurückkehren. Du aber kannst niemals zur Erde; niemals. Du bist ein Lunarier, für immer.«

»Eine Mondjungfrau«, sagte Selene verächtlich.

»Keine Jungfrau«, entgegnete Neville. »Obwohl du vielleicht ein gutes Weilchen wirst warten müssen, ehe ich diesen Sachverhalt wieder einmal bestätige.«

Sie ließ keine Reaktion erkennen.

Er fuhr fort: »Und diese Explosionsgefahr: Wenn das Risiko bei der Veränderung der grundlegenden Konstanten eines Universums so groß ist, warum haben dann die Paramenschen, die uns doch technologisch so weit voraus sind, das Pumpen nicht längst eingestellt?«

Und er ging.

Mit verkrampftem Gesicht starrte sie auf die geschlossene Tür. Dann sagte sie: »Weil die Lage für sie anders ist als für uns, du Schnösel!« Aber sie hatte keinen Zuhörer mehr; sie war allein.

Sie trat gegen den Hebel, der ihr Bett herabließ, und warf sich wütend darauf. War sie dem Ziel, das Barron und die anderen nun schon jahrelang verfolgten, um einen Schritt nähergekommen?

Nein.

Energie! Jedermann strebte nach Energie. Das Zauberwort! Das Füllhorn! Der Schlüssel zur allesumfassenden Erfüllung!… Und doch war Energie nicht alles.

Wenn man Energie fand, ergab sich auch das andere. Wenn man den Schlüssel zur Energie fand, lag auch der Schlüssel für jenes andere offen. Sie wußte, daß sie nach dem Schlüssel für jenes andere greifen konnte, wenn sie noch einen winzigen Baustein in das Gefüge einsetzte — eine Erkenntnis, die, wenn sie erst gefunden war, ganz selbstverständlich erscheinen würde. (Grundgütiger Himmel, sie hatte sich von Barrons chronischem Mißtrauen schon sehr anstecken lassen, daß sie es auch in ihren Gedanken schon »das andere« nannte.)

Kein Erdenmensch würde diesen kleinen Baustein finden, da er keinen Grund hatte, danach zu suchen.

Aber Denison würde ihn für sie finden, ohne ihn selbst zu begreifen.

Nur… Wenn das Universum ohnehin vernichtet wurde, wozu das alles?

12

Denison versuchte seiner Verlegenheit Herr zu werden. Von Zeit zu Zeit vollführte sein Arm eine Bewegung, als wollte er die Hose hochziehen, die er gar nicht anhatte. Seine Kleidung bestand aus einem Paar Sandalen und einem winzigen Höschen, das sehr eng war. Und natürlich hatte er die Decke.

Selene, ähnlich bekleidet, lachte: »Also, Ben, mit Ihrem Körper ist alles in Ordnung, wenn er auch ein bißchen dick ist. Wir gehen hier alle so. Sie könnten auch noch Ihre Hose ausziehen, wenn sie kneift.«

»Nein!« knurrte Denison. Er schob die Decke vor seinen Unterleib, und Selene entriß sie ihm.

»Geben Sie mir das!« sagte sie. »Wie wollen Sie ein richtiger Lunarier werden, wenn Sie Ihren irdischen Puritanismus nicht ablegen?«

»Ich muß mich erst daran gewöhnen, Selene.«

»Warum fangen Sie nicht damit an, indem Sie mich von Zeit zu Zeit ansehen — ohne daß Ihr Blick immer wieder von mir abgleitet, als wäre ich mit öl eingerieben? Wie ich sehen kann, schauen Sie doch auch andere Frauen an.«

»Wenn ich Sie ansehe…«

»Dann erscheinen Sie zu interessiert und sind verlegen. Aber wenn Sie mich richtig anschauen, gewöhnen Sie sich daran, und dann fällt es Ihnen gar nicht mehr auf. Sehen Sie, ich stelle mich hierhin, und Sie starren mich an. Ich ziehe auch mein Höschen aus.« Denison stöhnte. »Selene, hier sind überall Leute, und sie machen sich fürchterlich über mich lustig. Bitte kommen Sie weiter und geben Sie mir Zeit, mich an die Situation zu gewöhnen.«

»Gut, aber ich hoffe, es fällt Ihnen auf, daß die entgegenkommenden Leute überhaupt keine Notiz von uns nehmen.«

»Von Ihnen vielleicht nicht, aber von mir. Sie haben wahrscheinlich noch keine so alt aussehende, mißgestaltete Person zu Gesicht bekommen.«

»Wahrscheinlich nicht«, meinte Selene fröhlich, »aber sie werden sich ihrerseits daran gewöhnen müssen.«

Denison wanderte bedrückt weiter; er spürte jedes graue Haar auf der Brust und jedes Zucken seines Bauches. Erst als der Korridor enger wurde und ihnen nicht mehr so viele Leute entgegenkamen, war er etwas erleichtert.

Er blickte sich neugierig um, und Selenes wohlgeformte Brüste und glatte Schenkel traten etwas in den Hintergrund. Der Korridor schien endlos.

»Wie weit sind wir schon gegangen?« fragte er.

»Sind Sie müde?« Selene war zerknirscht. »Wir hätten ein Wägelchen nehmen können. Ich habe glatt vergessen, daß Sie ja von der Erde sind.«

»So hatte ich mir das erhofft. Kann sich ein Immigrant etwas Schöneres wünschen? Ich bin überhaupt nicht müde. Na ja, wenigstens kaum. Mir ist nur ein wenig kühl.«

»Reine Einbildung, Ben«, sagte Selene fest. »Sie bilden sich ein, Ihnen müßte kalt sein, weil Sie so wenig anhaben. Schlagen Sie sich das aus dem Kopf.«

»Das ist leicht gesagt«, seufzte er. »Hoffentlich laufe ich wenigstens anständig.«

»Sehr gut sogar. Ich bringe Sie schon noch zum Känguruhspringen.«

»Und machen mich auch zum Renngleiter draußen auf den Hängen. Vergessen Sie nicht, daß ich nicht mehr der Jüngste bin. Aber ehrlich — wie weit draußen sind wir hier schon?«

»Ich würde sagen, etwa drei Kilometer.«

»O Himmel! Wie viele Kilometer Korridor gibt es denn überhaupt?«

»Ich fürchte, das weiß ich nicht. Die Wohnkorridore machen einen verhältnismäßig kleinen Teil des Ganzen aus. Da gibt es die Bergwerksstollen, die geologischen Gänge, die Industriekorridore, die Pilzkundehöhlen… Ich meine, das müßten zusammen mehrere hundert Kilometer sein.«

»Haben Sie Karten davon?«

»Natürlich. Wir können doch nicht blind arbeiten.«

»Ich meine, Sie persönlich?«

»Na ja, nicht hier, aber ich brauche keine Karten für dieses Gebiet; ich kenne es ziemlich gut. Hier habe ich mich als Kind immer herumgetrieben. Es sind alte Gänge. Die meisten neuen Korridore im Durchschnitt kommen in jedem Jahr drei bis vier Kilometer hinzu — liegen im Norden. Dort käme ich ohne Karte nicht zurecht. Vielleicht nicht mal mit Karte.«

»Wohin wollen wir eigentlich?«

»Ich habe Ihnen einen ungewöhnlichen Anblick versprochen nein, nicht mich, sprechen Sie es nicht aus! — und den sollen Sie auch bekommen. Es handelt sich um das ungewöhnlichste Bergwerk des Mondes, das natürlich außerhalb der normalen Touristenrouten liegt.«

»Nun sagen Sie nur nicht, Sie hätten Diamanten auf dem Mond.«

»Viel besser.«

Die Korridorwände wirkten roh und unbehauen; graue Felswände, die durch Flecke elektrischer Leuchtfarbe schwach, aber ausreichend beleuchtet wurden. Die Temperatur war angenehm und die Ventilation des Ganges zugfrei. Es war kaum vorstellbar, daß sich etwa zweihundert Meter darüber die Mondoberfläche befand, wechselnder Hitze und Kälte ausgesetzt, während die Sonne ihre gewaltige vierzehntägige Wanderung von einem Horizont zum anderen vollführte und dann untertauchte und zurückkehrte.

»Ist das alles luftdicht?« wollte Denison wissen, dem plötzlich bewußt wurde, daß ihn nur zweihundert Meter Felsgestein von einem Vakuum trennten, das sich bis in alle Unendlichkeit erstreckte. »O ja. Die Wände sind dicht. Auch ist alles abgesichert. Wenn der Luftdruck nur um zehn Prozent fällt, werden im betroffenen Korridorteil Sirenen und Alarmglocken ausgelöst, die einen unvorstellbaren Lärm machen. Dazu blitzen Pfeile und Schilder auf und dirigieren Sie schleunigst in Sicherheit. So etwas haben Sie noch nicht erlebt.«

»Wie oft passiert das denn?«

»Nicht oft. Ich glaube, es ist seit fünf Jahren niemand mehr an Luftmangel gestorben.« Dann, abwehrend: »Auch auf der Erde gibt es Naturkatastrophen! Bei großen Erdbeben oder Sturmfluten können Tausende umkommen.«

»Ich sage ja gar nichts, Selene.« Er warf die Hände hoch. »Ich ergebe mich.«

»Gut«, sagte sie. »Ich wollte mich auch gar nicht aufregen. Hören Sie das?«

Sie blieb stehen und lauschte.

Denison folgte ihrem Beispiel und schüttelte den Kopf. Plötzlich sah er sich um. »Es ist so still. Wo sind die anderen? Sind Sie sicher, daß wir uns nicht verlaufen haben?«

»Wir sind hier nicht in einer natürlichen Höhle mit unbekannten Durchgängen. Die gibt es doch auf der Erde, nicht wahr? Ich habe Aufnahmen davon gesehen.«

»Ja, meistens handelt es sich um Kalksteinhöhlen, die durch Wasserströme gebildet wurden. Aber das dürfte es auf dem Mond kaum geben, nicht wahr?«

»Also können wir uns auch nicht verirren«, erwiderte Selene lächelnd. »Und daß wir allein sind, können wir dem Aberglauben zuschreiben.«

»Dem was?« Denison starrte sie verblüfft an, und sein Gesicht verzog sich ungläubig.

»Lassen Sie das«, sagte sie. »Sie bekommen ja überall Falten. So ist’s recht. Glätten Sie Ihr Gesicht. Sie sehen übrigens viel besser aus als bei Ihrer Ankunft. Das macht die niedrige Schwerkraft und die viele körperliche Bewegung.«

»Und der Versuch, mit nackten jungen Damen Schritt zu halten, die ungewöhnlich viel Freizeit haben und erstaunlich wenig anderes zu tun wissen, als in ihrer Freizeit ihrem Beruf nachzugehen.«

»Jetzt behandeln Sie mich wieder als das Touristenmädchen, und ich bin nicht nackt.«

»Na ja, genau genommen wäre Nacktheit sogar noch weniger beängstigend als Intuitionismus… Aber was soll Ihre Bemerkung über den Aberglauben?«

»Kein wirklicher Aberglaube, nehme ich an, aber die meisten Leute aus der Stadt meiden diesen Teil des Korridorkomplexes.«

»Wieso?«

»Wegen der Sache, die ich Ihnen zeigen will.« Sie gingen weiter. »Hören Sie es jetzt?«

Sie blieb stehen, und Denison lauschte angestrengt. Er fragte: »Sie meinen das leise klopfende Geräusch? Taptap… Meinen Sie das?«

Mit langsamen Sprüngen — die Zeitlupenbewegung eines Lunariers, der es nicht sonderlich eilig hat — lief sie voraus. Er folgte ihr und versuchte ihren Gang nachzuahmen. »Hier… hier…«

Denisons Blick folgte Selenes eifrig ausgestrecktem Finger. »Himmel«, sagte er. »Wo kommt das her?«

Aus der Wand tropfte etwas — eindeutig Wasser. Ein Tropfen nach dem anderen platschte herab — in eine kleine Keramikwanne, die in die Felswand führte.

»Aus dem Gestein. Wir haben nämlich Wasser auf dem Mond. Das meiste können wir aus dem Gips herausholen — jedenfalls in ausreichender Menge, da wir spärlich damit umgehen.«

»Ich weiß. Ich weiß. Ich habe bisher noch kein Duschbad zu Ende gebracht. Wie die Lunarier überhaupt sauber bleiben, kann ich mir nicht vorstellen.«

»Ich hab’s Ihnen doch gesagt. Sie müssen sich zuerst benetzen. Dann drehen Sie das Wasser ab und schmieren sich mit Seife ein. Dann reiben Sie… Also, Ben, ich bete Ihnen das nicht noch einmal vor. Außerdem können Sie auf dem Mond gar nicht richtig schmutzig werden… Aber wir sprachen über etwas anderes. An einer oder zwei Stellen gibt es tatsächlich Wasserreservoirs, gewöhnlich in Form von Eis in einem Bergschatten nahe der Oberfläche. Wenn wir das Reservoir aufspüren, tropft es heraus. Dieses hier hat getropft, seit der Korridor hindurchgetrieben wurde, und das war vor acht Jahren.«

»Aber warum der Aberglaube?«

»Nun, naturgemäß ist Wasser das Element, von dem der Mond abhängt. Wir trinken es, waschen uns damit, begießen damit unsere Nahrung, machen unseren Sauerstoff damit — halten damit alles in Betrieb. Freies Wasser wird natürlich mit großem Respekt behandelt. Als man die Tropfstelle entdeckte, wurden alle Pläne, die Tunnel in dieser Richtung voranzutreiben, aufgegeben. Sogar die Korridorwände blieben unvollendet.«

»Ja, das hat wirklich etwas Abergläubisches.«

»Na ja, vielleicht kann man es als eine Art Ehrfurcht bezeichnen. Man rechnete nicht damit, daß es länger als ein paar Monate tropfen würde — bei solchen Stellen ist das selten der Fall. Nun, als wir dann den ersten Geburtstag gefeiert hatten, kam die Quelle uns schon ewig vor. So wird sie nun auch genannt: »Die Ewige.« Mit diesem Namen ist sie sogar auf den Karten eingezeichnet. Natürlich messen die Leute ihr eine gewisse Bedeutung bei; es geht das Gerücht, daß es ein schlechtes Zeichen wäre, wenn sie nun doch versiegte.«

Selene lachte freundlich. »Niemand glaubt das wirklich, aber so halb denkt man doch daran. Verstehen Sie, das Tropfen kann nicht ewig andauern. Eines Tages hat es damit ein Ende. Tatsächlich ist die Tropfgeschwindigkeit seit dem Tage der Entdeckung etwa auf ein Drittel gesunken — die Quelle stirbt also langsam ab. Ich habe das Gefühl, die Leute meinen, wenn sie zufällig ihren letzten Tropfen erlebten, würden sie vom Unglück mit erfaßt. Wenigstens wäre das die vernünftigste Erklärung für die allgemeine Abneigung gegen diesen Ort.«

»Sie glauben wohl nicht daran?«

»Ob ich es glaube oder nicht — darum geht es nicht. Ich bin ganz sicher, daß das Tropfen nicht abrupt genug aufhört, daß sich wirklich jemand betroffen fühlen müßte. Es wird nur langsamer tropfen und immer langsamer und langsamer, und niemand wird den genauen Augenblick bestimmen können, da es überhaupt aufhört. Warum sich also Gedanken machen?«

»Ich stimme Ihnen zu.«

»Allerdings«, meinte sie und leitete elegant zu einem neuen Thema über, »habe ich andere Sorgen, die ich mit Ihnen besprechen möchte, solange wir hier allein sind.« Sie breitete die Decke aus und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen darauf.

