Dua hatte keine Mühe, sich von den anderen abzusondern. Sie rechnete immer mit Schwierigkeiten, die dann irgendwie ausblieben. Jedenfalls richtige Schwierigkeiten.
Aber warum auch nicht? Odeen machte zwar Einwände auf seine Art. »Bleib hier«, sagte er immer. »Du weißt, daß du Tritt aufregst.« Nie sprach er von seinen eigenen Empfindungen; um Kleinigkeiten regten sich Denklinge auch nicht auf. Doch kümmerte er sich fast so eingehend um Tritt, wie dieser die Kinder bewachte.
Aber zum Schluß bekam sie Odeen doch immer herum, wenn sie genügend quängelte, und er legte sich dann sogar mit Tritt an. Manchmal gab er auch zu, auf ihre Fähigkeiten stolz zu sein, auf ihre Unabhängigkeit… Er war kein schlechter Linksling, überlegte sie unkonzentriert.
Mit Tritt ließ sich nicht so leicht auskommen; er schaute sie immer so beleidigt an, wenn sie — nun, wenn sie so war, wie sie gern sein wollte. Aber Rechtslinge waren ja immer so. Für sie war er ein Rechtsling, doch für die Kinder ein Elterling, und das hatte den Vorrang… Was ganz günstig war, denn sie konnte sich immer darauf verlassen, daß das eine oder andere Kind ihn beanspruchte, wenn die Lage brenzlig wurde.
Trotzdem hatte sie nichts gegen Tritt. Bis auf die Augenblicke des Verschmelzens ignorierte sie ihn. Bei Odeen war das anders. Er war zuerst richtig aufregend gewesen; schon seine Gegenwart hatte ihre Umrisse zum Leuchten und Verschwimmen gebracht. Und daß er ein Denkling war, erhöhte den Reiz irgendwie noch mehr. Sie verstand ihre Reaktion darauf nicht ganz; diese Reaktion war ein Teil ihrer Absonderlichkeit. Sie hatte sich an ihre Absonderlichkeit gewöhnt — jedenfalls fast. Dua seufzte.
Als Kind, als sie sich noch als Individuum und nicht als Teil einer Triade ansah, war ihr diese Absonderlichkeit noch viel gegenwärtiger gewesen. Die anderen hatten es sie viel mehr spüren lassen. Schon so eine Kleinigkeit wie die Oberfläche am Abend…
Leidenschaftlich gern war sie abends an der Oberfläche gewesen. Die anderen Gefühlslinge hatten den Ort kalt und düster genannt und waren zitternd verschmolzen, wenn sie ihnen eine Beschreibung gab. Sie waren zwar bereit, in der Wärme des Mittags dort hinaufzusteigen und sich auszubreiten und zu essen, aber eben das machte den Mittag so langweilig. In Gesellschaft des zwitschernden Haufens fühlte sie sich nicht wohl.
Natürlich mußte sie essen, aber das tat sie viel lieber am Abend, wenn es wenig Nahrung gab, wenn aber die ganze Umgebung dämmrig war und schwachrot leuchtete und wenn sie allein war. Natürlich beschrieb sie den anderen die Szene kälter und schlimmer, als sie wirklich war — nur um sie bei dem Gedanken an die Kühle hart werden zu sehen. Nach einer Weile flüsterten die anderen über sie und lachten sie aus — und ließen sie in Ruhe.
Die kleine Sonne stand nun über dem Horizont und strahlte jene geheimnisvolle Röte aus, die Dua allein vorbehalten war. Sie breitete sich seitlich aus, verdickte Rücken und Bauch und absorbierte die dünnen Wärmespuren. Sie kaute geistesabwesend darauf herum, genoß den leicht sauren, substanzlosen Geschmack der gedehnten Wellenlängen. (Sie war noch keinem anderen Gefühlsling begegnet, der sich zu einem ähnlichen Geschmack bekannt hätte. Aber sie vermochte nicht zu erklären, daß sie das mit Freiheit gleichsetzte; mit der Freiheit von den anderen, wenn sie allein sein konnte.)
Auch jetzt brachten die Einsamkeit, die Kühle und das tiefe, tiefe Rot die Erinnerung an die weit zurückliegende Zeit vor der Triade und — sogar noch deutlicher — an ihren eigenen Elterling, der ihr schwerfällig gefolgt war, in ständiger Angst, daß sie sich weh tun könnte.
Er hatte sich aufopfernd um sie bemüht, wie alle Elterlinge; um den Klein-Mittling mehr als um die beiden anderen. Das hatte Dua gestört, und sie hatte oft von dem Tag des Verlassens geträumt. Alle Elterlinge verließen ihre Kinder irgendwann; und sie mußte daran denken, wie sehr er ihr gefehlt hatte, als es eines Tages soweit war.
Er war herbeigekommen, um es ihr möglichst schonend beizubringen, obwohl es den Elterlingen allgemein schwerfiel, ihre Gefühle auszudrücken. An jenem Tage war sie ihm fortgelaufen; nicht aus Boshaftigkeit, nicht, weil sie ahnte, was er ihr sagen wollte, sondern aus Übermut. Gegen Mittag hatte sie eine besondere Stelle entdeckt und sich in unerwarteter Abgeschiedenheit gesättigt, und jetzt erfüllte sie ein seltsames, juckendes Gefühl, das einfach nach Bewegung und Aktivität schrie. Sie war über die Felsen geglitten und hatte sogar ihre Oberfläche in die Steine eindringen lassen. Sie wußte, daß das schrecklich ungehörig war für einen großen Mittling wie sie, und doch erregte und beruhigte es sie zugleich.
Und ihr Elterling hatte sie endlich eingeholt und baute sich vor ihr auf. Er schwieg eine lange Zeit, machte die Augen klein und dicht, als wollte er jedes Lichtpartikel auffangen, das von ihr reflektiert wurde, als wollte er noch einmal soviel wie möglich von ihr aufnehmen und so lange wie möglich.
Zuerst hatte sie diesen Blick in der verwirrten Annahme erwidert, daß er sie beim Durchdringen der Felsen gesehen hatte und sich jetzt für sie schämte. Doch sie erspürte keine SchamAura und fragte schließlich leise: »Was ist los, Pappie?«
»Dua, die Zeit ist gekommen. Ich habe sie erwartet. Du bestimmt auch.«
»Welche Zeit?« Da der Moment nun gekommen war, zeigte sich Dua bewußt uneinsichtig. Wenn sie die Wahrheit nicht wahrhaben wollte, gab es sie auch nicht. (Diese Angewohnheit hatte sie auch später nicht abgelegt. Odeen sagte, alle Gefühlslinge wären so — mit der erhabenen Stimme, die er manchmal an sich hatte, wenn ihm die Bedeutung seiner Existenz als Denkling besonders zu Kopf gestiegen war.)
Ihr Elterling hatte gesagt: »Ich muß weiterziehen. Ich kann nicht bei dir bleiben.« Dann stand er einfach dort und schaute sie an, und sie wußte nichts zu erwidern.
»Du sagst es den anderen«, fügte er hinzu.
»Warum?« Dua wandte sich widerspenstig ab, ihre Umrisse wurden immer undeutlicher, und sie versuchte sich aufzulösen. Sie wollte sich völlig auflösen, und das konnte sie natürlich nicht. Nach einer Weile tat es weh, und sie verkrampfte sich, und schnell verhärtete sie sich wieder. Ihr Elterling machte sich nicht einmal die Mühe, sie zu schelten und ihr zu sagen, daß es eine Schande wäre, wenn jemand sie so ausgestreckt sähe.
»Denen ist es doch egal«, sagte sie und bereute sofort, daß sie ihren Elterling damit verletzt hatte. Er nannte die anderen noch immer »Klein-Links« und »Klein-Rechts«, aber Klein-Links steckte bereits in seinem Studium, und Klein-Rechts redete schon davon, eine Triade zu bilden. Dua war die einzige der drei, die noch immer das Gefühl hatte… Nun, sie war ja auch die Jüngste. Das waren Gefühlslinge immer, und bei ihnen war alles anders.
»Du wirst es ihnen trotzdem sagen«, beharrte ihr Elterling. Und sie standen sich gegenüber und sahen sich an.
Sie wollte es ihnen nicht sagen. Sie waren ihr überhaupt nicht mehr nahe. Ganz früher, als Kinder, war das anders gewesen. Damals konnten sie sich kaum auseinanderhalten; der Links-Bruder unterschied sich nicht vom Rechts-Bruder und auch nicht von der Mitt-Schwester. Sie waren alle nebelhaft und verbanden sich miteinander und rollten durcheinander und versteckten sich in den Wänden.
Niemand hatte etwas dagegen, solange sie noch klein waren; niemand von den Erwachsenen. Aber dann wurden die Brüder dick und vernünftig und hielten auf Abstand. Und als sie sich bei ihrem Elterling darüber beschwerte, bekam sie nur leise zur Antwort: »Du bist zu alt fürs Verdünnen, Dua.«
Sie versuchte das zu ignorieren, aber Links-Bruder wich immer wieder vor ihr zurück und sagte: »Kuschel dich nicht so heran; ich habe keine Zeit für dich.« Und Rechts-Bruder blieb die ganze Zeit hart und wurde mürrisch und schweigsam. Damals verstand sie das noch nicht, und Pappie hatte es ihr auch nicht begreiflich machen können. Von Zeit zu Zeit sagte er — wie eine Lektion, die er einmal gelernt hatte: »Linke sind Denklinge, Dua. Rechte sind Elterlinge. Sie gehen eigene Wege.«
Und diese Wege gefielen ihr nicht. Sie waren keine Kinder mehr, während Dua Kind geblieben war, und so trieb sie sich bald mit den anderen Gefühlslingen herum. Hier führten alle die gleichen Klagen über ihre Brüder. Alle redeten von künftigen Triaden. Alle breiteten sich in der Sonne aus und aßen. Und sie wurden von Tag zu Tag ähnlicher und erzählten immer wieder die gleichen Dinge.
Und Dua begann sie zu verachten und hielt sich möglichst abseits, so daß die anderen sie bald »LinksG« nannten. (Schon sehr lange hatte sie diesen Ruf nicht mehr gehört, aber sie konnte nie daran denken, ohne sich an die dünnen, rauhen Stimmen zu erinnern, die mit halbblöder Beharrlichkeit hinter ihr her schrien, weil sie wußten, daß es weh tat.)
Doch ihr Elterling verlor nicht das Interesse an ihr, auch als ihm klarwerden mußte, daß alle anderen sie auslachten. Auf seine ungeschickte Art versuchte er sie vor ihnen abzuschirmen. Obwohl er die Oberfläche haßte, folgte er ihr manchmal hinauf, um sich zu überzeugen, daß ihr nichts geschah.
Sie traf ihn einmal im Gespräch mit einem Hartling. Sich mit einem Hartling zu unterhalten, fiel einem Elterling nicht leicht; obwohl sie noch ziemlich jung war, wußte sie das. Hartlinge sprachen nur mit Denklingen.
Sie war ganz verängstigt und huschte davon, doch sie hatte ihren Elterling noch sagen hören: »Ich passe auf sie auf, HartHerr.«
War es möglich, daß sich der Hartling nach ihr erkundigt hatte? Nach ihrer Absonderlichkeit vielleicht. Aber ihr Elterling hatte gar keinen unterwürfigen Eindruck gemacht. Sogar mit dem Hartling hatte er über seine Sorge um sie gesprochen. Dua verspürte Stolz.
Doch jetzt verließ sie ihr Elterling, und plötzlich hatte die langersehnte Unabhängigkeit jeden Reiz verloren und zeigte den spitzen Stachel der Einsamkeit. »Aber warum mußt du weiterziehen?« fragte sie.
»Ich muß einfach, kleiner Mitt-Liebling.«
Er mußte es. Sie wußte das. Früher oder später war es für jeden soweit. Auch für sie würde der Tag kommen, da sie seufzen und sagen mußte: »Ich muß gehen.«
»Aber wieso weißt du, wann du weiterziehen mußt? Wenn du dir die Zeit aussuchen kannst, warum wählst du dann nicht eine andere und bleibst noch?«
»Dein Links-Vater hat es beschlossen«, erwiderte er. »Die Triade muß tun, was er sagt.«
»Warum muß sie tun, was er sagt?« Sie sah ihren LinksVater oder ihre Mitt-Mutter kaum noch. Sie waren nicht mehr wichtig. Nur ihr Rechts-Vater, ihr Elterling, ihr Pappie, der dort untersetzt, mit glatter Oberfläche vor ihr stand. Er war nicht so rundlich wie ein Denkling oder so zittrig uneben wie ein Gefühlsling, und sie wußte immer vorherzusagen, was er gleich sagen würde. Fast immer.
Sie war sicher, daß er jetzt sagen würde: »Das läßt sich einem kleinen Gefühlsling nicht erklären.«
Und er sagte es.
Dua erwiderte in plötzlichem Schmerz: »Du wirst mir fehlen. Ich weiß, du glaubst, ich kümmere mich nicht um dich und mag dich nicht, weil du mir immer alles verboten hast. Aber ich würde dich lieber nicht mögen, weil du mir immer alles verbietest, als überhaupt niemanden mehr zu haben, der mir etwas verbietet.«
Und Pappie stand einfach nur da. Er wußte nicht, was er mit einem solchen Ausbruch anfangen sollte, außer daß er näher kam und eine Hand ausstreckte. Es kostete ihn sichtlich Mühe, doch er hob sie zitternd, und ihre Umrisse waren ein ganz klein wenig verschwommen.
»Oh, Pappie!« rief Dua aus und ließ ihre eigene Hand herumfließen, so daß die seine nebelhaft und schimmernd durch ihre Substanz zu sehen war, doch sie nahm sich in acht, sie nicht zu berühren, denn das hätte ihn in Verlegenheit gebracht.
Dann zog er sich zurück, und ihre Hand hing nutzlos im Leeren, und er sagte: »Denk an die Hartlinge, Dua. Sie helfen dir. Ich… ich gehe jetzt.«
Er ging, und sie sah ihn niemals wieder. Nun saß sie dort im Sonnenuntergang und ließ ihre Gedanken durch die Vergangenheit wandern, und sie machte sich widerwillig klar, daß Tritt wegen ihrer Abwesenheit bald ungeduldig werden und Odeen auf der Seele liegen würde.
Und dann versuchte ihr Odeen wahrscheinlich einen Vortrag über ihre Pflichten zu halten. Es war egal.
Odeen hatte eine schwache Ahnung davon, daß Dua an der Oberfläche unterwegs war. Ohne darüber nachzudenken, konnte er ihre Richtung abschätzen und in etwa sogar die Entfernung, in der sie sich befand. Wenn er sich die Mühe gemacht hätte, darüber nachzudenken, wäre er wahrscheinlich ärgerlich gewesen, denn eigentlich hatte sich seine innere Bewußtheit seit langem ständig zurückentwickelt, und ohne den Grund dafür zu kennen, vermittelte ihm das ein zunehmendes Gefühl der Zufriedenheit. So sollte es sein; der Vorgang war ein Zeichen für die fortschreitende Entwicklung des Körpers, für das Älterwerden.
Tritts innere Bewußtheit dagegen ließ nicht nach, sondern wandte sich immer mehr den Kindern zu. Das war offensichtlich entwicklungsbedingt und nützlich, doch überhaupt war die Rolle eines Elterlings einfach, so wichtig sie andererseits sein mochte. Ein Denkling war viel komplizierter, und dieser Gedanke erfüllte Odeen mit düsterer Befriedigung.
Natürlich war Dua das eigentliche Rätsel. Sie unterschied sich so sehr von den anderen Gefühlslingen. Das verwirrte und ärgerte Tritt und verschlug ihm noch mehr die Sprache. Es verwirrte und ärgerte auch Odeen zuweilen, der aber gleichzeitig Duas Fähigkeit erspürte, unendliche Lebensfreude zu verbreiten, und es erschien ihm kaum wahrscheinlich, daß es das eine ohne das andere geben konnte. Der gelegentliche Ärger, den sie heraufbeschwor, war ein geringer Preis für das große Glück.
Und vielleicht gehörte auch Duas seltsame Lebensauffassung irgendwie in das Ganze. Die Hartlinge schienen sich für sie zu interessieren, obwohl sie sich gewöhnlich nur um Denklinge kümmerten. Das erfüllte ihn mit Stolz; um so besser für die Triade, wenn selbst der Gefühlsling der Aufmerksamkeit der Hartlinge würdig war.
Die Dinge liefen also, wie es sich gehörte. Das war eine Tatsache, und er hoffte, daß es bis zum Ende so blieb. Eines Tages würde auch er wissen, daß die Zeit zum Weiterziehen gekommen war, und dann war er sicher auch bereit. Die Hartlinge versicherten ihm das, wie allen anderen Denklingen, doch sie sagten ihm auch, daß es sein eigenes inneres Bewußtsein war, das die Zeit unmißverständlich festlegte, nicht ein Hinweis von außerhalb.
»Wenn du selbst den Augenblick für richtig hältst«, hatte Losten erklärt — in der klaren, vorsichtigen Art, mit der die Hartlinge stets zu den Weichen sprachen, als ob sie bemüht wären, sich verständlich zu machen — »und dir sagst, du kennst den Grund für das Weiterziehen, dann wirst du auch weiterziehen — und deine Triade mit dir.«
Und Odeen hatte erwidert: »Ich könnte nicht sagen, daß ich jetzt weiterziehen wollte, Hart-Herr. Es gibt noch so viel zu lernen.«
»Natürlich, mein lieber Linksling. Du denkst so, weil du noch nicht bereit bist.«
Odeen dachte: Wie kann ich jemals bereit sein, wenn ich nie das Gefühl habe, es gebe nichts mehr zu lernen?
Aber er sprach den Gedanken nicht aus. Er war ganz sicher, daß die Zeit kommen und er die Sache dann begreifen würde.
Er sah an sich herab und hätte fast den unverzeihlichen Fehler begangen, ein Auge herauszuschieben — auch die erwachsensten Denklinge überkam von Zeit zu Zeit ein kindlicher Impuls. Natürlich hatte er das nicht nötig — er konnte alles wahrnehmen und das Auge dabei an Ort und Stelle lassen, und er fand sich befriedigend solide, angenehm fest, weich gerundet und anmutig ausgewölbt.
Sein Körper ließ das seltsam attraktive Leuchten Duas und die beruhigende Klobigkeit Tritts vermissen. Er liebte beide, doch er hätte um nichts auf der Welt mit ihnen getauscht. Weder Körper noch Geist. Natürlich würde er das niemals aussprechen, denn nichts lag ihm ferner, als ihre Gefühle zu verletzen, doch er war immer wieder dankbar, daß er nicht Tritts beschränkte oder — noch schlimmer — Duas abschweifende Auffassungsgabe hatte. Er vermutete, daß es den anderen nichts ausmachte, da sie es gar nicht anders kannten.
Wieder wurde ihm Dua in der Ferne bewußt, und gezielt unterdrückte er das Gefühl. Im Augenblick konnte er gut ohne sie auskommen. Nicht daß sein Verlangen nach ihr nachgelassen hätte, doch er hatte andere Interessen, die ihn immer mehr beanspruchten. Es war eine Folge des Reifeprozesses eines Denklings, daß er immer mehr Befriedigung an der Nutzung eines Geistes fand, der nur für sich geübt werden konnte — und mit den Hartlingen.
Er gewöhnte sich mit der Zeit immer mehr an die Hartlinge, fand immer mehr Brücken zu ihnen. Er hielt das gefühlsmäßig für richtig, denn er war ein Denkling und die Hartlinge in gewisser Weise Super-Denklinge. (Er hatte diesen Gedanken einmal Losten gegenüber geäußert, dem freundlichsten und wie es Odeen scheinen wollte, auch jüngsten Hartling. Losten hatte Belustigung ausgestrahlt, hatte jedoch nichts gesagt. Und das hieß, daß er es auch nicht abgestritten hatte.)
Odeens ganz frühe Erinnerungen waren voller Hartlinge. Sein Elterling konzentrierte sich mehr und mehr auf das letzte Kind den kleinen Gefühlsling. Das war natürlich. Auch Tritt würde das eines Tages tun, wenn das letzte Kind kam, falls überhaupt. (Diese letzte Einschränkung hatte Odeen von Tritt, der Dua damit ständig ermahnte.)
Aber gut. Da sein Elterling so oft beschäftigt gewesen war, hatte Odeen um so früher mit seiner Schulung beginnen können. Er entwuchs seinen Kindereien und hatte bereits viel gelernt, als er Tritt kennenlernte.
Diese Begegnung würde er niemals vergessen. Sie hätte gestern sein können, so frisch war sie ihm noch im Gedächtnis. Er kannte natürlich Elterlinge seiner eigenen Generation; junge Rechtslinge, die vor dem Entstehen der Kinder, die schließlich echte Elterlinge aus ihnen machten, von der künftigen Schwerfälligkeit noch nichts erkennen ließen. Als Kind hatte er mit seinem eigenen Rechts-Bruder gespielt und war sich des intellektuellen Unterschieds zwischen ihnen kaum bewußt (obwohl er rückschauend erkannte, daß die Kluft schon damals vorhanden war).
Er wußte auch vage um die Rolle eines Elterlings in einer Triade. Bereits als Kind hatte er leise Gerüchte über das Verschmelzen gehört.
Als Tritt auftauchte, als Odeen ihn zum erstenmal zu sehen bekam, wurde alles anders. Zum erstenmal in seinem Leben verspürte Odeen eine innere Wärme, zum erstenmal hegte er die Vermutung, daß es da etwas Wünschenswertes gab, das mit Denken überhaupt nichts zu tun hatte. Noch heute erinnerte er sich an die Verlegenheit, die das heraufbeschworen hatte.
Natürlich war Tritt ganz und gar nicht verlegen. Elterlinge waren niemals verlegen, wenn es um die Aktivitäten der Triade ging, und Gefühlslinge waren fast niemals verlegen. Allein die Denklinge hatten dieses Problem.
»Zuviel Nachdenken«, hatte ein Hartling bemerkt, als Odeen ihn darauf ansprach, und das war nicht sehr befriedigend gewesen. Inwiefern konnte Denken jemals »zuviel« sein?
Tritt war natürlich noch jung bei ihrer ersten Begegnung. Er war noch so kindlich, daß er seine Klobigkeit nicht im Griff hatte, und seine Reaktion auf die Begegnung war beschämend klar! Er wurde fast durchsichtig an der Außenseite.
»Ich glaube, ich kenne dich noch nicht, Rechtsling«, sagte Odeen zögernd.
»Ich bin noch nie hiergewesen«, erwiderte Tritt. »Man hat mich hergebracht.«
Beide wußten genau, was da passiert war. Das Zusammentreffen war von jemandem arrangiert worden (von einem Elterling, hatte Odeen damals angenommen, erfuhr jedoch später, daß es ein Hartling gewesen war), der gedacht hatte, sie könnten zueinander passen. Der Gedanke erwies sich als richtig.
Natürlich bestand keinerlei intellektuelle Übereinstimmung zwischen den beiden. Wie hätte das auch möglich sein können, da Odeen mit einer Intensität nach Wissen strebte, die alles andere außer der Existenz der Triade überschattete, während Tritt jede Vorstellung von Lernen überhaupt abging? Was Tritt wissen mußte, wußte er auch ohne Studium.
In seiner Erregung über die Erforschung der Geheimnisse der Erde und ihrer Sonne, der Geschichte und der Vorgänge des Lebens, des ganzen Wieso und Warum des Universums konnte Odeen (in jenen ersten Tagen ihres Zusammenseins) manchmal nicht an sich halten und sprudelte über.
Tritt lauschte ruhig, offensichtlich ohne etwas zu verstehen, doch zufrieden mit seiner Rolle als Zuhörer; während Odeen, ohne Wissen zu vermitteln, mit seiner Rolle als Vortragender gleichermaßen zufrieden war.
Es war schließlich Tritt, der — von seinen besonderen Trieben angeregt — die Initiative ergriff. Odeen plauderte gerade über seine Erkenntnisse bei dem kurzen Mittagsmahl. (Die dickere Substanz von Odeen und Tritt absorbierte die Nahrung so schnell, daß sie ein kurzer Spaziergang in der Sonne schon zufriedenstellte, während sich Gefühlslinge stundenlang aalten und verdünnten, als wollten sie die Mahlzeit absichtlich in die Länge ziehen.)
Odeen, der die Gefühlslinge ignoriert hatte, war mit seiner Rolle als Redner vollauf zufrieden. Tritt, der diese Wesen Tag für Tag wortlos anstarrte, war sichtlich unruhig.
Abrupt näherte er sich Odeen und formte so hastig einen Ausläufer, daß dieser unangenehm gegen den Form-Sinn des anderen stieß. Er legte ihn auf eine Stelle an Odeens oberer Rundung, wo ein leichter Schimmer zum Nachtisch einen willkommenen Zug warmer Luft hereinließ. Tritts Ausläufer verdünnte sich sichtlich angestrengt und sank unter Odeens Haut, ehe dieser, auf das höchste verlegen, zurückwich.
Als Baby hatte Odeen so etwas getan, doch seither nicht mehr. »Laß das, Tritt!« sagte er scharf.
Tritts Ausläufer blieb ausgestreckt hängen und fuchtelte ein wenig in der Luft herum. »Ich will es aber.«
Odeen hielt sich möglichst dicht und versuchte seine Oberfläche so zu verhärten, daß ein Eindringen unmöglich war. »Ich will es nicht.«
»Warum nicht?« fragte Tritt hastig. »Es ist nichts Falsches.«
Odeen sagte, was ihm gerade in den Sinn kam. »Es hat weh getan.« (Das war nicht ganz wahr. Es war kein körperlicher Schmerz gewesen. Aber die Hartlinge gingen einer Berührung mit den Weichwesen stets aus dem Wege. Eine unbeabsichtigte Durchdringung war schmerzhaft für sie, aber sie waren auch anders gebaut als die Weichwesen, völlig anders.)
Tritt ließ sich nicht beirren. In dieser Beziehung konnte sein Instinkt unmöglich fehlgehen. »Es hat nicht weh getan«, bemerkte er.
»Na ja, so ist es jedenfalls nicht gut. Wir brauchen einen Gefühlsling.«
Und Tritt konnte nur beharrlich sagen: »Ich will es jedenfalls.«
Es mußte einfach geschehen; es konnte gar nicht anders kommen, daß Odeen schließlich nachgab. Er tat es immer wieder; das war etwas, das auch dem schüchternsten Denkling passieren mußte. Wie das alte Sprichwort sagte: Man gab es entweder zu oder log.
Tritt konnte nun kein Zusammensein verstreichen lassen, ohne daß es dazu kam; wenn nicht mit einem Ausläufer, dann Oberfläche an Oberfläche. Und schließlich ließ sich Odeen durch das Vergnügen daran verführen und versuchte zu helfen und zu leuchten. Er schaffte das viel besser als Tritt. Der arme Tritt, der so eifrig bemüht war, brachte nur hier und dort einen Anflug von Schimmer zustande, ungleichmäßig und zerfranst.
Odeen jedoch konnte überall durchscheinend werden. Er kämpfte seine Verlegenheit nieder und ließ sich gegen Tritt fließen. Es folgte eine hauttiefe Durchdringung, und Odeen spürte Tritts harte Oberfläche unter der Haut pulsieren. Beide empfanden Vergnügen, vermischt mit einem seltsamen Schuldbewußtsein.
Tritt war hinterher oft müde und irgendwie ärgerlich.
»Also, Tritt«, meinte Odeen, »ich habe dir gesagt, daß wir einen Gefühlsling brauchen, um das wirklich richtig zu machen. Du kannst dich nicht über etwas aufregen, das sich einfach nicht ändern läßt.« Und Tritt erwiderte: »Besorgen wir uns doch einen Gefühlsling.«
Besorgen wir uns einen Gefühlsling! Tritts einfache Triebe führten ihn stets auf gerade Wege. Odeen bezweifelte, daß er dem anderen die Kompliziertheit des Lebens begreiflich machen konnte. »Das ist gar nicht so einfach, Rechtsling«, begann er vorsichtig.
Tritt erwiderte abrupt: »Die Hartlinge machen das. Du stehst gut mit ihnen. Frag sie.«
Odeen war entsetzt. »Ich kann sie unmöglich fragen. Die Zeit«, fuhr er fort und verfiel unwillkürlich in einen dozierenden Tonfall, »ist noch nicht reif — oder ich wüßte das. Bis es soweit ist…«
Tritt hörte ihm nicht zu. »Dann frage ich«, sagte er.
»Nein«, entgegnete Odeen außer sich. »Du hältst dich da heraus. Ich sage dir doch, es ist noch nicht soweit. Ich muß mich um meine Bildung kümmern. Es ist sehr einfach, ein Elterling zu sein und nichts anderes wissen zu müssen, aber…«
Er bereute seine Worte sofort, die ohnehin nicht stimmten. Er wollte es nur auf jeden Fall vermeiden, die Hartlinge zu verärgern und seinen nützlichen Kontakt zu ihnen zu belasten. Tritt jedoch ließ das anscheinend völlig kalt, und Odeen machte sich klar, daß es dem anderen sinnlos erschien, etwas zu lernen, das er nicht bereits wußte, und daß er Odeens Äußerung daher auch nicht als Beleidigung auffaßte.
Das Problem kam jedoch immer wieder auf. Gelegentlich versuchten sie sich an einer Durchdringung. Tatsächlich wurde der Drang mit der Zeit immer stärker. Es war niemals wirklich befriedigend, obwohl sie ihren Spaß daran hatten, und jedesmal verlangte Tritt einen Gefühlsling. Jedesmal stürzte sich Odeen hinterher noch mehr auf seine Studien, fast als wollte er sich des Problems erwehren.
