ZWEITER TEIL Das Jahr 22

»Es muß in ihren gesellschaftlichen Bindungen etwas seltsam Bestrickendes sein, etwas, das allem, worauf wir stolz sein könnten, weit überlegen ist, denn Tausende von Europäern sind Indianer geworden; wir kennen aber kein Beispiel dafür, daß auch nur einer dieser Ureinwohner aus freier Wahl Europäer geworden wäre!«

1

Nachdem die Feier am Felsen vorüber war und die Ziffern 2 und 1 scharf umrissen und frisch auf der sanft geneigten Steinfläche standen, gingen die Menschen heim zu ihren Häusern. Die meisten der Kinder liefen mit fröhlichem Geschrei voraus; sie schwelgten schon in dem Gedanken an das Freudenfeuer, mit dem, wie es bereits Überlieferung geworden war, das Neujahrsfest seinen Abschluß fand.

Ish ging an Ems Seite; doch sie sprachen wenig. Wie stets am Tage der Einmeißelung der Jahreszahl hing er tieferen Gedanken als gewöhnlich nach und überlegte, was wohl im Laufe des kommenden Jahres geschehen werde. Er hörte die Kinder rufen:

»Geh nach dem alten, eingestürzten Haus; da liegt haufenweise trockenes Holz … Hoffentlich kann ich einen Kanister Gasolin auftreiben … Ich weiß, wo Klosettpapier ist; das brennt so schön.«

Wie es Brauch war, versammelten sich die älteren Leute in Ishs und Ems Haus und setzten sich zu einer kleinen Plauderei zusammen. Da es ein Festtag war, entkorkte Ish ein paar Flaschen Portwein, und sie tranken einander zu, selbst George, der für gewöhnlich nicht trank. Wieder, wie schon am Felsen, waren alle sich einig, daß das Jahr 21 ein gutes Jahr gewesen sei, und die Aussichten für das kommende dünkten sie gleichfalls nicht schlecht.

Doch inmitten der allgemeinen Selbstbegutachtung überkam Ish wiederum ein Gefühl des Unbefriedigtseins.

»Warum«, so dachte er, »muß gerade ich immer der einzige sein, der an Tagen wie diesem vorausdenken muß? Warum bin gerade ich es, dem zu denken obliegt, oder der wenigstens den Versuch dazu machen muß: fünf Jahre, oder zehn Jahre, oder zwanzig Jahre in die Zukunft? Wenn ich denke, lebe ich nicht! Die Menschen, die nach mir kommen, müssen ja ohnehin ihre Probleme selbst lösen.«

Doch im Weiterdenken erkannte er, daß das letzte gar nicht stimmte. Die Menschen jeder Generation, meinte er, trugen sehr viel dazu bei, für die Menschen der nächsten Generation Probleme entweder zu schaffen oder zu lösen.

Jedenfalls mußte er sich fragen, was wohl aus dem »Stamm« in den vor ihm liegenden Jahren werden würde. Die Gedanken daran machten ihn nicht froh. Nach dem Großen Unheil hatte er gemeint, daß die Menschen, sofern welche mit dem Leben davongekommen waren, sehr bald imstande sein würden, etwas zuwege zu bringen und allmählich den alten Lebensstand wiederherzustellen. Er hatte sogar von einer Zeit geträumt, da das elektrische Licht wieder brennen würde. Doch es war nichts dergleichen geschehen, und die Gemeinschaft war noch immer von dem abhängig, was die Vergangenheit übriggelassen hatte.

Nun ließ er, wie er schon so oft getan hatte, seine Blicke über die hinschweifen, die bei ihm waren. Sie bildeten sozusagen das Fundament, auf dem eine neue Zivilisation aufgebaut werden mußte. Da war beispielsweise Ezra. Ish spürte, wie ihm das Herz aus Freude über seine Freundschaft warm wurde, als er das hagere, freundlich lächelnde Faltengesicht anschaute, obwohl dieses Lächeln schlechte Zähne enthüllte. Ezra besaß vielleicht eine geniale Begabung; aber es war die geniale Begabung, mit den Mitmenschen auf eine leichte, freundliche Weise umzugehen, nicht jedoch der schöpferische Drang, der die Menschheit zu neuen Höhen führt. Nein, Ezra war nicht der Richtige.

Und neben Ezra saß George, der gute, alte George — schwerfällig und watschelbeinig, noch immer kräftig und mächtig, obwohl sein Haar inzwischen ganz grau geworden war. Auf seine Art war George ebenfalls ein guter Kerl. Er war ein erstklassiger Zimmermann und hatte klempnern und malen gelernt; alle Reparaturen an den Häusern führte er aus. Er war ein überaus nützlicher Mensch und von Haus aus geschickt in jeder nur möglichen Handarbeit. Doch Ish wußte nur zu gut, daß George im Grunde dumm war; wahrscheinlich hatte er in seinem ganzen Leben kein einziges Buch gelesen. Nein, auch George war nicht der Richtige.

Dann kam Evie, die Schwachsinnige. Molly hielt sie in guter Hut, und Evie in ihrer blonden Schlankheit sah hübsch aus, wenn man sich über die Leere ihres Gesichts hinwegsetzen konnte. Sie saß da und schaute begierig nach rechts und links auf denjenigen, der gerade sprach. Das machte sogar den trügerischen Eindruck der Gewecktheit; aber Ish wußte, daß sie von allem, was gesprochen wurde, wenig oder vielleicht nichts verstand. Sie war kein Grundstein der Zukunft. Nein, Evie war ganz bestimmt nicht die Richtige.

Dann kam Molly, Ezras ältere Frau. Molly war durchaus nicht dumm, aber ihre Schulbildung war mäßig, und sie konnte schwerlich als gebildet bezeichnet werden. Überdies hatte sie, wie die anderen Frauen, ihre Kräfte beim Gebären, Nähren und Aufziehen von Kindern erschöpft; fünf ihrer Kinder waren jetzt noch am Leben. Das war ein hinlänglicher Beitrag, was man auch sagen mochte. Nein, auch Molly war nicht die Richtige.

Neben Molly saß Em. Als Ish zu Em hinüberschaute, wallte eine solche Fülle von Gefühlen in ihm auf, daß er wußte, jedes Urteil, das er sich zu bilden versuchte, würde wertlos sein. Sie ganz allein hatte sich als erste entschlossen, ein Kind in die Welt zu setzen. Während des »Schreckensjahres« hatte sie Mut und Vertrauen bewahrt. An sie wandten sich alle in Stunden der Wirrnis. Es wohnte ihr eine starke Macht inne, zu bestätigen und niemals abzulehnen. Ohne sie wäre wahrscheinlich aus ihnen allen nichts geworden. Dabei lag ihre Macht tief in den Ursprüngen alles Tuns beschlossen; obwohl sie in anderen Mut und Vertrauen entfachen konnte, äußerte sie bei besonderen Gelegenheiten nur selten einen Gedanken. Ish wußte, daß er sich stets an sie wenden würde und daß sie größer war als er; aber er wußte auch, daß sie keine Hilfe war, wenn es galt, Pläne für die Zukunft zu schmieden. Nein, und wenn es auch an Verrat zu grenzen schien: nicht einmal Em war die Richtige!

Zu Ems Füßen fläzten sich Ralph, Jack und Roger auf dem Fußboden herum, die alle drei noch als »die Jungs« bezeichnet wurden, obwohl sie schon verheiratet waren und Kinder hatten. Ralph, Mollys Sohn, war mit Ishs Tochter Mary verheiratet; Jack und Roger waren Ishs Söhne. Doch als er jetzt zu ihnen hinblickte, fühlte Ish sich ihnen sehr fern, obwohl er an seiner Familie hing. Wenngleich er nur zwanzig und einige Jahre älter als sie war, schienen ihn Jahrhunderte von ihnen zu trennen. Sie hatten die Alten Zeiten nicht gekannt, und so konnten sie auch nicht wissen, wie alles in der Zukunft hätte sein können. Nein, wahrscheinlich waren auch die Jungs nicht die Richtigen.

Ishs Blicke hatten den Kreis durchwandert, und nun sah er auf Jean, Ezras jüngere Frau. Sie hatte zehn Kinder geboren, von denen noch sieben am Leben waren. Sie hatte ihren Kopf für sich, wie ihre Weigerung, an den Gottesdiensten teilzunehmen, bewiesen hatte. Doch es gingen von ihr keine neuen Gedanken aus. Nein Jean war nicht die Richtige.

Was nun Maurine betraf, Georges Frau, so hatte sie es nicht einmal für der Mühe wert gehalten, zu der Versammlung zu kommen, sondern sie war vom Felsen weg stracks in ihr eigenes Haus gegangen, wo sie aller Wahrscheinlichkeit nach jetzt beim Fegen oder Staubwischen oder einer anderen ihrer geliebten Hausarbeiten war, denen sie unablässig oblag. Maurine kam noch weniger als alle anderen in Frage.

Noch drei andre Erwachsene fehlten. Das waren Mary, Martha und die junge Jeanie, die mit den drei Jungs verheiratet waren. Mary war Ish stets als das schwerfälligste und beschränkteste aller seiner Kinder erschienen, und nun sie schnell hintereinander Kinder bekam, wurde sie von Jahr zu Jahr träger. Martha und Jeanie waren ebenfalls Mütter, und die Mutterpflichten beanspruchten sie vollauf. Nein, nicht diese drei.

Anwesende und Fehlende — das ergab zusammen zwölf Erwachsene! Es fiel ihm immer noch schwer, sich einzugestehen daß kein eben großes Reservoir zur Verfügung stand, daraus die künftige Menschheit sich entwickeln sollte.

Ein halbes Dutzend Kinder saß zwischen den Erwachsenen oder tummelte sich außerhalb des Kreises. Anstatt bei der Errichtung des Holzstoßes für das Freudenfeuer zu helfen, hielten diese wenigen sich zu den Erwachsenen — ein bißchen gelangweilt, aber augenscheinlich doch der Meinung, daß eine dermaßen große Versammlung der Älteren bedeutsam war und belauscht werden mußte. Ish wandte seine Aufmerksamkeit ihnen zu und hing Zukunftsgedanken nach. Manchmal horchten sie auf das, was die älteren Leute sagten; manchmal versetzten sie einander nur Püffe oder balgten sich. Ja, auf ihnen, so unbeschwert sie zu sein schienen, ruhte die Hoffnung. Die älteren Leute konnten sich wahrscheinlich mit allem abfinden, wie es gegenwärtig war, solange sie lebten; aber die Kinder mußten umlernen und zu neuen Formen kommen. Ob eins von ihnen den Funken zur Flamme entfachen konnte?

Und nun, als Ish begann, sein Augenmerk auf die Kinder zu richten, bemerkte er, daß eins von ihnen sich nicht mit den andern herumbalgte, sondern dasaß, aufmerksam dem lauschte, was die Älteren sagten, während es seine großen Augen hin und her wandern ließ; es schimmerte darin ein lichter Schein von Intelligenz und Anteilnahme. Das war Joey.

Kaum hatten Ishs Blicke sich auf Joey gerichtet, als Joeys behend schweifende Augen wahrnahmen, daß sein Vater auf ihn aufmerksam geworden war. Er rückte voll Entzücken auf dem Stuhl hin und her, und sein Gesicht wurde verklärt durch das allumfassende Lächeln eines Neunjährigen. Ish gab der Regung des Augenblicks nach und nickte seinem jüngsten Sohn leise zu. Joeys Grinsen konnte. Kaum noch breiter werden, als es bereits war; aber er brachte es dennoch fertig. Ish sah, daß auch der Junge ihm zuzwinkerte. Da schaute Ish, um den Jungen nicht verlegen zu machen, weg.

George, Ezra und die Jungs redeten gerade langsam und stockend hin und her. Ish hatte es während der ganzen Zeit gehört, aber es hatte ihn nicht genug interessiert, um sich einzumischen oder auch nur ernsthaft zuzuhören.

»Eins von den Dingern wiegt übrigens mindestens seine fünfhundert Pfund, meine ich«, sagte George gerade.

»Ja, das kann sein«, antwortete Jack. »Aber auf jeden Fall ist es eine gehörige Last, wenn man es hier heraufwuchtet.«

»Ach was, halb so schlimm«, sagte Ralph, der stämmig und stark war und gern seine Kraft zeigte.

Und so, meinte Ish, würde das Gerede weitergehen, wie er es schon wer weiß wie oft gehört hatte: darüber, ob es möglich sei, einen Gaskühlschrank aufzutreiben, ihn aufzustellen, ihn mit den noch gefüllten Preßgasflaschen zu betreiben und auf diese Weise wieder Eis zu bekommen. Am Ende jedoch würde nicht das mindeste geschehen, nicht, weil das Vorhaben unmöglich gewesen wäre oder ungewöhnlich schwierig, sondern einzig, weil sie alle vollauf zufrieden mit dem gegenwärtigen Zustand waren und in einer Gegend lebten, wo die Sommer verhältnismäßig kühl blieben, so daß kein allzu großer Antrieb bestand, sich Eis zu verschaffen. Irgendwie machte diese alte Rederei Ish mißgestimmt.

Er wandte den Blick wieder Joey zu. Joey war für sein Alter ziemlich klein. Es machte Ish Freude, das Gesicht des kleinen Jungen zu beobachten, und wie schnell seine Augen vom einen Sprecher zum andern glitten und sich nichts entgehen ließen. Ish konnte förmlich sehen, wie Joey oftmals das Wesentliche einer Aussage begriff, noch ehe der Sprecher mit seinem Satz zu Ende gekommen war, zumal wenn der Betreffende so langsam sprach wie George. Es mußte, so meinte Ish, ein aufregender Tag für Joey sein. Ein Jahr war schon nach ihm benannt worden, »das Jahr, da Joey las«. Keinem anderen Kinde war eine solche Ehre zuteil geworden. Vielleicht bekam dem Kleinen diese Auszeichnung nicht einmal gut. Doch der Gedanke war spontan von den andern Kindern ausgesprochen worden, als ein Tribut an den lauteren Geist.

Das langweilige Hinundhergerede dauerte noch immer an. Jetzt sagte George:

»Nein, das ist nicht weiter schwierig, die Rohre anzuschließen.«

»Aber George«, sagte Ezra, »hat sich denn der Gasdruck in diesen Flaschen mit komprimiertem Gas gehalten? Ich möchte meinen, daß vielleicht im Laufe der Zeit …«:

Ezra unterbrach sich, da plötzlich ein Krawall zwischen zweien der Kinder sich erhob. Weston, Ezras zwölfjähriger Junge, war in eine Prügelei mit seiner Halbschwester Betty verwickelt.

»Hör auf, Weston!« fuhr Ezra ihn an. »Hör auf, oder du bekommst den Hintern voll!«

Dieser Drohung wohnte nichts Überzeugendes inne, und soweit Ish sich erinnern konnte, hatte der gutherzige Ezra niemals ein Kind bestraft. Doch auf den väterlichen Befehl hin wurde die Prügelei abgebrochen, nicht ohne den üblichen Protest von seiten Westons: »Och, Betty hat doch angefangen.«

»Ja, aber wozu brauchst du eigentlich Eis, George?« Diesmal sprach Ralph. Es war eine selbstverständlich niemals ausbleibende Frage in dem Gerede. Die Jungs, die ja überhaupt nicht wußten, was es bedeutet, wenn man Eis hat, fühlten sich nicht eben gedrängt, zu arbeiten, damit es Eis gab.

Ish dachte daran, daß schon bei früheren Gelegenheiten diese Frage sehr häufig an George gerichtet worden war. Er hätte längst die Antwort auf der Zunge haben müssen; aber Georges Denken ging recht schleppend vonstatten, und er war kein Mensch, der es eilig hat. Hilflos bewegte er die Zunge im Munde und formte die Worte, ehe er sie aussprach, und in dieser Pause sah Ish wiederum zu Joey hin. Des kleinen Jungen Blicke glitten rasch von dem zaudernden George zu Ezra und zu Jack, als wollte er sehen, ob wohl die anderen in dieser Pause etwas sagen würden; dann suchten Joeys Augen wieder die seines Vaters. Mit einem Male waren Kameradschaft und Verstehen in diesem Blick. Joey schien sagen zu wollen, daß sein Vater oder er schnell eine Antwort gefunden und nicht gezögert hätten wie George.

Da überkam es Ish wie eine Erleuchtung. Er hörte nicht die Worte, die schließlich Georges Mund langsam hervorzustottern begann.

»Joey!« dachte Ish — und der Name schien sein Bewußtsein zu durchhallen. »Joey! Der ist der Richtige!«


»Du weißt nicht«, schrieb Koheleth in seiner Weisheit, »wie die Knochen wachsen im Leibe einer, die ein Kind trägt.« Und obwohl Jahrhunderte hingegangen sind, seit Koheleth auf alle Dinge schaute und sie als wankelmütig wie der Wind erkannte, wissen wir noch immer wenig über das, was bei der Entstehung eines Menschen geschieht — und am wenigsten von alledem wissen wir, warum gewöhnlich nur Menschen entstehen, die da sehen, was vor Augen ist, und warum so selten, nur dann und wann, unter ihnen allen ein Erwählter geboren wird, ein Gesegneter, der nicht sieht, was da ist, sondern sieht, was nicht da ist, und eben dadurch, daß er sieht, was nicht ist, in seiner Phantasie erschafft, was sein könnte. Und dennoch wären alle Menschen ohne diese Besten nur wie Bestien.

Zunächst müssen in der dunklen, flutenden Tiefe die ungleichen Hälften denjenigen begegnen, die in sich den Genius bergen. Aber das ist noch nicht alles! Das Kind muß zur rechten Zeit und am rechten Ort geboren werden, wo es seiner bedarf. Aber auch das ist noch nicht alles.

Das Kind muß in einer Welt leben, die täglich der Tod durchschreitet.

Wenn alljährlich Millionen von Kindern geboren werden, dann waltet dann und wann der unendlich seltene glückliche Zufall, und es entsteht Größe und die Fähigkeit zur Schau. Was aber geschieht, wenn die Menschen in sich gebrochen sind und verstreut leben und es nur wenige Kinder gibt?


Fast ohne zu wissen, was geschehen war, merkte Ish, daß er stand. Er sprach. Er hielt eine richtige Rede. »Paßt auf«, sagte er, »wir müssen in dieser Sache jetzt etwas unternehmen. Wir haben lange genug gewartet.«

Er stand lediglich in seinem Wohnzimmer, und er sprach lediglich zu den paar Menschen, die da waren. Er wußte, daß es nur wenige waren; und dennoch hatte er die Empfindung, als spreche er nicht in einem kleinen Zimmer zu wenigen Menschen, sondern als stünde er in einer großen Arena und spreche zu einer ganzen Nation oder zu allen Menschen auf der Welt.

»Dies muß jetzt aufhören!« sagte er. »Wir dürfen nicht einfach weiterleben, wie es gerade kommt, und die Magazine ausräubern, die die Alten Zeiten uns hinterlassen haben, ohne daß wir etwas schaffen oder von uns aus etwas zuwege bringen. Alle diese Dinge hören eines Tages auf, wenn nicht zu unseren Lebzeiten, so zu denen unserer Kinder und Enkelkinder. Was aber soll dann werden? Was fangen sie an, wenn sie nicht wissen, wie sie etwas produzieren sollen? Nahrung können sie sich vermutlich schaffen, denn es wird stets Vieh und Kaninchen geben. Wie aber wird es um die schwierigeren Dinge bestellt sein, an denen wir uns erfreuen? Wie werden sie auch nur ein Feuer anstecken können, wenn alle Streichhölzer aufgebraucht oder verdorben sind?«

Er hielt inne und blickte abermals in die Runde. Sie schienen alle wohlgefällig zuzuhören und mit ihm übereinzustimmen. Joeys Gesicht war entrückt vor Begeisterung.

»Der Kühlschrank, über den ihr alle da hin und her geredet habt!« fuhr Ish fort. »Das ist ein Beispiel! Wir reden darüber, aber es geschieht niemals auch nur das mindeste. Wir sind wie in jenem Märchen, wie der alte König in dem alten Märchen, der verzaubert dasitzt, und ringsum regt und bewegt sich alles — er aber kann keine einzige Bewegung tun, um den Zauber zu brechen. Ich hatte gemeint, wir litten unter dem Schock vom Großen Unheil her. Vielleicht war dem auch so während der ersten Tage. Wenn die Menschen sehen, wie ihre ganze Welt ringsum in Scherben geht, dann kann man von ihnen nicht erwarten, daß sie gleich wieder von vorn anfangen. Doch das ist jetzt einundzwanzig Jahre her, und viele unter uns sind erst danach geboren.

Es gibt eine Menge Dinge, die wir tun müßten. Wir müßten uns mehr Haustiere halten, nicht nur Hunde. Wir müßten uns jetzt einen großen Teil unserer Nahrungsmittel selbst züchten, statt immer nur die alten Läden zu plündern. Wir müßten die Kinder lesen und schreiben lehren. (Keiner von euch hat mich dabei ernsthaft unterstützt.) Wir können nicht in alle Zukunft dieses Räuberdasein weiterführen, wir müssen vorwärtskommen!«

Er hielt inne und suchte nach Worten, um ihnen nachdrücklich die alte Wahrheit zu Gemüte zu führen, daß wir, wenn wir nicht vorwärtsschreiten, mit Notwendigkeit uns rückwärts entwickeln; doch plötzlich zollten ihm alle lauten Beifall, als sei er mit seiner Rede fertig. Ihm war, als sei er von einer jähen Flut der Beredsamkeit hinweggeschwemmt worden; dann aber wurde ihm klar, als er um sich schaute, daß der Beifall zum überwiegenden Teile gutmütiger Ironie entstammte.

»Das war mal wieder eine feine Rede, Papa!« bemerkte Roger. Ish warf ihm einen zornigen Blick zu; nachdem er jetzt einundzwanzig Jahre lang der Führer des »Stammes« gewesen war, behagte es ihm wenig, als ein alter Sabbeler mit ein paar komischen Ideen abgetan zu werden. Doch dann lachte Ezra gutherzig auf, alle stimmten in das Gelächter ein, und die Spannung schwand hin.

»Ja, was soll nun also werden?« fragte Ish. »Vielleicht habe ich die gleiche Rede früher schon mal gehalten; aber wenn das auch der Fall sein sollte: recht habe ich dennoch!«

Erwartungsvoll schwieg er. Da sprang Jack, Ishs ältester Sohn, der sich bis jetzt auf dem Fußboden herumgefläzt hatte, auf die Füße. Jack war größer und sehr viel kräftiger als sein Vater; er war selber schon Vater.

»Leider muß ich jetzt gehen, Papa«, sagte er.

»Was ist denn los?« fragte Ish und schnappte verstört nach Luft.

»Ach, nichts Besonderes; aber ich habe heute nachmittag was zu erledigen.«

»Hat das nicht Zeit?«

Jack war schon auf dem Wege zur Tür.

»Es hätte schon Zeit«, sagte er, als er die Hand auf die Klinke legte. »Aber ich halte es für richtiger, daß ich jetzt weggehe.«

Es entstand eine Stille; man hörte nur die Geräusche des Öffnens und Schließens der Tür, als Jack hinausging. Ish spürte, wie der Zorn in ihm aufstieg und wie sein Gesicht sich rötete.

»Sprich weiter, Ish.« Ish vernahm die Stimme, und trotz seines Zornes merkte er, daß es Ezras Stimme war. »Wir möchten gern hören, was wir deiner Meinung nach tun müßten; von dir kommen immer die Gedanken.« Ja, es war Ezras Stimme, und wie stets war Ezra rasch bei der Hand, etwas zu sagen, das die Schwierigkeit behob und den Menschen darüber hinweghalf. Er hatte sogar etwas für Ish Schmeichelhaftes gesagt.

Beim Klang dieser Stimme entspannte sich Ish. Warum sollte er wütend auf Jack sein, nur weil dieser unabhängig gehandelt hatte? Es war weit besser, wenn er sich darüber freute. Jack war jetzt ein erwachsener Mensch und nicht mehr ein kleiner Junge und bloß ein Sohn. Die Zornröte wich aus Ishs Gesicht; doch noch immer verspürte er eine tiefe Verwirrung und den Drang, noch mehr zu sagen. Wenn der Zwischenfall auch zu nichts sonst nütze war, so bot er ihm doch wenigstens Stoff.

»Auch über das, was wir gerade eben mit Jack erlebt haben, möchte ich mich äußern. Wir haben alle diese Jahre hingebracht, ohne auch nur das mindeste zur Erzeugung unserer Nahrung oder dazu zu tun, daß die Zivilisation wieder in Gang gebracht wird, wenigstens was das Materielle betrifft. Das ist die eine Seite der Sache, eine wichtige zwar, aber nur eine. Die Zivilisation bestand nicht nur aus Erfindungen und wie sie gemacht und genutzt wurden. Sie bestand auch aus allen möglichen Arten der sozialen Organisation, aus allen möglichen Regeln und Gesetzen und dem Ausgleich und Angleich der Lebenshaltung zwischen Einzelmenschen und Menschengruppen. Von jener Organisation ist die Familie das einzige, was uns übriggeblieben ist! Vermutlich ist das etwas ganz Natürliches. Aber die Familie reicht nicht aus, wenn die Zahl der Menschen wächst.

Wenn ein kleines Kind etwas tut, das wir nicht mögen, so greifen Vater und Mutter ein und führen es auf den rechten Weg zurück. Aber wenn das betreffende Kind herangewachsen ist, dann geht das nicht mehr. Wir haben keine Gesetze; wir sind keine Demokratie oder Monarchie; wir haben keine Diktatur oder irgendein anderes System. Wenn einer von uns, wie zum Beispiel Jack aus einer anscheinend wichtigen Versammlung weggeht, so kann niemand ihn daran hindern. Auch wenn wir abstimmen und beschließen, etwas zu tun — selbst dann bleibt jeder Zwang ausgeschaltet; ja, es würde sich vielleicht eine Andeutung von ›öffentlicher Meinung‹ ergeben; aber das wäre auch alles.«

Er war zu einem lahmen Ende seiner Ausführungen gelangt, anstatt zu einem kräftigen Schluß. Er hatte hauptsächlich von der Wirkung gesprochen, die Jacks Fortgehen auf ihn gemacht hatte. Er war kein geschulter Redner, und es fehlte ihm an Übung.

Doch als er umherschaute, nahm er wahr, daß seine Rede wohl einen guten Eindruck gemacht hatte. Ezra ergriff als erster das Wort.

»Ja, freilich!« sagte er. »Erinnert ihr euch denn gar nicht mehr der wundervollen Zeiten, die wir früher einmal gehabt haben? Mein Gott, was würde ich darum geben, wenn ich jetzt an Georges großem Radioapparat sitzen und an ihm herumdrehen und Charlie McCarthy wieder hören könnte! Wißt ihr noch, wie der kleine Kerl zu reden verstand und sich über den anderen Kerl, von dem ich nicht mehr weiß, wie er hieß, lustig machte, und dabei war er zugleich selber jener andre?«

Ezra zog das große Penny-Stück aus Victorianischer Zeit hervor, das ihm während all der Jahre als Glücksheller gedient hatte. Er ließ es von einer Hand in die andre hüpfen, in der angeregten Stimmung, in die ihn der Gedanke versetzt hatte, Charlie McCarthy wieder zu hören.

»Ja, und weiter«, fuhr er fort. »Wißt ihr noch, wie wir einfach ins Kino gehen konnten? Man brauchte nur sein Geld hinzulegen, und dann konnte man hineingehen! Und man hörte die Begleitmusik in dem Film, und man sah, ja, Bob Hope oder Dotty Lamour. Ja, die waren damals fabelhaft! Meint ihr nicht, daß, wenn wir uns alle zusammentäten und tüchtig arbeiteten, wir ein paar von diesen Filmen aufstöbern und sie vorführen und den Kindern zeigen könnten? Ich höre sie jetzt schon lachen! Vielleicht fänden wir gar einen Charlie-Chaplin-Film!«

Ezra nahm eine Zigarette und ein Streichholz, und als er das Streichholz anstrich, gab es ein helles Flämmchen. Streichhölzer schienen unverwüstlich zu sein, wenn man sie trocken aufbewahrte. Doch niemand verstand sich jetzt darauf, Streichhölzer anzufertigen, und bei jedem Aufflammen gab es ein Streichholz weniger auf der Welt. Ish schüttelte innerlich den Kopf über Ezra, für den die Zivilisation hauptsächlich in der Wiederkehr des Kinos bestand und der dabei gleichzeitig ein Streichholz ansteckte.

Als nächster sprach George.

»Wenn mir bloß jemand hilft, nur einer oder zwei von den Jungs, so könnte ich den Gaskühlschrank aufstellen, und in zwei oder drei Tagen könnte er laufen.«

George hörte zu sprechen auf, und Ish vermutete, er sei fertig; denn George war nie für lange Reden gewesen. Überraschenderweise sprach er weiter:

»Ja, und dann hast du, glaub' ich, noch von Gesetzen gesprochen. Da weiß ich nicht so recht … Ich war ganz froh, daß wir irgendwo leben, wo es keine Gesetze gibt. Jetzt kann man beinahe alles tun, was man will. Man kann hinfahren, wo man will, und man kann parken, wo man will. Sogar neben einem Feuerhydranten, und keiner gibt einem einen Strafbefehl — natürlich kann man nur neben einem Feuerhydranten parken, wenn man einen Wagen hat, der läuft.«

Das war beinahe etwas wie ein Scherz, wie Ish ihn George nie zuvor hatte machen hören, und George quittierte seinen humoristischen Einfall mit einem geruhsamen Schmunzeln. Das Niveau des Humors, dachte Ish, war innerhalb des »Stammes« nie allzu hoch gewesen.

Ish war drauf und dran, etwas zu sagen, als Ezra wieder zu sprechen anfing.

»Zur Sache! Ich schlage einen Trinkspruch vor«, sagte er. »Es lebe Ordnung und Gesetz!« Die älteren Leute lachten ein bißchen, als sie diese alte Redensart wieder hörten; den jüngeren sagte sie nichts.

Sie tranken, und dann glitt alles wieder in ein gewöhnliches geselliges Beisammensein hinein.

Aber schließlich, dachte Ish, war es ja auch ein geselliges Beisammensein, und vielleicht war es ganz gut, wenn nicht gar zu viel Sachliches und sozusagen Geschäftliches hineingemischt wurde. Vielleicht würde die Saat, die er mit seiner leidenschaftlichen kleinen Rede gesät hatte, in der Zukunft aufgehen. Doch er empfand Zweifel. Es gab ein Sprichwort, daß niemand sein schadhaftes Dach abdichte, ehe es nicht regne. Die Menschen waren die gleichen geblieben oder gar schlechter geworden. Sie warteten in aller Ruhe, bis irgend etwas geschah, das sie zum Handeln zwang; jenes »irgend etwas« war sicherlich unangenehm, wahrscheinlich sogar ernst.

Doch er trank mit den andern zur Bekräftigung von Ezras Trinkspruch und hörte mit halbem Ohr dem zu, was gesprochen wurde. Seine Gedanken gingen ihre eigenen Wege. Dies war ein guter Tag gewesen; ja, an diesem Tage hatte er die Zahl 21 in die sanft geneigte Felsfläche gemeißelt, und das Jahr 22 hatte begonnen; überdies war er sich an diesem Tage, zum Teil des Namens wegen, den das Jahr erhalten hatte, der Fähigkeiten und Möglichkeiten seines jüngsten Sohnes deutlicher bewußt geworden.

Er sah dorthin, wo Joey saß, und bekam als Antwort einen schnellen, hellen Blick, aus dem die Bewunderung strahlte, die der kleine Junge für seinen Vater hegte. Vielleicht also gab es wenigstens einen, der ihn völlig verstand.


In dem gesamten, ungeheuer ausgedehnten und komplizierten System von Dämmen und Tunnels, Aquädukten und Reservoiren, durch die das Wasser vom Gebirge in die Städte geleitet wurde, war eine ganz bestimmte Verbindungsmuffe der Stahlrohre eines Hauptaquäduktes auf eine verhängnisvolle Weise schadhaft. Schon zur Zeit ihrer Montierung waren gewisse Unvollkommenheiten offenbar geworden. Nun aber war es geschehen, daß damals der Kontrollbeamte gegen Abend jene Stelle passiert hatte, als seine Sinne bereits abgestumpft und sein prüfender Blick getrübt waren.

Es entstand keine große Störung. Die Rohrfolge war durch die Arbeiter eingebaut worden und funktionierte glatt. Kurz vor dem Großen Unheil hatte ein Vorarbeiter bemerkt, daß sich in jener Rohrfolge eine kleine Leckstelle gebildet hatte. Wenn man sie indessen vernietete, würde sie so gut wie neu und sogar noch haltbarer als zuvor sein.

Dann kam jahrelang kein Mensch wieder dort vorbei. Ein kleines Wasserrinnsal, das aus der schadhaften Stelle hervorsickerte, wurde allmählich größer. Selbst im trockenen Sommer zeigte sich eine kleine Grünstelle unter dem tropfenden Rohr; Vögel und andere Kleintiere kamen dorthin und tranken. Und von außen fraß der Rost, und von innen wirkte das Nagen und Schaben des Wassers langsam den Rostflecken entgegen, und Nietstift auf Nietstift lockerten sich in der Stahlhaut.

Fünf Jahre, zehn Jahre — jetzt quoll ein Dutzend feiner Sprühstrahlen aus dem Rohr. Aus der entstandenen Lache trank jetzt das Vieh.

Nach fünf weiteren Jahren rann darunter ein Bächlein hinweg, das einzige, das in jenem trockenen Hügelland auch im Sommer floß. Nun bedeckte sich das Rohr mit dicken Rostschichten und wurde in sich selbst immer schwächer.

Unterhalb der Rohrleitung war der Boden seit langem aufgeweicht und schlammig gewesen, und die Hufe der Tiere hatten bei der Bildung einer kleinen Rinne geholfen. Die Erosion tat das ihrige, und so bildete sich ein Schlammbad, in dem aufgeweichten Boden, auf dem der Betonunterbau ruhte, der die Rohrleitung mit dem schweren Wasserinhalt trug. Als der Unterbau nachgab, lastete das ganze Wassergewicht auf der schon schwach gewordenen Rohrleitung. In dem rostzerfressenen Stahl tat sich ein langer Riß auf; ein breiter Wasserstrom brauste heraus und rauschte nieder in die Schlammrinne. Dieser Strom unterspülte den Unterbau noch mehr, und er senkte sich abermals. Wiederum riß die Rohrleitung, und der daraus hervorbrausende Wasserstrom wurde zum kleinen Fluß.


Gerade als Ish an jenem Abend zu Bett gegangen war, knallte draußen ein Gewehrschuß, so daß er sich im Bett aufrichtete und lauschte. Ein zweiter Schuß knallte, und dann durchhallte Gewehrfeuer die Nacht.

Er fühlte, wie sein Bett leise bebte, als Em neben ihm zu lachen anfing. Er beruhigte sich.

»Jemand hat einen Scherz gemacht!« sagte er.

»Diesmal hast du dich aber schön anführen lassen!«

»Ich habe heute zuviel an die Zukunft gedacht, glaube ich. Ja, vermutlich bin ich heute ein bißchen nervös.«

Das Gewehrfeuer dauerte an; es war eine gute Nachahmung eines Guerilla-Gefechts; doch Ish legte sich wieder hin und versuchte, ruhig zu werden. Er wußte jetzt, was geschehen war. Nachdem alle vom Freudenfeuer weggegangen waren, hatte einer der Jungs sich zurückgeschlichen und ein paar Schachteln Patronen in die heiße Asche geworfen. Als die Umhüllung verbrannt und die Dinger heiß genug geworden waren, da waren sie losgegangen. Wie sehr vielen Scherzen wohnte auch diesem eine gewisse Gefahr inne; doch um diese Jahreszeit war das Gras grün, und so konnte schwerlich ein Brand entstehen. Auch waren die meisten vor dem, was geschehen sollte, gewarnt worden, oder sie wußten ohnehin, was es geben würde, und so hielten sie sich in sicherer Entfernung von der heißen Asche. Im Grunde, so überlegte sich Ish, galt dieser Scherz wohl vor allem ihm, und alle andern hatten darum gewußt.

Nun, wenn dem so war, so war es ihnen geglückt, ihn hinters Licht zu führen. Er fühlte sich verwirrt und verstört, aber aus ernsthafteren Gründen, wie er meinte, als weil er zum Narren gehalten worden war.

»Ja«, sagte er zu Em, »da haben sie wieder mal ein paar Schachteln voll Patronen nutzlos verknallt, und es ist niemand auf der Welt, der weiß, wie Patronen hergestellt werden! Und wir leben hier in einer Gegend, die von Berglöwen und wilden Stieren bedroht ist, und Patronen sind das einzige Mittel, sie in ihren Grenzen zu halten; und was unsre Ernährung betrifft, so verstehen wir Rinder, Kaninchen und Wachteln nur zu töten, indem wir sie schießen.«

Em schien darauf nichts zu antworten zu haben, und in der Gesprächspause überlegte Ish verdrossen, was bei dem Freudenfeuer wohl vor sich gegangen war. Der Holzstoß war riesengroß aus zersägten Brettern errichtet worden, die aus dem Sägewerk stammten, und dazwischen waren Kartons und Klosettpapier gehäuft worden, das besonders gut brannte, des Lochs in der Mitte der Rolle wegen. Überdies waren Haufen von Streichholzschachteln hineingeworfen worden, weil sie so schön hell aufflammten, und außerdem Kanister voll Alkohol und Waschbenzin, zur Steigerung des Vergnügens. Wenn man all die Stoffe hätte kaufen und mit Geld bezahlen müssen, so würde das Freudenfeuer in den Alten Zeiten gut und gern zehntausend Dollar gekostet haben; gegenwärtig aber hätte das Material als noch sehr viel wertvoller angesehen werden müssen, weil es unersetzlich war.

»Ärgere dich nicht, Liebster«, hörte er ihre Stimme sagen. »Es ist Zeit zum Schlafen.«

Er rückte neben sie und lehnte den Kopf an ihre Brust; wie stets schienen von ihr Kraft und Vertrauen auszugehen.

»Ich ärgere mich gar nicht so sehr, glaube ich«, sagte er. »Vielleicht freue ich mich im Grunde sogar darüber, wenn ich einigermaßen trübe Gedanken für die Zukunft hege; denn wir leben recht gefährlich.«

Wiederum lag er eine Weile still und sagte nichts; dann fuhr er fort, laut zu denken.

»Erinnerst du dich, daß ich schon seit längerer Zeit immerfort sage, wir müßten schöpferisch leben und nicht wie die Straßenräuber? Das bekommt uns nicht. Nicht wahr, etwas Ähnliches habe ich schon um die Zeit gesagt, da Jack geboren wurde?«

»Ja, ich weiß es noch. Du hast es häufig gesagt, und dennoch erscheint es einem auf die eine oder andere Weise leichter, damit fortzufahren, Konservendosen aufzumachen, solange noch haufenweise Konservendosen in den Läden und Warenhäusern liegen.«

»Aber damit ist es eines Tages zu Ende. Und was soll dann werden?«

»Ja, meiner Meinung nach müssen die Menschen, die dann leben, das Problem auf ihre Art lösen … Ach, Liebster, ich habe mir immer gewünscht, du möchtest dir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Die Sache sähe ganz anders aus, wenn du viele Menschen um dich hättest, die wie du wären, die sich Gedanken über alles machen. Aber es stehen dir ja nur ganz gewöhnliche Menschen zur Verfügung, wie Ezra und George und ich. Und wir denken nun mal nicht wie du. Darwin, hieß er nicht so?, hat gesagt, wir stammten alle von Affen oder so was Ähnlichem ab, und ich glaube, Affen und dergleichen haben sich nie Gedanken um die Zukunft gemacht. Wenn wir von Bienen oder Ameisen abstammten, hätten wir vielleicht vorausgeplant, oder wir hätten vielleicht sogar wie die Eichhörnchen Nüsse für den Winter aufgespeichert.«

»Ja, das könnte sein. Aber in den Alten Zeiten haben die Menschen sich Gedanken über die Zukunft gemacht. Das kannst du aus der Art und Weise ersehen, wie sie die Zivilisation aufgebaut haben.«

»Und dann hatten sie Dotty — hieß sie so? — und Charlie McCarthy, wie Ezra gesagt hat.« Dann wechselte sie plötzlich das Thema. »Und diese Räubereien, über die du dich so ärgerst! Sind sie wirklich schlimmer als das, was die Menschen von jeher getan haben? Wenn du jetzt ein bißchen Kupfer brauchst, gehst du in einen von den Metallwarenläden, findest ein Stückchen Kupferdraht, nimmst es und hämmerst es dir zurecht. In den Alten Zeiten gingen sie hin und holten sich das Kupfer irgendwo aus einem Berge heraus. Ob es nun schon Kupfer oder noch nicht ganz Kupfer war: auf jeden Fall haben sie es weggenommen; denn vorher hatte es ruhig da gelegen. Und was die Nahrungsmittel betrifft, so gewannen sie sie, indem sie sich alles zunutze machten, was im Boden war, und es sich in Weizen verwandeln ließen. Genauso nehmen wir, was wir brauchen, dorther; wo es aufgestapelt liegt. Ich sehe wirklich nicht ein, daß der Unterschied so groß ist!«

Ihre Einwände brachten ihn für kurze Zeit zum Schweigen. Dann raffte er sich wieder auf. »Nein«, sagte er. »Das stimmt nicht ganz. Zumindest waren sie schöpferischer als wir. Sie waren eine sich entwickelnde Gemeinschaft. Sie produzierten, was sie brauchten, während sie sich weiterentwickelten.«

»Da bin ich mir nicht so ganz sicher«, sagte sie. »Mir ist, als erinnerte ich mich, schon früher in den Sonntagsbeilagen der Zeitungen gelesen zu haben, wir seien drauf und dran, die Vorräte an Kupfer und Erdöl zu erschöpfen, oder den Boden so sehr auszubeuten, daß wir in Zukunft nichts mehr zum Leben hätten.«

Aus langer Erfahrung wußte er, daß sie jetzt endlich schlafen wollte. Er ließ ihr das letzte Wort und sagte nichts mehr. Er selbst jedoch lag wach, und seine Gedanken eilten dahin.

Er versuchte sich vorzustellen, wie Joey wohl aussähe, wenn er älter wäre; und er malte sich aus, wie er eines Tages richtig mit Joey spreche. Er dachte sich aus, was er sagen würde.

»Du und ich, Joey«, so würde er sagen, »wir sind uns ähnlich, wir durchschauen alles. Natürlich sind Ezra und George und die andern gute Leute. Sie sind gute, solide Durchschnittsmenschen, und die Welt könnte nicht bestehen, wenn es nicht viele ihresgleichen gäbe; aber sie haben den Funken nicht. Wir müssen den Funken spenden!«

Von Joey, der an der Spitze stand, glitten seine Gedanken rasch über die andern hin, bis hinab zu Evie, die ganz unten stand. War es nötig gewesen, Evie diese ganzen Jahre hindurch zu behalten? Er sann darüber nach. Es hatte ein Wort gegeben, das so etwas deckte. Hieß es nicht Euthanasie? Der »Gnadentod« war es manchmal genannt worden. Doch wer innerhalb einer Schar wie dieser war dazu geeignet, die Verantwortung auf sich zu nehmen, daß jemand wie Evie beseitigt wurde, obwohl sie zweifellos nicht eben ein Glücksquell für sich selbst und für die andern war? Um so etwas zu vollbringen, dachte er, hätten sie eine weit größere und härtere Macht besitzen müssen als die eines amerikanischen Vaters über seine Kinder, eine weit größere Macht als die einer Freundesgruppe, die doch nur andeutungsweise eine öffentliche Meinung darstellte. Irgendwann würde schon etwas geschehen, natürlich nicht gerade mit Evie. Aber es würde unter allen Umständen irgendwann etwas geschehen, und dann galt es zu organisieren und härtere Maßnahmen zu ergreifen.

Seine Phantasie regte sich so mächtig, daß er eine hastige Bewegung machte, als treffe er bereits Gegenmaßnahmen gegen das, was vielleicht geschehen würde.

Entweder hatte auch Em noch nicht geschlafen, oder die plötzliche Bewegung hatte sie geweckt.

»Was ist denn, Liebster?« fragte sie. »Du wälzt dich im Bett herum wie ein kleiner Hund, der träumt, er sei auf der Löwenjagd.«

»Irgendwann geschieht etwas!« sagte er; er sprach, als kenne sie bereits den Lauf seiner Gedanken.

»Ja, ich weiß«, sagte sie — und augenscheinlich wußte sie tatsächlich um seine Gedanken. »Und dann müssen wir etwas tun. ›Organisieren.‹ Ich glaube, so heißt es. Wir müssen etwas tun gegen das, was geschehen ist.«

»Du weißt, was ich denke?«

»Ach, vorhin hast du es ja schon gesagt. Du hast es schon sehr oft gesagt. Gerade um die Neujahrszeit sagst du es immer. George redet dann immer von dem Kühlschrank, und du sagst, es werde irgend etwas geschehen. Aber bislang ist nun mal nichts geschehen.«

»Ja. Aber irgendwann kommt es. Das kann gar nicht anders sein. Eines Tages habe ich recht.«

»Schon gut, Liebster. Zerbrich dir nur weiter den Kopf und ärgere dich. Wahrscheinlich gehörst du zu der Art von Menschen, die sich nicht wohl fühlen, wenn sie sich nicht über irgend etwas ärgern können — aber das, worüber du dich im besonderen ärgerst, das wird dir, glaube ich, keinen Schaden tun.«

Sie sagte nichts mehr, aber sie schob sich an ihn heran, nahm ihn in ihre Arme und umschlang ihn fest. Wie stets, ging von ihrer körperlichen Nähe Trost und Beschwichtigung aus, und er schlief ein.


Aus der geborstenen Rohrleitung des Aquädukts strömte mehrere Wochen lang das Wasser wie ein kleiner Fluß. Es floß kein Wasser mehr in die Reservoire. Gleichzeitig rann das aufgespeicherte Wasser aus Tausenden von Leckstellen, die sich im Laufe der Jahre gebildet hatten; es rann aus den vielen Leitungshähnen, die zur Zeit des Großen Unheils offengeblieben waren; es rann aus den Bruchstellen des Röhrensystems seit der Zeit des Erdbebens. Das Wasser entströmte den Reservoiren, deren Wasserspiegel ständig sank.

2

Ganz wie Ish es erwartet hatte, unternahmen sie nicht das mindeste Wochen vergingen. Man hörte kein Keuchen und Schimpfen von Männern, die den Kühlschrank den Hügel hinaufschleppten, kein Klappern und Knirschen von Spaten, die Gartenland bereiteten Ish ärgerte sich dann und wann, aber im allgemeinen ging das Leben seinen Gang, und selbst er tat nichts. Gemäß seiner alten Studentengewohnheit beobachtete er, auch wenn er nichts tat, und stellte Überlegungen darüber an, was wohl geschehen werde.

War es tatsächlich so, wie er sich manchmal einbildete, daß alle Einzelmenschen noch immer unter einer Art Schock als Folge der plötzlichen Zerstörung ihrer alten Gesellschaft litten? Seine anthropologischen Studien lieferten ihm Beispiele dafür: die Kopfjäger und die Indianer, die den Willen zur Selbstbehauptung und sogar den Willen zum Leben eingebüßt hatten, nachdem ihre überlieferte Form der Lebensführung gewaltsam zerstört worden war. Wenn sie nicht länger auf Kopfjagd gehen oder hinausreiten konnten, um Pferde zu stehlen oder Skalpe zu erbeuten, stand ihnen der Wunsch nach nichts anderem mehr. Da man in einem milden Klima lebte und sich ohne alle Mühe Nahrungsmittel verschaffen konnte: fehlte da nicht einfach der Anreiz zum Wandel? Er konnte mit allen möglichen Beispielen dafür aufwarten: den Südseeinsulanern oder den Tropenvölkern, die in der Hauptsache von Bananen lebten. Oder war das etwas anderes?

Glücklicherweise besaß er einen hinreichenden Fundus an Philosophie und Geschichtskenntnissen, um bei seiner Überzeugung zu bleiben. Er war angestrengt bemüht, so meinte er, ein Problem zu lösen, das die Philosophen beschäftigt hatte, seit sie sich bewußt geworden waren, daß es überhaupt Probleme gab. Er befaßte sich mit der Grundfrage nach den dynamischen Kräften der Gesellschaft. Was führte Wandlungen der gesellschaftlichen Struktur herbei? Er, als Gelehrter, war glücklicher daran als Koheleth oder Platon oder Malthus oder Toynbee. Er sah eine Gesellschaft, deren Zahl und Form so zusammengeschrumpft war, daß das Ganze jetzt einem einfachen Laboratoriumsexperiment glich.

Aber als er bei dieser Stufe seiner Überlegungen angelangt war, kam ihm ein anderer Gedanke und durchkreuzte und zerstörte die Einfachheit. Er begann, sich selbst weniger als Wissenschaftler denn als Menschenwesen zu empfinden und beinahe so zu denken, wie Em dachte. Diese Gesellschaft der San-Lupo-Promenade war im Grunde kein reiner Philosophen-Mikrokosmos, kein winziger Tropfen aus dem großen, allgemeinen Ozean der Menschheit. Nein — sie war eine Gruppe von Individuen. Sie bestand aus Ezra und Em und den Jungs — ja, und aus Joey! Wenn man die Individuen wandelte, so wandelte sich die ganze Situation. Man brauchte nur ein einziges Individuum zu wandeln! Wenn nun an Ems Stelle — sagen wir: Dotty Lamour stände? Oder an Georges Stelle einer jener mächtigen Geister, deren er sich von seiner Universitätszeit her erinnerte — Professor Sauer beispielsweise? Dann würde die ganze Situation sich abermals wandeln.