»Das ist auch der eigentliche Grund, warum Sie mich hierhergeführt haben, nicht wahr?« Er legte sich neben sie, auf den Ellenbogen gestützt, und sah ihr ins Gesicht.

»Sehen Sie, Sie können mich ja schon ganz ruhig anschauen«, sagte sie. »Sie gewöhnen sich an mich… Es muß doch auch auf der Erde Zeiten gegeben haben, als sich niemand über Nacktheit oder teilweise Nacktheit aufregte.«

»Ja, solche Zeiten gab es«, antwortete Denison, »aber das war vor der Krise. Für meine Generation…«

»Nun, für das Leben auf dem Mond kann ich Ihnen nur raten, sich den Lunariern anzupassen — das ist der beste Weg.«

»Wollen Sie mir nun verraten, warum Sie mich hierhergebracht haben? Oder soll ich erst vermuten, daß Sie mich verführen wollen?«

»Das kann ich zu Hause bequemer haben, vielen Dank. Nein, es ist etwas anderes. An der Oberfläche wäre es noch besser gewesen, aber unsere Vorbereitungen, dorthin zu gelangen, hätten zuviel Aufsehen erregt. Unser Ausflug hierher hat das nicht getan, und es ist der einzige Fleck in der Stadt, wo wir vor Störungen einigermaßen sicher sind.« Sie zögerte.

»Nun?« fragte Denison.

»Barron ist aufgebracht. Sehr aufgebracht sogar.«

»Das überrascht mich nicht. Ich sagte Ihnen ja, daß er sich aufregen würde. Sie hätten ihm nicht erzählen dürfen, ich wüßte, daß Sie Intuitionist sind. Warum hielten Sie es nur für nötig, ihn zu informieren?«

»Weil es schwierig ist, vor dem — dem Partner etwas geheimzuhalten. Vermutlich sieht er mich gar nicht mehr als Partner an.«

»Das tut mir leid.«

»Oh, die Sache stimmte sowieso nicht mehr. Sie hat auch lange genug gedauert. Was mir aber zu schaffen macht — viel mehr als das andere, ist die Tatsache, daß er sich heftig dagegen sträubt, Ihre Interpretation der Pionisatorexperimente hinzunehmen, die Sie nach Ihren Oberflächenbeobachtungen gemacht haben.«

»Ich hab’s Ihnen gleich gesagt.«

»Er behauptet, er hätte Ihre Ergebnisse gesehen.«

»Er blätterte sie durch und knurrte etwas.«

»Das ist aber ziemlich enttäuschend. Glaubt denn jeder nur, was er glauben will?«

»So lange wie irgend möglich. Manchmal auch länger.«

»Wie steht es da mit Ihnen?«

»Sie meinen, ob ich ein Mensch bin? Gewiß doch. Ich halte mich nicht wirklich für alt. Ich halte mich auch für einigermaßen attraktiv. Ich bilde mir ein, Sie suchen meine Gesellschaft, weil Sie mich für charmant halten — auch wenn Sie darauf bestehen, mit mir über physikalische Probleme zu sprechen.«

»Das will ich aber wirklich!«

»Nun, ich vermute, Neville hat Ihnen gesagt, meine Daten wären nur akzeptable Fehlerwerte, im Rahmen der Versuche liegende Abweichungen und daher mehr als zweifelhaft — und das stimmt auf eine Weise. Und doch schreibe ich ihnen die Bedeutung zu, die ich von Anfang an erwartet habe.«

»Nur weil Sie daran glauben wollen?«

»Nicht nur deswegen. Betrachten wir es einmal so. Nehmen wir an, die Pumpe bringt keinen Schaden, während ich darauf bestehe, daß sie gefährlich ist. In diesem Fall muß ich eines Tages als Narr dastehen, und mein wissenschaftlicher Ruf wäre dahin. Nach Ansicht der Leute, auf die es ankommt, bin ich aber längst ein Narr und habe keinen wissenschaftlichen Ruf mehr.«

»Warum das, Ben? Sie haben das schon mehrmals angedeutet. Können Sie mir nicht die ganze Geschichte erzählen?«

»Sie wären überrascht, wie wenig es da zu erzählen gibt. Im Alter von fünfundzwanzig war ich noch so kindisch, daß ich es für nötig hielt, einen Narren zu beleidigen, nur weil er ein Narr war. Da er dafür nichts konnte, war ich natürlich der noch größere Narr. Meine Beleidigung trieb ihn in Höhen hinauf, zu denen er sich allein niemals aufgeschwungen hätte…«

»Sie sprechen von Hallam?«

»Ja, natürlich. Und mit seinem Aufstieg kam mein Abgang. Und schließlich landete ich hier auf dem Mond.«

»Ist das so schlimm?«

»Nein, ich finde es sogar gut. Sagen wir also, er hat mir auf lange Sicht einen Gefallen getan… Aber kehren wir doch zum Thema zurück. Ich versuchte gerade zu erklären, daß ich nichts mehr zu verlieren habe, wenn ich die Pumpe für problematisch halte und mich irre. Wenn ich die Pumpe andererseits für harmlos halte und mich irre, vernichte ich die Welt. Gewiß, ich habe den größten Teil meines Lebens bereits hinter mir und könnte mir auch einreden, daß ich gar keinen Grund hätte, die Menschheit übermäßig zu lieben. Doch im Grunde haben mir nur wenige Menschen wirklich weh getan, und wenn nun aus Rache an den wenigen alle anderen zu Schaden kämen, wäre das unverzeihlich.

Um einen weniger noblen Grund anzuführen, Selene, denken wir mal an meine Tochter. Ehe ich zum Mond abreiste, stellte sie den Antrag auf ein Kind. Sie wird die Genehmigung vermutlich erhalten, und in nicht allzuferner Zukunft werde ich — wenn Sie den Ausdruck verzeihen — Großvater sein. Ich habe den Wunsch, daß mein Enkel eine normale Lebenserwartung mit auf den Weg bekommt. Also gehe ich lieber auch künftig davon aus, daß die Pumpe gefährlich ist, und handle entsprechend.«

Selene sagte eindringlich: »Aber das meine ich doch. Ist die Pumpe gefährlich oder nicht? Ich meine, ich will die Wahrheit hören und nicht, was alle Leute glauben möchten.«

»Das müßte ich Sie fragen. Sie sind hier der Intuitionist. Was sagt Ihnen Ihre Intuition?«

»Aber das stört mich ja gerade, Ben. Ich gewinne einfach keine Gewißheit. Irgend etwas drängt mich, die Pumpe für gefährlich zu halten, aber vielleicht liegt das auch nur daran, daß ich es glauben möchte.«

»Gut. Vielleicht stimmt das. Warum?«

Selene lächelte bedauernd und zuckte die Achseln. »Es wäre schön, wenn Barron sich irrte. Wenn er sich auf dem richtigen Pfad glaubt, ist er seiner Sache immer so schrecklich sicher!«

»Ich weiß, ich weiß. Sie wollen sein Gesicht sehen, wenn er seinen Irrtum eingestehen muß. Ich weiß, wie stark so ein Gefühl werden kann. Ja, wenn die Pumpe wirklich gefährlich ist und ich das beweisen könnte, würde man mich womöglich als Retter der Menschheit feiern, und doch — das schwöre ich — wäre mir mehr daran gelegen, Hallams Gesicht zu sehen, wenn er es erfährt. Da ich nicht gerade stolz auf dieses Gefühl bin, werde ich wahrscheinlich darauf bestehen, den Ruhm mit Lamont zu teilen, der ihn immerhin auch verdient hat, und mein Vergnügen darauf zu beschränken, Lamonts Gesicht zu beobachten, der seinerseits Hallams Gesicht beobachtet. Die Sache wäre dann um eine Stufe zurückversetzt…Aber ich rede Unsinn… Selene?«

»Ja, Ben?«

»Wann haben Sie gemerkt, daß Sie Intuitionist sind?«

»Ich weiß es nicht genau.«

»Ich nehme an, Sie haben in der Schule Physik gehabt?«

»O ja. Auch etwas Mathematik. Aber darin war ich nie gut. Genau genommen war ich auch in Physik keine Leuchte. Wenn ich in Not war, versuchte ich die Antworten immer zu erraten; Sie wissen schon: ich versuchte zu erraten, was ich tun mußte, um zu den richtigen Antworten zu kommen. Das klappte oft, und wenn ich anschließend gefragt wurde, warum ich etwas so getan hatte und nicht anders, blieb ich meistens stecken. Die Lehrer meinten, ich schummelte, konnten mir aber nichts beweisen.«

»Auf den Intuitionismus sind sie nicht gekommen?«

»Ich glaube nicht. Ich selbst ja auch nicht. Bis — nun, einer meiner ersten Sex-Partner war Physiker. Er ist auch der Vater meines Kindes — vorausgesetzt, das Sperma kam wirklich von ihm. Er hatte ein fachliches Problem und erzählte mir davon, als wir hinterher im Bett lagen — vermutlich suchte er nur einen Gesprächsstoff. Und ich erwiderte: »Ich glaube, ich hab’s!« und sagte es ihm. Er probierte es aus — nur so zum Spaß, wie er sagte, und es funktionierte. Damit war der erste Schritt auf dem Weg zum Pionisator getan, den Sie ja für viel besser halten als das Protonensynchrotron.«

»Der war Ihre Idee?« Denison hielt einen Finger unter das tropfende Wasser und wollte ihn in den Mund stecken. Im letzten Augenblick hielt er inne. »Ist das Wasser sauber?«

»Es ist völlig steril«, antwortete Selene. »Es kommt in das allgemeine Reservoir und wird dort aufbereitet. Es ist mit Sulfaten, Karbonaten und ein paar anderen Dingen durchsetzt. Schmecken wird es Ihnen nicht.«

Denison rieb sich die Finger an seinem Höschen ab. »Sie haben den Pionisator erfunden?«

»Nicht erfunden. Ich hatte nur die Grundidee. Es war noch ein weiter Weg bis zur fertigen Anlage; Barron hat die meiste Arbeit getan.«

Denison schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, Selene, Sie sind ein Phänomen. Sie gehören eigentlich unter die Aufsicht der Molekularbiologen.«

»O wirklich? Das stelle ich mir aber nicht sehr aufregend vor.«

»Vor etwa einem halben Jahrhundert erlebte der Trend zur genetischen Formung einen Höhepunkt…«

»Ich weiß. Dann gab’s eine Bauchlandung und ein Gerichtsurteil. Heute ist die ganze Forschungsrichtung verboten — soweit sich Forschung überhaupt für illegal erklären läßt. Ich kenne Leute, die trotzdem weitergearbeitet haben.«

»Das kann ich mir vorstellen. Am Intuitionismus?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Ah, aber darauf will ich hinaus. Auf dem Höhepunkt des Trends zur genetischen Formung wurde der Versuch unternommen, eine Intuitionsforschung anzuregen. Fast alle großen Wissenschaftler besaßen natürlich intuitive Fähigkeiten, die — wie man glaubte der wichtigste Schlüssel zum schöpferischen Denken waren. Es hieß, daß ein gesteigertes Intuitivvermögen das Produkt besonderer Gene-Kombinationen wäre, und daraus folgten alle möglichen Spekulationen über die Natur dieser Kombination.«

»Ich würde sagen, da kämen sicher eine ganze Reihe in Frage.«

»Und ich würde sagen, wenn die Intuition Ihnen das zuflüstert, haben Sie vermutlich recht. Aber es gab auch Leute, die ein Gen oder eine kleine Gruppe zusammenhängender Gene — in der Kombination für besonders ausschlaggebend hielten, so daß man vielleicht von einem Intuitionsgen sprechen könnte… Dann brach die ganze Angelegenheit zusammen.«

»Wie ich schon sagte.«

»Aber bevor sie zusammenbrach«, fuhr Denison fort, »hatte man schon Versuche unternommen, Gene zu ändern, um die Intensität des Intuitionismus zu steigern, und einige behaupteten auch, daß da schon ein gewisser Erfolg erzielt worden wäre. Die veränderten Gene wanderten in die allgemeine Erbmasse, da bin ich sicher, und wenn Sie zufällig etwas davon geerbt haben sollten… Hatten Ihre Großeltern vielleicht mit dem Programm zu tun?«

»Soweit ich weiß, nicht«, erwiderte Selene, »aber ich kann es nicht ausschließen. Ein Großvater könnte wohl in Frage kommen… Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich der Sache nicht nachgehen. Ich will es nicht wissen.«

»Ist vielleicht auch besser. Das Thema war in der Allgemeinheit bald unbeliebt, und wer heute als Produkt genetischer Formung angesehen werden müßte, würde sicherlich nicht gerade mit Begeisterung aufgenommen… Intuitionismus, so hieß es zum Beispiel, brächte unweigerlich gewisse andere unerwünschte Eigenschaften mit sich.«

»Vielen Dank.«

»Hieß es. Wer Intuition besitzt, erregt Neid und Feindseligkeit bei anderen. Auch ein sanfter und engelgleicher Intuitionist wie Michael Faraday zog sich den Neid und den Haß Humphrey Davys zu. Wer will wissen, ob man nicht einen gewissen Charakterfehler haben muß, um Neid zu erwecken. Und in Ihrem Fall…«

»Na, Ihren Neid und Haß werde ich doch nicht gerade erregen.«

»Ich glaube nicht. Wie steht es aber mit Neville?«

Selene schwieg.