Dennoch war er manchmal versucht, mit Losten darüber zu sprechen.
Losten war der Hartling, den er am besten kannte, der das größte persönliche Interesse an ihm nahm. Die Hartlinge hatten eine unangenehme Gleichheit an sich, denn sie veränderten sich nicht, sie veränderten sich überhaupt nie; ihre Form stand fest. Ihre Augen rückten nicht von der Stelle, und sie waren bei allen Hartlingen am gleichen Platz. Ihre Haut war nicht eben hart, aber sie war stets undurchdringlich, schimmerte niemals, wurde nicht durchdringbar für Haut der gleichen Art.
Sie waren auch nicht viel größer als die Weichwesen, doch schwerer. Ihre Substanz hatte eine größere Dichte, und sie mußten sich vor den nachgiebigen Geweben der Weichwesen in acht nehmen.
Vor sehr langer Zeit, als Odeen noch ganz klein war und zerfließen konnte wie seine Schwester, hatte sich einmal ein Hartling für ihn interessiert. Den Namen hatte er nie erfahren, doch lernte er später, daß sich die Hartlinge grundsätzlich für BabyDenklinge interessierten. Aus reiner Neugier hatte Odeen nach dem Hartling gegriffen, der jedoch zurückgesprungen war. Später hatte Odeens Elterling ihn gescholten.
Diese Abreibung hatte Odeen nie vergessen. Als er älter war, lernte er, daß die dichtgepackten Atome in den Geweben der Hartlinge bei der erzwungenen Durchdringung mit anderen Wesen Schmerzen hervorriefen. Odeen fragte sich, ob das Weichwesen dabei ebenfalls Schmerz empfand. Ein anderer junger Denkling sagte ihm einmal, er wäre gegen einen Hartling gefallen, der sich sofort zusammengekrümmt hätte, während er selbst überhaupt nichts spürte — doch Odeen war sich nicht sicher, daß das nicht nur melodramatische Prahlerei war.
Es gab noch andere Dinge, die man einfach nicht tat. Zum Beispiel rieb er sich gern an den Wänden der Höhle. Wenn er in Fels eindrang, verspürte er ein angenehm warmes Gefühl. Babies machten das immer wieder, doch mit zunehmendem Alter wurde es schwerer. Er konnte noch immer hauttief in den Fels tauchen, und es gefiel ihm, doch sein Elterling ertappte ihn und schalt ihn aus. Er wandte ein, seine Schwester täte das die ganze Zeit; er hätte sie gesehen.
»Das ist etwas anderes«, entgegnete der Elterling. »Sie ist ein Gefühlsling.«
Ein andermal, als Odeen gerade eine Aufzeichnung absorbierte — er war damals schon älter, hatte er gedankenverloren ein paar Ausläufer entstehen lassen und die Spitzen so ausgedünnt, daß er sie ineinander verschieben konnte. Das wurde schnell zur Angewohnheit während des Zuhörens. Er hatte dabei ein angenehm kitzelndes Empfinden, das ihm das Zuhören erleichterte und ihn hinterher schön schläfrig machte.
Doch auch dabei wurde er erwischt, und wenn er daran dachte, was ihm sein Elterling gesagt hatte, war ihm noch heute mulmig zumute.
Damals verriet ihm niemand etwas über das Verschmelzen. Er bekam Bildung aller Art eingetrichtert — nur über die Triade lernte er nichts. Auch Tritt hatte keine Unterweisung erhalten, aber da er ein Elterling war, wußte er auch so Bescheid. Als Dua endlich kam, war natürlich alles klar, obwohl sie anscheinend sogar weniger wußte als Odeen.
Aber sie kam nicht auf Odeens Betreiben. Es war Tritt, der die Angelegenheit ins Rollen brachte, Tritt, der die Hartlinge gewöhnlich fürchtete und ihnen stumm aus dem Weg ging, Tritt, dem Odeens Selbstsicherheit fehlte bis auf eine Beziehung, Tritt, der in dieser Beziehung geradezu besessen war, Tritt — Tritt — Tritt Odeen seufzte. Tritt drang in seine Gedanken ein. Tritt kam. Er konnte ihn fühlen, streng, verlangend, stets verlangend. Odeen hatte neuerdings so wenig Zeit für sich allem, obwohl er mehr denn je das Gefühl hatte, nachdenken zu müssen, all die Gedanken ordnen zu müssen.
»Ja, Tritt«, sagte er.
Tritt war sich seiner Klobigkeit durchaus bewußt und hielt sie nicht für häßlich. Er verschwendete überhaupt keinen Gedanken daran. Wenn er es doch einmal getan hätte, wäre er sich schön vorgekommen. Sein Körper war für einen bestimmten Zweck geschaffen, und die Schöpfung war gelungen.
»Odeen, wo ist Dua?« fragte er.
»Irgendwo draußen«, murmelte Odeen, fast als wäre es ihm egal. Es ärgerte Tritt, daß die Triade so wenig zusammenhielt. Dua war so schwierig und Odeen so gleichgültig.
»Warum hast du sie gehen lassen?«
»Wie kann ich sie aufhalten, Tritt? Und was schadet es denn?«
»Du weißt schon. Wir haben zwei Babies. Wir brauchen ein drittes. Es ist heutzutage so schwer, einen Klein-Mitt zu machen. Dua muß gut genährt sein, wenn es klappen soll. Und schon treibt sie sich wieder bei Sonnenuntergang herum. Wie kann sie bei Sonnenuntergang vernünftig essen?«
»Sie ist eben keine große Esserin.«
»Und wir haben noch keinen Klein-Mitt, Odeen.« Tritts Stimme war einschmeichelnd. »Wie kann ich dich richtig lieben ohne Dua?«
»Na na«, murmelte Odeen, und wieder einmal verwunderte sich Tritt über die offensichtliche Verlegenheit des anderen. Er hatte doch nur eine ganz einfache Tatsache ausgesprochen.
»Denk daran, ich war derjenige, der Dua geholt hat«, sagte Tritt. Erinnerte sich Odeen daran? Dachte Odeen überhaupt jemals an die Triade und an die Bedeutung dieser Gemeinschaft? Manchmal war Tritt so aufgebracht, daß er die ganze Sache am liebsten… am liebsten… In Wirklichkeit wußte er nicht, was er hätte tun wollen, doch er wußte, daß er frustriert war. Wie in jenen Tagen, da er einen Gefühlsling wollte und Odeen einfach nichts unternahm.
Tritt wußte, daß er es nicht verstand, in langen, komplizierten Sätzen zu sprechen. Aber wenn Elterlinge schon nicht viel redeten, so dachten sie wenigstens. Sie dachten an wichtige Dinge. Odeen redete immer von Atomen und Energie. Wer scherte sich schon um Atome und Energie? Tritt dachte an die Triade und die Babies.
Odeen hatte ihm einmal gesagt, die Anzahl der Weichwesen würde langsam geringer. Machte es ihm etwas aus? Machte es den Hartlingen etwas aus? Machte sich überhaupt jemand etwas daraus außer den Elterlingen?
Nur zwei Lebensformen gab es auf der Welt, die Weichwesen und die Hartlinge. Und die Nahrung, die auf sie herableuchtete. Odeen hatte ihm einmal gesagt, daß sich die Sonne abkühlte. Es gab weniger Nahrung, sagte er, dementsprechend gab es auch weniger Leute. Tritt glaubte das nicht. Die Sonne fühlte sich nicht kühler an als in seiner Kindheit. Es lag nur daran, daß sich die Leute nicht mehr um die Triaden kümmerten. Zu viele geistesabwesende Denklinge; zu viele dumme, leichtsinnige Gefühlslinge.
Den Weichwesen war es auferlegt, sich auf die wichtigen Dinge des Lebens zu konzentrieren. Tritt befolgte diese Regel. Er sorgte dafür, daß die Triade in Gang blieb. Das Baby-Links kam, dann das Baby-Rechts. Sie wuchsen heran und blühten auf. Nun brauchten sie noch ein Baby-Mitt. Dieses Kind war am schwierigsten in Gang zu bringen, und ohne Baby-Mitt konnte es keine neue Triade geben.
Wieso war Dua so seltsam? Schon immer war sie schwierig gewesen, doch jetzt wurde es immer schlimmer.
Tritt verspürte eine seltsame Wut auf Odeen. Odeen benutzte immer so schwierige Worte. Und Dua hörte ihm zu. Odeen redete endlos mit Dua, bis sie ihm fast wie zwei Denklinge vorkamen. Das war nicht gut für die Triade.
Odeen müßte es eigentlich besser wissen.
Immer mußte sich Tritt um alles kümmern. Immer mußte Tritt alles Erforderliche selbst tun. Odeen war der Freund der Hartlinge, und doch sagte er nichts. Sie brauchten einen Gefühlsling, und doch wollte sich Odeen nicht dazu äußern. Odeen unterhielt sich mit ihnen über Energie und nicht über die Bedürfnisse der Triade.
Schließlich war es Tritt gewesen, der die Wende herbeiführte. Mit Stolz erinnerte er sich daran. Er hatte Odeen mit einem Hartling sprechen sehen und hatte sich genähert. Mit fester Stimme hatte er sich eingemischt und gesagt: »Wir brauchen einen Gefühlsling.«
Der Hartling wandte sich um und schaute ihn an. Noch nie war Tritt einem Hartling so nahe gewesen. Er bestand von oben bis unten aus einem einzigen Stück. Wenn sich ein Teil herumdrehte, mußten alle anderen Körperteile dieser Bewegung folgen. Er hatte einige Ausläufer, die sich eigenständig bewegen konnten, doch auch sie veränderten ihre Form nicht. Die Hartlinge zerflossen nicht und waren niemals uneben und unschön. Sie ließen sich nur ungern berühren.
Der Hartling fragte: »Stimmt das, Odeen?« Zu Tritt sagte er nichts.
Odeen verflachte sich. Er schwebte dicht am Boden; er war flacher, als Tritt ihn jemals gesehen hatte. »Mein Rechtsling ist übereifrig«, erwiderte Odeen. »Mein Rechtsling ist… ist…« Er stotterte und prustete und konnte nicht weiterreden.
Tritt konnte reden. »Ohne Mittling können wir nicht verschmelzen«, sagte er.
Tritt wußte, daß Odeen vor Verlegenheit sprachlos war, doch es war ihm egal. Es war Zeit.
»Nun, mein Linksling«, wandte sich der Hartling an Odeen, »bist du der gleichen Meinung?« Die Hartlinge sprachen wie die Weichen, doch irgendwie strenger und mit weniger Obertönen. Es machte Mühe, ihnen zuzuhören. Tritt fand sie überhaupt anstrengend, wenn auch Odeen daran gewöhnt schien. »Ja«, antwortete Odeen schließlich.
Der Hartling wandte sich endlich an Tritt. »Sag mir, junger Rechtsling, wie lange bist du jetzt schon mit Odeen zusammen?«
»Lange genug«, erwiderte Tritt, »daß wir einen Gefühlsling verdient haben.« Er wahrte entschlossen seine Form und sperrte sich gegen die Angst. Es war einfach zu wichtig. Er fügte hinzu: »Und ich heiße Tritt.«
Der Hartling schien amüsiert. »Ja, die Wahl war gut. Du und Odeen, ihr paßt gut zusammen, aber das erschwert die Wahl eines Gefühlslings. Wir haben uns fast schon entschlossen. Oder zumindest ich habe mich schon längst entschlossen, doch ich muß die anderen erst überzeugen. Hab Geduld, Tritt.«
»Ich bin des Wartens müde.«
»Ich weiß, aber sei trotzdem geduldig.« Wieder war er belustigt.
Als er gegangen war, stieg Odeen wieder auf und verdünnte sich ärgerlich. »Wie konntest du das nur tun, Tritt? Weißt du denn nicht, wer das war?« fragte er.
»Ein Hartling.«
»Das war Losten. Er ist mein besonderer Lehrer. Ich will nicht, daß er auf mich böse ist.«
»Warum sollte er böse sein? Ich war doch höflich.«
»Na ja, egal.« Odeen fand schließlich zu seiner normalen Form zurück. Das bedeutete, daß er nicht mehr ärgerlich war. (Tritt war darüber erleichtert, obwohl er es sich nicht anmerken ließ.) »Es ist sehr unangenehm, wenn mein dummer Rechtsling einfach in ein Gespräch platzt und sich mit einem Hartling unterhält.«
»Warum hast du es dann nicht getan?«
»Man muß immerhin die rechte Zeit abpassen.«
»Aber für dich ist niemals die rechte Zeit.«
Doch dann rieben sie ihre Oberflächen aneinander und gaben die Diskussion auf, und schließlich dauerte es auch nicht mehr lange, bis Dua auftauchte.
Losten brachte sie. Tritt wußte das nicht; er hatte keinen Blick für den Hartling. Nur für Dua. Odeen erzählte ihm hinterher, daß Losten sie gebracht hatte.
»Siehst du?« sagte Tritt. »Ich habe mit ihm gesprochen. Deshalb hat er sie gebracht.«
»Nein«, entgegnete Odeen, »die Zeit war reif. Er hätte sie auch gebracht, wenn keiner von uns mit ihm gesprochen hätte.«
Tritt glaubte ihm nicht. Er war ganz sicher, daß die Triade Duas Kommen nur ihm zu verdanken hatte.
Kein Zweifel, einen Gefühlsling wie Dua gab es nicht noch einmal auf der Welt. Tritt hatte schon Gefühlslinge gesehen. Sie alle waren attraktiv. Für ein vernünftiges Verschmelzen hätte er jeden von ihnen akzeptiert. Doch als er Dua erblickte, wußte er sofort, daß keine andere so zu ihnen gepaßt hätte. Nur Dua. Nur Dua.
Und Dua wußte genau, was zu tun war. Genau! Niemand hatte es ihr gezeigt, erzählte sie hinterher. Niemand hatte in irgendeiner Weise mit ihr darüber gesprochen. Auch die anderen Gefühlslinge nicht, denen sie aus dem Wege ging.
Und doch — als sie alle drei zusammen waren, wußte jeder, was zu tun war.
Dua verdünnte sich. Sie verdünnte sich mehr, als es Tritt jemals bei einer Person gesehen hatte. Sie verdünnte sich mehr, als es Tritt überhaupt für möglich gehalten hätte. Sie wurde zu einer Art farbigem Hauch, der den Raum erfüllte und die Sinne betäubte. Tritt bewegte sich, ohne es zu wissen. Er gab sich der Luft hin, die Dua war.
Es gab überhaupt kein Gefühl der Durchdringung, überhaupt nichts. Tritt verspürte keinen Widerstand, keine Reibung. Da war nur das Einwärtsschweben und ein schnelles Zittern. Er spürte, wie er sich aus Zuneigung ebenfalls verdünnte, ohne die gewaltige Anstrengung, die sonst immer damit verbunden war. Wenn Dua ihn so erfüllte, konnte er sich mühelos zu schwerem Rauch verdünnen. Das Verdünnen wurde zu einem Schweben, zu einem gewaltigen sanften Dahinströmen.
Vage sah er Odeen von der anderen Seite herankommen, von Duas linker Seite.
Und Odeen verdünnte sich ebenfalls.
Dann ein Schock, ein ungeahnt heißer Schock der Berührung — und er war zu Odeen durchgedrungen. In Wirklichkeit war es gar kein Schock. Tritt fühlte, ohne zu fühlen, wußte, ohne zu wissen. Er glitt in Odeen hinein und Odeen in ihn. Er wußte nicht zu sagen, ob er Odeen umhüllte oder Odeen ihn, oder ob beide einander umhüllten oder vielleicht nicht.
Es war Lust.
Die Sinne wurden betäubt von dieser Lust, und als er es nicht mehr auszuhalten glaubte, versagten die Sinne ganz.
Schließlich trennten sie sich und starrten sich an. Mehrere Tage lang waren sie in der Verschmelzung gewesen. Natürlich kostete das Verschmelzen immer Zeit. Je besser es wurde, desto länger dauerte es, obwohl ihnen diese Zeit im Rückblick nur wie ein Augenblick vorkam und sie sich nicht daran erinnerten. Auch später dauerte es selten länger als jenes erstemal.
Odeen sagte: »Das war wundervoll.«
Tritt starrte nur auf Dua, die das ermöglicht hatte.
Sie leuchtete durchscheinend, wirbelte herum, bewegte sich zitternd. Von den dreien schien sie am meisten angetan. »Wir machen es wieder«, sagte sie eilig, »aber später, später. Laßt mich jetzt gehen.«
Und schon war sie auf und davon. Sie hatten sie nicht aufgehalten. Sie waren einfach zu überwältigt. Doch so war es von nun an immer hinterher. Nach einem Verschmelzen zog sie sich zurück. Wie schön es auch gewesen war, sie verschwand. Irgend etwas in ihr schien sie in die Abgeschiedenheit zu treiben.
Tritt sorgte sich darum. In fast jeder Hinsicht unterschied sie sich von anderen Gefühlslingen. Das durfte eigentlich nicht sein.
Odeen dachte nicht so. »Warum läßt du sie nicht in Ruhe, Tritt?« sagte er immer wieder. »Sie ist eben anders als normale Gefühlslinge, und das bedeutet, daß sie auch besser ist. Unser Verschmelzen wäre nicht so schön, wenn sie ganz durchschnittlich wäre. Möchtest du die Vorteile, ohne den Preis dafür zu bezahlen?«
Tritt verstand diese Frage nicht ganz. Er wußte nur, daß Dua eigentlich tun müßte, was sich gehörte. »Ich möchte nur, daß sie das Rechte tut«, sagte er.
»Ich weiß, Tritt, ich weiß. Trotzdem solltest du sie in Ruhe lassen.«
Auch Odeen schalt Dua oft wegen ihrer Absonderlichkeiten, doch wollte er das Tritt nicht sehen lassen. »Dir fehlt der nötige Takt, Tritt«, sagte er dann immer. Tritt wußte nicht genau, was Takt war.
Und jetzt…das erste Verschmelzen lag so lange zurück, und noch immer war der Baby-Gefühlsling nicht geboren. Wie lange sollten sie noch darauf warten? Es dauerte schon viel zu lange. Und außerdem hielt sich Dua mit der Zeit immer öfter von den anderen fern.
»Sie ißt nicht genug«, sagte Tritt.
»Wenn die Zeit gekommen ist…«, begann Odeen.
»Du redest immer davon, daß die Zeit reif ist oder noch nicht reif ist. Du hast sie auch nicht für reif gehalten, als Dua kam. Jetzt hältst du die Zeit für ungünstig, einen Baby-Gefühlsling zu haben. Dua sollte…«
Aber Odeen wandte sich ab. »Sie ist da draußen, Tritt«, sagte er.
»Wenn du dort hinausgehen und sie holen willst, als wärest du ihr Elterling und nicht ihr Rechtsling — bitte sehr. Ich meine jedenfalls, du solltest sie in Ruhe lassen.«
Tritt gab nach. Er hatte noch so viel zu sagen, aber er wußte nicht, wie er es ausdrücken sollte.
Dua war sich der Erregung zwischen Links und Rechts schwach bewußt, und ihre innere Auflehnung wurde dadurch nur noch mehr angestachelt.
Wenn jetzt der eine oder andere — oder etwa beide — heraufkam, um sie zu holen, endete das unweigerlich mit einem Verschmelzen, und sie wehrte sich gegen diesen Gedanken. Tritt kannte nichts anderes außer den Kindern; Tritt wollte nur eins — das dritte und letzte Kind; seine ganzen Gedanken kreisten um die Kinder und das noch fehlende Kind. War Tritt auf ein Verschmelzen aus, bekam er es auch.
Wenn er sich stur stellte, dominierte Tritt über die Triade. Er klammerte sich an irgendeinen einfachen Gedanken und ließ nicht locker, und zum Schluß mußten Odeen und Dua doch immer nachgeben. Aber jetzt wollte sie nicht nachgeben, sie wollte es nicht…
Das hatte nichts mit Untreue zu tun. Ohnehin konnte sie nicht damit rechnen, für Odeen oder Tritt jemals das zu empfinden, was die beiden verband. Sie konnte allein zerschmelzen, während Tritt und Odeen dazu auf ihre Hilfe angewiesen waren. (Warum gab ihr das kein größeres Gewicht in der Triade?) Das Dreier-Verschmelzen gab ihr intensive Lust, gewiß, und es wäre dumm gewesen, das zu leugnen; doch diese Lust ähnelte der Empfindung, die sie hatte, wenn sie — was sie manchmal heimlich tat — durch eine Felswand schwebte. Für Tritt und Odeen war diese Lust etwas völlig Neues, etwas, das sie noch nie zuvor empfunden hatten und anders nicht empfinden konnten. Nein, Moment — Odeen kannte die Lust des Lernens, jenes Prozesses, den er die intellektuelle Entwicklung nannte. Auch Dua verspürte zeitweilig etwas von diesem Anreiz, jedenfalls so weit, daß sie ihn in etwa ermessen konnte, und obwohl das mit dem Verschmelzen wenig gemein hatte, bot es ihm vielleicht einen Ersatz, so daß Odeen manchmal ohne Verschmelzen auskommen mochte.
Doch nicht so Tritt. Für ihn gab es nur das Verschmelzen und die Kinder. Ausschließlich das. Und wenn sich sein kleiner Geist darauf versteifte, gab Odeen bald nach, und dann konnte Dua auch nichts mehr machen.
Einmal hatte sie sich aufgelehnt: »Aber was passiert, wenn wir verschmelzen? Es dauert Stunden, manchmal Tage, ehe wir wieder wir selbst sind. Was geschieht unterdessen?«
Tritt hatte sie aufgebracht angesehen. »So ist es immer. So muß es sein.«
»Was sein muß, gefällt mir nicht. Ich will wissen, warum!«
Odeen hatte sie verlegen angeschaut. Er verbrachte sein halbes Leben damit, verlegen zu sein. »Also, Dua, es muß so sein. Wegen der… Kinder.« Bei diesem Wort schien er zu pulsieren.
»Nun laß das Pulsieren«, erwiderte Dua scharf. »Wir sind erwachsene Leute und haben uns schon wer weiß wie oft verschmolzen und wissen alle, daß das geschieht, damit wir Kinder haben. Du kannst es also offen aussprechen. Warum dauert es nur so lange?«
»Weil es ein komplizierter Vorgang ist«, antwortete Odeen, noch immer pulsierend. »Weil er Energie kostet. Dua, es dauert lange Zeit, bis ein Kind in Gang gebracht ist, und selbst wenn wir uns diese Zeit lassen, kommt es nicht immer dazu. Und es wird immer schwieriger… Nicht nur bei uns«, fügte er hastig hinzu.
»Schwieriger?« fragte Tritt aufgeregt, doch Odeen wollte sich nicht weiter äußern.
Sie bekamen schließlich ein Kind, einen Baby-Denkling, einen kleinen Linksling, der wild herumflitzte und sich verdünnte und die drei in höchstes Entzücken versetzte. Sogar Odeen wollte ihn halten und zusehen, wie er in seinen Händen die Form veränderte, bis Tritt dem Treiben Einhalt gebot. Denn es war natürlich Tritt, der das Kind durch die lange Vorformzeit hindurch bebrütet hatte, es war Tritt, der es abgetrennt hatte, als es seine unabhängige Existenz gewann, und schließlich auch Tritt, der sich ständig darum kümmerte.
Nun war Tritt also oft beschäftigt, und Dua war davon seltsam angenehm berührt. Tritts Besessenheit störte sie, während ihr Odeens Spleen — seltsamerweise — Spaß machte. Sie wurde sich zunehmend seiner — Bedeutung bewußt. Das Dasein als Denkling brachte es mit sich, daß man Fragen beantworten konnte, und irgendwie hatte Dua ständig Fragen auf Lager. Und Odeen rückte bereitwilliger mit seinen Antworten heraus, wenn Tritt nicht dabei war.
»Warum dauert es so lange, Odeen? Ich möchte mich nicht verschmelzen und dann nicht wissen, was in der langen Zeit vorgeht.«
»Uns kann absolut nichts geschehen, Dua«, antwortete Odeen betont. »Oder ist schon mal etwas passiert? Du hast bestimmt auch nie gehört, daß eine andere Triade Schaden genommen hätte, oder? Außerdem dürftest du gar keine Fragen stellen.«
»Weil ich ein Gefühlsling bin? Weil andere Gefühlslinge keine Fragen stellen? Ich kann die anderen Gefühlslinge nicht ausstehen, wenn du es genau wissen willst, und ich möchte so gern fragen.«
Ihr entging nicht, daß Odeen sie bei diesen Worten anschaute, als hätte er in seinem Leben noch keine so attraktive Person gesehen, und wäre Tritt jetzt hier gewesen, hätte es sofort ein Verschmelzen gegeben. Sie verdünnte sich sogar, sichtlich kokett, doch nur ein wenig.
»Aber du verstehst die Folgerungen vielleicht nicht, Dua«, sagte Odeen. »Es ist eine große Menge Energie erforderlich, um einen neuen Lebensfunken zu zünden.«
»Du hast schon oft von der Energie gesprochen. Was ist das? Genau?«
»Nun, was wir essen.«
»Warum nennst du’s dann nicht Nahrung?«
»Weil Nahrung und Energie nicht ganz dasselbe sind. Unsere Nahrung kommt von der Sonne, und das ist eine Art Energie. Aber es gibt auch andere Arten Energie, die keine Nahrung sind. Wenn wir essen, müssen wir uns ausdehnen und das Licht absorbieren. Den Gefühlslingen fällt das am schwersten, weil sie viel durchlässiger sind; das heißt, das Licht dringt eher durch sie hindurch und wird nicht absorbiert…«
Es war wundervoll, das alles erklärt zu bekommen, dachte Dua. Was sie da erfuhr, wußte sie natürlich schon, ohne die Worte dazu zu kennen, die langen Wissenschaftsworte, die Odeen immer benutzte. Was ringsum geschah, wurde plötzlich viel klarer und bedeutsamer.
Da sie den kindischen Spott nicht mehr fürchtete, nachdem sie nun das Prestige der Odeen-Triade teilte, versuchte sie von Zeit zu Zeit mit den anderen Gefühlslingen auszukommen und das Zwitschern und das Gedränge über sich ergehen zu lassen. Immerhin lag ihr gelegentlich doch an einer handfesteren Mahlzeit — eine Mahlzeit, die zudem noch das Verschmelzen besser machte. Es bereitete eine gewisse Freude — manchmal verstand sie fast den Spaß, den die anderen daran hatten, in den Sonnenstrahlen herumzugleiten, damit sie möglichst günstig bestrahlt wurde; es machte Spaß, sich gemütlich zusammenzuziehen und zu verdichten, um mit größerer Dichte die Wärme besser aufnehmen zu können.
Doch war Dua immer schnell gesättigt, und ihr Energievorrat reichte sehr lange, während die anderen nie genug zu bekommen schienen. Sie hatten eine Art gefräßiges Schlenkern an sich, das Dua nicht nachmachen konnte und das ihr langsam unerträglich wurde.
Aus diesem Grunde ließen sich Denklinge und Elterlinge auch so selten an der Oberfläche sehen. Ihre Dichte ermöglichte es ihnen, eine Mahlzeit schnell aufzunehmen und sofort wieder zu verschwinden. Gefühlslinge räkelten sich stundenlang in der Sonne, denn obwohl sie langsamer aßen, brauchten sie tatsächlich mehr Energie als die anderen — zumindest beim Verschmelzen.
Der Gefühlsling lieferte die Energie, hatte ihr Odeen einmal erklärt (und dabei so sehr pulsiert, daß seine Signale kaum verständlich waren), der Denkling den Samen und der Elterling die Brutstätte.
Nachdem Dua das verstanden hatte, mischte sich eine gewisse Belustigung in ihre Mißbilligung, wenn sie die anderen Gefühlslinge die Mittagssonne förmlich aufschlürfen sah. Da diese Wesen niemals Fragen stellten, wußten sie bestimmt nicht, warum sie das taten, und begriffen daher auch nicht, daß ihre zitternden Verdichtungen etwas Obszönes hatten; ebenso die Art und Weise, wie sie zum Schluß zwitschernd nach unten entschwanden — natürlich zu einem guten Verschmelzen, für das sie nun viel Energie parat hatten.
Sie wußte nun auch mit Tritts Ärger fertig zu werden, wenn sie ohne die flirrende Trübung hinunterkam, die eine gute Mahlzeit anzeigte. Doch die beiden konnten sich kaum beklagen. Die dünne Gestalt, die sie sich bewahrte, hatte ein nachhaltiges Verschmelzen zur Folge. Jedenfalls war die Vereinigung nicht so überladen wie möglicherweise bei den anderen Triaden, doch überhaupt — da war sie sicher — kam es ja einzig und allein auf die ätherischen Eigenschaften an. Und KleinLinks und Klein-Rechts waren ja auch gekommen, oder?
Natürlich hing es nun vom Baby-Gefühlsling, vom KleinMitt ab. Der erforderte mehr Energie als die beiden anderen, und Dua hatte einfach nie genug.
Auch Odeen begann schon davon zu sprechen. »Du bekommst nicht genügend Sonnenlicht, Dua.«
»Doch«, erwiderte Dua hastig.
