DRITTER TEIL Der letzte Amerikaner

Wie lustig ist's im grünen Wald!

(Altes Lied)

1

Vielleicht geschah es am selben Tage, oder vielleicht war es nur derselbe Sommer, oder vielleicht sogar ein anderes Jahr … Als Ish aufschaute, sah er sehr deutlich, daß ein junger Mensch vor ihm stand. Der junge Mensch trug ziemlich saubere blaue Baumwollhosen mit blanken Kupferknöpfen und außerdem über den Schultern ein gegerbtes Fell, dessen scharfe Klauen niederbaumelten. In der Hand hielt er einen starken Bogen und über der Schulter einen Köcher, aus dem die gefiederten Enden von Pfeilen hervorschauten.

Ish blinzelte; für seine alten Augen war das Sonnenlicht zu grell.

»Wer bist du?« fragte Ish.

Der junge Mensch antwortete ehrerbietig: »Ich bin Jack, Ish, wie du doch ohnehin sehr wohl weißt.«

Die Art, wie er »Ish« sagte, deutete durchaus nicht an, daß er versuchte, unziemlich vertraut mit einem alten Manne zu tun, indem er ihn mit einem Spitznamen anredete; es lag darin vielmehr hohe Achtung und selbst Ehrfurcht, als bedeutete »Ish« sehr viel mehr als nur der Name eines Greises.

Doch Ish war verwirrt, und er schielte, als er eindringlich zu spähen versuchte; denn auf kurze Entfernungen verschwamm alles vor seinen Augen. Aber er wußte genau, daß Jack dunkles Haar hatte oder vielleicht jetzt angegrautes, und dieser hier, der sich als Jack bezeichnete, hatte langes, wehendes, gelbes Haar.

»Du solltest mit einem alten Manne keine Scherze treiben«, sagte Ish. »Jack ist mein ältester Sohn, und den würde ich erkennen. Er hat dunkles Haar, und er ist älter als du.«

Der junge Mensch lachte, aber höflich, und sagte: »Du sprichst, Ish, von meinem Großvater, wie du doch ohnehin sehr wohl weißt.« Wieder schwang in der Art, wie er »Ish« sagte, ein seltsamer Unterton mit, und nun wurde sich Ish auch der sonderbaren Worte bewußt, die der junge Mensch wiederholte: »Wie du doch ohnehin sehr wohl weißt.«

»Bist du einer von den ›Ersten‹?« fragte Ish, »oder einer von den ›Andern‹?«

»Von den ›Ersten‹«, sagte er.

Als Ish ihn weiter prüfend anschaute, machte es ihn betroffen, daß der junge Mensch, der offensichtlich kein Kind mehr war, einen Bogen statt eines Gewehrs trug.

»Warum hast du kein Gewehr?« fragte er.

»Gewehre sind hübsche Spielzeuge!« sagte der junge Mensch, und er lachte, vielleicht gar ein wenig verächtlich. »Auf ein Gewehr ist kein Verlaß, wie du, Ish, doch ohnehin sehr wohl weißt. Manchmal geht das Gewehr, und dann macht es das laute Geräusch, aber zu anderen Malen drückt man ab, und es macht nur ›klick‹« Er schnalzte mit den Fingern. »Darum sind Gewehre für die richtige Jagd untauglich, wenn auch die älteren Leute sagen, vor langer, langer Zeit sei das anders gewesen. Jetzt nehmen wir Pfeile, weil das sicherer ist und weil sie stets losfliegen, und außerdem«, hier richtete der junge Mensch sich stolz auf, »bedarf es der Kraft und der Geschicklichkeit, mit dem Bogen zu schießen. Mit einem Gewehr schießen, so heißt es, das kann jeder, wie du, Ish, ohnehin sehr wohl weißt.«

»Zeig mir mal einen Pfeil«, sagte Ish.

Der junge Mensch nahm einen Pfeil aus dem Köcher, sah ihn an und reichte ihn Ish.

»Es ist ein guter Pfeil«, sagte er. »Ich selbst habe ihn geschnitzt.«

Ish betrachtete den Pfeil und fühlte, wie schwer er war. Das war kein Kinderspielzeug. Der Schaft war fast einen Meter lang und säuberlich aus fehlerlosem, gerade gewachsenem Holz geschnitzt und gerundet und geglättet. Er war gut gefiedert, mit irgendwelchen Schwungfedern; Ish konnte nicht mehr gut genug sehen, um zu erkennen, welcher Vogel seine Federn dazu hatte hergeben müssen. Aber er konnte sich durch Betasten davon überzeugen, daß die Federn sorgfältig angebracht waren, so daß der Pfeil sich im Fluge drehend fortbewegen konnte wie eine Gewehrkugel und dabei die Richtung innehielt und eine größere Tragweite besaß.

Dann untersuchte er die Pfeilspitze, abermals mehr mit den Fingerspitzen als mit den Augen. Die Pfeilspitze war vorn und an den Seiten sehr scharf. Fast hätte Ish sich in den Daumen gestochen. Sie war höckerig und dennoch glatt, woraus er erkannte, daß sie aus gehämmertem Metall bestand. Zwar konnte er nicht richtig sehen; aber er merkte doch, daß die Farbe silberhell war.

»Woraus besteht die Spitze?« fragte er.

»Aus einem der kleinen runden Dinger. Es sind Gesichter drauf. Die alten Leute haben dafür einen Namen, aber daran erinnere ich mich nicht ganz genau.«

Der junge Mensch hielt inne, als müsse Ish ihm das richtige Wort sagen; doch als er keine Antwort erhielt, redete er weiter, begierig, seine Fachkenntnisse über Pfeilspitzen an den Mann zu bringen.

»Wir finden diese kleinen runden Dinger in den alten Gebäuden. Manchmal liegen viele, viele in Büchsen und Schubfächern. Manchmal sind sie eingewickelt und sehen wie kurze runde Stöcke aus; sie sind aber schwerer als Stöcke. Manche sind rot und manche sind weiß, wie dieses hier, und von den weißen gibt es zwei Arten. Auf der einen Art von den weißen ist das Bild eines Bullen mit einem großen Höcker; die benutzen wir nicht, weil sie sich so schwer hämmern lassen.«

Ish dachte nach und glaubte, daß er verstünde, was gemeint war.

»Und dies weiße hier?« fragte er. »War eine Prägung darauf — ein Bild?«

Der junge Mensch nahm Ish den Pfeil ab, schaute ihn an und gab ihn zurück.

»Auf allen sind Bilder«, sagte er. »Ich habe nur sehen wollen, ob ich noch erkennen kann, was für ein Bild auf diesem war. Es ist durch das Hämmern nicht ganz verschwunden. Es war eins von den kleinsten Stücken, und es war ein Bild von einer Frau darauf, der Flügel aus dem Kopfe wachsen. Auf manchen sind Bilder von Falken — aber es sind gar keine richtigen Falken!« Die Stimme des jungen Menschen klang sehr glücklich. »Auf anderen sind Männer; wenigstens sehen sie aus wie Männer — einer hat einen Bart, und dem einen hängt das Haar hinten lang herunter, und einer hat ein strenges Gesicht, keinen Bart, kurzes Haar und kräftige Kiefer.«

»Und wer, meinst du, waren all diese Männer?«

Der junge Mensch schaute nach rechts und links, als fühle er sich ein bißchen unsicher.

»Das — oh, das — ja! Das, meinen wir, wie du selbst, Ish, sehr wohl weißt — das waren die ›Alten‹, die vor unseren ›Alten‹ da waren!«

Als kein Blitz und Donnerschlag erfolgte, und als der junge Mensch merkte, daß Ish nicht zornig wurde, fuhr er fort:

»Ja, so muß es sein — wie du, Ish, sehr wohl weißt. Diese Männer, und die Falken, und der Bulle! Vielleicht stammt die Frau, der die Flügel aus dem Kopf wachsen, aus der Ehe eines Falken und einer Frau. Aber wie dem auch sei: sie scheinen es uns nicht zu verübeln, daß wir ihre Bilder nehmen und Pfeilspitzen daraus hämmern. Ich habe mir darüber Gedanken gemacht. Vielleicht sind sie zu groß, um sich um dergleichen kleine Dinge zu kümmern, oder vielleicht haben sie ihr Werk vor langer Zeit vollbracht und sind jetzt alt und schwach.«

Er unterbrach sich, aber Ish merkte, daß er mit sich zufrieden war und gern sprach, und daß er sich überlegte, was er jetzt noch sagen könne. Er wenigstens hatte Phantasie.

»Ja«, fuhr der junge Mensch fort, »ich denke etwas ganz Bestimmtes. Unsere ›Alten‹ — das waren die Amerikaner — haben die Häuser und die Brücken und die kleinen runden Dinger gemacht, aus denen wir uns die Pfeilspitzen hämmern. Aber die andern — die ›Alten‹ der ›Alten‹ — die haben vielleicht die Berge und die Sonne und auch die Amerikaner geschaffen.«

Obwohl es billig war, den jungen Menschen hinters Licht zu führen, konnte Ish nicht umhin, etwas Doppeldeutiges zu sagen.

»Ja«, sagte er, »ich habe davon sagen hören, jene ›Alten‹ hätten die Amerikaner gezeugt — aber ich bezweifle, daß sie auch die Berge und die Sonne gemacht haben.«

Der junge Mensch hatte den Sinn dieser Worte schwerlich erfaßt, wohl aber das Ironische des Tonfalls verspürt, und so schwieg er.

»Sprich nur weiter«, fuhr Ish fort. »Erzähl mir mehr über die Pfeilspitzen. An deiner Kosmogonie bin ich nicht interessiert.« Er bediente sich des Wortes »Kosmogonie« in wohlgelaunter Bosheit, obwohl er wußte, daß der andere es keinesfalls verstand. Aber es machte ihm wohl Eindruck, weil es ein langes Wort war und fremdartig klang.