»Als Sie sich mit Neville zusammentaten«, fuhr Denison fort, »waren Sie als Intuitionist doch schon allgemein bekannt.«

»Allgemein bekannt würde ich nicht sagen. Einige Physiker ahnten etwas, ganz bestimmt. Doch hier oben wird Anerkennung ebenso ungern ausgesprochen wie auf der Erde, und wahrscheinlich beruhigten sie sich mit dem Gedanken, daß meine Kommentare nur mehr oder weniger bedeutungslose Zufallstreffer waren. Barron wußte es natürlich.«

»Ich verstehe.« Denison schwieg.

Selene verzog die Lippen. »Manchmal habe ich das Gefühl, Sie wollten gleich sagen: ›Also deswegen gibt er sich mit Ihnen ab!‹«

»Nein, natürlich nicht, Selene. Sie sind auch als Person sehr attraktiv.«

»Das meine ich ja auch, aber jedes Kompliment hilft einem weiter. Außerdem ist es ganz natürlich, daß sich Barron für meinen Intuitionismus interessiert. Warum auch nicht? Nur bestand er darauf, daß ich weiter als Touristenführerin arbeitete. Er sagte, ich wäre ein wichtiges natürliches Werkzeug des Mondes, und er wollte nicht, daß mich die Erde mit Beschlag belegt, so wie sie das Synchrotron blockiert.«

»Komischer Gedanke. Aber vielleicht ging es darum, daß, je weniger Leute über Ihren Intuitionismus Bescheid wußten, desto weniger auch Ihre Mitarbeit an etwas erahnen konnten, das ansonsten ihm allein zugeschrieben würde.«

»Jetzt hören Sie sich aber fast wie Barron an.«

»Wirklich? Und ist es möglich, daß er sich immer ziemlich aufregt, wenn es mit Ihrem Intuitionismus mal besonders gut klappt?«

Selene zuckte die Achseln. »Barron ist ein mißtrauischer Mann. Wir alle haben unsere Fehler.«

»Ist es dann klug, hier allein mit mir zu sitzen?«

»Jetzt tun Sie nicht gleich beleidigt, nur weil ich ihn verteidige«, sagte Selene scharf. »Er hält es eigentlich nicht für möglich, daß wir uns sexuell danebenbenehmen. Sie sind von der Erde. Ich sollte Ihnen vielleicht gleich sagen, daß er unser Zusammensein sogar fördert. Er meint, ich könnte von Ihnen lernen.«

»Und haben Sie das?« fragte Denison kalt.

»O ja… Aber das mag für ihn der wichtigste Grund sein, unser Beieinander zu fördern — für mich ist er es nicht.«

»Und was ist Ihr Grund?«

»Wie Sie sehr wohl wissen«, antwortete Selene, »und wie Sie jetzt auch hören wollen, habe ich Spaß an Ihrer Gesellschaft. Wenn das nicht der Fall wäre, könnte ich alles, was ich sonst noch will, wesentlich schneller bekommen.«

»Also gut, Selene, Freunde?«

»Freunde! Absolut!«

»Was haben Sie von mir gelernt? Darf ich das erfahren?«

»Das ließe sich nicht mit ein paar Worten erklären. Sie wissen, der Grund, warum wir nicht nach Wunsch an jeder Stelle eine Pumpstation errichten können, liegt darin, daß wir das Parauniversum nicht lokalisieren können, auch wenn uns die Paramenschen mühelos ausmachen. Das mag darauf zurückzuführen sein, daß sie viel intelligenter oder technologisch viel weiter fortgeschritten sind als wir.«

»Was nicht unbedingt das gleiche ist«, murmelte Denison.

»Ich weiß. Deshalb habe ich ja auch »oder« gesagt. Aber es liegt vielleicht auch daran, daß wir weder besonders dumm noch besonders zurückgeblieben sind. Vielleicht ist einzig und allein die Tatsache ausschlaggebend, daß die anderen das schwierigere Ziel abgeben. Wenn die Starke nukleare Wechselwirkung im Parauniversum stärker ist, muß es dort auch viel kleinere Sonnen und aller Wahrscheinlichkeit nach viel kleinere Planeten geben. Die Welt der Paramenschen müßte folglich schwieriger zu lokalisieren sein als unsere Welt.

Eine andere Möglichkeit«, fuhr sie fort. »Nehmen wir einmal an, die Paramenschen richten sich beim Aufspüren nach dem elektromagnetischen Feld. Das elektromagnetische Feld eines Planeten ist viel größer als der Planet selbst und ist viel leichter auszumachen. Und daraus würde folgern, daß sie zwar die Erde orten können, nicht aber den Mond, der kein nennenswertes elektromagnetisches Feld besitzt. Vielleicht ist es uns deshalb nicht gelungen, eine Pumpstation auf dem Mond zu installieren. Und wenn die kleinen Planeten drüben kein nennenswertes elektromagnetisches Feld haben, können wir sie auch nicht ausmachen.«

»Ein verlockender Gedanke«, meinte Denison.

»Überdenken wir als nächstes den Austausch von Eigenheiten zwischen den Universen — den Austausch, der drüben die nukleare Wechselwirkung schwächt und die Sonnen abkühlen läßt, während er unsere Wechselwirkung stärkt und unsere Sonnen anheizt und zur Explosion bringt. Was läßt sich daraus schließen? Nehmen wir an, die Paramenschen könnten in einer Richtung auch ohne unsere Hilfe Energie aufnehmen, doch nur mit unmöglich niedrigem Wirkungsgrad. Unter normalen Umständen wäre ein solches Verfahren nicht praktikabel. Sie würden uns brauchen, um konzentrierte Energie zu ihnen zu leiten — indem wir ihnen Wolfram-186 zur Verfügung stellen und im Austausch Plutonium-186 erhalten. Aber nehmen wir weiterhin an, unser Arm der Galaxis implodiert zu einem Quasar. Das würde in der Nachbarschaft des Sonnensystems zu einer wesentlich stärkeren Energiekonzentration führen, die eine Million Jahre anhalten könnte.

Wenn sich dieser Quasar bildet, ist auch ein unmöglich niedriger Wirkungsgrad plötzlich ausreichend. Dann wäre es den Paramenschen auch egal, ob wir vernichtet würden oder nicht. Tatsächlich könnte man behaupten, daß es besser für sie wäre, wenn wir mit explodierten. Denn bis zu diesem Zeitpunkt könnten wir ihnen noch aus allen möglichen Gründen die Pumpe beliebig abstellen, und dann hätten sie keine Möglichkeit, den Energieaustausch wieder in Gang zu bringen… Und deshalb haben Leute, die da sagen: »Wenn die Pumpe so gefährlich ist, warum wird sie dann nicht von diesen schrecklich klugen Paramenschen gestoppt?« keine Ahnung, wovon sie überhaupt reden.«

»Hat Neville so argumentiert?«

»Ja, allerdings.«

»Aber die Parasonne würde doch weiter abkühlen, oder nicht?«

»Na und?« fragte Selene ungeduldig. »Die Pumpe würde die Paramenschen doch in allem von der Sonne unabhängig machen.«

Denison atmete tief ein. »Selene, was ich Ihnen jetzt sage, können Sie nicht wissen. Vor einiger Zeit machte auf der Erde das Gerücht die Runde, Lamont habe eine Botschaft von den Paramenschen erhalten, in der es hieß, die Pumpe wäre gefährlich, doch man könnte sie nicht stoppen. Natürlich nahm das niemand ernst, aber nehmen wir einmal an, es stimmt. Nehmen wir an, Lamont erhielt eine solche Nachricht. Ist es denkbar, daß einige der Paramenschen human genug waren, eine Welt mit hilfreichen Intelligenzen nicht vernichten zu wollen — doch daß sie damit natürlich gegen die oh! so praktische Mehrheit standen?«

Selene nickte: »Das ist schon denkbar… Ich wußte das alles schon — oder hatte es mir intuitiv erarbeitet, ehe Sie hier auftauchten. Aber dann sagten Sie, daß zwischen eins und unendlich keine Zahl Bestand haben kann. Wissen Sie noch?«

»Natürlich.«

»Gut. Die Unterschiede zwischen unserem Universum und dem Parauniversum liegen so offensichtlich in der Starken nuklearen Wechselwirkung, daß sich unsere Forschungen bisher nur darauf konzentriert haben. Aber es gibt nicht nur eine Wechselwirkung, sondern vier. Außer der Starken haben wir da die elektromagnetische, die Schwache und die GravitationsWechselwirkung, mit Intensitäts-Verhältnissen von 130:1:10–10:10–42. Aber wenn es vier gibt, warum dann nicht eine unendliche Anzahl, die alle zu schwach sind, als daß sie erspürbar wären?«

»Wenn eine Wechselwirkung zu schwach ist, um spürbar zu sein oder irgendeinen Einfluß auszuüben, dann existiert sie nach wissenschaftlicher Definition nicht«, sagte Denison.

»In diesem Universum«, entgegnete Selene heftig. »Wer weiß, was es in den Parauniversen gibt oder nicht gibt! Mit einer unendlichen Anzahl möglicher Wechselwirkungen, von denen jede in ihrer Stärke in bezug auf eine als Standard angenommene Wechselwirkung unendlich verschieden sein kann, ist die Anzahl der möglichen existenten Universen ebenfalls unendlich.«

»Das ist vielleicht die Unendlichkeit des Kontinuums; Alepheins und nicht Alephnull.«

Selene runzelte die Stirn. »Was heißt das?«

»Unwichtig. Reden Sie weiter.«

»Warum arbeiten wir also mit dem einen Parauniversum, das sich uns aufgedrängt hat und das unseren Bedürfnissen vielleicht überhaupt nicht entspricht — und warum versuchen wir statt dessen nicht festzustellen, welches Universum — aus der unendlichen Sammlung der Möglichkeiten — am besten für uns geeignet ist und sich am einfachsten lokalisieren läßt? Entwerfen wir uns doch ein Universum — denn es muß ja existieren, was wir uns entwerfen und suchen danach!«

Denison lächelte. »Selene, ich habe schon genau den gleichen Gedanken gehabt. Und obgleich es kein Gesetz gibt, das mir sagt, daß ich vielleicht recht habe, erscheint es unwahrscheinlich, daß sich ein brillanter Kopf wie ich völlig irren kann, wenn ein brillanter Kopf wie Sie unabhängig zur gleichen Schlußfolgerung kommt…Wissen Sie was?«

»Was denn?« fragte Selene.

»Mir fängt Ihre verdammte Mondnahrung an zu gefallen. Wenigstens gewöhne ich mich daran. Gehen wir nach Hause und essen wir, und dann können wir uns auf unsere Pläne stürzen. Und wissen Sie noch etwas?«

»Was?«

»Da wir nun schon zusammenarbeiten, wie war’s da mit einem Kuß — zwischen Experimentalist und Intuitionist?«

Selene überlegte. »Wir haben wohl beide schon hinreichend Küsse ausgeteilt und erhalten. Warum tun wir’s also nicht von Mann zu Frau?«

»Das läßt sich wohl noch schaffen. Aber was kann ich tun, damit’s nicht zu ungeschickt ausfällt? Wie sind hier die Kußregeln?«

»Folgen Sie Ihrem Instinkt«, antwortete Selene gelassen.

Vorsichtig legte Denison die Arme auf den Rücken und neigte sich zu ihr hinüber. Nach einer Weile fuhren seine Arme um ihren Rücken.

13

»Und dann habe ich seinen Kuß tatsächlich erwidert«, sagte Selene nachdenklich.

»Oh, wirklich?« Barron Nevilles Stimme klang barsch. »Also, das nenne ich Pflichterfüllung!«

»Ich weiß nicht. So schlimm war es gar nicht. Eigentlich« — und sie lächelte — »war er ganz nett dabei. Er hatte Angst, sich ungeschickt anzustellen, und hielt zuerst seine Arme auf dem Rücken versteckt; er wollte mich wohl nicht erdrücken.«

»Komm, erspar mir die Einzelheiten.«

»Was macht dir das schon aus?« fauchte sie plötzlich. »Du bist doch hier der Platonische, nicht wahr?«

»Willst du’s anders? Jetzt?«

»Du brauchst nicht auf Kommando anzurücken.«

»Aber dir würde ich das raten. Wann, meinst du, wirst du uns sagen, was wir brauchen?«

»Sobald ich kann«, erwiderte sie tonlos.