»Genias Triade«, sagte Odeen, »hat gerade einen Gefühlsling gezündet.«
Dua mochte Genia nicht, schon seit jeher. Sie war sogar für einen Gefühlsling ziemlich hohlköpfig und hatte wenig zu bieten. Dua sagte hochmütig: »Damit brüstet sie sich wohl. Sie hat keinen Takt. Vermutlich sagt sie: »Ich sollte wohl nicht davon sprechen, meine Liebe, aber du errätst nie, was mein Linksling und mein Rechtsling getan haben…«
»Sie ahmte Genias tremolierendes Gehabe treffsicher nach, und Odeen war belustigt. Doch dann sagte er: »Genia ist vielleicht ein Dummkopf, doch sie hat einen Gefühlsling fertiggebracht, und Tritt regt sich sehr darüber auf. Wir haben uns schon viel länger…«
Dua wandte sich ab. »Ich kann einfach nicht mehr Sonne vertragen. Ich tu’s ja schon, bis ich mich kaum noch bewegen kann. Ich weiß nicht, was du eigentlich von mir willst.«
»Sei nicht böse«, meinte Odeen. »Ich habe Tritt versprochen, ich würde mit dir reden. Er meint, du würdest auf mich hören…«
»Oh, Tritt hält es nur für komisch, daß du mir die Wissenschaft erklärst. Er begreift das alles nicht… Willst du denn einen Mittling wie die anderen?«
»Nein«, antwortete Odeen ernst. »Du bist anders als die übrigen, und das freut mich. Und wenn dich das Gerede eines Denklings nicht weiter stört, möchte ich dir etwas erklären. Die Sonne erbringt heute längst nicht mehr die Nahrungsmenge wie in der alten Zeit. Die Lichtenergie hat nachgelassen, und man muß länger in der Sonne liegen. Die Geburtsrate fällt seit Urzeiten, und die Weltbevölkerung beträgt heute nur noch einen Bruchteil der früheren.«
»Ich kann’s doch nicht ändern«, sagte Dua heftig.
»Die Hartlinge können vielleicht etwas tun. Auch ihre Zahl hat sich verringert…«
»Ziehen sie weiter?« Dua war plötzlich interessiert. Sie hatte die anderen Wesen immer irgendwie für unsterblich gehalten, hatte geglaubt, daß sie gar nicht geboren wären und daher nicht starben. Wer hatte denn schon einmal einen Baby-Hartling zu Gesicht bekommen? Sie hatten keine Babies. Sie verschmolzen nicht miteinander. Sie aßen nicht.
»Ich könnte mir denken, daß sie weiterziehen«, antwortete Odeen nachdenklich. »Sie erzählen mir nie von sich. Ich bin nicht mal sicher, wie sie essen, aber sie tun das natürlich. Und sie werden geboren. Da gibt es zum Beispiel einen neuen… Ich habe ihn noch nicht gesehen… Aber egal, es geht darum, daß sie eine künstliche Nahrung entwickelt haben…«
»Ich weiß«, sagte Dua. »Ich habe davon gekostet.«
»O wirklich? Das wußte ich nicht.«
»Ein paar Gefühlslinge haben davon erzählt. Sie sagten, ein Hartling habe Freiwillige gesucht, die davon kosten sollten, aber die Dummköpfe fürchteten sich. Sie sagten, das Zeug würde sie nachhaltig hart machen, so daß sie niemals wieder verschmelzen könnten.«
»Das ist doch Unsinn«, sagte Odeen heftig.
»Ich weiß. Also meldete ich mich. Das brachte sie zum Schweigen. Sie sind einfach unerträglich, Odeen.«
»Wie war es denn?«
»Schrecklich«, erwiderte Dua. »Herb, bitter. Natürlich habe ich das den anderen Gefühlslingen nicht gesagt.«
»Ich habe auch davon gekostet. So schlimm war es nun wieder nicht.«
»Denklinge und Elterlinge haben sowieso keinen Geschmack.«
»Es steckt noch im Experimentierstadium«, sagte Odeen. »Sie bemühen sich sehr, es zu verbessern, die Hartlinge. Besonders Estwald — das ist der Hartling, den ich schon erwähnte, der Neue, den ich noch nicht gesehen habe. Er arbeitet daran. Losten spricht ab und zu von ihm, als ob er etwas Besonderes wäre, ein ganz bedeutender Wissenschaftler.«
»Wie kommt es, daß du ihn noch nicht gesehen hast?«
»Ich bin nur ein Weichwesen. Du wirst doch wohl kaum annehmen, daß man mir alles zeigt und erklärt, wie? Ich bekomme ihn schon eines Tages zu Gesicht. Er hat eine neue Energiequelle entwickelt, die uns vielleicht noch alle rettet…«
»Ich will keine künstliche Nahrung«, sagte Dua und hatte Odeen abrupt allein gelassen.
Das war vor gar nicht so langer Zeit gewesen. Odeen hatte noch nicht wieder von diesem Estwald gesprochen, doch sie wußte, daß er die Sprache eines Tages wieder darauf bringen würde, und sie dachte jetzt bei Sonnenuntergang darüber nach.
Nur jenes eine mal hatte sie die künstliche Nahrung gesehen; eine schimmernde Lichtkugel, wie eine winzige Sonne, in einer von den Hartlingen ausgesuchten Höhle. Und sie verspürte noch immer einen bitteren Nachgeschmack.
Wollte man die Speise verbessern? Wollte man ihr einen besseren Geschmack geben, so daß sie womöglich eine Köstlichkeit war? Und würde sie sich dann damit vollschlagen müssen, bis das Völlegefühl ein fast unkontrollierbares Verlangen nach dem Verschmelzen auslöste?
Sie fürchtete diesen Fortpflanzungstrieb. Anders war es, wenn das Verlangen aus der hektischen Stimulierung durch Linksling und Rechtsling erwuchs. Nur der Fortpflanzungstrieb bedeutete, daß sie reif war, einen Baby-Mittling in Gang zu bringen. Und — und das wollte sie nicht!
Es dauerte lange, bis sie sich diese Tatsache eingestand. Sie wollte keinen Gefühlsling hervorbringen. Denn nach der Geburt der drei Kinder rückte unweigerlich die Zeit des Weiterziehens heran, und das wollte sie nicht. Sie erinnerte sich an den Tag, da ihr Elterling sie für immer verlassen hatte, und so sollte es auf keinen Fall für sie werden. In diesem Punkt erfüllte sie wilde Entschlossenheit.
Den anderen Gefühlslingen war es egal, weil sie zu unausgefüllt waren, um darüber nachzudenken, doch sie war anders. Sie war die komische Dua, der LinksG, wie die anderen sie gerufen hatten, und sie wollte nun auch anders sein. Solange sie das dritte Kind nicht hatte, zog sie nicht weiter; ihr Leben nahm seinen Fortgang.
Sie wollte also dieses dritte Kind niemals haben. Niemals. Niemals!
Aber wie sollte sie es abwehren? Und wie konnte sie das vor Odeen geheimhalten? Wenn Odeen nun etwas merkte…?
Odeen wartete darauf, daß Tritt etwas unternahm. Er war ziemlich sicher, daß Tritt nicht zu Dua an die Oberfläche steigen würde. Das hätte bedeutet, daß er die Kinder allein lassen mußte, und so etwas fiel Tritt immer sehr schwer. Tritt wartete eine Weile ganz ruhig, und als er dann ging, wandte er sich zur Kinderhöhle.
Odeen war fast froh, als Tritt endlich verschwand. Natürlich nicht aus ganzem Herzen, denn Tritt war wütend und schweigsam gewesen, so daß der direkte Kontakt geschwächt war und sich eine Mauer des Mißvergnügens zwischen ihnen aufgerichtet hatte, was Odeen doch traurig stimmte. Es war, als verlangsamte sich das Leben.
Manchmal fragte er sich, ob Tritt das gleiche fühlte… Nein, das war unfair. Tritt hatte seine besondere Beziehung zu den Kindern.
Und was Dua anging — wer wußte schon zu sagen, was Dua fühlte? Wer wußte das überhaupt bei den Gefühlslingen zu sagen? Sie waren so andersartig, daß durch sie Links und Rechts nur mit Mühe zu unterscheiden waren. Aber auch wenn man ihre außergewöhnliche Art hinnahm: bei Dua — ganz besonders bei Dua kannte man sich nicht mehr aus.
Deshalb war Odeen auch fast froh, als Tritt verschwand, denn das Problem war einzig und allein Dua. Die Verzögerung bei der Zeugung des dritten Kindes war wirklich langsam unheimlich, und Dua wurde auch nicht zugänglicher, eher das Gegenteil. Auch Odeen verspürte jetzt eine Unruhe, die ihn immer mehr plagte, die er nicht zu bestimmen wußte — und das war etwas, das er mit Losten besprechen mußte.
Er machte sich auf den Weg in die Hartling-Höhlen, wobei er seine Bewegung zu einem beständigen Fließen werden ließ, das nicht annähernd so würdelos war wie die seltsam erregende Mischung aus Schwanken und Hasten, die das Dahinschlängeln eines Gefühlslings kennzeichnete, und auch nicht so lustig wie die schwerfällige Gewichtsverlagerung eines Elterlings.
(In seinem Geiste bewahrte er ein deutliches Bild Tritts, wie er hinter dem Baby-Denkling hertrottete, der in seinem Alter natürlich fast ebenso schlüpfrig war wie ein Gefühlsling, und er sah auch Dua, die dem Baby den Weg abschnitt und es zurückbrachte, und dann wieder Tritt, der unentschlossen war, ob er das kleine Bündel Leben nun durchschütteln oder mit seiner Substanz umschließen sollte. Schon gleich nach der Geburt hatte sich Tritt für die Babies besser verdünnen können als für Odeen, und als ihn Odeen deswegen aufzog, erwiderte er ernsthaft — denn natürlich konnte er solche Dinge nicht mit Humor behandeln: »Ah, aber die Kinder brauchen es mehr.«)
Odeen war stolz auf sein Dahinfließen und hielt es für anmutig und eindrucksvoll. Er hatte einmal mit Losten darüber gesprochen, seinem Lehrer-Hartling, dem er alles gestand, und Losten hatte erwidert: »Aber meinst du nicht, ein Gefühlsling oder Elterling denkt über seinen Gang genauso? Wenn jeder von euch anders denkt und handelt, sollten euch dann nicht auch unterschiedliche Dinge ansprechen? Eine Triade schließt Individualität nicht aus, weißt du.«
Odeen war nicht sicher, daß er diese Individualität richtig begriff. Hatte sie etwas mit Alleinsein zu tun? Die Hartlinge waren allein, natürlich. Sie kannten keine Triaden. Wie konnten sie das nur aushalten?
Odeen war damals noch sehr jung. Sein Kontakt zu den Hartlingen war noch frisch, und es kam ihm plötzlich der Gedanke, daß er ja gar nicht sicher sein konnte, daß die Hartlinge nicht doch Triaden bildeten. Daß es nicht so war, wurde zwar allgemein vermutet, aber stimmte dieses Gerücht? Odeen dachte darüber nach und kam zu dem Schluß, daß er sich erkundigen mußte und die Dinge nicht einfach guten Glaubens hinnehmen durfte.
Und er hatte Losten gefragt: »Bist du ein Linksling oder ein Rechtsling, Herr?« (Bei der Erinnerung an diese Frage mußte Odeen später immer pulsieren. Wie unglaublich naiv war er gewesen! Dabei war es nur ein geringer Trost, daß fast jeder Denkling irgendwann einmal so fragte.)
»Weder noch, kleiner Linksling«, erwiderte Losten ganz ruhig. »Es gibt keine Linkslinge oder Rechtslinge bei uns.«
»Oder Mittli — Gefühlslinge?«
»Oder Mittlinge?« Und der Hartling veränderte die Anordnung seiner Sinnesorgane auf eine Weise, die Odeen mit der Zeit als ein Zeichen von Belustigung oder Freude erkannte. »Nein. Auch keine Mittlinge. Nur eine einzige Art Hartlinge.«
Odeen mußte die Frage stellen. Sie entschlüpfte ihm gegen seinen Willen: »Aber, wie hältst du das aus?«
»Das ist alles anders bei uns, kleiner Linksling. Wir sind daran gewöhnt.«
Konnte sich Odeen an so etwas gewöhnen? Da war die elterliche Triade, die sein Leben bisher erfüllt hatte, und da war das Wissen, daß er in nicht allzu ferner Zeit eine eigene Triade bilden würde. Was war das Leben ohne Triade? Er dachte von Zeit zu Zeit eingehend darüber nach. Er bedachte überhaupt alles eingehend, was ihm irgendwie auffiel, und manchmal erhaschte er einen Schimmer der möglichen Bedeutung. Er überlegte, daß die Hartlinge nur sich selbst hatten, daß sie keinen Links oder Rechts-Bruder und auch keine Mitt-Schwester kannten, ebensowenig wie das Verschmelzen oder Kinder oder Elterlinge. Sie hatten nur ihren Geist, nur ihre Wissenschaft vom Universum. Vielleicht genügte ihnen das? Mit zunehmendem Alter begriff Odeen etwas von den Freuden des Forschens. Sie genügten auch ihm fast — fast, dann mußte er wieder an Tritt und Dua denken, und kam zu dem Schluß, daß ihm ohne sie nicht einmal das gesamte Universum genügt hätte.
Es sei denn… Seltsam — hin und wieder hatte er den Eindruck, als könnte sich eine Zeit, eine Situation ergeben, da… Doch schnell ging diese momentane Einsicht wieder verloren, oder diese Einsicht einer Einsicht, und er kam nicht weiter. Nach einer Weile kam sie allerdings wieder, und in letzter Zeit glaubte er sie auch stärker zu spüren, so daß sie sich fast halten ließ.
Aber das alles war jetzt nicht wichtig. Er mußte sich um Dua kümmern. Er folgte dem altbekannten Weg — einem Weg, den er mit seinem Elterling zum erstenmal beschriften hatte (so wie Tritt bald seinen jungen Denkling, sein Baby-Links hier entlangführen würde).
Und natürlich überkamen ihn sofort wieder die Erinnerungen.
Damals war alles furchterregend gewesen. Da waren andere junge Denklinge gewesen, die alle pulsierten und schimmerten und die Form veränderten — trotz der elterlichen Zeichen ringsum, daß sie fest und glatt bleiben und der Triade keine Schande machen sollten. Ein kleiner Linksling, ein Spielkamerad Odeens, hatte sich tatsächlich wie ein Baby verflacht und wollte sich ungeachtet aller Anstrengungen seines beschämten Elterlings nicht wieder entflachen. (Inzwischen war ein völlig normaler Student aus ihm geworden… wenn auch kein Odeen, wie Odeen mit beträchtlicher Selbstgefälligkeit feststellte.)
An jenem ersten Schultag hatten sie mit einer Anzahl von Hartlingen zu tun, die bei jedem stehenblieben, um das Vibrationsschema der jungen Denklinge auf besondere Weise aufzuzeichnen. Das ermöglichte die Entscheidung, ob sie zur Unterweisung angenommen wurden oder ob noch ein Intervall zu warten war; und wenn die Entscheidung positiv ausfiel, wurde auch gleich das Lehrgebiet bestimmt.
Bei Annäherung des ersten Hartlings hatte sich Odeen mit verzweifelter Anstrengung glatt aufgerichtet und starr an sich gehalten.
Der Hartling hatte gesagt (und der unbekannte, seltsame Klang dieser Stimme brachte seine Entschlossenheit, erwachsen zu sein, fast ins Wanken): »Da hätten wir ja einen ganz aufrechten kleinen Denkling. Wie wirst du gerufen, Linksling?«
Zum erstenmal in seinem Leben wurde Odeen ohne irgendeine Verniedlichung »Linksling« genannt, und er fühlte sich fester als je zuvor, als er nun herausbrachte: »Odeen, HartHerr.« Er gebrauchte die höfliche Anrede, die sein Elterling ihm eingetrichtert hatte.
Schwach erinnerte sich Odeen daran, wie er anschließend durch die Hart-Höhlen geführt wurde, die voller Ausrüstung und Maschinen, voller Büchereien und bedeutungsloser Dinge und Geräusche waren. Noch deutlicher als diese Sinneseindrücke war ihm seine innere Verzweiflung in Erinnerung. Was würde man mit ihm anstellen?
Sein Elterling hatte gesagt, daß er lernen würde, aber er wußte nicht recht, was dieses Wort eigentlich bedeutete, und als er seinen Elterling fragte, stellte es sich heraus, daß der Ältere auch keine Ahnung hatte.
Es dauerte eine Weile, bis er diese Frage beantwortet erhielt, und die Erkenntnis war durchaus angenehm, sehr angenehm sogar, wenn sie auch ihre negativen Aspekte hatte.
Der Hartling, der ihn zum erstenmal »Linksling« genannt hatte, wurde sein erster Lehrer. Er lehrte ihn die Interpretation der Wellenaufzeichnungen, so daß nach einiger Zeit aus einem scheinbar unverständlichen Kode klare Worte wurden — so leicht verständlich wie die Worte, die er mit seinen eigenen Vibrationen erzeugen konnte.
Aber dann verschwand der erste Lehrer und kam nicht wieder, und ein zweiter Hartling nahm seinen Platz ein. Odeen bemerkte das nicht sofort. In jenen Tagen war es so schwierig, die Hartlinge voneinander zu unterscheiden, ihre Stimmen auseinanderzuhalten. Aber schließlich wuchs doch die Gewißheit heran. Langsam wuchs diese Gewißheit, und die Veränderung ließ ihn erzittern. Er verstand ihre Bedeutung nicht.
Er nahm schließlich allen Mut zusammen und fragte: »Wo ist mein Lehrer, Hart-Herr?«
»Gamaldan?… Er wird dich nicht mehr besuchen, Linksling.«
Einen Moment war Odeen sprachlos. Dann sagte er: »Aber Hartlinge ziehen doch nicht weiter…« Er beendete den Satz nicht, brach erstickt ab.
Der neue Hartling blieb passiv, sagte nichts, gab keine Information.
Wie Odeen noch merken sollte, war es immer so. Die Hartlinge sprachen niemals über sich. Über alle anderen Themen ließen sie sich aus. Wenn es um sie ging — nichts.
Zahlreiche Hinweise konnten Odeen schließlich nur zu dem Schluß bringen, daß auch die Hartlinge weiterzogen; daß sie nicht unsterblich waren (wie so viele Weichwesen als selbstverständlich annahmen). Doch erhielt er von keinem Hartling eine klare Bestätigung. Odeen und die anderen StudentenDenklinge diskutierten manchmal darüber, zögernd, unruhig. Jeder wußte von einem Umstand zu berichten, der klar auf die Sterblichkeit der Hartlinge hinwies, und war dennoch unsicher und wollte nicht den offensichtlichen Schluß ziehen. Schließlich rückten sie wieder von dem Thema ab.
Den Hartlingen schien es egal zu sein, daß Hinweise auf ihre Sterblichkeit existierten. Sie taten nichts, um sie zu verschleiern. Aber sie sprachen auch niemals darüber. Und wenn eine direkte Frage aufkam (wie es unweigerlich manchmal geschah), gaben sie niemals Antwort; weder bestätigten sie etwas, noch stritten sie ab.
Wenn sie tatsächlich weiterzogen, (die jungen Denklinge nannten es »sterben«), mußten sie auch geboren werden; trotzdem sprachen sie niemals davon, und Odeen bekam niemals einen jungen Hartling zu Gesicht.
Odeen vermutete, daß die Hartlinge ihre Energie nicht von der Sonne, sondern aus den Felsen bezogen — oder daß sie zumindest pulverisiertes schwarzes Gestein in ihre Körper aufnahmen. Einige Studenten teilten diese Ansicht. Andere stellten sich heftig dagegen. Eine klare Entscheidung gab es jedoch nicht, denn niemand hatte bisher einen Hartling beim Essen beobachtet, und die Hartlinge ließen auch hierüber nichts verlauten.
Schließlich nahm Odeen ihre Zurückhaltung als selbstverständlich hin — als einen Teil ihres Wesens. Vielleicht, so überlegte er, lag es an ihrer Individualität, an der Tatsache, daß sie keine Triaden bildeten. Das mochte eine Mauer um sie errichten.
Außerdem lernte Odeen in dieser Zeit so viele andere wichtige Dinge kennen, daß die Frage nach dem Privatleben der Hartlinge ohnehin unwichtig wurde. Er erfuhr zum Beispiel, daß die ganze Welt zusammenschrumpfte, daß sie kleiner wurde…
Es war sein neuer Lehrer Losten, der ihm das erzählte.
Odeen hatte sich nach den unbewohnten Höhlen erkundigt, die sich endlos in den Tiefen der Welt erstreckten, und Losten schien sich darüber zu freuen. »Fürchtest du dich vor dieser Frage, Odeen?«
(Er wurde jetzt einfach mit seinem Namen angeredet und nicht mehr nur als Linksling. Es erfüllte ihn immer wieder mit Stolz, wenn ein Hartling ihn Odeen nannte. Viele taten das. Odeen war sehr lernbegierig, und der Gebrauch seines Namens kam ihm wie eine Anerkennung dieser Tatsache war. Mehr als einmal hatte Losten seine Befriedigung darüber geäußert, ihn als Schüler zu haben.)
Odeen fürchtete sich tatsächlich und gab das nach einigem Zögern auch zu. Es fiel ihm stets leichter, Unzulänglichkeiten vor einem Hartling einzugestehen als vor einem anderen Denkling, geschweige denn vor Tritt; nein, ganz unmöglich, Tritt so etwas zu erzählen… Es war noch in den Tagen vor Dua.
»Warum fragst du dann?«
Wieder zögerte Odeen, ehe er langsam sagte: »Ich fürchte mich vor den unbewohnten Höhlen, weil mir früher erzählt wurde, es wohnten viele Ungeheuer darin. Aber ich weiß das natürlich nur indirekt; es wurde mir eben von anderen Kindern erzählt, die es auch nicht aus eigener Anschauung wissen konnten. Ich möchte gern die Wahrheit erfahren, und dieser Wunsch ist mit der Zeit so stark geworden, daß meine Neugier nun fast größer ist als meine Angst.«
Losten sah ihn erfreut an. »Gut! Neugier ist nützlich, Angst nutzlos. Deine innere Entwicklung macht ausgezeichnete Fortschritte, Odeen, und denk daran — letztlich zählt überhaupt nur deine innere Entwicklung. Unsere Hilfe dabei ist nebensächlich. Da du es wirklich wissen willst, läßt sich ganz einfach sagen, daß die Höhlen tatsächlich völlig unbewohnt sind. Sie stehen leer. Nichts befindet sich darin außer den unwichtigen Überbleibseln vergangener Zeiten.«
»Doch wer hat diese Dinge zurückgelassen, Hart-Herr?« Unsicher wählte Odeen die förmliche Anrede, wie immer, wenn es so offensichtlich um Kenntnisse ging, die ihm noch abgingen.
»Die früheren Bewohner. Vor Tausenden von Zyklen gab es noch viele tausend Hartlinge und Millionen von Weichwesen. Heute sind es weniger denn je, Odeen. Heute leben nicht ganz dreihundert Hartlinge und nicht einmal zehntausend Weichwesen auf dieser Welt.«
»Warum?« fragte Odeen schockiert. (Nur dreihundert Hartlinge. Das war ein offenes Eingeständnis, daß die Hartlinge weiterzogen, doch jetzt war nicht der Augenblick, darüber nachzudenken.)
»Weil die Energie nachläßt. Die Sonne kühlt ab. Mit jedem Zyklus wird es schwieriger, Kinder zu gebären und überhaupt zu leben.«
(Ließ sich daraus etwa schließen, daß die Hartlinge auch Kinder zur Welt brachten? Und hieß das, daß auch die Hartlinge ihre Nahrung von der Sonne bezogen und nicht aus den Felsen? Odeen überging den Gedanken für den Augenblick.)
»Geht das noch weiter?« fragte Odeen.
»Die Sonne schrumpft immer weiter zusammen, Odeen, und wird eines Tages keine Nahrung mehr abgeben.«
»Heißt das, daß wir alle — Hartlinge und Weichwesen — weiterziehen?«
»Was sonst?«
»Wir können nicht alle weiterziehen. Wenn wir Energie brauchen und die Sonne abstirbt, müssen wir andere Energiequellen finden. Andere Sterne.«
»Aber, Odeen, alle Sterne kühlen ab. Das Universum geht dem Ende entgegen.«
»Wenn die Sterne ihrem Ende entgegengehen, gibt es denn nicht woanders neue Nahrung? Keine andere Energiequelle?«
»Nein, die Energiequellen überall im Universum werden versiegen.«
Odeen dachte nach und sagte schließlich: »Also andere Universen. Wir können doch nicht einfach aufgeben, nur weil das Universum am Ende ist.« Er zitterte heftig bei diesen Worten. Mit unverzeihlicher Kühnheit hatte er sich über alle Schranken der Höflichkeit hinweggesetzt und war durchscheinend zu einer Größe angeschwollen, die den Hartling deutlich überragte.
Doch Losten ging nicht darauf ein, ließ nur äußerste Freude erkennen. »Wunderbar, mein lieber Linksling. Das müssen die anderen hören!«
Daraufhin war Odeen sofort wieder zu seiner normalen Größe zusammengeschrumpft, verlegen und erfreut zugleich, daß er plötzlich als mein lieber Linksling bezeichnet wurde — eine Anrede, die er noch von niemandem gehört hatte, außer natürlich Tritt.
Kurz darauf hatte Losten ihnen Dua gebracht. Beiläufig hatte Odeen überlegt, ob da vielleicht ein Zusammenhang bestand, doch nach einer Weile gab er das Grübeln auf. Tritt hatte so oft wiederholt, daß Duas Kommen nur seinem Vorsprechen zu verdanken war, daß Odeen nicht weiter darüber nachdachte.
Doch jetzt wandte er sich wieder einmal an Losten. Eine lange Zeit war seit jenen Tagen vergangen, da er zum erstenmal erfuhr, daß das Leben des Universums seinem Ende zuging und daß (wie es sich herausstellte) die Hartlinge entschlossen nach einer Möglichkeit des Überlebens suchten. Er selbst hatte sich seither auf manchen Gebieten umgetan, und Losten selbst gab zu, daß er in der Physik seinem Schüler nicht mehr viel beibringen konnte. Und da es andere junge Denklinge gab, um die er sich kümmern mußte, traf er sich mit Odeen nicht mehr so oft wie früher.
Odeen fand Losten mit zwei halbwüchsigen Denklingen in der Strahlungskammer. Losten sah ihn sofort durch das Glas und kam heraus, wobei er die Tür fest hinter sich schloß.
»Mein lieber Linksling«, sagte er und streckte dem anderen in einer Geste der Freundschaft die Ausläufer entgegen (so daß Odeen wie früher den perversen Wunsch verspürte, sie zu berühren; doch er hielt sich zurück). »Wie geht es dir?«
»Ich wollte dich nicht stören, Losten-Herr.«
»Stören? Die beiden kommen eine Weile auch allein zurecht. Sie sind wahrscheinlich froh, daß ich mal verschwinde. Ich bin sicher, daß ich sie mit meinem vielen Gerede sehr ermüde.«
»Unsinn. Du hast mich immer fasziniert, und ich bin sicher, daß du sie auch fesselst.«
»Na, na. Es ist sehr nett, daß du das sagst. Ich sehe dich regelmäßig in der Bibliothek und höre von anderen, daß du in deinen fortgeschrittenen Kursen gut weiterkommst, und in solchen Momenten fehlt mir mein bester Student doch irgendwie. Wie geht es Tritt? Ist er auf seine Weise noch immer so stur?«
»Er wird von Tag zu Tag sturer. Er gibt der Triade neue Kraft.«
»Und Dua?«
»Dua? Ich bin gekommen… Sie ist sehr ungewöhnlich.«
Losten nickte. »Ja, ich weiß.« Er trug einen Ausdruck zur Schau, den Odeen als Melancholie zu identifizieren wußte.
Odeen wartete einen Augenblick und beschloß dann, direkt zur Sache zu kommen. »Losten-Herr«, fragte er, »ist sie uns gebracht worden, Tritt und mir, weil sie ungewöhnlich ist?«
»Würde dich das überraschen? Du selbst bist sehr ungewöhnlich, und du hast mir mehrmals gesagt, daß das auch bei Tritt der Fall ist.«
»Ja«, sagte Odeen aus tiefstem Herzen. »Das ist er.«
»Sollte dann eure Triade nicht auch einen ungewöhnlichen Gefühlsling haben?«
»Es gibt viele Möglichkeiten, ungewöhnlich zu sein«, meinte Odeen nachdenklich. »In gewisser Weise machen Duas seltsame Angewohnheiten Tritt zu schaffen und bereiten mir Sorge. Dürfte ich dich um einen Rat bitten?«
»Natürlich.«
»Sie hat nichts übrig für — für das Verschmelzen.«
Losten hörte ihm ernsthaft und allem Anschein nach ohne Verlegenheit zu.
Odeen fuhr fort: »Das Verschmelzen gefällt ihr durchaus, wenn es dazu kommt, aber es ist nicht immer leicht, sie soweit zu bringen.«
»Wie steht Tritt zum Verschmelzen?« fragte Losten. »Ich meine, abgesehen von der Lust des Augenblicks? Was bringt es ihm darüber hinaus?«
»Die Kinder natürlich«, antwortete Odeen. »Ich mag sie, und auch Dua mag sie, aber Tritt ist der Elterling. Verstehst du?« (Es wollte ihm plötzlich scheinen, als könnte Losten die Feinheiten einer Triade unmöglich begreifen.)