»Ja, die Pfeilspitzen«, sagte der junge Mensch, zögerte einen Augenblick und gewann dann sein Selbstvertrauen wieder. »Wir benutzen die roten und die weißen. Die roten sind gut, um Rinder und Löwen zu schießen. Die weißen sind für Rehe und andere Tiere.«

»Warum das?« fragte Ish heftig; denn er spürte, wie sein aus den Alten Zeiten stammender Rationalismus sich gegen dergleichen Magie und Hokuspokus auflehnte. Die Frage schien indessen den jungen Menschen lediglich zu überraschen und zu verwirren.

»Warum?« fragte er. »Warum? Das kann doch niemand wissen! Bis auf dich, Ish! Das mit den roten und weißen Pfeilspitzen — das ist nun einmal so. Es ist wie …« Er zögerte; das Sonnenlicht schien seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Ja, es ist wie mit der Sonne, die sich um die Erde dreht; aber warum sie das tut, das weiß natürlich niemand, und es fragt auch niemand danach. Warum sollte es da ein ›Warum?‹ geben?«

Nachdem er diese letzten Worte gesprochen hatte, schien der junge Mensch mit sich selbst außerordentlich zufrieden zu sein, als habe er einen tiefgründigen philosophischen Weisheitssatz aufgestellt; dabei hatte er ganz naiv gesprochen. Aber wenn Ish sich die Sache richtig überlegte, war er dessen nicht völlig sicher. Vielleicht lag in dieser Naivität, in dieser Einfachheit und Schlichtheit Tiefe. Gab es denn überhaupt eine Antwort auf das »Warum?« Existieren die Dinge nicht einzig in ihrer Gegenwart?

Ja, Ish war überzeugt davon, daß irgendwie hinter jedem Beweis ein Trugschluß lauerte. Die Begriffe Ursache und Wirkung waren für das menschliche Niveau lebensnotwendig, und diese Sache mit den verschiedenfarbenen Pfeilspitzen war dafür ein Beweis, nicht jedoch das Gegenteil. Nur war das Kausalprinzip hier unzulänglich und irrational. Der junge Mensch behauptete etwas Absurdes, nämlich daß Rinder und Löwen besser mit den aus kupfernen Pennystücken gehämmerten Pfeilspitzen, während Rehe mit den aus silbernen Zehncent- oder Vierteldollarstücken gehämmerten besser getötet werden könnten. Der Unterschied der Härte oder Schärfe fiel dabei augenscheinlich nicht ins Gewicht. Für diese primitiven Gemüter war die bedeutungslose Farbe (und eben darauf beruhte der Aberglaube!) zum entscheidenden Faktor geworden.

Tief in seinem Innern fühlte Ish seinen alten Haß gegen ungenaues Denken aufwallen. Obwohl er ein alter Mann war, konnte und mußte er hier eingreifen.

»Nein!« sagte er so laut und heftig, daß der junge Mensch zusammenzuckte. »Nein! Das ist nicht richtig! Das mit den weißen und den roten Pfeilspitzen! Die einen sind so gut wie …«

Dann wurde seine Stimme langsam schleppender. Nein, dachte er, dies war der falsche Weg. Er hörte eine volle tiefe Altstimme sagen: »Gib nach! Entspanne dich!« Vielleicht hätte er diesen jungen Menschen namens Jack überzeugen können, der zweifellos ein bemerkenswert intelligenter und phantasiebegabter Junge war, möglicherweise etwas Ähnliches wie der Kleine, der Joey geheißen hatte. Aber was käme dabei heraus? Höchstens, daß der junge Mensch verwirrt wurde und sich zwischen all den andern unglücklich fühlte. Und was war denn auch im Grunde der Unterschied? Schließlich waren kupferne Pfeilspitzen in ihrer Wirkung gegen Löwen nicht schwächer, und wenn die Bogenschützen eben glaubten, sie seien sogar stärker, so flößte dieser Gedanke ihnen Mut ein und lieh ihnen eine sichere Hand.

So äußerte Ish sich nicht weiter über diese Angelegenheit, sondern lächelte dem jungen Menschen ermutigend zu und blickte dann wieder auf den Pfeil.

Es kam ihm ein anderer Gedanke, und er fragte:

»Könnt ihr denn immer eine genügende Menge von den kleinen runden Dingern auftreiben?«

Der junge Mensch lachte fröhlich auf, als sei das eine absonderliche Frage.

»O ja!« sagte er. »Es liegen so viele herum, daß wir damit nicht fertig würden, auch wenn wir samt und sonders nichts anderes täten als Pfeilspitzen hämmern.«

Ish überlegte. Ja, das stimmte wohl. Selbst wenn der »Stamm« jetzt aus hundert Menschen bestand, mußten für sie Tausende und aber Tausende von Münzen in Ladenkassen und Geldschränken bereitliegen, und zwar allein schon in dieser Gegend der Stadt. Und wenn diese Münzen aufgebraucht waren, so gab es Tausende von Kilometern kupfernen Telefondrahtes. Als er den ersten Bogen gefertigt, so erinnerte er sich, da hatte er sich vorgestellt, daß der »Stamm« zu steinernen Pfeilspitzen zurückkehren würde. Statt dessen hatten sie einen Abkürzungsweg eingeschlagen und bedienten sich bereits des Metalles. So waren denn vielleicht der »Stamm« und damit seine eigenen Abkömmlinge über den Tiefpunkt hinaus: sie vergaßen nicht länger das Alte, sondern lernten schon wieder Neues; sie sanken nicht länger hinab in den Zustand von Wilden, sondern hatten bereits einen gewissen stabilen Hochstand wiedergewonnen, und vielleicht gewannen sie gar neue Sicherheit. Er hatte dabei geholfen, indem er ihnen das Verfertigen von Bogen zeigte, und das erfüllte ihn mit großer Genugtuung.

Als Ish den Pfeil zur Genüge betrachtet hatte, gab er ihn zurück.

»Es scheint ein sehr guter Pfeil zu sein«, sagte er, obwohl er im Grunde nicht allzuviel von Pfeilen verstand.

Nichtsdestoweniger lächelte der junge Mensch beglückt über dieses Lob, und Ish bemerkte, daß er sein Zeichen darauf machte, ehe er ihn wieder in den Köcher steckte, als wünsche er, nach dem, was geschehen war, ihn von seinen anderen Pfeilen unterscheiden zu können. Als er dann den jungen Menschen auch weiter anschaute, empfand Ish plötzlich eine große Liebe zu ihm; seit langer Zeit, seit er als ein Greis am Hügelhang gesessen hatte, war er nicht so tief bewegt gewesen. Dieser Jack, der zu den »Ersten« gehörte, mußte Ishs Urenkel in der männlichen Abfolge sein, und also war er auch Ems Urenkel. So schwoll ihm denn das Herz über, und er stellte eine seltsame Frage:

»Junger Mann«, sagte er, »bist du glücklich?« Der junge Mensch namens Jack schaute ob dieser Frage betroffen drein, schaute nach rechts und links, ehe er antwortete, und dann sagte er:

»Ja, ich bin glücklich. Die Dinge sind, wie sie sind, und ich bin ein Teil von ihnen.«

Ish begann darüber nachzudenken, was das bedeuten sollte, ob diese Worte lediglich naiv hingesprochen seien oder ob dahinter eine tiefe Philosophie stecke; aber er konnte sich nicht entscheiden. Bei diesem Versuch, zu denken, schien der Nebel wieder in alle Winkel seines Gehirns zu dringen. Dann aber fiel ihm verschwommen ein, daß diese seltsamen Worte ihm vertraut geklungen hatten. Vielleicht hatte er früher nicht ganz genau die gleichen Worte gehört; doch es waren Worte, die irgend jemand, der ihm dereinst sehr nahe gestanden, sehr wohl hätte gesprochen haben können. Denn in den Worten des jungen Menschen war keine Frage gewesen, sondern etwas Billigendes. Ish konnte sich jenes Menschen nicht genau erinnern, aber mußte an etwas Weiches und Warmes denken, und es durchflutete ihn ein wohliges Gefühl.


Als er aus seinem träumerischen Sinnen erwachte und aufschaute, stand niemand mehr vor ihm. Ish wäre tatsächlich nicht imstande gewesen, mit voller Sicherheit zu sagen, ob der junge Mensch namens Jack am gleichen Tage bei; ihm gewesen, oder ob jetzt ein anderer Tag sei, oder vielleicht gar ein anderer Sommer.

2

Eines Morgens erwachte er früh, als im Zimmer noch Dämmerlicht herrschte. Eine Weite lag er still und überlegte, wo er sei, und einen Augenblick lang glaubte er, er sei wieder ein kleiner Junge und sei zu seiner Mutter ins Bett gekrochen, weil es dort morgens so behaglich war. Dann fiel ihm ein, daß dem nicht so sein könne, und er glaubte, wenn er die Hand ausstreckte, würde er Em neben sich finden. Aber auch dem war nicht so. Dann dachte er an seine junge Frau. Doch auch die war nicht da; denn er hatte sie vor langer Zeit einem jüngeren Mann überlassen, weil es sich geziemt, daß eine Frau Kinder gebiert, so daß der Stamm an Zahl zunimmt und die Dunkelheit weiter zurückweicht. So wurde er sich denn schließlich bewußt, daß er ein sehr alter Mann war und ganz allein im Bett lag. Dennoch war es dasselbe Bett und dasselbe Zimmer.

Er empfand eine sonderbare Trockenheit in der Kehle. Nach einiger Zeit stand er langsam auf und ging unsicher auf steifen, alten Beinen ins Badezimmer, um sich ein Glas Wasser zu holen, er streckte die rechte Hand aus und knipste den Lichtschalter an. Er hörte das vertraute Klick, und plötzlich erschien ihm das Zimmer strahlend hell. Doch unmittelbar danach stand er wieder im Dämmerlicht, und er gewahrte, daß das elektrische Licht nicht aufgeflammt war. Seit Jahren hatte es nicht gebrannt, und es würde nie wieder brennen — sein altes Hirn war durch das vertraute Klick getäuscht worden, und so hatte er für einen Sekundenbruchteil geglaubt, der Raum sei hell geworden. Er zerbrach sich nicht den Kopf darüber, weil ihm dergleichen schon mehrmals widerfahren war.