»Ohne daß er es weiß?«

»Er ist nur an der Energie interessiert.«

»Und an der Rettung der Welt«, höhnte Neville, »und an seiner Heldenrolle. Er ist interessiert, es allen zu zeigen. Und dich zu küssen.«

»Daraus macht er kein Hehl. Und was hast du zu bieten?«

»Ungeduld«, rief Neville aus. »Verdammt große Ungeduld.«

14

»Ich bin froh«, sagte Denison langsam, »daß der Tag vorüber ist.« Er hob seinen rechten Arm und betrachtete den unförmigen Isolierstoff. »An die Lunarsonne kann und will ich mich nicht gewöhnen. Im Vergleich dazu kommt mir sogar der Raumanzug als etwas Natürliches vor.«

»Was gefällt dir an der Sonne nicht?« fragte Selene. »Sag nur nicht, daß du sie magst, Selene!«

»Nein, natürlich nicht. Ich hasse sie. Aber ich bekomme sie ja auch nie zu Gesicht. Du bist ein… Du bist die Sonne doch gewöhnt.«

»Nicht so, wie sie hier auf dem Mond ist. Hier oben strahlt sie aus schwarzem Himmel herab. Sie überblendet die Sterne, anstatt sie abzumildern. Sie ist heiß, stechend und gefährlich. Sie ist ein Feind, und wenn sie am Himmel steht, habe ich unweigerlich das Gefühl, daß unsere Versuche, die Feldintensität herabzusetzen, fehlschlagen müssen.«

»Das ist doch abergläubisch, Ben«, sagte Selene mit einem Anflug von Ungeduld. »Die Sonne hat damit nichts zu tun. Und wir waren ja ohnehin die ganze Zeit im Kraterschatten, wo es nachtschwarz war. Mit Sternen und allem, was dazugehört.«

»Nicht ganz«, widersprach Denison. »Jedesmal wenn wir nach Norden schauten, sahen wir den Streifen Sonnenlicht schimmern. Obwohl ich ungern nach Norden schaute, wurde mein Blick immer wieder dorthin gezogen. Und jedesmal, wenn ich dem Drang nachgab, spürte ich, wie das Ultraviolett meine Helmplatte ansprang.«

»Das bildest du dir nur ein. Zunächst gibt es überhaupt keine ultraviolette Strahlung in reflektiertem Licht; zweitens schützt dich dein Anzug vor jeder Strahlung.«

»Nicht aber vor Hitze. Wenigstens nicht sehr.«

»Aber nun ist der Tag vorbei.«

»Ja«, sagte Denison befriedigt, »und das gefällt mir.« Mit immer neuem Staunen sah er sich um. Am Himmel hing natürlich die Erde, an gewohnter Stelle; ein breit ausschwingender Halbbogen nun, der sich nach Südwesten wölbte. Die Konstellation Orion erhob sich darüber, ein Jäger, der aus dem schimmernd-gerundeten Stuhl der Erde aufstand. Der Horizont leuchtete im Widerschein des schwachen Lichts der Erdsichel.

»Schön ist das«, bemerkte er. Dann: »Selene, zeigt der Pionisator etwas?«

Selene, die schweigend zum Himmel aufblickte, trat an das Durcheinander von Geräten, das während der letzten drei Tag und Nachtwechsel im Kraterschatten aufgebaut worden war.

»Noch nicht«, antwortete sie, »aber das ist nur gut. Die Feldstärke hält sich bei etwas über fünfzig.«

»Das ist nicht niedrig genug.«

»Weiter können wir sie nicht senken. Ich bin sicher, daß alle Parameter stimmen.«

»Das Magnetfeld auch?« fragte er.

»Beim Magnetfeld weiß ich es nicht genau.«

»Wenn wir das verstärken, wird das Ganze instabil.«

»Das sollte es aber nicht. Ich weiß es.«

»Selene, ich baue auf deine Intuition — aber nicht, wenn die Tatsachen dagegen sprechen. Es wird instabil. Wir haben’s doch ausprobiert.«

»Ich gewiß. Ben. Aber nicht ganz mit dieser Geometrie. Es hat sich jetzt schon erstaunlich lange bei zweiundfünfzig gehalten. Wenn wir es nun stundenlang halten und nicht nur Minuten, müßten wir doch das Magnetfeld auch Minuten und nicht nur sekundenlang auf das Zehnfache verstärken können…. Versuchen wir’s.«

»Noch nicht«, erwiderte Denison.

Selene zögerte, trat zurück, wandte sich ab. »Du hast noch immer keine Sehnsucht nach der Erde, Ben?« fragte sie.

»Nein. Es ist seltsam, aber sie fehlt mir wirklich nicht. Ich hätte gedacht, daß mir der blaue Himmel, die grüne Erde, das dahinfließende Wasser abgehen würden — all die oft benutzten Adjektiv-Substantiv-Kombinationen. Sie fehlen mir nicht. Ich träume nicht einmal davon.«

»So etwas gibt es manchmal. Es gibt jedenfalls Immis, die sagen, sie hätten kein Heimweh. Sie sind natürlich in der Minderzahl, und bisher hat noch keiner herausfinden können, was diese Minderheit gemein hat. Die Vermutungen gingen von ernsthaften Emotionsstörungen — Mangel an Gefühl überhaupt — bis zum ernsthaften gefühlsmäßigen Exzeß — Angst, das Heimweh zuzugeben, damit es nicht zu einem Zusammenbruch kommt.«

»Mein Fall dürfte ganz klar liegen. Über zwei Jahrzehnte lang war mein Leben auf der Erde nicht sehr angenehm, während ich hier endlich auf einem Gebiet arbeiten kann, das ich mir angeeignet habe. Und dabei habe ich deine Hilfe… Noch mehr, Selene, ich habe deine Gesellschaft.«

»Es ist nett von dir«, sagte Selene ernst, »daß du Gesellschaft und Hilfe in eine solche Beziehung setzt. Viel Hilfe scheinst du aber nicht zu brauchen. Gibst du um meiner Gesellschaft willen vor, sie zu brauchen?«

»Ich weiß nicht, welche Antwort dir mehr schmeicheln würde.«

»Versuch’s mal mit der Wahrheit.«

»Die Wahrheit läßt sich nur schwer bestimmen, wenn ich beides so hochschätze.« Er wandte sich wieder dem Pionisator zu. »Die Feldstärke hält sich immer noch, Selene.«

Selenes Helmscheibe schimmerte im Erdlicht. »Barron meint, daß ein Mangel an Heimweh ganz natürlich ist und einen gesunden Geist verrät«, sagte sie. »Er meint, daß der menschliche Körper zwar die Oberfläche der Erde gewöhnt war und sich auf den Mond einstellen mußte, daß das beim menschlichen Gehirn aber nicht erforderlich war. Das Menschenhirn unterscheidet sich qualitativ so sehr von allen anderen Gehirnen, daß man es als ganz eigenes Phänomen ansehen kann. Es hat im Grunde keine Zeit gehabt, an die Erdoberfläche gebunden zu werden, und läßt sich daher ohne Umstellung in andere Umweltordnungen verpflanzen. Barron meint, daß das Eingeschlossensein in den Mondhöhlen vielleicht sogar die natürlichste Lebensweise ist, entspricht sie doch in größerem Maßstab dem Eingeschlossensein in der Höhlung des Schädels.«

»Glaubst du das?« fragte Denison amüsiert.

»Barron kann einem die Dinge sehr plausibel machen.«

»Es ließe sich wohl ebenso plausibel sagen, daß die Behaglichkeit der Mondhöhlen eine Erfüllung des menschlichen Dranges ist, in den Mutterleib zurückzukehren.« Nachdenklich fuhr er fort: »Angesichts des gesteuerten Klimas und der Art und Verdaulichkeit der Nahrung ließe sich tatsächlich mit einiger Berechtigung die Lunar-Kolonie — verzeih mir, Selene — Lunar-City als eine absichtliche Nachbildung der fötalen Umwelt ansehen.«

»Da dürfte dir Barron kaum zustimmen«, entgegnete Selene.

»Das glaube ich auch.« Denison schaute zur Erdsichel auf, beobachtete die fernen Wolkenbänke am Horizont. Er schwieg gedankenverloren, in den Anblick versunken. Als Selene wieder an den Pionisator trat, rührte er sich nicht.

Er beobachtete die Erde in ihrem Sternennest und schaute auf den zackigen Horizont, wo er von Zeit zu Zeit kleine Staubwolken vielleicht kleine Meteoritentreffer — wahrzunehmen glaubte.

Er hatte Selene in der letzten Lunarnacht mit Besorgnis auf ein ähnliches Phänomen hingewiesen.

»Aufgrund der Mondschwankung bewegt sich die Erde etwas am Himmel, und von Zeit zu Zeit gleitet ein Strahl Erdlicht über eine Erhöhung und trifft auf den darunterliegenden Boden«, hatte sie erklärt. »Der wird dann wie eine winzige aufsteigende Staubwölke sichtbar. Kommt oft vor. Wir achten schon nicht mehr darauf.«

Denison hatte erwidert: »Aber das kann doch manchmal auch ein Meteorit sein. Prallen denn niemals Meteoriten auf?«

»Natürlich. Auch du wirst wahrscheinlich oft getroffen. Dein Anzug schützt dich.«

»Ich meine keine winzigen Staubpartikel. Ich meine faßbare Meteoriten, die den Staub wirklich in die Höhe treiben würden. Meteoriten, die dich töten könnten.«

»Nun, die fallen hier natürlich auch, aber sie sind seltener, und der Mond ist groß. Bis jetzt ist noch niemand getroffen worden.«

Und während Denison den Himmel beobachtete und über Selenes Antwort nachdachte, nahm er eine Erscheinung wahr, die er im ersten unkonzentrierten Augenblick für einen Meteoriten hielt. Doch einen Lichtstreifen konnte es dabei nur auf der Erde geben, in der Erdluft — und nicht auf dem luftlosen Mond.

Das Licht am Himmel war künstlich, und Denison hatte seine Eindrücke kaum bewältigt, als es auch schon zu einem kleinen Raketenfahrzeug heranwuchs, das neben ihm landete.

Eine Gestalt im Raumanzug trat heraus, während der Pilot zurückblieb — ein dunkler Punkt zwischen den Lichtflecken der Landschaft.

Denison wartete. Die Etikette des Raumanzugs erforderte es, daß sich jeder Neuankömmling einer Gruppe näherte und sich bekannt machte.

»Hochkommissar Gottstein«, sagte die neue Stimme, »wie Sie wahrscheinlich schon an meinem wackligen Gang erkennen.«

»Ben Denison.«

»Ja. Das dachte ich mir.«

»Suchen Sie mich?«

»Natürlich.«

»Mit einem Raumgleiter? Sie hätten…«

»Ich hätte«, sagte Hochkommissar Gottstein, »Ausgang P-4 benutzen können, der nicht einmal tausend Meter entfernt ist. Ja, das hätte ich. Aber ich habe nicht nur Sie gesucht.«

»Nun, ich will nicht fragen, was ich darunter verstehen soll.«

»Ich brauche nicht um den heißen Brei herumzureden. Sie nehmen sicher nicht an, daß mich Ihre Experimente hier an der Mondoberfläche nicht interessieren.«

»Die sind kein Geheimnis, und jeder kann sich dafür interessieren.«

»Und doch scheint niemand die Einzelheiten so recht zu kennen. Außer daß Sie sich irgendwie mit Problemen befassen, die mit der Elektronenpumpe zu tun haben.«

»Das ist eine logische Vermutung.«

»Wirklich? Mir will scheinen, daß Versuche dieser Art, wenn sie überhaupt einen Sinn haben sollen, eine ziemlich umfangreiche Apparatur erfordern. Das entspringt nicht meinen eigenen Kenntnissen, verstehen Sie. Ich habe Leute gefragt, die es wissen müssen. Es ist aber ebenso offensichtlich, daß Sie eine solche Apparatur nicht haben. Es kam mir daher der Gedanke, daß mein Interesse an Sie vielleicht verschwendet ist, daß — während meine Aufmerksamkeit auf Sie gerichtet ist — andere sich mit wichtigeren Dingen beschäftigen.«

»Warum sollte ich wohl zur Ablenkung dienen?«

»Ich weiß es nicht. Wenn ich es wüßte, wäre ich weniger besorgt.«

»Also habe ich unter Beobachtung gestanden.« Gottstein lachte leise. »O ja. Seit Ihrer Ankunft. Und seit Beginn Ihrer Versuche hier haben wir das ganze Gebiet in jeder Richtung kilometerweit beobachtet. Seltsamerweise hat es den Anschein, als wären Sie, Dr. Denison, und Ihre Begleiterin die einzigen Menschen an der Mondoberfläche, die nicht nur einfache Routinearbeiten verrichten.«

»Warum ist das seltsam?«

»Weil es bedeutet, daß Sie mit Ihrem verrückten Apparat wirklich etwas zu erreichen hoffen — was das auch immer sei. Da ich Ihnen Unfähigkeit nicht zutraue, dachte ich mir also, daß ein kleines Gespräch mit Ihnen ganz nützlich wäre, wenn Sie mir sagen würden, was Sie da tun.«

»Ich unternehme paraphysikalische Versuche, Hochkommissar wie die Gerüchte schon besagen. Wozu ich nur noch sagen kann, daß meine Experimente bisher bloß zum Teil erfolgreich gewesen sind.«

»Ihre Begleiterin ist wohl Selene Lindstrom L., eine Touristenführerin?«

»Ja.«

»Ungewöhnliche Assistentin.«

»Sie ist intelligent, arbeitswillig, interessiert und sehr attraktiv.«

»Und bereit, mit einem Mann von der Erde zusammenzuarbeiten?«

»Und durchaus bereit, mit einem Immigranten zusammenzuarbeiten, der Lunarbürger sein wird, sobald er sich für diesen Status qualifiziert.«

Selene näherte sich. Ihre Stimme klang in den Ohren der Männer auf. »Guten Tag, Hochkommissar. Ich hätte Ihr Gespräch lieber nicht mitgehört — aber in einem Raumanzug bleibt einem auf diese Entfernung nichts anderes übrig.«

Gottstein wandte sich um. »Hallo, Miß Lindstrom. Ich wollte auch kein Privatgespräch führen. Interessieren Sie sich für die Paraphysik?«

»O ja.«

»Und das Fehlschlagen der Experimente entmutigt Sie nicht?«

»Sie sind nicht völlig fehlgeschlagen«, antwortete sie. »Sie sind sogar weniger fehlgeschlagen, als Dr. Denison in diesem Augenblick noch annimmt.«

»Was?« Denison fuhr so heftig auf dem Absatz herum, daß er fast die Balance verlor und eine feine Staubwolke aufwirbelte.

Alle drei starrten nun auf den Pionisator, über dem in etwa anderthalb Metern Abstand ein Licht leuchtete wie ein großer Stern.

Selene sagte: »Ich habe die Intensität des Magnetfeldes gesteigert, und das Nuklearfeld blieb stabil, blieb bestehen — flaute dann immer weiter ab und…«

»Floß durch!« rief Denison aus. »Verdammt. Und ich habe es nicht gesehen!«

»Tut mir leid, Ben. Zuerst warst du so gedankenverloren, dann kam der Hochkommissar, und ich konnte einfach nicht widerstehen — ich mußte die Gelegenheit ergreifen…«

»Aber was ist denn das?« fragte Gottstein.