»Ich versuche zu verstehen. Es scheint also, daß Tritt mehr von dem Verschmelzen hat als nur die Lust. Und wie steht es mit dir? Was hast du davon?«
Odeen überlegte. »Ich glaube, du weißt das. Eine Art geistige Anregung.«
»Ja, ich weiß, aber ich wollte sicher sein, daß du es verstehst. Ich wollte sichergehen, daß du es nicht vergessen hast. Du hast mir oft gesagt, daß dir nach einer Periode des Verschmelzens, die immer einen seltsamen Zeitverlust bringt — und ich muß zugeben, ich habe dich oft sehr lange nicht gesehen, plötzlich viele Dinge verständlich waren, die du vorher nicht begreifen konntest.«
»Es war, als ob mein Gehirn in der Zwischenzeit aktiv geblieben wäre«, sagte Odeen. »Es war, als gäbe es da eine Zeit, die, obwohl ich ihr Verstreichen nicht bemerkte und ich mir meiner Existenz überhaupt nicht bewußt war, irgendwie lebensnotwendig für mich war; eine Zeit, in der ich klarer und intensiver denken konnte, weil mich die weniger intellektuelle Seite des Lebens nicht ablenken konnte.«
»Ja, und jedesmal hast du in deinem Weltverständnis einen gewaltigen Sprung vorwärts gemacht. Das ist durchaus üblich bei euch Denklingen, obwohl ich zugeben muß, daß du der einzige warst, der seine Fortschritte mit solcher Geschwindigkeit machte. Ich bin ehrlich der Meinung, daß dir kein Denkling das Wasser reichen kann.«
»Wirklich?« fragte Odeen und versuchte nicht ungebührlich erfreut zu erscheinen.
»Andererseits irre ich mich vielleicht.« Losten amüsierte sich über den plötzlichen Lichtverlust des anderen, »aber das ist unwichtig. Es geht darum, daß du und Tritt noch etwas aus dem Verschmelzen gewinnt.«
»Ja. Ganz gewiß.«
»Aber was hat Dua davon?«
Es folgte eine lange Pause. »Ich weiß es nicht«, antwortete Odeen.
»Hast du sie jemals gefragt?«
»Nein.«
»Wenn sie also«, sagte Losten, »aus einem Verschmelzen nur das Lustgefühl mit nach Hause nimmt, und wenn du und Tritt noch etwas Zusätzliches habt — warum sollte sie es dann so gern haben wie ihr?«
»Andere Gefühlslinge brauchen offenbar nicht…« begann Odeen abwehrend.
»Andere Gefühlslinge sind auch nicht wie Dua. Du hast mir das oft genug selbst gesagt und sogar, wie ich glaube, mit Befriedigung.«
Odeen schämte sich. »Ich hatte angenommen, es wäre vielleicht etwas anderes.«
»Und was sollte das sein?«
»Es ist schwer zu erklären. Wir kennen einander in der Triade, wir erspüren einander; in mancher Beziehung sind wir die Teile eines einzigen Individuums — eines nebelhaften Individuums, das daherkommt und wieder geht. Die meiste Zeit ist dieses Wesen nicht bei Bewußtsein. Wenn wir zu konzentriert darüber nachdenken, verlieren wir es aus dem Griff, so daß es keinerlei Klarheit gewinnt. Wir…« Odeen verhedderte sich hoffnungslos. »Es ist sehr schwierig, einem Außenstehenden die Triade zu erklären…«
»Trotzdem versuche ich zu verstehen. Du glaubst, du hast einen Teil von Duas innerem Wesen geschaut; etwas, das sie geheimzuhalten versuchte, meinst du das?«
»Ich bin sicher. Es ist nur ein sehr vager Eindruck, der sich dann und wann in einem Winkel meines Bewußtseins bildet.«
»Nun?«
»Ich glaube manchmal, Dua will gar keinen BabyGefühlsling.«
Losten blickte ihn ernst an. »Ihr habt bisher nur zwei Kinder, richtig? Einen kleinen Linksling und einen kleinen Rechtsling.«
»Ja, nur zwei. Der Gefühlsling ist schwer in Gang zu bringen, das weißt du.«
»Ich weiß.«
»Und Dua macht sich einfach nicht die Mühe, die nötige Energie aufzunehmen. Sie versucht es gar nicht. Sie hat immer wieder Gründe, die ich aber nicht glauben kann. Es will mir scheinen, daß sie aus irgendeinem Grunde einfach keinen Gefühlsling will. Was mich angeht — nun, wenn Dua im Augenblick wirklich noch kein Baby wollte, würde ich sie gewähren lassen. Aber Tritt ist ein Elterling, und er will ein Baby, er muß eins haben, und irgendwie kann ich ihn nicht enttäuschen, nicht einmal, um Dua zu helfen.«
»Wenn Dua aber einen vernünftigen Grund dafür hätte, daß sie keinen Gefühlsling will, würde das für dich einen Unterschied machen?«
»Für mich bestimmt, aber nicht für Tritt. Er versteht so etwas nicht.«
»Aber du würdest dir dann Mühe geben, ihn hinzuhalten?«
»Ja, das würde ich, so lange ich könnte.«
»Ist dir aufgefallen«, fragte Losten, »daß kaum ein Weichwesen« er zögerte, als suchte er nach einem Wort, und benutzte dann doch die übliche Bezeichnung — »weiterzieht, ehe die Kinder geboren sind — alle drei, wobei der Baby-Gefühlsling das letzte ist?«
»Ja, ich weiß.« Odeen fragte sich, wieso ihm Losten eine so elementare Frage stellte.
»Dann ist also die Geburt eines Baby-Gefühlslings ein Zeichen dafür, daß die Zeit zum Weiterziehen reif ist.«
»Aber doch erst, wenn der Gefühlsling alt genug ist…«
»Aber die Zeit zum Weiterziehen würde kommen. Ist es nicht möglich, daß Dua einfach nicht weiterziehen will?«
»Wie kann das sein, Losten? Wenn die Zeit zum Weiterziehen kommt — das ist doch fast genauso, als wenn es wieder Zeit zum Verschmelzen wird. Wie kann man das nicht wollen?« (Die Hartlinge verschmolzen ja nicht; vielleicht verstanden sie das also nicht.)
»Nehmen wir einmal an, daß Dua überhaupt nicht weiterziehen will. Was würdest du dazu sagen?«
»Nun, daß wir eines Tages weiterziehen müssen. Wenn Dua das letzte Baby nur hinauszögern wollte, könnte ich das vielleicht noch akzeptieren und womöglich auch Tritt dazu bringen. Wenn sie es aber überhaupt nicht haben will — das können wir nicht zulassen.«
»Warum nicht?«
Odeen schwieg und dachte darüber nach. »Ich kann es nicht sagen, Losten-Herr, aber ich weiß, wir müssen weiterziehen. Mit jedem Zyklus vertieft sich dieses Wissen, und manchmal meine ich beinahe auch den Grund dafür zu verstehen.«
»Ich glaube fast, du bist ein richtiger Philosoph, Odeen«, sagte Losten trocken. »Denken wir das mal durch. Wenn das dritte Baby kommt und aufwächst, hat Tritt alle seine Kinder zusammen und kann nach einem erfüllten Leben in aller Ruhe weiterziehen. Du selbst hast die Befriedigung einer umfassenden Bildung und kannst ebenfalls auf ein erfülltes Leben zurückschauen. Aber was ist mit Dua?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Odeen elend. »Andere Gefühlslinge hocken ein Lebenlang zusammen und scheinen Spaß daran zu haben, miteinander zu plaudern. Dua mag das nicht.«
»Nun, sie ist ja auch ungewöhnlich. Gibt es denn überhaupt nichts, das ihr Spaß macht?«
»Sie hört mir gern zu, wenn ich von meiner Arbeit spreche«, murmelte Odeen.
»Nun, deswegen brauchst du dich nicht zu schämen, Odeen. Jeder Denkling spricht mit seinem Rechtsling und seinem Mittling über seine Arbeit. Ihr tut nur alle so, als wäre das nicht der Fall, doch es stimmt.«
»Aber Dua hört auch zu, Losten-Herr.«
»Da bin ich ganz sicher. Nicht wie die anderen Gefühlslinge. Und hast du nicht auch die Beobachtung gemacht, daß sie nach einem Verschmelzen viel besser begreift?«
»Ja, das ist mir schon aufgefallen. Ich habe natürlich noch nicht besonders darauf geachtet…«
»Weil du sicher bist, daß Gefühlslinge so etwas gar nicht begreifen. Dua jedoch scheint wirklich viel von einem Denkling zu haben«
(Odeen schaute Losten verblüfft an. Einmal hatte Dua ihm von den Qualen ihrer Kindheit berichtet, nur einmal, von den schrillen Rufen der anderen Gefühlslinge, von dem schlimmen Namen, mit dem sie sie belegt hatten — LinksG. Hatte Losten das irgendwie in Erfahrung gebracht?… Aber er schaute Odeen nur ruhig an.)
»Das habe ich mir manchmal auch eingebildet«, sagte Odeen. Dann brach es aus ihm hervor: »Ich bin deswegen stolz auf sie.«
»Das kannst du auch. Warum sagst du es ihr aber nicht? Und wenn sie ihr Denken anregen möchte, warum läßt du sie nicht gewähren? Laß sie noch intensiver an deinem Wissen teilhaben. Beantworte ihre Fragen. Würde das die Triade in Mißkredit bringen?«
»Und wenn, wäre es mir egal… Und warum auch? Tritt wird es für Zeitverschwendung halten, aber ich werde schon mit ihm fertig.«
»Erkläre ihm, wenn Dua mehr von ihrem Leben hat und ein Gefühl der Erfüllung kennenlernt, dann hat sie vielleicht nicht mehr so große Angst vor dem Weiterziehen und ist dann womöglich auch williger, einen Baby-Gefühlsling zu zeugen.«
Odeen fühlte sich von einer düsteren Vorahnung befreit. »Du hast recht«, sagte er hastig. »Ich fühle, daß du recht hast. Du bist ja so verständig. Wenn du die anderen Hartlinge anführst, wie könnten wir dann nicht auch weiterhin Erfolg haben mit unserm Inter-Universum-Projekt!«
»Ich?« Losten gab sich belustigt. »Du vergißt, daß wir jetzt von Estwald geleitet werden. Er ist der eigentliche Held des Projekts. Ohne ihn wären wir längst nicht soweit.«
»O ja«, sagte Odeen aus der Fassung gebracht. Er hatte Estwald überhaupt noch nicht gesehen. Tatsächlich kannte er auch niemanden, der den anderen schon zu Gesicht bekommen hatte, obwohl einige berichteten, sie hätten ihn von Zeit zu Zeit in der Ferne gesehen. Estwald war ein neuer Hartling; wenigstens neu in dem Sinne, daß Odeen in seiner Kindheit den Namen niemals gehört hatte. Bedeutete das, daß Estwald ein junger Hartling war, ein Hartling, der ein Kind gewesen war, als auch Odeen noch ganz klein war?
Aber das war Nebensache. Jetzt wollte Odeen nur nach Hause. Er durfte Losten nicht dankbar berühren, doch er konnte ihm noch einmal danken und dann fröhlich davonhasten.
Seine Freude war nicht ganz ohne Selbstsucht. Da waren nicht nur die vage Aussicht auf den Baby-Gefühlsling und der Gedanke an Tritts Freude. Da war nicht einmal der Gedanke an Duas Erfüllung. Was für ihn in diesem Augenblick zählte, war die frohe Zukunft. Er würde in der Lage sein zu lehren! Kein anderer Denkling kannte dieses Vergnügen, da war er ganz sicher, denn es war unmöglich, daß ein anderer Denkling einen Gefühlsling wie Dua in der Triade hatte.
Es würde wunderbar sein — wenn er Tritt die Notwendigkeit dieses Schrittes nur irgendwie begreiflich machen konnte. Er würde mit Tritt sprechen und ihn irgendwie dazu bringen müssen, weiter Geduld zu haben.
Tritt war selten ungeduldiger gewesen. Er ließ keinen Zweifel daran, daß er Duas Verhalten nicht verstand. Er gab sich auch gar keine Mühe. Es war ihm egal. Er wußte ohnehin nicht, warum Gefühlslinge so waren. Und überdies war Dua nicht wie die anderen Gefühlslinge.
Sie dachte niemals an das Wichtige. Sie schaute immer nur in die Sonne. Aber dabei verdünnte sie sich noch, so daß das Licht und die Nahrung durch sie hindurchgingen. Anschließend sagte sie, es wäre schön gewesen. Aber das war doch gar nicht das Wichtige. Wichtig war es zu essen. Was hatte das Essen Schönes an sich? Was war überhaupt schön?
Sie wollte immer wieder auf neue Weise verschmelzen. Einmal sagte sie: »Unterhalten wir uns doch vorher noch ein wenig. Wir sprechen niemals darüber. Wir denken niemals darüber nach.«
Odeen sagte immer: »Laß sie doch gewähren, Tritt. Dadurch wird das Verschmelzen besser.«
Odeen war stets geduldig. Er meinte stets, die Dinge würden durch Abwarten besser. Oder er sagte, er wollte die Sache »durchdenken«.
Tritt war nicht sicher, was Odeen mit »durchdenken« meinte. Es bedeutete doch anscheinend, daß Odeen überhaupt nichts tat.
Wie war es denn damals gewesen, als Dua kommen sollte? Odeen würde heute noch darüber nachdenken. Tritt jedoch war losgegangen und hatte gefragt. So mußte das gemacht werden.
Jetzt wollte Odeen wegen Dua nichts unternehmen. Was wurde aus dem Baby-Gefühlsling, der doch allein wichtig war? Nun, Odeen würde nichts unternehmen, wenn Tritt die Sache nicht in die Hand nahm.
Tatsächlich tat er bereits etwas. Während seine Gedanken kreisten, bewegte er sich durch den langen Korridor. Er merkte kaum, wie weit er schon vorgedrungen war. War das »durchdenken«? Nun, er würde sich nicht einschüchtern lassen. Er würde nicht nachgeben.
Ruhig sah er sich um. Er war auf dem Weg in die HartHöhlen. Er wußte, in absehbarer Zeit würde er mit seinem kleinen Linksling diesen Weg gehen. Odeen hatte ihm einmal die Gänge gezeigt.
Er wußte nicht, was er tun wollte, wenn er heute sein Ziel erreichte. Noch immer hatte er überhaupt keine Angst. Er wollte einen Baby-Gefühlsling. Er hatte ein Anrecht darauf. Es gab überhaupt nichts Wichtigeres. Die Hartlinge würden schon dafür sorgen. Hatten sie ihm nicht auch Dua gebracht, als er darum bat?
Aber wen sollte er fragen? Konnte er irgendeinen Hartling ansprechen? Vage war er zu dem Entschluß gekommen, daß er sich nicht einfach an jeden Hartling wenden konnte. Er hatte aber einen Namen, nach dem er fragen konnte. Mit diesem Hartling wollte er dann sprechen.
Er erinnerte sich an den Namen. Er wußte sogar noch, wann er ihn zum erstenmal gehört hatte. Es war damals gewesen, als der kleine Linksling alt genug wurde, um selbständig die Form zu verändern. (Was für ein schöner Tag! »Odeen, schnell! Annis ist ganz oval und hart. Ganz allein hat er das gemacht. Dua, schau doch!« Und sie waren herbeigeeilt. Annis war damals das einzige Kind. Auf das zweite hatten sie so lange warten müssen. Sie eilten also herbei, doch der Kleine klebte nur in einer Ecke. Er wallte herum und zerfloß wie nasser Ton. Odeen war sofort wieder gegangen, weil er zu tun hatte. Doch Dua sagte: »Oh, er macht es bestimmt gleich wieder, Tritt.« Sie hatten ihn stundenlang beobachtet, doch es war nichts geschehen.)
Tritt war böse gewesen, daß Odeen sofort wieder gegangen war. Er hätte gern geschimpft, doch Odeen sah an jenem Tag so müde aus. Seine Rundungen hatten deutliche Fältchen. Und er gab sich keine Mühe, sie zu glätten.
»Ist etwas los, Odeen?« fragte Tritt besorgt.
»Es war ein schwerer Tag, und ich weiß nicht, ob ich vor dem nächsten Verschmelzen die Differentialgleichungen herausbekomme.« (Tritt wußte die schwierigen Worte nicht mehr genau. Sie lauteten jedenfalls so ähnlich. Odeen gebrauchte immer so schwierige Worte.)« Möchtest du jetzt verschmelzen?«
»O nein. Ich habe Dua eben nach oben verschwinden sehen, und du weißt ja, wie sie ist, wenn wir sie suchen und nach unten holen. Es hat wirklich keine Eile. Da gibt es übrigens einen neuen Hartling.«
»Einen neuen Hartling?« fragte Tritt sichtlich uninteressiert. Odeen hatte großes Interesse an dem Kontakt mit den Hartlingen, doch Tritt wünschte sich, das wäre anders. Odeen kümmerte sich mehr um seine Erziehung als sonst ein Denkling aus dem Bezirk. Das war nicht fair. Odeen ließ sich einfach zu sehr ablenken. Dua ihrerseits war damit beschäftigt, sich allein an der Oberfläche herumzutreiben. Niemand interessierte sich wirklich für die Triade nur Tritt.
»Er heißt Estwald«, sagte Odeen.
»Estwald?« Tritt war sofort interessiert. Vielleicht lag das daran, daß er in seiner Besorgnis Odeens Gefühle zu ergründen versuchte.
»Ich habe ihn noch nicht gesehen, aber es sprechen alle von ihm.« Odeen hatte seine Augen abgeflacht — wie immer, wenn er nachdachte. »Er ist verantwortlich für die neue Sache, die da im Gange ist.«
»Welche neue Sache?«
»Die Positronenpumpe, das würdest du nicht verstehen, Tritt. Es ist jedenfalls etwas völlig Neues. Das Gerät wird die ganze Welt revolutionieren.«
»Was heißt — revolutionieren?«
»Alles anders machen.«
Tritt war sofort besorgt. »Aber sie dürfen nicht alles anders machen.«
»Sie werden alles besser machen. Veränderungen sind nicht immer schlecht. Jedenfalls ist Estwald dafür verantwortlich. Er ist sehr klug. Das habe ich jedenfalls so im Gefühl.«
»Warum magst du ihn dann nicht?«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich ihn nicht mag.«
»Es fühlt sich aber so an, als ob du ihn nicht magst.«
»Oh, ganz und gar nicht, Tritt. Es ist nur, weil ich irgendwie… irgendwie…« Odeen lachte. »Ich bin eifersüchtig. Hartlinge sind so intelligent, daß wir daneben völlig unbedeutend erscheinen, aber ich hatte mich daran gewöhnt, weil Losten mir immer sagte, wie klug ich wäre — für ein Weichwesen. Aber da kommt dieser Estwald, und sogar Losten scheint in Bewunderung versunken, und ich bin wirklich nur noch ein Niemand.«
Tritt ließ seine Vorderseite ausschwingen, so daß sie Odeen leicht berührte, der jetzt aufblickte und lächelte. »Aber das ist nur dumm von mir. Wer schert sich schon darum, wie klug ein Hartling ist? Keiner von ihnen hat einen Tritt!«
Daraufhin begannen sie nun doch nach Dua zu suchen. Erstaunlicherweise hatte sie ihre Wanderung schon beendet und war auf dem Wege nach unten. Es war ein sehr gutes Verschmelzen, obwohl es nur etwa einen Tag dauerte. Tritt begann sich wegen des Verschmelzens Sorgen zu machen. Annis war noch so klein, und da war auch eine kurze Abwesenheit ein Risiko, obwohl sich immer andere Elterlinge fanden, die auf ihn achten wollten.
Danach erwähnte Odeen Estwald noch mehrere Male. Er nannte ihn immer den »Neuen« — auch später noch, als bereits einige Zeit verstrichen war. Noch immer hatte er ihn nicht zu Gesicht bekommen. »Ich glaube, ich gehe ihm unwillkürlich aus dem Weg«, hatte er einmal gesagt, als Dua dabei war, »weil er soviel über die neue Anlage weiß. Ich möchte das noch nicht so schnell herausfinden, denn das Lernen macht soviel Spaß.«
»Die Positronenpumpe?« hatte Dua gefragt.
Und das war auch seltsam an Dua, fand Tritt. Es ärgerte ihn. Sie konnte die schwierigen Worte fast so gut aussprechen wie Odeen. Und das war für einen Gefühlsling nicht normal.
So entschloß sich Tritt, Estwald zu fragen, weil Odeen gesagt hatte, er wäre so klug. Außerdem kannte ihn Odeen noch nicht. Estwald konnte also nicht sagen: »Ich habe mit Odeen darüber gesprochen, Tritt, und du darfst dir keine Gedanken machen.«
Alle Hartlinge meinten, wenn sie mit dem Denkling sprachen, so würden sie mit der ganzen Triade sprechen. Niemand achtete auf die Elterlinge. Nun, diesmal kamen sie nicht darum herum. Er war jetzt hier in den Hart-Höhlen, wo alles verändert schien. Die Umgebung war ihm völlig fremd und unverständlich, irgendwie nicht richtig. Es war beängstigend. Doch er hatte sich auf sein Gespräch mit Estwald so versteift, daß er seine Angst unterdrückte. Er sagte sich: »Ich will meinen BabyMitt.« Das gab ihm den Mut zum Weitergehen.
Er erblickte schließlich einen Hartling. Er war allein und tat etwas, beugte sich über etwas, hantierte an etwas. Odeen hatte ihm einmal gesagt, die Hartlinge arbeiteten immer an ihren… was immer das war. Tritt erinnerte sich nicht daran, und es war ihm auch gleichgültig.
Leise näherte er sich dem Hartling und blieb stehen. »HartHerr«, sagte er.
Der Hartling blickte auf, und die Luft vibrierte um ihn, wie sie es nach Odeens Worten immer tat, wenn zwei Hartlinge miteinander sprachen. Nun schien ihn der Hartling erst wirklich wahrzunehmen. Er sagte: »Na, das ist ja ein Rechtsling. Was suchst du denn hier? Hast du deinen kleinen Linksling bei dir? Fängt denn heute ein neues Semester an?«
Tritt hörte nicht zu. Er fragte: »Wo finde ich Estwald, Herr?«
»Wen?«
»Estwald.«
Der Hartling schwieg eine lange Zeit. Dann fragte er: »Was hast du denn mit Estwald zu schaffen, Rechtsling?«
Tritt war widerspenstig: »Es ist wichtig, daß ich mit ihm spreche. Bist du Estwald, Hart-Herr?«
»Nein, nein… Wie heißt du, Rechtsling?«
»Tritt, Hart-Herr.«
»Ich verstehe. Du bist der Rechtsling aus Odeens Triade, nicht wahr?«
»Ja.«
Die Stimme des Hartlings schien weicher zu werden. »Ich fürchte, du kannst Estwald im Augenblick nicht sprechen. Er ist nicht hier. Wenn ich dir sonstwie helfen kann…«
Tritt wußte nicht, was er sagen sollte. Er stand einfach nur da.
»Geh jetzt nach Hause«, fuhr der Hartling fort. »Sprich mit Odeen darüber. Er wird dir schon helfen. Ja? Geh nach Hause, Rechtsling.«
Der Hartling wandte sich ab. Er schien sehr mit anderen Dingen beschäftigt, und Tritt stand noch immer am gleichen Fleck. Dann bewegte er sich lautlos in einen anderen Gang. Der Hartling blickte nicht auf.
Tritt wußte nicht sofort, warum er diese Richtung eingeschlagen hatte. Zuerst hielt er es einfach für richtig. Dann wurde ihm klar, daß er die dünne Wärme von Nahrung verspürte und davon kostete.
Er hatte gar nicht gewußt, daß er hungrig war; jetzt genoß er die Speise.
Die Sonne war nicht da. Instinktiv blickte er auf, doch natürlich war er in einer Höhle. Trotzdem war die Nahrung besser, als er es jemals an der Oberfläche empfunden hatte. Er sah sich verwundert um. Vor allen Dingen verwunderte es ihn, daß er sich wunderte.
Er hatte Odeen manchmal angefahren, weil sich Odeen über so viele Dinge verwunderte, die ihm, Tritt, nicht wichtig waren. Jetzt wunderte er sich ebenfalls — er, Tritt! Und das, worüber er sich da wunderte, war wichtig! Plötzlich erkannte er, wie wichtig es war. Stechend heiß durchfuhr ihn die Erkenntnis, daß er sich wunderte, weil etwas in ihm anzeigte, daß seine Beobachtung wichtig war.
Er handelte schnell, erstaunt über seinen Mut. Nach einer Weile kehrte er um. Dabei kam er auch an dem Hartling vorbei, mit dem er vorhin gesprochen hatte. Er sagte: »Ich gehe jetzt nach Hause, Hart-Herr.«
Der Hartling murmelte nur etwas Unverständliches.
Er war immer noch beschäftigt, beugte sich über irgend etwas, machte irgendwelche dummen Dinge und erkannte das Wichtige nicht.
Wenn die Hartlinge so großartig und mächtig und klug waren, überlegte Tritt, wie konnten sie dann zugleich so dumm sein?
Dua befand sich auf dem Wege in die Hart-Höhlen. Sie trieb sich hier herum, weil die Sonne untergegangen war und sie irgend etwas tun mußte, etwas, das ihre Heimkehr noch hinausschob, das verhinderte, daß sie sich die Vorhaltungen Tritts und die halb verlegenen, halb resignierten Vorschläge Odeens anhören mußte. Aber sie war auch hier, weil die Höhlen selbst eine Anziehung auf sie ausübten.
Schon lange hatte sie diese Verlockung gespürt, tatsächlich schon seit ihrer Kindheit, und hatte längst aufgegeben, sie vor sich selbst zu verleugnen. Gefühlslinge durften solche Empfindungen eigentlich nicht kennen. Bei sehr kleinen Gefühlslingen war das manchmal der Fall — Dua war alt und erfahren genug, um das zu wissen, aber das ließ schnell nach oder wurde den Kleinen schleunigst ausgetrieben, wenn es nicht schnell genug nachließ.
Aber schon als Kind hatte ihr nachdrückliches Interesse an der Welt, an der Sonne und den Höhlen und überhaupt allen Dingen nicht nachgelassen — bis der Elterling ihr sagte: »Du bist richtig absonderlich, Dua, mein Liebling. Du bist ein seltsamer kleiner Mittling. Was soll nur aus dir werden?«
Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was an ihrem Wissensdrang so absonderlich war. Sie fand schnell heraus, daß ihr Elterling diese Frage auch nicht beantworten konnte. Daraufhin versuchte sie es bei ihrem Links-Vater, der jedoch die sanfte Ratlosigkeit des Rechts-Vaters vermissen ließ. Er schnappte: »Warum fragst du, Dua?« und sein Blick schien drohend in sie zu dringen.
Erschreckt lief sie davon und fragte ihn nicht wieder. Doch eines Tages hatte ein anderer Gefühlsling ihres Alters »LinksG« hinter ihr hergeschrien, nachdem sie gesagt hatte, sie… Sie wußte es nicht mehr — es war jedenfalls etwas, das ihr damals ganz natürlich vorgekommen war. Dua war fassungslos gewesen, ohne zu wissen, warum, und hatte ihren sehr viel älteren Links-Bruder gefragt, was ein LinksG wäre. Er war verlegen zurückgewichen — eindeutig verlegen — und hatte gemurmelt: »Ich weiß es nicht.« Dabei war ganz klar gewesen, daß er es wußte.
Nach einigem Grübeln ging sie zu ihrem Elterling und fragte: »Bin ich ein LinksG, Pappie?«
Und er hatte erwidert: »Wer hat dich so genannt, Dua? Du darfst solche Worte nicht wiederholen.«
Sie rieb sich an seiner vorderen Kante, dachte eine Weile darüber nach und fragte dann: »Ist das schlimm?«
»Du wirst schon darüber hinwegkommen«, sagte er und wölbte sich ein wenig aus, um sie herumschwingen und vibrieren zu lassen — ein Spiel, das sie immer gemocht hatte. Jetzt machte es ihr aber keinen Spaß, denn er hatte ihr keine klare Antwort gegeben. Sie entfernte sich nachdenklich. Er hatte gesagt: »Du wirst darüber hinwegkommen.« Also war da wirklich etwas. Aber was’?
Schon damals hatte sie kaum wirklich Freundinnen unter den anderen Gefühlslingen. Die flüsterten und kicherten gern miteinander, während Dua lieber über die zerklüfteten Felsen schwebte und ihre rauhe Oberfläche genoß. Es gab allerdings einige Mittlinge, die netter waren als die übrigen und ihr weniger auf die Nerven gingen. Da war zum Beispiel Doral, die im Grunde so dumm war wie die anderen, die aber manchmal ganz amüsant plaudern konnte. (Doral war inzwischen eine Triade mit Duas Rechts-Bruder und einem jungen Linksling aus einem anderen Höhlensystem eingegangen einem Linksling, den Dua nicht besonders mochte. Doral hatte dann in schneller Folge ein Baby-Links, ein Baby-Rechts und schließlich auch ein Baby-Mitt geboren. Sie war aber auch so dicht geworden, daß die Triade fast zwei Elterlinge zu haben schien und Dua sich fragte, ob die drei überhaupt noch verschmelzen konnten… Trotzdem hielt ihr Tritt immer wieder vor, welch gute Triade Doral da gebildet hätte.)
Sie und Doral hatten eines Tages allein zusammengesessen, und Dua hatte geflüstert: »Doral, weißt du, was ein LinksG ist?«
Doral hatte geschnalzt und sich zusammengezogen, als wollte sie nicht gesehen werden, und hatte gesagt: »Das ist ein Gefühlsling, der sich wie ein Denkling benimmt; du weißt schon: wie ein Linksling. Verstehst du: Links-Gefühlsling — LinksG! Verstehst du?«
Natürlich »verstand« Dua den Begriff. Er war ja auch ganz klar. Sie wäre selbst darauf gekommen, wenn sie sich so etwas nur hätte vorstellen können.
»Woher weißt du das?« fragte Dua.