Als er dann den ungelenken Hahn über dem Waschbecken aufdrehte, strömte kein Wasser unter lustigem Geplätscher heraus. Da fiel ihm ein, daß schon seit Jahren das Wasser nicht mehr lief.

So konnte er denn kein Wasser trinken; aber es war nicht so sehr Durst, was ihm zu schaffen machte, als jene Trockenheit in der Kehle. Er schluckte ein paarmal, und es wurde ihm besser. Als er wieder vor seinem Bette stand, zögerte er und schnupperte. Er konnte sich erinnern, daß die Gerüche sich im Laufe der Jahre oftmals geändert hatten. Ganz früher hatte der Geruch der großen Stadt geherrscht. Der war dem reinen Geruch von Grün und Wachstum gewichen. Aber auch der war hingeschwunden, und jetzt herrschte in dem alten Hause ein Geruch von Alter und Verfall.

Doch dieser Geruch war ihm vertraut, und er kümmerte sich nicht darum. Was er mit Sicherheit wahrzunehmen versuchte, war eine Art trockener Rauchigkeit. Dieser trockene Rauchgeruch, so meinte er, hatte ihn so früh aufwachen lassen. Aber er ängstigte sich nicht und kroch wieder ins Bett.

Von Norden her wehte ein gleichmäßiger Wind. Er bewegte die Tannenbäume, die jetzt dicht um das Haus herum wuchsen, und ihre Zweige schabten an den Fenstern entlang und schlugen gegen sie und gegen die Hauswände.

Das Geräusch hielt ihn wach, und er lag und lauschte. Er wünschte zu wissen, wie spät es wohl sei; aber er trug seit langem keine Armbanduhr mehr. Zeit hatte früher bedeutet, daß bestimmte Dinge zu bestimmten Stunden getan werden mußten — all das gab es längst nicht mehr, und zwar weil die Lebensform sich geändert hatte und weil er selbst so alt war, daß er beinahe jenseits des Lebens stand. In gewisser Beziehung, so dünkte ihn, war er schon aus der Zeit in die Ewigkeit hinübergeglitten.

Nun lag er allein in dem alten, halb verfallenen Hause. Die andern schliefen in anderen Häusern, oder, bei gutem Wetter, im Freien.

Obwohl er keine Uhr besaß, sagte ihm das Dämmerlicht, daß es kurz vor Sonnenaufgang sein müsse. Vielleicht hatte er so lange geschlafen, wie ein alter Mann eben schlafen mußte. Er wollte liegenbleiben und sich dann und wann auf die andere Seite drehen, bis die Sonne aufgegangen war und irgend jemand — er wünschte, es möge der junge Mensch namens Jack sein — kam und ihm das Frühstück brachte. Es würde aus einem gut durchgebratenen Rinderknochen bestehen, den er aussaugen konnte, und aus einem Maisbrei. Der »Stamm« sorgte gut für ihn, den alten Mann. Sie gaben ihm Maisspeisen, obwohl das jetzt ein seltener Leckerbissen war. Sie schickten ihm jemand, der ihm den Hammer trug und ihm nach draußen half, so daß er am Hügelhang sitzen konnte, wenn die Sonne schien. Oft war es Jack, der kam und ihm half. Ja, sie sorgten sehr gut für ihn, obwohl er ein alter Mann und zu nichts nütze war. Manchmal waren sie zornig auf ihn und zwickten ihn; doch das geschah nur, weil sie meinten, er sei ein Gott.

Nach wie vor blies der Wind, und die Zweige schabten und kratzten am Hause. Aber augenscheinlich hatte er nicht so lange geschlafen, wie sein Schlafbedürfnis es erforderte, und so schlummerte er trotz der Geräusche nach einer Weile ein.


Die Hügeldurchstiche und die langen Dämme der Landstraßen — sie sind als enge Täler und Bodenwellen auch noch nach zehntausend Jahren wahrnehmbar. Die großen Mengen von Beton, daraus die Dämme bestanden — sie überdauern wie aus Granit gefügte Deiche.

Aber Stahl und Holz vergehen schnell. Über sie fallen die drei Feuer her.

Das langsamste von allen ist das Feuer des Rosts, das auf dem Stahl brennt. Doch gib ihm ein paar kurze Jahrhunderte Frist, und das hohe Stahlgerüst, das den Cañon überspannt, ist nur noch ein Streifen roter Erde auf den steilen Wänden darunter.

Bei weitem schneller wirkt das Feuer der Vermoderung, das sich vom Holze nährt.

Aber das schnellste von allen ist das Feuer der Flammen.


Plötzlich wurde er heftig von jemandem geschüttelt. Er wachte erschrocken auf. Als seine alten Augen sich richtig eingestellt hatten, sah er, daß der, der ihn schüttelte, der junge Mensch namens Jack war; Jacks Gesicht war angstverzerrt.

»Steh auf! Steh rasch auf!« sagte Jack. Durch den Schock bei dem jähen Erwachen schien Ishs Geist klarer denn zuvor, und sein Körper und sein Gehirn reagierten schneller. Hastig erhob er sich und warf ein paar Kleidungsstücke über. Jack half ihm. Das Zimmer war jetzt von dichtem Rauch erfüllt, nicht nur von Rauchgeruch. Ish hustete, und seine Augen tränten. Er hörte ein Prasseln und dumpfes Sausen. In aller Eile stiegen sie die Treppe hinunter, durchschritten die Haustür und gingen über die Stufen auf die Straße. Erst als sie außerhalb des Hauses waren, merkte Ish, wie stark der Wind wehte. Er wälzte Rauch vor sich her und ein Gewirbel von brennenden Blättern und Rindenstücken.

Ish war nicht weiter überrascht. Er hatte stets gewußt, daß dies eines Tages geschehen würde. Jedes Jahr wucherte der wilde Hafer empor und reifte und verdorrte, wo er eben stand. Jedes Jahr war das Buschwerk der verwahrlosten Gärten dichter geworden, und das dürre Laub war dazwischengefallen. Es war lediglich eine Frage der Zeit, so hatte er von jeher gewußt, daß das Lagerfeuer eines Jägers sich dessen Gewalt entzog, vom starken Wind angefacht und weitergetrieben wurde und als Feuersbrunst auf dieser Seite der Meeresbucht reinen Tisch machte, wie es auf der anderen Seite bereits geschehen war.

Gerade als sie auf dem Bürgersteig angelangt waren, flammte das dichte, verfilzte Buschwerk des nächsten, nördlich gelegenen Hauses prasselnd auf, so daß Ish vor der Hitze zurückschreckte. Jack schickte sich an, ihn auf dem Bürgersteig vor dem sich nähernden Feuer wegzuführen; und gerade in diesem Augenblick merkte Ish, daß er etwas vergessen hatte, obwohl ihm nicht einfiel, was es war.

Sie stießen auf zwei andere junge Menschen, die dastanden und nach den immer näher rückenden Flammen hinschauten. Dann fiel es Ish ein.

»Mein Hammer!« rief er. »Wo ist mein Hammer?«

Kaum hatte er diesen Schrei ausgestoßen, als er sich schämte, in einem Augenblick höchster Bedrängnis so viel Aufhebens um eine Lappalie gemacht zu haben. Denn schließlich besaß der Hammer nicht die mindeste Bedeutung. Dann aber war er verblüfft, welch schreckliche Wirkung seine Worte auf die drei jungen Menschen ausübten. Sie sahen einander an, als habe sie panisches Entsetzen gepackt. Plötzlich stürzte Jack dem Hause zu, obwohl die Gartenbüsche jetzt schon zu rauchen anfingen.

»Komm zurück! Komm zurück!« rief Ish hinter ihm her; aber seine Stimme war nicht sehr stark.

Es war für Ish ein furchtbarer Gedanke, daß Jack um einer Nichtigkeit willen, wie der Hammer es war, im Feuer umkommen könne.

Aber da kam Jack schon wieder herausgerannt. Sein Löwenfell war versengt, und er rieb sich ein paar Brandwunden, wo Funken auf ihn gefallen waren. Die beiden anderen jungen Menschen schienen seltsam erleichtert, als sie sahen, daß Jack den Hammer in der Hand hielt.

Dort, wo sie standen, konnten sie schwerlich noch lange bleiben, weil die Flammen schon fast über ihnen waberten.

»Wohin sollen wir gehen, Ish?« fragte einer. Ish fühlte, daß das eine merkwürdige Frage war, die da an ihn gerichtet wurde, denn er war ja doch ein alter Mann und wußte kaum so gut wie einer der jüngeren, was jetzt zu tun sei. Dann fiel ihm ein, daß sie ihn oftmals gefragt hatten, nach welcher Himmelsrichtung sie zur Jagd ausziehen sollten. Gab er dann keine Antwort, so kniffen sie ihn. Er mochte nicht gekniffen werden, und so dachte er jetzt darüber nach, welchen Weg sie einschlagen sollten. Die jungen Menschen, so überlegte er sich, konnten vor dem Feuer davonlaufen; aber er selbst hatte wohl nicht mehr die Kraft dazu. So dachte er angestrengter nach denn je. Da fiel ihm die flache, kehle Felsplatte ein, in die sie in vergangenen Zeiten die Jahreszahlen gemeißelt hatten. Rings um jene flache Felsplatte befanden sich andere hohe Felsen, wo nichts wuchs, und in den Spalten zwischen jenen Felsen konnten sie Zuflucht finden, weil dort nichts Brennbares war.

»Laßt uns zu den Felsen gehen!« sagte er, wobei er ohne weiteres annahm, sie wüßten, welche Felsen er meinte.