»Das ist Energie, spontan abgegeben von Materie, die aus einem anderen Universum in das unsere fließt«, antwortete Denison.

Im nächsten Augenblick verschwand das Licht. Gleichzeitig entstand einige Meter entfernt ein zweiter, schwächerer Stern.

Denison stürzte auf den Pionisator zu, doch grazil hastete auch Selene über die Mondoberfläche und erreichte das Gerät als erste. Sie schaltete die Feldstruktur ab, und der ferne Stern erlosch.

»Wie du siehst, ist der Flußpunkt instabil«, sagte sie.

»Aber nur geringfügig«, erwiderte Denison. »Wenn man bedenkt, daß ein Umspringen um ein ganzes Lichtjahr möglich ist, dann sind hundert Meter schon eine wunderbare Stabilität.«

»Aber noch nicht wunderbar genug«, entgegnete Selene kurz.

Gottstein schaltete sich ein: »Lassen Sie mich mal raten, worum es geht. Sie meinen, daß die Materie hier oder dort oder irgendwo — willkürlich — in unser Universum herüberfließen kann?«

»Nicht ganz willkürlich, Hochkommissar«, antwortete Denison. »Die Wahrscheinlichkeit eines Durchflusses nimmt mit wachsender Entfernung vom Pionisator ab, und ziemlich plötzlich sogar, würde ich sagen. Der Umfang dieser Abschwächung hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab, und ich glaube, wir haben die Sache schon erstaunlich fest im Griff. Trotz allem ist ein Sprung von hundert Metern durchaus denkbar, und Sie haben ja auch einen erlebt.«

»Und der Punkt hätte sich auch an irgendeiner Stelle in der Stadt oder womöglich in unseren Helmen bilden können?«

»Nein, nein«, erwiderte Denison ungeduldig. »Der Durchfluß ist — wenigstens nach der von uns angewandten Methode — weitgehend von der Dichte der Materie abhängig, wie sie in diesem Universum besteht. Die Chancen sind praktisch gleich Null, daß sich der Durchflußpunkt aus einem weitgehenden Vakuum an eine Stelle verlagern würde, wo die Atmosphäre auch nur ein Hundertstel so dicht ist wie in der Stadt oder in unseren Helmen. Es wäre grundsätzlich unpraktisch, den Durchfluß woanders als in einem Vakuum einrichten zu wollen — weshalb wir diesen Versuch auch hier draußen an der Oberfläche machen mußten.«

»Dann ist es also nicht wie bei der Elektronenpumpe?«

»Ganz und gar nicht«, antwortete Denison. »In der Elektronenpumpe findet ein Materieaustausch statt — hier jedoch nur ein einseitiger Durchfluß. Auch sind die betroffenen Universen nicht die gleichen.«

»Ob ich Sie heute abend zum Essen einladen dürfte, Dr. Denison?« fragte Gottstein.

Denison zögerte: »Mich allein?«

Gottstein versuchte sich in Selenes Richtung zu verbeugen, brachte jedoch in seinem Raumanzug nur eine groteske Bewegung zustande: »Es wäre mir eine Freude, Miß Lindstroms Gesellschaft bei anderer Gelegenheit zu genießen, aber heute abend muß ich allein mit Ihnen sprechen, Dr. Denison.«

»Schon gut, nimm ruhig an«, sagte Selene entschieden, als Denison zögerte. »Ich habe morgen sowieso viel vor, und du brauchst Zeit, um über die Stabilität des Durchflußpunktes nachzudenken.«

»Na dann — Selene, läßt du mich wissen, wann du wieder frei hast?«

»Das tue ich doch immer, nicht? Und wir sprechen uns sowieso vorher noch… Warum gehen die beiden Herren nicht schon voraus? Ich kümmere mich um die Geräte.«

15

Barron Neville trat von einem Fuß auf den anderen — auf eine Weise, wie sie ihm von der engen Unterkunft und der Mondschwerkraft diktiert wurde. In einem größeren Raum, bei stärkerer Gravitation, wäre er hastig auf und ab geschritten. So neigte er sich nur von einer Seite auf die andere und glitt dabei immer wieder vor und zurück.

»Dann bist du also sicher, daß es funktioniert. Stimmt das, Selene? Du bist sicher?«

»Ich bin sicher«, antwortete Selene. »Ich habe dir die Geschichte schon fünfmal erzählt.«

Neville schien gar nicht zuzuhören. Mit leiser Stimme sagte er: »Es macht also nichts, daß Gottstein dabei war? Er hat nicht versucht, das Experiment zu stoppen?«

»Nein. Natürlich nicht.«

»Und es gibt keinen Hinweis, daß er seine Macht ausüben wollte, um…«

»Also, Barron, welche Autorität sollte er wohl geltend machen? Kann uns die Erde eine Polizeimacht auf den Hals schicken… Außerdem… oh, du weißt, daß sie uns nicht aufhalten können.«

Neville erstarrte, blieb eine Weile reglos stehen. »Sie wissen es noch nicht? Sie wissen es noch immer nicht?«

»Natürlich nicht. Ben schaute zu den Sternen auf, und dann kam Gottstein. Also versuchte ich den Felddurchfluß, bekam ihn und hatte auch schon das andere in der Tasche. Bens Versuchsanordnung…«

»Nennen wir’s nicht seine Anordnung. Das Ganze war doch deine Idee, nicht?«

Selene schüttelte den Kopf. »Ich habe vage Andeutungen gemacht. Die Einzelheiten kommen von Ben.«

»Aber du kannst das alles nachbauen. Um Lunas willen — wir brauchen nicht mehr zu dem Erdchen zu gehen, nicht?«

»Ich glaube schon, daß ich so viel zusammenbekomme, daß unsere Leute das übrige nachbauen können.«

»Also gut. An die Arbeit.«

»Noch nicht. Verdammt, Barron, noch nicht!«

»Warum nicht?«

»Wir brauchen auch die Energie.«

»Aber die haben wir doch.«

»Nicht ganz, der Durchflußpunkt ist noch ziemlich instabil.«

»Aber das läßt sich abstellen; du hast es selbst gesagt.«

»Ich habe gesagt, ich wüßte vielleicht, wie das geht.«

»Das reicht mir.«

»Trotzdem wäre es besser, wenn wir Ben die Einzelheiten ausarbeiten und den Punkt stabilisieren lassen.«

Schweigen. Auf Nevilles Gesicht erschien ein Ausdruck von Feindseligkeit. »Meinst du, ich schaffe es nicht? Ist es das?«

»Kommst du mit zur Oberfläche hinauf und arbeitest daran?« fragte Selene. Wieder herrschte Schweigen. Schließlich sagte Neville unruhig: »Ich schätze deinen Sarkasmus nicht sehr. Und ich möchte nicht zu lange warten müssen.«

»Ich kann die Naturgesetze nicht umkrempeln. Aber ich glaube, es dauert nicht mehr lange… Und jetzt gehe ich, wenn du nichts dagegen hast. Ich muß zu Bett. Ich habe morgen meine Touristen.«

Einen Augenblick lang schien Neville Anstalten machen zu wollen, auf seine Bettnische zu deuten und seine Gastfreundschaft anzubieten; doch die Geste, wenn sie das ausdrücken sollte, kam nicht recht zustande, und Selene ließ auch nicht erkennen, ob sie sie begriff oder erwartet hatte. Sie nickte müde und ging.

16

»Um ehrlich zu sein«, sagte Gottstein lächelnd, während sie den »Nachtisch« aßen — eine klebrige, süße Masse, »hatte ich gehofft, daß wir uns öfter sehen würden.«

Denison erwiderte: »Es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie sich so für meine Arbeit interessieren. Wenn die DurchflußInstabilität beseitigt werden kann, dürfte meine — und Miß Lindstroms Entdeckung höchst bedeutsam sein.«

»Sie äußern sich vorsichtig — wie ein Wissenschaftler. Ich will Ihnen nicht zumuten, das lunare Äquivalent von Likör zu trinken; das ist die einzige Verfälschung irdischer Küche, die ich auf keinen Fall tolerieren werde. Können Sie mir in einfacher Sprache die Bedeutung Ihrer Entdeckung begreiflich machen?«

»Ich kann es zumindest versuchen«, antwortete Denison behutsam. »Fangen wir einmal mit dem Parauniversum an. Es hat eine intensivere Starke nukleare Wechselwirkung als unser Universum, so daß dort relativ kleine Massen von Protonen die Verschmelzungsreaktion einleiten können, die einen Stern leben läßt. Eine Masse, die dem Umfang unserer Sterne entspricht, würde im Parauniversum sofort explodieren, das viel mehr und viel kleinere Sterne hat als unser Universum.

Nehmen wir nun einmal an, wir hätten eine viel geringere Starke nukleare Wechselwirkung, als in unserem Universum tatsächlich besteht. In diesem Falle hätten gewaltige Protonenmengen so wenig Neigung zur Verschmelzung, daß große Mengen Wasserstoff erforderlich wären, um einen Stern in Gang zu halten. Ein solches Anti-Parauniversum — mit anderen Worten, ein Universum, das das genaue Gegenteil des Parauniversums ist — würde beträchtlich weniger und viel größere Sterne haben als unser Universum. Bei ausreichender Abschwächung der Starken nuklearen Wechselwirkung wäre sogar ein Universum denkbar, das nur aus einem einzigen Stern besteht, in dem die gesamte Masse dieses Universums enthalten ist. Es wäre ein sehr kompakter, doch relativ unempfindlicher Stern, der vielleicht kaum mehr Strahlung abgäbe als unsere Sonne.«

»Ich kann mich irren — entspricht das nicht der Situation unseres Universums vor dem großen Knall — ein gewaltiger Körper, der die gesamte Masse des Universums enthalten hatte?« fragte Gottstein.

»Ja«, antwortete Denison, »genau genommen besteht das von mir beschriebene Anti-Parauniversum aus einem kosmischen Ei oder kurz »Kosmei«. Und so ein Kosmei-Universum brauchen wir, wenn wir nach einem einseitigen Energiezufluß suchen. Das Parauniversum, das wir jetzt benutzen, ist mit seinen winzigen Sternen ein fast leerer Raum. Man kann dort suchen und suchen und berührt doch nichts.«

»Die Paramenschen haben uns aber gefunden.«

»Allerdings. Sie haben sich dabei vermutlich nach Magnetfeldern gerichtet. Es steht zu vermuten, daß es im Parauniversum keine nennenswerten planetarischen Magnetfelder gibt, was uns dieses Vorteils beraubt. Wenn wir andererseits in das Kosmei-Universum vorstoßen, können wir nicht fehlgehen. Das Kosmei ist ja für sich das gesamte Universum, und wo wir auch ansetzen — wir treffen stets auf Materie.«

»Aber wie suchen Sie danach?«

Denison zögerte: »Das ist jetzt nicht so ganz einfach zu erklären. Pionen sind die vermittelnden Partikel der Starken nuklearen Wechselwirkung. Die Stärke der Wechselwirkung hängt von der Pionenmasse ab und diese Masse kann unter besonderen Bedingungen verändert werden. Die Lunarwissenschaftler haben ein Instrument entwickelt, das sie den Pionisator nennen — ein Gerät, das eben diese Veränderung bewirken kann. Wenn die Masse des Pions herabgesetzt — oder heraufgesetzt — ist, wird es damit effektiv zum Teil eines anderen Universums, es wird zu einem Durchgang, zu einem Durchflußpunkt. Wenn es ausreichend herabgesetzt wird, kann es auch zum Teil eines Kosmei-Universums werden — und genau das wollen wir.«

»Und Sie können Materie aus dem… dem… KosmeiUniversum herübersaugen?«

»Das ist einfach. Wenn sich das Tor bildet, erfolgt der Durchfluß spontan. Die Materie strömt herüber, bringt ihre eigenen Gesetze mit und ist bei ihrer Ankunft stabil. Langsam sinken die Gesetze unseres Universums hinein, die Starke Wechselwirkung wird stärker, die Materie verschmilzt und beginnt gewaltige Energie abzugeben.«

»Aber wenn sie so superdicht ist, warum weitet sie sich dann nicht explosiv aus und verpufft?«

»Auch das würde Energie erbringen, aber da ist auch das elektromagnetische Feld, und in diesem Falle hat die Starke Wechselwirkung den Vorrang, weil wir das elektromagnetische Feld kontrollieren. Es würde zu weit führen, Ihnen das alles zu erklären.«

»Also, sehe ich das richtig — die Lichtkugel, die ich da an der Oberfläche gesehen habe, war verschmelzende KosmeiMaterie?«

»Ja, Hochkommissar.«

»Und diese Energie läßt sich für nützliche Zwecke heranziehen?«

»Gewiß doch. Und in jeder denkbaren Menge. Was Sie vorhin gesehen haben, war eine Mikromikrogramm-Menge Kosmei-Materie. Theoretisch hätten wir keine Schwierigkeiten, die Materie auch tonnenweise herüberzuholen.«

»Dann könnte Ihre Entdeckung also die Elektronenpumpe ersetzen.«

Denison schüttelte den Kopf. »Nein. Die Verwendung von Kosmei-Energie hat nämlich ebenfalls verändernden Einfluß auf die beteiligten Universen. Im Zuge des Übertritts der Naturgesetze wird die Starke nukleare Wechselwirkung im Kosmei-Universum zunehmen und bei uns abnehmen. Das heißt, daß im Kosmei die Kernverschmelzung erleichtert wird und es sich langsam erhitzt. Irgendwann…«

»Irgendwann«, sagte Gottstein, faltete die Arme vor der Brust und kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Irgendwann explodiert es mit gewaltigem Knall.«

»Das halte ich für möglich.«

»Meinen Sie, daß in unserem Universum vor zehn Milliarden Jahren das gleiche passiert ist?«

»Vielleicht. Die Kosmogonisten haben sich oft gefragt, warum das ursprüngliche Kosmische Ei gerade dann explodierte und nicht später oder früher. Eine Version sprach von einem oszillierenden Universum, in dem sich das kosmische Ei bildete und sofort explodierte. Diese Möglichkeit ist inzwischen eliminiert worden, und nun hält sich die Ansicht, daß das kosmische Ei erst längere Zeit existieren mußte und dann eine Instabilitätskrise durchmachte, die sich aus unbekanntem Grunde ergab.«

»Die aber das Ergebnis eines Energieanzapfens durch ein anderes Universum sein kann.«

»Möglich. Dabei braucht es sich nicht unbedingt um den Einfluß einer Intelligenz zu handeln. Vielleicht gibt es von Zeit zu Zeit natürliche Durchflüsse.«

»Wenn der große Knall nun kommt«, sagte Gottstein, »können wir dann immer noch Energie aus dem Kosmei-Universum beziehen?«

»Ich weiß es nicht genau — aber das ist wohl kaum eine dringende Sorge. Der Durchfluß unseres Feldes der Starken Wechselwirkung in das Kosmei-Universum müßte sicherlich einige Millionen Jahre anhalten, ehe die andere Seite den kritischen Punkt erreicht. Und außerdem muß es andere KosmeiUniversen geben; vielleicht sogar eine unendliche Anzahl.«

»Was ist aber mit der Veränderung in unserem Universum?«

»Die Starke Wechselwirkung schwächt sich ab. Langsam, sehr langsam kühlt unsere Sonne aus.«

»Und bietet die Kosmei-Energie dafür einen Ausgleich?«

»Das ist gar nicht erforderlich, Hochkommissar«, antwortete Denison betont. »Während die Starke Wechselwirkung in unserem Universum als Folge der Kosmei-Pumpe nachläßt, wird sie durch die Tätigkeit der normalen Elektronenpumpe verstärkt. Wenn wir die Energieproduktion beider Pumpen aufeinander abstimmen, verändern sich die Naturgesetze bei uns nicht mehr, obwohl das im Kosmei-Universum und im Parauniversum nach wie vor geschieht. Wir wären dann eine Durchgangsstraße, nicht mehr Endpunkt.