Aber würde sie das tatsächlich tun? Möglicherweise nicht; denn vielleicht würde sich bei dem Versuch ergeben, daß die physische Umwelt stärker war und die widerspenstigen Individuen in ihren Bann zwang.

In einem Punkte jedoch hatte Em unrecht, meinte Ish. Sie brauchte nicht zu fürchten, daß er sich gar zu sehr Gedanken über die Lage machte und sich so sehr ärgerte, daß er sich schließlich in sich selbst vergiftete und als Neurotiker endete. Vielmehr erhielt sein Drang, alles Geschehen zu beobachten, seine Anteilnahme am Leben wach. Gleich nach dem Großen Unheil hatte er sich gelobt, die Wandlungen in der Welt als das Ergebnis des Verschwindens des Menschen zu beobachten. Nun aber war die Welt im Laufe von einundzwanzig Jahren wieder wunderschön ins Gleichgewicht gekommen, und die künftigen Wandlungen würden sich zu langsam vollziehen, als daß sie Tag für Tag oder Monat für Monat würden beobachtet werden können. Nein, jetzt war das Problem der Gesellschaft, ihrer Anpassung und ihres Wiederaufbaus auf den Plan getreten und beanspruchte sein Hauptinteresse.

An diesem Punkt seiner Gedankenfolge mußte er sich indessen stets selbst verbessern. Er konnte und durfte nicht lediglich Beobachter und Gelehrter sein. Platon und seinesgleichen, die konnten einzig beobachten und kommentieren, selbst zynisch, wenn ihnen danach zumute war. Durch seine Schriften hatte Platon künftige Geschlechter beeinflussen können; aber er war nicht im eigentlichen Sinne verantwortlich für das Gedeihen und die Entwicklung der Gesellschaft gewesen, in der er lebte. Nur dann und wann war der Gelehrte, der Weise auch Regent gewesen — Marc Aurel, Thomas Morus, Woodrow Wilson. Natürlich bedachte Ish, daß er selbst nicht eben ein Regent war; aber er war der Mann der Ideen, der Denker in einer aus nur wenigen Individuen bestehenden Gesellschaft. Notwendigerweise richteten die andern in den seltenen Augenblicken der Verwirrung den Blick auf ihn, und sofern ein wirklicher Notstand sich einstellen sollte, würde er aller Wahrscheinlichkeit nach die Führerschaft übernehmen müssen.

Der Gedanke daran hatte ihn im Laufe der Jahre in die Stadtbibliothek getrieben, um nach Büchern zu stöbern, die von Gelehrten handelten, die Herrscher geworden waren. Ihre Schicksale boten weder Trost noch Ermutigung. Nein, der Gelehrte in einer Machtstellung hatte nichts zu lachen gehabt. Und dennoch nahm er, Ish, in einer nur aus sechsunddreißig Menschen bestehenden Gemeinschaft eine Stellung ein, durch die er wahrscheinlich mehr Einfluß auf die Gestaltung der Zukunft eben dieser Gemeinschaft ausüben könnte und ausüben würde als irgendein Kaiser oder Kanzler oder Präsident der Alten Zeiten.


Heftige Regengüsse in der Woche nach dem Neujahrsfest hatten das Fallen des Wasserspiegels im Reservoir verlangsamt. Da setzte etwas früher als üblich die winterliche Trockenzeit ein.

Wie das Blut eines Ungeheuers aus hunderttausend Wunden, so strömte das lebenspendende Wasser aus hunderttausend Nietlöchern und offenen Leitungshähnen und leckenden Verbindungsmuffen und gebrochenen Röhren.

Und jetzt, nun der stillstehende Pegel anzeigte, daß die Tiefe unlängst noch zwanzig Fuß betragen hatte, bedeckte nur noch eine dünne Wasserschicht den Boden des Reservoirs.


Als Ish an jenem Morgen erwachte, stellte er fest, daß es ein schöner, sonniger Tag war und daß er gut geschlafen hatte und sich erholt und ausgeruht fühlte. Em war schon aufgestanden, und er vernahm vom unteren Stockwerk her die vertrauten kleinen Geräusche, die ankündigten, daß das Frühstück bald fertig sei. Er lag noch ein paar Minuten still, völlig mit sich selbst im Einklang, und gelangte langsamer als sonst zum vollen Bewußtsein. Er empfand es als einen glücklichen Umstand, daß er, wenn er wollte, noch ein Weilchen im Bett bleiben konnte, nicht nur am Sonntagmorgen, sondern jeden Tag. In dem Leben, das sie jetzt führten, brauchte man nicht mißtrauisch nach der Uhr zu schauen, und es bestand weder für ihn noch für sonst jemand die Notwendigkeit, den 7.53-Uhr-Zug zu erreichen. Er erfreute sich größerer Freiheit, als irgend jemand in den Alten Zeiten es sich hätte erträumen können. Bei dem ihm eigenen Temperament lebte er jetzt vielleicht sogar glücklicher, als er damals hätte leben können.

Als er sich dazu bereit fühlte, stand er auf und rasierte sich. Es floß kein heißes Wasser, aber das machte ihm nichts aus.

Er zog sich an, ein neues Sporthemd und blaue Baumwollhosen. Er fuhr mit den Füßen in seine bequemen Hausschuhe, ging die Treppe hinab und steuerte auf die Küche zu.

Als er an die Tür kam, hörte er Em sagen, und zwar in schärferem Ton, als sie für gewöhnlich sprach: »Josey, Kind, warum drehst du denn den Wasserhahn nicht weiter auf?«

»Aber Mutter, ich habe ihn so weit aufgedreht, wie ich kann.«

Ish trat in die Küche und sah, wie Josey den Teekessel unter den Leitungshahn hielt, und wie nur ein dünnes Wassergetröpfel daraus hervorkam.

»Morgen!« sagte er. »Ich glaube, George muß mal kommen und den Hahn anders einstellen. Josey, warum gehst du nicht in den Garten und holst dir Wasser von einem der Leitungshähne draußen?«

Josey trottete willfährig davon, und als sie draußen war, nahm Ish die Gelegenheit wahr, küßte Em und erzählte ihr, was er an diesem Tage tun wolle. Nach einer kleinen Weile kam Josey mit dem Kessel voll Wasser zurück.

»Das Wasser draußen ist einen Augenblick ganz gut gelaufen, und dann hat es angefangen, auch nur so zu tröpfeln«, sagte sie und stellte den Kessel auf den Gasolin-Kocher.

»Wie dumm!« sagte Em. »Wir brauchen noch Wasser zum Geschirrabwaschen.«

Ish erkannte aus dem Stimmklang, was das bedeutete. Jetzt war es so weit, daß die Mannsleute wieder einmal gezwungen waren, helfend einzugreifen.

Das Frühstück war im Eßzimmer aufgetragen worden, und der Tisch sah genauso aus wie in den Alten Zeiten. Ish saß am einen Ende, und Em am andern. Es waren jetzt nur noch vier Kinder im Hause. Robert, der sechzehn Jahre alt und nach den Maßstäben des »Stammes« also beinahe erwachsen war, saß an der einen Tischseite. Neben ihm saß der zwölfjährige Walt, der für sein Alter sehr groß und tüchtig war. Und auf der anderen Seite, dicht neben der Küchentür, saßen Joey und Josey, denen es oblag, bei der Bereitung des Frühstücks zu helfen und den Tisch zu decken, hinaus- und hereinzulaufen, um bei Tisch aufzuwarten, und später beim Geschirrabwaschen mit Hand anzulegen.

Es gab Grapefruit-Saft, natürlich aus Dosen. Ish hegte seit langem ernstliche Zweifel, ob im Laufe der Zeit noch irgend etwas an Vitaminen in dem konservierten Saft übriggeblieben sei. Selbst der Geschmack war schal geworden. Aber sie tranken den Saft nach wie vor, weil er dem Magen guttat. Es gab keine Eier, weil es seit dem Großen Unheil keine Hühner mehr gab. Es gab keinen Speck, weil konservierter Speck jetzt schwer zu finden war und weil es in der Nachbarschaft, soweit sie hatten feststellen können, keine Schweine gab. Aber es gab schöne, gebratene, gebräunte Rinderrippen, die den Speck vortrefflich ersetzten, selbst für Ishs Zunge. Ish und Em waren es gewohnt gewesen, Röstbrot oder Körnerspeisen zu essen, und da die Ratten und die Kornwürmer alles Mehl und alle Kartons mit Getreideflocken zerstört hatten, aßen sie Maismehl aus Dosen, aus dem sie sich einen Brei kochten, der als Bestandteil ihres Frühstücks herhalten mußte. Sie aßen ihn mit Kondensmilch, und sie süßten ihn mit weißem Kornsirup, weil neuerdings kein Zucker aufzutreiben war. Die Erwachsenen tranken auch Kaffee. Ish tat Milch und Kornsirup in den seinen; Em trank ihren lieber schwarz und ungesüßt. Der in luftleeren Dosen eingelötete Kaffee hatte wie der Grapefruit-Saft viel von seinem Aroma eingebüßt.

Nachdem Ish gegessen hatte, ließ er sich im Wohnzimmer in einem bequemen Sessel nieder, nahm eine Zigarette aus dem Behälter und zündete sie an. Aber die Zigarette schmeckte ihm nicht so recht. Man konnte keine in luftleeren Blechdosen verpackten mehr auftreiben, und die gewöhnlichen waren in ihren Packungen fast völlig trocken geworden, so gut die Packungen auch sein mochten. Des weiteren aber konnte er seiner Zigarette nicht froh werden, weil sein Gewissen ihm zu schaffen machte. Von der Küche her konnte er undeutlich Em und die Zwillinge hören, und er merkte, daß sie noch immer Mühe hatten, Wasser zu bekommen.

»Ich muß doch mal zu George hinübergehen«, dachte er, »damit er das Rohr reinigt, oder nachsieht, was damit los ist.« Er stand auf und ging hinaus.

Auf dem Wege zu George blieb er bei Jeans Haus stehen, um Ezra herauszuholen. Nicht daß Ezra hier hätte helfen können oder daß er Ezra für seine Besprechung mit George gebraucht hätte; sondern einfach, weil er gern mit Ezra zusammen war. Er klopfte, und Jean kam an die Tür.

»Ez ist nicht hier«, sagte sie. »Diese Woche ist er drüben bei Molly.«

Ish wandte sich zum Gehen; aber da fiel ihm etwas ein, und er machte wieder kehrt.

»Ach Jean«, sagte er. »Sag mal, fließt bei euch heute morgen das Wasser richtig?«

»Nein«, sagte Jean. »Es tröpfelt nur so ein ganz klein bißchen.«

Sie schloß die Tür, und Ish schritt die Vortreppe hinunter und wandte sich Mollys Haus zu. Es überrieselte ihn plötzlich kalt bei einer bösen Ahnung.

Er traf Ezra bei Molly und stellte fest, daß wenigstens dort keine Schwierigkeiten mit dem Wasser bestanden. Das konnte aber darauf beruhen, daß ihr Haus ein paar Meter tiefer als das Jeans lag, so daß das Wasser noch nicht aus den Röhren gelaufen war.

Sie gingen zu Georges Haus hinüber, das sauber und schmuck hinter dem frisch weißgestrichenen Lattenzaun stand. Maurine führte sie ins Wohnzimmer und sagte ihnen, sie möchten Platz nehmen und warten, während sie George holte, der sich wie gewöhnlich draußen betätigte. Ish setzte sich in einen der großen, plüschbezogenen, überreichlich mit Stoff drapierten Sessel. Dann schaute er sich, wie er immer tat, in dem Wohnzimmer um und war verblüfft und amüsiert. Georges und Maurines Wohnzimmer sah genauso aus wie das Wohnzimmer eines wohlhabenden Zimmermanns in den Zeiten vor dem Großen Unheil. Sie hatten Hängelampen mit rosa Schirmen und Troddeln und Quasten daran. An der Wand standen eine sehr kostspielige elektrische Uhr und ein prachtvolles Truhen-Radio-Grammophon mit vier Empfangsskalen. Auch ein Fernsehgerät war da. Auf beiden Tischen lagen sorgfältig ausgebreitete Deckchen, um allem ein nettes Aussehen zu geben, und auf dem einen Tisch fanden sich mehrere Stapel volkstümlicher Zeitschriften.

Sie hörten George durch den rückwärtigen Eingang hereinkommen, und dann stand seine ungefüge Gestalt in der Tür. Er hielt ein Rohrknie in der einen Hand und trug, wie stets, seinen Arbeitsanzug, der ziemlich schmutzig und mit Ölfarbflecken bedeckt war. Er hätte jeden Tag neue Arbeitskleidung anziehen können, aber offensichtlich fühlte er sich in der alten, gewohnten sehr viel wohler.

»Tag, George«, sagte Ezra, der immer das erste Wort haben mußte.

»Morgen, George«, sagte Ish.

George schien einen Augenblick auf seiner Zunge herumzukauen, als überlegte er sich, was in dieser Situation getan werden müsse. Dann sagte er:

»Morgen, Ish … Morgen, Ezra.«

»Sag mal, George«, sagte Ish, »es läuft heute morgen bei Jean und bei uns das Wasser nicht. Wie ist es hier damit?«

Es entstand eine Pause.

»Hier läuft es auch nicht«, sagte George.

»Naja«, sagte Ish. »Und was tust du nun?«

George zögerte; dann antwortete er: »Ja, wenn es drüben auch nicht läuft, dann brauche ich weiter nicht nachzusehen, ob meine Leitung verstopft ist! Ich war gerade dabei. Ich glaube, es ist ein Bruch oder eine Verstopfung in der Hauptleitung, die nach allen diesen Häusern hinführt.«

»Vermutlich hast du recht, George«, sagte Ish. »Aber was tun wir jetzt?«

George: »Ja, ich tue gar nichts.«

Gleich Em dachte George wohl, daß dies außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs liege. Hätte es sich um einen tropfenden Wasserhahn oder ein verstopftes Klosett gehandelt, so würde er sich mit Freuden an die Arbeit gemacht haben. Aber er war kein Techniker und alles andere als ein Ingenieur. So mußte denn, wie stets, Ish die Führung übernehmen.

»Woher kommt unser Wasser eigentlich?« fragte er aus diesem Impuls heraus.

Die beiden andern schwiegen. Es war seltsam. Sie hatten hier einundzwanzig Jahre lang Wasser gebraucht, das zu fließen fortfuhr, und niemals hatten sie darüber nachgedacht, woher das Wasser eigentlich kam. Es war eine Gabe der Vergangenheit gewesen, wie die Luft, wie die Dosen mit Bohnen und die Flaschen mit Tomatenketchup, die man sich verschaffen konnte, indem man mir nichts, dir nichts in einen Laden hineinging und sie sich aus den Regalen nahm. Zwar hatte Ish bisweilen ein wenig darüber nachgedacht und sich gefragt, wie lange das Wasser wohl noch fließen würde, und er hatte sogar erwogen, wenn auch nur obenhin, was sie tun sollten, um sich eine andere Quelle zu erschließen. Doch es war nie so weit gekommen, etwas zu unternehmen. Wasser, das schon eine ganze Reihe von Jahren gelaufen war, würde wohl auch noch eine Reihe von Jahren laufen, und so bestand keinerlei dringende Veranlassung, etwas zu unternehmen. In all diesen Jahren hatte es bis auf den heutigen keinen einzigen Tag gegeben, da ein unmittelbarer Grund vorgelegen hätte, sich zu sagen: »Heute muß irgend etwas für die Wasserversorgung geschehen.«

So blickte Ish jetzt von George zu Ezra und bekam keine Antwort auf seine Frage. Er bemerkte, daß er sie selbst beantworten mußte.

»Irgendwie muß unser Wasser aus der alten städtischen Wasserversorgung kommen«, sagte er. »Oder vielmehr: gekommen sein. Das alte Röhrensystem besteht noch. Ich glaube, das Beste, war wir tun können, ist, hinauf zum Reservoir zu gehen und nachzusehen, ob noch Wasser darin ist.«

»In Ordnung«, sagte Ezra, bereitwillig wie stets, »aber wir sollten vielleicht mal sehen, wie die Jungs darüber denken.«

»Nein«, sagte Ish. »Die haben keine Ahnung. Wenn es sich um Jagd oder Fischfang handelte, könnten wir die Jungs fragen. Aber hiervon verstehen sie nicht das mindeste.«

Sie gingen hinaus, riefen die Hunde, schirrten sie an und spannten sie vor die Wagen. Das Reservoir lag nur etwa anderthalb Kilometer entfernt, aber seit der Berglöwe ihn angefallen hatte, war Ish ein schlechter Fußgänger, und George fing an, in seinen Gliedern Alterssteifheit zu verspüren. Die Hunde zusammenzutreiben und alles fertigzumachen, kostete immer einige Zeit. In solchen Minuten bedauerte Ish, daß die Pferdezucht zu einer vergessenen Kunst geworden war. In der näheren Umgebung gab es zwar keine wilden Pferde; aber er war überzeugt davon, daß man weiter östlich in den freien Ebenen des San-Joaquin-Tales so viele Pferde finden könnte, wie man nur wollte. Das Ärgerlichste war nur, daß die drei Männer Stadtmenschen gewesen waren und einzig mit Autos umgehen konnten; keiner von den dreien kannte sich in Pferdezucht und Pferdedressur aus, und so hatten sie nie den Versuch unternommen, Pferde zu halten. Im Grunde waren die Hunde auch in vieler Hinsicht bequemer, weil sie wenig Pflege beanspruchten und mit Abfällen von den vielen Rindern gefüttert werden konnten, die ringsum ohne Schwierigkeit getötet wurden. Wenn man dagegen Pferde hielt, so mußte man auf gute Weideplätze bedacht sein und sie vor Wölfen und Löwen schützen. Im großen ganzen also waren, nachdem Autos nur noch mühsam in Betrieb zu halten waren, die Hundegespanne die einfachste Lösung des Transportproblems, und George hatte nur zu gern die kleinen Wagen gefertigt und fortlaufend repariert.

Sie verließen die Hundefuhrwerke am Fuße der letzten Anhöhe und stiegen den alten Pfad hinauf, wobei sie sich den Weg durch dichtes Brombeergestrüpp bahnten. Sie traten an den Rand des Reservoirs und schauten in das leere Bassin. An ein paar tieferen Stellen stand noch ein bißchen Wasser, aber das Abflußrohr ragte in die leere Luft. Sie standen längere Zeit da und schauten, und schließlich sagte Ezra:

»Da haben wir den Salat!«

Sie besprachen ein wenig die Möglichkeiten, aber ohne allzuviel Interesse oder Überzeugung. Die regnerische Jahreszeit hatten sie schon zur Hälfte hinter sich, und so bestand nur geringe Aussicht, daß der Regen das Reservoir wieder füllen würde. Sie stiegen den Pfad wieder hinab, setzten sich in die Hundefuhrwerke und fuhren heim.

Sie kamen alle in Ishs Haus zusammen und vernahmen den Bericht. Als sie ihn angehört hatten, schauten die älteren Leute so trübselig drein, daß die Kinder davon angesteckt wurden; und ein kleiner Junge, der wohl noch gar nicht verstehen konnte, um was es sich handelte, fing an zu weinen. Im Wirrwarr der Unterhaltung wurde bald klar, daß keiner befürchtete, nun zu verdursten; aber die Frauen waren tief betroffen, daß die Toiletten jetzt nicht mehr funktionieren würden. Sie sagten es nicht geradeheraus; aber sie schienen zu glauben, daß sie nie wieder funktionieren würden! Ihnen allen war, als habe das Leben einen Schritt rückwärts getan.

Die älteren Männer beschäftigte mehr das Problem des Trinkwassers. Als alte Stadtmenschen überlegten sie zunächst Mittel und Wege, Lager von Mineralwasser in Läden und Warenhäusern aufzustöbern. Doch schon bald wurde ihnen klar, daß selbst in der bevorstehenden trockenen Jahreszeit kein wirklicher Wassermangel bestehen konnte. Trotz des langen, regenlosen Sommers war die Gegend keine Wüste, und die kleinen Bäche in den Abflußgräben, denen man bislang nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte, mußten das Trinkwasser für all das Vieh und die anderen Tiere liefern, die den Bezirk durchstreiften.

Gerade in diesem Punkte wurde der Unterschied zwischen der älteren und der jüngeren Generation offenbar. Obwohl Ish Geograph gewesen war, konnte er nicht ohne weiteres sagen, ob sich in der Nähe eine Quelle oder ein Bach mit gutem Wasser befand, obwohl er durchaus noch in der Lage war, viele Punkte der Stadt durch Straßennamen und Kreuzungen zu bezeichnen. Die Jüngeren indessen konnten ihm schnell sagen, wo zu dieser Jahreszeit ein Wasserlauf floß, oder wo sich Tümpel, oder wo sich Quellen befanden. Sie konnten diese Stellen nicht durch Nennung der Straßen bezeichnen, aber sie konnten ganz allgemein sagen, wo sie lagen, und sie konnten ohne weiteres hinfinden. So wurden Ishs Kenntnisse durch seinen Sohn Walt erweitert, der ihm auseinandersetzte, daß zu dieser Jahreszeit Wasser in einem kleinen Abzugskanal floß, den Ish kaum je bemerkt hatte, weil er unter der San-Lupo-Promenade durchgeführt war.

Binnen kurzem hatte die anfängliche Betroffenheit sich in ein allgemeines Interesse verwandelt. Einige der Jüngeren wurden mit den Hundegespannen und großen Glasballonen losgeschickt, um von der nächsten Quelle Wasser zu holen. Die Älteren fingen tüchtig an, Löcher zu graben und Latrinen zu bauen.

Die Begeisterung hielt mehrere Stunden an, und das Ergebnis war eine bemerkenswerte Menge geleisteter Arbeit. An die stundenlange Handhabung von Picke und Schaufel war niemand gewöhnt, und gegen Mittag klagten alle über Blasen und Müdigkeit. Als sie zum Mittagessen auseinandergegangen waren, wußte Ish, daß kein einziger zurück zur Arbeit kommen würde. Es war erstaunlich, wieviel Wichtiges für gerade diesen Nachmittag geplant gewesen war: fischen, einen Bullen abstechen, der gefährlich zu werden drohte, Wachteln für das Abendessen schießen. Überdies hatten die begeisterten Jungs inzwischen einen Wasservorrat herangebracht, der für den augenblicklichen Bedarf zum Trinken und Kochen ausreichte. Einen kleinen Wasservorrat oder überhaupt kein Wasser zu haben, das war, psychologisch betrachtet, ein Riesenunterschied. Eine Zwanzigliterflasche in der Küche zerstreute alle Furcht vor Überanstrengung.

Nach dem Mittagessen entspannte Ish sich wieder durch eine Zigarette.

Der kleine Joey kam herein, stand einen Augenblick nervös auf dem linken Fuß da, das rechte Knie eingeknickt, und machte dann kehrt.

»Was ist denn los, Joey?« fragte Ish.

»Gehen wir nicht hinaus und arbeiten noch ein bißchen?«

»Nein, Joey. Heute nachmittag nicht.«

Joey balancierte weiter, blickte im Raum umher und sah dann wieder seinen Vater an.

»Geh nur, Joey«, sagte Ish freundlich. »Alles steht tadellos! Wir haben zur gewohnten Zeit Unterrichtsstunde.«

Joey trottete davon, doch Ish war gerührt und vielleicht gar ein bißchen beschämt durch die stumme Zuneigung, die sein jüngster Sohn ihm entgegenbrachte. Joey konnte kaum die wahren Ursachen begreifen; aber sein behender Geist hatte ihn spüren lassen, daß sein Vater unglücklich war, obwohl es keinerlei Streit zwischen ihm und den anderen gegeben hatte. Ja, Joey war der Richtige!

Seit am Neujahrstage dieser Gedanke zum erstenmal in Ish aufgestiegen war, hatte er die Unterrichtsstunden energisch durchgeführt, und Joey hatte den Stoff ohne die mindeste Schwierigkeit bewältigt. Es bestand sogar die Gefahr, daß er sich zu einem gelehrten Pedanten entwickelte. Er zeigte unter den andern Kindern wenig Eignung zur Führerschaft, und dann und wann waren Ish Zweifel gekommen.

Dieses kleine Geschehnis jetzt eben zum Beispiel! Man konnte daraus auf Intelligenz und Gedanken an die Zukunft schließen, aber auch auf einen Hang, sich der Gesellschaft der Gleichaltrigen zu entziehen, die bei den sportlichen Spielen besser als er waren, und Geborgenheit und Sicherheit in der Nähe des Vaters zu suchen, dessen Sympathie er spürte. Ish hoffte, die andern Kinder würden nicht merken, in welchem Maße Joey sein Liebling geworden war. Es ziemte sich nicht für einen Vater, Lieblingskinder zu haben; aber es war nun eben unverhofft und ungewollt an jenem Neujahrstage dazu gekommen.

»Ach«, dachte er, »warum sich darüber den Kopf zerbrechen?« Und plötzlich war ihm, als setze er das alles Em auseinander. »Damals am Neujahrstage, da war ich plötzlich überzeugt davon, daß Joey der ›Erkorene‹ sei. Jetzt hat sich das natürlich wieder verwischt. Vielleicht ist es nur die Empfindung eines Vaters für seinen kleinen Sohn. Später zanken wir uns vielleicht, wie ich es jetzt mit Walt tue. Ja, hoffentlich wird es so. Die anderen Jungs waren nie wie Joey — er ist aufgeschlossen, meinte ich, und blitzschnell beim Unterricht. Ich weiß nicht recht. Ich wollte, ich wüßte es. Ich will versuchen, es herauszubekommen.«

Als er sich dann eine weitere Zigarette ansteckte, wurde er zornig. Er selbst war nicht so aufgeschlossen gewesen! Er hatte sich viele Gelegenheiten entgehen lassen. Während dieser ganzen Jahre hatte er immerfort gesagt: »Irgend etwas muß geschehen!« Es war nichts geschehen, und sie hatten über ihn gelächelt wie über einen düsteren und nicht weiter wichtig zu nehmenden Propheten. Aber heute morgen war es nun tatsächlich geschehen! Allgemeines Entsetzen hatte geherrscht! Er erinnerte sich der verstörten Gesichter, als er und Ezra und George die Nachricht gebracht hatten. Da wäre es Zeit gewesen, eine Rede mit dem Inhalt: Ich habe es ja gleich gesagt! zu halten. Er hätte es ihnen eintränken sollen. Er hätte die Zukunft in den schwärzesten Farben malen sollen. Vielleicht hätte er dann etwas erreicht.

Vielleicht war er selbst im ersten Augenblick etwas verstört gewesen; denn nun hatten sie alle das Geschehnis so leicht wie möglich genommen, nach der leichtesten Abhilfe gesucht und so die Schneide dessen abgestumpft, was ihnen als ein Verhängnis hätte erscheinen müssen. Der »Stamm« hatte getan, als gäbe es überhaupt keine Schwierigkeiten. Vier oder fünf Stunden danach hatten sie augenscheinlich bereits wieder in das alte Leben unter der Devise: Es wird schon alles gutgehen! zurückgefunden.

Aber dennoch mußten noch die Nachwirkungen des Schocks und das Gefühl der Unsicherheit fortleben. Ein paar waren fischen gegangen und ein paar auf Wachteljagd, und Ish hatte schon zwei Schüsse gehört. Doch sie alle mußten die Empfindung haben, daß sie Unverantwortliches taten oder sich sogar schuldig machten, indem sie die wichtigere Arbeit im Stich ließen. Am Abend würden sie müde heimkommen, und dann würden sie entgegengesetzt reagieren. Dann wollte er sie alle zu einer Versammlung zusammenrufen. Wenn das Eisen auch nicht glührot würde, so konnte es wenigstens ein bißchen angewärmt werden.

Widersinnigerweise drückte er seine zweite nach dem Essen angesteckte Zigarette aus und lehnte sich in dem großen Sessel zurück, um behaglich und nicht von trüben Gedanken heimgesucht auszuruhen.

»Ja, dies ist behaglich«, dachte er. »Dies ist …«


In diesen Tagen werden sie nach dem Meere hinschauen und plötzlich aufschreien: »Ein Schiff, ein Schiff! … Ja, sicher, ein Schiff … Siehst du nicht die Rauchfahne? … Ja, es nimmt Kurs auf unseren Hafen!« Dann werden sie alle fröhlich sein und heiter sagen: »Warum nur waren wir verzweifelt? … Es war doch zu erwarten, daß die Zivilisation nicht überall vernichtet war! … Natürlich, ich habe es ja immer gesagt … In Australien, in Südafrika, an einer der einsamen Stätten — oder auf einer der Inseln.« Doch es wird kein Schiff da sein, nur ein leichtes Wölkchen am Horizont.

Oder einer wird aus dem Nachmittagsschlummer erwachen und hastig nach oben schauen. »Natürlich! … Ich wußte ja, daß es so kommen mußte! … Das war ein Flugzeugmotor … Kein Irrtum ist möglich!« Doch dann sind es nur die Heuschrecken im Gebüsch gewesen, und kein Flugzeug wird kommen.

Oder es wird einer eine Anodenbatterie an den Radioapparat anschließen und mit Kopfhörern dasitzen und an den Knöpfen drehen. »Ja«, wird er kurz und knapp sagen. »Seid mal alle ruhig! … Natürlich, natürlich! … Genau auf 920! … Es spricht jemand, ich kann es deutlich hören, es klingt spanisch … Da wieder! …

Jetzt schwindet es!« Aber es werden keine Worte aus der Luft kommen, nur das Kratzen und Knacken eines fernen Gewitters.


»Ja, das ist behaglich«, dachte der in dem großen Sessel ausgestreckte Ish. Und dann fuhr er plötzlich auf! Auf der Straße hatte es zweimal laut geknallt, und er wußte sofort, daß es nur die Fehlzündungen eines schweren Lastwagens sein konnten! So schnell, daß es überhaupt keine Zeit beansprucht zu haben schien, stand er auf dem Bürgersteig vor dem Hause, und es hielt tatsächlich mitten auf der Straße ein Lastwagen. Es war ein schöner, großer, hellrot gestrichener und blau abgesetzter Lastwagen, und in großen weißen Lettern stand auf der Seite: U.S. Govt. — Regierung der Vereinigten Staaten. Ein Mann stieg aus dem Lastwagen, und obwohl er ihn gefahren hatte, trug er (verständlicherweise) Cutaway und Zylinder. Der Mann sagte nichts, aber Ish wußte natürlich, daß es der Gouverneur von Kalifornien war. Ish durchflutete ein unaussprechliches Glücksgefühl. Denn nun gab es wieder Sicherheit und eine eingesetzte Autorität und die Kraft der vielen anstatt nur die Kraft weniger inmitten der sie umgebenden Finsternis; nun war er, Ish, nicht länger ein schwaches, verstoßenes Kind, das einsam durch eine weite, feindselige Welt wanderte …

In der Bestürzung durch ein Glück, das zu groß war, als daß es hätte ertragen werden können, erwachte Ish. Das Innere seiner Hände war feucht, und sein Herz pochte heftig. Als er in dem vertrauten Raum umherblickte, schwand das Glücksgefühl hin wie sterbendes Licht, und an seine Stelle trat ein unaussprechliches Schmerzgefühl.

Nach einer Weile verblaßte der Schmerz gleichfalls, als Ish wieder ganz bei Bewußtsein war. Jenes heftige, geträumte Glücksgefühl, das so überwältigend gewesen war, daß er davon aufwachte: jetzt wußte er, daß es von einem oft geträumten Traum ausgegangen war — »Wunschtraum« nannte man so etwas. Wie viele Male im Verlauf dieser einundzwanzig Jahre hatte er ihn in dieser oder jener Form geträumt. Freilich nicht während der beiden ersten Jahre; es schien, als sei sein Gefühl der Einsamkeit und der Unsicherheit mit den Jahren gewachsen, immer schneller, ohne daß die Geburt neuer Kinder dem hätte entgegenwirken können.

Inzwischen waren seine Gedanken zur wirklichen Welt zurückgekehrt. Er richtete sich im Sessel auf. Aus der Stellung der Sonne schloß er, daß er eine Stunde geschlafen hatte. Wieder hörte er das ferne Knallen der Schüsse der Wachteljäger. Er lächelte schwach, als er das Knallen mit den Fehlzündungen des Lastwagens in Verbindung brachte. Jedenfalls aber wollte er sich jetzt daranmachen, die andern zu der Versammlung einzuberufen, die er für den Abend geplant hatte.

Die Wasserversorgung blieb während dieses Tages kärglich; aber es litt wenigstens niemand Durst. Am Abend versammelten sich die Älteren, unter ihnen Robert und Richard, die erst sechzehn waren, auf Ishs Einladung hin in seinem Hause.

Es führte niemand den Vorsitz. Manchmal forderte man Ish auf, etwas anzuordnen; aber diese Achtungsbezeigung, so meinte er, rührte wohl daher, daß er eine ohnehin anerkannte natürliche Führerstellung seiner Intelligenz wegen genoß, oder vielleicht einzig daher, daß er der Gastgeber war. Kein Schriftführer hielt fest, was gesprochen wurde. Es wurden keine Anträge gestellt, und es wurde auch nicht abgestimmt. Wie stets war es mehr ein geselliges als ein parlamentarisches Beieinandersein. Ish hörte den Gesprächen über das Für und Wider zu.

»Mir fällt gerade ein: Wer weiß denn im voraus, ob in dem Brunnen überhaupt Wasser sein wird?«

»Ist es denn überhaupt ein Brunnen, wenn kein Wasser drin ist?«

»Ja, dann wird es vielleicht nur ein Loch in der Erde?«

»Vielleicht wäre es besser, wenn wir ein Rohr nach einem Bach oder einer Quelle legten und es an unsere alten Leitungen anschlössen?«

»Wie denkst du darüber, George? Das klingt doch ganz vernünftig?«

»… Ja, natürlich … Ich glaube, ja … Jaja … Ich könnte ja ein paar Rohre zusammenlöten.«

»Aber es gibt dann wohl Streitigkeiten, wenn alle auf einmal Wasser haben wollen.«

»Müßten einen Damm bauen, ein Erddamm wäre ganz das Richtige, dann bekäme das Wasser ein bißchen Druck.«

»Meinst du, das brächten wir zustande?«

»… Türlich … Kostet bloß ein bißchen Arbeit.«

Als die Unterhaltung beinahe gemütlich weiterging, überkam Ish nach und nach Unmut. Ihm war es, als bedeute dieser Tag einen Rückschritt, eine versäumte, unwiederbringliche Gelegenheit. Er merkte, daß er aufgestanden war, und nun hielt er gar den zehn Leuten, die vor ihm saßen, eine richtige Rede.

»Dies hätte nicht geschehen dürfen«, sagte er. »Dies hätten wir nicht über uns kommen lassen dürfen. Jederzeit während des letzten halben Jahres hätten wir feststellen können, daß das Wasser in dem Reservoir abnahm; aber nie sind wir hingegangen, um nachzuschauen. Und nun sitzen wir da, nachdem das Unglück über uns hereingebrochen ist, und fühlen uns beiseite gedrängt, und sind vielleicht nie wieder imstande, die Sache ins reine zu bringen. Wir haben zu viele Fehler begangen. Wir hätten den Kindern Lesen und Schreiben beibringen sollen. (Keiner hat mich ernsthaft dabei unterstützt.) Wir hätten eine Expedition hinausschicken sollen, um zu erfahren, was anderswo geschieht. Es ist vom Übel, wenn man nicht einmal weiß, was jenseits der Berge los ist. Wir hätten uns mehr Haustiere halten sollen, wenigstens ein paar Hühner. Wir hätten Ackerbau treiben müssen …«

Als er dann in voller Fahrt war, klatschte jemand in die Hände, und er hielt wohlgefällig inne, um den Beifall entgegenzunehmen. Aber sie lachten alle nur gutmütig, und abermals merkte er, daß der Beifall ironisch gemeint war.

Durch das Geräusch des Händeklatschens hindurch hörte er einen der Jungs sagen:

»Der gute alte Papa! Nun hat er wieder seinen alten Kohl aufgewärmt!«

Und ein anderer fiel ein:

»Nun fehlt bloß noch George mit seinem Kühlschrank!«

Ish stimmte in das Gelächter ein. Diesmal war er nicht zornig, sondern betroffen darüber, daß er ohne es zu wissen sich selbst wiederholt und, was schlimmer war, abermals die Gelegenheit verpaßt hatte. Dann ergriff Ezra das Wort, der gute Ezra, der immer schnell bei der Hand war, die Verlegenheit irgend jemandes auszulöschen.

»Ja, es ist zwar die alte Rede, aber es war etwas Neues darin. Wie wäre es, wenn wir tatsächlich eine Expedition ausschickten?«

Zu Ishs Überraschung erhob sich ein lebhaftes Hinundhergerede, in dessen Verlauf ihn abermals die Eigenschaften der Menschen betroffen machten, wenn sie zu einer Gruppe vereinigt waren. Ohne sich viel dabei zu denken, hatte er einen neuen Gedanken in Umlauf gesetzt; er war unwillkürlich den Geschehnissen des Tages entsprungen, der Überraschung darüber, daß sie sich mit einmal die Mühe gemacht hatten, das Reservoir zu inspizieren. Er selbst betrachtete den Gedanken als die am wenigsten wichtige seiner Anregungen; aber dieser Gedanke war der einzige, der die Gruppenphantasie anfachte. Plötzlich war er der Lieblingsgedanke aller, und Ish tat wie alle und trat lebhaft für ihn ein. Er empfand es als besser, wenn irgend etwas unternommen wurde — etwas, das den allgemeinen Stumpfsinn unterbrach.

Bald spürte er, wie ihn selbst die Begeisterung packte. Schon nach fünf Minuten redeten sie alle von einer Expedition über den ganzen Kontinent.

»Für einen Fußmarsch ist das zu weit.«

»Ebenso für Hundegespanne.«

»Pferde würden es schaffen, wenn wir welche hätten.«

»Drüben in dem großen Tal sind sicher welche.«

»Dauert viel zu lange, sie zu fangen und zu dressieren.«

Im Zuhören durchkreuzte ein weiterer Gedanke Ishs Gehirn. Sein alter Traum, der, den er an diesem Nachmittag wieder geträumt hatte! Wußten sie denn ganz bestimmt, daß es keine Regierung der Vereinigten Staaten mehr gab? Und selbst wenn es eine Zeitlang keine gegeben hatte: sie konnte sich doch inzwischen wieder gebildet haben. Natürlich war sie dann klein und schwach und wohl noch nicht imstande gewesen, die Verbindung mit der Westküste wieder aufzunehmen. Darum mußten sie aus eigener Kraft die Verbindung herstellen.

Ein anderer merkwürdiger Zug war, daß beinahe alle fortzugehen wünschten! Es war der beste Beweis, daß die Menschen, die Männer zumindest, mit Wanderfüßen geboren werden und stets bereit sind, irgendwohin zu ziehen und Neues zu sehen. Es erhob sich die Frage der Auswahl. Ish schied aus, kaum daß er dagegen protestierte, weil er, seit der Berglöwe ihn im Jahr der Löwen angefallen hatte, in seiner Bewegungsfähigkeit behindert war. George war zu alt. Ezra wurde trotz seiner beredt vorgebrachten Einwände abgelehnt, weil er von allen der schlechteste Schütze war und wirklich ganz und gar nicht dazu geeignet, draußen für sich selbst aufzukommen. Was die »Jungs« betraf, so stimmten alle, ausgenommen sie selber, darin überein, daß sie ihre Frauen und Kinder nicht verlassen durften. Schließlich entschied man sich für Robert und Richard, die zwar noch reichlich jung waren, aber sehr wohl imstande, für sich einzustehen. Ihre Mütter, Em und Molly, schauten zweifelnd drein; doch die Begeisterung der Versammlung schwemmte ihre Einwände hinweg. Robert und Richard waren hingerissen.

Die heikelsten Fragen waren natürlich die des einzuschlagenden Weges und die der Beförderungsmittel. Während der letzten paar Jahre hatte niemand ein Auto benutzt, und mehrere ehemals sehr schöne Wagen standen verloren und verwahrlost längs der San-Lupo-Promenade auf hoffnungslos schlappen Reifen; die Kinder benutzten sie für ihre Spiele. Der Ärger, ein Auto in Betrieb zu halten, überstieg die Freude daran, und die Straßen nach allen Richtungen waren dermaßen blockiert durch umgefallene Bäume und die Ziegel der Schornsteine, die beim Erdbeben zusammengestürzt waren, daß wenig dabei herausgekommen wäre, hätte man versucht, Autofahrten durch die Stadt zu unternehmen, selbst wenn sich ein betriebsfähiges Auto gefunden hätte. Den Ausschlag gab, daß keiner der Jüngeren wußte, wieviel Spaß es macht, unter günstigen Bedingungen ein Auto zu steuern, und so hatten sie kein Interesse daran. Und schließlich: wohin sollte man fahren, wenn man einen Wagen hatte? Es gab keine Freunde am andern Ende der Stadt, die man hätte besuchen können, und keine Kinos. Um Dosen und Flaschen aus den Läden nach Haus zu befördern, reichten die Hundegespanne vollauf aus, und sie wurden auch bei den Fischfangfahrten zur Küste benutzt.

Doch die Älteren waren sich einig, daß es nach wie vor möglich sein müsse, ein Auto wieder betriebsfertig zu machen und auch größere Entfernungen mit ihm zu bewältigen, trotz der schadhaften Reifen, wenn man die Geschwindigkeit auf etwa dreißig Stundenkilometer herabminderte. Und im Vergleich zu einem Hundefuhrwerk fuhr man dann rasend schnell! Schnell genug, um New York in etwa einem Monat mit Leichtigkeit zu erreichen, vorausgesetzt, daß die Straßen passierbar waren.

Das war der andere schwierige Punkt — die Straßenverhältnisse! Ish war plötzlich in seinem Element, indem er seine alten geographischen Kenntnisse ausspielte. In östlicher Richtung, über die Sierra Nevada hinaus, würde alles durch umgefallene Bäume und Erdrutsche blockiert sein, und um die nach Norden führenden Straßen war es wohl ebenso bestellt. Die beste Möglichkeit bestand wohl, wenn man durch das offenere Land im Süden fuhr, also die Straße, die Ish vor langer, langer Zeit auf seiner Fahrt nach New York benutzt hatte. Die Straßen durch die Wüste würden wahrscheinlich noch im gleichen Zustand wie früher sein. Vielleicht standen die Brücken über den Colorado-Strom noch, vielleicht auch nicht. Das einzige Mittel, das herauszubekommen, war, loszufahren und sich zu überzeugen.

Je mehr seine Erregung wuchs, desto deutlicher erstanden vor Ishs innerem Auge die alten Autokarten, und so arbeitete er denn die Fahrstrecke nach Osten aus. Die Gebirge jenseits des Colorado waren wohl nicht allzu schwierig zu bewältigen, und dann kamen vorerst keine größeren Flüsse, bis man bei Albuquerque an den Rio Grande gelangte. Wenn dann die Überquerung der Sandia-Berge gelang, lag Flachland vor einem, und je weiter man nach Osten kam, desto mehr Straßen standen einem zur Verfügung. (Gasolin konnte man nach wie vor in den großen Trommeln finden; das würde kein allzu großes Problem sein.) Wenn man einmal im Flachland war, so konnte man auch an den Missouri oder den Mississippi gelangen, und sogar über diese breitesten aller Ströme hinweg; die hohen Stahlbrücken mußten noch in gutem Zustand sein nach dem der Meeresbucht-Brücke zu urteilen.

»Welch ein Abenteuer!« rief er laut. »Was gäbe ich darum, wenn ich mitfahren könnte. Ihr müßt überall nach Menschen Ausschau halten — nicht nur nach einem oder zweien, sondern nach Gemeinschaften. Ihr müßt Obacht geben, wie es um andere Gruppen bestellt ist und wie sie ihre Probleme lösen und von neuem anfangen.«

Inzwischen waren die Kerzen fast niedergebrannt. Die Uhr zeigte auf zehn, obwohl das nur eine Schätzung war. (Ish kontrollierte die Zeit einmal innerhalb eines gewissen Zeitabschnittes, indem er mittags den Schatten beobachtete, und die große Uhr in seinem Wohnzimmer galt für die Gemeinschaft als Normaluhr.) Zweifellos aber war es eine späte Stunde für Menschen, die über kein elektrisches Licht verfügten und die sich allmählich daran gewöhnt hatten, sich fast ausschließlich des Sonnenlichts zu bedienen.

Die anderen waren aufgestanden und verabschiedeten sich. Als sie gegangen waren, schickten Ish und Em Robert zu Bett und machten sich daran, das Wohnzimmer aufzuräumen.

Als sie damit fertig waren, setzten sie sich auf die Couch, und Ish rauchte eine letzte Zigarette. Seine Gedanken gingen zur Diskussion dieses Abends zurück. Obwohl alles eine andere Wendung genommen, als er es ursprünglich geplant hatte, hatte er doch die Empfindung, daß etwas Wichtiges erreicht worden sei.

3

Als er am andern Morgen erwachte, war Em schon aufgestanden. Er lag still, entspannt und glücklich da. Dann schien sein Geist sich plötzlich etwas anderem zuzuwenden und Halt zu finden — und sogleich fing er an zu denken und Pläne zu schmieden.

Nach einer Minute überkam ihn eine leichte Verärgerung. »Du denkst zu viel!« sagte er zu sich selbst.

Warum erlaubte sein Gehirn ihm nicht, wie es bei anderen Menschen der Fall war, zu ruhen und glücklich zu sein, ohne daß er sich Gedanken über die Zukunft machte, entweder über die nächsten vierundzwanzig Stunden oder über die nächsten vierundzwanzig Jahre? Warum konnte er nicht einmal sechzig Sekunden lang still daliegen? Nein; dann überfiel ihn etwas, und wenngleich sein Körper still lag; begann sein Geist zu arbeiten und kam in. Gang wie eine leerlaufende Maschine. Eine Maschine, ein Motor? Nun, freilich, heute mußte er sich mit Motoren befassen!

Doch das ruhige Glück zwischen Schlafen und Wachen hatte ihn endgültig verlassen, und die reine Zufriedenheit war dahin. Mit einer ärgerlichen Armbewegung schlug er die Decke zurück.

Der Morgen war hell und sonnig. Obwohl die Luft kühl war, trat er auf den kleinen Balkon hinaus, blieb dort stehen und schaute nach Westen. Im Laufe der vielen Jahre waren die Bäume überall größer geworden; doch noch immer konnte er den Berggipfel und ein gutes Stück der Meeresbucht mit den beiden Brücken sehen.

Die Brücken, ja die Brücken! Ihm bedeuteten sie nach wie vor die imposantesten Überbleibsel der großen Vergangenheit. Die Kinder indessen hielten, wie er oftmals beobachtet hatte, die Brücken für etwas, das sich kaum von Hügeln oder Bäumen unterschied; sie waren einfach etwas, das da war. Für Ish jedoch zeugten die Brücken täglich von der Macht und dem Ruhm dessen, was Zivilisation gewesen war.

Die Goldene-Tor-Brücke hatte er seit vielen, vielen Jahren nicht besucht. Solch ein Ausflug hätte einen sehr langen Fußmarsch bedeutet oder sogar eine lange Fahrt im Hundewagen; man hätte über Nacht fortbleiben müssen. Aber er wußte noch ganz genau, wie die Buchtbrücke aussah, und selbst von dort aus, wo er stand, konnte er sie deutlich sehen.

Er mußte daran denken, wie sie ehedem gewesen war: sechs Fahrbahnen, auf denen sich Personenautos, Lastwagen, Autobusse geschwind fortbewegten, und darunter die elektrischen Schnellbahnen. Jetzt war, wie er wußte, nur ein einziger Wagen auf der Brücke — der kleine, leere Zweisitzer, der säuberlich am Bordstein nahe dem Ende des West-Bucht-Bogens stand. Der vergilbte Zulassungsschein hatte, wie er bei seinem letzten Besuch dort gesehen, noch an der Steuersäule gesteckt: John S. Robertson (oder, er konnte sich nicht ganz genau erinnern, vielleicht auch James T.), wohnhaft Nummer soundso auf einer der numerierten Straßen in Oakland. Nun waren die Reifen platt, und der einst hellgrüne Anstrich war zu einem stumpfen Moosgrau verwittert.


An der Oberfläche hatten sie sich verändert. Die Türme, die ihre Spitzen in den Sommerwolken verbargen, die meilenlangen, sich senkenden und steigenden Tragkabel, die massiven Stahlträger — sie warfen nicht länger mit ihrem lichten Silbergrau den Schein der Morgensonne zurück. Über ihnen lag jetzt weich eine Rosthaut, die rotbraune Farbe der Vernachlässigung. Nur auf den Turmspitzen und längs der Kabel, an günstigen Aufsitzplätzen war die ruhige Einförmigkeit unterbrochen durch das tote Weiß der Vogelexkremente.

Ja, während all der Jahre hatten die Seevögel sich hier niedergelassen, die Möwen, die Pelikane und Kormorane. Und auf den Uferdämmen huschten die Ratten, kämpften, heckten und nisteten.


Der breite Zufahrtsweg, der unbenutzt dalag, wies nur wenige Anzeichen der Veränderung, nur unebene Stellen und hier und dort ein paar Risse und Sprünge auf. Wo hergewehter Staub sich in den Rissen und Winkeln abgelagert hatte, wuchs etwas Gras.