Zwar stützten ihn die jungen Menschen; aber Ish war sehr erschöpft, als sie bei den Felsen angelangt und in Sicherheit waren. Nun er aber da war, lag er ruhig, und schnappte nach Luft und kam allmählich wieder zu Kräften. Bald flammte das Feuer rings in der Runde; doch zwischen den Felsklippen bestand für sie keinerlei Gefahr. Einer der Felsen stand schräg, und ein anderer hoher Felsen stand dicht daneben, so daß sie sich fast in einer Höhle befanden.

Als er dort lag, sank Ish vor Schwäche in Halbschlaf; vielleicht war es aber auch eine leichte Ohnmacht, weil sein altes Herz nach der Hetzjagd vor den Flammen wild pochte. Nach einer Weile kam er wieder zu sich, lag ruhig da, und sein Geist schien klarer als seit langem zu sein.

»Ja«, dachte er, »jetzt ist die Zeit der Herbstdürre und der Feuersbrünste, der trockenen Nordwinde wegen. Und dieser Herbst ist dem Sommer gefolgt, in dem ich Jack kennengelernt und mich mit ihm über Pfeilspitzen unterhalten habe. Von jenem Augenblick an hat sich hauptsächlich Jack meiner angenommen. Vielleicht hat der ›Stamm‹ es ihm bei einer Versammlung ausdrücklich befohlen. Also bin ich jemand, der sehr wichtig ist. Ich bin ein Gott. Nein, ich bin kein Gott. Aber vielleicht bin ich das Sprachrohr eines Gottes. Nein, ich weiß, daß ich auch das nicht bin. Doch sie sorgen wenigstens für mich, und ich habe es gut, weil ich der letzte Amerikaner bin.«

Doch in seiner Erschöpfung nach der Flucht vor den Flammen schlief er wieder ein, oder vielleicht sank er auch nochmals in Ohnmacht.

Abermals kam er nach einiger Zeit wieder zu sich. Sehr lange konnte er nicht bewußtlos dagelegen haben; denn noch immer hörte er die Flammen prasseln. Als er die Augen aufschlug, konnte er über sich nur die grauen schräg stehenden Felsen erblicken, und er merkte, daß er auf dem Rücken liegen müsse. Er vernahm ein leises Schnaufen und das gutartige Knurren eines Hundes.

Nun er aber wieder bei Bewußtsein war, schien sein Geist klarer denn je zu sein, so klar, daß er zunächst darüber betroffen war, und dann ein wenig erschrocken. Denn ihm war, als wisse er um die gesamte Vergangenheit und um die gesamte Zukunft, und auch um alles, was gegenwärtig war.

»Die zweite Welt — die ist nun auch zunichte geworden!« Die Gedanken durchflackerten sein Hirn. »Ich habe die große Welt zugrunde gehen sehen. Nun geht die kleine Welt, meine zweite Welt, ebenfalls zugrunde. Sie geht im Feuer zugrunde. Im Feuer, das wir seit so langer Zeit kannten, im Feuer, das uns wärmt und das uns vernichtet. Früher hat es geheißen, der Bomben wegen würden wir uns zurückentwickeln und wieder in Höhlen leben. Ja, nun sind wir hier in einer Höhle — aber es ist nicht auf die Art geschehen, wie man damals gemeint hatte. Ich habe den Untergang meiner großen Welt überlebt, aber die Zerstörung meiner kleinen Welt werde ich nicht lange überdauern. Ich bin jetzt ein alter Mann, und dafür ist mein Geist viel zu klar. Ich weiß es. Das Ende ist nahe. Aus der Höhle sind wir gekommen, in die Höhle gehen wir wieder ein.«

Gerade wie sein Geist schien auch sein Auge klarer als sonst geworden zu sein. Als er sich nach einiger Zeit kräftiger fühlte, richtete er sich auf und konnte nun alle die anderen sehen. Im ersten Augenblick war er überrascht, daß nicht nur die drei jungen Menschen da waren, sondern überdies noch zwei Hunde. Er konnte sich nicht erinnern, die beiden Hunde zuvor gesehen zu haben. Es waren gewöhnliche Hunde, von der Art, wie sie für die Jagd benutzt wurden — nicht groß, langhaarig, fast schwarz, mit einem bißchen Weiß dazwischen, eine Art Hirtenhund —, so hätte man sie, wie er vermutete, in den Alten Zeiten genannt. Es waren kluge und wohlerzogene Hunde. Sie lagen friedlich in der höhlenartigen Felsgrotte und bellten nicht aufgeregt.

Dann sah Ish zu den jungen Menschen hin. Da er jetzt auf einmal Vergangenheit und Zukunft ebenso wie die Gegenwart überschauen konnte, erkannte er in den jungen Menschen deutlicher denn je die Mischung aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die sie ja auch tatsächlich darstellten. Gekleidet waren sie wie Jack. Sie trugen weiche, bequeme, mokassinartige Sandalen aus Hirschleder; sie trugen auch blaue Baumwollhosen mit blanken Kupferknöpfen. Über den Oberkörpern trugen sie einzig die gegerbten Löwenfelle, von denen noch die Pfoten mit den Klauen niederhingen. Alle trugen sie ihren Bogen und den Köcher mit den Pfeilen, und jeder trug an der Hüfte ein Messer, obwohl sie keine Messer schmieden konnten. Der eine hatte einen Speer, dessen Schaft so groß war wie er selbst, und oben an dem Schaft war eine Speerspitze. Als Ish genauer hinsah, erkannte er, daß es sich um ein altes Schlachtermesser mit langer Klinge handelte. Die Klinge war in das Ende des Speerschafts eingelassen, und da sie sehr spitz und scharf war, bildete der Speer eine furchtbare Waffe für den Nahkampf.

Schließlich betrachtete Ish die Gesichter der jungen Menschen und nahm wahr, daß sie ganz anders als die Gesichter der Menschen vergangener Zeiten waren. Diese Gesichter waren jung, aber sie waren auch ruhig und voller Gleichmut, und es zeigten sich darin kaum Spuren von Überanstrengung, Grübelei und Furcht.

»Seht!« sagte der eine und nickte dorthin, wo Ish saß. »Seht — jetzt geht es ihm besser. Er hält Umschau.« Ish hörte, daß die Stimme freundlich klang, und er empfand eine große Liebe zu dem jungen Menschen, von dem er kurz zuvor noch gefürchtet hatte, gerade er würde der erste sein, der ihn kniffe.

Sonderbar war auch, wie Ish jetzt dachte, daß nach all den Jahren die jungen Menschen nach wie vor eine Sprache redeten, die die Menschen ehedem als Englisch bezeichnet hatten.

Doch als er genauer zuhörte, merkte er, daß auch die Sprache sich verändert hatte. Als der junge Mensch das Wort »Seht!« sagte, da klang es nicht ganz so, wie es eigentlich hätte klingen müssen.

Jetzt wehte etwas Rauch zwischen die Felsen, so daß sie alle husten mußten. Draußen prasselten laut die Flammen; eine Baumgruppe mußte brennen, oder ein nahegelegenes Haus. Die Hunde winselten leise. Aber die Luft blieb ziemlich kühl, und so hatte Ish keine Furcht.

Er fragte sich, was mit den anderen geworden sein mochte. Der »Stamm« mußte jetzt aus mehreren hundert Menschen bestehen, und aus dem Gleichmut der jungen Menschen konnte er schließen, daß sich kein großes Unglück ereignet hatte. Wahrscheinlich, so dachte er, waren die anderen bei den ersten bedrohlichen Anzeichen der Feuersbrunst geflohen, und vielleicht war Jack erst im allerletzten Augenblick der alte Mann eingefallen — der zugleich ein Gott war —, der allein in dem Hause schlief.

Ja, jetzt war es leichter, einfach dazusitzen, Umschau zu halten und nachzudenken, ohne sich mit Problemen herumzuschlagen. So betrachtete er denn nochmals die Gesichter.

Jetzt spielte einer der jungen Menschen mit einem Hunde. Er streckte die Hand aus und zog sie dann schnell wieder zurück, und der Hund schnappte spielerisch zu und knurrte. Es war, als stünden der Hund und der junge Mensch auf einer Stufe, und beide schienen glücklich. Einer der anderen schnitzte an einem Stück Holz herum. Das scharfe Messer glitt tief in das weiße Holz, und unter Ishs Augen bildete sich darin eine Gestalt heraus. Ish lächelte still vor sich hin, denn er sah, daß die Gestalt breite Hüften und üppige Brüste hatte, und er meinte, die Jugend sei nach wie vor die gleiche. Dabei kannte er nicht einmal ihre Namen, ausgenommen den Jacks; aber sie mußten samt und sonders seine Enkel oder Urenkel sein. Hier saßen sie nun in der höhlenartigen Kluft zwischen zwei hohen Felsen, spielten mit einem Hunde oder schnitzten Figürchen, während draußen das Feuer prasselte. Die Zivilisation war vor vielen Jahren untergegangen; jetzt stand die letzte der Städte ringsum sicher in Flammen, und dennoch waren die jungen Menschen glücklich.

War alles zum Besten gediehen? Aus der Höhle kommen wir; in die Höhle gehen wir! Wenn jener andere gelebt, wenn es andere seinesgleichen gegeben hätte, so würde vielleicht alles ganz anders sein. Wiederum mußte er an Joey denken — an Joey! Aber ob dann alles besser gewesen wäre? Plötzlich wünschte er, noch lange Zeit zu leben — weitere hundert Jahre, und dann noch einmal hundert. Sein Leben lang hatte er die Entwicklung der Menschen und der Erde beobachtet, und er wünschte, er könnte das auch in Zukunft tun. Das nächste Jahrhundert und das nächste Jahrtausend würden sehr interessant sein.