»Die älteren Mädchen haben es mir erzählt.« Dorals Substanz wirbelte durcheinander — eine Bewegung, die Dua als unangenehm empfand. »Es ist unanständig«, sagte Doral.
»Wieso?« wollte Dua wissen.
»Weil es eben unanständig ist. Gefühlslinge dürfen sich nicht wie Denklinge benehmen.«
Dua hatte niemals über diese Möglichkeit nachgedacht und wandte sich der Frage jetzt zu. »Warum denn nicht?« bohrte sie.
»Darum! Willst du noch etwas Unanständiges wissen?«
Dua konnte nicht anders: »Was denn?« fragte sie.
Doral antwortete nicht, doch ein Teil ihres Körpers weitete sich plötzlich aus und berührte die ahnungslose Dua, ehe sie sich einwölben konnte. Dua mochte das nicht. Sie wich zurück und sagte: »Laß das!«
»Weißt du, was auch unanständig ist? Du kannst nicht in einen Felsen eindringen.«
»Nein, das kannst du auch nicht«, sagte Dua. Das war nun eine dumme Bemerkung, denn Dua war oft genug in die äußeren Schichten von Felsgestein eingedrungen und hatte Spaß daran gehabt. Aber Dorals Gekicher machte ihr die Sache zuwider, und sie verschloß die Augen davor.
»Doch, das kann man. Es wird Felsreiben genannt. Gefühlslinge haben damit überhaupt keine Schwierigkeiten. Linkslinge und Rechtslinge schaffen es nur, solange sie noch ganz klein sind. Wenn sie größer werden, tun sie’s miteinander.«
»Ich glaube dir nicht. Du denkst dir das aus.«
»Sie tun es, ich sag’s dir. Kennst du Dimit?«
»Nein.«
»Aber natürlich. Sie ist das Mädchen mit der dicken Ecke aus Höhle C.«
»Die so komisch fließt?«
»Ja. Das liegt an der dicken Kante. Die dort meine ich. Sie ist einmal ganz und gar in einen Felsen eingedrungen — bis auf die dicke Ecke. Sie ließ ihren Links-Bruder zuschauen, und der erzählte es ihrem Elterling, und ich möchte nicht wissen, was sie da zu hören bekam. Sie hat es jedenfalls nicht wieder versucht.«
Verwirrt zog sich Dua zurück. Lange Zeit sprach sie überhaupt nicht mit Doral und hatte dann auch kein rechtes Verhältnis mehr zu ihr. Dennoch war ihre Neugier geweckt.
Bloß ihre Neugier? Oder ihre Links-Neigung?
Eines Tages, als sie ganz sicher fühlte, daß ihr Elterling nicht in der Nähe war, ließ sie sich in einen Felsen gleiten, langsam, ein kleines Stück. Es war das erstemal seit frühester Jugend, daß sie das versuchte, und sie wußte nicht mehr, ob sie sich jemals so tief vorgewagt hatte. Es gab ein seltsam warmes Gefühl, doch als sie wieder freikam, war ihr, als müßte es ihr jeder ansehen, als habe der Felsen sie befleckt.
Von Zeit zu Zeit versuchte sie es wieder, kühner geworden, und hatte auch mehr Spaß daran. Natürlich ließ sie sich niemals ganz im Gestein versinken.
Dann wurde sie von ihrem Elterling erwischt, der aufgebracht schnalzte, und war von nun an vorsichtiger. Sie war inzwischen auch älter und wußte, daß ihr Treiben trotz Dorals Gehabe ganz und gar nicht selten war. Fast jeder Gefühlsling machte es von Zeit zu Zeit, und einige gaben es auch offen zu.
Mit zunehmendem Alter geschah es seltener, und Dua vermutete, daß für die meisten anderen Gefühlslinge nach Eintritt in eine Triade und nach Beginn des richtigen Verschmelzens damit Schluß war. Es war eines ihrer Geheimnisse (sie erzählte niemandem davon), daß sie nicht damit aufgehört hatte, sondern es ein oder zweimal sogar nach Bildung der Triade versucht hatte. (Und jedesmal hatte sie dabei gedacht: Wenn Tritt das erfährt… Irgendwie beschwor dieser Gedanke entsetzliche Folgen herauf und verdarb ihr ziemlich den Spaß daran.)
Verwirrt rechtfertigte sie dieses Tun vor sich selbst mit ihrem Kampf gegen die anderen. Der Ruf »LinksG« begann ihr überallhin zu folgen als eine Art öffentliche Schmach. Und so gab es eine Periode in ihrem Leben, die sie in fast einsiedlerischer Abgeschiedenheit verbrachte. Wenn sie eine Anlage zum Einzelgänger mitbekommen hatte, dann wurde diese jetzt geweckt. Das Felsreiben, unanständig oder nicht, war etwas Einsames, und die anderen drängten sie in die Einsamkeit.
Wenigstens redete sie sich das ein.
Sie hatte sich einmal zu wehren versucht. Sie hatte den spottenden Mittlingen zugerufen: »Ihr seid ja ein Haufen RechtsGs, ein Haufen schmutziger RechtsGs!«
Sie hatten nur gelacht, und Dua war verwirrt und aufgebracht davongelaufen. Es stimmte ja auch. Fast jeder Gefühlsling, wenn er in das Alter der Triadenbildung kam, begann sich für Babies zu interessieren und umflatterte sie auf eine elterliche Weise, die Dua stets abstoßend gefunden hatte. Sie selbst hatte kein solches Interesse. Babies waren eben Babies; sollten sich die Rechts-Brüder darum kümmern.
Als Dua älter wurde, verhallten die Schimpfrufe. Es half ihr auch, daß sie sich eine mädchenhaft verdünnte Struktur bewahrte und sich mit einem rauchigen Schlenker bewegte, den keine andere nachahmen konnte. Und als sich zunehmend Rechtslinge und Linkslinge für sie interessierten, fiel den anderen Gefühlslingen der Spott immer schwerer.
Und doch… Und doch… Obwohl jetzt niemand mehr wagte, sich abfällig über Dua zu äußern (denn es war bekannt in allen Höhlen, daß Odeen der wichtigste Denkling der Generation und Dua sein Mittling war), wußte sie innerlich, daß sie von ihrer Links-Neigung nicht mehr loskam.
Sie hielt das nicht für unanständig — nicht wirklich, ertappte sich jedoch gelegentlich bei dem Wunsch, ein Denkling zu sein, und das erschütterte sie doch etwas. Sie fragte sich, ob andere Gefühlslinge das gleiche Problem hatten — ständig oder nur vorübergehend — und ob wohl hier einer der Gründe lag, warum sie keinen Baby-Gefühlsling wollte, weil sie eben kein richtiger Gefühlsling war und ihre Rolle in der Triade nicht voll ausfüllte…
Odeen hatte es nichts ausgemacht, daß sie ein LinksG war. Er nannte sie niemals so, aber ihm gefiel das Interesse, das sie für sein Leben hatte, ihm gefielen ihre Fragen, die er stets erschöpfend beantwortete, und die Art und Weise, wie sie alles verstand. Er verteidigte sie sogar, wenn Tritt eifersüchtig wurde — nun, nicht wirklich eifersüchtig; er hatte nur das Gefühl, daß ihr Tun ganz und gar nicht in sein geradliniges, beschränktes Weltbild paßte.
Odeen hatte sie gelegentlich in die Hart-Höhlen mitgenommen, um sich vor ihr zu produzieren, und war sichtlich angenehm berührt, daß sie sich beeindruckt zeigte. Sie war tatsächlich beeindruckt — nicht so sehr von der Eindeutigkeit seines Wissens und seiner Intelligenz, sondern von der Tatsache, daß er nichts dagegen hatte, sie daran teilhaben zu lassen. (Sie mußte an die barsche Antwort ihres Links-Vaters denken, als sie ihn damals gefragt hatte.) Ihre Liebe zu Odeen war am größten, wenn er sie in sein Leben einschloß — und sogar das war ein Teil ihrer Links-Neigung.
Vielleicht (dieser Gedanke war ihr immer wieder gekommen) rückte sie durch ihre Neigung dichter an Odeen heran und entfernte sich von Tritt, was ein weiterer Grund sein mochte, warum Tritts Vorhaltungen sie abstießen. Odeen hatte noch kein Wort darüber verloren, aber vielleicht spürte Tritt diese Entwicklung und vermochte sie nur soweit zu erfassen, daß er unglücklich war, ohne den Grund dafür zu wissen.
Bei ihrem ersten Besuch in einer Hart-Höhle hatte sie zwei Hartlinge miteinander sprechen hören. Sie wußte natürlich nicht, daß sie redeten. Da war eine schnell wechselnde Luftvibration, die ein unangenehmes Summen in ihr hervorrief. Sie mußte sich verdünnen, um die Schwingungen durchzulassen.
Odeen hatte gesagt: »Sie reden.« Hastig kam er dann ihrem Einwand zuvor: »Auf ihre Art. Sie verstehen einander.«
Dua hatte begriffen. Schnelles Begreifen war um so schöner, als Odeen darüber besonders erfreut war. (Er hatte einmal gesagt: »Alle anderen Denklinge, die ich kenne, haben nur schwachköpfige Gefühlslinge. Ich bin da wirklich ein Glückspilz.« Sie hatte erwidert: »Aber die anderen Denklinge scheinen Schwachköpfe zu mögen. Warum bist du anders als sie, Odeen?« Odeen leugnete nicht, daß die anderen Denklinge Schwachköpfe mochten. Er sagte nur: »Ich habe mir das nie überlegt, und ich halte es auch nicht für wichtig. Ich freue mich über dich, und ich freue mich, daß ich mich freue.«)
»Verstehst du denn die Sprache der Hartlinge?« fragte sie.
»Kaum«, antwortete Odeen. »Ich kann die Veränderung erspüren. Manchmal habe ich ein Gefühl dafür, was sie sagen, auch wenn ich es nicht richtig verstehe — besonders nach einem Verschmelzen. Allerdings nur manchmal. Solche Gefühle aufzufangen, ist eigentlich Sache eines Gefühlslings — nur kann ein Gefühlsling keinen Sinn aus dem herauslesen, was er da fühlt. Du könntest das sicher.«
»Ich hätte Angst«, meinte Dua abwehrend. »Sie mögen es vielleicht nicht.«
»Oh, ich bitte dich. Ich bin neugierig. Versuch einmal festzustellen, worüber sie sprechen.«
»Soll ich? Wirklich?«
»Nun mach schon. Wenn sie dich erwischen und böse sind, sage ich, ich hätte dich dazu angestiftet.«
»Versprichst du mir das?«
»Natürlich.«
Dua war ziemlich zittrig zumute, als sie sich den Hartlingen zuwandte und in die totale Passivität verfiel, die den Zufluß von Gefühlen gestattete.
»Aufregung«, sagte sie. »Sie sind aufgeregt. Jemand Neues.«
»Vielleicht Estwald«, meinte Odeen.
Dua hörte den Namen zum erstenmal. Sie sagte: »Das ist seltsam.«
»Was ist seltsam?«
»Ich sehe eine große Sonne. Eine ganz große Sonne.«
Odeen sah sie nachdenklich an. »Vielleicht sprechen sie darüber.«
»Aber wie ist das möglich?«
In diesem Augenblick wurden die Hartlinge auf sie aufmerksam. Sie kamen freundlich näher und begrüßten sie in der Art der Weichwesen. Dua war zutiefst beschämt und fragte sich, ob sie wußten, daß sie sie erfühlt hatte. Doch sie ließen sich nichts anmerken.«
(Odeen sagte ihr hinterher, daß man Hartlinge nur sehr selten auf ihre eigene Art miteinander sprechen sah. Sie widmeten sich den Weichwesen und schienen ihre Arbeit stets zu unterbrechen, wenn andere in der Nähe waren. »Sie mögen uns so gern«, sagte Odeen. »Sie sind sehr fürsorglich.«)
Von Zeit zu Zeit nahm er sie mit in die Hart-Höhlen — normalerweise, wenn Tritt sehr mit den Kindern zu tun hatte. Auch gab sich Odeen keine große Mühe, Tritt von diesen Ausflügen zu erzählen. Das hätte nur die Erwiderung ausgelöst, daß Odeens Verhätschelung Duas Abneigung vor der Sonne noch förderte und das Verschmelzen um so wirkungsloser machte… Es war unmöglich, sich auch nur fünf Minuten mit Tritt zu unterhalten, ohne daß die Sprache auf das Verschmelzen kam.
Ein oder zweimal war sie sogar allein hier unten gewesen. Sie hatte sich dabei immer ein wenig geängstigt, obwohl die Hartlinge sehr nett waren — »sehr fürsorglich«, wie Odeen sagte. Aber sie schienen sie auch nicht sehr ernst zu nehmen. Wenn sie Fragen stellte, waren sie erfreut und manchmal auch irgendwie belustigt — das war deutlich zu spüren. Und wenn sie überhaupt antworteten, dann so allgemein, daß Dua wenig erfuhr. »Nur eine Maschine, Dua«, sagten sie. »Odeen kann dir das sicher erklären.«
Sie fragte sich, ob sie bei ihren Ausflügen wohl auch Estwald begegnet war. Sie wagte es nicht, nach dem Namen der Hartlinge zu fragen, die sie da unten traf (außer Losten, dem Odeen sie vorgestellt hatte und von dem sie schon viel gehört hatte). Manchmal wollte ihr scheinen, daß dieser oder jener Hartling Estwald sein könnte. Odeen sprach mit großer Ehrfurcht und einiger Zurückhaltung von ihm.
Sie vermutete, daß er äußerst wichtige Aufgaben hatte und sich nicht in den Höhlen aufhielt, die auch den Weichwesen zugänglich waren.
Aus Odeens Berichten gewann sie nach und nach den Eindruck, daß die Welt dringend Nahrung brauchte. Odeen nannte sie nur sehr selten »Nahrung«. Er bezeichnete sie vielmehr als »Energie« und sagte, das wäre das Wort der Hartlinge dafür. Die Sonne verblaßte und starb, doch Estwald hatte eine Energiequelle entdeckt, die weit entfernt lag, jenseits der Sonne, auch jenseits der sieben Sterne, die am dunklen Nachthimmel leuchteten. (Odeen sagte, die sieben Sterne wären sieben Sonnen, sehr weit entfernt, und es gäbe noch viele andere Sterne, die viel weiter entfernt wären und zu schwach leuchteten, um sichtbar zu sein. Tritt hatte das gehört und gefragt, was für einen Sinn denn die Existenz eines Sternes hätte, wenn er nicht gesehen werden könnte, und er glaubte überhaupt kein Wort davon. Odeen hatte auf seine geduldige Art erwidert: »Aber Odeen!« Dua, die eigentlich eine ähnliche Frage stellen wollte, hatte es sich daraufhin anders überlegt.)
Wie es im Augenblick aussah, gab es wieder ausreichend Energie, ausreichend Nahrung, bis in alle Ewigkeit — jedenfalls sobald es Estwald und den anderen Hartlingen gelang, der neuen Energie den richtigen Geschmack zu geben.
Erst vor wenigen Tagen hatte Dua zu Odeen gesagt: »Erinnerst du dich noch, als du mich in die Hart-Höhlen führtest und ich die Hartlinge erfühlte und dabei das Bild einer großen Sonne aufnahm?«
Odeen starrte sie einen Augenblick verwirrt an. »Ich bin nicht sicher. Aber weiter, Dua. Was ist damit?«
»Ich habe nachgedacht. Ist diese Sonne vielleicht die Quelle der neuen Energie?«
»Das ist gut, Dua«, hatte Odeen aufgeregt gesagt. »Es stimmt nicht ganz, aber für einen Gefühlsling ist das eine sehr gute Schlußfolgerung.«
Während sie all diesen Erinnerungen nachhing, war Dua langsam und bedrückt weitergezogen, ohne sich um Zeit und Umgebung zu kümmern, und sie machte sich erst jetzt klar, daß sie die Hart-Höhlen erreicht hatte. Sie begann gerade zu überlegen, ob sie sich nun lange genug herumgetrieben hatte und lieber nach Hause gehen und Tritts unvermeidlichen Ärger auf sich nehmen sollte, als sie plötzlich — als habe der Gedanke an Tritt die Wahrnehmung ausgelöst Tritt erspürte.
Das Gefühl war so stark, daß sie nur einen verwirrten Augenblick lang glaubte, seine Gefühle aus der fernen Wohnhöhle wahrzunehmen. Nein! Er war hier, hier unten in den HartHöhlen ganz in ihrer Nähe!
Aber was wollte er hier? Verfolgte er sie? Wollte er sich hier mit ihr streiten? War er so dumm, sich an die Hartlinge zu wenden? Dua hätte es nicht ertragen…
Und dann schwächte sich das kalte Entsetzen ab und machte schierem Erstaunen Platz. Tritt dachte überhaupt nicht an sie! Er war sich ihrer Gegenwart überhaupt nicht bewußt. Sie erspürte in ihm nur eine überwältigende Entschlossenheit, vermischt mit Angst und Sorge um etwas, das er tun wollte.
Dua hätte jetzt weiter vordringen und in Erfahrung bringen können, was er da tun wollte und warum — doch nichts lag ihr in diesem Augenblick ferner. Da Tritt von ihrer Anwesenheit nichts ahnte, hatte sie nur eins im Sinn — daß sie weiter unbemerkt blieb.
Was sie nun tat, war eine reine Reflexhandlung, etwas, das sie eben noch für völlig unmöglich gehalten hätte.
Daß es dazu kam, lag vielleicht auch (wie sie sich hinterher überlegte) an ihren Erinnerungen an das Mädchengeschwätz mit Doral und an ihren frühen Versuchen mit Felsreiben. (Es gab ein kompliziertes Erwachsenenwort dafür, das sie tausendmal unangenehmer fand als das Wort, das sie als Kinder immer benutzt hatten.)
Ohne zu wissen, was sie da tat, ohne sofort zu merken, was sie getan hatte, floß sie einfach in die nächste Wand.
In die Wand! Restlos!
Das Entsetzen, das dieser Vorgang in ihr auslöste, wurde sofort gemäßigt durch die vollkommene Art und Weise, mit der er seinen Zweck erfüllte. Tritt kam fast in Reichweite vorbei und merkte überhaupt nicht, daß er an einer Stelle nur einen Ausläufer hätte auszustrecken brauchen, um seinen Mittling zu berühren.
Die Frage, was Tritt hier in den Hart-Höhlen tat, wenn er sie nicht verfolgte, war nun plötzlich völlig nebensächlich.
Sie vergaß Tritt überhaupt.
Sie war vielmehr von höchstem Erstaunen über ihre Lage erfüllt. Selbst als Kind war sie niemals völlig mit einem Felsen verschmolzen und hatte auch niemanden gekannt, der so etwas zugegeben hätte (obwohl natürlich Geschichten dieser Art kursierten). Auf keinen Fall hatte ein erwachsener Gefühlsling jemals so etwas getan und war auch nicht in der Lage dazu. Dua war ungewöhnlich durchscheinend (wie ihr Odeen immer wieder stolz bestätigte), was durch ihre mangelnde Ernährung (wie Tritt oft sagte) nur noch gefördert wurde.
Was sie da eben getan hatte, war ein handfesterer Beweis für ihre Dürre als jede denkbare Schelte ihres Rechtslings, und einen Augenblick lang schämte sie sich, und Tritt tat ihr wirklich leid.
Doch dann überflutete sie eine noch heftigere Scham. Wenn sie nun erwischt wurde? Sie, eine Erwachsene…
Wenn etwa ein Hartling vorbeikam und stehenblieb… Sie konnte unmöglich aus dem Felsen hervorkommen, wenn jemand zuschaute. Aber wie lange konnte sie bleiben? Und wenn sie nun entdeckt wurde?
Und noch während sie darüber nachdachte, spürte sie die Hartlinge und erkannte dann auch, daß sie weit entfernt waren.
Sie hielt inne, versuchte sich zu beruhigen. Das Gestein, das sie umgab und durchdrang, legte einen grauen Schimmer über ihre Wahrnehmung, ohne sie sonst im geringsten zu beeinträchtigen. Eher war alles noch deutlicher. Sie spürte noch immer Tritts geruhsamen Marsch nach unten, als ginge sie neben ihm, und sie erfühlte die Hartlinge, obwohl sie sich im nächsten Höhlenkomplex aufhielten. Sie sah die Hartlinge, jeden einzelnen von ihnen, jeden an seinem Platze, und spürte die Vibrationen ihres Gesprächs, und sie erfaßte sogar bruchstückweise, was da gesprochen wurde.
Noch nie waren ihre Wahrnehmungen so deutlich gewesen.
Obwohl sie den Fels nun also ohne Sorge verlassen konnte, daß sie beobachtet wurde, blieb sie an Ort und Stelle; teilweise vor Erstaunen, teilweise aus Freude über ihre seltsame Fähigkeit und aus dem Wunsch heraus, das Neue weiter zu erproben.
Ihr gesteigertes Empfindungsvermögen ließ sie sogar erkennen, warum sie das alles erspürte. Odeen hatte ihr immer wieder gesagt, wie leicht ihm nach einem Verschmelzen das Begreifen fiel, auch wenn er vorher überhaupt nichts verstanden hatte. Der Zustand des Verschmelzens brachte also eine unglaublich erhöhte Empfindsamkeit — es wurde mehr absorbiert, mehr verarbeitet. Das alles lag an der größeren Atomdichte während des Verschmelzens, hatte Odeen gesagt.
Obwohl Dua nicht sicher war, was »größere Atomdichte« bedeutete, wußte sie, daß sich dieser Zustand beim Verschmelzen ergab, was ihrer derzeitigen Lage nicht unähnlich war, hatte sie sich doch mit dem Gestein verschmolzen.
Wenn die Triade verschmolz, flössen alle Wahrnehmungsimpulse Odeen zu. Der Denkling absorbierte sie, gewann an Intelligenz und behielt das neue Begriffsvermögen auch nach der Trennung bei. Aber hier stellte nun Dua das einzige Bewußtsein. Nur sie und das Gestein waren beteiligt. Von der »größeren Atomdichte« (die es doch hier gewiß gab) konnte also nur sie profitieren.
(Wurde das Felsreiben deshalb als Perversion angesehen? Wurden deshalb die Gefühlslinge davor gewarnt? Oder lag es nur an Duas besonders durchscheinender Substanz, daß sie in den Felsen eindringen konnte? Oder weil sie ein LinksG war?)
Doch nun gab Dua die wilden Vermutungen auf und konzentrierte sich fasziniert auf ihre Sinne. Sie merkte nur nebenbei, daß Tritt zurückkehrte, an ihr vorbeiging und in die Richtung verschwand, aus der er gekommen war. Sie merkte nur nebenbei ohne die geringste Überraschung zu empfinden, daß auch Odeen aus den Hart-Höhlen heraufkam. Sie konzentrierte sich völlig auf die Hartlinge und versuchte ihren Wahrnehmungssinn noch besser wirken zu lassen, versuchte das Beste daraus zu machen.
Erst spät löste sie sich aus dem Gestein und schwebte wieder frei. Und da war es ihr gar nicht mehr so wichtig, ob sie nun beobachtet wurde oder nicht. Sie verließ sich schon so weit auf ihre neue Fähigkeit, daß das nicht der Fall sein würde.
Gedankenverloren kehrte sie nach Hause zurück.
Odeen kehrte nach Hause zurück, wo Tritt bereits auf ihn wartete. Dua war noch nicht da. Tritt schien sich darüber nicht weiter aufzuregen. Er war zwar aufgeregt, aber nicht darüber. Seine Gefühle strahlten so stark, daß Odeen sie deutlich wahrnahm; doch er ging ihnen nicht weiter nach. Duas Abwesenheit machte Odeen unruhig; und es wurde bald so schlimm, daß ihn Tritts Anwesenheit ärgerte, nur weil Tritt nicht Dua war.
Das überraschte ihn. Er konnte nicht leugnen, daß ihm eigentlich Tritt lieber war als Dua. Im Idealfalle bildeten die Mitglieder einer Triade eine Einheit, in der jedes Mitglied die anderen beiden genau gleich behandelte. Doch kannte Odeen keine Triade, in der das der Fall war; am wenigsten in den Gemeinschaften, die sich in dieser Beziehung lautstark als vollkommen bezeichneten. Einer der drei stand im allgemeinen etwas außerhalb und wußte das meistens auch.
Allerdings war es selten der Gefühlsling. Die Gefühlslinge halfen sich über die Grenzen der Triaden hinweg gegenseitig — was Denklinge und Elterlinge niemals taten. Der Denkling hat seine Lehrer, lautete ein Sprichwort, und der Elterling seine Kinder — doch der Gefühlsling hat alle anderen Gefühlslinge.
Die Gefühlslinge unterhielten sich oft über ihre Erlebnisse, und wenn einer eine Vernachlässigung anzeigen konnte, wurde er mit genauen Anweisungen nach Hause geschickt, wo er die Stellung behaupten und Forderungen anmelden mußte! Und da das Verschmelzen sehr vom Gefühlsling und seiner Einstellung abhing, wurde von Links und Rechts gewöhnlich schnell nachgegeben.
Aber Dua war ein so untypischer Gefühlsling! Es schien ihr gleichgültig zu sein, daß sich Odeen und Tritt so nahestanden, und sie hatte keine guten Freundinnen unter den anderen Gefühlslingen, die ihr diese Gleichgültigkeit ausgetrieben hätten. Ja, das war es: Dua war ein so untypischer Gefühlsling. Odeen mochte es sehr, wenn sie sich für seine Arbeit interessierte, und freute sich über ihren Einsatz und ihre erstaunliche Lernfähigkeit; aber das war nur eine intellektuelle Liebe. Seine tieferen Gefühle galten dem geradlinigen, dummen Tritt, der seinen Platz genau kannte und der außer dem absolut Notwendigen so wenig zu bieten hatte — die Sicherheit bewährter Routine.
Doch jetzt war Odeen ungeduldig. »Hast du nicht von Dua gehört, Tritt?« fragte er.
Tritt antwortete nicht direkt. »Ich habe zu tun. Wir sprechen später noch. Ich bin sehr beschäftigt gewesen«, sagte er nur.
»Wo sind die Kinder? Bist du auch irgendwo unterwegs gewesen? Du hast eine ganz seltsame Aura.«
Leiser Ärger schlich sich in Tritts Stimme: »Die Kinder sind wohlerzogen. Sie können auch mal allein in die Gemeinschaftsaufsicht gehen. Also wirklich, Odeen, sie sind keine Babies mehr.« Doch die seltsame Aura stritt er nicht ab.
»Es tut mir leid. Ich will ja nur, daß Dua kommt.«
»Die Sehnsucht solltest du öfter haben«, meinte Tritt. »Du sagst mir immer, ich soll sie in Ruhe lassen. Nun geh sie auch suchen.« Und er verschwand im Hintergrund der Wohnhöhle.
Odeen schaute seinem Rechtsling überrascht nach. Normalerweise wäre er dem anderen jetzt gefolgt, um die ungewöhnliche Unruhe zu erkunden, die sich da durch die angeborene Schwerfälligkeit des Elterlings bemerkbar machte. Was hatte Tritt angestellt?
Aber er wartete auf Dua, wobei er von Sekunde zu Sekunde nervöser wurde — und er ließ Tritt in Ruhe.
Die Sorge schärfte Odeens Empfindungsvermögen. Im allgemeinen waren Denklinge fast stolz auf ihre unzureichende Wahrnehmung. Sie war keine Sache des Geistes; sie war Sache der Gefühlslinge. Odeen war ein hochgradiger Denkling und legte Wert auf logisches Denken und nicht auf Gefühl — trotzdem schickte er nun mit aller Kraft das unvollkommene Netz seiner Gefühlswahrnehmung aus und wünschte sich einen kurzen Augenblick, Gefühlsling zu sein, damit er seine Reichweite erhöhen und besser beobachten konnte.
Schließlich erfüllten seine Gaben doch ihren Zweck. Schwach machte er Duas Annäherung aus, in einer für ihn ungewöhnlichen Entfernung; und er eilte ihr entgegen. Und da er sie so weit entfernt bemerkte, war er sich ihrer durchscheinenden Struktur auch mehr bewußt als sonst. Sie war eigentlich nur ein Nebelhauch, weiter nichts.
Tritt hatte recht, überlegte Odeen in plötzlicher Sorge. Dua mußte irgendwie zum Essen und Verschmelzen angehalten werden. Ihr Lebensinteresse mußte angeregt werden.
So sehr konzentrierte er sich auf diese Dinge, daß er es als gar nicht ungewöhnlich empfand, als sie ihm jetzt entgegenstürzte und ihn praktisch umhüllte, ohne sich darum zu kümmern, daß sie gar nicht allein waren und beobachtet werden konnten, und schließlich sagte: »Odeen, ich muß alles wissen… ich muß so unendlich viel wissen…« Er nahm diesen Ausbruch als die Fortsetzung seines Gedankens.
Vorsichtig wich er zurück und versuchte sich geziemend zu lösen, ohne zugleich den Eindruck zu erwecken, als stieße er sie zurück. »Komm! Ich habe schon auf dich gewartet. Sag mir, was du wissen willst. Wenn ich kann, werde ich es dir erklären.«
Sie eilten nach Hause, und Odeen paßte sich bereitwillig dem charakteristischen Schlängeln des Gefühlslings an.
»Erzähl mir von dem anderen Universum«, sagte Dua. »Warum ist es anders? Inwiefern ist es anders? Erzähl mir alles darüber!«
Dua kam gar nicht in den Sinn, daß sie da sehr viel verlangte. Odeen, im Bewußtsein seines umfangreichen Wissens, wollte schon fragen: »Woher weißt du so viel über das andere Universum, daß du dich so dafür interessierst?«
Er unterdrückte die Frage. Dua war aus der Richtung der Hart-Höhlen gekommen. Vielleicht hatte Losten mit ihr gesprochen, in der Annahme, daß Odeen trotz allem zu sehr auf seinen Status achtete, um seinem Mittling zu helfen.