Auch in ihrem inneren Gefüge war die Brücke noch immer intakt und unverändert. Der Rost an der Oberfläche hatte den Sicherheitskoeffizienten nur um ein Geringes vermindert. An der östlichen Auffahrt, wo bei Sturm Salzwasser gegen die seit langem nicht neugestrichenen Stahlträger gespritzt war, hatte der Rost etwas tiefer gefressen. Hätte es noch einen Ingenieur gegeben, so; würde er den Kopf geschüttelt und die Auswechslung einiger Bauglieder befohlen haben, ehe er die Brücke wieder für den Verkehr freigab.

Aber das war auch alles. In dem dauerhaften Gefüge der Brücke verteidigte sich die seit langem tote Zivilisation noch gegen die Angriffe von Luft und Meer.


Ish riß sich aus der tranceähnlichen Versunkenheit und ging hinein, um sich zu rasieren. Die Berührung mit der Stahlklinge war zugleich beschwichtigend und anregend. Glücklich in der Erwartung zweckvollen Tuns gedachte er all dessen, was an diesem Tage vollbracht werden sollte. Er mußte sich davon überzeugen, daß an den Abortanlagen und am Brunnen weitergearbeitet wurde. Er wollte weitere Pläne für die Expedition ins Landesinnere entwerfen. Er mußte nachschauen, was sich tun lassen könnte, um wieder ein Auto in Gang zu bringen. Vielleicht, so dachte er in aufwallendem Glücksgefühl, war dies der Tag, da sie wieder auf die rechte Straße gelangten, nicht nur im wörtlichen Sinne mittels eines Autos, sondern auch bildlich — auf die Straße, die zur Wiedergeburt der Zivilisation führte.

Er schraubte den Rasierapparat auseinander und warf die Klinge in den Abfallkasten, in dem bereits eine größere Zahl von Klingen lag. Er dachte nie daran, eine Klinge mehr als einmal zu benutzen, weil ihm so viele Tausende zur Verfügung standen, daß keine Veranlassung zur Sparsamkeit bestand. Und dennoch war das Problem, was man mit den alten Rasierklingen anfangen sollte, merkwürdigerweise noch immer akut. Er erinnerte sich der Scherze, die vor langer Zeit darüber gemacht worden waren. Spaßig, wie ein kleines Ding das gleiche blieb, nachdem so viele große Dinge unwiderruflich anders geworden waren!

Nach dem Frühstück ging Ish hinüber, um sich mit Em zu besprechen. Sie setzten sich auf die Stufen der Vortreppe. Innerhalb kurzer Zeit kamen weitere Menschen heran, und es bildete sich eine kleine Gruppe, wie es stets geschah, wenn zwei ein interessantes Gespräch zu führen schienen. Es wurde hin und her geredet; es wurden in beträchtlicher Anzahl naheliegende Witze eingestreut, und die Jüngeren machten derbere Scherze. Im allgemeinen schienen alle sich einig zu sein, daß man wieder an die Arbeit gehen müsse; aber es zeigte niemand sonderliche Eile, damit anzufangen. Die Verzögerung machte Ish wütend.

Schließlich jedoch setzten Ezra und die drei jüngeren Männer, begleitet von einem bunten Schwarm kleiner Jungen und Mädchen, sich in Bewegung, um mit der Arbeit anzufangen. Kaum waren sie aufgebrochen, als eine Art Begeisterung sie überfiel. Alle, selbst Ezra, begannen plötzlich zu laufen, um zu sehen, wer als erster ankommen und mit dem Graben anfangen würde. Ish sah Evie zwischen den übrigen laufen, obwohl sie schwerlich wußte, was sie vorhatten, und ihr blondes Haar wehte wild. Wer als erster anfing, konnte er nicht sagen, aber im Handumdrehen flog die ausgehobene Erde nach allen Richtungen. Er wußte nicht, ob er lachen oder sich ärgern sollte. Sie alle schienen eine ernste Arbeit in eine Art Spiel zu verwandeln, als seien sie absolut unfähig, zwischen Arbeit und Spiel zu unterscheiden. Das war vielleicht sehr schön; aber es kam nicht viel dabei heraus, meinte er, wenn man Arbeit nicht als harte Mühe ansah. Wie die Dinge lagen, würde die spielerische Begeisterung in einer halben Stunde verraucht sein; die Erdschollen würden langsamer fliegen; und dann würden erst die Kinder und bald darauf auch die Älteren sich wahrscheinlich trollen und etwas anderes anfangen.


Wenn sie vereint sich an den Hirsch heranpirschten, oder bei der Entenjagd fröstelnd im Schlamm hockten, oder ihr Leben bei Klettereien auf der Gemsenjagd aufs Spiel setzten, oder unter Geschrei auf den Bären in seinem Lager eindrangen, dann war das keine Arbeit gewesen, obwohl sie dabei oftmals schwer geatmet und müde Glieder gehabt hatten. Wenn die Frauen Kinder gebaren und nährten, oder die Wälder nach Beeren und Pilzen durchstreiften, oder das Feuer am Eingang der Felsschlucht unterhielten, so war das ebensowenig Arbeit gewesen.

Wenn sie sangen und tanzten und einander liebten, so war das kein Spiel. Durch Gesang und Tanz wurden vielleicht die Geister der Wälder und des Wassers versöhnt. Und was die Ausübung des Liebesaktes betraf, so wurde dadurch, und durch die Gunst der Götter, der Stamm erhalten.

So durchdrangen Arbeit und Spiel einander während der ersten Jahre stets, und nicht einmal die Wortbezeichnungen dafür standen widereinander.

Aber die Jahrhunderte glitten im Fluge dahin, und weitere Jahrhunderte folgten, und viele Dinge erhielten ein anderes Gesicht. Der Mensch erfand die Zivilisation und war über die Maßen stolz darauf. Aber in keiner Beziehung veränderte die Zivilisation das Leben stärker als durch die Verschärfung des Unterschiedes zwischen Arbeit und Spiel, und zumindest diese Scheidung wurde nach und nach noch bedeutsamer als die alte zwischen Schlafen und Wachen. Der Schlaf bekam den Sinn einer Art Erholung und Entspannung, und »Schlafen auf der Arbeitsstätte« galt als eine verruchte Sünde. Das Lichtausdrehen und das Rasseln der Wecker waren nicht so sehr die Symbole von des Menschen Doppelleben wie der Anschlag der Kontrolluhr und das Pfeifen bei Arbeitsschluß. Die Menschen stellten Streikposten auf, warfen mit Ziegelsteinen und vollführten Sprengstoffattentate, um der Arbeit eine Stunde abzuziehen und sie der Ruhezeit hinzuzufügen, und andere Menschen kämpften genauso erbittert, um sie daran zu hindern. Und die Arbeit wurde immerfort drückender und verhaßter, und das Spiel wurde immer künstlicher und fieberhafter.


Einzig Ish und George standen noch an der Vortreppe. Ish wußte, daß George drauf und dran war, etwas zu sagen. Wie spaßig, dachte Ish. Im allgemeinen machten die Menschen eine Pause, wenn sie etwas gesagt hatten. George machte eine Pause, bevor er etwas sagte.

»Ja«, sagte George und machte abermals eine Pause, »ja … ich glaube, es ist besser, wenn ich gehe und ein paar Bretter besorge, dann kann ich die Wände absteifen, wenn das Loch tiefer wird.«

»Fein!« sagte Ish. Wenigstens George, wußte Ish, würde darauf bedacht sein, die Arbeit zu Ende zu führen. Ihm saß die Gewohnheit, zu arbeiten, von den Alten Zeiten her so tief in den Knochen, daß er vielleicht überhaupt nicht imstande war, richtig zu spielen.

George trollte sich, um nach seinen Brettern zu suchen, und Ish ging zu Dick und Bob, die dabei waren, die Hunde zusammenzutreiben und anzuschirren.

Er traf die beiden Jungs vor seinem eigenen Hause. Drei Hundegespanne waren fertig. Aus dem einen Wägelchen ragte ein Gewehrlauf.

Ish wurde einen Augenblick nachdenklich. Mußte noch etwas mitgenommen werden? Er hatte die Empfindung, daß etwas fehlte.

»Ach, Bob«, sagte er, »geh bitte hinein und hole meinen Hammer.«

»Och, wozu brauchst du den denn?«

»Ja, zu nichts Besonderem, glaube ich. Vielleicht brauchen wir ihn, um eine Tür aufzubrechen!«

»Dazu kannst du doch einen Ziegelstein nehmen«, sagte Bob; doch er ging.

Ish nahm die kurze Verzögerung wahr, um das Gewehr nachzusehen, ob das Magazin auch gefüllt war. Das war pure Gewohnheit; aber Ish war der einzige, der sie beibehalten hatte.

Bob kam wieder und überreichte ohne weiteres seinem Vater den Hammer. Als Ish den Stiel ergriff, empfand er ein winziges Sicherheitsgefühl. Das vertraute Gewicht des vier Pfund schweren Hammerkopfes dünkte ihn tröstlich. Es war derselbe alte Hammer, den er vor langer, langer Zeit aufgelesen, kurz bevor die Klapperschlange ihn gebissen hatte. Der Stiel war verwittert und hatte Risse bekommen. Ish hatte oft erwogen, sich aus einer Eisenwarenhandlung einen neuen Stiel zu holen und daran den Hammerkopf zu befestigen. Aber dann hätte er sich ebensogut einen völlig neuen Hammer holen können. Doch er hatte gegenwärtig nur sehr selten Gelegenheit, sich eines Hammers zu bedienen. Um der Tradition willen nahm er ihn an jedem Neujahrstage mit, um die Jahreszahl in den Felsen zu meißeln; aber das hatte nichts mit der praktischen Verwendungsmöglichkeit zu tun, und selbst für jenen Zweck wäre ein leichterer besser geeignet gewesen.

So legte er denn den Hammer zu seinen Füßen in den Wagen und war zufrieden.

»Fertig?« fragte er Dick und Bob, und just in diesem Augenblick fiel ihm etwas auf.

Halb versteckt hinter den Büschen stand ein kleiner Junge und schaute nach den Wagen hin. Ish erkannte die schmächtige Gestalt.

»Oh, Joey!« rief er in einem plötzlichen Impuls. »Willst du mitkommen?«

Joey trat aus dem Gebüsch heraus; aber er zögerte.

»Ich muß beim Brunnengraben helfen«, sagte er.

»Ach, das ist nicht so wichtig. Sie werden schon ohne dich fertig werden.«

Es bedurfte weiter keiner Nötigung. Joey lief zu Ishs Wagen, kletterte hinein und hockte zu des Vaters Füßen nieder, wo er gerade noch Platz fand. Den Hammer hielt er im Schoß.

Dann stürmten die Hunde unter lautem Gebell los. Die beiden anderen Gespanne schlossen sich an; die aufgeregten Jungs schrien, und ihre Hunde bellten ebenfalls.

Bald nachdem die Hunde losgestürmt waren, hörten sie mit dem Gebell und der Kraftvergeudung auf und fielen in eine langsamere Gangart. Ish sammelte seine Gedanken und überdachte sein Vorhaben.

Bei einer ehemaligen Reparaturwerkstatt ließ er anhalten. Die Tür stand offen. Das kleine Geschäftszimmer hatte Glaswände; aber das Sonnenlicht drang nur in gebrochenem Gelb hinein. Einundzwanzig Jahre alter Fliegenschmutz und Staub bedeckten in dicken Lagen die Scheiben.

Er sah das alte Fernsprech-Teilnehmer-Verzeichnis am Haken neben dem seit langem toten Telefon hängen. Als er das Buch ergriff und es aufschlug, brachen Fetzchen gelben Papiers von den Seiten ab und flatterten zu Boden. Er fand die Adresse der ehemaligen Vertretung für Jeeps. Ja, bei dem gegenwärtigen Zustand der Straßen würde ein Jeep das beste sein.

Als sie eine halbe Stunde später an der betreffenden Straßenecke anlangten, blickte Ish durch das schmutzige Schaufenster, und sein Herz tat einen bubenhaften Freudensprung, als tatsächlich ein Jeep dort stand.

Die Jungs spannten die Hunde aus, und die gut dressierten Tiere legten sich nieder.

Dick drückte auf die Klinke; die Tür war verschlossen.

»Hier«, sagte Ish. »Nimm den Hammer und zerschlag das Schloß.«

»Ach, da liegt ein Ziegelstein!« sagte Dick und lief die Straße hinab, zu den Trümmern eines beim Erdbeben zusammengestürzten Schornsteins. Bob lief mit ihm.

Ish ärgerte sich. Was war in die Jungs gefahren? Ein Ziegelstein war bei weitem nicht so geeignet zum Einschlagen einer Tür wie ein Hammer. Er mußte das wissen; er hatte in seinem Leben viele Türen eingeschlagen.

Er ging die drei Schritte über den Bürgersteig, schwang den Hammer im Rhythmus seines letzten Schrittes, und die Tür sprang nach innen auf. Er wollte es ihnen schon zeigen! So hatte es denn doch seinen Sinn gehabt, daß er den Hammer mitgenommen hatte!

Der Jeep, der dort im Schauraum stand, hatte vier platte Reifen und war mit dickem Staub bedeckt; aber unter dem Staub war der rote Lack noch wie neu. Vom Kilometerzähler war abzulesen, daß der Jeep ganze fünfzehn Kilometer gefahren war. Ish schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte er. »Der ist mir zu neu. Einer, der schon eingefahren ist, wird uns bessere Dienste tun.«

In der Garage hinter dem Schauraum standen mehrere andere. Alle ihre Reifen waren platt. Die Motorhaube des einen Fahrzeugs stand offen, und rundherum lagen zahlreiche Zubehörteile. Der Jeep mußte zur Reparatur dort gewesen sein. Ish beachtete ihn nicht weiter.

Die Wahl zwischen den andern schien nicht schwer zu sein. Der Kilometerzähler des einen stand auf zehntausend, und Ish beschloß, es mit ihm zu versuchen.

Die Jungs blickten ihn erwartungsvoll an, und Ish hatte das Gefühl, als müsse er ein Examen ablegen.

»Vergeßt nicht«, sagte er, als wolle er allem vorbeugen, »daß ich nicht weiß, ob ich das Ding in Gang bringen kann oder nicht. Ich weiß nicht, ob überhaupt irgend jemand dazu imstande ist — nach zwanzig Jahren und mehr! Zunächst müssen wir versuchen, ob wir ihn überhaupt von der Stelle bringen.«

Ish sah nach, ob die Bremse los und die Gangschaltung auf Leerlauf stand.

»Gut und schön«, sagte er. »Die Reifen sind platt, und das Fett in den Lagern ist hart geworden, und vor allen Dingen weiß ich nicht, ob das Getriebe nach dem langen Stehen noch in Ordnung ist. Aber kommt und stellt euch hinten hin; wir wollen schieben. Also los. Hau-ruck!«

Der Wagen rollte plötzlich vorwärts!

Die Jungs schrien vor Freude und Aufregung, und die Hunde stimmten bellend ein. Man hätte meinen können, es sei alles schon geschafft; dabei war einzig der Beweis erbracht worden, daß die Räder sich noch drehten.

Nun schaltete Ish den Gang ein, und sie schoben wieder. Das war etwas anderes. Der Wagen wich nicht vom Fleck.

Ish schaute unter die Motorhaube und sah, daß die Maschine gut eingefettet war, wie es Motoren für gewöhnlich sind. Außen war kaum Rost zu sehen; aber das besagte nichts darüber, wie es im Inneren aussah.

Die Jungs schauten ihn erwartungsvoll an, und er dachte über einen Ausweg nach. Er konnte es mit einem anderen Wagen versuchen. Er konnte durch die Jungs die Hunde hereinbringen lassen und sie vorspannen. Dann kam ihm ein anderer Gedanke.

Der Jeep, der sich in Reparatur befunden hatte, stand nur einige zehn Fuß hinter dem, mit dem sie es versuchen wollten. Wenn sie ihn vorwärtsschöben, so würde er mit hinreichender Wucht gegen den anderen stoßen, so daß er vielleicht ansprang. Vielleicht wurde dabei etwas eingebeult; aber das war nicht so wichtig.

Sie brachten den anderen Jeep in die richtige Stellung und verschnauften. Dann schoben sie ihn alle zusammen an.

Es gab einen recht befriedigenden Zusammenprall. Beim Nachschauen sahen sie, daß der andere Jeep drei Fuß vorwärtsgerollt war. Danach konnten sie ihn bei angestrengtem Schieben von der Stelle bewegen, auch wenn der Gang eingeschaltet war. In Ish stieg ein Triumphgefühl auf.

»Ihr seht«, sagte er, »wenn etwas in Bewegung ist, fällt es leichter, es in Bewegung zu halten.«

Natürlich war die Batterie leer; aber das hatte Ish von vornherein bedacht. Zunächst aber zeigte er den Jungs, wie sie alles Öl ablassen und es durch neues Öl aus den verschlossenen Behältern ersetzen müßten, wobei er das leichteste Öl verwandte, das er finden konnte.

Während sie sich dieser Arbeit unterzogen, fuhr er mit einem Hundewagen davon. Nach einer halben Stunde kam er mit einer Batterie wieder. Er baute sie ein und drehte den Schlüssel im Schlitz herum, wobei er die Nadel am Strommesser beobachtete. Sie schlug nicht aus. Vielleicht funktionierte das Instrument nicht mehr.

Doch als er auf das Amperemeter klopfte, schlug die seit langem nicht betätigte Nadel plötzlich aus und blieb zitternd auf »Entladen« stehen. Hier war Leben!

Er tastete nach dem Anlasser.

»Ja, Jungs«, sagte er, »jetzt kommt das Wichtigste … Jetzt werden wir sehen, was die Batterie leistet.« Die Jungs grinsten; sie hatten nie von solchen Dingen sprechen hören.

Er trat den Anlasser nieder. Es erscholl ein langgezogenes Grunzen. Dann fing der Motor langsam zu arbeiten an.

Nach der ersten Umdrehung arbeitete er leichter und schneller; immer leichter und schneller. Soweit war alles gut!

Der Tank war leer.

Sie fanden Gasolin in einer Trommel und füllten den Tank. Ish schraubte neue Zündkerzen ein. Er goß etwas Gasolin in den Vergaser und war nicht wenig stolz darauf, daß er sich auf so etwas verstand. Er stieg ein, schaltete, stellte die Zündung ein und trat den Anlasser nieder.

Der Motor grunzte, sprang an, lief schneller, und dann plötzlich war er lebendig.

Die Jungs schrien hurra! Ish saß als Triumphator da und spielte mit dem Gashebel. Er empfand ein Gefühl des Stolzes über das, was die alte Zivilisation hervorgebracht hatte — mittels all der eifrigen Planung und der ehrlichen Arbeit der Ingenieure und Maschinenbauer, die diesen Motor konstruiert hatten, der imstande war, auch nach zwanzigjähriger Ruhezeit noch zu laufen.

Doch der Motor setzte plötzlich aus, als das Gasolin im Vergaser verbraucht war. Sie gossen abermals etwas hinein, und er lief wieder; das wurde wiederholt, und schließlich begann die alte Pumpe ihre Tätigkeit, führte Betriebsstoff vom Tank zu, und der Motor lief ununterbrochen. Jetzt aber erhob sich das Problem der Bereifung — vielleicht das schwierigste von allen.

In dem Schauraum stand, wie üblich, ein Stapel Reifen sorglich aufgeschichtet. Aber die Reifen hatten so lange dagestanden, daß sie unter ihrem eigenen Gewicht zusammengesackt waren; der Gummi war an den Druckstellen schadhaft geworden. Vielleicht konnten diese Reifen noch ein paar Kilometer durchhalten; aber für größere Strecken waren sie ungeeignet. Nach sorgfältigem Suchen fanden sie schließlich ein paar Reifen, die abseits gelegen hatten und in besserem Zustand zu sein schienen, obwohl der Gummi hart war und zahlreiche kleine Risse aufwies.

Sie fanden einen Wagenheber und hoben das erste Rad vom Boden. Es war eine Quälerei, das Rad loszubekommen; denn die Muttern waren auf den Gewinden festgerostet.

Es dauerte eine ganze Zeit, bis sie den ersten Reifen auf der Felge hatten.

Gerade als sie eine Ruhepause einlegten, abgerackert, aber triumphierend, hörte Ish, wie Joey ihm von der Garage her etwas zurief.

»Was ist denn, Joey?« antwortete er, einigermaßen gereizt.

»Komm mal her, Papa!«

»Ach, Joey, ich bin müde«, sagte er, ging aber doch hin, und die beiden anderen Jungs schlenderten hinter ihm her.

Joey zeigte auf das Ersatzrad des einen der Jeeps.

»Sieh mal, Papa«, sagte er, »warum nehmen wir nicht einfach das hier?«

Ish blieb nichts anderes übrig, als laut herauszulachen.

»Ja, Jungs«, sagte er zu Dick und Bob, »diesmal sind wir die Dummen gewesen!«

Der Reifen des Ersatzrades hatte die ganzen Jahre hindurch ohne Druck frei gehangen, und überdies war er schon montiert. Sie hätten sich viel Arbeit sparen können. Sie hätten nichts weiter zu tun brauchen, als dieses und die übrigen Reserveräder zu nehmen, sie aufzupumpen und dann an ihrem Jeep zu befestigen. Sie hatten sich umsonst abgeschuftet, weil sie ihre Köpfe nicht richtig gebraucht hatten.

Als Ish sich seiner eigenen Dummheit bewußt wurde, erlebte er zugleich eine Freude. Joey war der einzige, der richtig die Augen aufgemacht hatte!

Doch jetzt war es Zeit zur Mittagspause.

Sie hatten ihre Löffel und die unentbehrlichen Büchsenöffner mitgenommen. Nun gingen sie in die nächstgelegene Lebensmittelhandlung.

Gleich allen andern bot sie den Anblick der Verwüstung. Ratten und Mäuse hatten alle Kartons zernagt, und der Fußboden war dick mit Schnitzeln von Pappe und Papier bedeckt.

Aber den Gläsern und den Blechdosen hatten die Nager nichts anhaben können, und so waren sie unzerstört geblieben. Sie suchten sich aus, wonach ihnen der Sinn stand. Dann gingen sie auf die Straße und setzten sich in die Sonne.

Sie machten sich nicht die Mühe, ein Feuer anzustecken, sondern verzehrten aus den Dosen ein kaltes Mittagsmahl, jeder nach seinem Geschmack: eingemachte Bohnen, Sardinen, Lachs, Leberpastete, Corned beef, Oliven, Erdnüsse und Spargel. Als Getränk gab es Tomatensaft. Als Nachtisch aßen sie eingemachte Pfirsiche und Ananas.

Als sie fertig waren, wischten sie Löffel und Büchsenöffner ab und steckten sie wieder in die Taschen. Die halbleeren Dosen ließen sie einfach liegen.

Es freute Ish, feststellen zu können, daß die Jungs schleunigst wieder an die Arbeit gehen wollten. Er selbst fühlte sich etwas erschöpft, und in seinem Kopf begann ein neuer Gedanke Gestalt anzunehmen.

»Sagt mal, Jungs«, rief er, »ich meine Bob und Dick. Traut ihr es euch zu, die Räder auch ohne meine Hilfe an den Wagen zu montieren?«

»Natürlich«, sagte Dick.

»Ich meine nämlich, daß Joey zu klein ist, um euch helfen zu können, und ich bin müde. Die Stadtbibliothek liegt nur vier Häuserblöcke von hier entfernt. Joey kann mit mir kommen. Hast du Lust dazu, Joey?«

Hingerissen von diesem Gedanken, war Joey bereits aufgesprungen.

Auf dem Wege zur Bibliothek rannte Joey übereifrig ein paar Schritte voraus. Es war dumm, dachte Ish, daß er den Jungen bislang niemals mit dorthin genommen hatte. Joeys Interesse am Lesen und an geistigen Dingen hatte sich sehr rasch entwickelt.

Entsprechend seinem Entschluß, die Universitätsbibliothek als Reserve unangetastet zu lassen, hatte Ish sich jahrelang der Stadtbibliothek für seine Zwecke bedient; schon vor langer Zeit hatte er das Schloß des Haupteingangs gewaltsam geöffnet. Nun stieß er die schwere Tür auf und ging stolz mit seinem jüngsten Sohn hindurch.

Sie blieben im großen Lesesaal stehen, und dann wanderten sie zwischen den Büchergestellen einher. Joey sagte nichts, aber Ish konnte sehen, wie der Junge mit den Augen die Titel verschlang, als sie an den Reihen entlanggingen. Beim Hinausgehen blieben sie in der großen Eingangshalle stehen und schauten zurück. Dann mußte Ish das Schweigen brechen.

»Nun, was hältst du davon?«

»Sind das alle Bücher, die es auf der ganzen Welt gibt?«

»O nein! Nur ein kleiner Teil davon.«

»Kann ich sie lesen?«

»Ja, du kannst lesen, welche du willst. Aber du mußt sie immer wieder hinbringen und auf den richtigen Platz zurückstellen, damit sie nicht verlorengehen und durcheinandergeraten.«

»Was steht denn in den Büchern drin?«

»Oh, beinahe alles. Wenn du sie alle läsest, wüßtest du eine ganze Menge.«

»Ich will sie alle lesen!«

»Ach was, Joey! Du kannst sie unmöglich alle lesen, und das brauchst du auch gar nicht. Es sind langweilige darunter, und dumme, und alberne, und sogar schlechte. Aber ich will dir beim Heraussuchen der guten helfen. Und jetzt wollen wir lieber gehen.«

Er war froh, daß er Joey hier wegbekam. Die Aufregung, unvermittelt so viele Bücher zu sehen, schien für den zarten kleinen Jungen zu viel zu sein.

Auf dem Rückweg zur Garage lief Joey nicht voraus. Diesmal hielt er sich dicht neben seinem Vater; er dachte nach. Schließlich sagte er:

»Papa, wie hießen doch die Dinger, die an unseren Zimmerdecken sind — die so aussehen wie durchsichtige weiße Bälle? Du hast gesagt, früher hätte man damit Licht gemacht.«

»Ach, die heißen Glühbirnen, und man nannte das elektrisches Licht.«

»Wenn ich die Bücher lese, kann ich dann machen, daß sie wieder leuchten?«

Ein jäher Freudenrausch überkam Ish, zugleich aber auch Furcht. Dies durfte nicht zu schnell gehen!

»Ja, Joey, das weiß ich nicht so recht«, sagte er und versuchte, unbefangen zu sprechen. »Vielleicht bringst du es fertig, vielleicht auch nicht. So etwas kostet viel Zeit, und viele Menschen müssen dabei mitarbeiten. Du mußt hübsch langsam vorgehen.«

Stumm gingen sie weiter. Ish war stolz darauf, daß so viele seiner eigenen Regungen auf Joey übergegangen waren. Joey entwickelte sich beinahe zu schnell. Der Geist sollte der Entwicklung des Körpers und des Charakters nicht davonlaufen. Joey bedurfte körperlicher Kräftigung und eines ausgeglichenen Gefühlslebens. Aber er würde es weit bringen!

Als sie schließlich wieder bei der Garage anlangten, sahen sie, daß die Jungs die vier Räder montiert hatten und dabei waren, die Reifen aufzupumpen.

Ish stieg in den Wagen und ließ den Motor anspringen. Er ging behutsam vor. Der Motor lief, die Reifen blieben prall, wenigstens vorerst. »Los!« sagte er. »Vorwärts!«

Der Motor brummte zu seiner Zufriedenheit. Ish kuppelte aus und schaltete den ungelenken Gang ein. Er ließ die Kuppelung los, und der Wagen schob sich schwerfällig vorwärts.

Es überkam ihn ein Gefühl, das mächtiger war als Freude, das ihn beinahe außer sich brachte. Es war kein Traum! Wenn an einem einzigen Tage ein Mann und drei Jungs einen Jeep wieder betriebsfähig machen konnten: was konnte dann wohl eine ganze Gemeinschaft in einigen Jahren zuwege bringen?

Die Jungs spannten die Hunde von einem der kleinen Wagen los und ließen sie frei nach Hause laufen. Den Wagen hängten sie hinter einen der andern. Dann übernahm Dick das eine Gespann, Bob das zweite. Ish, Joey neben sich, fuhr tapfer mit dem Jeep los.

Die Trümmer eingestürzter Bauwerke lagen in großen Haufen auf der Straße. Der Wind hatte Blätter und Staub auf die Steine geweht. Ish drehte das ungelenke Rad nach rechts und links und suchte sich einen Weg durch die trümmerversperrten Straßen. Er war schon fast zu Haus, als er über einen Ziegelstein holperte und zugleich einen Knall hörte. So schloß der Tag mit der rumpelnden Heimfahrt auf einem platten Reifen; aber Ish fuhr langsam, und so gelang es ihm, kurz vor den Hundegespannen anzukommen.

Trotz des Mißgeschicks zu guter Letzt wußte er, daß er etwas Gutes zuwege gebracht hatte.

Er brachte den Jeep vor seinem Hause zum Stehen und lehnte sich erleichtert und triumphierend zurück. Dann drückte er den Hupenknopf.

Er glaubte, auf das ungewohnte Geräusch hin würden nun von allen Seiten Kinder oder auch ältere Leute herbeieilen; doch es kam niemand. Nur die Hunde fingen überall zu bellen an. Dann stimmten die Ziehhunde ein, die jetzt die Anhöhe heraufkamen, und die Jungs traten zu Ish. Er empfand ein Gefühl der Angst. Schon einmal, vor langen Jahren, war er in eine menschenleere Stadt gekommen und hatte die Hupe ertönen lassen, und nun lag der Gedanke nahe, daß irgend etwas geschehen sei — nun die ganze Menschheit aus nur ungefähr dreißig mehr oder weniger wehrlosen Menschen bestand. Doch diese Beklemmung dauerte nur einen Augenblick.

Denn er sah Mary, ihr Baby auf dem Arm, aus dem Hause auf die Straße treten und ihm zuwinken. »Sie sind alle zum Bullen-Schlupf gegangen!« rief sie.

Sofort waren die Jungs begeistert und wollten an dem Sportspiel teilnehmen. Sie schirrten die Hunde los und waren auf und davon, ohne Ish auch nur gefragt zu haben. Selbst Joey lief mit den beiden andern davon. Ish kam sich einsam und vernachlässigt vor. Nur Mary kam heran und beschaute den Jeep. Sie machte große Augen, war aber genauso ungesprächig wie das Baby.

Ish stieg aus und reckte sich.

»Ja«, sagte er, und in seiner Stimme schwang ein kleiner Stolz, »was hältst du davon, Mary?« Mary war seine Tochter; aber sie war ihren Eltern sehr wenig ähnlich, und über ihre Stumpfheit hatte er sich oft geärgert.

»Gut!« sagte sie, unerschütterlich wie eine Indianerin.

Ish fühlte, daß hier nicht viel zu machen sei.

»Wo findet der Bullen-Schlupf statt?« fragte er.

»Unten bei der großen Eiche.«

In diesem Augenblick hörte er lautes Geschrei und wußte, daß jemand einen guten Trick beim Entschlüpfen vor dem Bullen angewendet hatte.

»Ja, dann will ich nur ebenfalls hingehen und mir unseren Nationalsport ansehen«, sagte er, obwohl er wußte, daß seine Ironie verschwendet war.

»Ja«, sagte Mary und trollte sich mit ihrem Baby wieder ins Haus.

Ish schlug den Weg hügelabwärts ein. »Nationalsport!« dachte er voller Bitterkeit; freilich wußte er, daß jene Bitterkeit zum guten Teil daher rührte, daß ihm die Triumphheimkehr verdorben worden war. Wieder hörte er Geschrei, woraus er schloß, daß wiederum jemand um ein paar Zoll den Bullenhörnern entschlüpft war.

Bullen-Schlupf war ein gefährliches Spiel, wenngleich noch niemand getötet oder auch nur ernstlich verletzt worden war. Ish mochte die ganze Sache nicht, doch er wußte auch keinen Grund, weshalb er das Spiel hätte verbieten können. Auf irgendeine Weise mußten die Jungs ihre überschüssigen Kräfte loswerden, und vielleicht bedurften sie sogar der Gefahr. Vielleicht war das Leben jetzt zu ruhig und zu sicher geworden. Vielleicht — er mußte an Mary denken — erzeugte ein allzu sicheres, der Abenteuer bares Leben dumme und stumpfe Menschen. Jetzt brauchten die Kinder, wenn sie über die Straße liefen, nicht mehr vor Automobilen gewarnt zu werden, und es gab Dutzende von Kleinigkeiten, die in den Alten Zeiten an der Tagesordnung gewesen waren, wie etwa Erkältungen, von Atombomben gar nicht zu reden, über die kein Mensch sich mehr den Kopf zu zerbrechen brauchte. Natürlich gab es Schrammen, Schnittwunden und Beulen, wie sie bei Leuten, die hauptsächlich im Freien leben, eben vorkommen, wenn sie mit Werkzeugen wie Spaten, Hacken und Messern umgehen. Auch hatte sich Molly einmal böse die Hand verbrannt, und einmal wäre ein Dreijähriges beinahe ertrunken, als es beim Fischen von der Ufermauer ins Wasser fiel.

Nun kam er auf den kleinen freien Platz am Fuße der Anhöhe, in der Nähe der flachen Felsplatte, in die die Jahreszahlen eingemeißelt wurden. Ehedem war hier ein Park gewesen. Der Bulle bewegte sich auf dem Grasplatz. Es war keine Rasenfläche, wie man sie in einem Park hätte erwarten können. Das Gras stand um diese Jahreszeit fußhoch, und es hätte noch höher gestanden, wenn Vieh und Elche es nicht abgeweidet hätten.

Harry, Mollys Fünfzehnjähriger, griff den Bullen an, und Ishs Walt ging ihm von hinten zu Leibe, als »Stürmer« — der Ausdruck stammte noch aus den Alten Zeiten. Obwohl Ish kein Fachmann war, sah er auf den ersten Blick, daß dieser Bulle kaum allzu gefährlich war. Er mußte aus beinahe reinem Herford-Blut stammen; das Fell war rotbraun, der Kopf weiß und auf der Stirn gefleckt.

Er trug alle Kennzeichen seiner Vorfahren, die einundzwanzig Jahre lang frei auf der Weide gelebt hatten und nichts von Ställen und Fütterung durch Menschen wußten; sie hatten sich durchgeschlagen, wie es eben ging. Die Beine waren länger, der Rumpf schlanker, die Hörner kräftiger. Augenblicklich war im Spiel eine Pause eingetreten; denn der schon ermüdete Bulle stand da und wußte nicht mehr, was er tun sollte, während Harry ihn zum Angriff reizte.

Auf der Lichtung zwischen den Bäumen hügelaufwärts saßen die Zuschauer — nahezu alle Mitglieder der Gemeinschaft, einschließlich Jeanie und ihrem Baby. Zwischen den Bäumen bestand für sie keine Gefahr, in die Reichweite des Bullen zu gelangen, falls es ihm einfallen sollte, die freie Fläche zu verlassen. Es waren mehrere Hunde da, die im Notfall losgelassen werden konnten, und Jack hielt im Dasitzen ein Gewehr auf den Knien.

Plötzlich kam Leben in den Bullen, und er stürmte mit einer Wucht hügelaufwärts, daß er zwanzig Jungs hätte hinwegfegen können. Aber Harry entschlüpfte ihm glatt und gewandt, und der Bulle blieb stehen, verwirrt und seiner selbst nicht sicher.

Da sprang ein kleines Mädchen (es war Jeans Betty) aus der Gruppe und rief laut, jetzt wolle sie es versuchen. Sie war ein wildes, stürmisches Kind; ihr Rock flog ihr um die Schenkel; ihre langen, sonnengebräunten Beine liefen hurtig im Sonnenschein dahin. Harry machte der Halbschwester Platz. Der Bulle war jetzt ermüdet, ein Mädchen konnte es gut mit ihm aufnehmen. Mit Walts Unterstützung wagte Betty ein paar Angriffe, bei denen das Entschlüpfen keinerlei Schwierigkeiten bot. Und dann rief plötzlich ein kleiner Junge: »Jetzt will ich auch mal!«

Es war Joey. Ish runzelte die Brauen, doch er wußte, daß er es nicht zu verbieten brauchte. Joey war erst neun, und es widersprach durchaus den Spielregeln, daß solch ein kleiner Junge am Bullen-Schlupf teilnahm, nicht einmal als Stürmer. Die älteren Jungs verhalfen dieser Regel schnell zur Geltung. Sie waren freundlich, aber unerbittlich.

»Ach, Joey«, sagte Bob von der Höhe seiner sechzehn Jahre herab, »du bist noch nicht groß genug dazu. Warte lieber noch ein paar Jahre.«

»So?« sagte Joey. »Und dabei kann ich es schon ebenso gut wie Walt.«

Die Art, wie er das sagte, legte Ish den Gedanken nahe, daß Joey es wohl schon auf eigene Faust versucht habe, indem er sich einen nicht allzu gefährlich aussehenden Bullen suchte und mit ihm eine Weile spielte, vielleicht mit Hilfe Joseys, seiner anhänglichen Zwillingsschwester. Ish überrieselte es kalt, als er an die Möglichkeit einer Gefahr dachte, die Joey, seinem Joey, drohte.

Nach einigen ohne rechte Überzeugungskraft vorgebrachten Entgegnungen mußte Joey sich fügen.

Inzwischen war der auf guten Weiden fett gewordene Bulle gänzlich erschöpft und erledigt. Er stand da und schnob ein bißchen in das Gras, während die wilde Betty ihn umhüpfte und ihn sogar an den Hörnern faßte und sich über ihn hinwegschwang. Doch das Spiel war aus, und die Zuschauer wandten sich zum Gehen. Die älteren Jungs riefen Betty und Walt. Plötzlich stand der offenbar sehr erleichterte Bulle ganz allein auf dem Grasplatz.

Als sie wieder bei den Häusern waren, ging Ish zum Brunnen, um nachzusehen, wieviel Arbeit heute geleistet worden war. Er stellte fest, daß sie nur etwa einen Fuß tiefer gekommen waren. Schaufeln, Spaten und Picken lagen überall umher. Die unbekümmerte Art dieser Menschen und die besondere Anziehungskraft des Bullen-Schlupfs hatten es verhindert, daß tüchtig gearbeitet wurde. Beinahe grimmig schaute Ish auf die flache Vertiefung.

Jedoch war während des Tages genügend Wasser von der Quelle herbeigeschafft worden, um alle Bedürfnisse zu befriedigen. Der Kalbsbraten, den es zum Abendessen gab, war vortrefflich, und das einzige, was Ishs Meinung nach den Eindruck einer vollkommen gelungenen Mahlzeit beeinträchtigte, war der Umstand, daß sein Napa Gamay in der Flasche ein bißchen sauer geworden war, nachdem er über ein Vierteljahrhundert gelagert hatte, sofern man dem Datum auf dem Etikett trauen konnte.

4

Die Jungs sollten am vierten Tage losfahren. Das war mal ein Unterschied zwischen den Alten Zeiten und den jetzigen! Damals war alles so kompliziert gewesen, daß jedes wichtige Unternehmen langer Vorbereitungen bedurfte; jetzt entschloß man sich zu etwas, und dann tat man es. Überdies war die Jahreszeit günstig, und Ish fürchtete, daß bei längerem Aufschub die Begeisterung für die Expedition verflog.

Während der noch verbleibenden Tage hielt er die Jungs in steter Tätigkeit. Er unterwies sie im Fahren. Er nahm sie nochmals mit in die Garage und nahm Ersatzteile mit sowie eine Pumpe und ein Schleppseil. So gut er es konnte, zeigte er ihnen, wie man diese und jene Teile auswechselte, und gab ihnen praktische Winke.

»Vielleicht«, sagte er, »wäre es für euch bei einer Panne leichter, wenn ihr einfach in die nächste Garage ginget und einen anderen Wagen in Gang brächtet, gerade wie wir es hier getan haben. Das ist wohl nicht so schwierig, wie an diesem hier herumzubasteln.«

Die größte Freude indessen bereitete Ish die Ausarbeitung des Reisewegs. In der Reparaturwerkstatt fand er Autokarten, die gelb und ausgeblichen waren. Er studierte sie eifrig und brachte seine alten Kenntnisse ins Spiel.

»Ihr fahrt erst mal südwärts nach Los Angeles«, beschloß er endlich. »Das war in den Alten Zeiten eine dicht bevölkerte Stadt. Dort leben wahrscheinlich noch ein paar Menschen, und vielleicht besteht dort gar eine Gemeinschaft.«

Er ließ den Blick auf der Karte nach Süden gleiten, nach Los Angeles, wobei er den altvertrauten roten Linien der Straßen folgte.

»Versucht es zunächst mit Straße Nr. 99«, sagte er. »Wahrscheinlich kommt ihr durch. Wenn sie im Gebirge blockiert sein sollte, fahrt ihr zurück bis Bakersfield, nehmt die Straße Nr. 466 und versucht, über den Tehachapi-Paß zu kommen …«

Er hielt inne; er fühlte, wie ihm etwas die Kehle zusammenschnürte und wie ihm die Augen feucht wurden. Sehnsucht überkam ihn. Es mußte an den Namen liegen! Burbank, Hollywood, Pasadena — das waren einstmals lebendige Städte gewesen. Er hatte sie gekannt. Nun jagten in den verwilderten Parks Kojoten nach Kaninchen. Und dennoch standen alle diese Namen nach wie vor schwarz und klar auf den Karten.

Er schluckte und zwinkerte; denn er sah, daß die beiden Jungs etwas gemerkt hatten.

»In Ordnung!« sagte er munter. »Von Los Angeles aus, oder von Bastow aus, wenn ihr es bei Los Angeles nicht schafft, nehmt ihr die 66, die nach Osten führt. Da bin ich damals auch gefahren. Durch die Wüste hindurch müßte eigentlich alles glatt gehen. Aber verseht euch mit Wasser. Wenn die Brücke über den Colorado-Strom noch steht, desto besser. Wenn nicht, müßt ihr nordwärts abbiegen und die Straße über Boulder Damm versuchen. Der Damm ist sicherlich noch da.«

Er zeigte ihnen auf der Karte, wie sie sich Umgehungswege aussuchen konnten, falls ihre Straßen blockiert waren. Ish glaubte indessen, mit dem Jeep würden sie im allgemeinen durchkommen und höchstens einen umgefallenen Baum durchzusägen oder sich mit Picke und Schaufel Bahn durch einen Erdrutsch zu schaffen brauchen. Schließlich würden selbst im Laufe von einundzwanzig Jahren die großen Staatsstraßen nicht völlig unbenutzbar geworden sein.

»Ihr könntet einige Schwierigkeiten in Arizona haben«, sagte er. »Wenn ihr ins Gebirge kommt. Aber dann …«

»Was ist das: Arry -? Was ist das: Arry-Zone?«

Bob fragte, und die Frage war nicht unberechtigt. Ish war verlegen um die Antwort. Wie konnte man in wenigen Worten auseinandersetzen, was ein »Staat« gewesen war? Noch viel weniger konnte man erklären, was Arizona heute war.

»Ach«, sagte er schließlich, »Arizona — das war einfach der Name für das Gebiet jenseits des Flusses.« Dann kam ihm die Erleuchtung: »Seht mal, hier auf der Karte ist es das Land innerhalb der gelben Linie.«

»Ja«, sagte Bob. »Vermutlich hatten sie einen Zaun rings herum.«

»Das glaube ich nicht so recht.«

»Stimmt. Da, wo der Fluß ist, brauchten sie ja keinen Zaun.«

(»Laß es gut sein«, dachte Ish. »Er meint, Arizona sei eine Art alten, eingezäunten Gutshofes, nur viel größer.«)

Aber er sprach fortan nicht mehr von Staaten und erwähnte nur noch Städte. Was eine Stadt war, das wußten die Jungs — eine Anzahl trümmerbedeckter Straßen und verwitterter, verfallender Gebäude. Natürlich da sie selbst in einer Stadt lebten, konnten sie sich leicht eine andere Stadt und eine andere Gemeinschaft, der ihrigen ähnlich, vorstellen.

Er geleitete sie also auf der Karte durch Denver, Omaha und Chicago, wobei er gern gesehen hätte, was in den großen Städten inzwischen geschehen war. Bis sie dort waren, würde es Frühling sein. Er riet ihnen, die Fahrt nach Washington und New York zu versuchen und die geeignetste Straße zu wählen.

»Die Pennsylvania-Zollstraße ist sicherlich noch immer der beste Weg zum Überqueren des Gebirges. Es ist beinahe unmöglich, daß eine dermaßen große Straße mit vier Fahrbahnen blockiert ist, und eigentlich müßten selbst die Tunnels noch passierbar sein.«

Die Wahl des Rückwegs überließ er ihnen; bis dahin kannten sie sich in den Reisebedingungen besser aus als er. Doch er regte an, sie möchten weit nach Süden ausholen, da der kalten Winter wegen die Menschen sicherlich auf die Golfküste zu abgewandert waren.

Sie unternahmen täglich Übungsfahrten mit dem Jeep, und da sie häufig Reifenpannen hatten, kamen sie durch Aussonderung schließlich zu Reifenmaterial, das auszudauern versprach.

Am vierten Tage fuhren sie dann ab; auf den Rücksitzen des Jeeps standen und lagen eine Reservebatterie, Ersatzreifen und andere Ausrüstungsgegenstände. Die Jungs waren beinahe von Sinnen vor Aufregung über das, was vor ihnen lag; die Mütter waren bei dem Gedanken an eine so lange Trennung den Tränen nahe; Ish selbst war nervös vor Verlangen, mitzufahren.


Die Staatsgrenzen zogen gleich den Zäunen Linien, die hart und unnachgiebig waren. Auch sie waren Menschenwerk, Abstraktionen, die die Wirklichkeit beherrschten. Wo man auf der Landstraße eine Staatsgrenze kreuzte, gewann die Straßendecke ein anderes Aussehen. Sie war glatt in Delaware, aber wenn man nach Maryland hineinfuhr, spürte man, wie der Wagen anders vibrierte und wie die Reifen sogleich anders summten. »Staatsgrenze«, stand zu lesen. »Nebraska. Höchstgeschwindigkeit 90 km.« So änderten sich selbst Recht und Unrecht mit dem harten Ruck des Unlogischen, und man trat fester auf den Gashebel.

An den Staatsgrenzen zeigten die Fahnen andre Farben, obwohl sie im gleichen Winde wehten. Man stoppte an der Zoll- und Einwanderungsstelle und war plötzlich ein Fremder, ein Ausländer. »Sieh mal!« sagte man. »Der Polizist da trägt eine ganz andere Uniform!« Man bekam anderes Geld, und selbst die Briefmarken für Ansichtspostkarten trugen andere Gesichter. »Lieber übertrieben vorsichtig fahren«, sagte man sich. »Es wäre übel, wenn sie einen hier verhafteten.« Wie seltsam war das! Man fuhr über eine Linie, die man nicht einmal sehen konnte, und dann war man plötzlich selber einer der verrückten Leute, die als »Ausländer« bezeichnet wurden!

Staatsgrenzen schwanden noch schneller hin als Zäune. Imaginäre Linien bedurften nicht des Rostes, um auszulöschen. Dann gibt es keine schnellen Verschiebungen und Berichtigungen mehr, und vielleicht ist für die Menschen dann alles leichter. Wie zu Anbeginn werden sie sagen: »Ungefähr da, wo die Eichen lichter stehen und die Kiefern anfangen.« Sie werden sagen: »Dort — genau kann ich es nicht sagen — in den Gebirgsausläufern, wo es trockener wird und die ersten Salbeibüsche auftauchen.«


Nach der Abfahrt der Jungs schienen sie wieder in eine jener ruhigen und glücklichen Perioden zu gelangen, die sie dahin gebracht hatten, eine gewisse Zeit »Das Gute Jahr« zu nennen. Einen Tag wie den andern, Woche für Woche nahm alles den gewohnten Verlauf. Die Regenzeit begann spät — heftige Schauer, nach denen es sich rasch aufklärte, bei schönem blauem Himmel, so daß die fernen Türme der Goldenen-Tor-Brücke klar abgezeichnet und noch immer majestätisch vor dem Westhimmel standen.

Morgens brachte es Ish für gewöhnlich fertig, genügend Männer zusammenzutrommeln, die am Brunnen weiterarbeiteten. Ihr erster Versuch endete bei einer Felsschicht anstatt bei Grundwasser; denn der Hügelhang trug nur eine verhältnismäßig dünne Erdschicht. Aber sie gruben einen zweiten Brunnenschacht und stießen tatsächlich auf gutes Wasser. Der Brunnen wurde mit Brettern ausgekleidet und zugedeckt, und es wurde eine Handpumpe aufgestellt. Inzwischen hatten sich alle an die Latrinen draußen gewöhnt.

Der Fischfang war jetzt ertragreich. Alle wollten fischen gehen, und alles übrige trat in den Hintergrund.

Abends kamen sie häufig zusammen und sangen Lieder, wobei Ish sie auf dem Akkordeon begleitete. Ein paarmal regte er an, man solle mehrstimmig singen. Doch kein einziger zeigte wahres Interesse an diesem etwas schwierigen Unterfangen.