Wieder lebt in jenen Tagen jeder kleine Stamm aus sich und für sich und geht seine eigenen Wege, und bald sind sie verschiedenartiger als in den ersten Tagen der Menschheit, gemäß der Beschaffenheit der Überlebenden und der Wohnstätten …

Die einen leben in steter Furcht vor der Außenwelt und wagen kaum, Wasser zu lassen, ohne dabei zu beten. Sie sind geschickt im Umgang mit Booten auf den von den Gezeiten ausgewaschenen Kanälen. Sie fangen Fische und holen sich Muscheln als Nahrungsmittel; auch ernten sie die Samen wilder Gräser …

Hier hausen welche mit dunklerer Hautfarbe; sie sprechen eine andere Sprache und beten eine dunkelhäutige Mutter und deren Kind an. Sie halten Pferde und Truthühner und bauen in der Flußniederung Mais an. Sie fangen in Schlingen Kaninchen; aber den Bogen haben sie nicht …

Die hier sind noch dunkler von Hautfarbe. Sie sprechen Englisch, können aber kein »r« aussprechen, und ihre Redeweise ist breit und plump. Sie halten Schweine und Hühner und bauen Mais an. Auch Baumwolle bauen sie an, aber sie werten sie nicht aus, außer daß sie ein paar Flocken ihrem Gotte opfern, weil sie von früher wissen, daß er Macht hat. Ihr Gott hat die Gestalt eines Alligators, und sie nennen ihn Olzaytn …

Die hier sind Bogenschützen, und zwar geschickte, und ihre Jagdhunde sind so dressiert, daß sie Laut geben. Sie versammeln sich gern und führen Streitgespräche. Ihre Weiber schreiten stolz einher. Das Symbol ihres Gottes ist ein Hammer; aber sie zollen ihm nicht eben große Ehrfurcht …

Viele andere gibt es noch, und alle sind verschieden geartet. In der Folgezeit, nach diesen Anfangsjahren, werden die Stämme wachsen und einander begegnen, und es werden sich in leiblicher und geistiger Beziehung fruchtbare Kreuzungen ergeben. Dann ergeben sich zweifellos blindlings und ohne menschliche Planung neue Zivilisationen und neue Kriege.


Nach einer Weile wurden sie hungrig und sehr durstig. Da das Feuer inzwischen stellenweise erloschen war, wagte sich einer der jungen Menschen hinaus. Als er wiederkam, brachte er einen alten Aluminium-Teekessel mit. Ish erkannte darin denjenigen, der immer bei der nahen Quelle gestanden hatte. Der junge Mensch reichte ihn zunächst Ish, und Ish nahm einen langen Schluck.

Danach zog der gleiche junge Mensch eine flache Blechdose aus der Hosentasche. Das Etikett hatte sich schon vor langer Zeit abgelöst, und das Metall war ziemlich verrostet. Die drei beredeten ausgiebig, ob sie das, was in der Dose war, essen sollten. Einer von ihnen behauptete, es seien schon Menschen gestorben, die etwas aus einer Dose gegessen hatten. Sie redeten kräftig hin und her, aber sie fragten Ish nicht um Rat. Wenn auf der Dose das Bild eines Fisches oder einer Frucht gewesen wäre, so hätte man wissen können, welche Art Nahrung darin war. Aber selbst wenn man es wußte, konnte der Inhalt einer rostigen Dose gefährlich sein, wenn nämlich der Rost das Blech durchdrang, dann war ihr Inhalt verdorben.

Ish, der sich an dem Hinundhergerede nicht beteiligte, hätte ihnen sagen können, das Nächstliegende sei, die Dose einfach aufzumachen und sich davon zu überzeugen, in welchem Zustand der Inhalt sich befand. Aber da er ein sehr alter Mann war und über einige Lebensweisheit verfügte, merkte er, daß sie wohl nur so viel redeten, weil es ihnen Spaß machte, und weil sie möglicherweise einer Entscheidung ausweichen wollten.

Nach einiger Zeit öffneten sie indessen mit einem der Messer die Dose, und es war etwas Rötlich-Braunes darin. Ish war sich klar darüber, daß es sich um eine Dose Lachs handelte. Prüfend beroch er sie und entschied dann, sie sei noch gut. Sie sahen sich auch die Innenseite der Dose genau an und sahen, daß der Rost noch nicht hindurchgedrungen war. So teilten sie sich denn den Lachs und gaben Ish davon ab.

Ish hatte seit langer Zeit keinen Dosenlachs gesehen oder gegessen. Das Fleisch sah viel dunkler aus, als es eigentlich hätte aussehen dürfen, und es duftete auch nicht würzig. Doch er meinte, der Geschmack oder vielmehr das Fehlen eines eigentlichen Geschmacks rühre daher, daß infolge seines hohen Alters sein Geschmackssinn abgestumpft sei. Wäre ihm das Sprechen nicht so schwergefallen, so hätte er den jungen Menschen eine Vorlesung über all die Wunder gehalten, die hatten vollbracht werden müssen, bis sie imstande waren, dieses bißchen Lachs zu essen. Der Fisch war wohl vor vielen Jahren gefangen worden, wahrscheinlich an den Küsten von Alaska, tausend Meilen und mehr von dem Orte entfernt, wo sie ihn jetzt verzehrten. Aber selbst wenn ihm das Sprechen nicht so schwergefallen wäre, hätte er, wie ihm bewußt wurde, den jungen Menschen kaum verständlich machen können, worüber er eigentlich spräche. Vielleicht hatten sie den Ozean gesehen, weil er nicht allzuweit von ihrer Wohnstätte entfernt lag; aber sie würden keine Vorstellung von einem über dem Ozean segelnden großen Schiff gehabt und nicht gewußt haben, was er meinte, wenn er von tausend Meilen gesprochen hätte.

So aß er denn in aller Ruhe und ließ seine Blicke von einem der jungen Menschen zum anderen schweifen. Aber immer häufiger richtete sich sein Augenmerk auf den ganz bestimmten, der Jack hieß. Er hatte eine Narbe auf dem rechten Arm, und sofern seine Augen ihn nicht täuschten, gewahrte Ish, daß Jacks linke Hand wohl infolge eines Unfalls ein wenig entstellt war. Ja, Jack mußte Schmerzen erlitten haben, und dennoch war sein Gesicht wie das der anderen klar und frei im Ausdruck.

Wieder spürte Ish, wie sein Herz dem jungen Menschen entgegenflog, denn trotz der Narbe und der entstellten Hand mutete der junge Mensch kindlich und unschuldig an, und Ish fürchtete, daß die Welt sich eines Tages gefährlich gegen ihn wenden und ihn unvorbereitet finden würde. Ish mußte daran denken, daß er an diesen jungen Menschen namens Jack eine Frage gerichtet hatte. Er hatte ihn gefragt: »Bist du glücklich?« Und der junge Mensch hatte eine dermaßen merkwürdige Antwort gegeben, daß Ish sich nicht darüber klar gewesen war, ob Jack verstanden habe, was seine Worte bedeuteten. So war es im Laufe der Jahre mit vielen Dingen gegangen; obwohl sich die Sprache an sich gar nicht oder nur wenig verändert hatte, gab es Vorstellungen und Unterscheidungen, um die die Menschen nicht mehr wußten. Vielleicht unterschieden sie nicht mehr so scharf zwischen Lust und Schmerz, wie es die Menschen im Zeitalter der Zivilisation getan hatten. Vielleicht waren auch andere Unterschiede verblaßt.

Vielleicht hatte Jack die Frage gar nicht richtig verstanden, als er damals antwortete: »Ja, ich bin glücklich. Die Dinge sind, wie sie sind, und ich bin ein Teil davon.«

Aber wenigstens war die Fröhlichkeit nicht aus der Welt verschwunden. Solange Ish in der Felsgrotte blieb, sah er die andern mit den Hunden spielen oder untereinander scherzen. Sie lachten leicht und oft. Und während der eine an seinem Holzfigürchen schnitzte, pfiff er eine Melodie vor sich hin. Es war eine heitere Melodie, und Ish erinnerte sich der Weise, aber nicht der dazugehörigen Worte. Doch er mußte dabei an Weine Glocken denken, und an Schnee, und an rot und grün schimmernde Kerzen und Festfröhlichkeit. Ja, auch in den Alten Zeiten mußte es ein frohes Lied gewesen sein, und nun klang es fröhlicher denn je. Die Fröhlichkeit hatte das Große Unheil überlebt!

Das Große Unheil! Seit langer Zeit hatte Ish nicht mehr daran gedacht. Nun schienen die Worte ihre Bedeutungsschwere eingebüßt zu haben. Die Menschen, die damals gestorben waren, würden übrigens jetzt lange tot sein, einfach weil so viel Zeit hingegangen war.

Jetzt schien es keinen Unterschied zu bedeuten, ob sie alle in einem Jahr oder langsam innerhalb vieler Jahre gestorben waren.

Und was den Untergang der Zivilisation betraf — so hatte er sie viel zu lange angezweifelt.

Noch immer pfiff der junge Mensch fröhlich vor sich hin, und Ish meinte, jetzt könnte er sich der Worte erinnern. »O du fröhliche …« Er konnte den jungen Menschen nach den Worten fragen. Wie er indessen so in der tiefen Kluft zwischen den beiden Felsen saß, fühlte Ish sich zu müde, irgendwelche Fragen aufzuwerfen. Dennoch war sein Geist klar. Er war erschreckend klar, und er vermochte sich nicht zu erinnern, daß er je mit seinem Denken so tief unter die Oberfläche der Dinge habe dringen können.

»Was bedeutet das alles?« dachte er. »Warum ist mein Geist heute so scharf und behend?« Er dachte, es rühre vielleicht von dem Schock her, als er so rauh aus dem Bette gerissen und gezwungen worden war, das brennende Haus zu verlassen. Aber er war dessen nicht sicher. Alles, was er wußte, war, daß er klarer denken konnte, als er es je getan, soweit er sich auch zurückbesinnen konnte.