O nein, dachte Odeen ernst. Er würde keine Fragen stellen. Er würde nur erklären.
Als sie zu Hause ankamen, eilte Tritt geschäftig hin und her. »Wenn ihr beide euch unterhalten wollt, geht in Duas Zimmer. Ich habe hier draußen zu tun. Ich muß die Kinder waschen und Übungen mit ihnen machen. Keine Zeit zum Verschmelzen. Kein Verschmelzen.«
Weder Odeen noch Dua hatten überhaupt daran gedacht. Dennoch lag es ihnen fern, die Anordnung zu mißachten. Das Heim des Elterlings war seine Burg. Ein Denkling hatte seine Hart-Höhlen, ein Gefühlsling seinen Treffpunkt an der Oberfläche. Der Elterling hatte nur sein Heim.
Odeen erwiderte deshalb: »Ja, Tritt. Wir verschwinden ja schon.«
Und Dua bildete liebevoll einen Ausläufer und sagte: »Wie schön, dich zu sehen, liebster Linksling.« (Odeen fragte sich, ob diese Geste etwa auch darauf zurückzuführen war, daß sie nicht zum Verschmelzen gedrängt wurde. Tritt übertrieb damit immer ein wenig; mehr noch als andere Elterlinge.)
In ihrem Raum starrte Dua auf ihren Eßplatz, den sie gewöhnlich ignorierte.
Das war Odeens Einfall gewesen. Er wußte, daß es so etwas gab, und — wie er Tritt erklärte — wenn Dua nicht mit den anderen Gefühlslingen ausschwärmen wollte, war es ohne weiteres möglich, Sonnenenergie in die Höhle zu leiten, so daß sie hier essen konnte.
Tritt war entsetzt gewesen. So etwas tat man einfach nicht. Da mußten die anderen ja lachen. Die ganze Triade wäre entehrt. Warum tat Dua nicht, was sich gehörte?
»Ja, Tritt«, hatte Odeen erwidert, »aber sie tut nun mal nicht, was sich gehört — warum sollten wir ihr also nicht nachgeben? Ist das so schrecklich? Sie äße dann für sich, gewänne an Substanz und machte uns glücklicher. Sie selbst wäre auch glücklicher und würde dann vielleicht sogar lernen, mit den anderen Gefühlslingen auszukommen.«
Tritt willigte ein, und auch Dua hatte — nach einigem Hin und Her — nichts einzuwenden, bestand jedoch auf einem einfachen Modell, das nur zwei Elektroden für die Sonnenenergie hatte, so angeordnet, daß sich Dua dazwischensetzen konnte.
Dua benutzte das Gerät kaum, doch heute starrte sie es an und sagte: »Tritt hat es geschmückt… oder bist du das gewesen?«
»Ich? Natürlich nicht.«
Einige bunte Lehmstreifen zogen sich um den Fuß der Elektroden. »Ich nehme an, er will mir damit sagen, daß ich sie benutzen soll«, meinte Dua. »Ich bin auch wirklich hungrig. Außerdem würde uns Tritt bestimmt nicht unterbrechen, solange ich esse, oder?«
»Nein«, antwortete Odeen ernst. »Tritt würde sogar die Welt anhalten, wenn er meinte, die Rotation könnte dich beim Essen stören.«
»Also — ich bin wirklich hungrig«, sagte Dua.
Odeen glaubte ein Schuldgefühl aufzufangen. Ein Schuldgefühl wegen Tritt? Wegen ihres Hungers? Warum sollte sich Dua schuldig fühlen, weil sie hungrig war? Oder hatte sie etwas getan, das Energie erforderte, und war nun deshalb…
Ungeduldig schob er den Gedanken beiseite. Es gab Momente, da ein Denkling zu sehr grübelte und sich in seine Überlegungen verrannte, ohne sich noch darum zu kümmern, was wichtig war und was nicht. Im Augenblick kam es nur auf sein Gespräch mit Dua an.
Sie setzte sich zwischen die Elektroden, und als sie sich dazu zusammenfaltete, wurde ihre Winzigkeit ganz offensichtlich. Auch Odeen war hungrig; er sah das an den Enden der Elektroden, die ihm heller vorkamen als gewöhnlich, und noch auf diese Entfernung nahm er den köstlichen Geschmack der Nahrung wahr. Wenn man hungrig war, schmeckte man die Nahrung auf größere Distanz als gewöhnlich… Aber er wollte später essen.
»Sitz da nicht so stumm herum, mein lieber Linksling. Erzähl’s mir. Ich will alles wissen.« Dua hatte (unbewußt?) die ovale Form eines Denklings angenommen, wie um damit zu dokumentieren, daß sie als Denkling angesehen werden wollte.
»Alles kann ich dir unmöglich erklären, Dua. Die Wissenschaft, meine ich, denn dir fehlt doch das Grundwissen. Ich will mich möglichst einfach ausdrücken, und du hörst erst einmal zu. Hinterher sagst du mir dann, was du nicht verstanden hast, und ich versuche das dann zu erklären. Zunächst weißt du sicherlich, daß alle Materie aus winzigen Partikeln besteht, die Atome genannt werden, und daß diese aus noch kleineren Bausteinen bestehen.«
»Ja, ja«, antwortete Dua. »Deshalb können wir ja verschmelzen.«
»Genau. Denn wir bestehen in Wirklichkeit hauptsächlich aus leerem Raum. Alle Partikel sind weit voneinander entfernt, und deine und meine und Tritts Partikel können zusammenkommen, weil jeder Satz in die Leere rings um die Atome der anderen paßt. Daß die Materie nicht restlos auseinanderstrebt, liegt daran, daß die Partikel über die trennenden Entfernungen doch zusammenhalten. Es gibt Anziehungskräfte, die sie halten, von denen die stärkste die sogenannte Atomkraft ist. Sie hält die wesentlichen Elementarteile in sehr festen Gruppen zusammen, die weit verstreut sind und ihrerseits durch schwächere Kräfte verbunden bleiben. Verstehst du das?«
»Nur ein bißchen«, sagte Dua.
»Na ja, macht nichts. Wir können das später noch einmal durchgehen… Die Materie kann in verschiedenen Zustandsformen existieren. Sie kann besonders breit verteilt sein wie in den Gefühlslingen — wie in dir, Dua. In den Denklingen und Elterlingen ist sie nicht ganz so verbreitet. Und noch weniger im Felsgestein. Sie kann aber auch sehr zusammengedrängt oder dicht sein, wie in den Hartlingen. Deshalb sind sie auch hart. Sie sind mit Partikeln angefüllt.«
»Du meinst, es ist überhaupt kein leerer Raum in ihnen?«
»Nein, das meine ich nicht«, erwiderte Odeen, der nicht recht wußte, wie er das Problem noch verdeutlichen sollte. »Sie haben auch noch viel freien Raum in sich, aber nicht soviel wie wir. Partikel brauchen einen bestimmten freien Raum, und wenn sie nur wenig davon haben, können sich andere Partikel nicht dazwischendrängen. Wenn trotzdem andere Teilchen hineingezwängt werden, tut es weh. Deshalb lassen sich die Hartlinge auch nicht gern von uns berühren. Wir Weichwesen haben mehr Platz zwischen unseren Partikeln, als wir eigentlich brauchen — also passen noch andere Partikel hinein.«
Dua machte nicht gerade den Eindruck, als hätte sie alles verstanden.
Odeen sprach hastig weiter. »Im anderen Universum sind die Regeln anders. Die Atomkraft ist dort nicht so groß wie bei uns. Das bedeutet, daß die Partikel mehr Platz brauchen.«
»Wieso?«
Odeen schüttelte den Kopf. »Weil… weil… die Wellensysteme der Partikel weiter ausgebreitet sind. Ich kann es nicht anders erklären. Bei einer schwächeren Atomkraft brauchen die Partikel Platz, und zwei Materiestückchen können nicht so leicht miteinander verschmelzen wie in unserem Universum.«
»Können wir denn das andere Universum sehen?«
»O nein. Das ist unmöglich. Wir können es allenfalls aus seinen grundlegenden Gesetzen ableiten. Unternehmen können die Hartlinge allerdings eine Menge. Wir können Materie hinüberschicken und erhalten andere Materie im Austausch. Wir können ihre Materie untersuchen, weißt du. Und wir können die Positronenpumpe errichten. Darüber weißt du doch Bescheid, oder?«
»Nun, du hast mir erzählt, daß sie uns mit Energie versorgt. Aber ich wußte nicht, daß sie mit einem anderen Universum zu tun hat…Wie ist denn das andere Universum? Hat es auch Sterne und Welten wie wir?«
»Das ist eine ausgezeichnete Frage, Dua.« Nachdem er nun die offizielle Sprecherlaubnis hatte, machte Odeen das Lehren viel mehr Spaß. (Vorher hatte er immer das Gefühl gehabt, einer heimlichen Perversion Vorschub zu leisten, indem er einem Gefühlsling solche Dinge zu erklären versuchte.)
Er fuhr fort: »Wir können das andere Universum nicht sehen, aber wir können aus seinen Gesetzen schließen, wie es aussieht. Siehst du, was die Sterne zum Leuchten bringt, ist der allmähliche Übergang von einfachen Partikelkombinationen zu komplizierteren Formationen. Wir nennen das Atomverschmelzung.«
»Gibt es das im anderen Universum auch?«
»Ja, aber weil die Atomkraft dort geringer ist, erfolgt die Verschmelzung auch viel langsamer. Das bedeutet, daß die Sterne im anderen Universum viel, viel größer sein müssen, weil es sonst nicht genügend Verschmelzung geben würde, um sie zum Leuchten zu bringen. Ein Stern, der im anderen Universum so groß wie unsere Sonne wäre, müßte dort kalt und tot sein. Wenn andererseits die Sterne bei uns größer wären, als sie es sind, würde die Verschmelzung sofort zur Explosion führen. Daraus folgert, daß es in unserem Universum tausendmal mehr kleine Sterne geben muß, als es größere Sterne im anderen Universum gibt…«
»Wir haben doch nur sieben…« begann Dua und fügte dann hinzu: »Oh, ich hatte vergessen…«
Odeen lächelte nachsichtig. Man vergaß leicht die unzähligen Sterne, die nur durch Spezialinstrumente zu sehen waren. »Schon gut. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, daß ich dich mit all dem Zeug langweile.«
»Du langweilst mich nicht«, sagte Dua. »Ich finde das alles großartig. Dabei schmeckt es mir sogar.« Und sie erschauderte wohlig zwischen den Elektroden.
Odeen, der Dua noch niemals hatte positiv über das Essen sprechen hören, war von ihren Worten sehr angetan. Er sagte: »Natürlich lebt unser Universum nicht so lange wie das andere. Die Verschmelzung läuft so schnell ab, daß nach einer Million Lebensspannen alle Partikel miteinander verbunden sind.«
»Aber da gibt es doch noch so viele andere Sterne.«
»Ah, die entwickeln sich doch alle gleichzeitig fort! Das ganze Universum stirbt. Im anderen Universum, das viel weniger Sterne hat und größere dazu, geht die Verschmelzung so langsam vor sich, daß die Sterne tausendmal, millionenmal länger leben als die unseren. Es läßt sich kaum vergleichen, weil vielleicht auch die Zeit in den beiden Universen unterschiedlich abläuft.« Er fügte widerstrebend hinzu: »Das verstehe ich übrigens auch nicht ganz. Es gehört mit zur Estwaldschen Theorie, doch ich habe mich damit noch nicht weiter befaßt.«
»Hat Estwald das alles herausgefunden?«
»Jedenfalls einen großen Teil.«
»Es ist wunderbar«, sagte Dua, »daß wir Nahrung aus dem anderen Universum bekommen. Ich meine, dann ist es ja egal, ob unsere Sonne verlöscht. Wir könnten uns dann aus dem anderen Universum ernähren.«
»Richtig.«
»Aber ergibt sich dabei denn gar nichts Schlimmes? Ich habe das das Gefühl, daß etwas Schlimmes passieren könnte.«
»Nun«, antwortete Odeen, »mit der Positronenpumpe transportieren wir Materie hin und her, und das heißt, daß sich die Universen ein wenig vermischen. Unsere Atomkraft wird etwas abgeschwächt, so daß sich die Verschmelzung in unserer Sonne verlangsamt und die Sonne ein wenig schneller abkühlt…Aber nur ein wenig, und wir brauchen sie ja sowieso nicht mehr.«
»Das ist es nicht, das Schlimme. Wenn die Atomkraft um eine Winzigkeit kleiner wird, nehmen die Atome doch mehr Platz ein, richtig? Was wird dann aus dem Verschmelzen?«
»Das würde ein wenig erschwert. Aber es müßte viele Millionen Lebensspannen dauern, bis sich das irgendwie bemerkbar macht. Selbst wenn das Verschmelzen eines Tages unmöglich wäre und die Weichwesen aussterben müßten, geschähe das doch sehr lange nach dem Zeitpunkt, da wir alle verhungern — wenn wir uns nicht das andere Universum zunutze machen.«
»Das ist immer noch nicht das schlimme Gefühl, das ich habe…« Duas Worte wurden undeutlich. Sie zappelte zwischen den Elektroden herum, und Odeen stellte erfreut fest, daß sie merklich größer und kompakter geworden war. Es war, als ob nicht nur die Nahrung, sondern auch seine Worte zu ihrer Energiebildung beitrugen.
Losten hatte recht! Das Lernen gab ihr größere Lebensfreude. Odeen spürte eine Art Sinnlichkeit, die Dua bisher selten gezeigt hatte.
»Es ist so nett von dir, daß du mir das alles erklärst, Odeen«, sagte sie. »Du bist ein guter Linksling.«
»Soll ich weitermachen?« fragte Odeen, der geschmeichelter war, als er es für möglich gehalten hätte. »Hast du sonst noch eine Frage?«
»Oh, viele Fragen, Odeen, aber — aber nicht jetzt. Nicht jetzt, Odeen. Odeen, weißt du, was ich gern möchte?«
Odeen erriet es sofort, doch er wagte es nicht offen auszusprechen. Duas erotische Momente waren zu selten, als daß sie durch eine unvorsichtige Reaktion gefährdet werden durften. Er hoffte, Tritt hatte sich nicht so weit mit den Kindern eingelassen, daß die gute Gelegenheit ungenutzt verstreichen mußte. Doch Tritt war bereits im Zimmer. Hatte er vor der Tür gewartet? Egal. Zum Nachdenken war jetzt keine Zeit.
Dua war zwischen den Elektroden hervorgeschwebt, und Odeens Sinne waren von ihrer Schönheit bezaubert. Sie hing zwischen ihnen, und durch sie schimmerte Tritt, dessen Umrisse eine unglaubliche Färbung angenommen hatten.
Noch niemals war es so gewesen. Niemals.
Odeen hielt sich verzweifelt zurück, ließ seine Substanz nur Atom um Atom durch Dua hindurch in Tritt hineinfließen, versuchte mit aller Kraft die überwältigende Durchdringung Duas zurückzuhalten, gab sich der Ekstase nicht hin, sondern ließ sie sich abringen, klammerte sich bis zum letzten Augenblick an sein Bewußtsein und verging dann in einer Explosion des Entzückens, die so intensiv war, daß sie endlos in ihm widerhallte.
Noch nie hatte die Triade eine so lange Periode des Verschmelzens erlebt.
Tritt war glücklich. Das Verschmelzen war so befriedigend gewesen! Im Vergleich dazu erschienen frühere Erlebnisse fad und leer. Er war auf das höchste entzückt. Trotzdem sagte er nichts. Er hielt es für besser, zu schweigen.
Auch Odeen und Dua waren glücklich. Tritt spürte das. Sogar die Kinder schienen zu schimmern.
Aber Tritt war der glücklichste — ganz natürlich.
Er hörte Odeen und Dua zu. Er verstand kein Wort, aber darauf kam es nicht an. Es machte ihm nichts aus, daß sie offenbar so gut miteinander auskamen. Er hatte seine Freude und war mit seiner Rolle als Zuhörer vollauf zufrieden. »Und bemühen sie sich wirklich um Kommunikation?« fragte Dua.
(Tritt bekam nie heraus, wer diese »sie« sein mochten. Er vermutete, daß »Kommunikation« ein anderes Wort für »Kontakt« war. Warum sagten sie dann nicht »Kontakt«? Manchmal war er versucht, sich in das Gespräch einzuschalten. Aber wenn er Fragen stellte, sagte Odeen nur immer: »Also, Tritt«, und Dua wirbelte ungeduldig herum.)
»O ja«, antwortete Odeen. »Die Hartlinge sind ganz sicher. Da sind manchmal Zeichen auf der Materie, die uns geschickt wird, und man könnte sich damit wohl ohne weiteres verständigen. Vor langer Zeit wurden solche Zeichen sogar auf umgekehrtem Wege verwendet, als wir den Ander-Wesen erklären mußten, wie sie ihren Teil der Positronenpumpe bauen sollten.«
»Ich möchte gern wissen, wie diese Ander-Wesen aussehen. Was meinst du, wie sehen sie aus?«
»Von den Naturgesetzen können wir die Eigenschaften der anderen Sterne ableiten, das ist einfach. Aber wie ließen sich Form und Eigenarten der Lebewesen bestimmen? Nein, das erfahren wir niemals.«
»Könnten sie uns nicht sagen, wie sie aussehen?«
»Wenn wir ihre Zeichen verstünden, vielleicht. Aber wir verstehen sie nicht.«
Dua schien betrübt. »Nicht einmal die Hartlinge?«
»Ich weiß es nicht. Wenn sie sie verstehen, haben sie es mir jedenfalls nicht gesagt. Losten sagte einmal, es käme nicht darauf an, wie die anderen aussehen, solange nur die Positronenpumpe arbeitete und erweitert würde.«
»Vielleicht wollte er dich nur loswerden.«
»Ich störe ihn nicht«, entgegnete Odeen gekränkt.
»Du weißt schon, was ich meine. Er wollte dir nicht alle Einzelheiten verraten.«
An dieser Stelle konnte Tritt nicht länger zuhören. Die Diskussion drehte sich noch eine ganze Weile um die Frage, ob die Hartlinge Dua einen Blick auf die Zeichen werfen lassen sollten oder nicht. Dua meinte, sie könnte die Bedeutung der Zeichen vielleicht erspüren.
Das machte Tritt ein wenig ärgerlich. Schließlich war Dua nur ein Weichwesen und noch nicht einmal ein Denkling. Er begann sich zu fragen, ob Odeen recht daran tat, ihr so viel zu verraten. Dua entwickelte immer so komische Vorstellungen…
Auch Odeen regte sich auf, Dua merkte es deutlich. Zuerst lachte er nur, dann sagte er, daß ein Gefühlsling derart komplizierte Dinge kaum bewältigen könnte. Dann wollte er nichts mehr davon hören. Dua mußte eine ganze Zeit sehr nett zu ihm sein, ehe er sich schließlich doch herumkriegen ließ.
Einmal war auch Dua ärgerlich — sogar außerordentlich wütend.
Es fing ganz normal an. Sogar die Kinder waren dabei. Odeen tollte mit ihnen herum. Er schien nichts dagegen zu haben, daß der kleine Rechtsling Torum an ihm herumzerrte. Überhaupt ließ er sich ganz ungehörig gehen. Es schien ihm gar nichts auszumachen, völlig die Form verloren zu haben — ein sicheres Zeichen, daß er sich vergnügte. Tritt verharrte geruhsam in einer Ecke und war ebenfalls sehr zufrieden mit der Szene.
Dua belachte Odeens Verformungen. Kokett berührte sie Odeens zerdehnte Substanz. Sie wußte genau, überlegte Tritt, daß die Oberfläche eines Linkslings, wenn sie nicht ihre normale Rundung aufwies, sehr empfindlich war.
»Ich habe nachgedacht, Odeen«, sagte sie. »Wenn die Gesetze des anderen Universums durch die Positronenpumpe ein wenig zu uns herübergedrückt werden, gelangen dann nicht auch unsere Gesetze im gleichen Maße in das andere Universum?«
Bei Duas Berührung heulte Odeen auf und versuchte ihr auszuweichen, ohne die beiden Kleinen umzuwerfen. Er keuchte: »Ich kann dir das erst beantworten, wenn du damit aufhörst, du Mitt-Hexe!«
Sie hörte auf, und er sagte: »Das war ein sehr guter Gedanke, Dua. Du bist ein erstaunliches Wesen. Es stimmt natürlich. Die Vermischung spielt sich in beiden Richtungen ab… Tritt, bring doch mal die Kleinen fort, ja?« Aber sie eilten schon von allein hinaus. So klein waren sie auch nicht mehr. Annis begann bald mit der Schule, und Torum hatte schon viel von der Klobigkeit eines Elterlings.
Tritt blieb und überlegte, daß Dua doch sehr schön aussah, wenn Odeen sich so mit ihr unterhielt.
»Wenn die anderen Gesetze die Sonnen bei uns verlangsamen und abkühlen«, sagte Dua, »müssen dann unsere Gesetze die Sonnen drüben nicht anfeuern und aufheizen?«
»Genau, Dua. Ein Denkling hätte es nicht besser sagen können.«
»Wie sehr werden denn die Sonnen im anderen Universum erhitzt?«
»Oh, nicht viel; nur ein bißchen, ein kleines bißchen.«
»Aber eben um diesen Punkt dreht sich mein ungutes Gefühl, Odeen.«
»Na ja, das Problem liegt darin, daß die Sonnen drüben so riesig sind. Wenn unsere kleinen Sonnen ein wenig abkühlen, macht das nichts. Es wäre sogar egal, wenn sie völlig erkalteten, solang wir die Positronenpumpe haben. Wenn riesige Sterne jedoch nur ein wenig heißer werden, bringt das Probleme. In jedem dieser Sterne ist so viel Materie, daß eine Intensivierung der Atomverschmelzung eine Explosion zur Folge hat.«
»Explosion! Aber was passiert dann mit den Wesen?«
»Mit welchen Wesen?«
»Den Wesen im anderen Universum!«
Einen Augenblick lang starrte Odeen sie verständnislos an. Dann sagte er: »Ich weiß es nicht.«
»Nun, was würde bei einer Explosion unserer Sonne geschehen?«
»Die könnte unmöglich explodieren.«
(Tritt fragte sich, was die ganze Aufregung sollte. Wie konnte eine Sonne explodieren? Dua schien immer wütender zu werden, und Odeen beäugte sie verwirrt.)
»Nehmen wir einmal an, sie würde explodieren«, beharrte Dua. »Würde es dann hier sehr heiß werden?«
»Ich nehme es an.«
»Würden wir alle daran sterben?«
Odeen zögerte und erwiderte dann mit deutlichem Unwillen: »Was für einen Unterschied macht es denn, Dua? Unsere Sonne explodiert nicht, und nun stell keine dummen Fragen mehr.«
»Du hast mich selber aufgefordert, Fragen zu stellen, Odeen, und es macht einen Unterschied, denn die Positronenpumpe arbeitet in beiden Richtungen. Wir brauchen das andere Ende ebenso wie das unsere.«
Odeen starrte sie an: »Das hast du aber nicht von mir.«
»Ich fühle es.«
»Du fühlst sehr viel, Dua…«
Aber Dua hatte zu schreien begonnen. Sie war völlig außer sich. Noch nie hatte Tritt sie so erlebt. Sie brüllte: »Versuch nicht das Thema zu wechseln, Odeen. Und zieh dich nicht auf deinen Gipfel zurück und versuch mich zum Narren zu stempeln — wieder mal so ein typischer Gefühlsling! Du hast selbst gesagt, ich wäre fast ein Denkling, und das stimmt jedenfalls so weit, daß ich erkenne, daß die Positronenpumpe ohne die Ander-Wesen nicht funktionieren würde. Wenn die Wesen in dem anderen Universum vernichtet werden, kommt die Positronenpumpe zum Stillstand. Unsere Sonne ist dann kälter denn je, und wir alle verhungern. Hältst du das wirklich für unwichtig?«
Odeen brüllte jetzt ebenfalls: »Das zeigt mal wieder, wie wenig du wirklich begreifst. Wir brauchen die Hilfe der anderen, weil die Energie drüben nur in niedriger Konzentration vorhanden ist und wir deshalb Materie austauschen müssen. Wenn die Sonne im anderen Universum explodiert, gibt es einen gewaltigen Energiestrom, einen riesigen Energiesturz, der eine Million Lebensspannen langt. Energie wäre dann so überreichlich vorhanden, daß wir sie ohne Materieaustausch direkt anzapfen könnten. Also brauchen wir die anderen nicht. Und es ist ganz egal, was mit ihnen passiert…«
Sie berührten sich fast. Tritt war entsetzt. Er mußte wohl schnell etwas sagen, damit sie auseinandergingen, mußte mit ihnen reden. Doch es wollte ihm nichts einfallen. Im nächsten Augenblick wurde er aus seinem Dilemma erlöst.
Vor der Höhle stand ein Hartling. Nein, drei sogar. Sie hatten mehrfach versucht, sich bemerkbar zu machen — doch vergeblich. Tritt kreischte: »Odeen! Dua!«
Dann verstummte er zitternd. Er hatte eine fürchterliche Ahnung, weswegen die Hartlinge gekommen waren. Er beschloß zu verschwinden.
Doch der vorderste Hartling hob einen seiner beständigen, undurchsichtigen Ausläufer und sagte: »Bleib hier.«
Es klang barsch, unfreundlich. In seinem ganzen Leben hatte Tritt noch keine solche Angst gehabt.
Dua war wütend, so wütend sogar, daß sie die Hartlinge kaum wahrnahm. Und diese Wut hatte mehrere Gründe — Gründe, die jeder für sich schon ausgereicht hätten, ihre Gefühle zum Überfließen zu bringen. Es war nicht richtig, daß Odeen sie hatte belügen wollen. Es war nicht richtig, daß eine ganze Welt mit ihren Bewohnern sterben sollte. Nicht richtig auch, daß ihr das Lernen so leicht fiel und daß es ihr bisher stets verwehrt gewesen war.
Nach ihrem ersten Erlebnis im Felsgestein war sie noch zweimal in den Hart-Höhlen gewesen. Noch zweimal hatte sie sich unbemerkt im Fels vergraben und jedesmal neue Erkenntnisse aufgenommen, und jedesmal wenn Odeen ihr etwas erklären wollte, wußte sie schon vorher, was er sagen würde.
Warum konnte man sie nicht unterweisen, so wie Odeen unterwiesen worden war? Warum nur die Denklinge? War denn ihre Lernfähigkeit nur darauf zurückzuführen, daß sie ein LinksG war, ein pervertierter Mittling? Egal, warum konnte man sie nicht trotzdem unterweisen? Es war nicht richtig, ihr das alles vorzuenthalten.
Schließlich drangen die Worte der Hartlinge in ihr Bewußtsein. Losten war da, doch er sagte nichts. Ein fremder Hartling hatte das Wort ergriffen. Sie kannte ihn nicht; sie kannte überhaupt nur wenige Hartlinge.
Der Hartling: »Wer von euch ist kürzlich in den unteren Höhlen, den Hart-Höhlen, gewesen?«
Dua juckte der Trotz. Sollten sie doch über ihr Felsreiben Bescheid wissen! Sollte doch jeder davon erfahren! Ihr war es egal. Sie sagte: »Ich. Sehr oft sogar.«
»Allein?« fragte der Hartling ruhig.
»Allein. Und sehr oft«, schnappte Dua. Tatsächlich war sie nur dreimal unten gewesen, aber das war ihr gleichgültig.
Der Hartling ging darauf nicht ein. Er wandte sich an Tritt und fragte scharf: »Und du, Rechtsling?«
Tritt sagte mit zitternder Stimme: »Ja, Hart-Herr.«
»Allein?«
»Ja, Hart-Herr.«
»Wie oft?«
»Einmal.«
Dua war wütend. Der arme Tritt stellte sich so an — dabei war überhaupt nichts! Sie hatte das Verbrechen begangen und wollte die Folgen nun auf sich nehmen. »Laß ihn in Ruhe«, sagte sie. »Ich bin diejenige, die ihr sucht.«
Der Hartling wandte sich langsam zu ihr um: »Weshalb denn?« fragte er.
»Na, was es eben ist.« Und sie brachte es plötzlich nicht fertig, ihre Tat zu beschreiben, jedenfalls nicht vor Odeen.
»Na ja, ich spreche gleich noch mit dir. Zuerst der Rechtsling… Du heißt Tritt, nicht wahr? Warum bist du allein in die unteren Höhlen gegangen?«
»Um mit Hartling Estwald zu sprechen, Hart-Herr.«
Daraufhin fragte Dua eifrig: »Bist du Estwald?«
»Nein«, antwortete der Hartling knapp.
Odeen schaute sie verärgert an, als machte es ihn verlegen, daß Dua den Hartling nicht kannte. Dua war es egal.
Der Hartling fragte Tritt: »Was hast du aus den unteren Höhlen mitgenommen?«
Tritt schwieg.
»Wir wissen, daß du etwas genommen hast«, fuhr der Hartling fort. »Wir wollen nur wissen, ob du weißt, was es war. Es könnte gefährlich sein.«
Tritt sagte noch immer nichts. Daraufhin schaltete sich Losten mit freundlicher Stimme ein: »Bitte sag es uns, Tritt. Wir wissen ganz sicher, daß du es warst, und wir wollen nach Möglichkeit keine strengen Maßnahmen ergreifen.«
»Ich habe einen Nahrungsball genommen«, murmelte Tritt.