Auch brauchen wir uns um die beiden anderen Endpunkte keine Gedanken zu machen. Die Paramenschen haben sich vielleicht auf das Abkühlen ihrer Sonne eingerichtet, die bestimmt schon von Natur aus nicht sehr heiß ist. Was das Kosmei-Universum angeht, so haben wir keinen Grund zu der Vermutung, daß dort überhaupt Leben existieren kann. Indem wir die Bedingungen schaffen, die für den großen Knall erforderlich sind, fördern wir womöglich erst ein neues Universum, das irgendwann einmal Leben hervorbringen kann.«

Gottstein schwieg eine Zeitlang. Sein plumpes Gesicht war ohne jeden Ausdruck. Er nickte langsam vor sich hin, als folge er einem eigenen Gedankengang.

Schließlich sagte er: »Wissen Sie, Denison, ich habe das Gefühl, diese Sache krempelt die Welt um. Wir dürften nun keine Schwierigkeiten mehr haben, die wissenschaftlichen Spitzen zu überzeugen, daß die Elektronenpumpe unsere Welt vernichtet.«

»Der gefühlsmäßigen Abneigung vor dieser Möglichkeit ist der Boden entzogen. Wir sind nun in der Lage, das Problem darzulegen und zugleich eine Lösung zu bieten.«

»Wann würden Sie darüber eine Abhandlung schreiben, wenn ich Ihnen eine schnelle Veröffentlichung garantiere?«

»Können Sie das tatsächlich garantieren?«

»Notfalls in einem Journal der Regierung.«

»Ich würde gern die Durchfluß-Instabilität neutralisieren, ehe ich darüber schreibe.«

»Natürlich.«

»Und ich hielte es für angemessen«, fuhr Denison fort, »Dr. Peter Lamont als Mitautor vorzusehen. Er kann die mathematische Seite fundieren — etwas, das außerhalb meines Bereiches liegt. Außerdem hat seine Arbeit erst den Anstoß zu meinen Forschungen gegeben. Noch etwas, Hochkommissar…«

»Ja?«

»Ich möchte auch vorschlagen, die Lunarphysiker mit heranzuziehen. Aus ihrer Gruppe käme zum Beispiel Dr. Barron Neville als dritter Autor in Frage.«

»Aber warum denn? Gibt das jetzt nicht noch unnötige Komplikationen?«

»Es war ihr Pionisator, der das alles möglich machte.«

»Das können wir angemessen erwähnen… Aber hat Dr. Barron tatsächlich mit Ihnen an dem Projekt gearbeitet?«

»Nicht direkt.«

»Warum wollen Sie ihn dann mit hereinziehen?« Denison senkte den Blick und fuhr mit der Hand vorsichtig über seine Bügelfalte. »Es wäre auf jeden Fall diplomatisch. Wir müssen nämlich die Kosmei-Pumpe auf dem Mond installieren.«

»Warum nicht auf der Erde?«

»Erstens brauchen wir ein Vakuum. Der ganze Vorgang ist im Gegensatz zur Elektronenpumpe nur einseitig, und wenn wir ihn nutzbar machen wollen, sind die Vorbedingungen auch anders. Mit der Mondoberfläche steht uns ein gewaltiges Vakuum zur Verfügung — das wir auf der Erde nur mit erheblichem Aufwand erzeugen könnten.«

»Und doch wäre es denkbar, oder nicht?«

»Zweitens«, fuhr Denison fort, »ist es zu gefährlich, wenn zwei gewaltige Energiequellen aus gegensätzlichen Richtungen in unserem Universum zusammentreffen. Es gäbe so etwas wie einen Kurzschluß, wenn die beiden Austrittspunkte zu dicht zusammenlägen. Eine Trennung durch vierhunderttausend Kilometer Vakuum, wobei die Elektronenpumpe nur auf der Erde arbeitet und die Kosmei-Pumpe nur auf dem Mond, wäre ideal und sogar unumgänglich. Und wenn wir auf dem Mond arbeiten müssen, wäre es nur klug und auch anständig, die Gefühle der Lunarphysiker zu achten. Wir sollten sie teilhaben lassen.«

Gottstein lächelte: »Ist das Miß Lindstroms Rat?«

»Ich bin sicher, daß Miß Lindstrom sich so äußern würde, aber der Vorschlag ist so vernünftig, daß ich auch selber darauf kommen konnte.«

Gottstein stand auf, reckte sich und sprang einige Male auf der Stelle auf und ab — gespenstisch langsam, wie es bei der Mondschwerkraft nicht anders möglich war. Bei jedem Sprung winkelte er die Knie an. Schließlich setzte er sich wieder und fragte: »Haben Sie das schon mal versucht, Dr. Denison?«

Denison schüttelte den Kopf.

»Das soll angeblich den Kreislauf in den Beinen fördern. Ich mache es jedesmal, wenn ich das Gefühl habe, daß mir die Füße absterben. Ich werde in Kürze einen Kurzbesuch auf der Erde machen und möchte mich vorher nicht zu sehr an die Lunarschwerkraft gewöhnen. — Wollen wir jetzt mal von Miß Lindstrom sprechen, Dr. Denison?«

Denison fragte in verändertem Tonfall: »Was ist mit ihr?«

»Sie ist Touristenführerin.«

»Ja. Das sagten Sie schon.«

»Und ich sagte auch, daß sie eine etwas seltsame Assistentin für einen Physiker abgibt.«

»Im Grunde bin ich nur Amateurphysiker, und da ist sie wohl auch Amateurassistentin.«

Gottstein war ernst geworden. »Witzeln Sie nicht herum, Doktor. Ich habe mir die Mühe gemacht, Nachforschungen über sie anzustellen. Und die Fakten sind ganz aufschlußreich — sie wären es jedenfalls gewesen, wenn sich schon früher jemand darum gekümmert hätte. Ich glaube, sie ist Intuitionist.«

»Das sind viele, Hochkommissar. Ich bezweifle nicht, daß auch Sie ein leidlicher Intuitionist sind. Daß ich es bin — leidlich jedenfalls, weiß ich ganz sicher.«

»Aber es gibt einen Unterschied, Doktor. Sie sind ein vorzüglicher Wissenschaftler, und ich, wie ich hoffe, bin ein vorzüglicher Gesandter… Und während Miß Lindstrom so weit intuitiv denken kann, um Ihnen in fortgeschrittener theoretischer Physik von Nutzen zu sein, ist sie letztlich doch nur ein Touristenmädchen.«

Denison zögerte. »Sie hat wenig formelle Ausbildung, Hochkommissar. Ihr Intuitionismus ist von ungewöhnlich hohen Graden, steht aber kaum unter bewußter Kontrolle.«

»Ist sie ein Ergebnis des alten genetischen Formungsprogramms?«

»Ich weiß es nicht. Überraschen würde es mich nicht.«

»Trauen Sie ihr?«

»Inwiefern? Sie hat mir geholfen.«

»Wissen Sie, daß sie die Frau Dr. Barron Nevilles ist?«

»Es besteht eine gefühlsmäßige Bindung, nicht aber eine gesetzliche, wie ich annehme.«

»So gesehen, gibt es überhaupt keine gesetzlichen Bindungen auf dem Mond. Der gleiche Neville, den Sie als dritten Autor für Ihre Abhandlung einladen wollen?«

»Ja.«

»Ist das nur ein Zufall?«

»Nein. Neville interessierte sich gleich nach meiner Ankunft für mich, und ich meine, er hat Selene gebeten, mir bei der Arbeit zu helfen.«

»Hat sie Ihnen das gesagt?«

»Sie sagte, sie interessiere sich für mich. Das war doch ganz natürlich.«

»Machen Sie sich eigentlich klar, Dr. Denison, daß sie bei der Zusammenarbeit vielleicht nur ihre eigenen und die Interessen Dr. Nevilles im Auge hat?«

»In welcher Beziehung könnten sich ihre Interessen von den unseren unterscheiden? Sie hat mir rückhaltlos geholfen.«

Gottstein verlagerte sein Gewicht im Stuhl und bewegte seine Schultern wie beim Muskeltraining. Er sagte: »Da ihm die Frau so nahe steht, weiß Dr. Neville natürlich, daß sie Intuitionist ist. Wäre es da nicht natürlich, sie zu gebrauchen? Warum sollte sie sonst Touristenführerin bleiben, wenn damit nicht ihre Fähigkeiten vertuscht werden sollen — aus ganz bestimmten Gründen?«

»Wie ich höre, führt Dr. Neville sehr oft ähnliche Argumente an. Mir fällt es schwer, an solche überflüssigen Komplotte zu glauben.«

»Woher wollen Sie wissen, daß sie überflüssig sind? Als mein kleiner Raumgleiter über der Mondoberfläche schwebte — kurz bevor sich der Strahlungsball auf Ihrem Gerät bildete, schaute ich auf Sie hinab. Sie standen nicht am Pionisator.«

Denison überlegte. »Nein, das stimmt. Ich schaute mir die Sterne an. Das tue ich zu gern da oben an der Oberfläche.«

»Und was machte Miß Lindstrom?«

»Das habe ich nicht gesehen. Sie sagte, sie hätte das magnetische Feld verstärkt und schließlich den Durchfluß bewirkt.«

»Ist es üblich, daß sie die Geräte allein bedient?«

»Nein. Aber ich kann ihren Drang verstehen.«

»Und hätte es bei dem Vorgang eine Art Ausstoß geben können?«

»Ich verstehe nicht…«

»Ich bin nicht sicher, daß ich es selber verstehe. Im Erdlicht war ein kleines Blitzen zu bemerken, als ob etwas durch die Luft huschte. Ich weiß nicht, was das hätte sein können.«

»Ich auch nicht«, meinte Denison.

»Sie haben keine Erklärung dafür, die sich aus dem Experiment ergeben würde?«

»Nein.«

»Was hat Miß Lindstrom also gemacht?«

»Ich weiß es immer noch nicht.«

Einen Augenblick lastete die Stille im Zimmer. Dann sagte der Hochkommissar: »Wie ich die Sache sehe, machen Sie jetzt den Versuch, die Durchfluß-Instabilität zu korrigieren, und gehen dann an die Vorbereitung Ihrer Abhandlung. Ich bringe die Dinge am anderen Ende ins Rollen und werde bei meinem bevorstehenden Erdbesuch alle Vorbereitungen zur Veröffentlichung der Abhandlung treffen und die Regierung alarmieren.«

Es war ein deutlicher Schlußpunkt. Denison stand auf, und der Hochkommissar sagte leichthin: »Und denken Sie mal über Dr. Neville und Miß Lindstrom nach.«

17

Der Energiestern war diesmal schwerer, dicker und heller. Denison spürte seine Wärme auf der Helmscheibe und trat einige Schritte zurück. Deutlich war die Röntgenstrahlung herauszuspüren, und obwohl seine Abschirmung ausreichen mußte, war es sinnlos, sie unnötig zu belasten.

»Es läßt sich wohl nicht mehr bestreiten«, murmelte er. »Der Durchfluß ist stabil.«

»Ganz bestimmt«, sagte Selene knapp.

»Schalten wir’s also ab, und dann nach Hause.«

Sie bewegten sich sehr langsam. Denison war seltsam entmutigt. Es gab keine Ungewißheit mehr, keine Aufregung. Von jetzt an war ein Fehlschlag ausgeschlossen. Die Regierung interessierte sich für die Versuche; und es konnte nicht mehr lange dauern, bis ihm alles aus der Hand genommen war.

»Ich kann wohl jetzt mit der Abhandlung beginnen«, sagte er. Selene nickte.

»Hast du noch einmal mit Barron gesprochen?«

»Ja.«

»Und hat er seine Einstellung geändert?«

»Nicht im geringsten. Er will nichts damit zu tun haben.

Ben…?«

»Ja?«

»Ich bin wirklich der Meinung, es hat keinen Sinn mehr, mit ihm zu sprechen. Er wird auf keinen Fall an einem Projekt mitarbeiten, mit dem auch die Erdregierung zu tun hat.«

»Aber du hast ihm die Lage doch auseinandergesetzt?«

»Von A bis Z.«

»Und er will nicht mitmachen?«

»Er hat nach einem Gespräch mit Gottstein verlangt, und der Hochkommissar ist nach seiner Rückkehr von der Erde mit einer Zusammenkunft einverstanden. Bis dahin müssen wir uns schon gedulden. Vielleicht kann ihn Gottstein noch umstimmen, aber ich möchte es eigentlich bezweifeln.«

Denison zuckte die Achseln — eine sinnlose Geste im Raumanzug. »Ich verstehe ihn nicht.«

»Aber ich«, erwiderte Selene leise.