Noch immer wunderte er sich über die Gesichter der jungen Menschen und ihre Vertrauensseligkeit, während draußen alles in Flammen stand. Obwohl Ish dieses Problem nicht lösen konnte, dachte er viel darüber nach, und es kamen ihm verschiedene Ideen. Vielleicht beruhte die Andersartigkeit im Unterschied zwischen der Zivilisation und den Zeiten, die sie jetzt durchlebten. Im Zeitalter der Zivilisation, so meinte er, hätte jeder dieser jungen Menschen im andern den Nebenbuhler gesehen, weil in den Tagen der Zivilisation zu viele Menschen gelebt hatten. Sie hatten sich wohl nicht allzu viele Gedanken über die Außenwelt gemacht, weil der Mensch sehr viel stärker als die Außenwelt zu sein schien. Sie hatten wohl in der Hauptsache darüber nachgedacht, wie sie andere Menschen ausstechen konnten, und so hatten sie einander sämtlich nicht getraut, nicht einmal der Bruder dem Bruder. Doch jetzt, dachte Ish, da nur noch sehr wenige Menschen lebten, schritt jeder dieser jungen Leute frei und ungehindert einher, den Bogen in der Hand, den Hund an der Seite, und der Gefährte mußte ihm auf Rufweite nahe sein. Aber ganz genau wußte Ish das nicht, und obwohl sein Denken völlig klar und sehr tief war in jener Stunde, war er der Sache nicht sicher.

Um die Mitte des Nachmittags war das Feuer weitergerückt und loderte jetzt südlich von ihnen. Sie verließen die Felsenschlucht sie gingen den Stellen aus dem Wege, wo das Feuer noch gloste und wo glühende Asche lag, und stiegen allmählich in südlicher Richtung ohne allzu große Schwierigkeiten den Hang hinab. Augenscheinlich wußten die jungen Menschen, was sie taten. Ish nahm Abstand davon, Fragen zu stellen, weil er alle seine Kraft zum Weitergehen brauchte. Sie warteten geduldig auf ihn, und oft stützten sie ihn; er legte dann seine Arme auf ihre Schultern. Als ihn gegen Abend die Kraft verließ, wurde an einem Bache gelagert. Der Sprunghaftigkeit des Windes wegen und weil hier mehr Grün wuchs, war das Fleckchen vom Feuer verschont geblieben.

Im Bachbett rann ein wenig Wasser. Die größeren Tiere schienen sämtlich vor dem Feuer davongelaufen zu sein; aber zahlreiche Wachteln und Kaninchen hatten am Bachbett Zuflucht gesucht, und die jungen Menschen, die mit ihren Bogen auf die Pirsch gegangen waren, kamen bald mit reicher Beute wieder.

Der eine, der sich darauf verstand, begann mit Hilfe eines Bogenbohrers Feuer zu machen. Aber die anderen lachten ihn aus und sammelten rasch noch glühende und rauchende Äste, die das Feuer hinterlassen hatte.

Nachdem er ein wenig gesessen hatte und sich kräftiger fühlte, hielt Ish Umschau und erkannte an den vom Feuer ausgehöhlten Ruinen eines großen Gebäudes, daß sie dort lagerten, wo ehedem der Park vor der Universität gewesen war. Obwohl er noch erschöpft war, stand er neugierig auf und nahm in etwa hundert Metern Entfernung die Umrisse der Bibliothek wahr. Die Bäume ringsum waren verbrannt, aber das Gebäude selbst war unversehrt. Nahezu alle Bände, das gesamte Wissen der Menschheit, waren wahrscheinlich noch benutzbar. Benutzbar für wen? Ish versuchte gar nicht erst, sich die Frage zu beantworten, die so jäh und unvermittelt in seinem Geiste auftauchte. Auf irgendeine Weise waren die Rollen im Spiel vertauscht. Er hätte nicht sagen können, ob zum Besseren oder zum Schlechteren. Jedenfalls aber schien es ihm jetzt nur einen geringen Unterschied zu bedeuten, ob die Bibliothek erhalten oder zerstört war. Vielleicht war das die Weisheit des Alters. Vielleicht waren es nur Verzweiflung und Resignation.

»Das ist diese Nacht eine seltsame Schlafstätte für mich«, dachte Ish. »Ob wohl die Geister meiner alten Professoren mich nach all den Jahren umspuken? Ob ich von einer Million Bücher träume, die in endloser Prozession an mir vorbeiziehen und mich vorwurfsvoll anschauen, weil ich nach so langer Zeit nun sie und alles, wofür sie eintreten, anzweifle?«

Obwohl er häufig aufwachte und es ihn fror und er die jungen Menschen um ihren gesunden Schlaf beneidete, schlief er doch zwischen den Spannen des Wachseins vortrefflich und hatte keinerlei Träume, weil er von den Geschehnissen des Tages sehr ermüdet war.

3

Als er in der Morgendämmerung endgültig erwachte, fühlte er sich schwach, war aber klaren Kopfes.

»Dies ist sehr seltsam«, dachte er. »Ich weiß, daß ich mir während der letzten paar Jahre häufig nicht völlig dessen bewußt gewesen bin, was geschah; so ist es eben bei sehr alten Leuten. Jetzt aber, genau wie gestern, sehe ich alles sehr deutlich. Es fragt sich, was das bedeutet.«

Er sah den jungen Menschen zu, die das Frühstück bereiteten. Der eine pfiff fröhlich die gleiche Weise, und wieder erinnerte sie Ish an kleine Glocken und Glückseligkeit, obwohl er sich der Worte nicht entsinnen konnte. Doch sein Geist war klar — »klar und hell wie Glockenklang«, wie es in einem alten Gedicht hieß; immerfort mußte er an Glocken denken.

»Ich habe gehört«, dachte er und setzte seine Gedanken in stumme Sätze um, wie er es gewohnt und wozu er jetzt als alter Mann mehr denn je geneigt war. »Ja, ich habe gehört; oder wahrscheinlicher ist, daß ich es in einem jener vielen Bücher gelesen habe, denn von irgendwoher muß der Gedanke schließlich stammen, daß des Menschen Geist kurz vor seinem Tode klar wird. Nun, ich bin sehr alt, und es ist etwas Naheliegendes, und ich brauche deswegen wirklich nicht unglücklich zu sein. Wäre ich Katholik und wäre nicht alles anders geworden, so müßte mich jetzt nach der Beichte verlangen.«

Er lag an dem kleinen Bache; in der Luft hing noch immer der Rauchgeruch, und die alten Universitätsgebäude standen um ihn herum, in der Dämmerung kaum wahrnehmbar. Er überdachte kurz sein Leben und erwog, was er an Sünden und guten Taten vollbracht habe. Denn seiner Meinung nach mußte der Mensch Frieden mit sich selber schließen, auch wenn alle Lebensbedingungen und Voraussetzungen anders geworden waren, und der Mensch durfte der Frage nicht ausweichen, ob er in seinem Leben den Gedanken und Vorstellungen genug getan habe, die er in sich von dem, was er sein sollte, geformt hatte, und das alles war nicht Sache der Priester und der Religion, sondern des Menschen selbst.

Nachdem er über sein Leben nachgedacht hatte, fühlte er sich durchaus nicht verstört. Er hatte Fehler begangen, aber manchmal hatte er auch das Richtige getan, wie er es stets oder doch wenigstens im allgemeinen versucht hatte. Das Große Unheil hatte ihn in eine Lage versetzt, für die er nicht vorgebildet war; dennoch hatte er dieses und jenes fertiggebracht; er hatte gelebt und hatte vertraut, und zwar auf eine nicht eben niedrige Weise.

Dann brachte einer der jungen Menschen ihm ein Stück Fleisch, das am Spieß über dem offenen Feuer gebraten worden war.

»Das ist für dich«, sagte der junge Mensch. »Es ist eine Wachtelbrust, wie du, Ish, ohnehin sehr wohl weißt.«

Ish dankte ihm höflich und verzehrte das Bruststück, wobei er froh war, daß er noch Zähne hatte. Durch das Braten über dem offenen Feuer schmeckte das Fleisch leicht nach Rauch, und der Geschmack war köstlich.

»Warum sollte ich ans Sterben denken?« fragte er sich. »Noch macht mir das Leben Freude, und ich bin der letzte Amerikaner.«

Aber er zerbrach sich nicht den Kopf mit Gedanken über das, was nun geschehen würde, noch stellte er Fragen, was sie heute tun wollten. Er hatte die sonderbare Empfindung, als sei er bereits zur Hälfte der Welt entglitten, obwohl er sich ihrer nach wie vor völlig bewußt war.

Nach dem Frühstück erscholl ein Ruf den Bach herauf, und bald darauf gesellte sich ihnen ein neuer Ankömmling hinzu. Darauf entstand eine ausgedehnte Unterhaltung, der Ish nicht allzuviel Aufmerksamkeit zollte. Er vernahm ohnehin, daß der ganze »Stamm« unterwegs zu einer Gegend war, wo es mehrere Seen gab und wo das Feuer nicht gewütet hatte. Wie der Ankömmling sagte, war es ein sehr gutes Land. Die drei jungen Menschen, die seit gestern bei Ish gewesen waren, neigten anfänglich zu Einwänden, weil sie bei dem Beschluß nicht gefragt worden waren. Aber der andere setzte ihnen auseinander, die Frage sei bei einer Versammlung des »Stammes« besprochen und dann in diesem Sinne entschieden worden. Da gaben die drei nach; denn was der »Stamm« beschlossen hatte, das war auch für sie bindend.

Obwohl dies zweifellos eine geringfügige Angelegenheit war, empfand Ish darüber eine ganz besondere Genugtuung. Denn eben dieses Verhalten hatte er sie seit langem gelehrt. Aber obwohl der Gedanke wohltuend war, brachte er für ihn Kummer und selbst Gewissensnot mit sich, weil er an Charlie denken mußte.

Bald trafen sie Vorbereitungen zum Beginn des Marsches; aber Ish war so schwach, daß er sich kaum auf den Füßen halten konnte. Da entschlossen sich die jungen Menschen denn, ihn abwechselnd auf dem Rücken zu tragen, und so brachen sie auf. Indem sie ihn trugen, kamen sie schneller voran als am vorhergegangenen Tage, als Ish marschiert war. Sie scherzten miteinander, wie leicht ein alter Mann allmählich werde. Ish war glücklich, daß er keine allzu schwere Last für sie bedeutete; der eine sagte, daß der Hammer schwerer wöge als Ish selbst.