Ish kam zu der Überzeugung, daß sie eine wenig musikalische Gruppe seien. Vor Jahren hatte er Schallplatten mit Symphonien heimgebracht und versucht, sie auf dem Koffergrammophon zu spielen. Natürlich war die Wiedergabe nicht sehr gut; aber man konnte doch wenigstens die Themen verfolgen. Aber nie zeigten die Kinder auch nur eine Spur von Interesse. Bei einigen melodiösen Stellen hörten sie auf zu spielen oder ließen ihre Holzschnitzereien ruhen, blickten auf und schienen ein paar Augenblicke voller Freude zuzuhören. Doch sobald die Musik etwas komplizierter wurde, wandten die Kinder sich wieder ihrer Beschäftigung zu. Nun, was konnte man denn auch von ein paar Durchschnittsmenschen und deren Nachwuchs erwarten? In den Alten Zeiten hätte vielleicht ein einziger Amerikaner unter hundert eine wahre, echte Verehrung für Beethoven empfunden, und diese wenigen gehörten wohl zu den verfeinerten und empfindsamen Menschen, die gleich den hochgezüchteten Hunden am wenigsten Eignung besaßen, den Schock nach dem Großen Unheil zu überstehen.

Um des Experimentes willen versuchte er es auch mit Jazz-Platten. Bei dem lauten Geplärr der Saxophone hörten die Kinder ebenfalls mit ihren Beschäftigungen auf; aber auch diesmal war ihr Interesse nicht von Dauer. Auch der Jazz-hot mit seinen verwickelten Rhythmen war eine komplizierte Angelegenheit; er sprach weniger zu schlichten und primitiven Menschen als zu hochentwickelten und zumindest in dieser Beziehung erfahrenen. Man hätte den Kindern ebensogut zumuten können, Gefallen an Picasso und Joyce zu finden.

Überhaupt, und darin lag für ihn etwas Ermutigendes, bezeigte die jüngere Generation nur sehr wenig Interesse daran, dem Grammophon zuzuhören; sie sangen lieber selber. Er betrachtete das als ein gutes Zeichen: sie wollten lieber teilnehmen als zuhören, lieber Mitwirkende als Zuhörer sein.

Natürlich dachten sie keineswegs an den nächsten Schritt, nämlich von sich aus Weisen und Worte zu erfinden. Ish versuchte gelegentlich, Verse mit Anspielungen auf ihr Leben zu schmieden; aber entweder besaß er nicht die rechte Begabung dafür, oder aber er stieß mit seinen Bemühungen auf unbewußten Widerstand, da sie aus dem Rahmen des Üblichen fielen.

So sangen sie denn einstimmig, unterstützt von den festigenden Klängen und stoßenden Bässen des Akkordeons. Die schlichteren Melodien gefielen ihnen am besten, wie Ish beobachtete. Auf die Worte und ihren Inhalt kam es ihnen nicht groß an. Sie sangen: »Bring mich zurück nach Virginia«, obwohl sie keine Ahnung hatten, was Virginia war oder wer darum bat, wieder dorthin gebracht zu werden. Sie sangen: »Halleluja, ich bin ein Bettler!«, ohne sich darum zu kümmern, was ein Bettler war. Sie sangen mit klagenden Stimmen von Barbara Allen, obwohl keiner von ihnen etwas von unerwiderter Liebe wußte.

Oft in diesen Wochen gedachte Ish der beiden Jungs im Jeep. Und wenn seine Hände an den Knöpfen und Tasten des Akkordeons herumfingerten, mußte er an Bob und Dick denken und erschrak dabei ein wenig. Vielleicht durchfuhren die beiden gerade das Gebirge.

Er spielte mechanisch weiter und sann nach. Ob dort jetzt Rehwild und Antilopen spielten? Oder trieb sich Vieh dort herum? Oder waren die Büffel wiedergekehrt?

Häufiger indessen suchten ihn die Gedanken an die Jungs während der Nacht heim, wenn ein Angsttraum ihn auffahren ließ und er nervös alle Möglichkeiten erwog.

Wie hatte er nur zugeben können, daß sie den Versuch wagten! Er dachte an alle Gefahren durch Wasserfluten und Unwetter. Und der Wagen! Man konnte Jungs dieses Alters keinen Wagen anvertrauen, und wenngleich keinerlei Gefahren durch Verkehr bestanden, so konnten sie auf der Straße zu schnell fahren. Und da gab es viele schlechte Stellen.

Sie würden Begegnungen mit Berglöwen, Bären und bösartigen Bullen haben.

Die eisigen Schauer jedoch durchrannen Ish in solchen Nachtstunden bei dem Gedanken an Menschen! Was für Leuten die Jungs wohl begegneten? Auf was für Menschengruppen würden sie stoßen? Auf Gruppen, die durch merkwürdige Umstände verderbt und entartet waren, ohne daß das Staatsgesetz sie hemmte? Es konnten Gruppen sein, die grundsätzlich jedem Fremden mit Todfeindschaft begegneten. Vielleicht hatten sich primitive religiöse Bräuche weiterentwickelt — Menschenopfer, Menschenfresserei!

Ihre eigene Gruppe hier am Hügelhang mochte vielleicht ungelenk, langweilig und unschöpferisch sein; aber sie hatte doch wenigstens Menschenwürde und Schicklichkeit bewahrt. Wer und was bürgte dafür, daß bei anderen Gruppen das gleiche der Fall war?

Doch im Morgenlicht verloren all diese Schreckgespenster ihre Kraft. Dann malte er sich aus, wie die beiden Jungs sich freuten, wie neue Schauplätze ihnen Anregungen boten, vielleicht gar neue Menschen. Selbst wenn sie mit dem Wagen eine ernstliche Panne erlitten und keinen anderen in Gang zu bringen vermochten, konnten sie ja doch auf der gleichen Straße zurückwandern, die sie gefahren waren. Nahrungsmangel würde nirgendwo herrschen. Etwa fünfundzwanzig Kilometer den Tag, mindestens hundertfünfzig die Woche — auch wenn sie über tausend Kilometer zurückzulegen hatten, müßten sie vor Herbstbeginn wieder daheim sein. Wenn sie aber einen Wagen hatten, mußten sie schon sehr viel früher wiederkommen. Beim Gedanken an die Heimkehr der beiden konnte er kaum seine Erregung meistern. Was würden sie an Neuigkeiten mit nach Haus bringen?

So glitten die Wochen hin, und die Regenzeit ging vorüber. Das Gras auf den Hügeln büßte sein frisches Grün ein; dann trug es Samen und wurde braun. Morgens schwebten die niedrig dahinziehenden Sommerwolken so dicht über den Brückentürmen, daß sie manchmal bis zu ihnen hinaufzureichen schienen.

5

Je mehr Zeit hinging, desto weniger beschäftigten Ishs wache Gedanken und Träume sich mit den Jungs. Daß ihr Abschied schon so lange zurücklag, schien zu beweisen, daß sie bei ihrer Reise weit vorangekommen waren. Es war schwerlich an der Zeit, jetzt schon auf ihre Rückkehr von einer Reise durch den ganzen Kontinent zu warten, und es war ganz bestimmt nicht an der Zeit, sich trüben Gedanken über ihre noch nicht erfolgte Rückkehr hinzugeben. Ish beschäftigten andere Gedanken und andere Sorgen.

Er hatte den Schulunterricht wieder eingeführt; er hatte sich wieder auf das besonnen, was er für seine wesentlichste Aufgabe hielt: nämlich die Jungs Lesen und Schreiben zu lehren, ihnen ein bißchen Rechnen beizubringen und auf diese Weise im »Stamme« einige der Grundfertigkeiten der Zivilisation zu bewahren. Aber die undankbaren Jungs rekelten sich auf ihren Stühlen; sie schauten immerfort zu den Fenstern hinaus, und Ish wußte nur zu gut, daß sie weit lieber im Freien gewesen, am Hügelhang entlanggelaufen wären, Bullen-Schlupf gespielt und gefischt hätten. Er versuchte sie auf mannigfache Weise zu ködern; er bediente sich der Technik, die, wie er sich erinnerte, in den Alten Zeiten »progressive Pädagogik« genannt worden war.

Das Holzschnitzen! Zu Ishs Verwunderung war das Holzschnitzen zum hauptsächlichen Mittel künstlerischen Ausdrucks geworden. Sicherlich war das ein Erbteil vom alten George her. Vielleicht hatte George, beschränkt wie er war, seine Liebe zu Holzarbeiten auf die Kinder übertragen. Ish selbst hatte kein Interesse daran und keine Begabung dafür.

Im Grunde war die Ursache ja auch gleichgültig. Konnte er, Ish, als Lehrer sich dieser Lieblingsbeschäftigung bedienen, um ein geistiges Interesse zu wecken?

So fing er denn an, sie Geometrie zu lehren, indem er ihnen zeigte, wie man mit Zirkel und Lineal Zeichnungen auf der Holzoberfläche entwerfen kann.

Die Sache fand Anklang, und bald redeten alle begeistert von Kreisen und Winkeln und Sechsecken; jeder hatte eine geometrische Zeichnung entworfen und schnitzte eifrig an ihr herum. Ish selbst bekam Interesse. Er spürte das Aufregende dieser Arbeit, als der weiche Kiefernholzblock, der fast ein Vierteljahrhundert alt war, sich unter seinem Messer abschälte.

Doch noch ehe die ersten geometrischen Zeichnungen fertig waren, verloren die Kinder das Interesse. Mit dem Messer an einer Stahlschiene entlangzufahren, und dann eine gerade Linie zu bekommen, das war leicht und uninteressant. Dem Umriß eines Kreises zu folgen, das war ziemlich schwierig, doch es war mechanisch und langweilig. Und wenn die Zeichnungen dann fertig waren, so sahen sie, wie selbst Ish zugeben mußte, wie schlechte Nachahmungen von Maschinenarbeit aus den Alten Zeiten aus.

Die Kinder kehrten zu ihrem freien Gestalten zurück, und manche vervollkommneten sich dabei. Das machte ihnen mehr Spaß, und was dabei herauskam, wirkte ansprechender.

Der beste unter den Schnitzern war Walt, obwohl er, bis auf ein oftmals unterbrochenes Gestammel, niemals lesen lernte. Doch wenn es sich darum handelte, einen Fries von Kühen in ein weiches Brett zu schnitzen, so brachte Walt es mit sicherer Hand fertig. Dabei brauchte er nicht Berechnungen im Kopf anzustellen oder geometrische Kunststücke zu vollführen. Wenn seine Reihe von drei Kühen den Raum nicht ganz ausfüllte, brauchte er nur noch ein Kalb hinzuzuschnitzen. Und dennoch sah das Ganze, wenn er damit fertig war, so aus, als sei es von Anfang an so geplant gewesen. Er verstand im Flachrelief zu schnitzen, im Dreiviertelrelief, und manchmal sogar vollplastisch. Die Kinder bewunderten ihn und sein Werk ausgiebig.

Ish meinte, sein abgefeimt ersonnener Plan, eine Lieblingsbeschäftigung zur Erweckung geistiger Interessen auszunützen, sei fehlgeschlagen, und es blieb ihm nichts, als sich wieder dem kleinen Joey zuzuwenden. Joey besaß kein Talent zur Holzschnitzerei; aber als einziges von allen Kindern hatte er sich an den ewigen Wahrheiten von Linie und Winkel begeistert, die sogar das Große Unheil überdauert hatten. Einmal überraschte Ish ihn, als er verschiedenartige Dreiecke aus Papier schnitt, deren Winkel er dann abermals abschnitt und zusammenlegte, wobei sich eine Gerade ergab.

»Kommt immer eine Gerade dabei heraus?« fragte Ish.

»Ja, immer. Du hast ja gesagt, es wäre so.«

»Warum tust du es dann?«

Joey konnte nicht erklären, warum er es tat; aber Ish hatte genügend Anteil an den Vorgängen in seines Sohnes Geist, um überzeugt zu sein, daß Joey auf seine Art der gültigen, unwandelbaren Wahrheit eine Huldigung erwies.

So war denn Ish auf den kleinen Joey angewiesen, im Geistigen, und bisweilen auch ganz einfach auf seine Gegenwart. Denn wenn die anderen Kinder unter lautem Geschrei aus dem Klassenzimmer rannten, blieb Joey oft auf seinem Platze sitzen, nahm ein ziemlich dickes Buch zur Hand und sah aus, als komme er sich dabei überlegen vor.

Was das Körperliche betraf, so waren die anderen Jungs muskelstarke junge Riesen, während Joey bei allen Spielen und Abenteuern im Freien im Hintertreffen blieb. Sein Kopf wirkte im Verhältnis zum übrigen Körper groß, obwohl Ish meinte, dies rühre lediglich daher, daß man glaube, jener Kopf berge eine Fülle von Wissen. Im Verhältnis zum Kopf wiederum waren seine Augen groß und dabei ungewöhnlich hell und lebhaft. Als einziges von allen Kindern ermüdete er leicht und hatte einen empfindlichen Magen. Ish fragte sich, ob diese Anfälligkeit körperlicher Natur sei oder ihre Ursache in seelischen Störungen habe, aber da keine Möglichkeit bestand, Joey zum Arzt oder zu einem Nervenspezialisten zu schicken, konnte er in dieser Beziehung nie Klarheit erhalten. Jedenfalls hatte Joey stets ein zu geringes Körpergewicht und kam häufig völlig erschöpft vom Spiel mit den andern Jungs heim.

»Das ist nicht gut!« sagte Ish zu Em.

»Nein«, sagte Em. »Aber du siehst ja, daß er sich für Bücher und Geometrie interessiert. Das ist einfach die andere Seite davon, daß er nicht so stark wie die anderen ist.«

»Ja, vermutlich. Irgendwo muß er schon seine Befriedigung finden. Aber ich wollte, er würde kräftiger.«

»Dabei willst du ihn im Grunde gar nicht anders haben, als er ist, nicht wahr?«

Und während sie auf ein anderes Thema überlenkte, dachte Ish, daß sie wieder einmal recht hatte.

»Nein«, dachte er, »wir haben zur Genüge strahlende kräftige junge Eskimos. Dennoch möchte ich, er wäre kräftiger. Aber wenn er auch ein bißchen weichlich ist und voller Grillen und Pedanterie steckt: einen wie ihn müssen wir haben, damit das Geistige erhalten bleibt.«

Und so wandte er vor allen anderen Kindern sein Herz Joey zu.

Er erblickte in Joey die Zukunftshoffnung, sprach oft mit ihm und lehrte ihn uielerlei Dinge.

So schleppte der Schulunterricht sich durch die Wochen hin, da sie auf Dicks und Bobs Rückkehr warteten. Selbst Ish konnte sich keines optimistischeren Wortes als »hinschleppen« bedienen. Es waren insgesamt elf Kinder, die er in jenem Sommer unterrichtete oder zu unterrichten versuchte.

Der Unterricht wurde im Wohnzimmer abgehalten, und die elf Kinder kamen aus allen Häusern dorthin. Die Stunden dauerten nur von neun bis zwölf, und es lag eine lange Pause dazwischen. Ish meinte, er müsse die Zügel locker halten.

Er gab ihnen Rechenunterricht, als sein Versuch mit der verzuckerten Geometrie-Pille fehlgeschlagen war. Er versuchte, praktische Beispiele zu bilden, und er merkte, daß das überraschend schwierig war. »Wenn A einen dreißig Meter langen Zaun baut …«, stand in dem alten Rechenbuch zu lesen. Nun aber baute jetzt kein Mensch mehr Zäune, und Ish mußte damit anfangen, den Kindern zu erklären, warum die Menschen früher einmal Zäune gebaut hätten, was sehr viel schwieriger war, als man glauben möchte. Er gedachte wieder der »progressiven Pädagogik« nachzueifern, indem er einen Kaufladen aufbaute, wo seine Schüler kaufen und verkaufen und Buch führen konnten. Doch auch das entsprach der Wirklichkeit nicht, denn es gab keine Läden mehr. Er hätte mit einer Erklärung des Wirtschaftssystems der Alten Zeit anfangen müssen.

Dann versuchte er tapfer, ihnen einige der Wunder der reinen Zahl zu vergegenwärtigen. Ihm selbst gereichte das zum Vorteil, und je mehr er versuchte, es den Kindern klarzumachen, desto mehr gelangte er zu der Erkenntnis, daß die Mathematik die Grundlage der Zivilisation gewesen sei. Gleichzeitig erkannte er in immer stärkerem Maße, obwohl er es nicht ausdrücken konnte, das Wunderbare, das in den Beziehungen einer Zahl zu andern beschlossen lag. »Wie kommt es«, so dachte er etwa, »daß zwei plus zwei immer und ewig vier ergibt und nicht gelegentlich einmal fünf? Das wenigstens ist nicht anders geworden! Obwohl jetzt wilde Bullen auf dem Union Square ihre Kämpfe ausfechten!« Auch vollführte er Spiele mit Zahlendreiecken und zeigte, wie sie sich aufbauen. Aber Joey ausgenommen, bezeigten die Kinder keinen Sinn für solcherlei Wunder.

Auch mit der Geographie versuchte er es. Hier war er Fachmann und besaß sicherlich Eignung zum Unterricht. Es machte den Knaben Spaß, Karten der Umgebung zu zeichnen. Aber weder die Knaben noch die Mädchen bekundeten Interesse an der Geographie der Erde als einem Ganzen. Wer hätte ihnen das zum Vorwurf machen können? Vielleicht würde Bobs und Dicks Rückkehr ihr Interesse anfachen. Einstweilen aber war der Horizont der Kinder auf ein paar Kilometer im Umkreis beschränkt. Was bedeutete ihnen die Gestalt Europas mit den vielen Halbinseln? Was bedeuteten ihnen die Inseln im Meer?

Etwas erfolgreicher war er im Geschichtsunterricht, obwohl, was er lehrte, mehr Anthropologie als Geschichte war. Er erzählte ihnen von der Entwicklung des Menschen, jenes ringenden Geschöpfs, das nach und nach bald dieses, bald jenes gelernt hatte; das gelernt hatte, hier sich selbst weiterzuentwickeln und dort sich zurückzuhalten und das durch unendliche Irrtümer und Verirrungen und Tollheiten und Grausamkeiten hindurch zu einer so großartigen Vollendung gelangt war, ehe das Ende über ihn hereinbrach.

Doch die meiste Zeit verbrachte er damit, ihnen Lesen und Schreiben beizubringen, weil er meinte, Lesen sei der Schlüssel zu allem, und Schreiben des Lesens Partner. Aber nur Joey lernte, mit natürlicher Betonung zu lesen, und wurde spielend Bester. Er wußte, was die Wörter bedeuteten und verstand selbst den Sinn von Büchern.


Zi-vi-li-sa-ti-on! Immerfort spricht Onkel Ish davon. Am Bach sind jetzt haufenweise Wachteln. Zwei und sechs? Ich weiß es! Aber warum soll ich es ihm sagen? Zwei und neun? Das ist schwer. Da reichen meine Finger nicht aus. Das ist so viel wie »eine ganze Menge«. Onkel George ist viel lustiger als Onkel Ish. Er kann einem zeigen, wie man richtig schnitzen muß. Mein Papa ist noch lustiger. Er sagt immer so komische Sachen. Aber Onkel Ish hat den Hammer. Da steht er auf dem Kaminsims. Joey könnte Geschichten über den Hammer erzählen, glaube ich. Aber das weiß man nicht so recht. Jetzt möchte ich Betty gern mal kneifen, aber das mag Onkel Ish nicht. Onkel Ish weiß mehr als alle andern. Manchmal habe ich direkt Angst. Wenn ich ihm sagen könnte, wieviel sieben und neun ist, dann hätten wir vielleicht Zi-vi-li-sa-tion, und ich könnte die Bilder sehen, die sich bewegen wie Menschen. Papa hat sie oft gesehen. Das wäre lustig. Acht und acht. Joey weiß es. Aber Joey findet nie Wachtelnester. Jetzt können wir bald gehen.


Trotz unaufhörlicher entmutigender Enttäuschungen fuhr Ish mit seinen Versuchen fort und ergriff sogleich jede Gelegenheit, die die Kinder ihm von sich aus darzubieten schienen.

Eines Nachmittags hatten die älteren Jungs einen ausgedehnteren Forschungsgang als gewöhnlich unternommen und brachten ein paar Walnüsse mit zur Schule. Sie hatten solche Nüsse bislang nie gesehen und waren neugierig. Ish beschloß sogleich, ein paar Nüsse aufzuknacken, um auf diese Weise etwas Biologie treiben zu können. Er wollte die Neugier der Kinder ausnützen und einen Weg einschlagen, den sie selbst ihm gewiesen hatten.

Er schickte Walt hinaus, damit er zwei Steine holte, um die harten Schalen aufzuknacken. Walt kam mit zwei halben Ziegeln wieder — Ziegel und Steine: das war in seinem Wortschatz das gleiche.

Ish ging darüber hinweg, erkannte aber, daß beim Nüsseknacken mit einem Ziegelstein eher ein zerquetschter Finger als eine geknackte Nuß herauskommen würde. Er hielt Umschau nach etwas Besserem und erblickte seinen Hammer, der wie gewöhnlich auf dem Kaminsims stand.

»Bring mir mal den Hammer, Chris!« sagte er und wies auf den nächstsitzenden kleinen Jungen.

Gewöhnlich war Chris nur zu froh, wenn er aufspringen und sich betätigen konnte. Jetzt indessen geschah etwas Seltsames. Chris schaute hierhin und dorthin, von Walt zu Weston, die neben ihm saßen. Er sah verlegen oder ängstlich aus.

»Bring mir den Hammer, Chris!« wiederholte Ish, der Meinung, Chris habe geträumt und nur seinen Namen gehört, nicht aber die vorhergehenden Worte.

»Ich — ich will das nicht!« sagte Chris zögernd. Chris war acht Jahre alt und neigte durchaus nicht zum Heulen, und dennoch merkte Ish, daß dem Jungen aus irgendeinem Grunde beinahe die Tränen kamen. Er ließ Chris in Ruhe. »Bringt mir den Hammer, einer von euch andern«, sagte er. Weston sah Walt an, und Barbara und Betty, die Schwestern, sahen einander ebenfalls an. Jene vier waren die ältesten. Alle vier schauten nach vorn und rückwärts, machten aber keine Miene, aufzustehen. Die Kleinen mucksten sich natürlich nicht. Aber Ish konnte sehen, wie alle Kinder einander hastige Blicke zuwarfen.

Obwohl Ish recht betroffen war, wollte er der Sache nicht auf den Grund gehen, und er schickte sich gerade an, selbst den Hammer zu holen, als etwas noch Seltsameres geschah.

Joey stand auf. Er ging zum Kamin hinüber. Die Augen aller Kinder folgten ihm. Ish merkte, daß im Zimmer Totenstille herrschte. Joey stand vor dem Kamin. Er streckte die Hand aus und ergriff den Hammer. Eins der kleineren Mädchen stieß einen sonderbaren, leisen Schrei aus. In dem beschwichtigenden Getuschel, das folgte, trat Joey den Rückweg an und gab Ish den Hammer. Dann ging er wieder auf seinen Platz.

Alle waren still und blickten auf Joey. Joey setzte sich, und Ish brach das Schweigen, indem er eine Nuß mit dem Hammer zerschlug. Bei dem Geräusch wich der Bann, worauf auch immer er beruht haben mochte.

Erst als es Mittag geworden war und Ish seine Schüler entlassen hatte, fand er Zeit, über das Geschehnis nachzudenken, und er kam, wobei er stutzig wurde, zu dem Schluß, daß es sich um einen Fall unverfälschten Aberglaubens handelte. Der Hammer — alle Kinder brachten ihn in Zusammenhang mit etwas Sonderbarem und Mythischem, das der Vergangenheit angehörte. Im allgemeinen rührte niemand außer Ish den Hammer an. Selbst Bob, wie Ish sich jetzt erinnerte, hatte ihn nur zögernd in die Hand genommen, damals, als sie mit den Hundegespannen fortgefahren waren. Für die Kinder war er ein Machtinstrument, das anzurühren für jedermann gefährlich war. Ish wurde klar, in welchem Maße eine Vorstellung, die anfangs halb Ernst, halb Spiel war, im Verlauf weniger Jahre zu vollem Ernst wurde. Und was Joey betraf, so stellte Ish abends fest, daß Joey der einzige war, der sich von der Masse abhob. Vielleicht hatte Joey sich nicht einmal bewußt klargemacht, Ishs Hammer sei wie jeder beliebige Hammer. Vielleicht stand sein eigener Aberglaube lediglich auf höherer Ebene. Es würde nicht eben schwierig sein, so meinte Ish, dieses Aberglaubens Herr zu werden.

Doch noch am gleichen Nachmittag stiegen in ihm Zweifel auf. Gegenüber dem Hause waren auf dem Bürgersteig ein paar Kinder beim Spiel. Sie hüpften von einer Steinplatte zur anderen und grölten dabei den alten Reim:

»Trittst du auf den Strich,

Bricht Mutter sich's Genick!«

Ish hatte in den Alten Zeiten die Kinder oftmals diesen Reim singen hören. Damals hatte er nichts bedeutet und war lediglich eine kindische Reimerei gewesen. Wenn die Kinder älter wurden, verstanden sie, daß so etwas nichts als kindisch sei. Wie aber sollte man jetzt den Kindern beibringen, bei solcherlei Dingen handele es sich bloß um Aberglauben? Hier war eine Gesellschaft ohne jede eigene Überlieferung, die sich aber auch nicht durch Lektüre mit der alten Überlieferung befaßte.

Er saß in seinem bequemen Sessel im Wohnzimmer und hörte die Kinder draußen spielen und ihren Reim singen. Als der Rauch seiner Zigarette sich emporkringelte, erinnerte er sich weiterer beunruhigender Zeichen von Aberglauben. Ezra trug seinen Glücksheller bei sich, das alte Pennystück aus Victorianischer Zeit, und sicherlich hielten die Kinder die Münze für etwas Ähnliches wie den Hammer. Molly klopfte aus tiefster Überzeugung mit dem Knöchel an Holz; Ish ärgerte sich ein bißchen, als ihm beim Nachdenken darüber einfiel, daß auch die Kinder an Holz klopften. Ob sie wohl je lernten, daß dem keinerlei Bedeutung innewohnte?

Zögernd bekannte er sich zu dem Schluß, daß von außerordentlicher Wichtigkeit sei, was die Kinder glaubten. In den Alten Zeiten war solch ein Aberglauben, dem die Kinder einer Familie oder einer kleinen Gruppe von Familien anhingen, etwas Flüchtiges und Vorübergehendes; denn wenn sie heranwuchsen, kamen die Kinder in Berührung mit anderem Glauben oder Aberglauben und konnten den ihrigen berichtigen und abstimmen. Überdies hatte damals ein großes, ein übermächtiges Maß an Überlieferung gewaltet — die Überlieferung des Christentums, oder der westlichen Zivilisation, oder des indo-europäischen Brauchtums, oder der anglo-amerikanischen Kultur. Man mochte es benennen, wie man wollte: es war so mächtig gewesen, daß man es getrost als allgewaltig bezeichnen konnte, und es hatte das Gute und das Böse im Menschen absorbiert.

Diese kleine Gemeinschaft hier hatte aber sehr viel von der Überlieferung eingebüßt. Zum Teil war sie verlorengegangen, weil nur sieben Überlebende (Evie zählte nicht) sie hätten bewahren und weiterleiten können. Zum Teil war sie verlorengegangen, weil lange Zeit hindurch die Überlieferung nicht von den großen Kindern an kleine hatte weitergereicht werden können. Die ältesten der jüngeren Generation hatten ihre Spiele von den Eltern gelernt, nicht von älteren Kameraden. Daher mußte die Gemeinschaft in einem nie dagewesenen Grade bildsam sein. Das bot eine Möglichkeit und zugleich eine Verantwortung — und eine Gefahr.

Es würde zur Gefahr werden — und es durchschauerte Ish bei dem Gedanken —, wenn irgendeine böse Kraft, etwa die Demagogie, sich auswirken konnte.

Mit stärkerer Gewißheit denn zuvor wußte er, daß er jetzt Gelegenheit hatte, zum Stifter einer Religion für ein ganzes Volk zu werden. Was er den Kindern in der Schule erzählte, das glaubten sie wahrscheinlich. Er konnte es ihrem Gedächtnis fest einpflanzen durch bloße Beharrlichkeit, Eindringlichkeit und Wiederholung. Er konnte ihnen erzählen, Gott der Herr habe die Welt in sechs Tagen geschaffen und sie gut befunden. Sie würden es glauben. Er konnte ihnen eine indianische Legende erzählen, des Inhalts, die Welt sei das Werk des alten Herrn Coyote. Sie würden es glauben.

Doch was konnte er ihnen tatsächlich ehrlichen Herzens erzählen? Er konnte ihnen ein halbes Dutzend Theorien über die Weltentstehung vorsetzen, deren er sich von seiner Studienzeit her erinnerte. Wahrscheinlich würden sie auch daran glauben, obwohl diese Theorien zu kompliziert waren und also eine weniger gute Fabel als die andern ergaben.

Gegenwärtig aber würde alles, was er sagte, mit Leichtigkeit verzerrt und zu einer Art Religion gemacht werden. Wieder, wie schon vor Jahren, stieß diese Vorstellung ihn ab; denn damit hätte er seinen ehrlichen und aufrichtigen Skeptizismus verraten.

»Es ist besser«, so dachte er in der Erinnerung an Bücher, die er gelesen, »gar keine Auffassung von Gott zu haben als eine, die Seiner unwürdig ist.«

Er steckte sich eine zweite Zigarette an und machte es sich wieder in dem Sessel bequem … Ja, dieses Vakuum! Er grübelte darüber nach. Bevor es positiv gefüllt werden konnte, praktizierten vielleicht seine Abkömmlinge in dritter oder vierter Generation primitive Beschwörungsriten, zitterten entsetzt vor Zauberei und übten rituelle Menschenfresserei. Vielleicht glauben sie an das Voodoo, an Schamanismus, an das Tabu …!

Er stutzte und fühlte sich beinahe schuldig. Ja, es herrschten schon Glaubenssätze im »Stamm«, die der Intensität eines Tabu nahekamen, und ihn allein traf die Schuld an ihrer Entstehung.

Da war zum Beispiel der Fall Evie. Er und Em und Ezra hatten ihn vor langer Zeit durchgesprochen. Sie wollten nicht, daß Evie Kinder bekam, schwachsinnige Kinder, die eine Last und eine Plage gewesen wären. So hatten sie aus Evie, wenigstens für die Jungs, eine Art »Unberührbare« gemacht. Evie mit ihrem blonden Haar und ihren erschrockenen blauen Augen war vielleicht unter allen die hübscheste. Doch Ish war überzeugt, daß keiner der Jungs sie auch nur ernsthaft in Betracht gezogen habe. Wahrscheinlich hatten sie nicht gerade die Vorstellung, es werde irgend etwas geschehen, wenn sie es täten; aber so etwas zu tun lag außerhalb der Möglichkeiten ihrer Phantasie. Das Verbot war stärker und strenger als ein Gesetz. Es war ein Tabu.

Ferner war da noch alles, was mit dem Komplex »Treue« zusammenhing. In steter Furcht vor dem Ausbruch von Streitigkeiten, die aus der Eifersucht entstehen konnten, hatten die älteren Männer die eheliche Treue nicht gepredigt, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt. Die jungen Menschen waren so früh wie möglich verheiratet worden. Über Ezras Bigamie, die man immer vor Augen hatte, wurde nicht geredet. Obwohl Ish keinerlei Zweifel an der Nützlichkeit dieses Brauchs für ihre besondere Lage hegte, schien die Tatsache, daß er als heilig und nicht nur als vernünftig betrachtet wurde, gleichfalls einem Tabu nahezukommen. Die erste Verletzung dieses Tabus, und sicherlich würde sie eines Tages erfolgen, würde wahrscheinlich einen entsetzlichen Schock verursachen.

Ein drittes Beispiel für ein Tabu, obwohl vielleicht von untergeordneter Bedeutung, war die Verwandlung der Universitätsbibliothek in ein sakrosanktes Gebäude. Einmal, als die älteren Jungs noch in den Flegeljahren waren, hatte Ish mit ihnen einen ausgedehnten Spaziergang unternommen, der bis zum Platz vor der Bibliothek geführt hatte. Während er ein Schläfchen hielt, hatten zwei der Jungs das Brett gelockert, das Ish vor langer Zeit vor ein zertrümmertes Fenster genagelt hatte; sie waren hineingeklettert und hatten angefangen, die Bücher aus den Fächern auf den Fußboden zu werfen. Vom Schrecken ob der Schändung des großen Schatzhauses gepackt, war Ish ihnen gefolgt. Später hatte er sich deswegen geschämt, doch in jenem Augenblick hatte die Wut seine Vernunft überrannt, und er hatte die Jungs mörderisch verprügelt. Der unsinnige Grad seiner Wut und der Schreck hatten wohl noch stärkeren Eindruck auf die beiden gemacht als die Prügel. Zweifellos hatten sie die Erinnerung daran an die jüngeren Kinder weitergegeben. Zu Ishs Freude war die Bibliothek fortan unangetastet geblieben. Aber auch das konnte als ein Beispiel für ein Tabu bezeichnet werden, und jetzt machte er sich Gedanken darüber.

Es gab natürlich noch ein viertes; doch dieses brachte ihn an seinen Ausgangspunkt zurück. Er stand auf und trat vor den Kamin.

Dort stand der Hammer auf seinem vier Pfund schweren, stumpfen, rostfleckigen Eisenkopf. Seit einer kleinen Unendlichkeit führte er den Hammer bei sich. Unmittelbar vor dem Schlangenbiß hatte er ihn gefunden, und so konnte er als sein ältester Freund bezeichnet werden. Er war länger bei ihm als Em oder Ezra.

Neugierig schaute er ihn an; er betrachtete ihn aufmerksam und selbstbewußt. Der Stiel war jetzt in schlechtem Zustand. Er war verwittert, weil er so lange draußen gelegen hatte; und wohl schon ehe der Hammer dort liegengeblieben war, war der Stiel zufällig gegen einen Stein geschlagen und ein bißchen abgesplittert.

Das einfachste wäre, so dachte er in ungestümer Aufwallung, sich des Hammers zu entledigen. Er konnte ihn in die Meeresbucht werfen.

Nein, überlegte er; damit wäre bloß das Symptom beseitigt, nicht das Übel. Auch wenn der Hammer fort wäre, würde der Hang der Kinder zum Aberglauben bleiben und sich lediglich an etwas anderes heften, vielleicht gar eine noch finsterere Form annehmen.

Es fiel ihm ein, daß er den Hammer vernichten könne, als symbolische Lehre für die Kinder, daß dem Werkzeug an sich keinerlei Macht innewohne. Doch er mußte daran denken, daß er ja gar nicht die Macht hätte, ihn zu zerstören. Den Stiel konnte er ohne weiteres verbrennen; aber der eiserne Kopf war mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln wohl nicht zu vernichten. Selbst wenn er einen Ballon mit Säure fände und das Eisen darin auflöste, so würde das die Kinder nur noch mehr verwirren und sie glauben machen, dem Hammer müsse tatsächlich eine tiefe, geheimnisvolle Macht innegewohnt haben.

So schaute er den Hammer mit neu erwachtem Interesse an, als sei er etwas, das plötzlich von sich aus Leben und Macht gewonnen habe. Ja, der Hammer besaß Eigenschaften, die ihn als ein gutes Symbol erscheinen ließen: Dauer, Wesenheit, Kraft.

Es hatte einen alten Frankenkönig gegeben, der die Sarazenen zurückgetrieben hatte: Martell, so war er genannt worden, Karl mit dem Hammer! Ish mit dem Hammer!

So sagte Ish aus mancherlei Gründen, als die Kinder sich am nächsten Morgen zur Schule versammelten, nichts über Aberglauben. Es sei besser so meinte er, damit noch zu warten, noch ein paar Tage oder eine Woche zu beobachten. Vor allem wollte er mehr über Joey herausbekommen.

Auf Grund seiner Beobachtungen, die sich über mehrere Wochen erstreckten, kam Ish mit einigem Zögern zu der Erkenntnis, daß Joey viele der Eigenschaften eines rechten Sorgenkinds habe. Im Sommer hatte er seinen zehnten Geburtstag gefeiert.

Seine Frühreife war manchmal peinlich; er war, nach der alten Redensart, »zu groß für seine Hosen«. Dem Alter nach stand er halbwegs zwischen Walt und Weston, die zwölf waren, und dem achtjährigen Chris. Doch seine Frühreife rückte Joey natürlich in die Nähe der beiden älteren Jungen, und zwischen ihm und dem jüngeren gab es keinerlei Gemeinschaft. Das mußte für Joey schwer sein, meinte Ish, weil er sich stets über die Maßen anstrengte, es den beiden um zwei Jahre älteren und natürlich stärkeren Jungen in den körperlichen Leistungen gleichzutun. Josey, seine Zwillingsschwester, vernachlässigte er ebenfalls; denn er war in dem Alter, in dem Jungs sich nicht für Mädchen interessieren, und überdies war Josey nicht so intelligent wie er.

Ish merkte, daß bei allem, was Joey tat oder zu tun versuchte, eine Art Überanstrengung waltete. Wieder und wieder gedachte Ish des kleinen Geschehnisses, wie die anderen Kinder sich fürchteten, den Hammer anzufassen, und in Joeys Tun etwas anerkannten, das zu tun sie selbst nie gewagt hätten. Ihrer Meinung nach wohnte wohl auch Joey eine Art heimlicher Kraft inne. Ish dachte an seine Studienjahre zurück und erinnerte sich des unter den Primitiven weitverbreiteten Glaubens, daß gewisse Mitglieder eines Stammes über eine besondere Kraft verfügten. »Mana« hatten die Anthropologen sie genannt. Vielleicht glaubten die Kinder, Joey besäße »Mana«; möglicherweise glaubte Joey selbst es.

Doch obwohl Ish Joeys Grenzen, Unzulänglichkeiten und schlechte Eigenschaften kannte, richtete er seine Gedanken mehr auf Joey als auf irgendeinen der anderen. Auf Joey ruhten seine Hoffnungen für die Zukunft. Einzig durch die Kraft der Intelligenz, so glaubte Ish fest, hatte die Menschheit sich zur Höhe der Zivilisation aufgeschwungen, und nur dadurch, daß sie diese Kraft auch fürderhin walten ließ, konnte die Menschheit sich wieder zu ihrer alten Höhe erheben. Und Joey besaß Intelligenz. Möglicherweise war auch jene andre Kraft in ihm. »Mana« mochte ein Trugbild einfältiger Seelen sein; doch selbst hochstehende Völkerschaften hatten anerkannt, daß einzelnen Menschen eine seltsame Macht innewohnte, die nach Führerschaft drängte. Hatte jemals irgend jemand zu erklären gewußt, warum aus gewissen Menschen Führer wurden und aus andern nicht, obwohl sie dem Anschein nach besser dazu geeignet waren?

Wieviel von alledem war Joey bewußt? Diese Frage legte Ish sich oftmals vor, ohne daß er sie hätte beantworten können. Doch im Fortschreiten des Sommers fühlte er mehr und mehr, daß alle Zukunftshoffnung in Joey beschlossen lag.

Ish sah ab von allem Mythos; er wies die Vorstellung »Mana« von sich. Aber selbst dann konnte einzig Joey in dieser dunklen Zeit das Licht am Brennen erhalten. Nur er konnte die großen Überlieferungen der Menschheit in sich aufnehmen und andern vermitteln!

Doch nicht nur durch die Aneignung von Wissen zeichnete Joey sich aus. Obwohl er erst zehn Jahre war, begann er, sich selbständig zu entwickeln, Versuche anzustellen, auf eigene Faust Entdeckungen zu machen. So kam es auch, daß er sich selbst das Lesen beibrachte. Natürlich befand sich das alles bei ihm noch im kindlichen Stadium.

So ging es beispielsweise mit dem Puzzle-Spiel. Plötzlich hatten die Kinder eine geradezu tolle Vorliebe für dieses Spiel; sie hatten ein paar Läden nach solchen Spielen durchstöbert. Ish hatte sie beim Spielen beobachtet. Anfangs war Joey den andern unterlegen gewesen. Es schien ihm ein bißchen an Raumgefühl zu mangeln.

Manchmal versuchte er, Stücke ineinanderzufügen, die ganz augenscheinlich nicht zusammenpassen konnten; und die andern wurden ungeduldig und sagten es ihm. Joey ärgerte sich über seine Unterlegenheit und spielte eine Zeitlang nicht mit.

Dann fiel Joey plötzlich ein, wie er sich helfen könne. Er suchte sich eine Anzahl von Puzzles heraus, die die gleiche gelbe Farbe hatten, und nun konnte er sie schneller zusammenfügen und die andern Kinder überflügeln.

Als er stolz erklärte, wie er das fertiggebracht hatte, machte es auf sie großen Eindruck. Aber auch nachdem er ihnen seine Methode auseinandergesetzt hatte, trugen sie keinerlei Verlangen, sie ihrerseits zu übernehmen.

»Was soll das denn nutzen!« wandte Weston ein. »Wir würden vielleicht nach deiner Methode schneller fertig werden, aber es wäre kaum noch Spaß dabei, und es kommt doch gar nicht darauf an, daß wir schnell fertig werden.«

Betty hatte zugestimmt. »Ja, es macht gar keinen Spaß, schnell damit fertig zu werden, erst die gelben Stücke herauszusuchen, und dann die blauen Stücke und die roten Stücke und sie dann an verschiedenen Stellen zusammenzusetzen!«

Ish vermerkte, daß Joey keine gute Begründung für seine Methode zu geben vermochte; aber Ish konnte dennoch verstehen, wie er dazu kam. Freilich mußte man zugeben, daß keinerlei Veranlassung bestand, so schnell wie möglich mit dem Puzzle fertig zu werden; aber sich bei einem Tun als tüchtig zu erweisen, war für Joey etwas ebenso Natürliches und Angenehmes, wie nicht auf allen vieren zu kriechen, wenn man gehen konnte. Außerdem besaß er den Drang zum Wettbewerb, das Verlangen der Alten Zeiten, sich hervorzutun, an erster Stelle zu stehen. Da ihm der Sinn für bestimmte Formen nicht gegeben war, genausowenig wie im Körperlichen starke Muskeln, hatte er einen Weg ausfindig gemacht, mittels des Verstandes die Führerschaft zu übernehmen. Er hatte »seinen Kopf gebraucht«, wie man früher zu sagen pflegte.

Auch in bezug auf die Sprache sah Ish Joeys experimentierenden Geist am Werk. Ihm bedeutete die Sprache nicht nur etwas Praktisches, ein unbewußt gehandhabtes Werkzeug zum Ausdrücken von Wünschen und Gefühlen. Die Sprache war für ihn zugleich ein wundervolles Spielzeug. Er besaß beispielsweise viel Sinn für Wortspiele und Reime, ohne daß die anderen Kinder viel Interesse an dergleichen bezeigt hätten. Auch Rätsel mochte er.

Eines Tages hörte Ish, wie er den andern Kindern ein Rätsel aufgab. »Ich habe es selbst gemacht!« sagte Joey voller Stolz. »Worin stimmen ein Mensch, ein Bulle, ein Fisch und eine Schlange überein?«

Die anderen Kinder interessierte das nicht.

»Sie essen alle irgendwas«, meinte Betty gelangweilt.

»So einfach ist die Sache nicht«, sagte Joey. »Jedes Wesen ißt was. Auch Vögel.«

Es erfolgten noch ein paar Antworten; und dann sagten sie, sie wollten weggehen und etwas anderes treiben. Joey sah sich in der Gefahr, seine Zuhörerschaft zu verlieren; um dem vorzubeugen, mußte er rasch des Rätsels Lösung geben.

»Ja, sie stimmen darin überein, daß sie alle nicht fliegen können!«

Im ersten Augenblick machte das Rätsel auf Ish keinen allzu großen Eindruck; doch als er später darüber nachdachte, wurde ihm bewußt, daß es in seiner Art erstaunlich und sonderbar für einen Zehnjährigen war, daß er die Idee der Gleichheit im Negativen entwickelt hatte. Und es drängte sich Ish eine alte Definition auf: »Genie ist die Fähigkeit, zu sehen, was nicht ist.«

Es schien, als sei es für Joey ein Sommer der Versuche, und eines Tages beim Heimkommen taumelte er absonderlich, und sein Atem roch bedenklich nach Alkohol. Es kam heraus, daß er mit Walt und Weston einen der Schnapsläden im nächstgelegenen Geschäftsbezirk besucht hatte. Über dieses Problem hatte Ish oftmals nachgedacht. Einmal war er sogar zu einem der Läden gegangen und hatte angefangen, die Flaschen zu öffnen und auszugießen. Nach einer Stunde Arbeit hatte er indessen gemerkt; daß er damit viel zu langsam vorankam; sein Vorhaben dünkte ihn unmöglich, und die Kinder blieben der Gefahr ausgesetzt, einen unbegrenzten Alkoholvorrat zur Verfügung zu haben. Dabei war, wenn er es sich recht überlegte, die Situation der Kinder nicht gar so verschieden von der, in der er selbst sich befunden hatte. Früher hatte sein Vater stets ein paar Flaschen Whisky, Kognak und Sherry im Hause gehabt, und nichts hätte Ish daran hindern können, diese Getränke heimlich zu probieren. Er hatte es nicht getan, und es schien auch, als besäßen die unbeschränkten Alkoholvorräte für seine Kinder und Enkel wenig Anziehungskraft. Überhaupt waren Trunksucht und Trunkenheit für die Gemeinschaft keine Probleme. Vielleicht bedurften sie bei ihrem schlichten Leben solcher Anregung nicht; vielleicht aber reichte auch die bloße Tatsache, daß Alkohol jedem frei zur Verfügung stand wie die Atemluft, hin, die Verlockung zu beseitigen, die in früheren Zeiten vom Alkohol ausgegangen war.

Was nun Joey betraf, so stellte Ish zu seiner Freude fest, daß der kleine Kerl vernünftig genug gewesen war, nur eine geringe Menge zu sich zu nehmen — zu wenig, als daß ihm wirklich übel geworden wäre oder daß sein Bewußtsein sich getrübt hätte. Er hatte sich wohl nur vor den Älteren aufspielen wollen; die waren in weit schlimmerem Zustand als er heimgekommen.

Immerhin war Joey richtiggehend betrunken und erhob keinerlei Einwand, als er unverzüglich ins Bett gesteckt wurde. Ish nahm die Gelegenheit wahr, sich zu ihm an die Bettkante zu setzen und ihm eine Vorlesung über allzuweit vorgetriebene, allzu bedenkenlose Versuche zu halten, zumal wenn es darum ging, sich vor andern aufzuspielen. Er schaute nieder auf das schmale, großäugige Gesicht in den Kissen. Die Augen schauten klug drein, trotz der Bezechtheit, und er wußte, daß Joey ihn verstand. Es war auch Sympathie in den Augen, als sagten sie wieder zu Ish: »Wir verstehen einander. Wir beide kennen uns aus. Wir sind nicht wie die anderen.«

In jäh aufwallender tiefer Zuneigung für seinen jüngsten Sohn beugte Ish sich nieder und nahm eine der kleinen Hände in die seine. Er sah, wie ein Antwortblick der Zuneigung in die großen Augen stieg, und plötzlich wußte Ish, daß jenseits aller jungenhaften Großtuerei Joey im Grunde ein zartes, scheues, sensitives Kind war, gerade wie er selbst es früher gewesen war. Joeys Angebertum war nur der Ausdruck der auf einen Abweg geratenen Ängstlichkeit.

»Joey, Junge«, sagte er leidenschaftlich, »warum überanstrengst du dich immerfort? Weston und Walt — die sind doch zwei Jahre älter als du! Warum machst du dir die Sache nicht ein bißchen leichter? In zehn Jahren — in zwanzig Jahren — bist du ja doch über alles hinaus, was sie unternehmen können!«

Er sah, wie der Junge leise und glücklich lächelte. Doch Ish wußte, daß dieses Glück einzig der neu entdeckten Sympathie mit dem Vater entsprang, nicht aber der Wirkung seiner Worte.

Wieder schaute Ish in das kleine Gesicht, und er sah, wie die Augen sich vor Trunkenheit und Müdigkeit nach den Seiten hin verdrehten, so daß das eine in eine andere Richtung als das andere blickte.

Ish spürte, wie die Liebe zu seinem Sohn stärker denn je in ihm aufwallte. »Dieser eine, dieser eine«, dachte er, »der ist der Gesegnete! Dieser eine wird alles fortsetzen!«

Er sah die Augen matt werden, sah die Lider sich senken, und so sagte er nichts mehr, sondern saß ruhig am Bett und hielt die Hand in der seinen. Und vielleicht weil der Schlaf dem Tode so sehr ähnelt, stieg eine grausige Angst in ihm auf. »Man müßte dem Glück ein Pfand darbringen!« dachte er. Wenn jemand sehr liebt, ist er wehrlos. Er selbst hatte Glück gehabt. Er hatte Em sehr geliebt, und jetzt liebte er Joey ebensosehr. Mit Em war alles gut und glücklich gewesen, und es war unmöglich, Em in Verbindung mit Gedanken an den Tod zu bringen. Sie war die Stärkere. Mit Joey war das anders. Als er des Kindes Hand hielt, konnte er das schwache Pochen des Pulses im Handgelenk spüren; er schien ganz dicht unter der Haut zu pochen. Schon eine leichte Schramme würde gefährlich sein. Welche Chancen boten sich einem kleinen Jungen, der körperlich alles andere als stark war und der von einem allzu mächtigen Geiste vorwärtsgetrieben wurde?

Ja, dieser eine wäre wohl imstande, die gesamte Zukunft zu formen. Er mußte noch zunehmen an Leib und Geist; er mußte mit den Jahren Weisheit gewinnen; er mußte leben.