»Ah.« Der erste Hartling ergriff wieder das Wort. »Was hast du damit gemacht?«
Da brach es aus Tritt hervor: »Er war für Dua. Sie wollte nicht essen. Er war für Dua.«
Dua wurde durchscheinend vor Verblüffung.
Der Hartling wandte sich sofort an sie: »Du hast nichts davon gewußt?«
»Nein!«
»Und du auch nicht?« zu Odeen.
Odeen war so reglos, daß er fast erstarrt schien: »Nein, HartHerr.«
Einen Augenblick lang, während sich die drei Hartlinge berieten, war die Luft von unangenehmen Vibrationen erfüllt. Dua wußte nicht, woran es lag, und wollte auch nicht darüber nachdenken, ob etwa das mehrfache Felsreiben sie empfindsamer gestimmt hatte oder ob es an ihrem kürzlichen Gefühlsausbruch lag: jedenfalls erfaßte sie von dem Gespräch — nicht Worte, sondern ganze Begriffe, übergeordnete Bedeutungen.
Die Hartlinge hatten den Verlust schon vor einiger Zeit bemerkt und sich unauffällig umgesehen. Nur widerstrebend hatten sie schließlich die Weichwesen als mögliche Übeltäter in ihre Ermittlungen einbezogen. Zuletzt hatten sie sich mit noch größerem Widerstreben (warum eigentlich? Dua verstand das nicht) auf Odeens Triade konzentriert. Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, daß Odeen so dumm war, die Nahrung zu nehmen, oder daß Dua Verlangen danach gehabt hatte. An Tritt dachten sie zuerst überhaupt nicht.
Dann hatte sich der Hartling, der bisher schweigsam gewesen war, an Tritt erinnert. (Natürlich, überlegte Dua, das war an jenem Tage, als sie zum erstenmal in das Gestein eindrang. Sie hatte ihn damals erspürt und völlig wieder vergessen.)
Es war sehr unwahrscheinlich, aber nachdem alle anderen Möglichkeiten erschöpft waren und das fehlende Objekt mit der Zeit sehr gefährlich geworden war, mußten sie sich nun doch danach erkundigen. Sie hätten gern Estwald gefragt, doch als sich Tritt als möglicher Täter herausschälte, war er gerade nicht erreichbar.
All das erspürte Dua in wenigen Sekunden, und schon wandte sie sich an Tritt, hin und her gerissen zwischen Staunen und Wut.
Losten vibrierte besorgt, daß ja überhaupt kein Schaden angerichtet wäre, daß Dua gut aussähe und das Ganze eigentlich ein sehr nützliches Experiment abgäbe. Der Hartling, mit dem Tritt gesprochen hatte, stimmte ihm zu; der andere äußerte sich noch besorgt.
Dua teilte ihre Aufmerksamkeit zwischen den Hartlingen und Tritt.
Der erste Hartling fragte: »Wo ist der Nahrungsball jetzt, Tritt?«
Tritt zeigte es ihnen.
Er war gut verborgen; die Verbindungen waren grob, aber wirksam.
»Hast du das selbst gemacht, Tritt?« fragte der Hartling weiter.
»Ja, Hart-Herr.«
»Und woher wußtest du, wie so etwas geht?«
»Ich habe es mir unten in den Hart-Höhlen angesehen und machte es genauso.«
»Weißt du nicht, daß du deinem Mittling sehr hättest schaden können?«
»Ich habe doch nicht… Ich wollte nicht… Ich…« Tritt schien nicht weitersprechen zu können. Dann sagte er: »Es sollte ihr nicht weh tun. Sie sollte doch nur essen. Ich habe es in ihr Eßgerät geleitet und die Elektroden geschmückt. Ich wollte, daß sie davon kostet, und sie hat es getan. Sie hat gegessen! Zum erstenmal seit langer Zeit hat sie wirklich gut gegessen. Wir sind hinterher verschmolzen.« Er hielt inne und sagte dann mit lautem Aufschrei: »Sie hatte endlich genug Energie für einen Baby-Gefühlsling! Sie nahm Odeens Samen und gab ihn mir. Er wächst jetzt in mir. Ein Baby-Gefühlsling wächst in nur.«
Dua verschlug es die Sprache. Sie fuhr zurück und raste dann so überstürzt auf die Tür zu, daß ihr die Hartlinge nicht mehr ausweichen konnten. Sie berührte einen Ausläufer des ersten Hartlings, drang tief in ihn ein und zerrte sich mit unangenehmem Geräusch wieder frei.
Der Ausläufer des Hartlings fiel schlaff herab, und sein Ausdruck schien schmerzverzerrt. Odeen wollte ihm ausweichen und Dua verfolgen, doch der Hartling sagte gepreßt: »Laß sie laufen. Es ist schon genug Schaden angerichtet. Wir kümmern uns darum.«
Odeen glaubte einen Alptraum durchzumachen. Dua war fort. Die Hartlinge waren fort. Nur Tritt war noch da; stumm.
Wie hatte das nur geschehen können? überlegte er gequält. Wie hatte Tritt allein in die Hart-Höhlen gefunden? Wie hatte er nur eine Speicherbatterie nehmen können — eine Batterie, die an der Positronenpumpe aufgeladen war und eine weitaus konzentriertere Strahlung abgab als die Sonne. Wie hatte er es wagen können…
Odeen hätte diesen Mut nicht aufgebracht. Wie aber Tritt, der unsichere, unwissende Tritt? Oder war er auf seine Weise ebenso ungewöhnlich wie die anderen? Odeen, der schlaue Denkling. Dua, der neugierige Gefühlsling, und Tritt, der mutige Elterling?
»Wie hast du das nur tun können?« fragte er schließlich.
Tritt erwiderte hitzig: »Was habe ich denn getan? Ich habe ihr zu essen gegeben. Sie hat besser gegessen als jemals zuvor. Jetzt haben wir endlich einen Baby-Gefühlsling. Haben wir nicht lange genug darauf gewartet? Wir hätten ewig warten können, wenn es nach Dua gegangen wäre.«
»Aber verstehst du denn nicht, Tritt? Du hättest ihr weh tun können. Das war kein gewöhnliches Sonnenlicht. Es war eine Strahlenquelle aus dem Versuchslabor. Sie hätte leicht zu stark sein können.«
»Ich verstehe dich nicht, Odeen. Wie kann das schädlich sein? Ich hatte die Nahrung der Hartlinge doch längst gekostet. Du auch. Sie schmeckte nicht gut, und sie tat auch nicht weh. Sie schmeckte so schlecht, daß Dua nichts davon wissen wollte. Dann fand ich den Nahrungsball. Er schmeckte gut. Ich aß davon, und es schmeckte köstlich. Wie kann etwas Köstliches weh tun? Dua hat dann ja auch davon gegessen. Es gefiel ihr. Und damit ist der Baby-Gefühlsling gezeugt. Wie kann ich da etwas Falsches getan haben?«
Odeen gab es auf. »Dua wird sehr wütend sein«, sagte er nur. »Sie wird darüber hinwegkommen.«
»Da bin ich mir nicht so sicher. Tritt, sie ist kein normaler Gefühlsling. Deshalb ist das Zusammenleben mit ihr ja auch so schwer und um so wundervoller, wenn es klappt. Sie wird vielleicht niemals wieder mit uns verschmelzen wollen.«
Tritts Umrisse veränderten sich nicht. Dann sagte er: »Na und?«
»Na und? Das mußt du ausgerechnet fragen! Willst du denn das Verschmelzen aufgeben?«
»Nein, aber wenn sie’s nicht will, will sie’s nicht. Ich habe mein drittes Baby — und es ist mir jetzt egal. Ich weiß wohl, wie das früher mit den Weichwesen war. Da gab es manchmal zwei Kindergenerationen in einer Triade. Aber das ist mir egal. Drei Kinder reichen auch.«
»Aber Tritt, beim Verschmelzen geht es nicht nur um die Babies.«
»Um was denn noch? Ja, ja, ich habe dich mal sagen hören, daß du nach einem Verschmelzen schneller lernst. Na, dann lernst du eben wieder langsamer. Ist mir egal. Ich habe mein drittes Baby.«
Odeen wandte sich ab und verließ zitternd das Zimmer. Was hatte es für einen Sinn, mit Tritt zu schelten? Tritt verstand das alles nicht. Odeen war nicht einmal sicher, daß er selbst es begriff.
Wenn das dritte Baby geboren und ein wenig gewachsen war, kam die Zeit zum Weiterziehen. Er, Odeen, würde dazu das Zeichen geben müssen, er würde den Zeitpunkt bestimmen, und das mußte dann ohne Angst geschehen. Alles andere wäre unehrenhaft oder schlimmer — und doch konnte er dem nicht ohne Verschmelzen entgegensehen, selbst jetzt nicht, da alle drei Kinder gezeugt waren.
Nur das Verschmelzen konnte die Angst lindern, vielleicht weil es auf seine Art schon ein Weiterziehen war. Es löste eine Periode aus, da man nicht bei Bewußtsein war — und doch tat es nicht weh. Es war, als existierte man überhaupt nicht mehr, und doch war es wünschenswert. Durch das Verschmelzen ließ sich der Mut destillieren, ohne Angst weiterzuziehen und ohne…
Oh, Sonne und Sterne, das war kein »Weiterziehen«! Er kannte jenes andere Wort, das nur von Kindern benutzt wurde, wenn sie ihre Eltern schockieren wollten. Es war das Sterben. Er mußte sich wappnen, ohne Furcht zu sterben und Dua und Tritt mit sich zu nehmen.
Und er wußte nicht, wie… Nicht ohne Verschmelzen…
Tritt blieb allein zurück, verängstigt, doch zugleich fest entschlossen, sich nicht beeindrucken zu lassen. Er hatte sein drittes Baby. Er spürte es in seiner Substanz.
Darauf kam es an.
Einzig und allein darauf kam es an.
Warum nagte dann tief drinnen das unbestimmte Gefühl, daß es doch nicht nur darauf ankam?
Dua schämte sich so sehr, daß es fast unerträglich war. Es dauerte lange, bis sie diese Scham überwunden hatte, bis sie sie so weit niedergekämpft hatte, daß sie wieder klar denken konnte. Sie war blindlings davongestürmt — fort, fort von den Schrecknissen der Wohnhöhle, ohne darauf zu achten, wohin sie ging, ohne zu wissen, wo sie überhaupt war.
Es war Nacht — eine Zeit, da sich kein anständiges Weichwesen an der Oberfläche herumtrieb — nicht einmal der kühnste Gefühlsling. Lind der Sonnenaufgang war noch fern. Dua war darüber nur früh. Die Sonne bedeutete Nahrung, und im Augenblick verabscheute sie nichts so sehr wie Nahrung, und sie verabscheute, was ihr da angetan worden war.
Es war auch kalt, was Dua nur am Rande registrierte. Was sollte ihr die Kälte ausmachen, überlegte sie, wenn sie gemästet worden war, damit sie ihre Pflicht tun konnte — gemästet an Geist und Körper. Nach so etwas konnten Kälte und Hunger nur ihre Freunde sein.
Sie durchschaute Tritt. Armes Ding, er war so leicht zu durchschauen in seiner Instinkthaftigkeit. Und er hatte wirklich ein Lob verdient, daß er seine Instinkte so kühn durchgesetzt hatte. Mutig war er mit dem Nahrungsball aus den Hart-Höhlen zurückgekehrt (und sie — sie hatte ihn noch erfühlt und hätte sofort Bescheid gewußt, wenn Tritt nicht von seinem gewagten Tun so überwältigt gewesen wäre, daß er gar nicht daran zu denken wagte; und wenn sie nicht von ihrem gewagten Tun und dem neuen Empfindungsvermögen so überwältigt gewesen wäre, daß sie auf alles andere achtete — nur nicht auf das Wichtige).
Tritt hatte den Nahrungsball unbemerkt in die Höhle gebracht und seine armselige Falle aufgebaut, hatte das Eßgerät garniert, um sie zum Essen zu animieren. Und sie war heimgekommen, erregt von ihrer felsdurchdringenden Zartheit, erfüllt von Scham und von Mitleid mit Tritt. Und die Scham und das Mitleid brachten sie an die Elektroden und trugen zu dem neuen Leben bei. Danach hatte sie wie gewohnt nur wenig gegessen und niemals am Eßgerät — aber nun fehlte auch der rechte Impuls. Tritt hatte sie nicht mehr gedrängt. Er war sichtlich zufrieden (natürlich), und so hatte nichts ihre Scham wieder aufleben lassen. Und Tritt ließ den Nahrungsball an Ort und Stelle. Er wagte ihn nicht wieder fortzunehmen; er hatte, was er wollte; es war das einfachste, ihn einfach liegenzulassen und nicht mehr daran zu denken.
Bis er dann erwischt wurde.
Aber der kluge Odeen mußte Tritts Plan doch durchschaut, mußte die neuen Elektrodenkontakte bemerkt, mußte Tritts Absicht erkannt haben! Zweifellos hatte er Tritt nichts gesagt; das hätte ihn nur erschreckt, und Odeen wachte doch stets liebevoll über den armen Rechtsling.
Natürlich. Odeen brauchte gar nichts zu sagen; er brauchte nur die Lücken in Tritts ungeschicktem Plan auszufüllen, und die Sache klappte.
Dua machte sich keine Illusionen. Sie hätte den Geschmack des Nahrungsballs sofort bemerkt, den besonderen Beigeschmack; sie hätte gemerkt, wie die Nahrung sie anzufüllen begann, ohne ihr zugleich ein Völlegefühl zu geben; sie hätte es bemerkt — wäre da nicht Odeen mit seinem ablenkenden Geschwätz gewesen.
Es war eine Verschwörung der beiden, auch wenn Tritt nur unbewußt daran teilgehabt hatte. Wie hatte sie Odeen sein Spiel als überraschend besorgter Lehrer nur abnehmen können? Wie hatte sie die dahinterstehende Absicht übersehen können? Odeens und Tritts Sorge um sie war die Sorge um die Vervollständigung der neuen Triade — und schon das war ein Zeichen dafür, wie wenig die beiden von ihr hielten.
Nun…
Sie hielt inne, spürte ihre Müdigkeit und duckte sich in eine kleine Felsspalte, die sie vor dem dünnen, kalten Wind schützte. Sie konnte zwei von den sieben Sternen sehen, beobachtete sie geistesabwesend, beschäftigte ihre Sinne mit unwichtigen Dingen, damit sie sich um so mehr auf ihre Gedanken konzentrieren konnte.
Sie hatte ihre Illusionen verloren.
»Verraten!« murmelte sie. »Verraten.«
Dachten die anderen denn nur an sich selbst?
Daß Tritt die Vernichtung der ganzen Welt hingenommen hätte, wenn er und die Babies überlebten, war selbstverständlich. Er war ja auch ein Instinktwesen. Aber Odeen?
Odeen dachte; hieß das, daß er der Schärfung seines Geistes alles andere opfern würde? War alles, was der Verstand hervorbrachte, schon allein dadurch in seiner Existenz gerechtfertigt — um jeden Preis? Mußte die Elektronenpumpe, weil Estwald sie erfunden hatte, so eingesetzt werden, daß ihr die ganze Welt, Hartlinge und Weichwesen gleichermaßen, hilflos ausgeliefert war — und die Wesen im anderen Universum ebenso? Wenn nun die Ander-Wesen plötzlich aufhörten und die Welt dann ohne Elektronenpumpe um eine gefährlich abgekühlte Sonne kreiste…
Nein, sie würden die Pumpe nicht stoppen, diese AnderWesen, denn sie waren dazu gebracht worden, die Sache in Gang zu bringen, und man würde sie weiter am Gängelband führen, bis sie vernichtet waren — und dann wurden sie von den Denklingen, Hartlingen oder Weichwesen, nicht länger benötigt — so wie auch sie, Dua, nun da sie nicht länger benötigt wurde, weiterziehen mußte (oder zerstört wurde).
Sie und die anderen Wesen, beide waren verraten.
Ohne sich dessen bewußt zu sein, schmiegte sie sich immer tiefer in das Gestein. Sie begrub sich, versteckte sich vor den Sternen, vor dem Wind, der Welt entrückt. Nur das Denken erfüllte sie.
Sie haßte Estwald. Er war die Personifizierung der Selbstsucht, der Rücksichtslosigkeit. Er hatte die Positronenpumpe geschaffen und wollte eine Welt mit womöglich Zehntausenden von Bewohnern ohne Gewissensbisse vernichten. Er war allem so weit entrückt, daß er niemals in Erscheinung trat, und so mächtig, daß sich sogar die anderen Hartlinge vor ihm zu fürchten schienen.
Nun denn, sie würde gegen ihn kämpfen. Sie wollte ihn aufhalten.
Den Lebewesen des anderen Universums war es durch irgendwelche Nachrichten ermöglicht worden, bei der Errichtung der Positronenpumpe zu helfen. Odeen hatte davon gesprochen. Wo wurden solche Mitteilungen aufbewahrt? Wie sahen sie wohl aus? Wie konnte man sie für neue Botschaften verwenden?
Es war erstaunlich, wie klar sie denken konnte. Erstaunlich. Der Gedanke, daß sie ihren Verstand einsetzen würde, um grausame Verstandeswesen zu überlisten, bereitete ihr ein wildes Vergnügen.
Niemand konnte sie aufhalten, denn kein Hartling vermochte ihr zu folgen, auch kein Denkling oder Elterling — und ein Gefühlsling hätte es nicht gewagt.
Irgendwann wurde sie vielleicht erwischt, doch im Augenblick war ihr das egal. Sie wollte für ihre Sache kämpfen — um jeden Preis — um jeden Preis, obwohl sie, um das zu erreichen, durch Gestein dringen und darin leben mußte, obwohl sie den Hart-Höhlen ausweichen, die Nahrung, wenn nötig, aus den Speicherbatterien der Hartlinge stehlen oder sich mit den anderen Gefühlslingen herumtreiben und nach Möglichkeit vom Sonnenlicht essen mußte.
Aber sie wollte allen eine Lektion erteilen, und danach konnten sie tun, was ihnen beliebte. Sie war dann sogar zum Weiterziehen bereit — doch erst dann…
Odeen war zugegen, als der neue Baby-Gefühlsling geboren wurde. Obwohl das Kind völlig normal war, brachte er keine rechte Begeisterung auf. Auch Tritt, der sich aufopfernd darum kümmerte, wie es jedem Elterling selbstverständlich war, schien irgendwie bedrückt in seiner Ekstase.
Eine lange Zeit war vergangen, und Dua war und blieb verschwunden. Weitergezogen war sie nicht. Ein Weichwesen konnte nur weiterziehen, wenn ihm die ganze Triade folgte; aber Dua war nicht bei den anderen. Es war, als wäre sie weitergezogen, ohne wirklich weiterzuziehen.
Odeen hatte sie einmal gesehen — nur ein einzigesmal. Das war kurz nach ihrer wilden Flucht gewesen, ihrer Flucht vor der Erkenntnis, daß sie das neue Baby gezeugt hatte.
Er war an einer Gruppe Gefühlslingen vorbeigekommen, die sich an der Oberfläche sonnte — getrieben von der sinnlosen Hoffnung, sie hier oben vielleicht zu finden. Die Mittlinge hatten laut getuschelt, denn es geschah nicht oft, daß sich ein Denkling in der Nähe einer Gruppe Gefühlslinge sehen ließ, und hatten sich in koketter Menge verdünnt, ohne daß der ganze dumme Haufen einen anderen Gedanken kannte, als sich zu produzieren.
Odeen empfand nur Verachtung, und seine glatten Flanken zeigten keine Reaktion. Er dachte an Dua und daran, wie sehr sie sich von den anderen unterschied. Dua verdünnte sich nur, wenn sie das innere Bedürfnis dazu verspürte. Sie versuchte niemals auf sich aufmerksam zu machen und war deshalb um so anziehender. Wenn sie sich dazu überwunden hatte, bei diesen Hohlköpfen Zuflucht zu suchen, war sie (das fühlte er) bestimmt leicht zu erkennen — denn sie würde sich als einzige nicht verdünnen, sondern eher verdicken, eben weil sich die anderen verdünnten.
Bei diesem Gedanken glitt Odeens Blick über die Gefühlslinge dahin und bemerkte, daß ein Wesen sich tatsächlich nicht verdünnt hatte.
Er blieb kurz stehen und hastete auf sie zu, ohne sich um die Gefühlslinge zu kümmern, ohne ihr wildes Kreischen wahrzunehmen, als sie ihm nebelhaft aus dem Weg huschten und wild plapperten in dem Bemühen, nicht miteinander zu verschmelzen — jedenfalls nicht hier im Freien und in Anwesenheit eines Denklings.
Es war Dua. Sie versuchte ihm nicht auszuweichen. Sie blieb einfach liegen und schwieg.
»Dua«, sagte er unterwürfig, »kommst du nicht nach Hause?«
»Ich habe kein Zuhause, Odeen«, erwiderte sie. Nicht ärgerlich, nicht voller Haß — was um so bedrückender war.
»Wie kannst du Tritt übelnehmen, daß er so gehandelt hat, Dua? Du weißt, der arme Bursche kann nicht logisch denken.«
»Aber du, Odeen. Und du hast mich abgelenkt, während er dafür sorgte, daß sich mein Körper richtig aufladen konnte, nichtwahr? Dein Verstand sagte dir, daß du mich viel leichter in die Falle locken konntest als er.«
»Dua, nein!«
»Nein, was? Hast du denn nicht ein großes Schauspiel abgezogen, das meiner Unterweisung, meiner Bildung dienen sollte?«
»Ja, aber das war kein Schauspiel, ich meinte es ehrlich. Und es hatte nichts mit Tritt zu tun. Ich wußte ja gar nicht, was er getan hatte!«
»Das kann ich nicht glauben.« Ruhig schwebte sie davon. Er folgte ihr. Sie waren nun allein; die Sonne strahlte rot.
Sie wandte sich um. »Darf ich dir eine Frage steilen, Odeen? Warum hast du mich unterweisen wollen?«
»Weil ich es wollte, Dua. Weil mir das Lehren Spaß macht und weil ich nichts lieber tun möchte als lehren — außer vielleicht lernen.«
»Und Verschmelzen natürlich… schon gut«, fügte sie hinzu, um seinem Einwand zuvorzukommen. »Du brauchst mir nicht zu erklären, daß wir von der Vernunft und nicht von den Instinkten sprechen. Wenn du wirklich Spaß am Lehren hast, wenn ich dir wirklich glauben kann — dann verstehst du vielleicht auch etwas von dem, was ich dir jetzt sagen möchte.
Seit ich euch verließ, Odeen, habe ich eine Menge gelernt. Frag mich nicht, wie. Ich habe gelernt. Von einem Gefühlsling habe ich nicht mehr viel — außer vielleicht in physischer Hinsicht. Hier drinnen, wo es zählt, bin ich ganz Denkling, wenn ich auch etwas mehr Gefühl zu haben hoffe als die Denklinge. Und zu den Erkenntnissen, die ich gewonnen habe, gehört auch das Wissen um unsere Existenz, darum, was wir wirklich sind, Odeen; du und ich und Tritt und all die anderen Triaden auf diesem Planeten; was wir wirklich sind und immer gewesen sind.«
»Und das wäre?« fragte Odeen. Er wollte ihr gern zuhören, so lange, wie es nötig war, und ganz ruhig, wenn sie nur hinterher mit ihm ging. Er wollte jede Buße auf sich nehmen, alles, was sie verlangte. Sie mußte nur mitkommen — und tief in seinem Inneren sagte eine leise Stimme, daß sie freiwillig zurückkehren mußte.
»Was wir sind? Nun, eigentlich nichts, Odeen«, antwortete sie leichthin, fast lachend. »Ist das nicht seltsam? Die Hartlinge bilden die einzige lebendige Spezies auf dieser Welt. Haben sie dich das nicht gelehrt? Es gibt nur diese eine Spezies, weil du und ich, die Weichwesen, nicht wirklich leben. Wir sind Maschinen, Odeen. Das muß so sein, weil nur die Hartlinge leben. Haben sie dir das nicht beigebracht, Odeen?«
»Aber das ist doch Unsinn, Dua!« sagte Odeen verblüfft.
Duas Stimme wurde schärfer. »Maschinen, Odeen! Gemacht von den Hartlingen! Zerstört von den Hartlingen. Sie leben, die Hartlinge. Nur sie. Sie sprechen nicht oft darüber. Das brauchen sie auch nicht. Sie wissen es alle. Aber ich habe denken gelernt, Odeen, und ich habe aus den minimalen Hinweisen meine Schlüsse gezogen. Sie haben ein sehr langes Leben, doch irgendwann sterben auch sie. Sie haben keine neuen Nachkommen; dazu liefert die Sonne zu wenig Energie. Und da nur dann und wann einer stirbt und keine Nachkommen da sind, nimmt ihre Zahl sehr langsam ab. Und es gibt keine jungen Leute, die frisches Blut und neue Gedanken bringen und so beginnen sich die langlebigen alten Hartlinge schrecklich zu langweilen. Und was meinst du wohl, Odeen, tun sie dann?«
»Was denn?« Das Gespräch war von seltsamer Faszination. Von abstoßender Faszination.
»Sie stellen sich künstliche Kinder her, die die ausbilden können. Du hast es selbst gesagt, Odeen. Nichts würdest du lieber tun als lehren — außer vielleicht lernen — und natürlich verschmelzen. Die Denklinge sind dem geistigen Bild der Hartlinge nachgebildet, die sich nicht verschmelzen. Außerdem fällt ihnen das Lernen überaus schwer, da sie schon soviel wissen. Was bleibt ihnen also anderes als das Vergnügen am Lehren? Die Denklinge wurden einzig und allein geschaffen, damit sie unterwiesen werden können. Gefühlslinge und Elterlinge entstanden, weil sie für die sich selbst fortpflanzende Maschine, die neue Denklinge hervorbringt, unerläßlich sind. Und neue Denklinge werden ständig benötigt, weil die alten schnell verbraucht sind, weil sie schnell alles wissen, was es da zu lernen gibt. Und wenn die alten Denklinge alles absorbiert haben, werden sie vernichtet. Vorher bekommen sie aber eingetrichtert, diese Vernichtung »Weiterziehen« zu nennen, damit ihre Gefühle auch geschont werden. Und natürlich ziehen Gefühlslinge und Elterlinge gleichzeitig weiter. Sobald sie dazu beigetragen haben, eine neue Triade zu bilden, hat man keine weitere Verwendung für sie.«
»Aber das stimmt doch alles nicht, Dua«, brachte Odeen endlich heraus. Er hatte keine Argumente gegen ihren Alptraum parat, doch er wußte mit absoluter Sicherheit, daß sie sich irrte. (Oder wollte ein winziger Zweifel tief drinnen etwa anzeigen, daß diese Gewißheit ihm von Anfang an eingepflanzt war? — Nein, gewiß nicht, denn würde dann nicht auch Dua mit der gleichen eingepflanzten Gewißheit ihren Irrtum erkennen? Oder war sie ein mißratener Gefühlsling ohne solche Einpflanzung und ohne… Ach, was phantasierte er da herum! Er war ja schon so verrückt wie sie.)
»Du siehst ganz entsetzt aus, Odeen«, fuhr Dua fort. »Bist du ganz sicher, daß ich mich irre? Natürlich haben sie jetzt die Positronenpumpe und damit auch alle Energie, die sie brauchen — oder sie werden diese Energie bald haben. Bald werden sie auch wieder Babies bekommen. Und dann brauchen sie keine Weichwesen-Maschinen mehr, und wir werden alle vernichtet — oh, Verzeihung, wir werden alle weiterziehen.«
»Nein, Dua«, erwiderte Odeen zu sich selbst ebenso wie zu ihr. »Ich weiß nicht, wo du diese Ideen her hast, aber die Hartlinge sind nicht so. Wir werden nicht vernichtet.«
»Mach dir nichts vor, Odeen. Sie sind so. Es ist ihnen gleichgültig, eine ganze Welt mit Ander-Wesen um ihres Vorteils willen zu vernichten, wenn es sein muß, auch ein ganzes Universum. Sollte es ihnen da etwas ausmachen, ein paar Weichwesen zu töten, wenn es ihnen gefällt? — Aber sie haben einen Fehler gemacht. Irgendwo hat sich die Maschine geirrt, und der Geist eines Denklings ist in den Körper eines Gefühlslings geraten. Ich bin ein LinksG, weißt du das? Ich wurde schon so genannt, als ich noch ein Kind war — und das war richtig. Ich kann logisch denken wie ein Denkling, und ich empfinde wie ein Gefühlsling. Und mit dieser Kombination werde ich die Hartlinge bekämpfen.«
Odeen schreckte auf Dua mußte verrückt sein — doch er wagte nichts zu erwidern. Er mußte sie irgendwie überreden, zur Triade zurückzukommen. Mühsam sagte er: »Dua, wir werden nicht vernichtet, wenn wir weiterziehen.«
»O nein? Was geschieht statt dessen?«
»Ich — ich weiß es nicht. Ich glaube, wir kommen in eine andere Welt, in eine bessere und glücklichere Welt, und werden wie… wie… na ja, viel besser als wir jetzt sind.«
Dua lachte: »Wo hast du denn das her? Haben dir das die Hartlinge erzählt?«
»Nein, Dua. Ich selbst meine, daß es so ist. Ganz bestimmt. Seit deinem Verschwinden habe ich sehr viel darüber nachgedacht.«
»Dann denk jetzt weniger und sei kein Narr. Armer Odeen! Leb wohl.« Wieder schwebte sie davon, ein zarter Nebelschleier.