Denison ging nicht darauf ein. Er schob den Pionisator und die Anschlußgeräte in eine Felsspalte und fragte: »Fertig?«

»Fertig.«

Schweigend betraten sie Oberflächen-Ausgang P-4, und Denison stieg die Leiter hinab. Selene huschte an ihm vorüber, wobei sie sich mit schnellem Griff hier und da an den Sprossen abbremste — ein Kniff, den Denison längst beherrschte. Trotzdem stieg er nur langsam hinterher, seltsam lustlos, seine fortschreitende Eingewöhnung unter Beweis zu stellen.

In den Vorräumen legten sie die Raumanzüge ab und verstauten sie in den Schränken. Denison fragte: »Kommst du mit essen, Selene?«

Selene erwiderte bedrückt: »Du scheinst ganz durcheinander zu sein. Stimmt etwas nicht?«

»Ist wohl die Reaktion. Mittagessen?«

»Ja, natürlich.«

Sie aßen in Selenes Unterkunft. Selene hatte darauf bestanden. »Ich muß mit dir sprechen, und das geht in der Cafeteria nicht.«

Und als Denison langsam auf etwas herumkaute, das entfernt an Kalbfleisch mit Erdnußbuttergeschmack erinnerte, sagte sie: »Ben, du hast bis jetzt kein einziges Wort gesagt. So geht das schon eine Woche.«

»Das stimmt nicht«, entgegnete Denison stirnrunzelnd.

»Doch.« Sie blickte ihn besorgt an. »Ich weiß nicht, wie gut meine Intuition ist, wenn es nicht um die Physik geht, aber ich habe das Gefühl, da ist etwas, das du mir nicht sagen möchtest.«

Denison zuckte die Achseln. »Die Leute auf der Erde machen einen Riesenzirkus. Gottstein hat alle Hebel in Bewegung gesetzt. Dr. Lamont wird gefeiert, und ich soll zurückkehren, wenn die Abhandlung fertig ist.«

»Zurück zur Erde?«

»Ja. Sieht so aus, als wäre ich ein richtiger Held.«

»Das ist wohl das mindeste.«

»Völlige Rehabilitation wird mir geboten.« Denisons Miene war nachdenklich. »Kein Problem mehr, bei jeder geeigneten Universität oder Regierungsstelle unterzukommen.«

»Hast du das nicht gewollt?«

»Ich kann mir vorstellen, daß Peter Lamont das will und daran seine Freude hätte und daß er es auch bekommt. Aber ich will es nicht.«

»Was willst du dann?« fragte Selene.

»Ich will auf dem Mond bleiben.«

»Warum?«

»Weil hier die Entwicklungsfront der Menschheit liegt und ich ein Teil dieser Front sein möchte. Ich möchte bei der Installation der Kosmei-Pumpen mitwirken, was nur hier auf dem Mond möglich ist. Ich möchte an der Paratheorie arbeiten — und zwar mit Instrumenten, wie nur du sie dir ausdenken und bedienen kannst, Selene… Ich möchte bei dir sein, Selene. Aber — hast du den gleichen Wunsch?«

»Ich interessiere mich ebenso für die Paratheorie wie du.«

»Aber wird dich Neville jetzt nicht abberufen?«

»Barron mich abberufen?« Sie fragte gepreßt: »Willst du mich beleidigen, Ben?«

»Nicht im geringsten.«

»Dann mißverstehe ich dich also. Willst du andeuten, ich arbeite nur mit dir, weil Barron es mir befohlen hat?«

»Hat er’s dir nicht befohlen?«

»Doch. Aber deshalb bin ich nicht hier. Ich sitze hier aus eigener freier Entscheidung. Er denkt vielleicht, er kann mich herumkommandieren, aber das klappt nur, wenn seine Befehle meinem Willen entsprechen — wie es bei dir der Fall war. Ich habe etwas dagegen, daß er sich für meinen Vorgesetzten hält, und auch, daß du offenbar der gleichen Meinung bist.«

»Ihr beide seid doch Sex-Partner.«

»Das waren wir, ja, aber was hat das damit zu tun? So gesehen, müßte ich ihn ebenso kommandieren dürfen wie er mich.«

»Dann kannst du also mit mir arbeiten, Selene?«

»Aber natürlich«, sagte sie kühl, »wenn ich mich dafür entscheide.«

»Und tust du das?«

»Hiermit tu ich’s — ja.«

Und Denison lächelte. »Daß du dich gegen mich entscheiden könntest oder vielleicht gar keine Entscheidung treffen durftest, hat mir in der letzten Woche wohl am meisten zu schaffen gemacht. Ich fürchtete den Abschluß des Projektes, wenn damit auch unser Zusammensein zu Ende wäre. Es tut mir leid, Selene, ich möchte dich nicht mit den sentimentalen Gefühlen eines alten Erdchens plagen…«

»Also, dein Köpfchen hat nichts Altes oder Erdchenhaftes, Ben.« Es gibt andere Bindungen als die geschlechtliche. Ich bin gern mit dir zusammen.«

Es folgte ein Schweigen, und Denisons Lächeln verschwand, um dann — vielleicht ein wenig mechanisch — zurückzukehren. »Bin ich froh über mein Köpfchen!«

Er blickte zur Seite, schüttelte leicht den Kopf und wandte sich wieder zurück. Sie beobachtete ihn besorgt.

Denison sagte: »Selene, bei den Durchflüssen zwischen den Universen geht es nicht nur um die Energie. Das ist dir sicher längst durch den Kopf gegangen.«

Das Schweigen dehnte sich unangenehm in die Länge. Schließlich sagte Selene: »Ach, das…«

Eine Zeitlang starrten sich die beiden an — Denison verlegen, Selene fast verstohlen.

18

Gottstein sagte: »Ich habe meine Mondbeine noch nicht ganz wieder, aber das ist nichts gegen die Mühe und Pein, die es kostet, sich neu an die Erdschwerkraft zu gewöhnen. Denison, Sie sollten den Gedanken an eine Rückkehr lieber aufgeben. Sie schaffen das doch nie.«

»Ich habe auch nicht die Absicht, zurückzukehren, Hochkommissar«, sagte Denison.

»Das ist nun allerdings schade. Sie könnten sich durch bloßen Zuruf zum Herrscher aller Reußen machen lassen. Was jedoch Hallam angeht…«

»Ich hätte gern sein Gesicht gesehen — aber das ist nur ein bescheidener Wunsch«, sagte Denison sehnsüchtig.

»Lamont bekommt natürlich den Löwenanteil ab. Er steht im Mittelpunkt des Interesses.«

»Das macht mir nichts. Er hat es verdient… Glauben Sie, daß Neville noch kommt?«

»Zweifellos. Er ist schon auf dem Wege. Hören Sie«, Gottstein senkte geheimnisvoll die Stimme, »möchten Sie vorher noch ein Stück Schokolade?«

»Was?«

»Ein Stück Schokolade. Mit Mandeln. Ich habe eine Tafel.«

Denison dämmerte es. »Richtige Schokolade?«

»Ja.«

»Aber natür« Sein Gesicht verhärtete sich. »Nein, Hochkommissar.«

»Nein?«

»Nein! Wenn ich jetzt ein Stück Schokolade nehme, wird mir, solange ich es im Munde habe, die Erde fehlen; ich werde plötzlich alles vermissen. Und das kann ich mir nicht leisten. Ich will es nicht… Bitte zeigen Sie mir die Schokolade auch nicht. Lassen Sie mich nichts riechen oder sehen.«

Der Hochkommissar sah ihn verwirrt an. »Sie haben recht.« Er machte den deutlichen Versuch, das Thema zu wechseln. »Die Erregung auf der Erde ist überwältigend. Natürlich haben wir uns große Mühe gegeben, Hallam nicht zu sehr bloßzustellen. Er wird weiterhin eine wichtige Stellung bekleiden, aber zu sagen hat er nicht mehr viel.«

»Da wird er rücksichtsvoller behandelt, als er mit anderen umgesprungen ist«, meinte Denison resigniert.

»Es geht dabei nicht um ihn. Man kann ein persönliches Image, das sich zu solcher Bedeutung aufgeschwungen hat, nicht einfach vernichten; das könnte nicht ohne Rückwirkung auf die Wissenschaft bleiben. Der gute Name der Wissenschaft ist wichtiger.«

»Da möchte ich prinzipiell widersprechen«, entgegnete Denison nachdrücklich. »Die Wissenschaft muß verdiente Rückschläge einstecken können.«

»Es gibt für alles den richtigen Zeitpunkt und den richtigen Ort, und… Da kommt Dr. Neville.«

Barron Neville trat ein . Irgendwie ließ er die natürliche Schmächtigkeit der Mondbewohner noch mehr als sonst vermissen. Er grüßte knapp, setzte sich und schlug die Beine übereinander.

Offensichtlich wartete er darauf, daß Gottstein zuerst das Wort ergriff, was dieser auch tat.

»Ich freue mich über Ihr Kommen, Dr. Neville. Dr. Denison sagt mir, Sie hätten es abgelehnt, Ihren Namen für eine Abhandlung über die Kosmei-Pumpe zur Verfügung zu stellen — eine Abhandlung, die nach meiner Ansicht einmal zu den klassischen Schriften zählen wird.«

»Dazu bestand kein Grund«, erwiderte Neville. »Was auf der Erde geschieht, interessiert mich nicht.«

»Sie wissen von den Kosmei-Pumpversuchen? Sie kennen die sich daraus ergebenden Folgerungen?«

»Natürlich«, sagte Neville. »Ich bin mit der Situation so vertraut wie Sie.«

»Dann kann ich ja sofort beginnen. Ich bin gerade von der Erde zurück, Dr. Neville, und es steht so gut wie fest, wie die Dinge weiter ablaufen. An drei verschiedenen Stellen auf der Mondoberfläche werden große Kosmei-Pumpstationen installiert — und zwar so, daß mindestens eine stets im Nachtschatten liegt. Die Hälfte der Zeit werden es sogar zwei sein. Die Stationen im Nachtschatten werden konstant Energie abgeben, die überwiegend einfach ins All abstrahlt. Es geht bei dem ganzen Projekt weniger darum, die Energie praktisch zu nutzen, als den durch die Elektronenpumpe bewirkten Feldveränderungen entgegenzuwirken.«

Denison schaltete sich ein. »Einige Jahre lang müssen wir mehr Energie abgeben als die Elektronenpumpe, um unseren Teil des Universums wieder in den Zustand zu versetzen, wie er vor dem ersten Einsatz der Pumpe bestand.«

Neville nickte. »Wird Luna-City davon profitieren?«

»Wenn nötig. Wir sind der Meinung, daß die Sonnenbatterien ausreichen müßten, aber gegen eine ergänzende Energiezufuhr dürften keine Bedenken bestehen.«

»Wie freundlich«, bemerkte Neville unverhohlen sarkastisch. »Und wer baut und bedient die Kosmei-Pumpstationen?«

»Die Menschen von Luna-City, hoffen wir«, antwortete Gottstein. »Die Menschen von Luna-City, soso«, wiederholte Neville. »Leute von der Erde wären ja bekanntlich zu ungeschickt.«

»Das ist uns bekannt«, sagte Gottstein. »Wir hoffen, daß wir hier entsprechende Unterstützung finden.«

»Und wer entscheidet, wieviel Energie abgegeben wird, wieviel für örtliche Zwecke verwendet werden kann und wieviel abzustrahlen ist? Wer bestimmt die Politik?«

»Das fiele notgedrungen der Regierung zu«, erwiderte Gottstein. »Es handelt sich immerhin um Entscheidungen von planetarischer Bedeutung.«

»Aha, die Menschen vom Mond tun also die Arbeit, und die Erdenmenschen spielen den Direktor.«

»Nein«, entgegnete Gottstein ruhig. »Wir alle arbeiten, so gut wir es vermögen. Entschieden wird von denen, die das Gesamtproblem am besten ermessen können.«

»Ich höre zwar die Worte, die aber immer nur darauf hinauslaufen, daß wir, die Lunarier, arbeiten und Sie entscheiden. Nein, Hochkommissar. Die Antwort ist nein.«

»Soll das heißen, Sie wollen die Kosmei-Pumpstationen nicht bauen?«

»Wir bauen sie, Hochkommissar, aber sie werden uns gehören. Wir werden entscheiden, wieviel Energie abgestrahlt und wie sie verwendet wird.«

»Das wäre kaum sinnvoll. Sie müßten ständig mit der Erdregierung abstimmen, da die Kosmei-Pumpenergie die Elektronenpumpenergie ausgleichen muß.«

»Ich möchte sagen, das pendelt sich über kurz oder lang schon ein. Wir haben jedenfalls anderes vor. Sie können es ruhig schon wissen. Energie ist nicht das einzige Erhaltungsphänomen, das mit Durchfluß der Universen grenzenlos wird.«

Denison unterbrach ihn: »Es gibt eine Reihe von Erhaltungssätzen. Das wissen wir.«

»Das freut mich«, sagte Neville und warf ihm einen feindseligen Blick zu. »Darunter fallen etwa die Impuls und Drehimpulssätze. Solange ein Objekt auf das — und nur dieses — Schwerkraftfeld reagiert, in dem es sich befindet, ist es im freien Fall und kann seine Masse halten. Um nun aus dem freien Fall auszubrechen, müßte es auf eine nicht schwerkraftbedingte Weise beschleunigen. Und dazu muß ein Teil seiner selbst eine entgegengerichtete Veränderung durchmachen.«

»Wie bei einer Rakete«, warf Denison ein, »die Masse in einer Richtung ausstoßen muß, damit sie in die andere Richtung beschleunigen kann.«

»Ich bezweifle nicht, daß Sie das verstehen, Dr. Denison«, fuhr Neville fort, »aber ich möchte es dem Hochkommissar deutlich machen. Der Masseverlust könnte durch eine gewaltige Steigerung der Geschwindigkeit auf ein Minimum herabgedrückt werden, da der Impuls das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit ist. Trotzdem muß Masse abgestoßen werden, wie groß die Geschwindigkeit auch ist. Wenn die zu beschleunigende Masse in sich schon sehr groß ist, muß auch die abzustoßende Masse beträchtlich sein. Wenn zum Beispiel der Mond…«

»Der Mond!« sagte Gottstein auffahrend.