Zwischen Planen und Vollenden waltet immer der Zufall. Der Herzschlag wird unregelmäßig, ein Messer blitzt, ein Pferd strauchelt, der Krebs wächst, winzige Feinde dringen ein …

Dann sitzen sie beim Feuer am Höhleneingang und sagen: »Was sollen wir tun? Jetzt ist er nicht mehr bei uns, uns zu führen!« Oder es läutet die große Glocke, sie versammeln sich auf dem Hofe und sagen: »Das hätte nicht geschehen dürfen! Wer gibt uns jetzt guten Rat?« Oder sie treffen einander an den Straßenecken und sagen traurig: »Warum mußte es diesen Verlauf nehmen? Nun ist niemand da, der an seine Stelle treten könnte!«

Durch die ganze Weltgeschichte tönt eine Klage: »Wenn der junge König nicht erkrankt wäre … Wenn der Prinz am Leben geblieben wäre … Wenn der General sich nicht so rücksichtslos dem Feuer ausgesetzt hätte … Wenn der Präsident sich nicht überarbeitet hätte …«

Zwischen Planen und Vollenden stehen Not und Gefahr des Menschenlebens.


Abermals wurden die Nebel dünner, und dann kamen die ersten heißen Tage. »Nun habe ich es noch einmal gesehen«, dachte Ish, »das große Schauspiel des Jahres! Nun ist die Zeit der Dürre und des Todes. Nun liegt der Gott im Sterben! Bald kommt die Regenzeit, und dann ergrünen die Hügel. Eines Morgens halte ich Ausschau nach Westen, hier von meiner Haustür aus, und sehe die Sonne weit im Süden untergehen. Dann versammeln wir uns, und ich meißele die Jahreszahl in den Fels ein. Ich frage mich, wie wir dieses Jahr benennen werden!«

Jetzt aber war es an der Zeit, der Rückkehr Dicks und Bobs von ihrer Forschungsreise mit dem Jeep entgegenzusehen. Noch immer haderte Ish mit sich selbst und hatte ein Schuldgefühl, daß er den Jungs die Reise erlaubt hatte; doch nun waren sie schon so lange unterwegs, daß er sich einigermaßen an den Gedanken gewöhnt hatte, daß er ihn nicht mehr so sehr quälte wie früher. Und überdies grübelte er über anderes nach und empfand ein anderes Schuldgefühl, das jenes in den Hintergrund drängte.

Die Kinder! Ihr Aberglauben und ihre religiösen Vorstellungen! Er hatte gemeint, es ließe sich unschwer dagegen angehen; er hatte gesagt, am nächsten Tage wolle er etwas unternehmen. Doch den ganzen Sommer hindurch war er müßig gewesen.

War es wirklich so, daß ihn gar nicht verlangte, etwas zu tun?

Wünschte er, daß die Kinder tatsächlich meinten, Joey sei im Besitz einer besonderen Macht? Wünschte er in seinen Tiefen, daß die Kinder ihn, Ish, für einen Gott hielten? Nicht jeden Tag und nicht jedes Jahr hatte wohl ein Mensch Grund, mit dem berauschenden, vergiftenden Gedanken zu spielen, er werde ein Gott. Ach, sagen wir wenigstens: ein Halbgott, ein Wesen, dem bis zu einem gewissen Grade besondere Macht innewohnte!

Seit dem Zwischenfall mit dem Hammer hatte er neugierig die Haltung und Einstellung der Kinder ihm gegenüber beobachtet. Sie war wechselnd und unbestimmt. Bisweilen nahm er bei ihnen Furcht und Schrecken wahr, wie am Tage des Zwischenfalls mit dem Hammer. Gleich Joey, aber in noch stärkerem Maße, wirkte in ihm und aus ihm »Mana«. Er konnte seltsame Dinge tun. Er wußte um die Bedeutung schwieriger Wörter. Er kannte sich in den seltsamen Verbindungen der Zahlen aus. Auf Grund einer befremdlichen Macht wußte er, was die Welt war und wie sie war, auch jenseits des Horizonts, weit über das Goldene Tor hinaus.

Die Kinder, so begann er jetzt zu meinen, waren nicht nur Kinder, sondern auf eine Art unkompliziert und unerfahren, wie Kinder der Alten Zeit es nur selten gewesen waren. Keins von ihnen hatte mehr als ein paar Dutzend Menschen zu Gesicht bekommen. Obwohl sie, wie er glaubte, glücklich dahinlebten, waren sie glücklich durch nur wenige simple, sie befriedigende Erfahrungen und Erlebnisse, die sich immerfort wiederholten. Sie hatten niemals den beständigen Schock des Wechsels, der steten Veränderung erlitten, der den Kindern der Alten Zeiten so viel zu schaffen gemacht hatte, im Guten wie im Bösen — der sie einerseits nervös, andererseits behend und wendig gemacht hatte.

Dermaßen unkomplizierte Kinder konnten leicht dahin gelangen, daß sie eine gewisse Furcht vor ihm empfanden und meinten, er sei mit Kräften begabt, die sich von den ihrigen unterschieden, und die vielleicht nicht völlig irdisch waren. Bisweilen hatte er diese Empfindung und erhielt selbst untrügliche Beweise für ihre Berechtigung.

Zu anderen Zeiten dagegen, und im Grunde zumeist, war er lediglich ihr Vater oder Großvater, oder Onkel Ish — jemand, den sie von je gekannt und mit dem sie als kleine Kinder auf dem Fußboden herumgetobt hatten. Vor solch einem Menschen hatten sie nicht mehr Respekt, als Kinder ihn eben haben. Schließlich bekundeten die älteren ja schon die für Heranwachsende typischen Gefühle, daß der alternde Mann Fehler über Fehler mache und völlig vergreist und verstumpft sei. Vielleicht hatten sie Angst vor ihm; aber Streiche spielten sie ihm dennoch.

Einmal, noch nicht eine Woche nach dem Zwischenfall mit dem Hammer, hatten sie ihm einen Reißnagel auf den Stuhl gelegt, obwohl das einer der ältesten aller Streiche war, die man einem Lehrer spielte. Und einmal, als sie den Unterrichtsraum unter großem unterdrücktem Gekicher verlassen hatten, merkte Ish, daß irgendeiner ihm einen anderen, nicht minder alten Streich gespielt hatte: es war ihm ein Stoffstreifen an den Rücken gesteckt worden, so daß er hinten niederbaumelte wie ein weißer Schwanz.

Solcherlei Streiche nahm Ish wohlgelaunt hin; er versuchte nicht einmal, herauszubekommen, welches der Kinder es getan hatte, und Strafen gab es nicht. In mancher Beziehung machten die Streiche ihm Spaß; denn sie zeigten ihm, daß die Kinder ihn für ihresgleichen nahmen. Doch ein bißchen Kummer bereiteten die Streiche ihm dennoch. Er war nicht unempfänglich für das Schmeichelhafte, das in dem Glauben lag, daß er ein Volksheld oder Halbgott sei. Behandelte man so einen Halbgott, daß man ihm Reißnägel auf den Stuhl legte oder ihm hinten einen Schwanz anheftete? Aber als er länger darüber nachdachte, kam er zu der Überzeugung, daß die beiden Haltungen ihm gegenüber nicht unvereinbar seien und daß es im Grunde auch früher schon so gewesen sei.


Es ist etwas Sonderbares, ein Gott zu sein! Sie führen den gemästeten Ochsen mit den vergoldeten Hörnern herbei und schlagen ihn an Deinem Altar mit der Doppelaxt nieder. Du bist stolz auf das Opfer. Aber dann nehmen sie Kopf und Hörner und Schwanz und Haut, und in die Haut wickeln sie die Eingeweide. All dieses überflüssige Zeug verbrennen sie vor Deinem Altar, und dann gehen sie und verzehren selber die fetten Lendenstücke! Du durchschaust den Betrug, und es überkommt Dich Götterzorn. Du packst den Donnerkeil, und Deine schwarzen Wolken ziehen sich zusammen. Ach was, denkst Du dann; es sind ja meine Menschen! Dieses Jahr sind sie dick und hochmütig und unverschämt — aber wer möchte denn gern, daß sein Volk schäbig und kriecherisch wäre! Nächstes Jahr, wenn die Pest ausgebrochen ist, werden sie schon den ganzen Ochsen verbrennen — nein, viele Ochsen! So gehst Du mit ein bißchen Donnergepolter darüber hinweg, das im fröhlichen Durcheinander des Festes beinahe unbemerkt bleibt. »Ich bin gar nicht blöd«, sagst Du zum »Sohn«; »aber dann und wann muß ein Gott eben tun als sei er blöd!« Dann fragst Du Dich, ob Du ihn an einem der Geheimnisse der Göttlichkeit teilhaben lassen oder ob Du lieber nach einem geeigneten Berge Ausschau halten solltest, den Du über ihn türmen könntest. Er beschäftigt sich nämlich neuerdings ein bißchen zu geschickt mit einer Sichel …

Selbst wenn man Dir, dem Schreckenerreger, mit Menschenopfern kommt, mußt Du ein Auge zudrücken. Ach das ist von großartiger Scheußlichkeit! Das Stöhnen des Opfers, das Gekreisch seines Weibes, das Niedersausen der Äxte der Schlächter! Da liegt das Opfer, der Inbegriff eines ekelhaften Todes! Doch bald, im Durcheinander des Tanzes, steht das Opfer plötzlich auf und tanzt mit den anderen, und der rote Maulbeersaft mischt sich mit seinem Schweiß und verschwindet. Dann mußt Du, der Schreckenerreger, ein weiser Gott sein und Dich mit dem Gräßlichen des geschauspielerten Todes begnügen, obwohl jedes Kind im Dorf weiß, daß Du hinters Licht geführt werden solltest …

»Nein, man braucht sich nicht niederzuwerfen und das Gesicht in den Staub zu drücken. Neigt nur ganz leicht den Kopf, wenn ihr hereinkommt.«


Doch obwohl er halb und halb vor der Probe Scheu empfand, konnte Ish schließlich nicht mehr dem Verlangen widerstehen, einen Versuch zu wagen. Vielleicht war der Zwischenfall mit dem Hammer im Grunde ohne tiefere Bedeutung gewesen. Ish war neugierig.

Sorgsam wählte er den rechten Augenblick — den späten Morgen, kurz vor Unterrichtsschluß. Er hielt sich selbst eine Möglichkeit zum Rückzug offen, falls die Sache zu bedenklich werden sollte. Da er der Lehrer war, bestand keinerlei Schwierigkeit, die Kinder zu dem Punkte zu leiten, wo er gleichsam beiläufig seine Frage stellen konnte.

»Wie kam es eurer Meinung nach, daß alles, was ihr um euch seht …«, er vollführte eine ausladende Geste mit den Händen, »wie kam es, daß die Welt überhaupt geschaffen werden konnte?«

Die Antwort kam rasch. Der Sprecher war Weston, obgleich jedes der Kinder hätte antworten können:

»Ja, die Amerikaner haben das alles geschaffen!«

Ish hielt den Atem an. Jetzt, in diesem Augenblick erkannte er, in welchem Maße die Idee erstarkt war. Wenn ein Kind fragte, wer die Häuser oder die Straßen oder die Dosen und Büchsen und Flaschen mit Lebensmitteln gemacht habe, so sagten die älteren selbstverständlich: »Die Amerikaner!«

Ish ließ eine weitere Frage folgen.

»Und die Amerikaner — wer waren die?«

»Oh, die Amerikaner, das waren die, die früher gelebt haben.«

Diesmal erschien es Ish ein wenig schwieriger, sogleich den Anschluß zu finden. In dem Ausdruck: »Die, die früher gelebt haben«, spürte er nicht nur einen Hinweis auf die Alten Zeiten, sondern eine Andeutung dessen, was beinahe schon Aberglauben war. »Die, die früher gelebt haben« — das hatte vormals als eine Bezeichnung für Feen- und Elfenwesen gegolten, für Wesen aus einer jenseitigen Welt. Diese Bedeutung schien der Ausdruck jetzt wiedergewonnen zu haben. Hier war etwas, dem er entgegentreten mußte.

»Ich war …« Er begann ganz schlicht. Er hielt inne; er verbesserte sich, da er nicht einsah, weshalb er sich der Vergangenheitsform bedienen sollte.

»Ich bin ein Amerikaner.«

Als er diese einfachen Worte sprach, überkam ihn ein seltsames Gefühl des Stolzes, als flatterten Fahnen, als spielten Musikkapellen. In den Alten Zeiten hatte es schon einiges bedeutet, Amerikaner zu sein. Man war sich bis zur letzten Faser bewußt gewesen, daß man einer großen Nation angehörte. Das hatte nicht nur mit Stolz erfüllt, sondern zugleich mit einem tiefen Gefühl des Vertrauens und der Lebenssicherheit, der Kameradschaft von Millionen. Jetzt aber hatte er gezögert, sich der Gegenwartsform zu bedienen.

Während seines kurzen, zögernden Schweigens hatten die Kinder ihn angeschaut, und er hatte unvermittelt die Empfindung gehabt, es habe seiner Erklärung an Überzeugungskraft gefehlt. Er hatte lediglich zu erklären versucht, daß an jenen Wesen, »die früher gelebt hatten« und die Amerikaner gewesen waren, nichts Übernatürliches gewesen sei. Er hatte lediglich zu sagen versucht: »Schaut mich an, ich bin Ish, der Vater von einigen unter euch, und von einem der Großvater. Ich habe mit euch auf dem Fußboden herumgetobt Ihr habt mir das Haar zerzaust. Ja, ich bin nur Ish. Und wenn ich nun sage: ›Ich bin ein Amerikaner‹, so meine ich damit, daß an den Amerikanern nichts Übernatürliches ist. Auch sie waren nur Menschen.«

Das, so hatte er gemeint, würden sie aus seinen Worten heraushören; aber es war etwas anderes geschehen. Als er gesagt hatte: »Ich bin ein Amerikaner«, da hatten sie innerlich genickt und sich gedacht: »Ja, natürlich, du bist ein Amerikaner. Du verfügst über viele sonderbare Kenntnisse, die wir gewöhnlichen Leute nicht haben. Du lehrst uns Lesen und Schreiben. Du erzählst uns Geschichten über die Welt, die um uns ist. Du redest über Zahlen. Du trägst den Hammer. Ja, es ist klar, daß Menschen wie du die ganze Welt geschaffen haben, und du bist ganz einfach einer, der von den Alten Zeiten her übriggeblieben ist. Du bist einer von denen, die früher gelebt haben. Ja, natürlich, du, du bist ein Amerikaner!«

Als er, schier betroffen ob dieses neuen Gedankens, umherschaute, herrschte tiefes Schweigen, und er sah, daß Joey ihm zulächelte. Es war ein wissendes Lächeln, als wolle Joey sagen: »Uns beiden ist etwas gemeinsam. Ich bin wie einer von denen, die früher gelebt haben; auch ich bin einer von denen, die übriggeblieben sind. Ich kann lesen; ich verstehe und durchschaue vielerlei Dinge. Ohne daß mir etwas geschieht, trage ich den Hammer.«

Ish war froh, daß er seine Frage kurz vor der Mittagsstunde gestellt hatte. Er konnte sich jetzt nicht mehr sammeln, weder zu einer Frage noch zu einer Antwort.

»Schulschluß!« sagte er. Und er dachte: »Schluß mit der Schule.«

6

Es war Spätnachmittag, und Ish unterhielt sich mit Joey. Ish besaß eine kleine Münzsammlung und hielt Joey einen Vortrag über Geschichtliches und die alten Wirtschaftssysteme. Joey mochte die schimmernden, klingenden Nickelstücke mit der Gestalt des seltsamen, buckligen Tieres gern. Wie jeder Junge auch in den Alten Zeiten zog er die Münzen den langweiligen Banknoten vor, auf denen das Bild eines bärtigen Mannes war, der beinahe wie Onkel George aussah. Ish versuchte, ihm zu erklären, was es damit auf sich hatte.

Gerade als er meinte, nun habe er den richtigen Ausgangspunkt gefunden, hörte er einen sonderbaren und dennoch von alters her vertrauten Laut. Er hob den Kopf und lauschte angespannt. Da war es wieder, und diesmal näher: das »Tut-ä-tut-tut« einer Autohupe!

»Hallo, Em!« rief er. »Sie sind wieder da!« Er sprang auf; die Banknoten entglitten seiner Hand und fielen zu Boden.

Er und Em und die Kinder stürzten hinaus, und dort herrschte ein allgemeines Gerenne und Gejappe und Gebell von Hunden, und der Jeep kam die Straße herab. Er war schmutzig, von der Reise mitgenommen und eingebeult; aber er hatte durchgehalten. Ish war aufs höchste gespannt. Dann kletterten die Jungs unter lauten Rufen heraus — augenscheinlich waren sie gesund und munter. Die Erleichterung, die er plötzlich empfand, zeigte ihm, wie sehr er sich im Grunde um sie gesorgt hatte.

Da standen nun die Jungs, umgeben von einer Schar schreiender und rufender Kinder. Beinahe schüchtern hielt Ish sich zurück. Dann gewahrte er, daß sich da noch etwas bewegte. Es mußte noch jemand in dem Jeep sitzen. Ja, jetzt schickte der Betreffende sich zum Aussteigen an. Ish überkam ein heftiges Gefühl der Beunruhigung, der Verstimmung gegenüber dem Ankömmling.

Zunächst, als der Kopf über der niedrigen Tür erschien, sah Ish einen ziemlich kahlen Schädel und einen braunen Bart, den man als hübsch hätte bezeichnen können, wenn er nicht tabakfleckig gewesen wäre und schmutzig angemutet hätte; dort, wo er am Rande mit der Schere bearbeitet worden war, wirkte er struppig. Der Mann stieg aus und richtete sich langsam auf.

Ish musterte ihn, beinahe entsetzt. Ein stämmiger Kerl, groß, breit, schwer. Er sah aus, als sei er sehr stark, und doch hatte die Bewegung, mit der er sich aufrichtete, nicht von Kraft gezeugt. Ja, er wirkte mächtig, aber in seinem Innern schien etwas nicht in Ordnung zu sein, und er war zu dick!

Die Kinder sprangen umher, und in ihrer Mitte stand der Mann, so wie er aus dem Wagen gestiegen war. Er blickte auf und sah Ish, und ihrer beider Blicke trafen einander. Des Mannes kleine, fettverhüllte Augen waren hellblau. Er lächelte Ish zu.

Ish lächelte ebenfalls, obwohl er seine Mundwinkel durch einen bewußten Willensakt dazu zwingen mußte. »Ich hätte als erster lächeln müssen«, dachte er. »Er hat mich dazu veranlaßt. Ich hätte ihn dazu veranlassen müssen. Er besitzt Macht, trotz seines weichlichen und ungesunden Aussehens.«

Ish brach den Bann, indem er auf Bob zutrat und nach dessen Hand griff. Aber selbst dabei dachte er immerfort an den Ankömmling. »Ungefähr meines Alters«, dachte er.

Nun vollzog Bob die Vorstellung. »Das ist unser Freund Charlie!« sagte er einfach und klapste Charlie auf den Rücken.

»Freut mich, freut mich«, brachte Ish hervor, aber selbst diesen nichtigen, altgewohnten Worten konnte er keinen natürlichen Tonfall geben. Er blickte fest in die blauen Schlitzaugen, und in der Gespanntheit seines Blickes lag wohl bewußtes Mißtrauen.

Inzwischen hatte Bob Charlie beiseite gezogen und stellte ihn den andern vor. Ish fühlte, wie sein Widerwille wuchs, statt abzunehmen. »Vorsicht!« dachte er.

Er hatte sich die Rückkehr als eine Wiedervereinigung ohne störende Elemente ausgemalt. Und nun war dieser Charlie da!

Sicherlich, er schien ein guter Kamerad zu sein. Aber — ja, das war es — Charlie war schmutzig. Charlie war schmutzig, und zwar von innen her.

Schmutz, der allgegenwärtige Schmutz der Erde, war etwas, worüber Ish sich so wenig aufregte wie alle übrigen Menschen damals. Aber der Eindruck des Schmutzigen, der von Charlie ausging, war etwas durchaus anderes. Vielleicht, so analysierte er rasch, lag es an den Kleidern. Charlie trug nämlich etwas, das während der letzten Jahre zu einer Seltenheit geworden war: einen Straßenanzug. Er trug sogar eine Weste.

Unvermittelt wandten sich alle dem Haus zu, und Ish ging mit ihnen; aber nicht an der Spitze. Das Wohnzimmer war voll. Die beiden Jungs und Charlie bildeten den Mittelpunkt. Die Kinder schauten voller Bewunderung auf die Jungs, die von einer Forschungsreise zurückgekehrten Entdecker, und genauso bewundernd und staunend sahen sie Charlie an, weil sie es nicht gewohnt waren, einen Fremden zu Gesicht zu bekommen. Es war eine der tollsten Sensationen, die man sich hätte ausmalen können.

»Habt ihr es geschafft?« fragten alle durcheinander. »Wie weit seid ihr gekommen? Was ist in der großen Stadt los — wie hieß sie doch gleich?«

In der allgemeinen Aufregung sah Ish lange auf den fettigen Bart und den fleckigen Rock, und seine Abneigung gegen Charlie wurde noch heftiger.

»Nimm dich zusammen!« dachte er. »Du bist ein Provinzler und empfindest Widerwillen gegen jeden anderen, der vielleicht andere Gewohnheiten und Anschauungen hegt. Du hast stets gesagt, die Gemeinschaft bedürfe der Anregung durch neue Gedanken, und wenn nun jemand aus der Fremde kommt, so starrst du ihn voller Widerwillen an und konstruierst dir Vernunftgründe, indem du dir sagst: Er ist außen schmutzig, und so muß auch in seinen Innern irgendwelcher Schmutz sein. Gib es auf — dies ist ein großer Tag!« Dennoch verkehrten alle seine Erwägungen, daß es ein großer Tag sei, sich in ihr Gegenteil.

»Nein«, sagte Bob. »Bis New York sind wir nicht gekommen. Aber bis zu der anderen großen Stadt — bis Chicago. Aber dann wurden die Straßen immer schlechter und schlechter; es waren Bäume darauf gewachsen, und überall lagen umgefallene Bäume, und viele Straßen waren unterspült, und die Brücken waren kaputt. Da mußten wir fortwährend andere Wege einschlagen und sehen, daß wir …«

Jemand fuhr mit einer anderen Frage dazwischen, noch ehe Bob mit seiner Antwort zu Ende gekommen war. Ein halbes Dutzend Fragen wurden gestellt, und eine hob die andere auf. In dem Durcheinander suchte Ish Ezras Augen. Er meinte in Ezras Blick Alarmierendes zu sehen, und nun wußte er, daß auch Ezra Charlie beobachtete.

Sogleich fühlte Ish sich bestärkt und gerechtfertigt. Ezra war Menschenkenner und Menschenfreund. Wenn Ezra über Charlie so schnell beunruhigt war, dann mußte man auf der Hut sein. In dergleichen Fällen hatte Ish mehr Vertrauen zu Ezra als zu sich selbst.

»Laß gut sein«, dachte er weiter. »Im Grunde weißt du noch gar nicht, was Ezra tatsächlich denkt. Vielleicht ist er beunruhigt, weil er wittert, was du denkst. Und was denke ich denn? Vielleicht bin ich nur aus der Fassung gebracht, weil ich so etwas wie der Häuptling eines kleinen Stammes bin und befürchte, daß der schreckliche Fremde mit seinen neuen Gedanken und seinen neuen Göttern gegen die meinen ficht.«

Er wandte sich wieder dem zu, was gesprochen wurde. »… hatten komische Kleider an«, hörte er Dicks Stimme sagen. »Sie haben mit Steinen nach uns geworfen. Sie haben geschrien: ›Unrein! Unrein!‹ Dann haben sie immerzu geschrien: ›Wir sind Gottes Volk!‹ Sie haben uns weggejagt.«

Dann sprach Em. Der volle Klang ihrer Stimme, die zugleich tief und weiblich war, durchdrang die hellen, beinahe fiependen und bellenden Laute der aufgeregten kleinen Schar.

»Es ist spät«, sagte sie. »Zeit zum Abendessen. Die Jungs sind hungrig …«

Die schwachsinnige Evie stieß ein letztes, sinnloses Kichern aus, und dann war auch sie still.

Em sagte, alle sollten jetzt heimgehen und später wiederkommen. Ish beobachtete Charlie und sah, daß Ezra ihn ebenfalls beobachtete. Charlies Augen blickten auf Em, vielleicht einen Augenblick zu lange. Dann glitt sein Blick zu Evies blondem Haar hinüber; es war, als schätze er das Mädchen ab. Dann standen alle auf und schickten sich zum Aufbruch an.

Dick nahm Charlie zum Essen mit in Ezras Haus.

Als das Essen auf dem Tische stand und alle sich hingesetzt hatten, gab es eine Fülle von Fragen. Ish überließ es Em, sich mit Bob zu unterhalten. Sie mußte doch ihre mütterlichen Besorgnisse beschwichtigen. Waren sie krank gewesen? Hatten sie genug zu essen gehabt? Warm geschlafen?

Die Aussprache über die eigentliche Reise sollte erst stattfinden, wenn die andern nach dem Abendessen wiedergekommen waren, und Ish hatte die Empfindung, es sei besser, wenn er aus Bob nichts über Charlie herauspumpe. Aber ganz konnte er der Versuchung nicht widerstehen, und Bob zeigte sich durchaus nicht zurückhaltend.

»Oh«, sagte er, »Charlie? Ja, den haben wir vor ungefähr zehn Tagen aufgelesen, in der Nähe von Los Angeles. Da herum leben, glaube ich, nur ein paar Menschen. Sie sind beinahe so wie wir; nur wohnen sie ein bißchen weiter auseinander. Charlie lebte ganz für sich allein.«

»Habt ihr ihn gebeten, er solle mitkommen, oder hat er es von sich aus getan?«

Ish beobachtete den Sohn gespannt. Er merkte, daß diese Frage Bob überraschte, aber nicht eben verstörte.

»Ach, das weiß ich nicht mehr. Ich weiß nicht, ob ich ihn gefragt habe. Vielleicht hat Dick es getan. Er kann einen Haufen komischer Geschichten erzählen, dieser Charlie. Er ist ein feiner Kerl.« Komische Geschichten, ja, und man konnte sich unschwer vorstellen, welcher Art sie waren. Sie alle waren damals ziemlich offenherzig und frei in ihrer Ausdrucksweise; der Begriff des Unanständigen, so konnte man sagen, war hingeschwunden, zum guten Teil, weil es in ihrem Wortschatz jeweils nur ein einziges Wort für jedes Ding gab, wenigstens was die Jüngeren betraf. Das Unanständige und Schlüpfrige schien eines natürlichen Todes verblichen zu sein, vielleicht als Widerspiel zum Hinsterben der romantischen Liebe. Aber Charlie — der war wohl noch imstande, schmutzige und schlüpfrige Geschichten erzählen. Obschon er, wenn es um dergleichen Geschichten ging, niemals prüde gewesen war, merkte Ish, wie seine ursprüngliche Abneigung sich fast in Widerwillen verwandelte, obwohl er sich unablässig uergegenwärtigte, daß er ja im Grunde nicht das mindeste von Charlie wisse, außer der Meinung der Jungs, Charlie sei ein feiner Kerl. In Ish stieg der Wunsch auf, die Wasserversorgung möchte nie zu funktionieren aufgehört und sie zu dem Verlangen getrieben haben, etwas für die Zukunft zu tun; denn eben dadurch war dieser fremde Mann zu ihnen gekommen.

Nach dem Abendessen wurde am Hügelhang ein großes Freudenfeuer entfacht, um das sich alle versammelten. Die Jungens sangen und trieben dummes Zeug. Es war eine ausgelassene Feierstunde.

Alle waren gespannt; aber die Jungs rückten erst nach und nach mit ihrem Bericht heraus … Auf der großen Staatsstraße nach Los Angeles waren sie nur durch ein paar unbedeutende Unterspülungen und Erdrutsche behindert worden; der Jeep mit seinem Vierrad-Antrieb hatte sie ohne weiteres gemeistert. Die Schar der religiösen Fanatiker, die sich als das Volk Gottes bezeichneten, lebte in Los Angeles.

Von Los Angeles aus hatten die Jungs die nach Osten führende 66 eingeschlagen. Die große Straße quer durch die Wüste war offen und leicht zu bewältigen gewesen, abgesehen von einer sandüberwehten Stelle. Auf der Weiterfahrt hatten ihnen lediglich dann und wann Reifenpannen zu schaffen gemacht. Die Brücke über den Colorado-Strom war zwar wackelig, aber noch passierbar gewesen.

Die nächste Gemeinschaft, auf die sie gestoßen waren, befand sich, wie es schien, in einem der alten Indianer-Pueblos bei Albuquerque. Soweit er aus den Schilderungen der Jungs klug wurde, kam Ish zu der Meinung, daß die paar Dutzend Menschen jener Gemeinschaft nicht von völlig dunkler Hautfarbe waren und daß es sich zum überwiegenden Teil wohl um Indianer handelte, weil ihre Lebensform auf dem Anbau von Mais und Bohnen beruhte, wie es die Pueblo-Indianer seit vielen Hunderten von Jahren gehalten hatten. Nur ein paar der älteren Leute hatten Englisch gesprochen. Auch diese Gemeinschaft beschränkte sich auf sich selbst und blickte voller Argwohn auf die Fremden. Die Menschen dort hatten Pferde. Autos benutzten sie nicht, und sie zogen nur selten in eine Stadt.

Von dort aus waren die Jungs nordwärts nach Denver abgebogen, und dann waren sie gen Osten durch das Flachland gefahren.

»Überall Haufen von Vieh!« Jetzt griff Dick den Faden des Berichts auf. »Überall Vieh, nichts als Viehherden sieht man da.«

»Habt ihr auch die großen braunen Rinder mit den Buckeln über den Schultern gesehen?« fragte Ish.

»Ja, ein paar solche haben wir gesehen«, sagte Dick.

Dann waren sie weitergefahren, und nun waren die Straßen häufiger blockiert gewesen; denn nun waren sie in eine feuchtere Gegend mit üppigerem und schnellerem Pflanzenwuchs und schwereren Regengüssen gekommen, die im Winter von harten Frösten abgelöst wurden. Die Landstraßen waren durch die Einwirkung des Frostes in große Stücke und Blöcke zerrissen, und in allen Ritzen und Sprüngen der Oberfläche wuchsen Gras und Unkraut, und selbst Gestrüpp und junge Bäume hinderten die Fahrt.

»Dann kamen wir an den breiten Fluß«, erzählte Bob. »Er ist der breiteste von allen, aber die Brücke war gut.«

Sie waren nach Chicago gelangt; doch das war nur eine aus öden, leeren Straßen bestehende Wüste gewesen.

Bei der Ausfahrt aus Chicago hatten die Jungs sich in der Unzahl der Straßen, der Umleitungen und Zufahrten verfahren, sie waren, da der Tag wolkig und trübe gewesen war, von ihrer Richtung abgekommen und nach Süden anstatt nach Osten gefahren.

»Daraufhin«, sagte Bob, »holten wir uns aus einem Laden eins von den Dingern, die die Richtung anzeigen …« Er suchte nach der Bezeichnung dafür und sah Ish an.

»Ja, einen Kompaß«, sagte Ish.

»Vorher hatten wir keinen gebraucht; aber jetzt benutzten wir ihn und fuhren wieder ostwärts, bis wir an den Fluß kamen, über den wir nicht hinüber konnten.«

Ish überlegte schnell, daß das der Wabash gewesen sein könne. Zweiundzwanzig Jahre Hochwasser, oder, was wahrscheinlicher war, ein einziges großes Hochwasser hatte die Brücken hinweggeschwemmt. Nachdem sie weiter nach Süden gefahren waren und keinen Übergang gefunden hatten, hatten die Jungs sich wieder nordwärts wenden und auf die Staatsstraße 6 zurückkehren müssen, die zum überwiegenden Teil auf höher gelegenem Gelände verlief.

Es war immer mühseliger geworden, nach Osten vorzudringen.

»Und dann kam ein kalter Tag mit Nordwind«, bekannte Dick, »und wir bekamen Angst. Wir mußten daran denken, was du uns über den Schnee erzählt hattest, und wir glaubten, wir kämen nie wieder nach Haus.«

Irgendwo, wahrscheinlich in der Nähe von Toledo, hatten sie kehrtgemacht. Nachdem sie gewendet hatten, war eine Art Panik über sie gekommen. Gleichzeitig begannen heftige Regengüsse zu fallen, und die Straßen waren oftmals überflutet. Sie fürchteten, einige der Brücken über die größeren Flüsse würden hinweggeschwemmt sein, so daß sie von ihrer Gemeinschaft abgeschnitten wären. Sie hatten es gar nicht erst versucht, Ishs Wunsch entsprechend nach Süden auszuweichen, sondern waren auf dem gleichen Weg zurückgefahren, den sie auf der Hinfahrt benutzt hatten. Deshalb hatten sie bei der Heimreise wenig kennengelernt, was sie nicht schon auf ihrer Fahrt nach Osten wahrgenommen hatten.

Ish machte ihnen keinen Vorwurf daraus. Er meinte, sie hätten entschlossen und intelligent gehandelt.

Die Kinder umtanzten unter Geschrei das Freudenfeuer.

Ish saß da, schaute zu und dachte nach. Das Hauptergebnis der Expedition war nicht die Entdeckung gewesen, daß das Land wieder in Wildnis zurücksank. Das hätte man ohnehin wissen können. Das wichtigste war, daß die Verbindung zu zwei anderen Gemeinschaften aufgenommen worden war. Freilich konnte man es nicht gerade als Verbindung bezeichnen, da die anderen Gemeinschaften sich jeder Annäherung Fremder widersetzt hatten. War das aus einem blinden Vorurteil oder aus einem tiefen Instinkt der Selbsterhaltung heraus geschehen?

Aber allein schon das Wissen, daß in Los Angeles und bei Albuquerque Menschen lebten, gedeihende Gemeinschaften — dieses Wissen linderte ein wenig das Grundgefühl der Einsamkeit und des Verlassenseins.

Auf einer einzigen Reise mit dem gleichen Hin- und Rückweg waren zwei kleine Menschengruppen entdeckt worden! Gemessen daran mußte es auf dem Gesamtgebiet der Vereinigten Staaten mehrere Dutzend geben.

Das Tanzen, Jauchzen und Lachen der das Feuer umtobenden Kinder war inzwischen immer zügelloser geworden. Sie spielten jetzt »Peitschenschnur«, was um so aufregender war, als derjenige, der sich am Ende der schwingenden Menschenschlange befand, dem Feuer ausweichen mußte. Plötzlich spürte Ish, wie er erstarrte. Charlie spielte mit! Eingehakt zwischen Dick und Evie brachte er die »Peitschenschnur« in Schwung. Die Kinder waren begeistert, daß ein Erwachsener, und noch dazu dieser Fremde, mit ihnen spielte.

Ish versuchte, seines Unmuts Herr zu werden. Warum denn schließlich nicht? Warum sollte nicht einer der Älteren bei dem Spiel mittun? Ich bin, so dachte er, fast so schlimm wie die Menschen in Los Angeles und Albuquerque, die von Fremden nichts wissen wollten! Und dennoch würde ich mich anders einstellen, wenn dieser Charlie ein anderer Mensch wäre.

Doch trotz aller seiner Bemühungen fühlte Ish sich außerstande, dem tief wurzelnden Widerwillen zu wehren. Er fing an, seine Hochachtung vor der Fahrt der Jungs zu überprüfen. So bedeutsam die Entdeckung weiterer Gemeinschaften auch für die ferne Zukunft werden konnte: augenblicklich ging es um Charlie.

Inzwischen war es spät geworden, und Mütter suchten ihre Kinder zusammen. Nun das Fest aus war, gingen die meisten der Älteren mit Ish und Em nach Haus, um mehr von den beiden Jungs und von Charlie zu erfahren.

»Setz dich hierher«, sagte Ezra zu Charlie und deutete auf einen großen Sessel, der vor dem Kamin stand. Es war ein Ehrenplatz, und noch dazu ein bequemer, und Ish dachte, wie bezeichnend es für Ezra sei, so schnell Sinn für menschliche Beziehungen und Verhältnisse zu zeigen. Obwohl er der Hausherr und Gastgeber war hatte er nicht daran gedacht, und so hatte er Charlie nicht in der rechten Weise willkommen geheißen. Dann jedoch fragte er sich in blitzschneller Reaktion, ob er denn tatsächlich gewünscht habe, Charlie möge sich behaglich fühlen.

Es war ein kalter Abend, und Ezra bat, das Feuer möge angesteckt werden. Die Jungs schleppten Holz herein, und bald brannte ein lustiges Feuer im Kamin. Es wurde behaglich warm im Zimmer.

Man plauderte, und wie stets übernahm Ezra die Führung der Unterhaltung. Charlie bat um etwas Trinkbares. Jack brachte ihm eine Flasche Kognak und ein Glas. Er trank in regelmäßigen Abständen, langsam und hingebungsvoll, wie ein Gewohnheitstrinker. Nichts deutete an, daß er angeregt oder gar betrunken wurde.

»Mich friert noch immer«, sagte Ezra.

»Du bist doch nicht etwa krank?« fragte Em.

Auch Ish spürte ein Frösteln des Mißbehagens. Krankheit war etwas dermaßen Ungewöhnliches, daß allein schon die Erwähnung auffiel.

»Ich weiß nicht recht«, sagte Ezra. »Wenn wir noch in den Alten Zeiten lebten, würde ich meinen, ich hätte mich erkältet. Natürlich kann das auch jetzt der Fall sein.«

Es wurde mehr Holz ins Feuer geworfen, und nun wurde es dermaßen ungemütlich heiß im Zimmer, daß Ish seinen Pullover auszog und in Hemdsärmeln dasaß. Darauf zog auch Charlie den Rock aus und knöpfte sich die Weste auf, aber er legte sie nicht ab.

George lehnte sich behaglich auf dem Sofa zurück und nickte ein.

Ish konnte jetzt feststellen, daß Ezra die Unterhaltung hierhin und dorthin schwingen ließ, um über Charlie mehr herauszubekommen. Aber es hätte gar keiner Kunstgriffe bedurft; denn Charlie sprach sich unumwunden aus, wenn die Rede auf ihn kam.

»Ja, als sie dann tot war …«, sagte er. »Ja, als meine Frau tot war, da hatte ich keine Lust mehr, länger da zu bleiben, oder da in der Gegend. Als dann eure Jungs vorbeikamen und sie mir gefielen, da habe ich einfach zugegriffen und bin mitgekommen.«

Als Charlie sprach, begann Ish zu fühlen, daß sein Inneres in der entgegengesetzten Richtung ausschwang. Die Jungs hatten Charlie außerordentlich gern, und sie waren schon eine Zeitlang mit ihm zusammen gewesen. Aus Charlie sprach Kraft, und er war auch nicht ohne Witz. Vielleicht war es doch gut, wenn er in der Gemeinschaft blieb. Ish nahm jetzt die dicken Schweißtropfen auf Charlies Stirn wahr.

»Charlie«, sagte er, »Sie sollten lieber die Weste ausziehen und es sich bequem machen.« Charlie stutzte, sagte aber nichts.

»Es tut mir so leid«, sagte Ezra. »Aber ich weiß wirklich nicht, was mit mir los ist. Vielleicht täte ich besser, nach Haus und zu Bett zu gehen.« Doch er schickte sich durchaus nicht zum Fortgehen an.

Sie veranlaßten Charlie, mitsamt seiner Kognakflasche sich auf einen weiter vom Feuer entfernten Stuhl zu setzen; aber seine Weste behielt er an.

Charlie saß da, und die beiden Haushunde kamen herein und beschnüffelten ihn. Augenscheinlich interessierten sich sogar die Hunde für den Fremden; er mußte eine Fülle neuer Gerüche ausströmen. Aber sie witterten, daß der Fremde in den Kreis aufgenommen worden war. Anfangs verhielten sie sich neutral; doch dann streckten sie sich behaglich, als Charlie sie hinter den Ohren kraulte und ihnen den Rücken klopfte. Sie wedelten.

Schließlich erwachte George aus seinem Nickerchen, reckte seinen dicken Körper und stand auf, wobei er sagte, daß es nun für ihn Zeit sei, heim und ins Bett zu gehen. Die andern schickten sich an, ihn zu begleiten. Ish wußte, daß Ezra ihm noch ein paar Worte unter vier Augen zu sagen hatte, als er ging, und so zog er ihn in die Küche.

»Ist dir nicht wohl?«

»Mir? Wieso?« fragte Ezra. »Nie im Leben habe ich mich besser befunden.«

Ezra lächelte, und Ish begann ein Licht aufzugehen. »Dann ist dir gar nicht kalt gewesen?« fragte er.

»Nie im Leben ist mir weniger kalt gewesen«, sagte Ezra. »Ich habe bloß sehen wollen, ob wir Charlie dahin brächten, seine Weste auszuziehen. Ich habe nicht geglaubt, daß wir es fertigbrächten. Er mag sich nicht von ihr trennen. Ich bin übrigens sicher, daß ich recht gesehen habe. Seine eine Westentasche war ein bißchen dick. Und darin hat er so ein kleines Ding stecken, wie es früher die Damen in ihren Handtaschen trugen — so ein kleines, schmales Stück Stahlfabrikat!«

Ish überkam es wie eine Erleichterung. Nur eine simple Pistole — damit würde man schon fertig werden können. Seine Erleichterung schwand freilich hin, als Ezra fortfuhr:

»Ich wollte, ich wüßte ganz genau, woran ich mit ihm bin. Manchmal glaube ich, er ist gefährlich und niederträchtig, und schmutzig und gemein — bis zum tiefsten Seelengrunde. Manchmal glaube ich, er wird mein bester Freund. Im übrigen meine ich, er ist einer, der ganz genau weiß, was er haben will, und der es im allgemeinen auch bekommt.«

Als sie wieder ins Wohnzimmer kamen, ging George gerade fort.

»Dies ist seit langer Zeit das beste, was uns widerfahren ist«, sagte er zu Charlie. »Wir brauchten noch einen starken Mann. Wir hoffen, daß du bei uns bleibst.«

Die andern stimmten dem im Chor lebhaft zu, als alle, auch Charlie und Ezra, zur Tür hinausgingen.

Ish blieb mit seinen Gedanken allein. Er hatte versucht, seinerseits in den Chor einzustimmen; aber plötzlich war seine Zunge steif gewesen und sein Mund trocken. Alles, was er jetzt denken konnte, war: »Gefährlich und niederträchtig und gemein und schmutzig — bis zum tiefsten Seelengrunde.«

7

Nachdem sie gegangen waren, fiel Ish etwas ein, das er während all dieser Jahre nicht getan hatte. Nachdem er sich entschlossen hatte, es zu tun, war er nicht sicher, ob es überhaupt noch möglich war. Doch als er in die Küche ging, sah er, daß sich tatsächlich ein Riegel an der Hintertür befand. Er konnte sich erinnern, daß seine Mutter ihn hatte anbringen lassen, weil sie kein Zutrauen zu den gewöhnlichen Schlössern hatte. Er schob diesen Riegel vor. Dann ging er zur Haustür und sah, daß daran ein noch brauchbares Sicherheitsschloß war.

In all diesen Jahren hatte keinerlei Notwendigkeit zum Verriegeln einer Tür bestanden. Man brauchte vor keinem Mitglied der Gemeinschaft Angst zu haben; kein Fremder, sofern einer gekommen wäre, hätte eine Möglichkeit gehabt, unbehelligt an den Hunden vorbeizukommen. Doch nun war jemand da, dem man vielleicht nicht trauen durfte, und dieser Jemand hatte sich mit den Hunden angefreundet. Hatte er die Hunde etwa aus Berechnung gestreichelt?

Als Ish zu Bett gegangen war und seine Befürchtungen Em anvertraute, fand er wenig Gehör. Manchmal, dachte er, ließ sie allzusehr den Dingen ihren Lauf.

»Was ist denn so auffällig daran, daß er eine Pistole bei sich hat?« fragte sie. »Du trägst doch auch häufig eine mit dir herum!«

»Aber nicht heimlich! Und ich habe auch keine Angst, meine Weste auszuziehen und mich von meiner Waffe zu trennen.«

»Ja, aber du mußt ihm zugestehen, daß er nervös war und sich noch nicht als zu uns gehörig betrachtete. Du magst seine Augen nicht; vielleicht mag er deine auch nicht. Er befindet sich unter Fremden — und sie sind in der Überzahl!«

Ish spürte, wie ihn ein Widerwille, der an Wut grenzte, gegen Charlie, den Eindringling, überkam.

»Ja!« sagte er, »aber wir sind hier auf unserem Grund und Boden; dies ist unsere Wohnstätte; er platzt hier herein; also muß er sich uns anpassen, und nicht wir uns ihm.«

»Vermutlich hast du recht, Liebling. Aber laß uns heute nicht länger darüber reden. Ich möchte gern schlafen.«

Wenn Ish je Em um etwas beneidet hatte, so war es ihre Fähigkeit, auf der Stelle einzuschlafen, wenn sie sagte, jetzt wolle sie schlafen. Je angestrengter er indessen dachte, jetzt wolle er schlafen, desto kräftiger setzte sein Denken ein, und er konnte es nicht ausschalten, so gern er es auch getan hätte. Jetzt spürte er wieder, wie es einsetzte. Denn plötzlich kam ihm ein neuer Gedanke, der ihn tief betroffen machte. Das Ärgerliche war, so meinte er, daß er glauben mußte, er sei in eine persönliche Auseinandersetzung mit Charlie verstrickt. Wenn der »Stamm« eine feste Organisation bildete, wenn eine symbolische Einheit bestünde, durch die sie alle zu einer festen Front zusammengeschlossen würden, so besäße die Ankunft eines Fremden, so stark er als Individuum auch sein mochte, nur untergeordnete Bedeutung. Nun war es wohl zu spät. Der Fremde war bereits da, und er mußte ihm Mann gegen Mann entgegentreten.

Und Charlie würde kein zu unterschätzender Gegner sein. Er hatte sich bereits die Ergebenheit und Freundschaft Bobs und Dicks gesichert, und das gleiche galt wohl für einige der anderen unter den Jüngeren. Auf George hatte er augenscheinlich Eindruck gemacht.

Ish vermochte sich nicht darüber klarzuwerden, warum jedermann für Charlie Sympathie empfand; doch das änderte nichts an der Tatsache, daß dem so war. Er dachte an die unleugbar hübschen, babyblauen Augen; aber sie waren von einer Kälte, wie dunkle Augen sie niemals aufbrachten.

»Es sind Bärenaugen!« dachte er.

Schließlich aber sagte er sich: »Dies ist nichts als mitternächtliche Geistesverwirrung; es sind lediglich wilde Phantasien, wie sie einen in der Dunkelheit überkommen, wenn man nicht schlafen kann.« Und dann brachte er es dennoch fertig, die Gedanken zu verscheuchen und einzuschlafen.

Am Morgen nahm sich alles besser aus. Leidlich wohlgelaunt aß er sein Frühstück. Es freute ihn, Bob am Frühstückstisch wiederzusehen und auf seine Fragen hin weitere Einzelheiten über die Reise zu erfahren.

Doch gerade, als er anfing, sich recht behaglich zu fühlen, brach alles in ihm zusammen, als Bob sagte:

»Ja, nun will ich mal hinübergehen und mich um Charlie kümmern.«

Ish verspürte den Wunsch, jetzt mit einem väterlichen Ratschlag herauszuplatzen, etwa: »Ich würde mich an deiner Stelle nicht so viel mit diesem Menschen abgeben.« Doch er sah, daß Ems Augen nein sagten, und er selbst wußte nur zu gut, daß solch ein Rat Charlie als einen zu meidenden und eben deshalb desto anziehenderen Menschen erscheinen lassen würde. Wieder fragte er sich, worauf eigentlich die starke Anziehungskraft beruhte, die Charlie auf die beiden Jungs ausübte.

Bob ging, und als die morgendliche Hausarbeit beendet war, verdrückten die andern Kinder sich ebenfalls.

»Worauf beruht diese Anziehungskraft?« fragte Ish Em.

»Ach, ärgere dich nicht«, antwortete sie. »Es ist bloß die Anziehungskraft des Fremden, des Neuen. Ist das nicht ganz natürlich?«

»Es stehen uns Schwierigkeiten bevor!«

»Vielleicht«, sagte Em, und Ish mußte plötzlich daran denken, daß es das erstemal war, daß sie diese Möglichkeit zugestand; dann aber änderte sie die Richtung seiner Gedanken durch eine weitere Bemerkung: »Aber sieh dich vor, daß nicht du es bist, der die Schwierigkeiten auslöst.«

»Wie meinst du das?« fuhr er zornig auf, obwohl es nur selten geschah, daß er Em mit harten Worten bedachte. »Meinst du etwa, dies sei ein Kampf um die Herrschaft?«

»Ich meine, es ist besser, du gehst hinüber und siehst nach, was los ist«, sagte sie und überging einfach seine letzte Frage.