»Aber warte doch, Dua«, rief Odeen. »Du willst doch bestimmt deinen neuen Baby-Mitt sehen?«
Sie schwieg.
»Wann kommst du nach Hause?«
Sie schwieg.
Und er folgte ihr nicht weiter, sondern schaute ihr elend nach, bis sie verschwunden war.
Er verschwieg Tritt, daß er mit Dua gesprochen hatte. Was hätte es genützt? Auch sah er sie nicht wieder. Er begann die bevorzugten Sonnenplätze der Gefühlslinge abzusuchen und ließ auch nicht davon ab, als einige Elterlinge ihn in dumpfem Mißtrauen zu beobachten begannen. (Im Vergleich zu den meisten anderen Elterlingen war Tritt noch ein kluger Kopf.)
Ihre Abwesenheit schmerzte ihn von Tag zu Tag mehr. Und mit jedem Tag wurde er sich auch einer steigenden Angst bewußt, einer Angst, die mit ihrer Abwesenheit zu tun hatte. Ihre Ursache kannte er nicht.
Losten wartete eines Tages auf ihn, als er in die Wohnhöhle zurückkehrte. Losten stand ernst und höflich da, während ihm Tritt das neue Baby zeigte und die Handvoll Nebel davon abzuhalten versuchte, den Hartling zu berühren. »Sie ist wirklich eine Schönheit, Tritt«, sagte Losten. »Sie heißt Derala?«
»Derola«, berichtigte ihn Tritt. »Ich weiß nicht, wann Odeen zurückkommt. Er wandert viel herum…«
»Hier bin ich, Losten«, sagte Odeen hastig. »Tritt, sei lieb und bring das Baby fort.«
Tritt gehorchte. Losten wandte sich sichtlich erleichtert um: »Du bist bestimmt sehr glücklich, daß die Triade endlich komplett ist.«
Odeen versuchte hierauf eine höfliche Bemerkung zu machen, brachte aber nur ein bedrücktes Schweigen zustande. In der Zeit vor dem Zwischenfall war ein Gefühl der Kameradschaft, der Gleichstellung mit den Hartlingen in ihm gewachsen, das es ihm ermöglichte, auf einer Stufe mit ihnen zu sprechen. Irgendwie hatte Duas Wahnsinn das zerstört. Obwohl Odeen wußte, daß sich Dua irrte, trat er Losten wieder so förmlich entgegen wie damals, als er sich noch für ein ganz minderwertiges Wesen hielt, für eine — Maschine?
»Hast du Dua gesehen?« fragte Losten. Hinter der Frage steckte eine Absicht; sie war nicht nur eine höfliche Floskel, das merkte Odeen sofort.
»Nur einmal, H…« (Er hätte beinahe »Hart-Herr« gesagt, wie ein Kind oder Elterling.) »Nur einmal, Losten. Sie will nicht nach Hause kommen.«
»Sie muß«, sagte Losten leise.
»Ich wüßte nicht, wie ich das anstellen sollte.«
Losten musterte ihn düster. »Weißt du eigentlich, was sie tut?«
Odeen wagte den anderen nicht anzuschauen. War er Duas wilden Theorien auf die Spur gekommen? Was wollte man dagegen tun?
Er machte ein Zeichen der Verneinung, ohne zu sprechen.
Losten fuhr fort: »Sie ist ein höchst ungewöhnlicher Gefühlsling, Odeen. Das weißt du doch, nicht wahr?«
»Ja«, seufzte Odeen.
»Auf deine Weise bist du ebenso außergewöhnlich, und bei Tritt ist es das gleiche. Ich bezweifle, daß es auf dieser Welt einen zweiten Elterling gibt, der den Mut oder die Initiative aufgebracht hätte, eine Energiebatterie zu stehlen, und dazu die perverse Schläue, sie so zu benutzen wie er. Ihr drei seid die ungewöhnlichste Triade aller Zeiten.«
»Danke.«
»Aber das hat natürlich auch seine unschönen Aspekte; Dinge, mit denen wir nicht gerechnet hatten. Du solltest Dua unterweisen, weil wir das für den schönsten und besten Weg hielten, sie dazu zu bringen, freiwillig ihre Funktion zu erfüllen. Dabei kam uns im unvorhergesehenen Augenblick Tritt mit seinem verrückten Einfall in die Quere. Um ehrlich zu sein, rechneten wir auch nicht mit Duas wilder Reaktion auf die Tatsache, daß die Welt im anderen Universum vernichtet werden muß.«
»Ich hätte ihre Fragen vorsichtiger beantworten sollen«, meinte Odeen bedrückt.
»Das hätte auch nichts genützt. Sie hat es selbst herausgefunden. Auch damit rechneten wir nicht. Odeen, es tut mir leid, aber ich muß dir sagen, daß Dua zu einer tödlichen Gefahr geworden ist. Sie versucht die Positronenpumpe zu stoppen.«
»Aber wie könnte sie das? Sie kommt doch nicht an das Gerät heran, und wenn sie es könnte, fehlt ihr das Wissen, überhaupt etwas zu unternehmen.«
»Oh, aber natürlich kommt sie heran.« Losten zögerte und sagte: »Sie vergräbt sich im Höhlengestein, wo sie vor uns sicher ist.«
Es dauerte eine Weile, bis Odeen die Bedeutung der Worte begriff. Er erwiderte: »Kein ausgewachsener Gefühlsling würde… Dua würde niemals…«
»Sie würde. Sie tut es auch. Verschwende deine Zeit nicht mit Einwänden… Sie kann sich frei in den Höhlen bewegen. Nichts bleibt ihr verborgen. Sie hat die Botschaften studiert, die wir aus dem anderen Universum erhielten. Wir wissen das nicht bestimmt, doch es gibt keine andere Erklärung für die Vorgänge.«
»Oh, oh, oh.« Odeen ruckte vor und zurück, und seine Oberfläche war vor Scham und Kummer ganz undurchsichtig. »Weiß Estwald davon?«
»Noch nicht; allerdings muß er es irgendwann erfahren«, antwortete Losten grimmig.
»Aber was will sie mit den Botschaften?«
»Sie benutzt sie, um sich eine Methode auszudenken, selber Nachrichten in eine andere Richtung zu schicken.«
»Aber sie kann sie doch unmöglich übersetzen und aussenden.«
»Beides lernt sie bereits. Sie weiß sogar mehr über diese Botschaften als Estwald. Sie ist ein erschreckendes Phänomen, ein Gefühlsling, der logisch denken kann und der außer Kontrolle ist.«
Odeen erschauderte. Außer Kontrolle? Was für ein maschinenhafter Ausdruck!
»So schlimm kann es nicht sein«, sagte er.
»Aber doch. Sie hat bereits eine Nachricht abgesetzt, und ich befürchte, sie rät den Ander-Wesen, ihren Teil der Pumpe zu stoppen. Wenn sie das tun, ehe ihre Sonne explodiert, sind wir hier völlig hilflos.«
»Aber dann…«
»Sie muß davon abgebracht werden.«
»A-aber wie? Soll sie herausgeschmolzen…« Die Stimme versagte ihm den Dienst. Er hatte einmal davon gehört, daß die Hartlinge über Maschinen verfügten, mit denen sie Höhlen aus dem Gestein schneiden konnten; Geräte, die seit Abnahme der Weltbevölkerung selten benutzt worden waren. Wollte man Dua etwa im Gestein aufspüren und dann zerstrahlen?
»Nein«, entgegnete Losten heftig. »Wir können Dua nicht schaden.«
»Estwald aber vielleicht…«
»Auch Estwald will ihr nichts tun.«
»Was können wir also machen?«
»Nur du, Odeen, kannst etwas tun. Da wir ganz hilflos sind, müssen wir uns auf dich verlassen.«
»Auf mich? Aber was kann ich tun?«
»Denk darüber nach«, antwortete Losten eindringlich. »Denk darüber nach.«
»Worüber?«
»Mehr kann ich dir nicht sagen«, bemerkte Losten, sichtlich gepeinigt. »Denk nach! Wir haben so wenig Zeit.«
Er wandte sich um und verließ das Zimmer, ungewohnt schnell für einen Hartling. Er eilte davon, als wollte er nicht länger bleiben, um nicht noch mehr zu enthüllen.
Odeen konnte ihm nur nachschauen, entsetzt, verwirrt — verloren.
Tritt war vollauf beschäftigt. Babies erforderten zwar viel Fürsorge, aber nicht einmal zwei junge Linkslinge und zwei junge Rechtslinge zusammen machten soviel Arbeit wie ein kleines Baby-Mitt — besonders kein so gelungenes Mitt wie Derola. Sie mußte trainiert und beruhigt, mußte davor bewahrt werden, in die Dinge einzudringen, die sie berührte, mußte dazu gebracht werden, sich zu verdichten und anschließend zu ruhen.
Es verging eine lange Zeit, ehe er Odeen wiedersah, und im Grunde machte es ihm nichts aus. Derola nahm ihn völlig in Anspruch. Er stieß in einer Ecke seiner eigenen Wohnhöhle auf Odeen, der völlig gedankenverloren schimmerte.
Da fiel es Tritt wieder ein. Er fragte: »War Losten böse auf Dua?«
Odeen fuhr auf. »Losten? — Ja, er war böse. Dua richtet großen Schaden an.«
»Sie sollte nach Hause kommen, ja?«
Odeen starrte Tritt an. »Tritt«, sagte er, »wir müssen Dua irgendwie zur Rückkehr bewegen. Vorher müssen wir sie aber finden. Du kannst das. Durch das neue Baby ist dein elterliches Wahrnehmungsvermögen geschärft. Du mußt es einsetzen, um Dua zu finden.«
»Nein«, erwiderte Tritt schockiert. »Es ist einzig und allein für Derola bestimmt. Außerdem: wenn sie von allein solange fortbleibt, obwohl sich ein Baby-Mitt nach ihr sehnt — und sie war selber mal ein Baby-Mitt, sollten wir vielleicht sehen, wie wir ohne sie auskommen.«
»Aber Tritt, willst du denn nie wieder verschmelzen?«
»Nun, die Triade ist komplett.«
»Aber beim Verschmelzen geht es doch um mehr.«
»Wohin würde uns die Suche überhaupt führen?« fragte Tritt. »Die kleine Derola braucht mich. Sie ist noch so klein. Ich will sie nicht allein lassen.«
»Die Hartlinge werden dafür sorgen, daß Derola in gute Obhut kommt. Du und ich gehen in die Hart-Höhlen und finden Dua.«
Tritt dachte darüber nach. Dua war ihm egal. Irgendwie war ihm auch Odeen gleichgültig. Allein Derola zählte. Er sagte »Irgendwann einmal, irgendwann, wenn Derola älter ist. Jetzt noch nicht.«
»Tritt«, drängte Odeen, »wir müssen Dua finden. Sonst… sonst werden uns die Babies fortgenommen.«
»Von wem denn?« fragte Tritt.
»Von den Hartlingen.«
Tritt schwieg. Er wußte nichts zu sagen. So etwas hatte er ja noch nie gehört. Er konnte sich das überhaupt nicht vorstellen.
»Tritt, wir müssen weiterziehen. Ich weiß jetzt, warum. Ich habe darüber nachgedacht, seit Losten… Aber lassen wir das. Dua und du — ihr müßt ebenfalls weiterziehen. Da ich das jetzt weiß, wirst du es auch erkennen, und ich hoffe — ich glaube, Dua wird das gleiche Bedürfnis verspüren. Und wir müssen bald weiterziehen, denn Dua vernichtet die Welt.«
Tritt wich zurück. »Sieh mich nicht so an, Odeen… Du ziehst mich ja nur auf. Du ziehst mich auf…«
»Ich ziehe dich nicht auf, Tritt«, erwiderte Odeen traurig. »Ich weiß nur Bescheid, und da mußt du auch… Aber wir müssen Dua finden.«
»Nein, nein.« Tritt wand sich gepeinigt, versuchte sich zu wehren. Etwas Fremdes hatte von Odeen Besitz ergriffen, und das Leben ging unaufhaltsam seinem Ende entgegen. Es würde keinen Tritt und keinen Baby-Mitt mehr geben. Während sich jeder andere Elterling lange an seinem Baby-Mitt freuen konnte, verlor Tritt das seine fast sofort.
Das war nicht fair. Oh, es war einfach nicht fair.
Tritt atmete heftig. »Daran ist nur Dua schuld. Soll sie doch zuerst weiterziehen.«
Odeen sagte matt: »Es gibt keine andere Möglichkeit. Wir drei müssen gemeinsam…«
Und Tritt wußte, daß das so war — daß das so war — daß das so war…
Dua fühlte sich schwach und zittrig; außerdem war ihr kalt. Ihre Versuche, sich in aller Öffentlichkeit auszuruhen und neues Sonnenlicht aufzunehmen, hatte sie nach dem Gespräch mit Odeen nicht wieder aufgenommen. Und an den Batterien der Hartlinge kam sie nur sehr unregelmäßig zu einer Mahlzeit. Sie wagte sich niemals lange aus der Sicherheit des Gesteins und aß dann mit schnellen Schlucken und hatte niemals genug.
Ständiger Hunger begleitete sie, ein Hunger, der um so spürbarer war, als er ihre Fähigkeit, sich im Fels aufzuhalten, zu erschöpfen schien. Es war, als sollte sie jetzt bestraft werden für die lange Zeit, da sie immer erst bei Sonnenuntergang hinaufgegangen war und nur sehr spärlich gegessen hatte.
Wenn da nicht ihre Arbeit gewesen wäre, hätte sie Erschöpfung und Hunger nicht länger ertragen. Manchmal hoffte sie, daß die Hartlinge sie vernichten würden — doch erst, wenn sie wirklich fertig war.
Die Hartlinge waren hilflos, solange sich Dua im Gestein aufhielt. Manchmal erfühlte sie sie draußen in den Höhlen. Sie fürchteten sich. Manchmal meinte sie, die Angst gelte ihr; doch das konnte wohl nicht sein. Wie konnten sie Angst haben um sie; wie konnten sie befürchten, daß sie aus Nahrungsmangel oder vor Erschöpfung weiterziehen würde? Sie mußten wohl Angst vor ihr haben; Angst vor einer Maschine, die nicht so arbeitete, wie es vorgesehen war; Entsetzen angesichts eines solchen Wunders.
Sie mied die Hartlinge, wo sie nur konnte. Da sie immer wußte, wo sie sich aufhielten, war eine Gefangennahme unmöglich.
Die Hartlinge konnten nicht alle Stellen zugleich überwachen. Dua war der Meinung, daß sie auch das schwache Wahrnehmungsvermögen der Wesen gänzlich ausschalten konnte.
Sie wirbelte aus dem Gestein und studierte die Duplikate der Botschaften aus dem anderen Universum. Die Hartlinge wußten nichts von ihren Plänen. Wenn sie die Platten versteckten, spürte Dua sie mühelos wieder auf. Wenn sie sie vernichteten, war es auch egal. Dua hatte sie memoriert.
Sie verstand die Symbole zuerst nicht, doch je länger ihr Aufenthalt in den Felsen dauerte, desto mehr wurden ihre Sinne geschärft, und sie schien bald zu begreifen, ohne wirklich zu begreifen. Ohne daß die Symbole ihr im einzelnen bekannt waren, lösten sie Empfindungen aus.
Sie wählte Zeichen aus und plazierte sie so, daß sie in das andere Universum geschickt werden mußten. Die Zeichen ergaben ANGT. Sie hatte keine Ahnung, was das bedeuten konnte, doch die Form vermittelte ihr ein seltsames Gefühl der Angst, und sie versuchte nach besten Kräften, den Symbolen dieses Gefühl mit auf den Weg zu geben. Vielleicht würden die Ander-Wesen beim Studium der Nachricht ebenfalls Angst empfinden.
Als die Antworten eintrafen, spürte Dua die Erregung aus ihnen heraus. Nicht alle Reaktionen, die auf ihre Sendungen eintrafen, erhielt sie auch, denn manchmal waren die Hartlinge schneller, die also von ihrem Treiben wußten. Doch sie konnten die Nachrichten nicht lesen, konnten nicht einmal die Gefühle ausmachen, die mit den Symbolen kamen.
Es war ihr also egal. Was die Hartlinge auch herausfanden — sie ließ sich nicht von ihrem Ziel abbringen.
Sie wartete auf eine Nachricht, die das gewünschte Gefühl enthielt. Und schließlich kam sie: PUMPE SCHLECHT.
Diese Zeichen enthielten endlich Angst und Haß, wie sie es sich vorgestellt hatte, und sie sandte sie in erweiterter Form zurück mehr Angst, mehr Haß. Jetzt würden die Ander-Wesen verstehen. Jetzt würden sie die Pumpe stoppen. Die Hartlinge mußten dann einen anderen Weg finden, eine andere Energiequelle; sie durften ihre Energie nicht aus dem Tod jener unzähligen Ander-Wesen beziehen.
Sie machte lange Pausen im Gestein, verfiel in eine Art Dämmerzustand. Sie sehnte sich nach Nahrung und wartete auf eine günstige Gelegenheit, die Felsen zu verlassen. Noch sehnlicher wünschte sie sich, daß die Batterie dann keine Energie mehr enthielt. Sie wollte das letzte Quantum Nahrung heraussaugen, sich überzeugen, daß keine neue Energie heranfloß, daß ihre Aufgabe erfüllt war.
Schließlich kam sie heraus und blieb, den Inhalt der Batterie schlürfend, unvorsichtig lange draußen. Sie wollte sie bis zum letzten ausschöpfen, wollte sie leeren, wollte sehen, daß keine Energie nachfloß — doch es war ein endloser Strom — endlos — endlos…
Sie wich angewidert zurück. Die Positronen-Pumpen liefen also noch immer. Hatte ihre Botschaft die Ander-Wesen nicht dazu gebracht, die Pumpen zu stoppen? Hatten sie sie vielleicht nicht bekommen? Hatten sie ihre Bedeutung nicht erspürt?
Sie mußte es noch einmal versuchen. Sie mußte ihre Absicht deutlich machen, so daß kein Zweifel bleiben konnte. Jede Kombination von Signalen, die ihr das Gefühl von Gefahr zu vermitteln schienen, wollte sie verwenden; jede Kombination, die ihr Flehen verdeutlichte, die Pumpe zu stoppen.
Verzweifelt begann sie die Symbole in das Metall zu schmelzen; rückhaltslos setzte sie die Energie ein, die sie eben erst aus der Batterie gesaugt hatte; zehrte davon, bis nichts mehr übrig war und sie sich erschöpfter fühlte denn je: PUMPE NICHT STOPPEN NICHT STOPPEN
WIR NICHT STOPPEN PUMPE WIR NICHT HÖREN GEFAHR NICHT HÖREN NICHT HÖREN SIE STOPPEN BITTE STOPPEN SIE STOPPEN DAMIT WIR STOPPEN BITTE SIE STOPPEN GEFAHR GEFAHR GEFAHR STOPPEN STOPPEN SIE STOPPEN PUMPE.
Mehr konnte sie nicht tun. Sie war völlig ausgepumpt; nur einbeißender Schmerz erfüllte sie. Sie legte die Botschaft an die Stelle, wo sie ausgeschickt werden mußte, und wartete auch nicht darauf, daß die Hartlinge sie unabsichtlich mit übermittelten. Durch einen schmerzhaften Nebel bediente sie die Kontrollen, wie sie es so oft beobachtet hatte; irgendwie brachte sie die Energie dazu auf.
Die Botschaft verschwand — ebenso wie die Höhle, die in einem purpurnen Hauch unterging. Sie — zog — weiter — aus — reiner Erschöpfung.
Odeen — Tri —
Odeen kam. Er schwebte schneller als je zuvor in seinem Leben. Zunächst hatte er sich durch Tritts klare Neu-BabyEmpfindung leiten lassen, doch nun war er so nahe, daß auch seine stumpferen Sinne ihre Nähe ausmachten. Schon ganz allein nahm er das zuckende, nachlassende Bewußtsein Duas wahr, und er raste dahin, während Tritt nach besten Kräften neben ihm herstapfte und rief: »Schneller, schneller!«
Odeen fand sie zusammengebrochen, kaum noch lebendig, winziger, als er jemals einen erwachsenen Gefühlsling gesehen hatte.
»Tritt«, sagte er, »bring mir die Batterie. Nein, nein, versuch sie nicht zu tragen. Dazu ist sie zu dünn. Beeil dich. Wenn sie in den Boden sinkt…«
Die Hartlinge begannen sich zu versammeln. Sie waren natürlich zu spät dran, unfähig, andere Lebensformen auf Distanz zu fühlen. Wenn es von ihnen abgehangen hätte, wäre Dua nicht mehr zu retten. Sie wäre nicht weitergezogen; sie wäre wirklich vernichtet worden und — und zugleich manches andere, von dem sie keine Ahnung hatte.
Die Hartlinge rückten stumm heran, während sie langsam aus der Batterie neue Energie schöpfte.
Odeen stand auf; ein neuer Odeen, der endlich wußte, was geschah. Mit herrischer Geste scheuchte er die Hartlinge zurück — und sie gingen. Stumm. Ohne Einwände.
Dua regte sich.
»Geht es ihr gut, Odeen?« fragte Tritt.
»Sei ruhig, Tritt«, antwortete Odeen. »Dua?«
»Odeen?« Sie begann sich zu rühren und flüsterte: »Ich dachte, ich wäre weitergezogen.«
»Noch nicht, Dua. Noch nicht. Zuerst mußt du essen und dich ausruhen.«
»Ist Tritt auch da?«
»Hier bin ich, Dua«, rief Tritt.
»Bringt mich nicht zurück«, sagte Dua. »Es ist aus. Ich habe erreicht, was ich wollte. Die Positronenpumpe wird — wird bald bald gestoppt, ich bin sicher. Die Hartlinge sind dann weiter auf die Weichwesen angewiesen und werden sich um euch beide kümmern — oder wenigstens um die Kinder.«
Odeen schwieg. Er gab Tritt ein Zeichen, sich ebenfalls zurückzuhalten. Langsam flößte er Dua die Strahlen ein, sehr langsam. Von Zeit zu Zeit hielt er inne, damit sie sich ein wenig ausruhte, dann ging es weiter.
Sie begann zu murmeln: »Genug, genug.« Ihre Substanz regte sich schon wieder kräftiger. Doch er fütterte sie weiter.
»Dua, du hast dich geirrt«, sagte er schließlich. »Wir sind keine Maschinen. Ich weiß jetzt, was wir sind. Ich wäre längst zu dir gekommen, wenn ich nur Bescheid gewußt hätte — aber dazu kam es erst, als Losten mich zum Nachdenken aufforderte. Und ich habe nachgedacht, intensiv sogar — trotzdem kommt die Erkenntnis fast noch zu früh.«
Dua stöhnte, und Odeen unterbrach die Energie für eine Weile.
»Hör mir zu, Dua«, sagte er. »Es gibt tatsächlich nur eine einzige Spezies. Die Hartlinge sind die einzigen Lebewesen auf dieser Welt. Das hattest du längst herausgefunden, und insoweit hattest du ganz recht. Aber das heißt nun nicht, daß die Weichwesen nicht leben, es heißt nur, daß wir ein Teil derselben Spezies sind. Die Weichwesen sind die unausgereifte Frühform der Hartlinge. Zunächst sind wir Weichwesen-Kinder, dann Weichwesen-Erwachsene und schließlich Hartlinge. Verstehst du mich?«
Tritt fragte verwirrt: »Was? Was?«
»Jetzt nicht, Tritt«, antwortete Odeen. »Auch du wirst es noch begreifen, aber zuerst ist Dua an der Reihe.« Er hielt den Blick auf Dua gerichtet, die langsam an Schimmer gewann. Er fuhr fort: »Schau mal, Dua, jedesmal, wenn wir verschmelzen, wenn die Triade vereint ist, sind wir ein Hartling. Der Hartling vereint drei Wesen auf sich und ist deshalb auch so hart. Während der Zeit der Bewußtlosigkeit im verschmolzenen Zustand sind wir ein Hartling. Aber das ist nur eine vorübergehende Erscheinung, und wir können uns hinterher nicht mehr daran erinnern. Wir können niemals lange Hartling bleiben; wir müssen uns zum Schluß zurückverwandeln. Aber unser ganzes Leben hindurch setzt sich die Entwicklung fort, und bestimmte Schlüsselmomente zeigen den Fortschritt an. Jedes neue Baby kennzeichnet ein solches Stadium. Mit der Geburt des dritten Kindes, des Gefühlslings, rückt die Möglichkeit der letzten Stufe in greifbare Nähe: die Stufe, auf der sich der Denkling — ganz allein, ohne die anderen beiden — an die kurzen Momente bisheriger Hartling-Existenz erinnert. Dann, und nur dann kann er ein vollkommenes Verschmelzen einleiten, aus dem der beständige Hartling hervorgeht, ein Hartling, in dem die Triade ein neues gemeinsames Leben des Intellekts und des Lernens finden kann. Ich habe dir einmal gesagt, daß das Weiterziehen wie eine Neugeburt sei. Damals versuchte ich etwas zu formulieren, das ich noch nicht ganz begriff, doch jetzt weiß ich es.«
Dua schaute zu ihm auf, versuchte zu lächeln. Sie fragte: »Wie kannst du nur so tun, das alles zu glauben, Odeen? Wenn es so wäre, hätten es uns die Hartlinge nicht längst gesagt — uns allen?«
»Das durften sie nicht, Dua. Es gab einmal eine Zeit — es ist schon lange her, da war das Verschmelzen nur ein Zusammenfügen von Körperatomen. Doch die Evolution sorgt für die Fortentwicklung des Geistes. Hör mir gut zu, Dua; das Verschmelzen ist auch ein Zusammenfügen des Geistes, und das ist schon viel schwerer, viel heikler. Um einen Geist gut und beständig zusammensetzen zu können, muß der Denkling eine gewisse Entwicklungsstufe erreichen. Diese Stufe ist erlangt, wenn er — und zwar allein — die Tatsachen des Lebens erkennt; wenn sich sein Geist schließlich so weit schärft, daß er sich daran erinnert, was während all jener kurzen Vereinigungen im Verschmelzen geschehen ist. Wenn der Denkling all dies von dritter Seite erführe, könnte es geschehen, daß seine Entwicklung gestört und der Augenblick des vollkommenen Verschmelzens niemals bestimmt würde. Der Hartling bliebe unvollkommen. Als Losten mich zum Nachdenken anregte, ging er ein großes Risiko ein. Auch so mag es… Ich will nicht hoffen…
Denn in unserem Fall kommt es ganz besonders darauf an, Dua. Viele Generationen hindurch haben die Hartlinge die Zusammenstellung der Triaden sorgsam überwacht, um besonders fortgeschrittene Hartlinge zu erlangen, und unsere Triade war bisher die beste überhaupt. Besonders du, Dua. Besonders du. Losten war einmal die Triade, deren Baby-Mitt du warst. Ein Teil von ihm war dein Elterling. Er kannte dich. Er hat dich zu Tritt und mir gebracht.«
Dua richtete sich auf. Ihre Stimme war fast wieder normal: »Odeen! Denkst du dir das etwa alles aus, um mich zu beruhigen?«
Tritt schaltete sich ein. »Nein, Dua, ich fühle es auch. Ich fühle es auch. Ich weiß nicht genau was, aber ich fühle es.«
»Und das stimmt, Dua«, bekräftigte Odeen. »Dir wird es nicht anders ergehen. Kommt dir nicht langsam die Erinnerung, daß du ein Hartling warst während unseres Verschmelzens? Möchtest du jetzt nicht verschmelzen? Ein letztes Mal? Ein letztes Mal?«
Er hob sie an. Eine seltsame Fiebrigkeit hatte sie ergriffen, und obwohl sie sich noch wehrte, verdünnte sie sich bereits.
»Wenn du recht hast, Odeen«, keuchte sie, »wenn wir wirklich ein Hartling werden, dann sicher ein wichtiger. Ist das richtig?«
»Der allerwichtigste sogar. Der beste, der jemals gebildet wurde. Ich meine es ernst…Tritt, komm her. Es ist ja kein Abschied, Tritt. Wir werden zusammen sein, wie wir es uns immer ersehnten. Dua auch. Du auch, Dua.«
Dua sagte: »Dann können wir Estwald begreiflich machen, daß die Pumpe nicht weiterarbeiten darf. Wir zwingen ihn…« Das Verschmelzen begann. Im entscheidenden Augenblick kamen die Hartlinge wieder in die Höhle. Odeen sah sie nur undeutlich; er begann in Dua aufzugehen.
Es war anders als sonst; es gab keine wilde Ekstase, sondern nur eine weiche, kühle, völlig ruhige Bewegung. Er spürte, wie er zu einem Teil Duas wurde, und die ganze Welt schien in seine/ihre sich schärfenden Sinne zu fließen. Die Positronenpumpen liefen noch immer — er/sie erkannte das deutlich. Warum liefen sie noch?
Zugleich war er Tritt, und ein schmerzliches Gefühl des Verlustes erfüllte ihn/sie/ihn. Oh, meine Babies…
Und er schrie auf, ein letzter Schrei aus dem Bewußtsein Odeens — nur daß es irgendwie ein Schrei Duas war. »Nein, wir können Estwald nicht aufhalten. Wir sind Estwald! Wir…«
Der Schrei, der von Dua kam und doch nicht von Dua, brach ab, und es gab keine Dua mehr, niemals mehr. Ebensowenig wie Odeen. Ebensowenig wie Tritt.
Estwald trat vor und wandte sich bedrückt an die wartenden Hartlinge. Die Luft vibrierte, als er sagte: »Ich bin jetzt ständig bei euch, und es gibt so viel zu tun…«