»Ja, der Mond«, wiederholte Neville ruhig. »Wenn der Mond aus seiner Kreisbahn und aus dem Sonnensystem getrieben werden sollte, würde die Erhaltung des Impulses ein gewaltiges und wahrscheinlich nicht zu bewältigendes Hindernis darstellen. Wenn jedoch der Impuls in das Kosmei eines anderen Universums übertragen werden könnte, ließe sich der Mond beliebig beschleunigen, ohne daß überhaupt ein Masseverlust eintritt. Es wäre dann, als triebe man einen Kahn mit einer Stange flußaufwärts — um ein Bild anzuführen, das ich einmal in einem Buch von der Erde gesehen habe.«

»Aber wieso? Ich meine, wieso wollen Sie den Mond fortsteuern?«

»Das müßte doch klar sein. Wozu brauchen wir die erdrückende Nähe der Erde? Wir haben alle Energie, die wir brauchen, wir haben eine bequeme Welt, die uns zumindest in den nächsten Jahrhunderten Raum zur Ausbreitung bietet. Warum sollen wir nicht unseren eigenen Weg gehen? Und das werden wir. Ich möchte Ihnen heute in aller Eindringlichkeit sagen, daß Sie uns nicht aufhalten können, und Ihnen von Gegenmaßnahmen abraten. Wir werden eine Impulsübertragung vornehmen und dann verschwinden. Wir wissen genau, wie man eine Kosmei-Pumpstation baut, und werden die Energie für eigene Zwecke benutzen und einen gewissen Überschuß produzieren, um damit die Veränderungen zu neutralisieren, die Ihre Energiestationen erzeugen.«

»Es ist nett von Ihnen, daß Sie einen Überschuß erzeugen wollen«, warf Denison sarkastisch ein, »aber das tun Sie natürlich nicht unseretwegen. Wenn unsere Elektronenpumpen die Sonne zur Explosion bringen, haben Sie nämlich das innere Sonnensystem noch längst nicht verlassen — und würden auf der Stelle mit vernichtet.«

»Vielleicht«, entgegnete Neville, »aber wir produzieren eben einen Überschuß, damit es nicht dazu kommt.«

»Sie können das nicht tun!« Gottstein war erregt. »Sie können nicht abziehen. Wenn Sie sich zu weit entfernen, kann die Elektronenpumpe durch die Kosmei-Pumpe nicht mehr neutralisiert werden, wie, Denison?«

Denison zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich dann nicht mehr, wenn der Mond etwa auf der Saturnlaufbahn angekommen ist sofern meine schnelle Berechnung jetzt stimmt. Aber der Flug dorthin wird auf jeden Fall viele Jahre dauern, und dann haben wir bestimmt auf der ehemaligen Mondumlaufbahn Raumstationen gebaut und Kosmei-Stationen darauf eingerichtet. Tatsächlich brauchen wir den Mond nicht. Er kann ruhig verschwinden — nur wird er das nicht.«

Neville gestattete sich ein kurzes Lächeln. »Und wie kommen Sie zu der Auffassung? Wir lassen uns nicht aufhalten. Die Erde hat keine Möglichkeit, uns ihren Willen aufzuzwingen.«

»Sie werden nicht fortfliegen, weil das schlicht und einfach sinnlos wäre. Warum den ganzen Mond mitschleppen? Die Mondmasse auf vernünftige Beschleunigung zu bringen, muß Jahre dauern. Sie können anfangs ja nur kriechen! Bauen Sie doch lieber Sternenschiffe — kilometerlange Einheiten, die mit Kosmei-Impulsantrieb betrieben werden und eine eigene Ökologie haben. Mit einem Kosmei-Impulsantrieb könnten Sie dann Wunder tun. Auch wenn Sie für den Bau des Schiffes zwanzig Jahre veranschlagen, ist die Beschleunigung hinterher so groß, daß Sie den Mond in einem Jahr überholt hätten, selbst wenn er heute zu beschleunigen begänne. Die Schiffe könnten außerdem Kurswechsel vornehmen in einem Bruchteil der Zeit, die der Mond dafür brauchen würde.«

»Und die frei arbeitenden Kosmei-Pumpen? Was würden die dem Universum antun?«

»Die Energie, die für ein Schiff oder auch mehrere Schiffe erforderlich ist, kann niemals den Bedarf eines ganzen Planeten erreichen und wird sich über weite Striche des Universums verteilen. Es können Millionen Jahre vergehen, ehe sich überhaupt eine wesentliche Veränderung ergibt. Das ist die gewonnene Beweglichkeit durchaus wert. Der Mond kann sich nur ganz langsam bewegen — da sollten Sie ihn lieber an Ort und Stelle lassen.«

»Wir haben es nicht eilig — außer von der Erde fortzukommen«, erwiderte Neville verächtlich.

Denison fuhr fort: »Die Nachbarschaft der Erde hat auch ihre Vorteile. Da wäre der Zustrom der Immigranten. Dann der kulturelle Austausch. Eine Planetenwelt mit zwei Milliarden Bewohnern dicht unter dem Horizont! Wollen Sie wirklich auf das alles verzichten?«

»Mit Freuden!«

»Ist das die Ansicht aller Mondbewohner? Oder nur Ihre Einstellung? Sie machen einen leicht fanatischen Eindruck auf mich, Neville. Sie wollen nicht an die Oberfläche gehen. Andere Lunarier tun das. Sie mögen es nicht besonders, aber sie tun’s. Das Innere des Mondes ist nicht ihr Mutterleib, wie in Ihrem Falle. Es ist nicht ihr Gefängnis. Sie haben etwas Neurotisches an sich, das den meisten anderen Lunariern abgeht oder bei ihnen sehr viel schwächer zum Ausdruck kommt. Wenn Sie den Mond von der Erde fortführen, machen Sie ihn damit zu einem Gefängnis für alle. Er wird zu einem Planetengefängnis, dem kein Mensch — und nicht nur Sie allein — entfliehen kann, nicht einmal so weit, daß er sich eine andere bewohnte Welt am Himmel anschauen könnte. Vielleicht ist das Ihre Absicht.«

»Ich will Unabhängigkeit, eine freie Welt. Eine Welt, die von außen in Ruhe gelassen wird.«

»Sie könnten Schiffe bauen, jede Menge. Sie könnten fast mit Lichtgeschwindigkeit davonfliegen, sobald sie den Impuls in das Kosmei übertragen. Sie könnten im Laufe eines Menschenalters das ganze Universum erforschen. Würde Sie das nicht reizen?«

»Nein«, sagte Neville angewidert.

»O wirklich? Oder könnten Sie es nicht aushalten? Ist es nicht vielmehr so, daß Sie den Mond mitnehmen müssen, wohin Sie gehen? Warum müssen sich die anderen Ihrem Bedürfnis unterwerfen?«

»Weil es eben so sein wird.«

Denisons Stimme blieb ruhig, doch er wurde rot im Gesicht. »Wer gibt Ihnen das Recht zu einer solchen Antwort? Es gibt viele Bürger in Luna-City, die vielleicht nicht Ihrer Meinung sind.«

»Das geht Sie nichts an.«

»Doch, das geht mich sehr viel an. Ich bin ein Immigrant, der sich bald für die Einbürgerung qualifiziert. Ich möchte nicht, daß mir die Entscheidung von jemandem abgenommen wird, der nicht an die Oberfläche steigen kann und der sein persönliches Gefängnis in ein Gefängnis für alle umwandeln will. Ich habe die Erde für immer verlassen, doch nur um zum Mond zu gehen, nur um vierhunderttausend Kilometer vom Heimatplaneten entfernt zu leben. Ich habe mich nicht verpflichtet, an einer endlosen Reise teilzunehmen.«

»Dann kehren Sie doch zur Erde zurück«, erwiderte Neville gleichgültig. »Noch ist es Zeit.«

»Und was ist mit den anderen Luna-Bürgern? Mit den anderen Immigranten?«

»Die Entscheidung ist gefallen.«

»Sie ist nicht gefallen. — Selene!«

Selene trat ein. Ihr Gesicht war ernst, und in ihren Augen stand ein trotziger Ausdruck. Neville nahm die Beine auseinander. Er setzte hörbar die Füße auf.

»Wie lange bist du schon nebenan, Selene?« fragte Neville.

»Seit Beginn des Gesprächs, Barron«, antwortete sie.

Neville schaute von Selene zu Denison und wieder zurück. »Ihr beide…« begann er und ließ seinen Finger zwischen Selene und Denison wandern.

»Ich weiß nicht, was du mit ihr beide meinst«, sagte Selene, »jedenfalls hat Ben die Sache mit dem Impuls schon vor einiger Zeit herausgefunden.«

»Es war nicht Selenes Schuld«, warf Denison ein. »Der Hochkommissar entdeckte ein fliegendes Etwas — zu einer Zeit, da seine Anwesenheit noch unentdeckt war. Ich überlegte, daß Selene vielleicht etwas ausprobierte, an das ich noch nicht gedacht hatte, und da bin ich nach einiger Zeit auf die Impulsübertragung gekommen. Und da war alles klar…«

»Na, dann wußten Sie es also«, meinte Neville. »Ist ja auch egal.

»Es ist nicht egal, Barron«, widersprach Selene. »Ich habe mit Ben darüber gesprochen. Und ich machte mir klar, daß ich nicht immer tun mußte, was du sagst. Es mag ja sein, daß ich nie zur Erde reisen kann. Vielleicht will ich das auch gar nicht. Aber mir wurde bewußt, daß sie mir gefällt da oben am Himmel, wo ich sie sehen kann, wenn ich hinschauen möchte. Ich will keinen leeren Himmel. Ich habe nun mit anderen aus der Gruppe gesprochen. Nicht alle wollen fort. Die meisten würden lieber Schiffe bauen und die Leute fliegen lassen, die unbedingt wollen, und selbst zurückbleiben.«

Neville atmete schwer. »Du hast darüber gesprochen… Wer gab dir das Recht…«

»Ich habe es mir genommen, Barron. Außerdem kommt es nicht mehr darauf an. Du wirst überstimmt.«

»Seinetwegen…« Neville fuhr herum und kam drohend auf Denison zu.

Der Hochkommissar schaltete sich ein: »Werden Sie nicht handgreiflich, Dr. Neville. Sie sind zwar auf dem Mond geboren, aber ich glaube nicht, daß Sie uns beide schaffen.«

»Uns drei«, sagte Selene, »und ich bin auch vom Mond. Ich habe es ja auch getan, Barron, nicht sie.«

Denison sagte: »Hören Sie, Neville… Der Erde ist es im Grunde egal — soll der Mond doch davonfliegen. Die Erde kann ihre Raumstationen bauen. Den Bürgern von Luna-City ist es aber nicht egal. Selene und mir und den anderen. Neville, Ihnen wird der Raum ja nicht vorenthalten, die Flucht, die Freiheit. In höchstens zwanzig Jahren kann jeder davonfliegen, der Lust dazu hat — und Sie auch, wenn Sie sich dazu überwinden können, den Mutterleib zu verlassen. Und wer bleiben will, bleibt.«

Langsam setzte sich Neville wieder. Auf seinem Gesicht stand die Niederlage.

19

In Selenes Wohnung zeigten alle Fenster die Erde. »Hast du schon gehört, Ben — bei der Abstimmung ist sein Plan abgelehnt worden«, sagte sie. »Mit großer Mehrheit sogar.«

»Er läßt bestimmt nicht locker. Wenn es während des Baus der Stationen Schwierigkeiten gibt, ändert sich die öffentliche Meinung vielleicht wieder.«

»Es braucht aber keine Schwierigkeiten zu geben.«

»Das stimmt. Wie dem auch sei — die Geschichte kennt keine Happy-Ends, sondern nur Krisenpunkte, die überwunden werden. Wir haben diesen wohl ganz gut überstanden und sollten uns um die nächsten erst sorgen, wenn sie sich ergeben oder abzeichnen. Sind erst einmal die Sternenschiffe gebaut, läßt die Spannung sicher spürbar nach.«

»Wir werden’s erleben.«

»Du wirst es erleben, Selene.«

»Du auch, Ben. Nun übertreib mal nicht mit deinem Alter. Du bist erst achtundvierzig.«

»Würdest du mitfliegen in einem der Sternenschiffe, Selene?«

»Nein, dazu wäre ich zu alt, und außerdem möchte ich den Anblick der Erde am Himmel nicht mehr missen. Vielleicht fliegt mein Sohn… Ben?«

»Ja, Selene?«

»Ich habe einen zweiten Sohn beantragt. Und der Antrag ist angenommen. Möchtest du dazu beitragen?«

Denison hob den Kopf und schaute ihr in die Augen. Sie erwiderte seinen Blick.

»Künstliche Besamung?« fragte er.

»Natürlich… Müßte eine interessante Genkombination ergeben«, erwiderte sie.

Denison senkte den Blick. »Es wäre mir eine Ehre, Selene.«

Selene sagte abwehrend: »Ist doch nur vernünftig, Ben. Gute Genkombinationen sind wichtig. Gegen ein bißchen natürliche genetische Formung ist nichts einzuwenden.«

»Sicher nicht.«

»Das soll nicht heißen, daß ich nicht auch andere Gründe habe… Ich mag dich.«

Denison nickte und schwieg.

»Und Liebe ist mehr als nur Sex«, fuhr Selene fast ärgerlich fort.

»Das stimmt. Zumindest liebe ich dich auch ohne Sex.«

»Und da wir gerade davon sprechen, Ben; Sex ist nicht nur Akrobatik.«

»Stimmt auch.« Denison nickte wiederum.

»Und außerdem… O verdammt, du könntest es doch zu lernen versuchen.«

»Wenn du es mir beibringst…«

Zögernd neigte er sich zu ihr. Sie wich nicht zurück.

Da zögerte er nicht länger.

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