Dieser Rat schien unter allen Umständen gut zu sein; denn vielleicht war auch er neugierig. Doch als er die Tür aufmachte, hatte er ein Gefühl der Unsicherheit. Er zog die Tür hinter sich zu, blieb auf der Vortreppe stehen und überlegte. Seine Hände fühlten sich merkwürdig leer an; irgend etwas fehlte. Er merkte, daß er waffenlos war und erwog, ins Haus zurückzugehen und eine Pistole einzustecken. In der Nähe der Häuser brauchten sie längst keine Schußwaffen mehr bei sich zu führen, weil im Falle einer Gefahr sofort die Hunde anschlugen; aber er konnte sich der Erklärung bedienen, daß er vielleicht weiter weggehen würde. Doch er zögerte noch, weil es ihm einfiel, daß es herausfordernd wirken könne, wenn er mit einer Pistole erschiene — überdies würde es ein Eingeständnis seiner Schwäche und inneren Unsicherheit sein. Aber daß er sich tatsächlich unsicher fühlte — das konnte er nicht leugnen.

Er ging wieder ins Haus hinein und sah den Hammer auf dem Kaminsims stehen. »Das also ist es!« dachte er gereizt. »Du bist genauso blöd wie die Kinder. Du läßt die Vorstellungen der Kinder in dir nachwirken!« Trotzdem ergriff er den Hammer und nahm ihn mit.

Von dort her, wo das Freudenfeuer gebrannt hatte, hörte er Gelächter und ging hin.

Er sah sie, wie er es erwartet hatte, um die Asche des Freudenfeuers versammelt. Fast alle Jüngeren waren da, aber auch Ezra. Sie standen und saßen um Charlie herum, der ihnen etwas erzählte, wobei er lachte und Witze machte. Alles war genauso, wie Ish es erwartet hatte; und erst als er näher kam, überkam ihn ein Kältegefühl, das seinen ganzen Körper durchflutete. Seine rechte Hand griff noch fester zu und umklammerte den Hammerstiel wie ein Schraubstock.

In der Mitte der Gruppe, unmittelbar neben Charlie, saß Evie, die Schwachsinnige, und auf ihrem Gesicht war ein Ausdruck, den Ish nie zuvor gesehen hatte.

Ish war ungefähr zehn Schritte von Charlie entfernt, als er es bemerkte. Er blieb stehen. Ein paar der Kinder hatten ihn erblickt, aber sie lauschten der Geschichte, und so schenkte ihm keiner irgendwelche Beachtung. Er stand da, als sei er gar nicht anwesend.

Er wartete. Die Zeit dünkte ihn lang. Aber er spürte, wie sein Herz pochte.

Er spürte, wie das Kältegefühl wich. Nun war er bereit, zu handeln. Er war beinahe glücklich. Das Problem hatte plötzlich Form gewonnen, und selbst das übelste Problem in unumstößlicher Form war besser als ein in den Winkeln lauernder Nebel. Gegen ein Trugbild des Bösen konnte man nicht ankämpfen.

Während der langen Zeitspanne einiger weiterer Herzschläge stand er da. Das Problem hatte sich enthüllt und war brennend geworden.

Er sah genau hin. Evie saß in der Mitte der Gruppe, während sie für gewöhnlich am äußeren Rande zu finden war. Gewöhnlich schenkte sie dem, was vor sich ging, nur flüchtige Beachtung; jetzt blickte sie zu Charlie auf und schien seine Worte in sich zu trinken, obwohl sie sicherlich nicht allzuviel von dem, was er sagte, verstand. Hier ging es um anderes und um mehr als um das Verlangen, seine Worte zu verstehen. Sie saßen dicht nebeneinander.

Hatten sie sich deswegen, dachte Ish bitter, Evies angenommen?

Er schaute wieder auf die Gruppe, und er nahm an Evie etwas wahr, das ihm nie zuvor so deutlich zum Bewußtsein gekommen war. Evie war, wie er jetzt merkte, eine voll entwickelte Frau, auffällig blond und auf eine besondere Weise schön. Natürlich mußte man von der Seltsamkeit ihrer Augen und der Leere ihres Gesichts absehen. Und dazu war er, Ish, niemals völlig imstande. Doch für einen Mann wie Charlie kam es auf dergleichen nicht an. Ja, Ezra hatte recht: Charlie wußte, was er wollte, und was er wollte, das wollte er schnell. Warum hätte er auch zaudern sollen?

Ish umklammerte den Hammerstiel. Das war tröstlich; aber es war ihm wohl bewußt, daß der Hammer keine Pistole war.

Auf irgend etwas hin, das Charlie gesagt hatte, brach lautes Gelächter aus. Als er wieder zu Evie hinschaute, sah Ish, daß sie ebenfalls lachte; es war ein hohes, unbeherrschtes Gekicher; als sie lachte, streckte Charlie die Hand aus und zwickte sie. Sie schrie auf wie ein kleines Mädchen, hoch und schrill. Als Ish dann näher trat, wurde seine Anwesenheit bemerkt, und alle Augen wandten sich ihm zu. Ish merkte sofort, daß sie auf ihn und einen Rat von ihm gewartet hatten, was nun getan werden sollte. Er ging ruhig auf Charlie zu; seine rechte Hand umklammerte nach wie vor den Hammerstiel, aber er war sorglich bedacht, die linke nicht zur Faust zu ballen, trotz seines aufwallenden Zornes.

Als Ish näher kam, streckte Charlie lässig den rechten Arm aus, umschlang Evie und zog sie eng an sich. Sie schien überrascht, gab aber willig nach. Charlie sah Ish an, und Ish wußte, daß die Entscheidung bevorstand.

Ish nahm die Herausforderung wortlos an; er war jetzt ruhiger. Der Augenblick war nicht danach, daß man sich den Kopf durch Zorn trüben lassen durfte. Nun es etwas zu tun galt, konnte er klarer denken.

»Ihr alle verschwindet jetzt für eine Weile!« sagte er laut. Es bedurfte keiner Höflichkeitsformeln und Entschuldigungen; alle wußten, daß etwas geschehen würde.

»Ich möchte hier ein paar Minuten etwas mit Charlie unter vier Augen besprechen. Ezra, du bringst Evie hinüber zu Molly; sie muß gekämmt werden.«

Es erhob sich kein Widerspruch; alle gingen so bereitwillig weg, daß man meinen konnte, sie seien ein bißchen erschrocken. Doch indem er Ezra fortschickte, verlor Ish seinen besten Bundesgenossen; aber wenn er ihn dabehalten hätte, wäre das ein Eingeständnis der Schwäche vor allen anderen gewesen, vor allem vor Charlie.

Nun waren die beiden allein. Charlie war sitzen geblieben. Er tat auch gar nicht, als wolle er aufstehen, und so setzte Ish sich gleichfalls. Charlie trug seine Weste, obwohl er keinen Rock anhatte.

Ish sah nicht ein, weshalb er erst lange auf den Busch klopfen sollte.

»Alles, was ich Ihnen sagen möchte, ist dieses: Finger weg von Evie!«

Auch Charlie gab sich unumwunden.

»Wer sagt das?«

Ish überlegte seine Worte, ehe er sprach.

»Ich sage das!« erklärte er schließlich.

Charlie gab keine Antwort; er saß einfach da. Er nahm ein paar kleine Steine vom Boden auf, rieb sie lässig in der linken Hand gegeneinander und warf sie hierhin und dorthin. Deutlicher hätte er seine Geringschätzung nicht zum Ausdruck bringen können.

Schließlich tat Charlie den Mund auf. »Es gibt einen Haufen alter Weisheitssprüche, die man herbeten kann, wenn einer zu einem sagt: Ich sage das! Sie kennen den Quatsch; also wollen wir darauf verzichten. Schließlich bin ich ein vernünftiger Mensch. Warum sagen Sie mir nicht rundheraus, warum ich die Finger von Evie lassen soll? Sie ist Ihr Mädchen, was?«

Ish antwortete auf der Stelle.

»Es handelt sich um folgendes«, sagte er. »Die Sache ist ziemlich einfach. Wir sind hier eine Schar von netten Leuten, vermutlich keine Geistesriesen, aber es ist auch keiner ein ausgesprochener Stumpfbold. Wir haben kein Verlangen danach, daß ein Haufen Schwachsinniger zwischen uns herumläuft, also die Art von Kindern, die Evie haben würde.«

Erst als er zu sprechen aufhörte, merkte er, daß er, indem er sich auf die Beantwortung von Charlies Frage beschränkte, einen Fehler begangen hatte. Wie jeder Intellektuelle war er nur zu froh gewesen, daß er mit dem Kommandieren aufhören und mit dem Argumentieren beginnen konnte, und damit hatte er zugestanden, daß sein Kommando unwirksam sei. Jetzt merkte er, daß er wider Willen an die zweite Stelle gerückt und daß Charlie der Führer war.

»Den Teufel auch!« sagte Charlie. »Wie kommen Sie eigentlich zu der Meinung, das Mädchen sei die ganze Zeit hier herumgelaufen und hätte nicht längst von all den Jungs hier haufenweise Kinder gehabt, wenn sie überhaupt welche bekäme?«

»Die Jungs haben Evie nie angerührt«, sagte Ish. »Sie sind mit ihr aufgewachsen; sie war tabu. Außerdem sind die Jungs so früh wie möglich verheiratet worden.«

Schon wieder argumentierte er, und vielleicht standen seine Argumente auf schwachen Füßen.

»Das sagen Sie!« Charlies Worte klangen selbstsicher; seine Stimme war die eines beherrschten Mannes. »Eigentlich können Sie von Glück sagen, daß ich mir gerade die herausgefischt habe — die einzige, die alt genug und die noch nicht verheiratet ist. Was wäre denn, wenn ich eine andere gemocht hätte, und sie mich? Dann wäre ein schönes Durcheinander entstanden. Freuen Sie sich lieber, daß ich so nett war.«

Ish rang wild nach Worten. Was konnte denn jetzt noch gesagt werden? Man konnte doch nicht mit der Polizei drohen und sagen, der Staatsanwalt würde sich der Sache annehmen.

Nein, hier waren alle Worte überflüssig. Ish stand auf, machte auf den Hacken kehrt und ging davon.

Er kostete alle Tiefen der Verbitterung aus, als er seinem Hause zuschritt.

Als er dann die Tür des alten Hauses durchschritt, wartete Em auf ihn. Er legte den Hammer nieder. Er nahm sie in die Arme, oder vielleicht nahm sie ihn in ihre Arme; er wußte es nicht sicher.

Aber danach fühlte er neues Selbstvertrauen in sich. Letzte Nacht waren sie über Charlie verschiedener Meinung gewesen; doch im Grunde wußte er, daß sich sein Selbstvertrauen durch ihre Nähe immer erneuern würde.

Sie setzten sich auf das Sofa, und er erzählte ihr, was geschehen war. Er wartete nicht ab, daß sie ihm sagte, was sie darüber dachte; er spürte, wie ihr Mitgefühl ihn überflutete und einhüllte.

Schließlich sagte sie:

»Das hättest du nicht tun sollen! Du hättest dir die Jungs als Rückendeckung holen sollen. Er hätte dich niederschießen können. Deine Stärke ist das Denken und das Wissen; solch einem Kerl gegenüber kannst du nichts ausrichten.«

Dann begann sie, die Sache in die Hand zu nehmen.

»Hol dir jetzt Ezra und George und die Jungs«, sagte sie. »Nein, ich schicke eins von den Kindern hin. So kann es nicht weitergehen; es muß besprochen werden, was mit ihm und uns zu geschehen hat!«

George kam als erster, und kurz nach ihm Ezra. Ish gewahrte, daß Ezras behende Augen von George zu Em und wieder zurückglitten. »Er hat irgend etwas«, dachte Ish. »Aber er will es nur mir sagen.« Doch Ezra machte keinen Versuch, eine Gelegenheit zu finden. Statt dessen schaute er schließlich einigermaßen verlegen auf Em.

»Molly hat Evie in einem der oberen Zimmer einschließen müssen«, sagte er. Ish spürte deutlich, wie hart es Ezra als einem höflichen und gebildeten Menschen ankam, daß er vor anderen Leuten auf diese Weise von dem Leidenschaftsausbruch sprechen mußte, der das schwachsinnige Mädchen nach den Liebkosungen durch einen Mann heimgesucht hatte.

»Sind Vorkehrungen getroffen, daß sie nicht aus dem Fenster springen kann?« fragte Ish.

»Ich glaube nicht«, antwortete Ezra.

»Ich könnte ein paar Latten davornageln«, sagte George eifrig. »Wir könnten irgendwas quer über das Fenster nageln.«

Alle lachten ein bißchen, trotz des Ernstes der Lage.

In diesem Augenblick kamen Jack und Roger, Ishs Söhne, herein, und nach ihnen Ralph, der letzte des Trios.

Das Kommen der Jungs führte eine kleine Entspannung herbei; man setzte sich und machte es sich bequem. Sogleich war Ish sich darüber klar, daß alle erwarteten, er würde jetzt etwas sagen, und ihm war wieder, als vollziehe sich alles viel zu schnell. Er sah sich einer Aufgabe gegenüber, die fast der Organisation eines neuen Staates glich. Aber schließlich konnten sie nicht ruhig beeinander sitzen und mit der Niederschrift einer Verfassung mit alterprobten Einleitungssätzen beginnen. Nein, sie sahen sich einer besonderen, ärgerlichen Lage gegenüber, und jetzt mußte gehandelt werden.

So stellte er denn die eindeutige Frage: »Was müssen wir in bezug auf Evie und diesen Charlie tun?«

Es erhob sich ein Durcheinander von Gerede, und sogleich überrieselte es Ish kalt bei der Erwägung, daß von all diesen Menschen nur Ezra mit ihm übereinstimmte. Die Jungs und sogar George schienen zu meinen, daß Charlie eine von außen her wirkende Kraft zur Anfachung und Bereicherung des Daseins des »Stammes« darstellte. Wenn er Evie mochte, dann desto besser. Sie empfanden genug Respekt Ish gegenüber, daß sie darauf bestanden, Charlie müsse sich des Vorkommnisses am Morgen wegen entschuldigen. Aber Ish spürte deutlich, daß sie alle der Ansicht waren, er habe voreilig gehandelt — er hätte sich mit den anderen aussprechen müssen, ehe er Charlie entgegentrat.

Ish warf das Argument in die Debatte, sie könnten es nicht zulassen, daß Evie schwachsinnige Kinder in die Welt setzte. Doch seine Worte machten weniger Eindruck, als er erwartet hatte. Evie hatte von jeher einen Teil des Lebens der Jungs gebildet, und der Gedanke, andere, ihr ähnliche Menschen könnten um sie sein, schuf ihnen wenig Unbehagen. Sie konnten nicht weit genug denken, um sich vorzustellen, daß Evies Nachkommenschaft sich notwendigerweise mit den übrigen mischen und das Gesamtniveau herabdrücken würde.

Seltsamerweise brachte Georges langsamer Geist einen vernünftigen Einwand vor: »Wie können wir denn wissen«, sagte er, »ob sie tatsächlich schwachsinnig ist? Vielleicht kommt es nur daher, daß sie es als kleines Mädchen hat erleben müssen, daß alle um sie her starben und sie ganz allein blieb und für sich sorgen mußte. Darüber hätte jeder andere ebenfalls verrückt werden können. Vielleicht ist sie im Grunde so wenig auf den Kopf gefallen wie wir übrigen, und dann werden ihre Kinder ganz normal.«

Obwohl sich Ish nicht vorstellen konnte, daß Evie jemals normale Kinder haben würde, gab er zu, daß dieser Einwand seine Berechtigung habe, und er merkte, daß er auf die anderen Eindruck gemacht hatte, Ezra ausgenommen. Sie schienen alle der Ansicht zu sein, Charlie sei ein Wohltäter der Gemeinschaft. Nun aber sah Ish, daß Ezra tatsächlich etwas vorzubringen wünschte.

Ezra stand auf. Sein Gesicht war stärker gerötet als sonst; er schaute hierhin und dorthin, zumal auf Em, wie es schien, und er war seiner selbst nicht sicher.

»Ich möchte noch etwas sagen«, sagte er. »Gestern nacht, als wir heimgegangen waren, habe ich mit dem Burschen, dem Charlie, noch eine Weile geredet. Er hatte tüchtig getrunken, wie ihr wißt, und so hat er ziemlich frei von der Leber weg geredet.« Er hielt inne, und Ish nahm abermals seinen halb verlegenen Blick in Richtung auf Em wahr. »Er hat sich mächtig aufgespielt, wißt ihr.« Und jetzt sah Ezra die Jungs an, als fiele ihm ein, daß diese armen Halbwilden vielleicht gar nicht verstehen würden, wovon hier ein gebildeter Mensch sprach. »Er hat ein bißchen über sich selbst aus der Schule geplaudert, ganz wie ich es gewollt habe.«

Abermals hielt er inne, und Ish konnte sich nicht erinnern, Ezra je in einem solchen Zustand gesehen zu haben.

»Weiter, Ezra«, sagte er. »Erzähl es uns. Wir sind ja unter uns.«

Plötzlich schwanden Ezras Hemmungen. »Dieser Bursche, dieser Charlie!« brüllte er. »Der ist innerlich verdorben wie ein zehn Tage alter Fisch! Er ist krank, geschlechtskrank ist er. Den Teufel auch, er hat alle Geschlechtskrankheiten gehabt, die es überhaupt gibt!«

Ish sah, wie Georges dicker Körper bei dieser Enthüllung zusammenzuckte, als habe er einen Kinnhaken bekommen. Er sah, wie Röte Ems bräunliches Gesicht überflutete. Den Jungs sagte die Enthüllung nicht das mindeste. Sie wußten gar nicht, wovon Ezra sprach.

Ezra wollte nicht versuchen, es ihnen zu erklären, ehe nicht Em das Zimmer verlassen hatte, und selbst dann hatte er seine liebe Not damit, weil der Begriff der Geschlechtskrankheiten für die Jungs etwas völlig Nebelhaftes war.

Als Ezra es auseinanderzusetzen versuchte, saß Ish da und spürte förmlich, wie seine Gedanken sich überschlugen.

»Schick die Jungs hinaus!« sagte er plötzlich zu Ezra. »Dies müssen wir Männer besprechen und dann eine Entscheidung treffen.« Die Jungs, so war ihm eingefallen, waren in doppelter Beziehung fehl am Platze — sie kannten die Gefahren nicht, die einer Gemeinschaft durch einen Geschlechtskranken drohten, und sie kannten die Macht nicht, die jeder Gesellschaft eingeräumt war, wenn es ihrer Verteidigung galt.

Die Jungs trotteten hinaus; trotz ihres Alters, ihrer Körpergröße und ihrer Vaterschaft schienen sie wieder zu Kindern geworden zu sein. »Haltet den Mund über diese ganze Geschichte«, rief Ezra ihnen nach.

Als die Jungs draußen waren, wandten die drei älteren Männer sich wieder einander zu.

»Auch Em kann wieder hereinkommen«, sagte Ezra. Em kam, und nun waren sie zu viert.

Eine Minute schwiegen sie, als drohe ihnen eine unmittelbare Gefahr.

»Nun, was meint ihr?« sagte Ish aus dem Wissen heraus, daß er jetzt wieder die Führerschaft übernehmen müsse.

Als auf diese Weise das Schweigen gebrochen war, sprachen sie die Lage vorbehaltlos durch. Vor allem stimmten sie darin überein, daß der »Stamm« das Recht zum Selbstschutz besitze und es ausüben müsse. Es ging hier nicht um Gesetz und Gericht, sondern vor allem um Selbstschutz, und dazu konnte sowohl eine Gemeinschaft als auch ein einzelner aufrufen.

Aber selbst wenn man das Recht und die Notwendigkeit zugestand: welches sollten die Mittel sein?

Das Nächstliegende war Verbannung. Sie konnten ihn aus der Gemeinschaft ausstoßen und ihm sagen, er solle seines Weges gehen. Durchschlagen würde er sich schon können. Wenn er wiederkam, drohte ihm die Todesstrafe.

Tod — bei der bloßen Erwähnung zuckten sie unwillkürlich zusammen! Es war gar zu lange her, daß es Kriege oder Hinrichtungen gegeben hatte. Daß ihre Gemeinschaft solch eine unwiderrufliche Strafe verhängen sollte — allein schon der Gedanke machte sie seltsam betroffen.

»Was also soll geschehen?« Em schien den Befürchtungen Ausdruck zu geben. »Wenn er nun aber dennoch heimlich wiederkommt? Denn schließlich sind wir nur ein paar ältere Leute, und mit den jüngeren kann er sich leicht anfreunden. Was soll werden, wenn er mit ein paar von den Jungs Freundschaft schließt und sie ihn schützen? Und er könnte ja auch mit ein paar von den Mädchen Freundschaft schließen, nicht nur mit Evie.«

»Wir müßten ihn auf der Landstraße möglichst weit wegbringen«, sagte Ezra. »Wir müßten ihn in den Jeep packen und ihn hundert oder vielleicht zweihundert Kilometer von hier wegbringen.« Dann aber, nach einer Pause, verbesserte er sich: »Ja, aber dann könnte er immer noch innerhalb eines Monats oder so mit Leichtigkeit wieder hier sein … ich mußte gerade daran denken, was ihn davon abhalten sollte, hier mit einem Gewehr herumzulungern und einen von uns zu erschießen. Ich habe keine Lust, den Rest meines Lebens fortwährend in Angst zu sein, er könne mit seinem Gewehr hinter jedem Busch auf der Lauer liegen.«

»Ihr könnt keinen Menschen für das bestrafen, was er noch nicht getan«, sagte George bockig.

»Warum nicht?« fragte Em mit scharfer Stimme. Alle wandten sich hastig ihr zu; aber sie schwieg.

»Nein … das könnt ihr nicht … natürlich könnt ihr das nicht«, sagte George. »Erst muß er was ausfressen, und dann das Gericht. So sagt … das Gesetz.«

»Welches Gesetz?«

Es entstand eine Pause, und dann schleppte das Gespräch sich hin, als bringe keiner den Mut auf, Em rückhaltlos zu folgen.

Aus der Empfindung heraus, daß er vorsichtig sein müsse, brachte Ish einen anderen Gesichtspunkt vor.

»Natürlich wissen wir nicht, ob er tatsächlich geschlechtskrank ist. Wir haben keinen Arzt, der es feststellen könnte. Vielleicht hat er früher mal so etwas gehabt. Vielleicht hat er sich nur damit aufgespielt. Manche Menschen tun das!«

»Das ist es eben!« sagte Ezra. »Da wir keinen Arzt haben, tappen wir im dunkeln. Ja, vielleicht hat er sich nur aufgespielt. Aber wollen wir uns der Gefahr aussetzen? Meiner Meinung nach ist der Bursche krank. Er bewegt sich langsam, als mache ihm irgend etwas zu schaffen.«

Jetzt ergriff Em das Wort.

»Ich habe gefragt: Welches Gesetz?« sagte sie. »Vermutlich gibt es noch die Gesetze in den alten Gesetzbüchern. Sie haben nur wenig Bedeutung für uns, nun alles ganz anders geworden ist. Wie George gesagt hat: das alte Gesetz wartete, bis jemand etwas ausgefressen hatte, und dann kam die Strafe. Aber das Geschehnis ließ sich nicht aus der Welt schaffen. Können wir jetzt die Verantwortung dafür übernehmen? Da sind alle die Kinder …«

Sie schien nichts mehr zu sagen zu haben. Alle saßen schweigend, und jeder erwog die Möglichkeiten.

»Nein«, dachte Ish. »Eine Philosophie hat sie nicht. Sie erwähnt die Kinder und macht daraus einen Sonderfall. Aber sie trägt vielleicht etwas Tieferes als Philosophie in sich. Sie ist Mutter; ihr Denken ist den Grundelementen alles Lebens näher.«

Vielleicht war eine weniger lange Zeit vergangen, als es ihnen allen vorkam. Dann fing Ezra zu sprechen an.

»Während wir hier sitzen, ist vielleicht … es geschieht alles in dieser Zeit sehr rasch! Es wäre besser, wenn wir etwas unternähmen.« Und dann fügte er noch hinzu, und es klang, als denke er laut: »Ich habe damals viele gute Menschen sterben sehen. Ja, es sind viele gute Menschen gestorben. Ich habe mich beinahe an den Tod gewöhnt … nein, ganz nicht.«

»Sollen wir nicht lieber abstimmen?« fragte Ish.

»Worüber?« fragte George.

Abermals entstand eine Pause.

»Ob wir ihn wegschaffen wollen«, sagte Ezra, »oder … das andere. Einsperren können wir ihn nicht, und was bliebe uns sonst zu tun übrig?«

Da faßte Em kurz entschlossen das Ergebnis zusammen.

»Wir können für Verbannung stimmen, oder wir können für Tod stimmen.«

Es lag viel Papier auf dem Wohnzimmertisch. Die Kinder zeichneten gern darauf. Nach einigem Suchen brachte Em vier Bleistifte zusammen. Ish riß einen Papierbogen in vier kleine Zettel, behielt einen und verteilte die übrigen an die drei andern. Bei vier Abstimmenden konnte natürlich Stimmengleichheit herauskommen.

Ish nahm seinen Zettel, schrieb ein großes V darauf und hielt dann inne.


Dies tun wir ohne Hast; dies tun wir ohne Leidenschaft, dies tun wir ohne Haß.

Dies ist keine Schlacht, in der der Mensch kämpft, angetrieben von der Furcht. Dies ist kein Streit zwischen zweien, die um Lebensraum oder um die Liebe einer Frau kämpfen.

Knüpft das Seil; wetzt die Axt, mischt das Gift; schichtet den Scheiterhaufen!

Es geht um den, der ursachlos seinen Mitmenschen tötete; es geht um den, der das Kind beiseite geschafft hat; es geht um den, der unseres Gottes Bildnis bespien hat; es geht um den, der ein Teufelsbündnis geschlossen hat um der Hexerei willen; es geht um den Verderber unserer Jugend; es geht um den, der dem Feind unsere geheimen Stätten verraten hat.

Wir haben Furcht; doch wir lassen die Furcht nicht laut werden. Wir hegen mancherlei tiefe Gedanken und Zweifel; aber wir sprechen nicht darüber. Wir sagen: »Gerechtigkeit«; wir sagen: »Das Gesetz«; wir sagen: »Im Namen des Volkes«; wir sagen: »Der Staat.«


Noch immer saß Ish da, und sein Bleistift zeigte auf das V auf seinem Zettel. In der tiefsten Tiefe seines Denkens war er sich bewußt, daß aller Wahrscheinlichkeit nach durch Charlies Verbannung keine Lösung herbeigeführt werden konnte. Charlie würde wiederkommen; er war ein starker und gefährlicher Mensch, und er konnte großen Einfluß auf die Jüngeren ausüben. Ish wußte, daß der »Stamm« hier etwas Wirklichem und Gefährlichem und selbst Furchtbarem gegenüberstand, das auf die Dauer an die Wurzeln seiner Existenz griff. Bei dieser Vorstellung war er sich bewußt, daß er nur ein einziges Wort hinschreiben konnte, um der Liebe und der Verantwortlichkeit für seine Kinder und Kindeskinder willen. Er strich das V aus und schrieb das andere Wort hin. Die Buchstaben starrten ihn an, und für kurze Zeit erlebte er seine Umkehrung seiner Gefühle. Tat er recht?

Er war nahe daran, das Wort wieder auszustreichen; doch er hielt abermals inne. Nein, obwohl er sich hin und her gerissen fühlte, konnte er das Wort nicht wieder ausstreichen. Wenn Charlie jemand umgebracht hätte, wäre es vielleicht leichter gewesen, die Todesstrafe auszusprechen, denn dann hätte es sich nur um die alte, übliche Denkweise gehandelt: Auge um Auge, Zahn um Zahn! Die Hinrichtung des Mörders machte den Ermordeten nicht wieder lebendig und war lediglich Vergeltung. Um wirkungsvoll zu sein, durfte die Strafe nicht Vergeltung sein, sondern sie mußte so viel wie eine Verhütung darstellen.

Wie lange hatte er sich bedacht? Es kam ihm jäh zu Bewußtsein, daß er schweigend dasaß und auf das Papier starrte, während die drei anderen auf ihn warteten. Schließlich verfügte er nur über eine Stimme; die anderen konnten ihn überstimmen, und so würde seinem Gewissen genug getan, und Charlie würde doch nur verbannt werden.

»Gebt mir eure Zettel«, sagte er.

Sie reichten sie ihm, und er legte sie vor sich auf den Tisch.

Viermal schaute er hin, und jedesmal las er: »Tod.« — »Tod.« — »Tod.« — »Tod.«

8

Sie schaufelten die Erde wieder in das Grab unter dem Eichbaum. Sie brachen Zweige ab und schleppten schwere Steine herbei, die sie darauf wälzten, so daß, was darin lag, vor räubernden Kojoten sicher war. Danach machten sie sich auf den eine Meile langen Rückweg.

Sie gingen dicht nebeneinander, als bedürfe einer des anderen Unterstützung. Ish ging in ihrer Mitte und schwang in der Rechten den Hammer. Er hatte keine Verwendung für den Hammer gehabt, aber er hatte ihn dennoch mitgenommen. Nun schien das abwärts ziehende Gewicht ihn fest auf dem Erdboden zu halten. Er hatte ihn wie einen Kommandostab in der Hand gehalten, als sie zu Charlie gegangen waren, und als Ish, flankiert von den schußbereiten Jungs, gesagt hatte, was zu sagen war, während Charlie widerlich zu fluchen begann.

Nun würde alles nie wieder sein wie zuvor. Ish mochte nicht an das Geschehene denken, und wenn er es doch tat, so verspürte er leichte körperliche Übelkeit. Ohne den zuverlässigen George wären sie vielleicht gar nicht damit zu Ende gekommen. George, der Praktiker, hatte das Seil geknotet und die Leiter angestellt.

Nein, auch in Zukunft würde er immer nur sehr ungern daran denken. Dessen war er sicher. Dies war ein Ende, und es war zugleich ein Beginn. Es war das Ende jener einundzwanzig Jahre, da sie, wie er jetzt meinte, in einem idyllischen Zustand gelebt hatten, so wie er etwa im alten Garten Eden gewaltet hatte. Sie hatten Schwierigkeiten und Ärger gehabt; sie hatten sogar den Tod kennengelernt. Aber den Rückschauenden dünkte, als sei alles sehr einfach gewesen. Dies war ein Ende; doch es war zugleich ein Beginn, und ein langer Weg lag vor ihnen. In der Vergangenheit waren sie nichts als eine kleine Menschenschar gewesen, kaum mehr als eine überzahlreiche Familie. In Zukunft waren sie ein Staat.

»Es war notwendig … Es war notwendig«, sagte er sich immerfort. Ja, er konnte die Tat durch den erhabensten aller Beweggründe motivieren — die Sicherheit und das Glück des »Stammes«. Er konnte das Geschehene durch Vernunftgründe rechtfertigen. Obwohl der Tatbestand sich nicht restlos hatte beweisen lassen, war die Gefahr zu groß gewesen.

Doch nie würde er Gewißheit darüber erlangen, in welchem Maße andere Motive, sekundäre und persönliche, bei seinem Entschluß mitgewirkt hatten. Im Gefühl einer Schuld erinnerte er sich, wie sein Herz einen Freudensprung getan hatte, als Ezras Worte seinem eigenen Widerwillen und seinen Befürchtungen Unterstützung liehen. Auf jeden Fall aber war die Sache jetzt abgetan. Nein, er würde nur sagen: »Es ist ausgestanden.«

Er ging mit den andern. Sie schwiegen; aber die drei Jungs fanden nach und nach ihre gute Laune wieder. Dabei lag kein Grund vor, daß sie sich weniger betroffen fühlten als die älteren Männer. Die Jungs hatten zwar nicht mit abgestimmt; aber sie hatten bei der Hinrichtung mitgewirkt. »Ja«, dachte Ish, »wenn jemand schuldig ist, so sind wir alle schuldig, und in künftigen Zeiten kann keiner dem anderen etwas vorwerfen.«

Nie war ihnen eine Meile so lang vorgekommen wie bei diesem Rückweg von der alten Eiche bis zu den Häusern in der San-Lupo-Promenade.

Daheim trat Ish vor den Kamin und stellte den Hammer auf den Sims, den Kopf nach unten, so daß der Stiel kerzengerade nach oben ragte. Ja, er war ein alter Freund, sein Hammer. Und Ishs Gedanken eilten zurück in die Vergangenheit.

Plötzlich hörte er von der Straße her das Geräusch einer Säge und merkte, daß George sich wieder an die Arbeit an seinem geliebten Holz gemacht hatte. Schwerlich würde George allzuviel Zeit mit dem Zurückdenken an das Geschehene verschwenden. Und Ezra und die Jungs würden das genausowenig tun. Unter ihnen allen machte einzig er, Ish, sich Gedanken.

Em kam herein. Sie war nicht mit bei der Eiche gewesen; das war keine Frauensache. Doch auch sie hatte das Wort auf den Zettel geschrieben. Aber Em, so meinte er, würde sich darüber kaum allzu viele und allzu trübe Gedanken machen. Dazu war sie von Natur eine viel zu geschlossene, ungebrochene Persönlichkeit.

Sie sagte: »Denk jetzt nicht mehr darüber nach. Mach dir keine trüben Gedanken.«

Er nahm ihre Hand in die seine und drückte sie an seine Wange.

»Ich höre nie damit auf!« sagte er schließlich. »Mir trübe Gedanken zu machen, meine ich. Vermutlich macht mir das Freude. Aber ich muß versuchen, vorauszuschauen, den Nebel zu durchdringen. Wahrscheinlich habe ich in den Alten Zeiten den mir gemäßen Beruf gewählt; ich wäre ein guter Forscher und Gelehrter gewesen. Aber meiner Meinung nach ist es ein schlechter Scherz, daß ich einer der Überlebenden war. Nur Leute wie George und Ezra wären nötig gewesen; die kommen auch weiter, ohne daß sie sich Gedanken machen oder etwas unternehmen. Oder die neue Zeit bedarf der Menschen, die handeln und Führer sein könnten, ohne daß sie groß Überlegungen anstellen.«

Einen Augenblick schmiegte sich ihre Wange an die seine.

»Wie dem auch sei«, sagte sie, »ich will dich nicht anders, als du bist.«

Ja, so und nicht anders mußte eine Frau sprechen. Es war banal, aber es war tröstlich.

Eins der Kinder rief, und Em ging hinaus. Ish stand auf, trat an den Tisch und nahm aus einem der Schubfächer die kleine Pappschachtel, die die Jungs von der winzigen Gemeinschaft in der Nähe des Rio Grande mit heimgebracht hatten. Ish wußte, was darin war, aber infolge der sich überstürzenden Geschehnisse hatte er noch nicht die Zeit oder die innere Ruhe aufgebracht, es sich anzusehen.

Er öffnete die kleine Schachtel und tauchte den Finger in die kühlen, glatten Körner. Er schüttete ein paar in seinen Handteller und sah sie sich an. Sie waren rot und schwarz, schmal, an den Enden spitz — nicht die großen, flächigen, gelben oder weißen Körner, die zu erblicken er erwartet hatte. Diese nun aber hätte er von Rechts wegen erwarten müssen! Die großen Körner stammten von einer hochgezüchteten, wahrscheinlich sogar künstlich gekreuzten Maissorte. Die kleinen schwarzen und roten waren dem Urzustand näher, so, wie die Pueblo-Indianer sie von jeher angebaut hatten.

Er nahm die Schachtel mit zu seinem Sessel. Er nahm die roten und die schwarzen Körner heraus und ließ sie durch die Finger wieder in die Schachtel rinnen. Er spielte mit ihnen, und während er mit ihnen spielte, überkam ihn gnädiges Vergessen, und ein neuer Friede zog in sein Herz ein. Auch dies war ein Ergebnis der Expedition gen Osten. In diesem Mais ruhten Leben und Zukunft.


Weizen und Mais — auch diese beiden hatten sich, wie Hund und Pferd, zusammen mit dem Menschen weiterentwickelt und seine Schicksale geteilt, Freunde und Helfer auf einem langen Wege …

Fern auf einem trockenen Fleckchen der Alten Welt sproßte das niedrige, stachelige Gras üppiger, an den Grenzen der Lagerstätten, wo die Beschaffenheit des Bodens ihm behagte. So erwählte es sich vielleicht anfangs den Menschen; aber bald wurde es vom Menschen erwählt. Je mehr es ihm seine Sorgfalt vergalt, desto mehr hätschelte er es. Unter seiner Pflege wurde es höher und kräftiger und erzeugte mehr Samen; aber es verlangte auch gepflügten Boden und Befreiung seiner Wuchsstätte von den begehrlichen wilden Gräsern.

Im ersten Jahr nach dem Aufhören der gepflügten Felder sproßte der selbsttätig ausgesamte Weizen auf Tausenden von Morgen Ackerland; aber bald ging er mehr und mehr zurück. Wie die Wölfe über die Schafe, so brachen die wilden einheimischen Grasarten über den Weizen herein. Sie bildeten zähe Soden; Jahr für Jahr entwuchsen sie den gleichen Wurzeln und gediehen desto besser, als kein Ackerbau mehr betrieben wurde.

Nach einer gewissen Zeitspanne gab es keinen Weizen mehr, außer daß fern in trockenen Gebieten Asiens und Afrikas hier und dort noch immer das niedrige, stachelige Gras wuchs, wie es vor dem »Ackerbau« genannten Zwischenfall gewachsen war …

So geschah es auch mit dem Mais. Auch er hatte von den tropischen Gebieten Amerikas aus eine weite Reise mit dem Menschen zurückgelegt. Gleich dem Schaf hatte er seine Freiheit gegen ein fettes, verwöhntes Dasein eingetauscht. Er konnte nicht länger selber seinen Samen ausstreuen, der dicht in den zähen Hülsen saß. Noch schneller als der Weizen schwand der Mais dahin. Nur auf den mexikanischen Hochflächen hoben sich die zottigen Kolben der in dichten Gruppen wachsenden wilden Teosinte der hohen Sonne entgegen …

So geschieht es, wenn nicht hier und dort ein paar Menschen überleben. Denn wenn der Mensch nicht ohne Weizen und Mais gedeihen kann, so können Weizen und Mais noch weniger ohne den Menschen gedeihen.


Wenngleich George und Maurine noch die Monate und Tage wußten (oder sie wenigstens zu wissen glaubten), richteten alle übrigen sich nach dem Stand der Sonne und der Vegetation. Ish setzte seinen Stolz darein, daß er bestimmen konnte, wo man sich im Jahresablauf befand; und wenn er seine Aufzeichnungen mit Georges Kalender verglich, so war er im allgemeinen froh, wenn er sah, daß er sich nur um etwa eine Woche geirrt hatte — immer vorausgesetzt, daß er und nicht George unrecht hatte; denn Ish glaubte nicht recht an Georges Zuverlässigkeit in dieser Beziehung.

Aber wie dem auch sei: es kam auf eine Woche oder zwei nicht an, wenn es sich darum handelte, den Mais zu säen. Jetzt war die Jahreszeit dazu schon zu weit vorgeschritten. Das kalte Wetter würde einsetzen, noch bevor die Saat richtig aufgegangen war. Sie würden es im nächsten Jahr versuchen.

Indessen verwandte Ish während der nun folgenden Tage einige Zeit darauf, in der Umgebung Umschau zu halten und eine geeignete Stelle für die Anlage eines Maisfeldes ausfindig zu machen. Er nahm Joey mit, und die beiden unterhielten sich, Ish als Lehrender, über Lage, Bodenbeschaffenheit und die Möglichkeiten, das wilde Vieh fernzuhalten. Ish dachte, daß gerade ihr Bezirk vielleicht der ungünstigste für den Maisbau in den gesamten Vereinigten Staaten sei. Eine Sorte, die sich dem trockenen, heißen Klima des Rio-Grande-Tals angepaßt hatte, kam vielleicht in den kühlen, nebelverhangenen Sommern der Bucht von San Francisco nicht einmal zur Reife. Überdies war er kein Landwirt, und beim Gartenbau hatte er wenig Geschick und Glück bewiesen. Seine Kenntnisse von Pflanzen und Bodenverhältnissen waren in der Hauptsache theoretisch und ein Ergebnis seiner geographischen Studien. Kein einziger Angehöriger des »Stammes« war Landwirt gewesen, wenngleich Maurine auf einem Bauernhof aufgewachsen war. Dieser unglückliche Zufall, wie man es nennen könnte, daß sich kein einziger unter ihnen befand, der dem Boden verbunden war, hatte bereits weitgehend ihrer aller Lebensanschauung beeinflußt.

Eines Tages — mehr als eine Woche war vergangen, und die Erinnerung an Charlie und den Eichbaum war schon etwas verblaßt — kamen Ish und Joey heim, nachdem sie die beste unter allen in Frage kommenden Stellen ausfindig gemacht hatten. Em kam ihnen auf der Vortreppe entgegen, und sogleich wußte Ish, daß etwas geschehen war.

»Was ist los?« fragte er hastig.

»Oh, nichts Besonderes«, antwortete sie. »Ich hoffe es wenigstens. Bob scheint ein bißchen krank zu sein.«

Zu Tode erschrocken blieb Ish auf der Vortreppe stehen und sah Em an.

»Nein, ich glaube, das ist es nicht«, sagte sie. »Ich bin zwar kein Arzt, aber ich glaube nicht, daß es so etwas ist. Ich sehe nicht einmal ein, wieso das möglich sein sollte. Komm und sieh ihn dir an. Er sagt, er sei schon während der ganzen letzten Tage nicht ganz auf der Höhe gewesen.«

Während all der Jahre hatte gewöhnlich Ish die Verantwortung der ärztlichen Betreuung auf sich genommen. Er hatte eine gewisse Geschicklichkeit in der Behandlung von Schnittwunden, Beulen und Verrenkungen erworben und einmal sogar einen gebrochenen Arm geschient. Aber mit ansteckenden Krankheiten besaß er nicht die mindeste Erfahrung, da es dem Anschein nach ja innerhalb des »Stammes« nur zwei zu geben schien.

»Hat Bob vielleicht einen Anfall von Halsentzündung?« fragte er. »Das kann ich schnell wieder in Ordnung bringen.«

»Nein«, sagte sie, »Halsentzündung ist es nicht. Er will immer nur flach auf dem Rücken liegen.«

»Da werden die Sulfa-Pillen schon nützen«, sagt Ish aufgeräumt. »Solange noch Tausende von Pillen in den Drugstores lagern, sind wir gut dran! Und wenn Sulfa nicht hilft, versuche ich es eben mit Penicillin.«

Er ging schnell hinauf. Bob lag im Bett; er lag sehr still und hielt das Gesicht vom Licht abgekehrt.

»Ach, mir geht es ganz gut«, sagte er unwirsch. »Mutter regt sich immer gleich so auf!«

Ein Beweis für das Gegenteil, meinte Ish, war die Tatsache daß er sich ins Bett gelegt hatte. Mit sechzehn Jahren legt man sich nicht ins Bett, solange man noch stehen kann.

Ish sah sich um und erblickte Joey, der neugierig zu seinem Bruder hinsah.

»Joey, mach, daß du rauskommst!« fuhr er ihn an.

»Ich möchte aber zusehen. Ich will wissen, wie das ist, wenn man krank ist!«

»Nein, hier steckst du deine Nase nicht hinein. Wenn du größer und kräftiger bist, dann zeige ich es dir und erzähle dir etwas darüber. Wir wollen nicht, daß du ebenfalls krank wirst. Das erste, was man über Krankheiten lernen muß, ist, daß sie sich von einem Menschen auf den andern übertragen.«

Joey trollte sich widerstrebend; seine Neugier war größer als alle theoretische Furcht vor Ansteckung. Der »Stamm« besaß zu wenig Erfahrungen mit ansteckenden Krankheiten, als daß die Kinder Respekt vor ihnen gehabt hätten.

Bob klagte über Kopfschmerzen und allgemeines schlechtes Befinden, ohne daß ihm eine bestimmte Stelle weh getan hätte. Er lag ganz still im Bett, augenscheinlich sehr erschöpft. Ish maß ihm die Temperatur, die unterhalb der Fiebergrenze lag und also weder besonders gut noch besonders schlecht war. Er verschrieb zwei Sulfatabletten und ein ganzes Glas Wasser. Bob verschluckte sich; er war es nicht gewohnt, so etwas hinunterzuschlucken.

Nachdem er Bob gesagt hatte, er solle versuchen zu schlafen, ging Ish und zog die Tür hinter sich zu.

»Was hat er denn?« fragte Em.

Er zuckte mit den Achseln. »Nichts, was durch Sulfa kuriert werden könnte, glaube ich.«

»Und dennoch glaube ich es nicht. So schnell …«

»Ja. Aber du weißt ja, daß es etwas wie ein zufälliges Zusammentreffen gibt.«

»Das weiß ich. Aber du machst dir wieder trübe Gedanken darüber.«

»Ich will ihm die Tabletten alle vier Stunden geben, wenigstens über Nacht, ehe ich mit den trüben Gedanken anfange.«

»Es wäre schön, wenn du das tätest«, schloß sie die Unterhaltung ab und ging weg.

Aber noch ehe Ish hinaufgegangen war, hatte er gewußt, daß ihr Skeptizismus nur zu berechtigt sei. Und warum sollte ein Mann sich nicht Sorgen machen? Selbst in den Alten Zeiten, als man im Schutz der Ärzte und des öffentlichen Gesundheitsdienstes gelebt hatte, waren die geheimnisvollen, plötzlichen Ausbrüche ansteckender Krankheiten mit Schrecken verbunden gewesen. In wieviel stärkerem Maße war das jetzt der Fall!

»Es ist meine Schuld!« dachte er. »All diese Jahre der Gnadenfrist! Ich hätte die Medizinbücher durcharbeiten sollen. Ich hätte mich selbst als Arzt ausbilden sollen.«

Seine Unruhe wuchs. Wenngleich noch nicht eine halbe Stunde vergangen war, ging Ish nach oben und sah nach Bob. Es war inzwischen Abend geworden, und Bob lag ruhig in dem halbdunklen Raum. Ish wollte ihn nicht stören und ging wieder nach unten.

Er setzte sich in den großen Sessel und rauchte. Gern hätte er den Fall mit jemandem besprochen; aber Em besaß dazu nicht die nötige Bildung, und Joey war noch zu unerfahren. So war er denn auf sich selbst angewiesen.

Der »Stamm« hatte die Masern und eine Art Halsentzündung bewahrt. Irgend jemand, vielleicht er selbst, war der Bazillenträger gewesen, oder die Keime hatten sich auf einem Tier gehalten, mit dem sie in Berührung gekommen waren. Dagegen waren die Leute in Los Angeles vielleicht frei von Masern und hatten statt dessen Mumps oder Keuchhusten bewahrt. Und bei denen am Rio Grande gab es vielleicht die Ruhr.

Und dann Charlie! Selbst wenn er nicht die Krankheiten gehabt haben sollte, mit denen er großgetan hatte, so war er vielleicht der Träger einer anderen Krankheit gewesen, die in der Gegend von Los Angeles grassierte. Der Gedanke, die Jungs auf eine Entdeckungsfahrt zu schicken, war also alles andere als gut gewesen! Plötzlich begann Ish eine unvernünftige Furcht vor jedem Fremden zu empfinden. Man mußte sie in einem Abstand von zweihundert Fuß halten, das war es, und sie dann über die Visiervorrichtung eines guten Gewehrs hinweg beobachten!

Eine Fliege summte an seiner Nase vorbei, und die überempfindliche Art, wie er zusammenzuckte, zeugte von der Anspannung seiner Nerven. Joey rief ihn zum Abendessen.


Abweichend von der Menschenlaus litt die Stubenfliege — die ihr Geschick nicht unwiderruflich an das des Menschen geknüpft hatte — an nichts, das auf ihr bevorstehendes Aussterben schließen ließ. Wie die Hausratte, die Hausmaus, der Menschenfloh und die Küchenschabe hatten diese andern engeren Hausgefährten lediglich eine starke Verminderung erlitten. Wo früher Hunderte und Tausende gesummt hatten, da flogen jetzt nur noch zwanzig oder zehn. Nichtsdestoweniger: sie waren noch da!

Denn gleich jenem Lord, den Prinz Hamlet eine »Wasserfliege« nennt, war die Stubenfliege im sicheren »Besitz des Kots«. Auch wenn der Mensch sich bis zu einer verschwindend geringen Zahl vermindern oder völlig verschwinden sollte, war die Stubenfliege gesichert, solange die größeren Tiere weiterlebten und Exkremente fallen ließen. Die darin abgelegten Fliegeneier schlüpften bald aus, und die Larve fand sich eingebettet in üppiges und saftiges Futter.

Dennoch kamen mit dem Niedergang des Menschen auch für sie harte Zeiten. Nicht länger boten Bauernhöfe Misthaufen und Dunggruben dar, nicht länger gab es auf dem Lande offene Aborte. Nur hier und da gestatteten ein paar Sammelplätze namhafter Exkremente es der Stubenfliege, große Mengen von Eiern zu legen, denen gefräßige Larven entkrochen, aus denen sich ein kräftiger, geschäftig summender Nachwuchs entwickelte.


Eine Woche später war die Epidemie in vollem Gange. Dick, Bobs Reisegefährte, war der nächste, der sich legen mußte. Dann packte es Ezra und fünf der Kinder. In dem Maße, wie die Zahl der Kranken zunahm, befand sich die Gemeinschaft in den Klauen eines, wie Ish fest glaubte, typhusartigen Fiebers.

Einige der Erwachsenen waren in den Alten Zeiten geimpft worden; aber ihre Immunität mußte seit langem dahin sein. Sämtliche Kinder waren völlig ungeschützt. Selbst bei dem Hochstand der Medizin hatte in den Alten Zeiten der Typhus im wesentlichen durch Vorbeugungsmaßnahmen bekämpft werden können. Wenn die Seuche einmal ausgebrochen war, konnte man sie nur ihren langen, verhängnisvollen Verlauf nehmen lassen.