Als sie sich auf solcherlei Weise vorwärtsbewegten, wirkte sich wohl das Schaukeln durch das Getragenwerden auf Ish aus, und er spürte, wie der Nebel ihm wieder ins Gehirn kroch. Er konnte sich nicht einmal klar darüber werden, auf welchem Wege und in welcher Richtung sie gingen. Nur dann und wann nahm er Einzelgeschehnisse wahr.

Nach einiger Zeit kamen sie aus dem verbrannten Gebiet heraus und gelangten in einen Teil der Stadt, den das Feuer unversehrt gelassen hatte. An der Feuchtigkeit der Luft, die ihn leise frösteln ließ, erkannte Ish, daß der Wind sich gedreht hatte und daß dieser Bezirk in der Nähe der Meeresbucht liegen mußte. Es standen Ruinen von Fabrikgebäuden in diesem Stadtviertel. Einmal gewahrte Ish die parallelen Rostlinien einer Eisenbahnstrecke. Überall fanden sich aufgeschossenes Buschwerk und hohe Bäume; aber die langen, trockenen Sommer hatten verhindert, daß das Land sich in den Wald zurückverwandelte, und so gab es denn viele Grasflächen, über die hinweg die jungen Menschen ohne Schwierigkeit einen Weg fanden. Oft indessen folgten sie einfach den Zügen ehemaliger Straßen, wo hier und dort noch die Asphaltdecke vorhanden war, trotz des in den Rissen und Sprüngen wuchernden Unkrauts und des von den Seiten her andrängenden Grases, das dort wuchs, wo der in all den Jahren hergewehte Staub eine dünne Erdschicht bildete. Im allgemeinen jedoch schienen die jungen Menschen sich mehr nach dem Sonnenstand oder nach einigen fernen Landmarken als nach dem Verlauf der Straßenzüge zu richten.

Als sie ein Gebüsch durchdrangen, fiel Ish etwas auf, und er streckte die Hand aus und bat weinerlich darum, wie ein Kind. Die jungen Menschen sahen hin. Sie hielten inne und lachten fröhlich, um ihn zu beschwichtigen. Der eine ging und holte das, wonach Ish gegreint hatte. Als er es bekam, war Ish entzückt, und nun lachten sie ihn gutmütig aus, als sei er tatsächlich ein Kind.

Ish kümmerte sich nicht darum. Er hatte, was er wollte. Es war eine scharlachrote Blume — die Blüte eines Geraniums, das sich den neuen Daseinsbedingungen angepaßt und all die Jahre überdauert hatte. Es war nicht die Blüte, sondern die Farbe, was ihm den jähen Wunsch eingegeben und ihn hatte laut herausweinen lassen. Es war jetzt nicht mehr genug Rot in der Welt. Da er alt war, konnte er sich einer Welt erinnern, in der Farben und Lichter scharlachrot und zinnoberrot geflammt hatten. Jetzt aber war die Welt in eine ruhige Harmonie von Blau und Grün und Braun zurückgesunken — und nirgends mehr leuchtete ein Rot.

Doch als er, auf dem Rücken getragen, dahinschaukelte, verlor er das Bewußtsein, und als er wieder zu sich kam, saßen alle auf dem Boden und rasteten, und irgendwo war ihm die Blüte aus der Hand geglitten. Als er jetzt aber aufschaute, erblickten seine Augen in einiger Entfernung etwas, und als er genauer hinsah, sah er, daß es ein Wegweiser war. Er hatte die Form eines Schildes, und er las U.S. und California, und zwei große Zahlen, eine 4 und eine 0. Es war ihm dermaßen ungewohnt, Zahlen zu sehen, daß er erst ein paar Augenblicke später die beiden zusammenfügen und mit der Zunge das Wort »vierzig« bilden konnte.

»Dies also«, dachte er, »diese Straße, die ich kaum erkennen kann, weil so viel darauf wächst, ist die alte Staatsstraße 40 — die ›Ostküstenstraße‹. Früher hat sie sechs Fahrbahnen gehabt. Wir müssen also der Bucht-Brücke entgegenwandern.« Und dann schwand sein Wahrnehmungsvermögen wieder hin.

Noch ein anderes Geschehnis während dieses Morgenmarsches hob sich deutlich aus der Nebeldämmerung ab, die ihn umdrängte. Abermals hielten sie; aber diesmal setzten sie sich nicht hin. Die jungen Menschen riefen Jack, der ihn gerade trug, und als Ish über Jacks linke Schulter hinwegschaute, sah er den mit dem Speer gerade vor ihnen beiden; und rechts und links standen die beiden andern mit halbgespannten Bogen, den Pfeil schußfertig auf der Sehne. Die beiden Hunde duckten sich neben ihnen und knurrten tief. Als er weiter vorwärts schaute, sah Ish auf dem Wege einen großen Berglöwen.

Der Löwe kauerte bedrohlich auf der einen Wegseite, und auf der andern wichen die Menschen und die Hunde nicht vom Fleck. So blieb alles etwa ein Dutzend Atemzüge lang.

Dann sagte der mit dem Speer: »Er will nicht springen.« Er sprach ruhig, als bestätigte er lediglich eine Tatsache.

»Soll ich schießen?« fragte einer der andern.

»Sei kein Narr!« antwortete der mit dem Speer ohne die mindeste Erregung.

Sie gingen alle ein Stückchen zurück und machten nach rechts hinaus einen kleinen Umweg, wobei sie die Hunde unmittelbar neben sich hielten, so daß sie nicht davonlaufen und den Löwen beunruhigen oder reizen konnten. So umgingen sie den Löwen und überließen ihm den direkten Weg, vermieden also einen Zusammenstoß. Ish wunderte sich darüber. Soweit er sehen konnte, hatten die Menschen keine Furcht vor dem Raubtier, sondern vermieden lediglich den Zusammenstoß, und auf der anderen Seite schien auch das Raubtier den Menschen nicht zu fürchten. Vielleicht geschah das, weil jetzt keine Gewehre mehr benutzt wurden, oder vielleicht auch, weil es nur noch so wenige Menschen gab, daß der Löwe selten einen sah und sich nicht vorstellen konnte, wie gefährlich diese harmlos aussehenden Geschöpfe waren. Vielleicht aber hätten die jungen Menschen den Angriff gewagt, wenn sie nicht mit dem hilflosen alten Manne belastet gewesen wären.

Dennoch konnte Ish nicht umhin zu meinen, daß das alte Herrschaftsgefühl, der alte Hochmut, mit denen sie einst auf die Tiere herabgeblickt hatten, hingeschwunden waren, und daß sie die Tiere jetzt mehr oder weniger als ihresgleichen behandelten. Er hatte die Empfindung, als ginge das zu weit, und dabei setzten die jungen Menschen so unbefangen wie stets ihren Weg fort, trieben ihre Scherze und waren sich schwerlich bewußt, daß sie sich gedemütigt hatten, indem sie den Löwen umgingen, als hätte es sich darum gehandelt, einen umgestürzten Baum oder einem zerfallenen Gebäude auszuweichen.

Als er sich das nächstemal der Umwelt bewußt wurde, näherten sie sich der Brücke. Ishs Interesse erwachte, und wiederum wünschte er, daß er den jungen Menschen etwas von den Alten Zeiten erzählen könnte, über das Aussehen der Brücke, als nach beiden Richtungen hin der Verkehr darüber hingebraust war, als auf allen sechs Fahrbahnen Autos dahingeflitzt waren, so daß man keinesfalls lebendigen Leibes von einer Seite auf die andere hätte gehen können.

Jetzt aber schritten sie langsam die lange Auffahrt hinan und gelangten auf den ersten Bogen an der Ostbuchtseite. Ish bemerkte, daß die Brücke als Ganzes, obwohl rostbedeckt, noch unversehrt war. Nur das Pflaster war in schlimmem Zustand, und einige der Türme standen merklich schief.

An einer Stelle mußten sie mehrere Meter über einen einzelnen Träger gehen, weil das die einzige Möglichkeit zum Weiterkommen war. Wenn Ish vom Rücken des jungen Menschen aus niederschaute, konnte er tief unten die Wellen hin und her wogen sehen, und er nahm wahr, daß das Metall der Brücke dort, wo während all der Jahre das Salzwasser darauf gespritzt war, tief zerfressen war, sich gesenkt hatte und zu brechen drohte.


Dies ist die Straße, darauf keines Menschen Reise endet. Dies ist der Fluß, der so lang ist, daß kein Reisender zum Meere gelangt. Dies ist der Pfad, der sich zwischen Hügeln hindurchwindet und sich immer weiter windet. Dies ist die Brücke, die kein Mensch gänzlich überschreitet — glücklich, wer durch Nebel und Regenwolken das ferne, jenseitige Ufer dämmern sieht oder zu sehen glaubt.


Danach trübte Ishs Bewußtsein sich wieder, bis er schließlich erkannte, daß er auf etwas Hartem saß und an etwas Hartem lehnte und daß seine Füße sehr kalt waren. Dann merkte er, daß jemand ihm die Hände rieb, und er kam langsam zum Bewußtsein.


Er erkannte, daß er auf dem Brückenpflaster saß, mit dem Rücken gegen das Geländer. Das erste, was er richtig wahrnahm, war sein Hammer, der vor ihm auf dem Pflaster stand. Zwei der jungen Menschen rieben ihm die Hände, als versuchten sie, das Blut wieder hineinzutreiben. Auch die beiden anderen jungen Menschen waren da, und alle schienen sehr bestürzt.

Ish spürte, daß seine Füße und selbst der obere Teil der Beine kalt waren; oder vielleicht hatte sich schon alles Gefühl darin in eine Art Kälte aufgelöst, die man als tödlich bezeichnen konnte. Als sein Geist dann klarer wurde, erkannte er, daß es sich hier nicht nur um einen jener Schwächezustände handelte, wie sie das hohe Alter mit sich bringt, sondern daß er eine Art Anfall erlitten haben mußte, einen Schlag oder eine Herzkrise, und daß die andern sich ängstigten.