Nun war es zu spät, dachte Ish, sich den Kopf darüber zu zerbrechen! Nun war es geschehen, dachte er bitter, daß Charlie, gleichgültig, welche Krankheiten er gehabt hatte oder gehabt zu haben glaubte, die Typhusbazillen übertragen hatte! Vielleicht hatte er die Krankheit vor Jahren gehabt; vielleicht erst vor kurzem; denn möglicherweise herrschte die Seuche in dem Gebiet, in dem er lebte. Sie würden es nie erfahren. Und was lag jetzt daran!

Was sie mit Sicherheit wußten, war, daß Charlie, ein höchst unsauberer Mensch, über eine Woche gemeinschaftlich mit den beiden Jungs gegessen hatte. Hinzu kamen die nicht allzu sorgfältig gebauten Abortanlagen, und die Fliegen trugen zur Verbreitung der Infektion bei.

Sie fingen an, alles Trinkwasser zu kochen. Sie verbrannten die alten Latrinen und warfen die Senkgruben zu. Sie bespritzten die neuen so reichlich mit Desinfektionsmitteln, daß keine Fliege am Leben bleiben konnte. Doch all dies wurde wohl zu spät unternommen.

Jeden Tag mußte einer sich legen, oder mehrere. Bob, der jetzt die zweite Woche krank war, wälzte sich im Fieberwahn.

Sie hatten kaum Zeit, an die Angst zu denken, und dennoch lauerte sie ringsum und zog ihre Kreise täglich enger. Bislang waren keine Todesfälle vorgekommen, doch noch hatten nicht alle die Krisis überstanden.

George, Maurine und Molly hatten Zuflucht zum Gebet genommen, und einige der Jüngeren hatten sich ihnen angeschlossen. Sie hatten Angst, Gott würde Charlies Tod an ihnen rächen. Ralph war drauf und dran, mit seiner noch nicht erkrankten Familie irgendwo andershin zu fliehen. Ish brachte ihn davon ab, für den Augenblick wenigstens, in dem er ihm vorstellte, einer von ihnen sei vielleicht schon infiziert, und wenn eine kleine, losgelöste Gruppe erkrankte, so sei das sehr viel gefährlicher, als dieses Los mit der ganzen Gemeinschaft zu teilen.

»Wir stehen unmittelbar vor einer Panik!« dachte Ish — und am nächsten Morgen fühlte er selber sich beim Erwachen niedergedrückt, fiebrig und fast völlig erschöpft. Er zwang sich zum Aufstehen, machte auf Ems Bitte Licht und wich ihren Blicken aus. Bob ging es sehr schlecht, und er beanspruchte den größten Teil von Ems Zeit. Ish betreute Joey und Josey, die beide im ersten Stadium waren. Walt hatten sie zur Hilfe in eines der anderen Häuser geschickt.

Als er sich am Nachmittag über Joeys Bett beugte, fühlte Ish sich dem Zusammenbrechen nahe. Mit der letzten Anspannung seiner Kräfte schleppte er sich zu seinem Bett und fiel in die Kissen.

Stunden später, wie ihm schien, kam er wieder zu Bewußtsein. Em schaute zu ihm nieder. Sie hatte es fertiggebracht, ihn auszuziehen und zu Bett zu bringen.

Er schaute zu ihr auf; er kam sich klein und hilflos vor. Er schaute zu ihr auf, wie wohl ein Kind aufgeschaut hätte, voller Furcht, in ihren Augen Furcht zu gewahren. Wenn sie Furcht hatte, war er verloren!

Aber er gewahrte in ihren Augen keine Furcht.

Die dunklen, weit auseinanderstehenden Augen schauten ihn ruhig an. O Mutter von Nationen! Und dann schlief er ein.

In den Tagen und Nächten des Fieberwahns kam ihm wenig von dem, was geschah, zum Bewußtsein. Große, gestaltlose Traumgespenster bewegten sich von der dunklen Außenwelt her auf ihn zu und bedrängten ihn — schrecklich, ihre Gestalt wechselnd wie Nebel und unangreifbar. Manchmal rief er, jemand solle ihm seinen Hammer bringen; mehrmals nannte er Joeys Namen, und dann wieder, was das schlimmste war, denjenigen Charlies. Doch selbst in seinen Schreckensträumen rief er nach Em, und dann schien es, als erwache er, wenn sie ihm die Hand auf die Stirn legte, und er schlug die Augen auf. Immer spähte er nach dem Ausdruck der Furcht; doch er gewahrte keine Furcht.

Dann kam eine Woche, da er ruhiger dalag, doch so zu Tode erschöpft, daß bisweilen das Leben nur schwach in ihm zu flattern und im Begriff zu sein schien, zu entfliehen, ohne daß er sich darum kümmerte. Nur wenn er aufschaute und Em erblickte, spürte er, wie Mut und Kraft in ihn überschwangen.

Wenn sie fortgegangen war, sagte er sich, als er wieder ein wenig denken konnte: »Sie wird zusammenbrechen! Eines Tages muß sie zusammenbrechen! Sie darf kein Fieber bekommen. Auf diesem Glücksfall beruht unsere Hoffnung! Aber sie kann nicht die Bürde von uns allen tragen.«

Nun gewann er eine klarere Vorstellung von dem, was geschehen war. Es waren, wie er wußte, Todesfälle vorgekommen; aber er wußte nicht, wer und wie viele gestorben waren. Er wagte nicht, danach zu fragen.

Einmal hörte er Jeanie kommen und hysterisch über den Tod eines Kindes jammern. Em sagte wenig, aber seltsamerweise schien sie Kraft auszustrahlen, und Jeanie ging voll neuen Mutes davon, um den Kampf wieder aufzunehmen. George kam, ungewaschen und verdreckt, ein schreckgeschlagener Greis — Maurine hatte einen Rückfall erlitten, und ihr Enkelkind lag im Sterben. Em sagte nichts von Gott, doch abermals schien sie Kraft auszustrahlen, und George ging erhobenen Kopfes davon.

»Wie sonderbar«, dachte Ish. »Sie besitzt nichts von allem, worauf ich so fest gebaut hatte — keinerlei Bildung, und nicht einmal eine starke Intelligenz. Sie verfügt über keinerlei Ideen. Und dennoch ist Größe in ihr, und die letzte Sicherheit. Ohne sie wären wir in diesen letzten paar Wochen der Verzweiflung anheimgefallen, hätten den Halt des Lebens verloren und wären untergegangen.« Und er kam sich im Vergleich zu ihr gering vor.

Eines Tages indessen sah er sie neben sich sitzen, und auf ihrem Gesicht lag eine so große Müdigkeit, wie er sie nie zuvor auf irgendeinem Gesicht erblickt hatte. Er war tief betroffen. Dann plötzlich überkam ihn ein Glücksgefühl; denn er wußte, daß sie sich niemals zu ihm gesetzt und ihre Müdigkeit zur Schau getragen haben würde, wenn nicht die Zukunft gesichert gewesen wäre. Doch es war eine Müdigkeit, wie er sie kaum je für möglich gehalten hätte. Plötzlich wußte er, daß hinter solch einer Müdigkeit ein großer Kummer liege.

Im gleichen Augenblick wurde er sich bewußt, daß er selbst sich auf dem Weg der Besserung befand, wahrscheinlich weniger müde als sie und somit imstande war, die Last mit ihr zu teilen.

Er schaute sie an und lächelte, und trotz ihrer Müdigkeit lächelte sie auch.

»Sag es nur«, sagte er leise und zärtlich.

Sie zögerte, und er dachte entsetzt: »Walt? — Nein, Walt war nicht krank. Er hat mir heute ein Glas Wasser gebracht. Jack? — Nein, ich weiß, daß ich seine Stimme gehört habe; er war sehr kräftig. Vielleicht Josey? Oder Mary? Vielleicht sind es gar mehrere?«

»Sag es mir«, sagte er. »Mir ist jetzt wieder ganz wohl.« Und immer noch war Entsetzen in seinem Denken. Es konnte sich nur um das eine handeln. Er war nicht stark, aber die Schwächsten überstehen oftmals am besten eine Krankheit. Nein, nicht — er!

»Fünf — auf der ganzen Straße — fünf sind tot.«

»Wer?« fragte er und richtete sich auf.

»Alles Kinder.«

»Und — unsere?« fragte er, in dem Wissen, daß sie ihn noch immer zu schonen suche. Seine Angst war plötzlich übergroß.

»Ja, vor fünf Tagen«, sagte sie.

Dann sah er, wie ihre Lippen ein Wort bildeten, und noch ehe er die Laute gehört hatte, wußte er es: »Joey.«

»Nun ist alles ohne Sinn«, dachte er und fragte nicht weiter. Der Erkorene! Die übrigen wären ihm wohl gefolgt; nur er konnte das Licht tragen. Das Kind der Verheißung! Dann schloß er die Augen und lag still.

9

Die Wochen der Genesung schleppten sich hin. Sehr langsam kam er wieder zu Kräften. Und seine Geisteskräfte blieben noch hinter denen des Körpers zurück. Als er in einen Spiegel blickte, sah er, daß sein Haar grau zu werden anfing. »Bin ich denn schon alt?« fragte er sich. »Nein, richtig alt bin ich noch nicht!« Doch sicher wußte er nun, daß er auf irgendeine Weise nie wieder wie ehedem sein würde. Ein Teil seines schönen, jungen Mutes und Vertrauens war dahin.

Stets hatte er seinen Stolz darein gesetzt, ehrenhaft und sauber zu denken und von der Vernunft aus das ins Auge zu fassen, was ins Auge gefaßt werden mußte. Jetzt indessen merkte er, daß sein Geist abschweifte, wenn seine Gedanken gewissen Gegenständen näherrückten. Nun, er war noch schwach; über ein kleines würde er wieder vorankommen.

Manchmal (und das erschreckte ihn) ertappte er sich dabei, daß er die Gegenwart leugnete und Pläne machte, als sei Joey noch da. Auf solcherlei Weise entschlüpfte er in die Glückseligkeit einer Phantasiewelt. Es fiel ihm ein, daß er von jeher dazu geneigt hatte. Zu gewissen Zeiten war das ein Vorzug gewesen, als hätte es ihn befähigt, mit Hilfe der Phantasie sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden — damals, als er plötzlich ganz allein gewesen war. Jetzt indessen suchte er einen Ausweg, weil die Wirklichkeit zu düster war, als daß er sie ohne weiteres hätte hinnehmen können. Immerfort kam ihm eine Verszeile, die von seiner ausgedehnten Lektüre während all der Jahre her in ihm haftengeblieben war, in den Sinn, wenn er versuchte, der Wirklichkeit Trotz zu bieten:

»Nie wieder glücklich vertrauend am Morgen!«

Nein, nie wieder! Joey war fort, und Charlies Schatten lag über ihnen allen, und der allnotwendige Staat hatte das Haupt erhoben und hielt den Tod in den Händen. Und alles, was er an jenem glücklichen Morgen so hoffnungsfroh zu tun versucht hatte, war fehlgeschlagen. Er fragte nach dem Warum. Dann floh er, der Verzweifelnde, wieder in die Bereiche der Phantasie.

Als er ruhiger zu denken vermochte, machte die Ironie aller Dinge immer größeren Eindruck auf ihn. Was man auch dagegen vorzubereiten versuchte — es geschah nie! Alle noch so guten Pläne konnten nicht dem Unheil vorbeugen, gegen das keinerlei Pläne vorbereitet worden waren.

Den größten Teil seiner Zeit mußte er allein verbringen. Ein paar der anderen bedurften noch der Pflege, und was noch an Kraft in Em war, mußte ihnen gewidmet werden. Er hätte gern mit Ezra geplaudert, aber auch Ezra war noch bettlägerig. Nun Joey von ihm gegangen war, besaß er außer Em und Ezra niemand, dem er wirklich von Herzen zugetan war.

Eines Nachmittags erwachte er aus einem Schläfchen und sah Em an seinem Bett sitzen. Aus halb geöffneten Augen schaute er sie an. Sie hatte noch nicht bemerkt, daß er aufgewacht war. Sie sah noch immer müde aus, doch es war nicht mehr jene schreckliche Müdigkeit, die er zuvor an ihr wahrgenommen hatte. Noch war Kummer in ihr, aber er wurde von Ruhe überdeckt. Sie war nicht verzweifelt. Und was die Furcht betraf, so forschte er längst nicht mehr nach ihr!

Sie sah ihn an, gewahrte seine offenen Augen und lächelte sogleich. Plötzlich wußte er, daß der Augenblick gekommen war, da er dem ins Antlitz schauen mußte, was ihn bedrängte.

»Ich muß mit dir sprechen«, sagte er, und seine Stimme war kaum mehr denn ein Flüstern.

»Ja«, sagte sie ruhig. »Ich bin bei dir. Sprich nur. Ich bin bei dir.«

»Ich muß mit dir sprechen«, wiederholte er.

»Ich möchte dir einige Fragen vorlegen«, fuhr er fort. »Wie ist es …«, begann er tapfer, dann hielt er inne.

Sie tat nichts, als ihm zulächeln, eingedenk seiner Schwäche; aber sie sagte ihm nicht, er solle warten und es ihr ein andermal sagen.

»Das ist es!« sagte er hoffnungslos. »Muß es so sein? Ich weiß, was George denkt, und die andern vielleicht auch! Trotz meines Fiebers habe ich einiges gehört. Ist es … ist es eine Strafe?«

Dann schaute er sie an, und zum erstenmal in all diesen schrecklichen Wochen gewahrte er in ihrem Gesicht etwas, das Furcht oder möglicherweise Furcht war. Nun habe selbst ich sie enttäuscht, dachte er voller Schrecken. Doch er wußte, daß er jetzt weitersprechen mußte, sofern nicht eine Mauer von Zweifel und Unredlichkeit sich für alle Zeiten zwischen sie und ihn schieben sollte.

So platzte er denn damit heraus: »Du weißt, was ich meine! Ist es, weil wir Charlie getötet haben? Hat irgend jemand — hat Gott — uns das vergolten? Auge um Auge, Zahn um Zahn? Haben deshalb alle — hat deshalb Joey sterben müssen? Hat Er sich der Seuche bedient, die Charlie in sich trug so daß wir alle ganz sicher wissen sollten, was Seine Absicht war?«

Dann, als er stockte, sah er, wie sich ihr Gesicht vor Entsetzen verkrampfte.

»Nein, nein!« schrie sie. »Fang du nicht auch davon an! Ich habe die anderen so oft allein ertragen müssen, solange du krank warst! Ich weiß keine Gegengründe, aber ich weiß, daß es so nicht sein kann. Ich konnte ihnen nichts entgegnen. Alles, was ich ihnen geben konnte, war mein Mut!«

Sie hielt inne, als hätte der jähe Ausbruch sie völlig erschöpft.

»Ja«, fuhr sie fort, »ich fühlte, wie der Mut aus mir herausströmte — wie Blut! Er ist auf sie alle übergeströmt, und indem er strömte, wurde ich immer schwächer, und ich fragte mich: Habe ich auch genug Mut? Habe ich auch genug Mut? Und inzwischen hast du im Fieber von Charlie gesprochen.«

Abermals schwieg sie; doch er konnte nichts sagen.

»Oh«, rief sie, »verlange jetzt nicht noch mehr Mut von mir! Ich kenne mich in den Beweisgründen nicht aus. Ich bin auf keine Hochschule gegangen. Alles, was ich weiß, ist, daß wir getan haben, was wir für das beste hielten. Wenn es einen Gott gibt, der uns geschaffen hat, und wenn wir vor Seinen Augen unrecht getan haben — wie George sagt —, so haben wir wenigstens unrecht getan, weil wir so sind, wie Gott uns geschaffen hat, und ich glaube nicht, daß Er uns Fallen stellt. Oh, du solltest das alles besser wissen als George! Laß uns das alles nicht wieder in die Welt zurückbringen — den zornigen Gott, den niedrigen, rachsüchtigen Gott —, den, der uns die Spielregeln nicht sagt und uns bestraft, wenn wir gegen sie verstoßen. Laß uns Ihn nicht wieder zurückbringen! Fang nicht auch du davon an!«

Dann schwieg sie, und er sah, daß sie das Gesicht in den Händen barg, so daß er nicht sehen konnte, ob Furcht darin war oder nicht. Doch er wußte, daß sie schluchzte.

Und abermals kam er sich ihr gegenüber klein und sehr gering vor. Wiederum hatte sie ihn nicht im Stich gelassen. Das Wichtigste indessen war, daß er in sich Ruhe, Frieden und eine neue Sicherheit verspürte. Ja, er hätte es wissen müssen. Er vor allen andern hätte nicht zweifeln dürfen.

Er streckte den Arm aus und ergriff eine ihrer Hände.

»Fürchte dich nicht«, hörte er sich sagen, obwohl es widersinnig war, daß gerade er ihr das sagte. »Du hast recht; du hast recht!

Nie wieder darf ich dergleichen Dinge denken. Ich weiß um die Beweisgründe. Aber wenn es um den Tod geht und man sehr krank gewesen ist, dann ist man schwach. Ja, du darfst nicht vergessen, ich bin noch nicht ganz wieder ich selbst.«

Da plötzlich küßte sie ihn unter heißen Tränen, und dann verließ sie das Zimmer. Wiederum erkannte er, daß sie stark war. Wiederum konnte der Mut aus ihr strömen. O Mutter von Nationen!

Auch er, obwohl er noch schwach und ermattet dalag, verspürte wieder Mut.

Ja, dachte er, und jetzt floh er nicht vor dem Gedanken: Joey ist von uns gegangen. Joey ist tot. Er kehrt nie wieder. Und dennoch gibt es für uns eine Zukunft. Obwohl ich jetzt graues Haar habe, ist Em, sind die andern noch da, und so darf ich sogar glücklich sein. Unsere Zukunft wird nicht wie die sein, die ich plante, nun Joey tot ist. Aber ich werde tun, was in meinen Kräften steht.

Nochmals kam er sich klein und gering vor. Er spürte, wie alle großen Kräfte der Welt sich gegen ihn wandten, gegen den einzigen noch liebenden Menschen, der denken und Pläne für die Zukunft fassen konnte. Er hatte versucht, jenen Kräften entgegenzutreten, und sie waren über ihn hinweggerollt. Vielleicht wären ihrer gar zu viele gewesen, auch wenn Joey noch gelebt hätte. Fortan mußte er scharfsinniger planen, behutsamer zu Werke gehen, sich an geringere und praktischere Dinge machen, Fuchs und nicht Löwe sein.

Aber zunächst mußte er wieder zu Kräften kommen. Noch bevor das Jahr zu Ende ging, würde er dann etwas unternehmen können.

Sogleich spürte er, wie sein Geist sich umstellte und zu arbeiten begann. Es war doch ein guter Geist! Er merkte, daß er dem eigenen Gehirn Beifall zollte, als sei es ein vertrautes Werkzeug oder ein Motor — zwar alt, aber geschmeidig funktionierend.

Doch er war sehr schwach, und ehe er richtig zu denken angefangen hatte, war er eingeschlafen.


Vielleicht hatte es zu viele Menschen gegeben, zu viele alte Wege des Denkens, zu viele Bücher. Vielleicht waren die Wurzeln des Denkens zu tief gewachsen, und die Abfälle der Vergangenheit lagen zu schwer rings um uns, gleich Haufen von Kehricht und alten Kleidern! Warum sollte der Philosoph es nicht begrüßen, daß alles hinweggefegt worden war, daß jetzt ein neuer Beginn vollzogen würde und die Menschen das Spiel mit neuen Rollen spielten? Vielleicht war dabei mehr Gewinn denn Verlust.


Während der Wochen der Epidemie hatten diejenigen, die verschont geblieben waren, den Gestorbenen nur ein hastiges Begräbnis zuteil werden lassen können. Als die Genesenden das Bett verlassen konnten, regten George, Maurine und Molly einen Trauergottesdienst an.

Ish, und ebenso Em, wären nur zu froh gewesen, wenn man alles in dem Zustand belassen hätte, in dem es sich befand. Ish indessen meinte, die anderen würden glücklicher sein, wenn der Gottesdienst gehalten würde.

So regte er denn an, der Gottesdienst sollte stattfinden, und am folgenden Tage sollten alle normalen Tätigkeiten wieder aufgenommen werden. Obwohl er keine besonderen Gedanken über die Wiederaufnahme des Schulunterrichts geäußert hatte, merkte er, daß die andern ihn stillschweigend voraussetzten, und dem konnte er nur beistimmen.

Unter allgemeiner Billigung wurde Ezra ausersehen, den Gottesdienst zu halten. Er bestimmte dazu eine frühe Morgenstunde.

Wie in jeder Gemeinschaft, wo künstliches Licht knapp und unzulänglich war, bestand die Gewohnheit, mit der Sonne aufzustehen, und so brauchten sie kaum früher als gewöhnlich aus den Betten zu kriechen, um an die kleine Reihe von Gräbern heranzutreten. Der Himmel war klar; aber der Westhang der Hügelkette lag noch lichtlos. Ein paar hagere Kiefern, die in der Nähe der Gräber standen, warfen noch keinen Schatten.

Die Jahreszeit war schon zu weit vorgeschritten, als daß es noch Wiesenblumen gegeben hätte; aber auf Ezras Weisung hin hatten die Kinder grüne Tannenzweige abgebrochen und damit die Hügel bedeckt. Obwohl es nur fünf Gräber waren, bedeutete der Verlust ein großes Unglück. Im Vergleich zu der geringen Kopfzahl des »Stamms« galten fünf Tote mehr als hunderttausend in einer Stadt von einer Million Einwohnern.

Die Überlebenden waren sämtlich gekommen — Mütter trugen ihre Babys auf dem Arm, kleine Jungen oder Mädchen hielten die Hände ihrer Väter.

Ish stand da und spürte den schweren Hammer in seiner rechten Hand. Er war ohne ihn fortgegangen, aber Josey hatte ihn daran erinnert in der Annahme, er habe ihn bloß vergessen. Nach Auffassung der Jüngeren war der Hammer bei einer feierlichen Gelegenheit unentbehrlich. Noch vor ein paar Monaten hätte Ish nicht nachgegeben, sondern er hätte die Gelegenheit wahrgenommen und Josey einen Vortrag über den Aberglauben gehalten. Heute indessen hatte er den Hammer geholt und mitgenommen.

Inzwischen hatten sich alle in einem unregelmäßigen Halbkreis aufgestellt, die Gesichter den Gräbern zugewandt, jede Familie in einer Gruppe. Von seinem Platz in der Mitte aus schaute Ish erst nach der einen und dann nach der andern Seite. George trug einen altertümlich wirkenden dunkelgrauen Anzug, wahrscheinlich hatte er ihn früher schon immer bei Begräbnissen getragen, als er in den Alten Zeiten Gemeindehelfer gewesen war. Maurine, die neben ihm stand, trug ein schlichtes schwarzes Kleid und einen Schleier. Zumindest solange diese beiden am Leben waren, würden die alten Bräuche fortdauern. Alle andern indessen waren mit den vom Zufall zusammengewürfelten, aber bequemen Sachen bekleidet, die die Zivilisation ihnen hinterlassen hatte. Die Männer und Knaben trugen blaue Baumwollhosen, Sporthemden und leichte Windjacken, der Kälte des frühen Morgens wegen. Ein paar der kleineren Mädchen waren kaum von den Jungs zu unterscheiden, abgesehen von dem längeren Haar; aber die Frauen und die meisten Mädchen betonten ihre Weiblichkeit durch Röcke, und sie huldigten der Farbe durch rote, grüne oder blaue Tücher und Bänder.

Ezra trat vor und schickte sich an, zu beginnen. Das Sonnenlicht hinter den Hügeln leuchtete jetzt hell golden; das Schweigen wurde immer tiefer. Ish hatte ein würgendes Gefühl im Halse.

Ezra begann zu sprechen. Er knüpfte nicht an die alten Trauergottesdienste an. Er erging sich nicht in abgedroschenen Phrasen. Er sprach nicht von der Hoffnung jenseits des Grabes. In dergleichen Worten hätten von allen, die hier standen, nur George und Maurine und vielleicht Molly Trost gefunden. Es fiel einem schwer, an so etwas zu denken, wenn sich über die Tradition der mächtige schwarze Schatten des Großen Unheils breitete.

Ezra, der Menschenkenner, sprach ein paar Worte über jedes der Kinder. Er erzählte von jedem einzelnen eine liebenswerte kleine Geschichte, etwas, dessen er sich erinnerte und dessen die andern sich wohl ebenfalls erinnerten.

Schließlich begann er von Joey zu sprechen, und Ish überkam eine jähe Schwäche. Doch Ezra sprach nicht von irgendwelchen bemerkenswerten Dingen, die Joey getan hatte, und er erwähnte nicht einmal, daß ein Jahr nach ihm benannt worden war. Statt dessen erzählte er, wie er es bei den andern getan, ein kleines Geschehnis, das sich beim Spielen zugetragen hatte.

Als Ezra von Joey sprach, merkte Ish, daß einige der Kinder hastige, verstohlene Seitenblicke auf ihn warfen. Sie wußten um die enge Bindung, die zwischen Joey und seinem Vater bestanden hatte. Überlegten sie sich, ob er, Ish, im letzten Augenblick vortreten werde? Er, der »Alte«, der Amerikaner, der so viele seltsame Dinge wußte — würde er im letzten Augenblick vortreten, starr den Hammer ausstrecken und erklären, Joey sei nicht von ihnen gegangen, Joey lebe noch, Joey würde wiederkommen? Würde die Erde des kleinen Hügels aufbrechen?

Doch Ish gewahrte lediglich ihre hastigen, scheuen, verstohlenen Blicke. Sie sagten nichts. Und was sie auch denken mochten: Ish wußte, daß er kein Wunder tun konnte.

Als Ezra damit fertig war, von Joey zu erzählen, fuhr er in allgemeineren Wendungen fort. Warum hörte er nicht an dieser Stelle auf? Ish verspürte einigen Unwillen. Der Gottesdienst durfte sich nicht zu lange hinschleppen!

Da fand Ezra unvermittelt den Schluß, und im gleichen Augenblick nahm Ish eine Veränderung wahr. Plötzlich war die ganze Welt heller geworden. Der obere Rand der Sonne war über dem Hügelkamm erschienen!

Ish wußte nicht, ob er erfreut oder bestürzt sein sollte. »Gut ausgedacht!« sagte er sich. »Aber ein Bühnentrick!« Doch als er dann Umschau hielt, sah er, daß die andern glücklich waren. Da ließ er es gut sein, und obwohl er den Theatercoup durchschaute, empfand er Trost.

Die Wiederkehr der Sonne! Das uralte Sinnbild! Ezra war zu ehrenhaft und innerlich zu sauber, als daß er Unsterblichkeit verheißen hätte; aber er hatte den rechten Augenblick gewählt, und zu seinem Glück war der Morgen klar. Gleichgültig, ob man an eine persönliche Auferstehung oder das Fortdauern der Rasse glaubte: das Sinnbild war erschienen.

Jetzt dehnten sich Pfade gelben Sonnenlichts zwischen den Schatten der hageren, düsteren Bäume.


Auch darin sind wir Menschen, daß wir uns Gedanken über den Tod machen. Einstmals war das nicht so, und wenn einer von uns gestorben war, so lag er, wo er eben lag, vor dem Höhleneingang, und wir liefen hinein und heraus, und wir liefen wohl beinahe noch auf allen vieren. Jetzt stehen wir aufrecht, und jetzt machen wir uns Gedanken über den Tod.

Wenn jetzt ein Gefährte daliegt, lassen wir ihn nicht einfach dort liegen, wo er gestorben ist. Und wir nehmen ihn nicht einfach bei den Armen und Beinen und schleppen ihn, den Füchsen und Ratten zum Fraß, in den Wald. Wir werfen ihn auch nicht einfach in den Fluß, auf daß die Strömung ihn von dannen trage.

Nein, wir legen ihn vielmehr dorthin, wo sich eine kleine Mulde im Boden befindet, und dann bedecken wir ihn mit Laub und Zweigen. So kehrt er zurück zur Erde, der alle Dinge entstammen.

Oder wir betten ihn im Baumgeäst zur Ruhe und geben ihn der Luft preis. Wenn dann die schwarzen Vögel in Schwärmen von fern herbeigeflogen kommen und an ihm herumpicken, so ist auch das recht, denn sie sind die Geschöpfe der Luft.

Oder wir überantworten ihn dem hellen, heißen, reinigenden Feuer.

Dann setzen wir unser Leben fort, wie es vorher war, und bald vergessen wir, wie die Tiere. Aber wir haben wenigstens dieses getan, und wenn wir es nicht mehr tun, dann sind wir keine Menschen mehr.


Nachdem die Feier an den Gräbern vorüber war, gingen sie alle durch den frühen Sonnenschein zurück zu ihren Häusern. Ish verspürte den Wunsch, allein zu sein. Allerdings wußte er, daß es unrecht sei, Em in diesem Augenblick sich selbst zu überlassen. Aber sie mußte gewittert haben, was in ihm vorging, und so gab sie ihm ihrerseits die Anregung.

»Geh nur«, sagte sie. »Es ist besser für dich, wenn du jetzt einen Spaziergang machst und ein Weilchen allein bist.«

Er entschloß sich, es zu tun. Wie er gefürchtet, hatte die Trauerfeier ihn tief verstört. Manche Menschen suchen, wenn sie Kummer haben, Gesellschaft; aber er gehörte zu denen, die dann besser für sich bleiben. Über Em machte er sich keine trüben Gedanken; sie war stärker als er.

Er nahm keinen Mundvorrat mit, weil er keinen Hunger verspürte. Im Notfalle konnte er unterwegs in einen Laden gehen und sich eine Dose holen. Er schnallte das Pistolenkoppel nicht um, obwohl es zu ihren Gepflogenheiten gehörte, sich nicht ohne Waffe weit von den Häusern zu entfernen. Doch im letzten Augenblick zögerte er, und dann nahm er den Hammer vom Kaminsims.

Die bloße Tatsache, daß er ihn mitnahm, verwirrte ihn ein bißchen. Wie kam es nur, daß der Hammer in seinem Denken einen so großen Raum einnahm? Er war durchaus nicht sein ältestes Besitztum; denn überall im Hause verstreut fanden sich Dinge, die ihm gehörten und deren er sich aus seiner frühesten Kindheit erinnerte. Aber keins von ihnen allen war wie der Hammer. Vielleicht rührte das daher, daß er ihn in Zusammenhang mit der Tatsache brachte, daß er mit dem Leben davongekommen war. Und dennoch glaubte er durchaus nicht, was die Kinder von dem Hammer zu glauben schienen.

Er verließ das Haus und gab nicht acht, welche Richtung er einschlug, sofern er nur allein bleiben konnte. Der in seiner Hand baumelnde Hammer wurde ihm lästig. Er begann, Widerwillen gegen ihn zu empfinden. Hatte sich auch in seinem Geist der Aberglauben eingenistet, wie es bei den Kindern der Fall war?

Nun, warum legte er den Hammer nicht einfach irgendwohin und nahm ihn auf dem Heimweg wieder an sich? Oder holte ihn sich morgen? Aber er legte ihn nicht hin.

Es fiel ihm ein, daß sein Widerwille gegen den Hammer nicht dem Umstand entsprang, daß er ihm im Augenblick unbequem war, sondern weit eher von der Empfindung herrührte daß er sich an ihn gebunden glaubte. Sogleich beschloß er, sich seiner zu entledigen. Er sollte ihn nicht länger innerlich belasten. Wie er es früher schon einmal erwogen hatte, wollte er hinunter an die Meeresbucht gehen, an den alten Kai, und dann den Hammer mit einem gewaltigen Schwung weit hinaus in die Wogen werfen. Er schritt wacker aus. Dann durchflutete ihn wieder die Erinnerung an Joey, und im Weitergehen kam ihm der Hammer aus dem Sinn.

Nach einer Weile wich der Kummer von ihm, und er wurde sich bewußt, daß er auf einem Spaziergang begriffen war und den Hammer bei sich hatte. Dann merkte er, daß er ungeachtet seines Entschlusses gar nicht in Richtung der Meeresbucht ging. Er wanderte nach Süden, nicht nach Westen.

»Es wäre ein weiter Weg bis zur Bucht, und ich fühle mich noch nicht kräftig«, sagte er sich. »Es hat keinen Zweck, so weit zu gehen, nur um den alten Hammer loszuwerden. Ich kann ihn in einen Abzugsgraben oder ins Gebüsch werfen; dann habe ich bald vergessen, wo ich ihn hingeworfen habe.«

Dann wurde er sich abermals bewußt, daß sein Geist ihn zu täuschen versuchte und daß er, auch wenn er den Hammer in einen Abzugsgraben warf, kaum je vergessen würde, wohin er ihn geworfen hatte: auf diese Weise würde er ihn also nicht endgültig loswerden. Er gab sein Vorhaben auf, weil er erkannte, daß er sich im Grunde gar nicht von dem Hammer trennen wollte, und daß es auf eine verzwickte Weise dahin gekommen war, daß der Hammer ihm sehr viel bedeutete. Gleichzeitig fiel ihm ein, warum er südwärts wanderte und wohin sein Geist, ihm unbewußt, seine Schritte lenkte.

Er folgte der breiten Straße, die auf das Universitätsgelände zu führte. Seit langer Zeit war er nicht dort gewesen. Während er dahinschritt, bohrte der Schmerz noch immer in ihm. Irgendwie hatte er aber an Kraft verloren, als habe seine Entscheidung über den Hammer eine Wandlung herbeigeführt.

Nun, wie früher so oft schon, hielt er Umschau, und das Schauspiel des Zeitenwandels packte ihn und lenkte ihn von seinem Kummer ab. Gerade dieser Bezirk hatte besonders schwer unter dem Erdboden gelitten. Ein tiefer Riß zog sich quer durch das alte Betonpflaster; Regen und rinnendes Wasser hatten ihn erweitert und vertieft, und nun erhoben sich aus dem Erdspalt Büsche und Bäume quer über die breite Straße. Ish schwang den Hammer, um sich Schwungkraft zu geben, übersprang die vier Fuß breite Schlucht und freute sich, daß seine Beine dazu trotz der Krankheit nicht zu schwach geworden waren.

Im Weitergehen sah er, daß die Häuser zu beiden Seiten der Straße zusammengefallen waren. Wilder Wein klomm an ihnen empor.

Überall gewahrte er den Kampf zwischen heimischen Pflanzen, die in die Gärten zurückkehrten, und den Exoten, die hier früher angepflanzt und sorglich gepflegt worden waren.

Als er zum Universitätsgelände kam, mußte er erst einen Hain italienischer Pinien durchschreiten. Hier herrschte weniger Wirrwarr als in den Gärten längs der Straße, weil die Pinien sich ausgebreitet hatten und einen Baldachin bildeten, unter dem spärliches Gras wuchs. Es wirkte noch immer wie ein Park.

Dicht bei einem der Bäume sah er eine große Klapperschlange in der Sonne liegen. Sie schien erstarrt; sie hatte sich wohl noch nicht ganz von der Nachtkälte erholt. Er hätte sie unschwer töten können. Einen Augenblick zögerte er; dann ging er weiter.

Ja — einmal war er gebissen worden, und er erinnerte sich noch des Schrecks. Aber er empfand keinerlei Feindschaft gegen die gesamte Gattung der Klapperschlangen. Möglicherweise hatte jener Biß ihm das Leben gerettet. Vielleicht war weit eher Dankbarkeit als Feindseligkeit am Platz.

Er ging weiter; er durchschritt einen fast völlig überwachsenen, steinernen Torweg; er ging über eine Holzbrücke. Er spürte, wie sie unter seinen Füßen schwankte. Sie war immer eine alte Brücke gewesen, wie er sich erinnerte; schon als Junge hatte er gemeint, sie sei sehr alt. Längs des Baches war das Gestrüpp dicht, und er mußte sich einen Weg hindurchbahnen, obwohl er unter seinen Füßen noch Asphalt spürte.

Er hörte es im Gebüsch rascheln und wurde nervös, da er ohne Waffe war. Es konnte ja ein Berglöwe sein. Wölfe und wilde Hunde trieben sich ebenfalls gern an diesen mit Dickicht bewachsenen Bachläufen herum.

Aber als er wieder ins Freie kam, sah er nur ein Reh zwischen den Bäumen hindurch weglaufen.

Jetzt erhob sich zu seiner Linken eins der Universitätsgebäude. Er wußte nicht mehr, welche Fakultät dort untergebracht gewesen war. Das Gesträuch, das ehedem säuberlich beschnitten wurde, war hoch und struppig aufgeschossen und verdeckte die unteren Fenster.

Er ging seinem Ziele zu. Er zwängte sich durch ein weiteres Dickicht; dann sah er das große Bibliotheksgebäude vor sich.

Er stand und schaute. Auch dieses Gebäude war halb verdeckt vom aufgeschossenen Strauchwerk. Ein Fenster war zerbrochen, wahrscheinlich, weil ein Kiefernzweig darüber hinweggewachsen war, der bei starkem Winde schwankte. Das war geschehen, seit er vor einer ganzen Reihe von Jahren zum letztenmal hier gewesen war. Er hatte die Universitätsbibliothek als Reserve für die Zukunft aufgespart.

Er umschritt die Bibliothek, wobei er hier und dort Mühe hatte sich einen Weg durch das Gestrüpp zu bahnen. Einmal mußte er über einen umgefallenen Kiefernstamm klettern. Soweit er sehen konnte, befand sich das Gebäude nach wie vor in gutem Zustand.

Schließlich kam er an das Fenster, das er vor vielen Jahren eingeschlagen und dann wieder mit Brettern vernagelt hatte. Mit dem Hammer löste er eins der Bretter. Er gab sorglich acht, daß er es nicht zerbrach, um es hernach wieder anbringen zu können. Es fiel ihm zu seiner Freude ein, daß nun schließlich doch noch ein vernünftiger Grund dafür bestand, daß er den Hammer mitgenommen hatte.

Nachdem er das Brett gelöst hatte, konnte er durch die Öffnung in das Gebäude hineinklettern. Er durchschritt die Halle und fand die alte Tür zu den Bücherräumen.

Er trat vor die vertrauten Büchergestelle, und trotz der seither verflossenen Jahre war ihm, als sei er heimgekehrt. Er überflog mit den Blicken die Reihen und begann nach Büchern zu suchen, die er gelesen und durchgearbeitet hatte.

Ein umfangreicher roter Leinenband zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er streckte die Hand aus, nahm ihn aus dem Fach und blies den Staub vom Schnitt. Indem er seinen Fund anschaute, sah er den Verfassernamen Brooks und den Titel: »Klimatische Veränderungen im Ablauf der Zeiten.« Er erinnerte sich des Buches. Als er es aufschlug, erblickte er vorn eingeklebt die Karte und stellte fest, daß der letzte Entleiher des Buchs — das Datum lag nur einen Monat vor dem Großen Unheil — jemand mit dem ungewöhnlichen Namen Isherwood Williams gewesen war. Erst nach ein paar Sekunden fiel ihm ein, daß er selbst Isherwood Williams war. Seit vielen, vielen Jahren hatte ihn niemand mit seinem vollen Namen angeredet. Jetzt fiel ihm ein, daß er dieses Buch während seines letzten Semesters gelesen hatte. Es war ein gutes und interessantes Buch, obwohl, wie er sich sonderbarerweise erinnerte, zum guten Teil überholt durch die neueren Forschungen eines Mannes namens — ja, er hatte einen deutschen Namen gehabt, vielleicht Zeimer.

Er legte den Hammer nieder, so daß er beide Hände für das Buch frei hatte. Dann ging er dorthin, wo ein Lichtschein durch ein verstaubtes Fenster fiel, und durchblätterte neugierig die Seiten. Gegenwärtig war dieses Buch ohne den mindesten Wert für den menschlichen Fortschritt. Klimatische Veränderungen stellten praktisch kein Problem dar. Überdies war das Buch schon damals überholt gewesen. Er konnte es ebensogut wegwerfen oder in Stücke reißen, tat es jedoch nicht. Er ging zurück und stellte es beinahe ehrfürchtig wieder an seinen Platz.

Dann ging er weiter, und plötzlich war alles in seinem Geiste wieder Staub und Asche. Wozu waren alle diese Bücher jetzt nütze? Warum sollte man sich über eins von ihnen Gedanken machen? Jetzt war niemand mehr da, der sie hätte entleihen können. Bücher an sich waren lediglich Holzschliff und Druckerschwärze; sie waren nichts ohne einen Geist, der sich ihrer bediente.

Sorgenerfüllt ging er weg, und gerade als er die Wendeltreppe hinabstieg, merkte er, daß ihm etwas fehlte. Er erschrak jäh und kehrte schleunigst in die Abteilung zurück, wo er das Buch aus dem Gestell genommen hatte. Mit dem Gefühl einer großen Erleichterung sah er den Hammer ruhig dort liegen, wo er ihn auf den Fußboden gelegt hatte. Er hob ihn auf und trat zum zweitenmal den Rückweg an.

Er kletterte durch das eingeschlagene Fenster hinaus und schickte sich mechanisch an, das Brett wieder an seine Stelle zu setzen. Dann hielt er inne. Abermals bemächtigte sich seiner ein Gefühl der Trostlosigkeit. Warum sollte er das Brett wieder anbringen? Es bedeutete keinen Unterschied. Es war niemand mehr da, der in Zukunft herkommen und lesen würde. Er wartete und schwang lässig den Hammer.

Schließlich befestigte er das Brett langsam und verdrossen und schlug mit dem Hammer wieder die Nägel ein. Es bestand kein Grund zu Schwung und Begeisterung. Es gab keine Hoffnung mehr. Doch dies gehörte zu seinem Leben.

Danach schlenderte er umher und setzte sich schließlich auf die Granitstufen des Eingangs der Bibliothek, um sich auszuruhen. Alles war überwuchert und halb zerfallen. Er schlug mit dem Hammer auf die Kante einer der Granitstufen. Es war purer Wandalismus. Für gewöhnlich tat er so etwas nicht. Ein Stück der Stufenkante splitterte ab. Mutwillig schlug er fester zu. Ein drei Zoll langes Stück Löste sich und fiel. Der frische Granitbruch sah rauh aus.

Als er so dasaß und mit dem Hammer spielte, konnte er zum erstenmal an Joey denken, ohne daß der Schmerz ihn übermannte. Was wäre denn geworden? Vielleicht wäre Joey gar nicht imstande gewesen, wirklich etwas zu unternehmen. Er war nur ein aufgeweckter kleiner Junge gewesen. Er hätte keinen Wandel herbeiführen können. Er hätte sich gegen Drang und Druck dieser veränderten Welt nicht behaupten können. Er würde immer nur gekämpft und gekämpft haben, und schließlich hätte er wohl als ein Erfolgloser dagestanden. Er wäre unglücklich gewesen.

»Joey«, dachte er und setzte seine Gedanken in Worte um. »Joey war mir zu ähnlich. Auch ich kämpfte immerfort. Ich kann nicht bloß glücklich sein.«

Er schaute angestrengt auf einen Granitsplitter, und gekränkt und rachelüstern zerschlug er ihn.

»Entspanne dich, werde milder!« Abermals wurden seine Gedanken Worte. »Es ist Zeit, lockerzulassen.«


Thoreau und Gauguin - ihrer gedenken wir. Aber sollten wir die Zehntausende anderer vergessen? Sie haben weder Bücher geschrieben noch Bilder gemalt, aber sie haben verzichtet gleich jenen beiden. Und dann jene andern, die Millionen, die der Phantasie den Rücken gekehrt haben!

Ihr habt sie sprechen hören, habt ihre Augen gesehen … »Es war fein da, wo wir bei unserem Angelausflug gelagert haben; manchmal wünsche ich, ich könnte da immer leben; natürlich müßte ich dann und wann zu einer geschäftlichen Besprechung fahren!« … »Denkst du tatsächlich immer noch an eine einsame Insel, George?« … »Bloß eine Hütte im Walde, kein Telefon.« … »Die Landzunge an der Lagune, da wohnte ich gern … aber du weißt ja, Maud und die Kinder.«

Wie sonderbar ist es um die große Zivilisation bestellt, da: die Menschen, kaum daß sie dazu gelangt sind, sie zu fliehen trachten!

Die Chaldäer sagten, daß Oannes, der Fischgott, aus dem Meere gestiegen sei und die Menschen die neuen Wege gelehrt habe. Aber war er ein Gott oder ein Dämon?

Warum blicken die Legenden zurück auf ein Goldenes Zeitalter der Sachlichkeit und Einfachheit?

Müssen wir da nicht annehmen, jene große Zivilisation sei nicht durch das Verlangen des Menschen, sondern durch Mächte und Kräfte, durch Drang und Druck entstanden, die von außen wirkten? Schritt für Schritt, je größer die Siedlungen wurden, mußte der Mensch das frei schweifende Leben als Beerenpflücker und Saateinheimser aufgeben und sich der Sicherheit (und der Plackerei) des Landbaus anbefehlen. Schritt für Schritt, je zahlreicher die Siedlungen wurden, mußte der Mensch auf die aufregende und begeisternde Jagd verzichten um der Sicherheit (und der Plackerei) der Viehhaltung willen.

Dann schließlich entwickelte sich etwas wie Frankensteins riesiges Ungeheuer. Die Menschen hatten es nicht gewollt, aber es beherrschte sie alle. Und so versuchten sie, auf tausend unerlaubten, erschlichenen Pfaden zu entschlüpfen.

Wie also sollte, nachdem sie einmal zugrunde gegangen war, diese große Zivilisation wiederkehren, es sei denn durch Mächte und Kräfte, durch Drang und Druck, die von außen wirken?


Und dann plötzlich wußte er, daß er alt war. Den Jahren nach war er erst ein Vierziger; er war der jüngste in der Gruppe der Älteren, und dann öffnete sich eine breite Kluft, ehe der älteste der Jüngeren kam. Es war eine breite Kluft von Jahren und eine noch unendlich breite Kluft, was Kultur und Überlieferung betraf. Nie zuvor hatte eine ähnliche Kluft zwischen der älteren und der jüngeren Generation bestanden oder wäre möglich gewesen.

Er saß auf den Stufen der Bibliotheksfreitreppe, zerklopfte den Granitsplitter in immer kleinere Teilchen, und dabei tat sich ihm eine, wie er meinte, etwas klarere Schau in die Zukunft auf. Alles mündete in die gleiche alte Frage ein. Wieviel ging vom Menschen aus, um die Umwelt zu beeinflussen, und wieviel ging von der Umwelt aus und drängte gegen den Menschen an? Hatte das Napoleonische Zeitalter Napoleon hervorgebracht oder Napoleon das Napoleonische Zeitalter? So hätte, auch wenn Joey am Leben geblieben wäre, der Wirrwarr der äußeren Umstände, jener Umstände, durch die Jack, Roger und Ralph geformt worden waren, wahrscheinlich auch auf Joey eingewirkt, und ein einziger kleiner Junge hätte ihnen nicht eben viel entgegensetzen können. Ja, auch wenn Joey am Leben geblieben wäre, würde alles sich wahrscheinlich so weiterentwickelt haben, wie es sich dem Anschein nach jetzt bereits zu entwickeln begann.

Ja, die Zukunft war gewiß. Der »Stamm« würde die Zivilisation nicht wiederherstellen. Er bedurfte der Zivilisation nicht. Eine Zeitlang würde es mit dem Räuberdasein noch so weitergehen — dem Öffnen von Dosen, dem Vergeuden von Patronen und Streichhölzern, davon sich aus vergangenen Zeiten noch Vorräte fanden —, dieser unschöpferischen, aber glücklichen Lebensform. Schließlich, früher oder später, würden immer mehr Menschen dasein, und es würde Mangel an Nahrungsmitteln eintreten. Vielleicht würde es zu keiner schnellen Katastrophe kommen, weil sehr viel Vieh für den Bedarfsfall herumlief; und so würde das Leben seinen Fortgang nehmen.

Das alles durchdachte er, und dann überkam ihn mit jäher Gewalt eine neue Vorstellung. Selbst wenn genügend Vieh vorhanden war, selbst wenn es genug Nahrung gab: was würde geschehen, wenn die Munition für die Gewehre ausging? Wenn der Vorrat an Streichhölzern erschöpft war? Im Grunde brauchte man gar nicht zu warten, bis sämtliche Munition verschossen war. Pulver zersetzte sich im Laufe der Zeit. Drei oder vier Generationen — und alle, die dann lebten, waren nur noch armselige Primitive, die die Zivilisation eingebüßt und andererseits nicht die tausend grundlegenden Fertigkeiten erworben hatten, die die Wilden befähigten, bis zu einem gewissen Grade gesichert und leidlich angenehm zu leben! Möglicherweise, und vielleicht war es so am besten, war die Rasse nach drei oder vier Generationen überhaupt nicht mehr imstande, weiterzuleben, nicht mehr fähig, den Übergang vom räuberischen, unschöpferischen Leben zu einer neuen Daseinsstufe zu finden, auf der sie ausdauern oder von der aus sie ein langsames Weiterschreiten vollziehen konnte.

Abermals schlug er heftig auf die Stufenkante. Ein weiteres Granitstück sprang ab. Düster schaute er darauf nieder. Gerade hatte er beschlossen, nicht mehr zu grübeln, und nun stand er schon wieder unmittelbar davor. Wie konnte er denn wissen, was in drei oder vier Generationen geschehen würde?

Er stand auf und machte sich auf den Heimweg. Er war jetzt ruhiger.