Er sah Jack die Lippen bewegen, als spreche er, und dennoch war nichts zu hören. Welch sonderbares Benehmen. Immer heftiger bewegten sich die Lippen, als rufe Jack. Dann merkte Ish, daß er selbst nichts mehr hören konnte. Der Gedanke war ihm nicht schmerzlich, sondern erfreute ihn eher, weil er wußte, daß die Außenwelt nun nicht mehr in ihn eindringen würde wie in die andern Menschen, die hören konnten.

Die anderen begannen zu sprechen, das heißt: sie bewegten die Lippen, und Ish merkte, daß sie versuchten, ihm unter allen Umständen und schier verzweifelt etwas zu sagen. Er schüttelte verwirrt den Kopf. Dann versuchte er, ihnen klarzumachen, daß er nicht hören könne; aber er merkte, daß er seine Zunge nicht mehr beherrschte. Das machte ihn tief betroffen, denn er bedachte, daß es eine üble Sache sei, in der Welt zu leben, wenn man sich nicht durch Sprechen mitteilen konnte und wenn niemand imstande war, zu lesen, was man geschrieben hatte.

Die jungen Menschen hatten ihm während des ganzen Tages viel Hochachtung und Freundlichkeit bezeigt. Jetzt aber gerieten sie außer sich und wurden zornig. Sie vollführten heftige Gesten, und Ish konnte erkennen, daß sie verlangten, er solle etwas tun, und daß sie zu fürchten schienen, er sei dazu nicht imstande. Sie deuteten auf den Hammer, aber Ish hielt es nicht für der Mühe wert, den mühevollen Versuch zu unternehmen, sie zu verstehen.

Bald indessen wurden die jungen Menschen dringlicher, und dann fingen sie an, ihn zu kneifen. Ish spürte den Schmerz, weil in seinem Körper noch Gefühl war, und er stöhnte, und es traten ihm Tränen in die Augen, obwohl er sich dessen schämte und die Empfindung hatte, so etwas gehöre sich nicht für den letzten Amerikaner.

»Es ist etwas Seltsames«, dachte er, »ein alter Gott zu sein. Sie verehren einen, und dennoch mißhandeln sie einen. Wenn du nicht willst, was sie wollen, dann zahlen sie es dir heim. Das ist nicht anständig.«

Als er dann mühselig nachdachte und ihre Gesten beobachtete, glaubte er, sie wollten ihn dahin bringen, daß er denjenigen bezeichnete, dem der Hammer übergeben werden sollte. Der Hammer war seit langer Zeit Ishs Eigentum, und es war ihm niemals von irgendeiner Seite zugemutet worden, ihn abzugeben; aber das kümmerte ihn jetzt nicht mehr, und überdies wollte er, daß sie mit dem Kneifen aufhörten. Er konnte noch die Arme bewegen, und so tat er durch eine Geste kund, daß der junge Mann namens Jack den Hammer haben sollte.

Jack ergriff den Hammer und schwang ihn in der Rechten. Die drei andern traten ein wenig zurück, und Ish empfand etwas wie eine sonderbare Sorge um den jungen Menschen, auf den der Hammer übergegangen war.

Doch sie schienen jetzt alle erleichtert zu sein, nun die Hammererbschaft geregelt war, und sie quälten Ish nicht mehr.

So blieb er denn ruhig sitzen, als habe er in dieser Welt alles getan, was getan werden mußte, und als habe er seinen Frieden geschlossen. Er lag auf der Brücke im Sterben; das wußte er jetzt. Viele andere, so erinnerte er sich, waren auf dieser Brücke gestorben. Auch er hätte hier schon vor vielen Jahren durch einen nichtigen Autozusammenstoß ums Leben kommen können. Jetzt hatte er sein eigenes Dasein unwiderruflich zu Ende gelebt und lag hier als ein Sterbender. Undeutlich erinnerte er sich einer Zeile, die er in irgendeinem Buche in den Jahren gelesen hatte, da er viele Bücher zu lesen pflegte. »Menschen gehen und kommen …« Aber das klang ohne die ergänzende Hälfte seicht und sinnlos.

Er schaute zu den andern hin, obwohl ihm ein leichter Nebel vor den Augen schwamm und er nicht gut sehen konnte. Er nahm wahr daß die beiden Hunde ruhig dalagen, und daß die vier jungen Menschen, deren einer sich jetzt abgesondert hielt, ihn auf der Brücke im Halbkreis umstanden und beobachteten. Sie waren noch sehr jung, wenigstens im Vergleich zu ihm, und in der Entwicklung der Menschheit waren sie viele Tausende von Jahren jünger als er. Er war der Letzte der Alten; sie waren die ersten der Neuen. Aber ob nun die Neuen die Bahn einschlagen würden, die der Alte eingeschlagen hatte, das wußte er nicht, und er war sich jetzt beinahe sicher, daß er es nicht einmal wünschte, daß alles sich wiederholte. Unvermittelt gedachte er all dessen, worauf die Zivilisation errichtet worden war — Sklaverei, Eroberung, Krieg und Unterdrückung.

Doch jetzt blickte er über die jungen Menschen hinaus auf die Brücke. Nun er bald tot war, fühlte er sich der Brücke inniger verbunden als den Menschen. Auch sie war ein Teil der Zivilisation gewesen.

Zu seiner Überraschung sah er in einiger Entfernung ein Auto stehen, oder das, was von einem Auto noch übrig war. Dann fiel ihm der kleine Zweisitzer ein, der all die Jahre hindurch hier gestanden hatte. Nun war die Farbe fast gänzlich verwittert; nicht nur die Reifen waren platt, sondern auch die Felgen hatten nachgegeben, so daß der ganze Wagen zusammengesackt war. Die oberen Teile waren weiß von Vogelkot. Seltsamerweise, obwohl es etwas völlig Unwichtiges war, konnte er sich noch erinnern, daß der Eigentümer des Wagens James Robson geheißen hatte (und dazwischen war ein E oder ein T oder ein P oder so etwas Ähnliches gewesen), und daß er in Oakland in einer der numerierten Straßen gewohnt hatte.

Doch Ish ließ seinen spähenden Blick nur einen Augenblick auf dem kleinen Zweisitzer ruhen. Dann wandte sein Blick sich nach oben, und er sah die ragenden Türme und die großen Kabel, die sich nach wie vor in vollkommenen Bogen spannten. Dieser Teil der Brücke schien sich in einem guten Zustand zu befinden. Er würde vermutlich noch lange Zeit aufrecht stehen, vielleicht die Lebenszeit vieler Generationen von Menschen hindurch. Die Geländer, die Kabel, die Türme — alles war rostrot. Aber er wußte, daß der Rost nur die Oberfläche bedeckte. Die Turmspitzen dagegen waren nicht rot, sondern schimmerten weiß von den Exkrementen vieler Generationen von Seemöwen.

Doch obwohl die Brücke noch viele Jahre durchhalten würde, fraß der Rost tiefer und tiefer. Ein Erdbeben würde die Fundamente erschüttern, und an einem Sturmtage würde eines der Tragkabel reißen. Wie die Menschen, so würden auch des Menschen Schöpfungen nicht ewig dauern.

Für eine Sekunde schloß er die Augen und stellte sich den Kranz der Berge rings um die Bucht vor; denn er konnte den Kopf nicht mehr drehen, um sie wirklich zu sehen. Ihre Gestalten hatten sich seit der Zerstörung der Zivilisation nicht verändert; gemessen an menschlicher Zeit würden sie sich auch nicht verändern. Was die Meeresbucht und die Berge betraf, so starb er in der gleichen Welt, in die er hineingeboren war.

Als er die Augen aufschlug, konnte er wirklich sehen; er erblickte zwei gewölbte Erhebungen über dem Kamm der Bergkette. »Die beiden Brüste« waren sie vormals genannt worden, und der Anblick ließ ihn an Em denken und, in noch fernerer Vergangenheit, an seine Mutter. Die Erde und Em und die Mutter glitten in seinem sterbenden Hirn ineinander und wurden eins, und er war glücklich, daß er heimkehren durfte.

»Nein«, dachte er nach einer Weile, »ich muß sterben, wie ich gelebt habe, durch das Licht meines eigenen Geistes, durch das Licht, wie es auch beschaffen sein möge, das er mir spendet. Vielleicht haben jene beiden Berge wirklich die Form von Brüsten; doch sie sind nicht wie Em oder wie meine Mutter. Sie empfangen mich, sie empfangen meinen Leib — aber lieben können sie mich nicht. Sie kümmern mich nicht. Überdies habe ich die Entwicklung der Erde studiert und ich weiß, daß auch die Berge sich immerfort verändern, wenngleich die Menschen sie ewig nennen.«

Doch als ein müder, sterbender alter Mann brauchte er etwas, worauf er den Blick richten konnte und von dem er glaubte, daß es unwandelbar sei. Die Kälte war ihm jetzt bis hinauf in die Hüfte gestiegen, und seine Finger waren starr und empfindungslos. Das Augenlicht schwand ihm.

Er richtete den Blick nach den fernen Bergen hin. Er hatte sich große Mühe gegeben. Er hatte gekämpft. Er hatte Ausschau in die Vergangenheit und in die Zukunft gehalten. Was lag daran? Was hatte er vollbracht?

Jetzt war es sicherlich bedeutungslos. Er würde ausruhen; er würde zu den Bergen zurückkehren. Und sie, wenigstens verglichen mit dem Hinschwinden der Menschengeschlechter, blieben unverändert. Und wenn die Form jener Berge an die Form von Frauenbrüsten erinnerte, so hatte vielleicht auch das seinen Sinn und war tröstlich.

Dann blickte er, obwohl er kaum noch etwas erkennen konnte, wiederum auf die jungen. Menschen. »Sie werden mich der Erde übergeben«, dachte er. »Aber ich übergebe sie gleichfalls der Erde. Denn nur aus ihr und durch sie lebt der Mensch. Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde aber bleibt ewiglich!«

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