»Ja«, dachte er, und wiederum setzte er seine Gedanken in Worte um, »ein Leopard kann seine Flecken nicht ablegen, und ich bin stets ein Grübler gewesen, obwohl ich zweiundzwanzig Jahre lang mit Em zusammengelebt habe. Ich schaue vorwärts und rückwärts. Ausruhen, lockerlassen! Ja, ich sollte ein wenig lockerer lassen. Was zu tun ich versucht habe — das ist fehlgeschlagen. Ich will es zugeben. Dennoch bin ich gewiß, daß ich niemals aufhören werde, es wieder und wieder zu versuchen. Aber wenn ich es jetzt mit etwas Geringerem versuche, erreiche ich am Ende vielleicht etwas mehr.«

10

Auf dem langen Heimweg die Anhöhe hinauf zu den Häusern hin hatten seine verschwommenen Pläne Gestalt angenommen; doch er wollte bis zum anderen Tage warten, ehe er damit begann.

In jener Nacht indessen setzte ein Herbststurm ein, und er erwachte am Morgen in einer Welt mit tiefziehenden Wolken und stetem Regen. Er war überrascht; denn inmitten der Wirrnisse, die sich jüngst ereignet hatten, war er des Bewußtseins der verrinnenden Zeit verlustig gegangen. Als er jetzt nun aber darüber nachdachte, fiel ihm ein, daß die Sonne bereits weit im Süden unterging und daß man, sofern man überhaupt noch in solchen Begriffen denken konnte, sich im November befinden müsse. Der Regen vereitelte die sofortige Durchführung seiner Pläne; aber auf diese Weise lag noch viel Zeit vor ihm, und er konnte seine Ideen ausreifen lassen.

Der letzte Tag hatte seine Einstellung so völlig geändert, daß er erschrak, als er an jenem Morgen den Lärm der sich versammelnden Kinder hörte. »Natürlich!« dachte er. »Sie warten darauf, daß die Schule wieder anfängt.«

Er ging die Treppe hinunter und gesellte sich zu ihnen. Sie waren alle da — alle bis auf Joey und zwei der jüngeren. Er sah in ihre Gesichter, wie sie dasaßen und auf den Stühlen hin und her rutschten oder einfach auf dem Fußboden hockten, weil das bequemer war. Sie ihrerseits sahen ihn, wie er meinte, wacher und munterer als gewöhnlich an. Joey war nicht mehr da, und nun fragten sie sich wohl, welchen Einfluß das auf die Schule haben würde. Doch diese Veränderung, er wußte es, war an den Augenblick gebunden, und hinter der wachen Munterkeit lauerte bereits wieder die alte Teilnahmslosigkeit, gegen die er immerfort hatte ankämpfen müssen.

Er ließ seinen Blick über die kleine Schar schweifen und auf jedem einzelnen Gesicht ruhen. Es waren hübsche Kinder, im Grunde gar nicht stumpf, aber es fehlte ihnen an Spürsinn und natürlicher Begabung.

Er faßte seinen Entschluß, und es kostete ihn nicht einmal Mühe.

»Die Schule fällt aus«, sagte er.

Sekundenlang zeigte sich auf den Gesichtern ein Ausdruck der Betroffenheit, und dann sah er, wie sie sich freuten, obwohl sie sich Mühe gaben, ihre Freude nicht zu zeigen.

»Keine Schule!« sagte er, und er spürte, daß es wider seinen Willen theatralisch klang. »Wir werden nie wieder Schule halten — nie wieder!«

Abermals gewahrte er den Ausdruck der Betroffenheit in den Gesichtern, und diesmal folgte danach kein freudiges Staunen. Sie lungerten auf ihren Sitzen herum. Ein paar standen auf und wollten fortgehen. Sie wußten alle, daß etwas geschehen war, etwas, das zu tief war, als daß ihre kleinen Köpfe es begreifen konnten.

Langsam und ruhig gingen sie hinaus. Eine volle Minute, nachdem sie in das Regengetröpfel hinausgegangen waren, herrschte Stille. Dann hörte er sie plötzlich lachen und schreien, und sie waren wieder Kinder. Die Schule war ein Zwischenspiel gewesen. Wahrscheinlich würden sie kaum je daran zurückdenken und sich danach zurücksehnen. Für kurze Zeit überkam Ish ein lastendes Gefühl. »Joey, Joey!« dachte er. Aber er bereute nicht, was er getan hatte, und er wußte, daß sein Entschluß richtig gewesen war. »Es ist aus mit der Schule!« dachte er. »Es ist aus mit der Schule!« Und er mußte daran denken, wie er vor vielen, vielen Jahren in diesem selben Zimmer gesessen und beobachtet hatte, wie das elektrische Licht erlosch.

Drei Regentage gaben ihm Muße, alles zu überdenken und seine Pläne reifen zu lassen. Schließlich zog ein Morgen mit blauem Himmel und kaltem Nordwind herauf. Die Sonne kam hervor, das Laub fiel. Jetzt war es Zeit.

Er durchstöberte die verlassenen, wild wuchernden Gärten. In dieser Gegend waren niemals Citrus-Früchte gewerbsmäßig angebaut worden; aber die Zitronen gediehen gut, und hier und dort hatte jemand in seinem Garten einen Zitronenbaum gezogen. Deren Holz, er wußte es, war geeignet. Natürlich hätte er in zahlreichen Büchern darüber nachlesen können; doch jetzt wollte er anders vorgehen. Er wollte keine Bücher über das lesen, was er vorhatte. Er konnte es auch von sich aus durchführen.

Zwei Häuserblöcke weiter in der Straße war ehedem ein großer, prächtiger Garten gewesen. Dort fand er einen Zitronenbaum. Er lebte noch, obwohl er von zwei hochgeschossenen Tannen beinahe erdrückt war. Überdies hatte er ein paar Jahre zuvor bedenklich unter dem Frost gelitten. Da er nach dem Frost nicht zurückgeschnitten worden war, war der Baum nur noch eine Ruine. Nach dem Frost waren aus der Wurzel lange Triebe aufgeschossen, und ein paar von ihnen waren bereits wieder abgestorben.

Indem er den langen Dornen auswich, drang Ish in das Gewirr ein, suchte sich einen geeigneten Schößling aus und zog sein Taschenmesser. Der Schößling war unten ungefähr daumendick. Das abgestorbene Zitronenholz war beinahe knochenhart, aber nach einiger Zeit hatte er den Schößling mit dem Messer durchgeschnitzelt und aus dem Dickicht herausgezogen. Er war sieben Fuß lang und auf etwa vier Fuß gerade und ebenmäßig, ehe Seitenzweige einsetzten und er krumm wurde. Wenn man ihn schüttelte, blieb er steif; aber wenn Ish ihn gegen den Boden drückte, gab er nach und schnellte zurück, wenn der Druck nachließ. Er war sicher brauchbar.

»Ja«, dachte Ish ein wenig bitter, »für das, was ich will, ist er wohl brauchbar.«

Er nahm den Zitronenschößling mit nach Haus, setzte sich auf der Vortreppe in die Sonne und schnitzelte daran herum. Zunächst schnitt er das krumme Ende ab, so daß nur das vier Fuß lange gerade, ebenmäßige Stück übrigblieb.

Dann schälte er die abgestorbene Rinde ab und spitzte die beiden Enden an, so daß sie sich gleichmäßig verjüngten. Er kam sehr langsam damit voran, und oftmals unterbrach er die Arbeit, um sein Messer an einem Wetzstein zu schärfen. Das weiße, zähe Holz schien die Klinge schon nach ein paar Schnitten stumpf zu machen.

Walt und Josey hatten mit den anderen Kindern gespielt; aber zur Mittagszeit kamen sie heim.

»Was tust du da?« fragte Josey.

»Ich mache ein Spielzeug«, antwortete Ish. Er wollte nicht den Fehler begehen, so hatte er beschlossen, sein Vorhaben in Verbindung mit einem praktischen Zweck durchzuführen, wie er es bei der Schule getan hatte. Er wollte versuchen, den Spieltrieb auszunutzen, der so tief im Menschengeschlecht zu wurzeln scheint.

Nach dem Mittagessen mußte die Sache sich durch die Kinder herumgesprochen haben. Nachmittags kam George.

»Warum kommst du nicht zu mir herüber?« fragte George. »Da kannst du doch meinen Schraubstock und meinen Schabhobel benutzen. Dann würdest du viel schneller fertig.«

Ish dankte ihm, fuhr aber fort, mit dem Messer zu arbeiten, obwohl ihn die Hand schmerzte. Er wollte eben diese Arbeit mit den einfachsten Hilfsmitteln durchführen.

Gegen Ende des Nachmittags begannen sich auf seiner Hand, dort, wo er das Messer gehalten hatte, Blasen zu bilden; er meinte, jetzt sei er mit seiner Arbeit fertig. Ein vier Fuß langes Stück des Zitronenschößlings war jetzt nach beiden Enden zu gleichmäßig angespitzt. Er setzte das eine Ende auf den Boden, bog das Holzstück durch, bis es einen Halbkreis bildete, und fand, daß es jäh wieder zur Geraden zurückschnellte. Er war zufrieden, schnitt dicht an jedem Ende eine Kerbe ein und steckte das Messer beglückt in die Tasche.

Am nächsten Morgen fuhr er mit seiner Arbeit fort. Es standen ihm zahlreiche starke Schnüre zur Verfügung, und er überlegte, ob er nicht eine Nylon-Angelschnur nehmen und zur passenden Länge zusammenflechten solle.

»Nein«, dachte er, »ich will nur Stoffe benutzen, die sie sich immer verschaffen können.«

Er fand das Fell eines unlängst geschlachteten Kalbes. Daraus schnitt er einen langen, dünnen Riemen, wie eine Peitschenschnur. Das dauerte lange; aber er hatte ja Zeit. Er entfernte die Haare von dem Lederstreifen, und diesen beschnitt er, so daß er schließlich zu einer dünnen Schnur wurde. Dann flocht er drei solcher Schnüre ineinander, so daß eine stärkere Schnur entstand, und nachdem er die passende Länge festgestellt hatte, knüpfte er in jedes Ende eine kleine Schlinge.

Er hielt das Zitronenholz in der einen Hand und die geknüpfte Schnur in der andern und betrachtete beides. Jedes der beiden Teile für sich genommen bedeutete wenig. Dann bog er das Holzstück zusammen, hakte die Schlingen der Schnur in die Kerben an den Enden des Holzes, und die beiden Teile waren zu einem Ganzen geworden. Da die Schnur kürzer als das sich nach den Enden zu verjüngende Holz war, formte er jetzt einen sauberen, symmetrischen Bogen. Die Schnur stand straff zwischen den beiden Bogenspitzen.

Er schaute den Bogen an und wußte, daß die schöpferische Kraft in die Welt zurückgekehrt war. Er hätte ebensogut in ein Sportgeschäft gehen und sich einen sehr viel besseren Bogen holen können — ein sechs Fuß langes Spielding zum Sportschießen. Das hatte er nicht getan. Er hatte sich eigenhändig einen Bogen gefertigt, aus gewachsenem Holz, das er mit den einfachsten Hilfsmitteln bearbeitet hatte, und die Sehne stammte von der Haut eines unlängst geschlachteten Kalbes.

Er zupfte an der Sehne. Sie klang kaum, aber sie schwang auf eine befriedigende Weise, dumpf und zitternd. Er meinte, für diesen Tag könne er mit der Arbeit aufhören. Er entspannte den Bogen.

Am folgenden Tage schnitt er sich, um einen Pfeil zu fertigen, einen gerade gewachsenen Zweig von einem Fichtenbaum. Das weiche, frische Holz ließ sich leicht bearbeiten, und in einer halben Stunde war er mit dem Schnitzen des Pfeils fertig. Dann rief er die Kinder. Walt und Josey kamen herbei, und Weston kam gleichfalls.

»Nun wollen wir sehen, wie er schießt«, sagte Ish.

Er zog die Sehne zurück und ließ sie los. Der ungefiederte Pfeil flog unsicher; aber da Ish in einem großen Winkel gezielt hatte, flog der Pfeil fünfzig Fuß, ehe er, zufällig mit der Spitze nach unten, in den Boden fuhr.

Sogleich merkte er, daß die Mühe sich gelohnt hatte. So etwas hatten die drei Kinder noch nie gesehen, und so standen sie einige Augenblicke mit großen Augen da. Dann liefen sie jauchzend davon und holten den Pfeil. Ish schoß ihn um ihretwillen immer wieder ab.

Schließlich kam die unvermeidliche Frage, auf die Ish gewartet hatte.

»Laß mich auch mal, Papa!« sagte Walt.

Walts erster, unsicherer Schuß ging nur zwanzig Fuß weit, aber die Sache machte ihm Spaß. Dann versuchte Josey es, und dann wieder Walt.

In der Zeit vor dem Abendessen schnitzte jedes Kind des »Stammes« eifrig an einem eigenen Bogen herum.

Alles ging glatter vonstatten, als Ish es zu hoffen gewagt hatte. Innerhalb einer Woche schien rings um die Häuser die Luft von ungeschickt abgeschossenen Pfeilen zu schwirren. Die Mütter fingen an, über ausgeschossene Augen zu unken, und zwei Kinder liefen heulend ins Haus, weil sie an verschiedenen Teilen ihres Körpers von Pfeilen getroffen waren. Aber da die Pfeile keine Spitzen hatten und die Bogen schwach waren, kam es zu keinerlei ernsthaften Verletzungen.

Es mußten Spielregeln aufgestellt werden. »Ihr dürft nicht dorthin schießen, wo Jemand steht.« — »Ihr dürft nicht in der Nähe der Häuser schießen.«

Nach und nach wuchs die Geschicklichkeit. Wie sie es bei den älteren, mit Gewehren schießenden Jungs gesehen hatten, veranstalteten die Kinder Wettschießen nach einer Scheibe. Sie versuchten es mit Bogen von unterschiedlicher Größe und Form. Als Josey klagte, daß Walt sie stets im Schießen übertreffe, gab ihr Ish heimlich den Rat, sie solle einmal versuchen, ein paar Wachtelfedern am Ende ihres Pfeils zu befestigen. Sie tat es, übertraf Walt, und plötzlich waren alle Pfeile am Ende mit Wachtelfedern versehen, flogen weiter und trafen genauer. Selbst die älteren Jungs bekamen Interesse, und einige fertigten sich Bogen, obwohl sie mit Gewehren schießen durften. Doch das Bogenschießen blühte zumal unter denen, die zu jung waren, um mit Gewehren umzugehen.

Ish wartete seine Zeit ab. Die frühen Regenschauer hatten den Grassamen aufsprießen lassen, und nun grünte es überall. Am Abend sank die Sonne hinter den Bergen südlich des Goldenen Tores.

Walt und Weston, die beiden Zwölfjährigen, waren jetzt tief in eine jungenhafte Verschwörung verstrickt. Sie befaßten sich ausgiebig mit Bogen und Pfeilen und vervollkommneten sie. Damit verbrachten sie tagtäglich viele Stunden.

Eines Tages, es war schon gegen Abend, hörte Ish draußen auf der Treppe das Getrappel aufgeregter Knabenfüße. Walt und Weston stürzten ins Zimmer.

»Sieh mal, Papa!« rief Walt und hielt Ish ein kläglich aussehendes, totes Kaninchen hin, das von einem Holzpfeil durchbohrt war.

»Sieh mal!« rief Walt nochmals. »Ich habe hinter einem Busch gestanden und gewartet, bis es dicht an mir vorbeihoppelte, und dann habe ich es durch und durch geschossen.«

Ish verspürte Mitleid mit dem armen Tier, obwohl er sich bewußt war, daß dies ein Sinnbild seines Triumphes sei. Scheußlich, dachte er, daß selbst das Schöpferische sich des Todes bedienen muß.

»Fein!« sagte er. »Fein, Walt! Das war ein guter Schuß!«

11

Noch immer ging Tag für Tag die Sonne am wolkenlosen Himmel weiter südlich unter. Sie befand sich jetzt unmittelbar vor der Wende. Das klare Wetter dauerte an.

Eines Tages, und zwar so unvermittelt, daß man sich beinahe versucht fühlte, den genauen Augenblick anzugeben, da es geschah, wurden die Kinder des Spiels mit Pfeil und Bogen müde und wandten sich begeistert etwas anderem zu. Ish machte sich deswegen keine Gedanken. Er wußte, daß sie nach Kinderart wieder darauf zurückkommen würden, vielleicht übers Jahr um die gleiche Zeit. Das Verfertigen von Bogen und das Schießen mit Pfeilen würde nicht in Vergessenheit geraten. Zwanzig Jahre lang, hundert Jahre lang, wenn es not tat, würde der Bogen ein Kinderspielzeug bleiben. Wenn schließlich die Munition ausgegangen war, dann war er noch immer da. Er war die beste Waffe, die der primitive Mensch je gekannt, und die am schwierigsten zu erfindende. Wenn Ish diese Waffe für die Zukunft gerettet hatte, so hatte er sehr viel gerettet. Waren die Gewehre nutzlos geworden, so brauchten seine Urenkelkinder dem Angriff des Bären nicht mit leeren Händen zu begegnen, so brauchten sie nicht inmitten der Viehherden Hungers zu sterben. Seine Urenkelkinder würden nichts von der Zivilisation wissen, aber sie würden wenigstens nicht auf allen vieren laufende Halbaffen sein, sondern als freie Menschen aufrecht gehen, in der Hand den Bogen. Selbst wenn sie keine Metallmesser mehr haben sollten, konnten sie sich mit Hilfe scharfer Steine Bogen anfertigen.

Er plante ein weiteres Experiment; doch damit hatte es keine Eile. Nun sie Bogen hatten, konnte er einen Bogenbohrer herstellen und die Kinder dessen Gebrauch lehren. Wenn dann sämtliche Streichhölzer aufgebraucht waren, wußte der »Stamm« wenigstens, wie man Feuer entzündete.

Doch wie es bei den Kindern der Fall gewesen war, kühlte auch seine Begeisterung sich im Verlauf der nächsten Wochen ab. Immer seltener gedachte er seines Triumphes, der Erfindung des Bogens und der Überlistung der Kinder, ihren Spaß damit zu haben. Vielmehr dachte er über das Unheil nach, das das Jahr gebracht hatte. Joey war gestorben, und dieser Verlust konnte nie wieder wettgemacht werden. Auch war der Welt, man könnte sagen, ihre junge Unschuld genommen worden, als sie zu viert jenes Wort auf ihre Zettel geschrieben hatten. Und er hatte viel Selbstvertrauen und Zuversicht eingebüßt, als er schließlich merkte, daß er auf seinen Traum vom Wiedererstehen der Zivilisation verzichten mußte.

Jetzt war die Sonne so nahe an den südlichsten Punkt ihrer Bahn herangerückt, daß in etwa zwei Tagen wohl ihre Wende erfolgte. Jedermann traf Vorbereitungen für den Feiertag, die Einmeißelung der Jahreszahl in die Felsplatte und die Benennung des Jahres. Es war dies unter allen, die sie begingen, der größte Feiertag, da er das Weihnachtsfest und den Neujahrstag der Alten Zeit zusammenfaßte und darüber hinaus ihr eigenes, ganz besonderes Fest war. Gleich so vielen anderen Dingen hatten auch die Feiertage beim Übergang von einer Welt in die andere merkwürdige Wandlungen erfahren. Nach wie vor feierten sie das Erntedankfest durch ein ausgiebiges Abendessen; aber der 4. Juli und alle andern vaterländischen Festtage wurden vernachlässigt. George, der an der Überlieferung hing und ein guter Patriot gewesen war, ließ stets die Arbeit ruhen und zog seinen besten Anzug an, wenn er meinte, es sei »Tag der Ruhe«. Aber niemand feierte mit ihm. Seltsamerweise oder vielmehr natürlicherweise hielten sich die alten volkstümlichen Festtage länger als die gesetzlich festgelegten. Nach wie vor feierten die Kinder den Narrentag und den Halloween-Abend mit großer Begeisterung und den überlieferten Bräuchen, obwohl sie das alles von ihren Eltern hatten lernen müssen. Auch redeten sie sechs Wochen nach der Wintersonnenwende vom »Eichhörnchen-Tag« und davon, ob das Eichhörnchen seinen Schatten sehen könne; denn da in dieser Gegend keine Wildschweine vorkamen, hatten sie statt ihrer die Eichhörnchen untergeschoben. Doch das alles wog gering im Vergleich zu dem großen Fest, wenn die Jahreszahl eingemeißelt wurde und das Jahr seinen Namen erhielt.

Ish hörte, wie die Kinder darüber sprachen und Vermutungen darüber anstellten, wie der Name wohl lauten würde. Die jüngeren sagten, es müsse »Das Pfeil-und-Bogen-Jahr« genannt werden. Aber die etwas älteren, die sich deutlicher des gesamten Jahresablaufs erinnern konnten, sagten, man müsse es vielmehr »das Jahr der Reise« nennen. Doch die noch älteren gedachten auch anderer Geschehnisse, und oftmals schwiegen sie und gerieten in Verlegenheit, und dann wußte Ish, daß sie an Charlie und die anderen Toten dachten. Ish selbst dachte vor allem an Joey und dann an die Wandlung seiner Grundhaltung, die er während dieses Jahres durchlebt hatte.

Als sie dann schließlich eines Abends Ausschau hielten, gewahrten sie, daß die Sonne an der gleichen Stelle wie am Abend vorher unterging, und vielleicht gar ein bißchen weiter nördlich; die älteren sagten, anderntags solle das Fest begangen werden, und die Kinder waren wild begeistert.

So versammelten sie sich denn am Ende des zweiundzwanzigsten Jahres abermals am Felsen, und Ish hieb mit Hammer und Meißel die 22 genau unter die 21 in das Gestein. Sie waren alle gekommen, denn es war schönes und für einen Wintertag warmes Wetter. Die Mütter hatten sogar ihre jüngsten Babys mitgebracht. Nachdem die Jahreszahl eingemeißelt war, riefen alle, die alt genug waren, um schon sprechen zu können, laut: »Prosit Neujahr!« wie es in den Alten Zeiten üblich gewesen und wie es jetzt noch immer üblich war.

Doch als Ish auf Grund des Rituals, das sich während der letzten Jahre herausgebildet hatte, fragte, wie das Jahr benannt werden solle, entstand ein jähes Schweigen.

Der einzige, der schließlich etwas sagte, war Ezra, der gute Helfer, der Menschenkenner:

»Letztes Jahr ist zu viel geschehen, und wie wir es auch benennen könnten: es wäre stets ein böser Unterton dabei. Für die Menschen sind Zahlen etwas Tröstliches, und von Zahlen gehen keine schlimmen Gedanken aus. Laßt uns dem Jahr keinen Namen geben. Wir wollen uns seiner erinnern als des Jahres 22.«


Hier endet der Zweite Teil. Es folgt das zweite Zwischenkapitel, betitelt »Eilende Jahre«, das sich unmittelbar anschließt.

EILENDE JAHRE

Wieder einmal flossen die Jahre eilends dahin, und jetzt kämpfte Ish nicht länger und schlug sich nicht mehr mit Problemen herum, sondern ließ sich guten Muts von der Strömung treiben.

In jenen Jahren bauten sie ein wenig Mais an, nicht zuviel, aber genug, um im Herbst eine bescheidene Ernte zu erzielen und Saatgut übrigzubehalten. In jedem Herbst, als gebe der erste Regen das Zeichen dazu, spielten die Kinder eine Zeitlang mit Pfeil und Bogen, ehe sie des Spiels wieder müde wurden. Dann und wann kamen die Erwachsenen zu einer Besprechung zusammen, die wie eine Gemeindeversammlung war, und was dort beschlossen wurde, das war, jeder wußte es, bindend für alle.

»Diesen Brauch wenigstens«, dachte Ish, »habe ich in die Zukunft hinübergerettet!« Die jedoch bei dergleichen Versammlungen sprachen, das waren in von Jahr zu Jahr steigendem Maß junge Menschen. Natürlich führte Ish den Vorsitz. Er saß, das Gesicht ihnen zugewandt, und wer zu sprechen wünschte, erhob sich und bat ihn voller Ehrfurcht ums Wort. Er saß da, hielt seinen Hammer oder hatte ihn, den schwankenden Stiel nach oben, neben sich stehen. Wenn die Auseinandersetzung zwischen zwei jungen Leuten zu heftig wurde, klopfte Ish mit dem Hammer, und sogleich wurden die jungen Menschen ruhig und nachgiebig. Aber wenn er selbst sprach, hörten sie zwar genau zu, schenkten aber oftmals hernach seinen Ideen keinerlei Beachtung.

So flossen die Jahre dahin — das Jahr 23, das des »Tollen Wolfes«, das Jahr 24, das »Brombeerjahr«, das Jahr 25, das des »Langen Regens«.

Dann kam das Jahr 26, und der alte George war nicht mehr unter ihnen. Nach seinem Tode wurden die Dächer nie wieder so gut ausgebessert, und die Zäune wurden nie wieder gestrichen. Maurine lebte noch ein Weilchen in dem sauberen Hause mit den rotfransigen Hängelampen, die nie wieder brennen würden, mit der Radiotruhe, die stumm blieb, und den Spitzendeckchen auf den Tischen. Aber sie war zu alt, und sie starb, noch ehe das Jahr zu Ende ging. So nannten sie es denn »das Jahr, da George und Maurine starben«.

Und weiter rannen die Jahre — 27, 28, 29, 30. Es war jetzt schwierig, sich die Namen zu merken, und die Gründe für die Benennung. Kam das »Jahr des guten Maises« vor dem »Jahr der roten Sonnenuntergänge«, oder kam es nach dem »Jahr, da Evie starb«?

Die arme Evie! Sie wurde bei den andern begraben, und wenigstens jetzt bestand kein Unterschied mehr zwischen ihr und ihnen. All diese Jahre hatte sie unter ihnen gelebt, und niemand hatte je gewußt, ob sie sich wohl gefühlt hatte und ob es recht gewesen war, sie am Leben zu erhalten. Nur einmal während der ganzen Zeit war sie in den Mittelpunkt gerückt, wenn auch nur für wenige Stunden; damals, als Charlie gekommen war, hatte sie eine wichtige Rolle gespielt. Nun war sie tot, und die jungen Menschen vermißten sie kaum; nur die älteren vergegenwärtigten sich, daß ihr Hinscheiden abermals das Abreißen einer Verbindung zu den Alten Zeiten bedeutete.

Nach Evies Tode waren nur noch fünf übrig, die von Anfang an dagewesen waren. Jean und Ish waren die jüngsten dieser fünf, und es zeigten sich an ihnen die geringsten Spuren des Alters, obwohl Ish von seiner alten Wunde her immer stärker hinkte. Molly klagte über unbestimmte Krankheiten und weinte oft. Ezra hustete trocken. Selbst Ems Gang war weniger sicher und nicht mehr von königlicher Anmut. Doch im Grunde waren sie alle für Leute ihres Alters erstaunlich gesund, und ihre verschiedenen Gebrechen rührten in der Hauptsache vom immer näher rückenden Greisenalter her.

Das Jahr 34 war bedeutsam! Vor einiger Zeit hatten sie herausbekommen, daß eine andere, freilich kleinere Menschenschar nördlich der Meeresbucht lebte; aber das Überraschende war, daß jene andern einen Boten sandten und eine Vereinigung vorschlugen. Ish hielt den jungen Menschen in gehöriger Entfernung, denn er wünschte keine Wiederholung der Angelegenheit Charlie. Als er von dem Boten alles erfahren, was er hatte wissen wollen, berief er eine Versammlung ein.

Ish saß mit dem Hammer da, denn es war ein feierlicher Augenblick. Es entstand ein hitziges Hinundhergerede.

Ish, zusammen mit Ezra, widersetzte sich der Vereinigung, in allzu großer Furcht vor ansteckenden Krankheiten, und Jack, Ralph und Roger, die ältesten der jüngeren Leute, gedachten des Jahres 22 und unterstützten Ish und Ezra. Aber die noch jüngeren Männer, zumal die unverheirateten, verlangten die Vereinigung, und Ish merkte, daß der Gedanke an die Mädchen des andern Stammes sie aufregte.

Dann sprach Em. Ihr Haar war jetzt ganz grau, aber ihre ruhige Stimme ließ alle aufhorchen. »Ich habe es schon früher gesagt«, sagte sie, »daß man nicht leben kann, wenn man das Leben verleugnet. Unsere Söhne und Enkel brauchen Frauen. Vielleicht kommt gleichzeitig der Tod, aber darauf müssen wir ohnehin gefaßt sein.«

Nicht so sehr durch das, was sie gesagt hatte, als durch den Geist, den sie ausströmte, faßten sie alle Mut. Sie stimmten ausnahmslos dafür, die anderen aufzunehmen.

Diesmal hatten sie Glück; denn die einzige Epidemie bestand darin, daß »Die Andern« sich an den Masern ansteckten, sich aber rasch wieder erholten.

Nach jener Zeit gab es stets eine Zweiteilung innerhalb des »Stammes«, etwa zwei Sippen vergleichbar: »Die Ersten« und »Die Andern«. Wenn Angehörige verschiedener Sippen einander heirateten, so gehörten die Kinder der Sippe des Vaters an, obwohl Ish sich gefragt hatte, ob man nicht der Mutterlinie den Vorrang geben solle, wie es bei vielen primitiven Völkern der Fall gewesen war. Doch die alte amerikanische Tradition erwies sich als zu stark.

Im nächsten Jahre wurde Ish mehr denn je gewahr, daß Em nicht mehr mit königlicher Anmut einherschritt; als er sie ansah, erblickte er seltsame Linien in ihrem Gesicht, nicht die Linien des Alters, sondern solche des Schmerzes. Er verspürte in seinem Innern Frösteln und Furcht, und er wurde sich bewußt, daß nun auch dieses zu Ende ging.

Manchmal in den schlimmen, nun folgenden Monaten dachte er: »Es ist vielleicht nur eine Blinddarmreizung. Der Schmerz sitzt an jener Stelle. Warum kann ich nicht operieren? Ich kann in den Büchern nachschlagen. Ich könnte nachsehen, wie es gemacht wird. Einer der Jungs könnte die Äthernarkose durchführen. Schlimmstenfalls setzte ich ihren Schmerzen ein Ziel.«

Doch dann fiel ihm stets ein, daß er es nicht durchführen könne — denn seine Hände waren nicht mehr jung und sicher, und vielleicht war auch sein Mut erlahmt, und so wagte er nicht, das Operationsmesser durch die Seite der geliebten Frau zu ziehen. Er wußte, daß Em das Künftige allein auf sich nehmen mußte.

Auch merkte er binnen kurzem, daß es keine Blinddarmreizung war. Als die Sonne sich wieder nach Süden wandte, wurde Em so schwach, daß sie nicht mehr gehen konnte. Ish durchstöberte die zerfallenen Drugstores und fand Pulver und Tropfen, so daß sie wenigstens nicht allzusehr litt. Wenn sie die Medizin genommen hatte, schlief sie oder lag ruhig und lächelnd da.

Er saß lange Stunden an ihrem Bett, hielt ihre Hand, und dann und wann sprachen sie miteinander.

Wie von je war sie es, die ihn tröstete, obwohl sie Schmerzen hatte und im Sterben lag. Ja, sagte er sich, sie war ihm ebensogut Mutter wie Frau gewesen.

»Grüble nicht«, sagte sie einmal, »über die Kinder, meine ich, und über die Enkelkinder und alle, die nach uns da sind. Ich glaube, sie werden glücklich sein. Wenigstens werden sie so glücklich sein, wie sie es unter anderen Gegebenheiten auch gewesen wären. Gib dich nicht gar zu sehr mit der sogenannten Zivilisation ab. Sie werden schon weiterkommen.«

Hatte sie alles kommen sehen? fragte er sich. Hatte sie gewußt, daß er scheitern würde? Hatte sie gewittert, wie es werden würde? Rührte das daher, daß sie eine Frau war? Oder daher, daß ein wenig andersgeartetes Blut in ihren Adern rann? Und abermals versank er in Nachdenken, was bei Mann und Frau die innere Größe ausmache.

Jetzt sorgte Josey für den Haushalt und pflegte die Mutter. Josey selbst war Mutter, hochgewachsen, vollbrüstig, mit leichter Anmut einherschreitend. Von allen sah sie Em am ähnlichsten.

Auch die andern traten an das Bett — die hochgewachsenen Söhne und die starken Töchter und die Enkelkinder. Die ältesten Enkelsöhne waren schon groß, und an den Körpern der Enkeltöchter zeigte sich die Fülle ihrer Weiblichkeit.

Indem er seine Blicke auf ihnen ruhen ließ, als sie an dem Krankenbett vorübergingen, erkannte Ish, daß Em recht hatte. »Sie werden schon weiterkommen!« dachte er. »Die Schlichtesten und Einfältigsten sind zugleich die Stärksten. Sie werden schon weiterkommen!«

Schließlich saß er eines Tages wieder da und hielt ihre Hand. Sie war sehr schwach, und plötzlich spürte er die Nähe eines düsteren Dritten. Sie sprach nicht mehr, und nur einmal fühlte er, daß ihre Finger in seiner Hand leise zitterten.

»O Mutter von Nationen!« dachte er. »Deine Söhne sollen dich preisen, und deine Töchter sollen dich die Gesegnete nennen!«

Dann war dort, wo drei gewesen waren, nur noch einer; denn der Tod war hinweggegangen, und sie ebenfalls. Er saß gebeugt da, und seine Augen waren tränenlos. Auch das war nun zu Ende. Sie würde begraben werden, die Mutter von Nationen, schlicht und ohne Gepränge; denn so war es bei ihnen Brauch. Und wie es von Anbeginn gewesen war, seit die Liebe und mit ihr der Schmerz in die Welt kamen, saß er bei seiner Toten. Und er wußte, daß die Größe von ihnen gegangen war.

Und nach wie vor flossen die Jahre hin, und die Sonne wandelte von Norden, von den Bergen, nach Süden, nach dem Goldenen Tor, und wieder zurück. Immer mehr Jahreszahlen wurden in die Felsplatte gemeißelt.

Eines Frühlingsmorgens starb unerwartet Molly; sie glaubten, es sei ein Herzschlag gewesen. Im gleichen Jahre wuchs ein großer Tumor in Jean — er wuchs schnell. Niemand war da, der wußte, wie man ihr hätte helfen können; und als sie durch eigene Hand gestorben war, fand sich niemand, der sie getadelt hätte.

»Wir gehen dahin«, dachte Ish, »wir gehen dahin. Wir Amerikaner sind alt geworden und fallen ab wie Herbstblätter.« So war er denn bisweilen traurig. Doch wenn er im Hügelgelände spazierenging, sah er viele Kinder eifrig beim Spiel, und junge Menschen tauschten lachende Zurufe, und Mütter nährten ihre Babys — es herrschte wenig Trübsal und viel Fröhlichkeit.

Eines Tages kam Ezra zu ihm und sagte: »Du solltest dir eine andere Frau nehmen.« Ish schaute ihn mit fragenden Augen an. »Nein«, sagte Ezra, »ich bin zu alt. Du bist jünger. Da ist eine junge Frau unter den ›Andern‹ und kein Mann, der sie heiraten könnte. Abgesehen von Greisen ist es nicht gut, wenn man allein ist. Und wir müßten noch mehr Kinder haben.«

Er liebte sie nicht, aber er nahm sie. Sie tröstete ihn in den langen Nächten; denn er war noch ein Mann und bei voller Kraft. Sie gebar ihm Kinder, obwohl jene Kinder ihm immer ein bißchen fremd vorkamen — kaum die seinen, da sie nicht zugleich von Em stammten.

Immer mehr Jahreszahlen wurden in die Felsplatte gemeißelt. Außer Ish und Ezra waren jetzt alle Amerikaner tot, und Ezra war ein ausgedörrtes, eingeschrumpftes Männlein, das hustete und immer magerer wurde. Ish selbst hatte jetzt ganz graues Haar. Obwohl er nicht dick war, trat sein Bauch hervor, und seine Beine wurden dünn, wie es bei alten Leuten geschieht. Die Hüfte, in die vor vielen, vielen Jahren der Berglöwe seine Krallen geschlagen hatte, schmerzte ihn; so ging er nur selten aus. Und doch gebar seine junge Frau ihm im Jahre 42 noch ein Kind. Er nahm an jenem Kinde nur geringen Anteil; denn er hatte jetzt bereits Urenkelkinder.

Als eines Tages das Jahr 43 zu Ende ging, fühlte Ish sich nicht dazu aufgelegt, nach der Felsplatte zu gehen, wo die Jahreszahlen eingemeißelt wurden; und Ezra war dazu zu gebrechlich. So gaben sie es denn auf, die Jahreszahl einzumeißeln und das Jahr zu benennen. Dann und wann sagten die beiden einander, eigentlich müßten sie es tun, oder sie müßten einem der Jüngeren veranlassen, daß er die Zahlen einmeißelte; und bisweilen sprachen gar die Jüngeren und selbst die Kinder davon. Aber wie es mit dergleichen Dingen geht: wenn man sie einmal aufgegeben hat, dann hat man sie für alle Zeit aufgegeben. So wurden die Zahlen nicht eingemeißelt, das Jahr erhielt keinen Namen, das Leben ging weiter, und niemand kümmerte sich groß darum. In der Folgezeit wußte niemand mehr, wie viele Jahre eigentlich hingegangen waren.

Jetzt bekam Ishs junge Frau keine Kinder mehr. Dann kam sie eines Tages mit einem jüngeren Mann zu Ish, und die beiden baten in alter Ehrfurcht, Ish möge die Frau freigeben und sie jenem überlassen.

Da merkte denn Ish, daß er in den letzten Abschnitt seines sonderbaren Lebens eingetreten war. Danach saßen er und Ezra immer häufiger als zwei alte Männer beieinander.

Es war nicht weiter seltsam, daß zwei alte Männer beieinander saßen und plauderten; seltsam war lediglich, daß es außer diesen beiden keine anderen alten Leute gab. Überall war Jugend, wenigstens sozusagen. Es gab Geburten und Todesfälle, aber stets überwogen die Neugeborenen die Gestorbenen, und da alle sich jung fühlten, erscholl viel Gelächter.

Als die Jahre so dahineilten, sprachen die beiden alten Männer: wenn sie am Hügelhang in der Sonne saßen, immer häufiger von dem, was sich vor langer Zeit ereignet hatte. Die beiden wenigstens konnten noch über jene Jahre sprechen; denn den andern erschien deren Bedeutung gering. Einige Jahre hießen gute, andere schlechte; doch das war kein großer Unterschied. So unterhielten sich denn nur die beiden alten Männer über weit zurückliegende Geschehnisse, und gelegentlich stellten sie philosophische Betrachtungen über das Leben an.

Bei ihrer beider Gespräche stellte Ish oftmals fest, daß in Ezra nach wie vor Weisheit steckte und daß er zu helfen vermochte.

»Ein Stamm ist wie ein Kind«, sagte er einmal mit seiner dünnen, piepsigen Greisenstimme, die von Tag zu Tag einer Vogelstimme ähnlicher wurde — und dann mußte er husten. Als er sich erholt hatte, sprach er weiter. »Ja, ein Stamm ist wie ein Kind. Das kann man an der Art ersehen, wie er größer wird; vielleicht kann man ihn dabei ein bißchen lenken; aber am Ende geht das Kind doch seine eigenen Wege, und der Stamm macht es genauso.«

»Ja«, sagte er an einem anderen Tage, »die Zeit klärt alles. Mir erscheint alles jetzt verständlicher als früher, und wenn ich noch hundert Jahre lebte, so würde mir vielleicht alles, was geschehen ist, ganz klar und einfach vorkommen.«

Oft sprachen sie über die anderen Amerikaner, die, die jetzt tot waren. Sie lachten, wenn sie des guten alten George gedachten, und Maurines mit ihrem piekfeinen Radio, das nie spielte. Sie lächelten, wenn sie auf Jean zu sprechen kamen und ihre Weigerung, zur Kirche zu gehen.

»Ja«, sagte Ezra, »mit der Zeit ist jetzt alles klarer geworden. Warum sie alle das Große Unheil überlebt haben, das werde ich nie herausbekommen. Aber ich glaube, ich kann erkennen, warum sie den Schock, der danach kam, überstanden haben, an dem so viele zugrunde gegangen sind. George und Maurine und vielleicht auch Molly, die haben weitergelebt und sind nicht verrückt geworden, weil sie dumm waren und keine Phantasie hatten. Und Jean hat weitergelebt, weil sie Charakter hatte und gegen das Leben ankämpfte; und ich, weil ich aus mir herausgehen und am Leben anderer Menschen Anteil nehmen konnte. Und du und Em …«

An dieser Stelle nun aber hielt Ezra inne, so daß Ish seinerseits sprechen konnte.

»Ja«, sagte Ish, »ich glaube, du hast recht … Und ich, ich habe weiterleben können, weil ich abseits gestanden und beobachtet habe, was geschah. Und Em …«

Nun hielt auch er inne. Und Ezra sprach weiter.

»Ja, so wie wir überlebt haben, so wird der ›Stamm‹ überleben. Er wird nichts Großartiges sein; denn großartig sind auch wir nicht gewesen. Vielleicht sind die Großartigen und Glänzenden zum Überleben ungeeignet … Was aber Em betrifft, so bedarf es keiner Erklärungen; denn wir wissen ja, daß sie die Stärkste von uns allen war. Ja, wir brauchten mancherlei. Wir brauchten George und sein Zimmermannshandwerk, und wir brauchten deinen vorausschauenden Geist, und vielleicht brauchten wir meinen Trick, die Leute dahin zu bringen, daß sie besser miteinander auskamen, obwohl ich selbst wenig dazu beigetragen habe. Aber meiner Meinung nach brauchten wir am meisten Em; denn sie flößte uns Mut ein, und ohne Mut ist das Ganze nur ein langsames Sterben, aber kein Leben.«

Es kam Ish vor, als schösse fast während ihres Dasitzens unter ihnen am Hügelhang ein schnell wachsender Baum auf, der schließlich den Ausblick auf die Meeresbucht verdeckte, wo die rostroten Türme der großen Brücke nach wie vor emporragten. Und dann schien nach einiger Zeit der Baum krank zu werden und umzufallen. Nun konnte er abermals von seinem Lieblingsplatz in der Sonne am Hügelhang aus in die Ferne schauen und die Brücke sehen. Einmal sah er, wie eine gewaltige Feuersbrunst in der Ruinenstadt jenseits der Bucht wütete, und er erinnerte sich, daß vor langer, langer Zeit, noch ehe er geboren war, jene Stadt schon einmal einem Brande zum Opfer gefallen war. Nun brannte sie schon eine ganze Woche hindurch, und der trockene Nordwind fachte die Flammen an; niemand war da, der dem Feuer hätte wehren können, niemand, der sich überhaupt darum kümmerte, daß es brannte. Als die Flammen erloschen, war nichts Brennbares mehr da.

Es kam eine Zeit, da selbst das Sprechen eine Mühsal schien. So saß Ish denn zumeist behaglich in der Sonne, und neben ihm saß ein noch älterer Mann, der hustete und immer magerer wurde. Man konnte kaum sagen, wie die Tage hingingen und wie viele Wochen lang es regnete, und selbst die Jahre schienen hinzuziehen, ohne daß die Menschen darauf achteten. Aber nach wie vor war Ezra da, und bisweilen dachte Ish heimlich: »Obwohl er hustet und hustet und immer dünner wird, wird er mich wohl überleben.«

Doch jetzt, da selbst das Sprechen zur Mühsal geworden war, wandte der Geist sich nach innen, und Ish überdachte sein sonderbares Leben. Was war denn schließlich der Unterschied? Auch wenn es kein Großes Unheil gegeben hätte, wäre er jetzt wohl Professor im Ruhestand, zockelte herum, holte sich ein paar Bücher aus der Bibliothek, in der Absicht, weiterzuforschen, einigermaßen zum Ärger der jüngeren Herren, die jetzt fünfzig und sechzig waren und die Lehrstühle der Fakultät innehatten; aber sie hätten den Studenten wohl loyal erklärt: »Das ist Professor Williams — der war mal ein großer Gelehrter. Wir sind sehr stolz auf ihn.«

Nun lagen die Alten Zeiten tiefer begraben als Ninive oder Mohenjadaro. Er selbst hatte alles zusammenbrechen und untergehen sehen. Doch sonderbarerweise war jener Zusammenbruch nicht imstande gewesen, seine Persönlichkeit zu zerstören. Er war der gleiche, der er als Professor im Ruhestand gewesen wäre, obwohl jetzt die Schatten seinen Geist immer mehr umhüllten, während er als der sterbende Patriarch eines primitiven Stammes auf einem einsamen Hügelhang saß.

Bisweilen geschah in jenen Jahren etwas sehr Seltsames. Die jüngeren Leute waren stets zu Ish gekommen und hatten sich Ratschläge geholt — obwohl die Schatten seinen Geist immer mehr umhüllten -; doch jetzt begannen sie, ihn aus anderen Gründen aufzusuchen. Mochte er nun am Hügelhang in der Sonne sitzen oder bei Regen und Nebelwetter in seinem Hause: sie kamen und brachten ihm kleine Gaben dar: eine Handvoll reifer Beeren, die er gern mochte, oder einen schimmernden Stein oder in der Sonne blitzende bunte Glasstückchen.

Wenn sie ihm etwas dargebracht hatten, stellten sie in aller Form eine Frage, während er dasaß und seinen Hammer hielt. Manchmal fragten sie, wie das Wetter werden würde, und darauf antwortete Ish gern. Er konnte noch auf seines Vaters Barometer schauen, und so vermochte er oft zu sagen — was die jungen Menschen nicht wissen konnten —, ob die niedrigen Wolken bald in der Sonnenwärme verschwänden oder ob sie ein nahendes Unwetter ankündigten.

Aber manchmal stellten sie ihm auch andere Fragen zum Beispiel, nach welcher Himmelsrichtung sie ausziehen sollten, damit die Jagd ergiebig war. Dann antwortete Ish höchst ungern; denn davon verstand er nichts. Aber wenn er nicht antwortete, waren die jungen Menschen unzufrieden, und dann zwickten sie ihn roh. Da ihm das weh tat, antwortete er, trotz seiner Unkenntnis. Er pflegte dann zu rufen: »Zieht südwärts!« oder »Jagt jenseits der Hügel!« Dann freuten sich die jungen Menschen und brachen auf.

Während jener Jahre gab es Tage, da er klar denken konnte; an anderen Tagen jedoch schien in allen Winkeln seines Gehirns dichter Nebel zu lagern. Doch als sie eines Tages kamen und ihn etwas fragten, war er klaren Geistes, und es fiel ihm ein, daß er ein Gott geworden sein müsse oder doch wenigstens ein Orakel, daraus ein Gott sprach. Dann gedachte er der weit zurückliegenden Zeiten, da die Kinder Angst gehabt hatten, den Hammer zu holen und da sie wissend genickt hatten, als er sagte, er sei ein Amerikaner. Dabei hatte er sich nie gewünscht, ein Gott zu sein.

Eines Tages saß Ish am Hügelhang in der Sonne, und nach einer Weile schaute er zu seiner Linken und gewahrte, daß dort niemand saß. Da erkannte er, daß Ezra, der gute Helfer, gestorben sei und daß nie wieder jemand neben ihm am Hügelhang sitzen würde. Bei diesem Gedanken umklammerte er den Stiel des Hammers, den er damals schon nur unter großer Anstrengung heben konnte, auch wenn er sich beider Hände bediente.

»Er wird ›Ein-Hand‹ genannt«, dachte er, »doch jetzt ist er für mich zu schwer. Aber jetzt ist er das Symbol eines Stammesgottes geworden, und er ist noch immer bei mir, nun alle andern, und selbst Ezra, gegangen sind.«

Weil der Schreck, der die jähe Erkenntnis, Ezra sei tot, begleitet hatte, ihn klarer denken und sehen ließ, schaute er helleren Auges um sich und nahm wahr, daß er auf dem Hang des Hügels an einer Stätte saß, die vor vielen, vielen Jahren ein gepflegter Garten gewesen und jetzt nur noch ein zertrampelter Platz mit hohem Gras inmitten emporgewucherter Büsche und hoher Bäume war, deren Gewirr halb zerfallene Häuser überragten.

Dann schaute er nach der Sonne und merkte, daß sie im Osten stand, nicht im Westen, wie er geglaubt hatte. Also rückte sie jetzt weiter nach Norden, und es mußte Mittsommer sein, während er gemeint hatte, es sei früher Frühling. Ja, in vielen Jahren, die er am Hügelhang gesessen hatte, hatte er den Zeitsinn eingebüßt, so daß das Wandern der Sonne von Osten nach Westen im Dahingleiten der Tage ihm fast das gleiche zu sein schien wie das Wandern der Sonne von Norden nach Süden im Dahingleiten der Jahreszeiten: er konnte beides nicht mehr unterscheiden. Dieser Gedanke bewirkte, daß er sich sehr alt und sehr traurig fühlte.

Vielleicht leitete diese Traurigkeit ihn wieder zu der anderen Traurigkeit, und er dachte:

»Ja, Em ist tot, und Joey, und selbst Ezra, mein Helfer, ist jetzt tot.«

Als er sich auf solcherlei Weise alles Geschehene ins Gedächtnis zurückrief, als er sich seiner Einsamkeit bewußt wurde, begann er leise zu weinen, denn er war ein sehr alter Mann, und was er tat, entzog sich seiner Kontrolle. Und er dachte: »Ja, nun sind sie alle tot! Ich bin der letzte Amerikaner!«


Ende des zweiten Zwischenkapitels, betitelt »Eilende Jahre«.

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